Repertorium des deutschen Reichstages: Erste Legislatur Periode. Erste Session 1871 [Reprint 2018 ed.] 9783111534091, 9783111166018

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Repertorium des deutschen Reichstages: Erste Legislatur Periode. Erste Session 1871 [Reprint 2018 ed.]
 9783111534091, 9783111166018

Table of contents :
Inhalts-Verzeichnis
Vorrede
Abkürzungen
I. Eröffnung und Constituirung des ersten Deutschen Reichstages
II. Wahlprüfungen
III. Gesetzentwürfe. Part 1
III. Gesetzentwürfe. Part 2
IV.
A. Anträge
B. Interpellationen
C. Petitionen
D. Resolution der Abgg. Graf v. Frankenberg n. Gen
Schluß des Reichstages
Register
Sachregister
Verbesserungen

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Repertorium des

Deutschen Reichstages. Unter Leitung von

Dr. Ludwig Karulirrgrr Mitglied des Reichstags

bearbeitet

Dr. A. Teichmann.

Este Legislatur-Periode. Erste Sesston t87l.

Berlin. Verlag von Z. Guttentag (D. Collin). 1872.

Inhalts-Verzeichnis.

Seite

Vorrede Abkürzungen. I. Eröffnung und Constituirung des ersten Deutschen Reichstages.

II. Wahlprufungen IIL Gesetz-Entwürfe IV. A. B. C. D. Schluß

Anträge Interpellationen Petitionen Resolution des Reichstages

Rednerliste Sachregister

I-V

.

1—33

'.................................................

34—124 125—697

Adreßdebatte

698—736 737—762 762—776 776—779 779—780

781—782 782—794

Vorrede. Seidem die deutsche Gesetzgebung in das Stromgebiet der nationalen Ent­

wicklung hneingeleitet worden, hat der publizistische Unternehmungsgeist mit rühm­ lichem Eise: sich der Aufgabe gewidmet, den Bewegungen derselben in möglichst

schnellem Dmpo zu folgen.

Alle organischen Reichsgesetze werden Dank dem Fleiß

der Schrist'teller und der Verleger sofort in bündigen und in ausführlichen Zu­

sammenstellungen dem täglichen Gebrauch Hand- und mundgerecht so zu sagen in's Haus gebricht.

Zst dem erstehenden Gesammtrecht durch dipse Art freier Kodi­

fikation die Möglichkeit gegeben, unter den verschiedensten Formen sich in alle

Schichten der Bevölkerung einzuführen, so fehlt dieser eben erst sich entfaltenden Seite des Staatslebens noch immer eine wesentliche Voraussetzung, so lange nicht

eine lebendige Anschauung von demjenigen Lebensprozesse, aus welchem jenes Recht hervorwächs:, zum Gemeingut der Nation geworden ist.

Der Sinn für den Werth

der Gesetze und das Verständniß für dieselben kann nicht gepflegt werden ohne eine

ausdauernde geistige Theilnahme an deren Entstehungsprozeß, das heißt: die allgemeine Gewohnheit des gebenden Körperschaft.

ohne

Aufmerkens auf die Verhandlungen der gesetz­

Wo diese Aufmerksamkeit noch nicht zu den Sitten gehört,

kann dies eben so gut aus unzulänglichen Leistungen des einen Theils wie aus un­

zulänglicher Empfänglichkeit des andern sich erklären, aber beide Mängel finden

wechselseitig ihr natürliches Korrektiv nur in der Herstellung einer innigeren und vollkommneren Berührung zwischen beiden Theilen: ,$olt und Volksvertretung.

An einer andern Stelle habe ich vor einiger Zeit Gelegenheit genommen, auf die Mängel unserer parlamentarischen Oeffentlichkeit

hinzuweisen,

verglichen zn

den Formen, welche andern großen Nationen alltägliches Bedürfniß geworden sind. Es handelte sich bei jenem parlamentarischen Vorschlag um die unmittelbare Ver­

breitung der Debatten auf dem Wege der Tagespresse.

Nachdem jenes Beginnen ge­

scheitert, vielleicht aus allgemeinen Gründen, vielleicht nur weil es zu unvorbereitet

auftrat, wäre es mir selbst nicht in den Sinn gekommen, es sobald wieder in einer andern Weise aufzunehmen.

Aber der einmal angeregte Gedanke wollte sich doch a

Vorrede.

II

nicht ohne Weiteres in's Leere hinein verlieren und führte mir von verschiedenen

Seiten Vorschläge entgegen, Durchbruch zu verhelfen.

ihm

auf einem oder

dem

andern Umwege zum

Unter diesen Vorschlägen kennzeichnete sich durch eifrige

und muthige Bereitwilligkeit besonders derjenige, welcher Dank der Anregung eines

in diesem Fach hervorragenden Gelehrten mir von der auf dem Titel figurirenden

Verlagshandlung

die

zuging,

sich

Publikationen verdient gemacht hat.

bereits

durch

eine

Reihe

sachverwandter

Es konnte sich in diesem Falle natürlich um

eine Reproduktion nur in Gestalt eines periodischen Sammelwerkes handeln, und

damit war zugleich angezeigt, daß diese Verbreitung nicht auf ganz dieselben Zwecke und Kreise berechnet sein durfte> welche bei dem Gedanken an eine den täglichen

Verhandlungen auf Schritt und Tritt folgende Veröffentlichung in's Auge gefaßt worden waren.

Zn Frankreich oder England, wo jedes ansehnliche Blatt eine

ausführliche Aufzeichnung

der parlamentarischen Debatten liefert,

Sammlungen der letzteren durch einfache Aufbewahrung.

entstehen die

Nichtsdestoweniger hat

sich auch dort das Bedürfniß geltend gemacht, den Wortlaut der Erörterungen in

geordneter und handlicher Buchform zu erhalten, und die Sammlungen dieser Art fehlen in keiner den Staatsangelegenheiten gewidmeten Privatbibliothek. — Um so mehr darf angenommen werden, daß in Deutschland, wo das einfache Ansammeln der wenigsten Tagesblätter solchen Dienst zu leisten im Stande ist, ein Unternehmen

dieser Art seinen Platz finden werde.

Diese Voraussetzung ist um so eher gestattet,

als authentische Zeugniffe für die Entstehungsgeschichte des geltenden Rechts auf anderm Boden als auf dem parlamentarischen auch nicht gewonnen werden können.

Die Verhandlungen des Bundesraths, welcher als erster Konzipient der Gesetz­ gebung arbeitet, sind geheim und reflektiren sich nur zu einem geringen Theil

und sehr summarischer Weise in den mit den Entwürfen veröffentlichten Mo­ tiven.

Dadurch

fällt auch

jene Ursprungsgeschichte weg, welche beispielsweise

in den Archiven des französischen Staatsraths aus der Zeit seiner größten legis­

latorischen Thätigkeit erwachsen ist und welche sowohl für die praktische Auslegung als für die historische Beobachtung des Rechts kostbares Material zurückgelassen

hat.

Je mehr der Einwand berechtigt gewesen sein mag, daß unsere eigenthümliche

Zeitungswelt weder Geduld, noch Muße, noch Mittel für eine sorgfältige Auf­ zeichnung der parlamentarischen Verhandlungen übrig habe, desto deutlicher scheint es angezeigt, in einer anderen, ruhigeren und bequemeren Form die Verbindung

herzustellen, ohne welche eine volle und fruchtbare Wechselwirkung zwischen Volk und Volksvertretung nicht gedacht werden kann.

Geleitet von diesen Betrachtungen vermochte ich nicht dem oben erwähnten

Anträge zu widerstehen, welcher durch die zahlreichen der Ausführung sichtbar

drohenden Schwierigkeiten sich nicht abschrecken lassen wollte.

Zahlreich sind in der That die Schwierigkeiten.

Die einfachste Lösung der

-Aufgabe hätte darin bestanden, daß die Verhandlungen des Reichstags den amt­

lichen stenographischen Aufzeichnungen entnommen, nach Materien systematisch zu­

sammengestellt, in gewöhnlichem Oktavformat herausgegeben und durch den nach

Vorrede.

III

allen Seiten hin so reichlich ausgebreiteten Vertrieb des deutschen Buchhandels der

großen Lesewelt zugeleitet worden wären.

Solches ist auch in der Hauptsache die Ab­

sicht des gegenwärtigen Unternehmens. Aber so einfach ließ sich die Sache doch nicht aussi hren.

Umfang und Kosten mußten in bescheidene Grenzen eingeschränkt werden,

sollte nicht der gemeinnützige Zweck, und damit die Lebensbedingung des Unter­ nehmens selbst von vornherein verfehlt sein. geber, das Material zu sichten.

Damit war die Nothwendigkeit ge-

Die stenographischen Berichte der ersten Sitzungs­

periode des Deutschen Reichstags umfassen über 1200 große und enggedruckte

Quartseiten, nicht eingerechnet die besonders abgedruckten Texte der Entwürfe, Moti-

virurgen und Berichte, welche noch beinahe ebensoviel aufbringen, und welche zur

Gewinnung eines richtigen Einblicks in die Embryologie der Gesetze nicht zu entbchren sind.

Zwang zur Ausscheidung war also unabweisbar vorhanden.

schwieriger war das Wie?

Um so

Den Hauptinhalt des Sammelwerkes sollten die Aeuße­

rungen der Reichsbehörden und Reichstagsmitglieder selbst bilden.

Ohne den eigent­

lichen Zweck umzukehren, durfte also hier nicht allzuwild ins Fleisch hineingeschnitten werden.

Es stellte sich in erster Linie die Frage ein: ob grundsätzlich die Aus-

lasungen der Redner in ihrer ursprünglichen Form oder in der indirekten und der

nur dabei statthaften abgekürzten Weise sollten wiedergegeben werden.

Die letztere

Methode gab natürlich von der einen Seite das Mittel an die Hand, Raum und

danit mechanische Herstellungskosten zu ersparen; allein von der anderen Seite erheischte die Aufgabe dadurch

einen um so größeren Aufwand an Mühe und

Zeit bei der Umarbeitung des Textes, Dinge die natürlich auch sich in Herstellungs­ Angesichts dieser Alternative gab eine

kosten, somit in Ladenpreis umsetzen müssen.

Erwägung den Ausschlag.

Richt blos der Inhalt, sondern auch die Form der

parlamentarischen Verhandlungen soll der Lesewelt zugetragen, künftigen Studien

aufbewahrt bleiben, und bei der indirekten und abgekürzten Redeweise ging die Form natürlich sofort in die Brüche.

Das Richtigste wäre vielleicht eine wohl-

beneffene Abwechslung zwischen beiden Arten.

Denkwürdigen oratorischen Leistungen

könnte die Wiedergabe in der ursprünglichen Fassung vorbehalten bleiben und Vor­ trägen, die nur wegen ihres Inhalts bemerkenswerth erscheinen, mit dem Extrakt

Genüge geleistet werden. presse.

Zn solcher Weise verfährt ja auch die größere Tages­

Gelingt dem gegenwärtigen Unternehmen Fuß zu fassen, so möchte wahr­

scheinlich allmälig dieses Verfahren eingeschlagen werden müssen.

es als zu komplizirt noch unversucht geblieben.

meist nur mechanisch eingegriffen.

Für diesmal ist

Um Raum zu gewinnen, wurde

Zunächst ward alles weggeschnitten, was neben­

sächliche Formen der Verhandlung reproduzirt, namentlich was nur die äußere

Leitung der Debatten zu sichern bestimmt ist. den Stoff hinein.

Der Text springt überall mitten in

Ebenso wurden persönliche Erörterungen, die nur dem Mo­

ment angehören, unterdrückt.

Trotz alledem war doch nicht durchzukommen, ohne

den Text der Reden selbst zu vermindern.

Im Ganzen schien dabei richtiger, nicht

Theile einzelner Reden, sondern ganze Vorträge auszumerzen.

Einem Redner,

wenn man ihn nicht exzerpirt, Stücke aus seinem lebendigen Leibe herausschneiden

IV

Vorrede.

und die Fragmente ohne Zusammenhang auftischen, hieß sich der Gefahr gerechter Beschwerden aussetzen.

Etz schien billiger gegen den Einzelnen gehandelt, wenn

man ihn entweder ganz oder gar nicht auf die Bühne brachte.

Nach Annahme

dieses Systems mußte also an die Aussonderung einzelner Reden gegangen werden. Eine kitzliche Sache!

Vor Allem galt es hier, sich der Unparteilichkeit zu befleißen.

Ist es nicht gelungen, so möge es nicht dein Mangel an gutem Willen zugeschrieben werden.

So weit sich die Sache übersehen ließ, ist die Gleichberechtigung der ver­

schiedenen Parteianschauungen mit äußerster Sorgfalt gewahrt worden.

Als nächster

Maßstab wurde festgehalten, die Reden nach dem objektiven Eindruck zu schätzen,

den sie thatsächlich ihrer Zeit auf die Zuhörerschaft gemacht hatten.

Ob ein Vor­

trag mehr oder minder gut gewesen, zu entscheiden, durften die Herausgeber sich nicht anmaßen.

Sie mußten dies aus der Aufmerksamkeit abrechnen, welche der

betreffenden Leistung ihrer Zeit zu Theil geworden war.

Aus ihr allein läßt sich

ja auch der Grad der Einwirkung des Redners auf die schließliche Entscheidung

des Reichstags abmessen.

Zm Uebrigen war das Bestreben dahin gerichtet, die

charakteristischen Auslassungen und markirenden Persönlichkeiten überall zur Geltung

kommen zu lassen, ebenso dafür Sorge zu tragen, daß auch den seltener in den

Vordergrund der Debatte Tretenden abwechselnd das Wort gegeben werde.

Diese

Bemühungen, nach allen Seiten hin vollständig und gerecht zu sein, ergaben jedoch bei einer ersten Zusammenstellung abermals eine solche Häufung von Material,

daß nach bereits vollendetem Satze von Neuem eine Reduktionsmethode gesucht werden mußte, der nichts mehr übrig blieb, als auch in einzelnen Reden hier

und da das minder Wichtige zu unterdrücken.

Es ist hoffentlich gelungen, diese

letzte Operation so durchzuführen, daß Inhalt und Form möglichst wenig darunter

gelitten haben, jedenfalls wurde überall mit äußerster Schonung und Aufmerksam­ keit vorgegangen.

Alle diejenigen Reden, welche politisch oder oratorisch nach dem

allgemeinen Eindruck oder nach der Person des Urhebers als bedeutungsvoll ihrer

Zeit aufgefaßt wurden, sind unangetastet geblieben. Möge als Ergebniß ein Ganzes zurückgeblieben sein, welches ein lebendiges Bild der Verhandlungen, ihres Inhaltes, ihrer Bewegung und ihres Charakters

fixirt.

Die Gesetzentwürfe sind überall an den entsprechenden Stellen eingefügt,

bald in Totalübersicht, bald in einzelnen Unterabtheilungen, je nach Erforder­

niß;

ebenso wurden die Motive derselben, die Berichte

der Commissionen,

die

Verbesserungsanträge, bald wörtlich, bald ihrer Substanz nach aufgeführt und zu diesen Einschiebungen jedesmal diejenige Wendung der Verhandlungen ausgewählt, bei welcher das Bedürfniß nach Kenntnißnahme Seitens des Lesers zu gewärtigen

war.

Zn dieser Beziehung glaubt die Arbeit einen wesentlichen Vortheil zu ge-

währen gegenüber den offiziellen stenographischen Berichten, welche, ohne diese Ein­ fügungen fortlaufend, oft unverständlich werden und die Anwendung der getrennt

erscheinenden Anlagen voraussetzen. Alle Abstimmungen sind ausnahmslos einregistrirt.

Vorrede.

V

Die drei Lesungen oder Berathungen über §ine jede Materie sind überall zusammengerückt, so daß der Nachschlagende das ganze Material über ein Gesetz

ohne Unterbrechung

überschauen und

durchgehen kann.

Die Bestimmung der

Reihenfolge unter den einzelnen Materien wurde soviel möglich nach der Zeitsolge ihrer Behandlung im Reichstage getroffen, weil oft in der Besprechung der einen

Materie auf die vorausgegangene Erörterung einer anderen zurückgegriffen wird,

und weil ohnehin jede parlamentarische Körperschaft im Verlauf ihrer Wirksamkeit eine allmälige Geistesentwickelung durchmacht, welche meistens zum Verständniß jeder einzelnen Leistung die Kenntniß des Vorausgegangenen erheischt.

Natürlich konnte

jedoch dies System nur so weit eingehalten werden, als nicht das Bedürfniß der

Zusamnlenstellung der drei Berathungen, welche oft zeitlich weit auseinander liegen,

die entgegengesetzte Nothwendigkeit mit sich führte. Es verdient noch bemerkt zu werden, daß die Zeichen des Beifalls und Miß­ falls, sowie anderer Bethätigung der Zuhörerschaft durch Abkürzungen, welche leicht

verständlich sind und so weit nöthig, durch eine Zeichenerklärung erläutert werden, sich angedeutet finden.

Es schien dies unentbehrlich, damit der Leser von dem

Geist der Verhandlungen ein untrügliches Bild erhalte. Eine wesentliche Ergänzung dieser Zusammenstellung wird ein möglichst voll­ ständiges Wort- und Sachregister liefern, welches am Ende eines jeden Bandes er­ scheinen soll.

Dasselbe wird so eingerichtet sein, daß es auf jede Frage nach einer

konkreten oder grundsätzlichen Lösung, die in den Debatten des Reichstages gesucht

werden mag, direkte Antwort ertheile.

Wer über die Besprechung einer Persön­

lichkeit, eines Orts, eines staatsrechtlichen Problems in der betreffenden Periode

Aufklärung wünscht, muß an der Hand eines solchen Registers sofort den Weg ans Ziel finden.

Den historischen, parlamentarischen, gesetzgeberischen, juristischen

Studien, welche auf Schritt und Tritt das Bedürfniß nach solchen Rückgriffen er­

wecken, wäre damit ein höchst erheblicher Dienst geleistet. Weder die Verlagshandlung noch die Herausgeber schmeicheln sich, auf den ersten Schlag in dieser von Schwierigkeiten starrenden Aufgabe das Richtige ge­

troffen zu haben.

Selbst nach drei- und vierfachen Umarbeitungen und beträcht­

lichen Opfern an Zeit und Kosten ist gewiß noch nicht überall der richtige Weg eingeschlagen.

Aber wenn, wie gehofft wird, der erste Versuch die Ansicht be­

stätigt, daß hier ein nützliches und willkommenes Unternehmen vorliegt, so werden

alle bei der Fortsetzung mitwirkenden Theile gewiß auf's Eifrigste sich der Auf­

gabe unablässiger Verbesserung und Vervollständigung ihrer Leistungen befleißen.

Berlin, 31. October 1871. L. B.

A. — Aufregung; Gr. A. — Große Aufregung. Abg. — Abgeordneter. B. = Beifall. Bew. — Bewegung. Br. — Bravo; L. B. — Lautes Bravo; Lebh. Br. — Lebhaftes Bravo. C. — Centrum. cons. — conservativ. Gel. — Gelächter. Gen. — Genossen. H. — Heiterkeit; Gr. H. — Große Heiterkeit.

fb

} = Hbrt, Hort!

l. = links. M. = Murren. | = Meine Herren!

m. g. H.! — Meine geehrten Herren!

nat. lib. — national-liberal. R. — Rechten (auf der R. — auf der Rechten). r. — rechts. S. g. — Sehr gut. S. r. — Sehr richtig. S. w. — Sehr wahr. U. — Unterbrechung; Anh. U. — Anhaltende Unterbrechung. Unr. — Unruhe. W. — Widerspruch. Z. — Zustimmung.

I.

Eröffnung und Constituirung des ersten Deutschen Reichstages. L Legislatur-Periode. 1. Session 1871. Am 21. März 1871 Nachmittags 1 Uhr fand im Weißen Saale des königlichen Schlosses in Berlin die feierliche Eröffnung des ersten Deutschen Reichstages statt.

Thronrede Seiner Majestät des Kaisers (Wilhelm I. Königs von Preußen): Geehrte Herren! Wenn Zch nach dem glorreichen, aber schweren Kampfe, den Deutschland für

seine Unabhängigkeit siegreich geführt hat, zum ersten Male den deutschen Reichstag um Mich versammelt sehe, so drängt es Mich vor Allem, Meinem demüthigen Danke gegen Gott Ausdruck zu geben für die weltgeschichtlichen Erfolge, mit denen seine Gnade die treue Eintracht der deutschen Bundesgenoffen, den Heldenmuth und

die Mannszucht unserer Heere und die opferfreudige Hingebung des

deutschen

Volkes gesegnet hat. Wir haben erreicht, was seit der Zeit unserer Väter für Deutschland erstrebt wurde: die Einheit und deren organische Gestaltung, die Sicherung unserer Grenzen,

die Unabhängigkeit unserer nationalen Rechtsentwickelung.

Das Bewußtsein seiner Einheit war in dem deutschen Volke, wenn auch ver­ hüllt, doch stets lebendig; es hat seine Hülle gesprengt in der Begeisterung, mit welcher die gesammte Nation sich zur Vertheidigung des bedrohten Vaterlandes

erhob und in unvertilgbarer Schrift

auf den Schlachtfeldern Frankreichs ihren

Willen verzeichnete, ein einiges Volk zu sein und zu bleiben. Der Geist,

welcher in dem deutschen Volke lebt und seine Bildung und

Gesittung durchdringt, nicht minder die Verfassung des Reiches und seine Heeres­ einrichtungen, bewahren Deutschland in Mitten seiner Erfolge vor jeder Versuchung

zum Mißbrauche seiner durch seine Einigung gewonnenen Kraft.

Die Achtung,

welche Deutschland für seine eigene Selbstständigkeit in Anspruch nimmt, zollt es

bereitwillig der Unabhängigkeit aller anderen Staaten und Völker, der schwachen, Reichstags-Nepertorimn. I.

1

2

Eröffnung und Constituirung.

wie der starken.

Das neue Deutschland, wie es aus der Feuerprobe des gegen­

wärtigen Krieges hervorgegangen ist, wird ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner

eigenen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbtheil zu bewahren. Es hat Mir zur besonderen Genugthuung gereicht, in diesem Geiste des Frie­ dens in Mitten des schweren Krieges, den wir führten, die Stimme Deutschlands

bei den Verhandlungen geltend zu machen, welche auf der durch die vermittlelnden

Bestrebungen Meines auswärtigen Amtes herbeigeführten Konferenz in London ihren befriedigenden Abschluß gefunden haben. Der ehrenvolle Beruf des ersten deutschen Reichstages wird es zunächst sein, die Wunden nach Möglichkeit zu heilen, welche der Krieg geschlagen hat, und den Dank des Vaterlandes denen zu bethätigen, welche den Sieg mit ihrem Blut und Leben bezahlt haben; gleichzeitig werden Sie, geehrte Herren, die Arbeiten beginnen,

durch welche die Organe des deutschen Reiches zur Erfüllung der Aufgabe zusammen­ wirken, welche die Verfassung Ihnen stellt: „zum Schutze des in Deutschland gül­

tigen Rechtes und zur Pflege der Wohlfahrt des deutschen Volkes". Die Vorarbeiten für die regelmäßige Gesetzgebung haben leider durch den Krieg Verzögerungen und, Unterbrechungen erlitten; die Vorlagen, welche Ihnen zugehen werden, leiten sich daher unmittelbar aus der neuen Gestaltung Deutsch­ lands ab.

Die in den einzelnen Verträgen vom November vorigen Jahres zerstreuten Verfassungsbestimmungen sollen in einer neuen Redaktion der Reichsverfaflung ihre

geordnete Zusammenstellung und ihren gleichmäßigen Ausdruck finden. Die Be­ theiligung der einzelnen Bundesstaaten an den laufenden Ausgaben des Reiches bedarf der gesetzlichen Regelung. Für die von der königlich bayerischen Regierung beabsichtigte Einführung norddeutscher Gesetze in Bayern wird Ihre Mitwirkung in Anspruch genommen werden. Die Verfügung über die von Frankreich zu leistende Kriegsentschädigung wird nach Maßgabe der Bedürfniffe des Reiches und

der berechtigten Ansprüche seiner Mitglieder mit Ihrer Zustimmung getroffen, und die Rechenschaft über die zur Kriegführung verwendeten Mittel Ihnen so schleunig

vorgelegt werden, als es die Unfftände gestatten. Die Lage der für Deutschland rückerworbenen Gebiete wird eine Reihe von

Maßregeln erheischen, für welche durch die Reichsgesetzgebung die Grundlagen zu schaffen sind. Ein Gesetz über die Pensionen der Offiziere und Soldaten und über die Unterstützung ihrer Hinterbliebenen soll für das gesammte deutsche Heer die Ansprüche gleichmäßig regeln, welche der gleichen Hingebung für das Vaterland an den Dank der Nation zustehen. Geehrte Herren, möge die Wiederherstellung des deutschen Reiches für die

deutsche Nation auch nach Innen das Wahrzeichen neuer Größe sein; möge dem deutschen Reichskriege, den wir so ruhmreich geführt, ein nicht minder glorreicher

Reichsstieden folgen, und möge die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in dem Wettkampfe um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen.

Das walte Gott!

3

Eröffnung und Constituirung. — Adreßdebatte.

Ar demselben Tage fand die erste Sitzung und provisorische Constituirung durch dem Alterspräsidenten Abg. von Frankenberg-Ludwigsdorf statt. — Der Namens­ auffruf ergab als anwesend 274 Mitglieder (von im Ganzen 382 Mitgliedern, die der Reichstag nach den bestehenden Vertrügen zählt). Za der 2. Sitzung wurden nach Vorschrift der Geschäftsordnung für die ersten 4 Wochen gewählt zum 1. Präsidenten Abg. Dr. Simson mit 276 von 284 Stimmen; 1. Vicef'räsidenten Abg. Fürst von Hohenlohe-Schillingsfürst mit 222 von 28(6 Sümmen; 2. Vicepräsidenten Abg. von Weber mit 150 von 295 Stimmen. (Zn der 19. Sitzung fand durch Akklamation die Wiederwahl der drei Präsidenten für die ganze Session statt.) Zu Schriftführern wurden in der 3. Sitzung für die ganze Session gewählt: die Abgeordneten Dr. Becker (Fortschritt) und v. Puttkammer (nat.-lib.) mit je 280 Stimmen, v. Unruhe-Bomst (Deutsche Reichspartei) mit 278 Stimmen, Frei­ herr Schenck v. Stauffenberg (nat.-lib.) mit 276 Stimmen, Stavenhagen (cons.) nit 273 Stimmen, Eckhard (nat.-lib.) mit 272 Stimmen, v. Schöning (coms.) nit 270 Stimmen, Dr. Lieber (Centrum) mit 205 Stimmen. Ueber die in Beantwortung der Thronrede an den Kaiser zu richtende Adresse fand in der 7. Sitzung am 30. März 1871 die Debatte statt. Es lagen 2 Anträge vor: der eine von den Abgg. v. Bennigsen u. Gen.; der andere von den Abgg. Dr. Reichensperger, Probst u. Gen.

Abg. von Bennigsen: M. H.! Der Adreßentwurf, welcher unter den Unter­ zeichnern an erster Stelle meinen Namen trägt*), ist entstanden aus einer freien Be­ sprechung von Vertrauenspersonen sämmtlicher damals konstituirter Parteien des Hauses. Alle übrigen Parteien, mit Ausnahme der des Centrums, haben durch ihre Unterschrift dokiumentirt, daß sie mit diesem Adreßentwurf einverstanden sind. Auch die Mitglieder, welche aus der Fraktion des Centrums an den Verhandlungen Theil genommen hatten, waren bis auf einen Punkt im Wesentlichen einverstanden mit den Absichten und mit dem Inhalte des Adreßentwurfs. Die Einigung scheiterte an diesem einen, wie sich bald zeigen wird, aber entscheidenden Punkte. Zn einer der letzten Sitzungen der freien Konferenz verließen die Vertrauensmänner des Centrums diese freie Vorberathung, und ist dann die Abweichung ihrer Ansichten niedergelegt in dem Adreßentwurf, der Zhnen unter dem Namen Reichensperger u. Gen. unterbreitet ist. *) Derselbe lautet:

Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser, Allergnädigster Kaiser und Herr! Durch Gottes gnädige Fügung ist es Ew. Majestät und der einmüthigen Nation gelungen, die Sehnsucht der Vorfahren und die Hoffnung der Mitlebenden zu erfüllen. Auf festeren Grund­ lagen als je ist das Deutsche Reich wieder aufgerichtet, und die Nation ist entschlossen, es zu er­ halten in der Fülle seiner Kraft, es fortzuentwickeln auf den Bahnen der Freiheit und des Friedens. Wollen Ew. Majestät den Dank entgegennehmen, welchen die gesammte Nation dem erhabenen Feldherrn, dem Heldenmuth und der Hingebung des Deutschen Heeres schuldet, den Dank für die gewaltigen Thaten, denen es beschieden war, nicht allein die gegenwärtige Gefahr abzuwenden, son­ dern auch die Zukunft vor der Wiederkehr gleicher Gefahren zu schützen. Denn mehr noch als die erlittenen Niederlagen wird die jetzt starke Befestigung unserer Grenzen den Nachbarn zur Vorsicht mäßigen. Die schweren Drangsale, welche über die Noth des Krieges hinaus Frankreich heute erduldet, bekräftigen die oft, doch niemals straflos verkannte Wahrheit, daß in dem Verbände der civilisirten Völler selbst die mächtigste Nation nur in der weisen Beschränkung auf die volle Entfaltung ihres inneren Wesens vor schweren Verwirrungen gesichert bleibt. Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Ueberlieferungen eines fremdländischen Ursprunges folgten, durch Einmischung in das Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen. Das neue Reich ist dem selbsteigenen Geiste des Voltes entsprungen, welches, nur zur Abwehr gerüstet, unwandelbar den Werken des Friedens ergeben ist. Zm Verkehr mit fremden Völkern fordert Deutschland für seine Bürger nicht mehr, als die Achtung, welche Recht und Sitte gewährleisten, und gönnt, unbeirrt durch Abneigung oder Zuneigung, jeder Nation die Wege zur 1*

4

Adreßdebatte.

M. H., dieser Adreßentwurf weicht, mit Ausnahme des Satzes 4 am unserem Entwürfe, im Uebrigen wesentlich von dem Inhalte unserer Adresse nicht ab. Zn manchen Absätzen enthält er eine wörtliche Uebereinstimmung, die Abweichrnglen der übrigen Sätze sind zum Theil nur redaktioneller, jedenfalls nicht entscheidende Natur. Dagegen der vierte Satz unseres Adreßentwurfs war nach der Auffassung bet Mit­ glieder dieses Theils des Hauses ihren Ansichten und Intentionen so widerstrebend, daß sie, als die Mehrheit der freien Besprechung diesem Satz ihre Zustimmung gegeben hatte, sich an den Berathungen nicht weiter betheiligten und einen abweichenden Adreß­ entwurf in das Haus gebracht haben. M. H., zur Erläuterung des Sinnes dieses ab­ weichenden Satzes aus unserer Adresse weise ich darauf hin, daß derselbe sich eng an­ schließt an die Thronrede in ihrem vierten Absatz, an die Thronrede, zu wächer wir,

die Unterzeichner der beiden verschiedenen Adressen, im Uebrigen unsere volle und freu­ dige Zustimmung gegeben haben. Zn diesem vierten Satze der Thronrede war ein Ausdruck dahin enthalten, „daß Deutschland inmitten seiner Erfolge vor jeder Ver­ suchung zum Mißbrauche seiner durch seine Einigung gewonnenen Kraft bewahrt werde, daß Deutschland die Achtung, welche es für seine eigene Selbstständigkeit in Anspruch nehme, auch bereitwillig zolle der Unabhängigkeit aller anderen Staaten und Völker, der schwachen, wie der starken, endlich daß das neue Deutschland ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein werde, weil es stark und selbstbewußt genug sei, um sich die Ordnung seiner eigenen Angelegenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbtheil zu bewahren." Der wesentliche Kern dieses Theils der Thronrede besteht darin, daß die Politik des neuen deutschen Reichs von vornherein, sich beschränkend auf die Entfaltung seines inneren Lebens, auf die Eingriffe in das Leben und die Gestaltung fremder Völker verzichte. Diesem Satz gegenüber enthält der Entwurf der Herren Reichensperger u. Gen. eine ganz aufEinheit, jedem Staate die beste Form seiner Gestaltung nach eigener Weise zu finden. Die Tage der Einmischung in das innere Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vor­ wande und in keiner Form wiederkehren. Ew. Majestät folgen wir mit freudiger Zustimmung zu den dringenden Aufgaben, welche der beendete Krieg, und zu den dauernden Aufgaben, welche die Verfassung des Reiches uns stellt. Alle unsere Kräfte werden zuerst dem hohen Berufe gewidmet sein, die Wunden zu heilen, welche der Krieg geschlagen hat, und die Pflicht des Vaterlandes zu erfüllen gegen diejenigen, welche Leben oder Gesundheit für seinen Schutz geopfert haben. Allen Vorlagen werden wir unsere aufmerksame Mitthätigkeit zuwenden. Es überrascht nicht, daß der Krieg die Vorarbeiten der regelmäßigen Gesetzgebung verzögert hat, und vermindert nicht unsere Hoffnung, daß die Gesetzgebung des Reiches sich eben so fruchtbar erweisen wird, wie die Gesetzgebung des Norddeutschen Bundes. Die umfangreiche Einführung Norddeutscher Gesetze in den Südstaaten erhöht unser Vertrauen zu dem harmonischen Zusammenwirken aller Glieder des Reiches, auch der Organe, welche berufen sind, die einzelnen Staaten zu vertreten. Mit Genugthuung vernehmen wir, daß aus der Kriegsentschädigung zunächst das Bedürfniß des Reiches, sodann die berechnen Ansprüche seiner Mitglieder befriedigt werden sollen. Für das Wohl der für Deutschland zurückerworbenen Gebiete ist das Deutsche Volk mit den wärmsten Gefühlen brüderlicher Theilnahme erfüllt Die schönsten Denkmäler Deutscher Kultur und Deutschen Volkslebens erinnern an Deutsche Vergangenheit in Elsaß und Lothringen. Lange Ent­ fremdung hat manche Spuren eines reichen Jahrtausends Deutscher Geschichte verwischt, doch unsere Sprache und Sitte sind der Mehrzahl des Volkes noch unverloren. Mögen Gesetzgebung und Ver­ waltung zusammenwirken, an diese Beziehungen überall anzuknüpfen, das Wiedererwachen des Deutschen Geistes zu unterstützen und in der Versöhnung der Gemüther die Bande zu stärken, welche dre herrlichen Provinzen mit dem übrigen Deutschland wieder vereinigen. In diesem Geiste werden wir uns den Arbeiten widmen, welche die Grundlagen der neuen Ordnung schaffen oder vorbereiten sollen. Kaiserliche Majestät! Der Zufriedenheit Deutschlands, der Sicherheit Europas bat die Ein­ heit des Deutschen Reiches gefehlt. Jetzt ist die Einheit errungen und das Reich unter oem Schutze seines Kaisers, unter der Herrschaft seiner Verfassung und der Gesetze sicher gestellt. Jetzt kennt Deutschland keinen höheren Wunsch, als im Wettkampf um die Güter der Freiheit und des Frie­ dens den Sieg zu errmgen. Ew. Kaiserlichen Majestät allerunterthänigste treugehorsamste

Der Deutsche Reichstag.

Adreßdebatte.

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fallende Lücke. Während der Entwurf im Uebrigen sich an die Thronrede anschließt, sie umsäreibt, mit ihr seine Uebereinstimmung ausdrückt, fehlt dieser Gedankengang in dem Eckwurf der Abgg. Reichensperger u. Gen. vollständig, wogegen wir in un­ serem Entwürfe gerade sehr großen Werth darauf gelegt haben, dieser in der Thron­ rede ausgesprochenen Ansicht der Nichteinmischung in das Leben anderer Völker eine kräftige and deutliche Zustimmung zu geben. Wir haben das gethan in dem 4. Satze unseres Adreßentwurfs, wo es am Anfänge heißt: „Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Ueberlieferungen eines fremdländischen Ursprungs folgten, durch Einmischung in das Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen" — und wo am Schluß gesagt wird: „Die Tage der Einmischung in das innere Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren." M. H., der große Werth, den wir auf diese Sätze legten, hat leider zu unsern: Bedauern dahin geführt, daß eine volle Uebereinstimmung sämmtlicher Parteien des Reichstags für den Adreßentwurf, so erwünscht sie auch war, nicht hat erreicht werden können. . M. H., ich bin überzeugt, daß gewiß die große Mehrheit des Hauses in Uebereintimmung mit den Vertrauensmännern ihrer Fraktionen dieser unserer Ansicht bei der schließlichen Abstimmung entsprechen wird. Wenn die Thronrede schon einen großen Werth darauf legen mußte, in dem Moment, wo Deutschland seine neue Politik inaugurirte, derartigen Gesinnungen friedlichen Verhaltens gegenüber der Entwickelung anderer Länder und Völker Ausdruck zu geben, so waren wir, die Vertreter des jetzt geeinigten deutschen Volkes, dazu noch viel mehr berufen. M. H., dieser Grundsatz der Nichtintervention in die inneren Angelegenheiten fremder Völker, wie er ausgesprochen ist, in Uebereinstimmung mit der Thronrede vom ersten deutschen Reichstage, ist sehr geeignet, Besorgnisse fremder Nationen zu zerstreuen, auf der anderen Seite aber auch sehr geeignet, trügerische Hoffnungen, Verlockungen und Bestrebungen, welche die deutsche Politik auf Irrwege leiten könnten (Br.), von vomherein abzuschneiden. M. H., wir können es ja begreiflich finden, daß die Wiederauferstehung eines so mächtigen Deutschlands mit dem Namen von Kaiser und Reich alte Erinnerungen wachruft bei anderen Völkern und in unserem eigenen Volke. Unvergessen ist es bei den übrigen europäischen Völkern, daß dereinst unter dem Namen des deutschen Kaiserthums und des deutschen Reichs die Idee einer Universalmonarchie, eines Schutz- und Schirmrechts über alle Völker christlicher Religion bei den mächtigen Herrschern und in dem kriegerischen Volke der deutschen Länder lebendig war durch Jahrhunderte. Die anderen Völker Europas haben in der Zeit, wo Deutschland stark war, den Druck dieses Bestrebens erfahren; ja, wir wollen es nicht verschweigen, es hat Zeiten gegeben, wo die Deutschen in dem Uebergriff in das Leben anderer Völker, in der Neigung, sich Macht und Einfluß nicht blos, sondern auch Länder zu verschaffen, die anderen Nckionen und Völkern angehörten, wo die Deutschen in der Zeit der Kraft des mittel­ alterlichen deutschen Kaiserthums der Schrecken Europas gewesen sind. Dieser Schrecken, so lange Jahrhunderte auch dazwischen liegen der Schwäche und des Verfalls Deutsch­ lands, könnte sehr wohl wieder lebendig werden zu einer Zeit, wo unverhofft und unerwartet für Deutschland und für das Ausland eine unerhörte Kraftentwickelung des deutschen Wesens in wenigen Jahren zu Tage getreten war. Ueberraschend wie die Wirkungen dieser Kraft waren, in der sich vereinigten die Staatskunst der Fürsten, wie die in militärischer und bürgerlicher Tüchtigkeit sich dokumentirende ungebrochene Nckurkraft eines großen Volkes, überraschend wie dieser Eindruck sein konnte auf an­ der» Völker, war allerdings zu besorgen, daß diesem neu entstandenen mächtigen deutschen Reiche nicht das Vertrauen, sondern das Mißtrauen, die Besorgniß anderer Völker entgegen getragen werden. Manche Erscheinungen unerwünschter Art, die wir in den letzten Wochen und Monaten bei unseren Nachbarländern erlebt haben, haben bestätigt, daß derartige Besorgnisse und Vorurtheile vorhanden sind. Ja, m. H., ich

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gehe weiter, ich sage, wenn Deutschland lange Zeit schwach gewesen ist, md wenn die Neigung vorhanden war, nicht blos bei dem zu einer mächtigen militärischen mnd poli­ tischen Einheit gestalteten Frankreich diese Schwäche auszunutzen zu wiedrholten Er­ oberungskriegen, wenn auch bei schwächeren und kleineren Nachbaren iie Neigung vorhanden war, ihre Interessen gegen Deutschland geltend zu machen, welhes zur Zeit des alten Reichs und des Bundestags kraftlos, uneinig, jeder nationalen Politik un­ fähig war, so kann auch das Gefühl des gegen Deutschland begangenen Unrechts, welches in dem Bewußtsein dieser Nachbarvölker aus früheren Zeiten he: noch fort­ lebt, gerade die Besorgnisse verstärken, daß der jetzt zu dieser Höhe hermgewachsene deutsche Staat auch seinerseits geneigt sein möchte, ■ von der ihm geworrenen neuen Kraft sich zu Uebergriffen fortreißen zu lassen, ähnlich, wie er sie früher von starken und schwachen Nachbaren hat erdulden müssen. M. H., dem von vornherän entgegen­ zutreten haben wir um so mehr Veranlassung, weil wir jetzt, wo wir dem deutschen Reich entrissene alte Reichslande wieder zurücknehmen, auch noch von Nachbarn um­ geben sind, deren Länder ganz oder theilweise aus Provinzen zusammergesetzt sind, welche früher Jahrhunderte lang zum deutschen Reich gehört oder doch längere Zeit mit demselben in losem Verbände gestanden haben. M. H., gerade wmn wir die deutschen Grenzlande gegen Frankreich jetzt als einen Preis — neben ter politischen Einigung — aus dem Kriege heimtragen, könnte die Befürchtung entstehen, da wir ja Hand gelegt haben auf Länder, die einst zu Deutschland gehört Haber, in denen deutsche Sitte und deutsche Sprache noch nicht untergegangen ist, es werde in dem deutschen Staat die Neigung erwachen, auch noch weiter nach Ländern sich umzusehen, welche dereinst in engerem Verbände mit dem deutschen Reich gestanden haben. M. H., wir wissen, daß es anders ist, wir wissen, daß derartige Gelüste nicht vorhanden sind, weder bei den Regierungen des neuen Reichs noch bei seinen Vertretern. Aber je bestimmter wir diese Ueberzeugung haben, um so weniger werden wir derartige Be­ sorgnisse und Befürchtungen aufkommen lassen, und wir haben die Verpflichtung, wenn die kaiserliche Regierung in einer so offenen und loyalen Weise sich den fremden Nationen und unseren Nachbarn gegenüber zeigt, wenn sie ihre friedliche Politik der Nichteinmischung proklamirt, dem unsere freudige und kräftige Zustimmung nicht zu versagen. (Br.) Ich gehe aber noch weiter. Wenn wir auf diese Art den dauernden Frieden in Europa befördern, indem wir durch die deutsche Politik das Gefühl der Sicherheit nicht blos in unserem Vaterlande, sondern auch bei unseren Nachbarn hervorzurufen uns bemühen, so, glaube ich, haben wir auch die Verpflichtung gegenüber dem deutschen Vaterlande, von vornherein zu warnen vor den Abwegen und Irrwegen deutscher Po­ litik, die dereinst mehr als irgend etwas Anderes den Verfall des deutschen Reichs herbeigeführt haben. (Br.) — M. H., an den Namen von Kaiser und Reich knüpfen sich nicht blos Erinnerungen so mancher Kriege Deutschlands mit seinen Nachbarn, der Uebergriffe, die die deutsche Politik im Mittelalter mit Erfolg auf diesem Gebiet ver­ sucht hat; es knüpfen sich vor Allem an den Namen von Kaiser und Reich die großen und verhängnißvollen Kämpfe, welche die deutschen Kaiser, nicht als Könige von Deutsch­ land, sondern als Kaiser mit den Rechten und Ansprüchen, die den Nachfolgern der römischen Imperatoren beizuwohnen schienen, mit der römischen Kirche, mit dem Lande Italien geführt haben. M. H., unsere Ausgabe wird es sein, von vornherein darüber bei unserem eigenen Volke keinen Zweifel zu lassen, daß die ganz überwiegende Mehr­ zahl, eine überwältigende Mehrheit seiner Vertreter in voller Uebereinstimmung mit der kaiserlichen Regierung weit entfernt ist, in diese alten, falschen Bahnen deutsch-ckalienischer und kirchlicher Politik wieder einzulenken. M. H., wenn vielen von uns namentlich im Norden die Erinnerung in das Mittelalter als etwas Trübes, Fremdartiges erscheint, nicht blos wegen der langen Zwischenzeit einer jammervollen deutschen Geschichte, die Jahrhunderte lang, einer poli­ tischen Wüste gleich sich hinzog, gegenüber dem kräftigen politischen Leben anderer Völ­ ker, so sind es gerade diese traurigen Erinnerungen an eine Politik, welche gerade die

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glcänzzemdsn Herrschergestalten unserer kaiserlichen Vergangenheit erfüllte. M. H., mit denn Mann von Kaiser und Reich tauchen die alten Kämpfe und furchtbaren Gegen­ sätze nvietr auf zwischen Kaiser und Papst, die fortdauernden verwüstenden Einfälle, diee eeiirie ngemessene Folge blühender Geschlechter deutscher Jugend gezwungen hat, ihr Leibern .zu lassen in den italienischen Gefilden, mit allem Verderben, welches dadurch füir ZdaL äßere und innere Leben des italienischen wie des deutschen Volkes entstandem isü. M.H., was versucht ist im Mittelalter auf diesem Gebiete der Universalmwncarchie auf diesem Gebiete der gegenseitigen Beherrschung zwischen Staat und Kirche, znvisähem Deutschland und Italien, das ist von derartiger verhängnißvoller Bedeutung fü:r 'Deuthland gewesen, daß die beste Kraft großer Kaiser und eines tüchtigen Volkes erffollglos ich erschöpfte. Selbst die glänzendsten Erscheinungen unserer Kaiser, darunter Fiigmren, )ie der Zauber des Genies und der Romantik bekleidet, wie der zweite Fried­ rich ((ui§ em Hause der Hohenstauffen, waren zuletzt durch diese Kämpfe, die sie mehr umd nuehrvon den Ausgaben abzogen, die Deutschland gegeben waren, dem deutschen Vcaterrland so entfremdet, daß sie fern in Palermo Hof hielten, umgeben von aller Kmltmr, de Süditalien im Mittelalter bieten konnte, um Deutschland sich nicht kümmeertEN, ii langen Regierungsjahren Deutschland kaum betreten haben und ihren Nachfollgewn Dutschland durch Bürgerkrieg und ewige Fehden verwüstet und zerrissen hinterließein. — M. H., diese Erinnerungen werden wieder lebendig, wenn wir jetzt auf BEswebunjen stoßen, unsere deutsche Politik in ähnliche Bahnen einlenken zu lassen, unrd das st es gerade, was uns auffordert, von vorn herein in dem ersten Augenblick, wo der dcutsche Kaiser den Reichstag um sich versammelt hat, wo die Grundlage ge­ legt werdm soll zur auswärtigen Politik des ganzen Deutschlands, einen Markstein aurfzurichter deutlich und sichtbar für alle Welt, im Znlande und Auslande, daß die deutsche Politik künftig begrenzt sein solle auf die inneren Aufgaben Deutschlands, daß niht mehr ihre Aufgabe sein solle, in das Leben fremder Nationen einzugreifen. M. H., wenn wir das jetzt aussprechen, so werden wir damit gar nicht darauf verzichten, daß wir alle Angriffe, die gegen unser Recht, gegen unsere Interessen ver­ sucht werden sollten, abwehren mit den kräftigsten Mitteln, die uns zu Gebote stehen; wir hoffen aber auf diesem Wege herbeizuführen, daß solche Verirrungen in Deutsch­ lands Verlockungen auf Irrwege, von denen ich annehme, daß sie jetzt noch schwankend, urrbestimmi und zögernd nur versucht werden, im Keim erstickt werden, wo sie noch, nicht gefährlich sind, unter Uebereinstimmung der großen Mehrheit des Reichstags in voller Harmonie mit der kaiserlichen Regierung. Wir werden uns den Frieden sichern, wir werden dem Auslande die Genugthuung geben einer friedlichen Politik, die ihnen läßt dasjenige, was wir in Anspruch nehmen. Wir werden zur Abwehr jederzeit gerüstet sein, denn die Heereseinrichtung, welche alle Klassen des Volkes gleichmäßig zum Wehrdienst beruft, wird hindern, daß jemals die kriegerischen Tugenden unseres Volkes nachlassen. Zn gelassener Ruhe können wir erwarten, ob wir von Neuem vom Auslande zum Kriege herausgefordert werden. Stark genug sind wir in der vollen Einheit der Nation mit solchen Heereseinrichtungen jedem Angriffe eines einzelnen, auch des größten, Landes gegenüber, stark genug können wir sagen, sind wir selbst gegenüber Koalitionen mehrerer Staaten, und die Staatskunst, welche die letzten Jahre die deutsche Politik geleitet hat, gleichmäßig kühn und umsichtig mit fester Hand, wird dafür sorgen, daß wirkliche Gefahren größerer Koalitionen unserem Vaterlande erspart werden, und sie wird eine Erleichterung darin erblicken, wenn sie nur für eine loyale Politik anderen Völkern gegenüber von dem Reichstage jetzt und künftig eine Unter­ stützung wird in Anspruch nehmen dürfen. (Br.) M. H., in Uebereinstimmung mit der Thronrede werden wir unsdenjenigen Aufgaben widmen, welche uns gegeben sind durch den Krieg: wir sind gern bereit, die Leiden zu mildern, soweit es möglich ist, derjenigen, die ihre Gesundheit verloren haben, der Familien derjenigen, die für unsere deutschen Erfolge in Frankreich gefallen sind; wir werden mit Freuden die Vorlagen entgegennehmen, die uns die Möglichkeit

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geben, die wiedererworbenen alten deutschen Reichslande sobald wie möglich in den deutschen Reichsverband aufzunehmen; wir werden für die Aufgaben des Friedens, die uns unterbreitet werden, der Staatsregierung volle Uebereinstimmung und Mitwirkung entgegentragen. Stark in unserer wiedergewonnenen Einheit werden wir von anderen Völkern nicht angegriffen werden; wir werden die Zeit haben und den Beruf in uns fühlen, die Kulturgaben in vollem Maße zu entwickeln, zu denen, wenn irgend ein Volk, das deutsche Volk berufen ist durch die reichen und köstlichen Gaben, mit denen die Natur es gerade für die friedlichen Thaten ausgestattet hat, und wenn wir in diesem Sinne unsere Aufgabe jetzt auffassen und auf diesem Gebiete die Thätigkeit des deutschen Volkes sich konzentrirt, dann werden wir hoffen können, den glänzenden Blättern der Geschichte, welche in Wahrheit doch in friedlichen Thaten bestehen, wie sie nur von irgend einem Volke der alten und neuen Zeit verzeichnet sind, würdig in den nächsten Generationen unserer deutschen Geschichte, für welche gerade jetzt mit diesem Jahre eine neue Epoche angebrochen ist, würdig an die Seite zu treten. (Lebh. Br.) Abg. Dr. Reichensperger (Crefeld): Ich bedaure sehr, nicht in so glänzender, bestechender, und ich füge hinzu, würdiger Weise, wie mein geehrter Herr Vorredner den von ihm eingebrachten Entwurf vertheidigt hat, auch den unsrigen*) vertheidigen zu können. Ich werde mich indeß nur bemühen, in einfachen schlichten Worten die­ jenigen Motive Ihnen darzulegen, welche uns veranlaßt haben, obgleich Minorität und obgleich von dem Bewußtsein durchdrungen, daß wir hier die Majorität nicht erlangen würden, mit einem selbstständigen Entwurf vorzugehen. Der Grundgedanke, welcher uns beherrscht hat, war der: wir wünschten sehr, der Thronrede gegenüber, welche zum ersten Male vor dem deutschen Parlament gehalten worden ist, unseren Gefühlen einen gemeinsamen Ausdruck zu geben. Ich weiß sehr wohl, daß in anderen Ländern, und namentlich in Frankreich, die Adreßdebatten in der Regel dazu benutzt wurden, um die Gegensätze der Parteien möglichst scharf hervortreten zu lassen; würfelte man doch in der Regel bei solchen Veranlassungen um die Ministerportefeuilles! Gottlob be*) Derselbe lautet:

Allerdurchlauchtigster, Großmächtigster Kaiser, Allergnädigster Kaiser und Herr! In dem großen Augenblicke, da Eure Kaiserliche Majestät nach glorreichen Siegen und nach wiederhergestellter Einigung der deutschen Nation den ersten Reichstag um sich versammelt, beugen wir uns in Demuth vor Gott, mit dessen Gnade wir zu diesem Ziele gelangt sind. Wir bringen Eurer Majestät, dem erhabenen Feldherrn, den Dank der Natton dar für den Heldenmuth und die Hingebung des deutschen Heeres, dem es beschieden war, von Deutschland die drohenden schweren Gefahren zu wenden und ihm die Stellung inmitten der europäischen Staaten zu sichern, die es durch seine Kraft und durch die Gesittung ferner Bürger einzunehmen berufen ist. Was mit dem Einsätze so großer Opfer errungen worden, das wird sich Deutschland unter allen Umständen bewahren, es wird sich aber auch im Bewußtsein der erprobten Macht fortan um so eifriger fernen inneren Aufgaben zuwenden, allen anderen Staaten und Völkern eine Bürgschaft und ein Vorbild friedlicher Entwickelnng. Eurer Majestät folgen (u. s. w. wie bei Bennigsen). Allen Vorlagen werden wir unsere aufmerksame Mitthätigkeit zuwenden. Es überrascht nicht, daß der Krieg die Vorarbeiten der regelmäßigen Gesetzgebung verzögert hat; um so zuver­ sichtlicher ist unsere Hoffnung auf eine segensreiche Thätigkeit in der Zukunft. Mit Genugthuung vernehmen wir, daß aus der Kriegsentschädigung zunächst das Bedürfniß des Reiches, sodann die berechtigten Ansprüche seiner Mitglieder befriedigt werden sollen. Für das Wohl (u. s. w. wie bei Bennigsen). Kaiserliche Majestät! Die innere Befriedigung unseres deutschen Vaterlandes nicht minder als die Sicherheit Europas ist durch die errungene Einheit dauernd gesichert, eine Einheit, welche, weit entfernt, die Erhaltung altbegründe.ter, berechtigter Besonderheiten der einzelnen Stämme aus­ zuschließen, dieselben vielmehr gewährleistet. Mit Eurer Kaiserlichen Majestät hegen wir das feste Vertrauen, daß aus dem neu beginnenden Wettkampfe um die Güter der Freiheit und des Friedens die Natton nicht minder siegreich hervorgehen wird, als aus dem Waffenkampfe, dessen Lorbeern Unseres erhabenen Kaisers Stirne schmücken. Eurer Kaiserlichen Majestät allerunterthänigste treugehorsamste Der deutsche Reichstag.

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finden wir uns nicht in solcher Konstellation, es handelt sich nicht um Kabinets- und Miinisterfragen, es handelt sich eben darum, den Gefühlen, wie sie hier und durch ganz Deutschland herrschen, wie gesagt, einen gemeinsamen Ausdruck zu geben. Von dieser Rücksicht geleitet, glaubten meine Freunde und ich zunächst alle geschichtlichen Rückblicke vermeiden zu müssen, wie wir deren mehrere in dem uns vor­ liegenden Bennigsen'schen Entwurf finden. Diese Tribüne, von welcher aus ich spreche, ist nun einmal kein Professorenkatheder; wir befinden uns in einer politischen Ver­ sammlung und nicht in einer Akademie der Wissenschaften. (Br. r.) — Geschichte läßt sich nun einmal nicht dekretiren; die Gegensätze in den geschichtlichen Anschauungen werden nicht beseitigt werden, wie groß auch immer die Majorität für diejenige sein mag, welche Sie, meine Herren von der Majorität, zu der Ihrigen gemacht haben. Deswegen haben wir Alles herausgestrichen, was irgendwie den Stab über unsere Vergangenheit bricht; wir haben nur die Gegenwart und die Zukunst in's Auge gefaßt. Meine Ansicht, um es ganz kurz zu sagen, ist die, daß wir allesammt in unseren Vätern gesündigt haben, (S. w.! H.) und daß wir allesammt uns bemühen sollen, in diejenigen Fehler nicht wieder zu verfallen, die von unseren Vätern auf der einen wie auf der anderen Seite begangen worden sind. Wir sollen darum aber nicht hier die Asche unserer Väter aufrühren. Ich meine, wir haben wichtigere Dinge zu thun, als geschichtliche Exkurse zu machen, geschichtliche Händel hier auszufechten. (S. w.! im C.) Da also zu solchen geschichtlichen Erörterungen keine Noth vorliegt, so haben wir da­ von Abstand genommen. Dieser geschichtliche Ueberblick ist indeß vielleicht nur ein überleitender Ton zu demjenigen, was nunmehr folgt, zu einer Theorie des Nicht-Znterventionssystems, wie es in dem Adreßentwurf uns vorgelegt wird. Wenn der geehrte Herr Vorredner geglaubt hat, auf Seiten der Amendementssteller habe eine kriegerische Absicht wenigstens im Hintergründe gelauert, so glaube ich ihn dieser Hinsicht im eigenen Namen sowohl als im Namen meiner Freunde voll­ kommen beruhigen zu können; es scheint mir indeß auch, daß schon ein flüchtiger Blick auf unseren Entwurf zeigt, daß überall der Wunsch durchklingt, daß eine friedliche Entwickelung des neuen deutschen Reichs eintreten möge. Wir haben gesagt, daß das neue deutsche Reich nach allen Richtungen hin eine Bürgschaft des Friedens, nicht blos im Innern, sondern auch hinsichtlich des Verhältnisses zu den Nachbarstaaten biete. Ich glaube, wir haben in dieser Hinsicht deutlich genug unsere Ansicht ausgesprochen, um eine Mißdeutung seitens Unbefangener nicht befürchten zu müssen. Ich will übri­ gens einräumen, daß auch ich meinerseits in der vorläufigen Kommission zur Be­ sprechung des Adreßentwurfs bemüht war, auf den von Herrn von Bennigsen an­ gezogenen Passus der Thronrede etwas ausführlicher zu antworten und auch meinen Ansichten über die Eventualitäten einer Intervention einen positiven Ausdruck zu geben. Später bei der Redaktion unserer Adresse waren wir in gleicher Weise bemüht uns auszusprechen, und ich gestehe weiter offen, daß es uns nicht gelungen ist, einen adä­ quaten Ausdruck hierfür zu finden. (Bew.) — In ganz anderer Lage, m. H., be­ finden sich die Staatslenker, welche angesichts zber auswärtigen Verhältnisse, die sie überblicken, auch bestimmte Aeußerungen thun, bestimmte Entschlüsse fassen können: in dieser Lage befinden wir uns nicht, wenigstens nicht zur Zeit. M. H., der Passus, welcher mit den Worten „Auch Deutschland" beginnt und mit den Worten schließt „unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren" — also: die Einmischung in die Angelegenheiten anderer Völker soll unter keinem Vor­ wande und in keiner Form wiederkehren — dieser Passus scheint mir zunächst wesent­ lich nur theoretischer Natur zu sein, praktisch und faktisch scheint er mir jedenfalls nicht zuzutreffen; er scheint mir sogar schlechthin nicht gebilligt werden zu können. Es ist, m._ H., bis dahin immer als eine Christenpflicht angesehen worden, löschen zu helfen, wenn das Haus des Nachbarn brennt (Ah! I.) — das „Ah" von dieser Seite deutet mir an, daß man diese Christenpflicht als einen sogenannten überwundenen Stand­ punkt ansieht. (Gr. H. S. r.! im C.) Nun, m. H., falls es denn nicht Christen­ pflicht ist, zu löschen, wenn des Nachbarn Haus brennt, so ist es, meines Erachtens,

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doch wenigstens Selbsterhaltungspflicht, dann Vorkehr zu treffen und zu löschen, wenn dieser Nachbarbrand unserem eigenen Hause Gefahr droht; ich glaube, darin würden Sie doch wohl einverstanden sein müssen, m. H.! Aber auch selbst dieser Fall ist aus­ geschlossen durch die apodiktische Weise . . . (Lebh. W.) — (nach einer Unterbrechung fortfahrend): Apodiktischer, entschiedener kann man ein absolutes NichtinterventionsSystem nicht formuliren, als es hier geschehen ist. Ich habe schon bemerkt, daß ich mich bemüht habe, da ich selbst kein Staatsmann bin, durch Nachlesen politischer Schrift­ steller mir es in etwas klar zu machen, in welchem Falle eine Intervention zulässig oder nicht zulässig, in welchem Falle sie auf dem Gebiete des Völkerrechts gebräuchlich oder nicht gebräuchlich ist. Zch habe das zu meiner Orientirung gethan, aber ich muß gestehen, das Resultat meines Nachlesens hat mich immer dahin geführt, daß über diese Frage ein theoretischer Satz nicht aufzustellen sei, und ich kann nicht besser, nicht schla­ gender diejenige Ansicht, welche ich schließlich über die Frage gewonnen habe, Ihnen mittheilen, als wenn ich Ihnen einen Passus — er ist nicht allzu lang — aus einem Handbuch der praktischen Politik vorlese. Zch hoffe, es wird dagegen nichts zu erinnern sein, es dient sogar zur Abkürzung. (Ruf l.: Namen!) — Natürlich werde ich den Namen nennen: der Autor heißt Escher und ist*) Professor an der Hochschule in Zürich, also Professor in der freien Schweiz und kein Ultramontaner. (H.) — (Redner verliest einen Passus, der die Zulässigkeit der Intervention im concreten Falle anerkennt und die Gegner dieser Anschauung der Unterjochung durch Schlagwörter und der Heu­ chelei bezichtigt.) — Unser Autor citirt für diese Sätze auch noch elements du droit international, Heffters Völkerrecht, die Encyklopädie von Mohl und Bülau rc. M. H., das sind die Sätze, welche ich mir aneigne; nur würde ich hier und da nicht so starke Ausdrücke gebraucht haben, weil ich sehr viel Werth darauf lege, es mit den Herren (nach l. deutend) nicht zu verderben. (H. l.) Nun vergleichen Sie, m. H., mit diesen Aussprüchen, die ich also zu den meinigen mache, dasjenige, was der Adreßentwurf uns sagt. Derselbe kulminirt in Bezug auf den in Rede stehenden Streit­ punkt in dem Satze: „Die Tage der Einmischung in das innere Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren." M. H., kann man absprechender, kann man absoluter reden, als es hier geschehen ist!? Fürs Erste muß ich bemerken, daß schon das Wort „Vorwand" mich stößt. Zch traue unserer Staatsregierung und namentlich unserem erhabenen Staatsoberhaupte zu, daß man nach „Vorwänden" nicht sucht (Br. auf der äußersten Rechten); von Vorwänden kann hier, am wenigsten offiziell, keine Rede sein. Und „in keiner Form sollen sie wiederkehren", sagt man, also auch nicht einmal in der diplomatischen Form. Wenn man glaubt, daß in irgend einem Völkerkomplex schreiendes Unrecht geschieht, welches fort und fort weiter Unrecht gebären kann, — soll man dann auch nicht einmal diplo­ matisch interveniren; auch die sogenannte moralische Intervention — eine Form, die freilich praktisch sehr ost eine unmoralische war — selbst diese sogenannte moralische Intervention ist ausgeschlossen, denn „unter keinem Vorwande und in keiner Form" soll ja intervenirt werden. Also wenn große Nationen, große Völkerstämme sich in der vollständigsten Gährung befinden, soll die mächtige deutsche Nation im Herzen Europas erst die Ueberschwemmung abwarten, ehe sie einen Damm baut. (Z. r.) M. H., mein Stolz als Deutscher setzt sich dem entgegen. (Lebh. Br. r.) — Herr von Bennigsen hat, um diesen Passus etwas näher zu motiviren, einen Rückblick in das Mittelalter gethan, allerdings seinem Adreßentwurfe folgend. Er hat namentlich vor Heereszügen über die Alpen gewarnt und hat geglaubt, daß daraus wieder das alte Unheil für Deutschland erwachsen könne. M. H., ich bin weit davon entfernt, einem solchen Heereszuge hier ohne Weiteres das Wort zu reden, eben von dem Stand­ punkte aus, den ich vorher entwickelt habe, weil ich nämlich glaube, daß solche Fragen nur in concreto beurtheilt werden können. Zch will aber, das sage ich eben so offen, *) war; am 13. Februar 1870 gestorben.

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einen absoluten Riegel nicht vorgeschoben haben. (£.: Aha!) — Es können allerdings Verhältnisse sich ergeben — vielleicht haben sie sich schon ergeben —, wo in solch un­ erhörter Weise die Traktate mit Füßen getreten werden, welche das sogenannte euro­ päische Gleichgewicht herstellten, wo in so unerhörter Weise, sage ich, die Traktate ver­ letzt erscheinen, daß eine Frage, welche augenblicklich sich nur als eine innere darstellt, doch für die Zukunft die größten Gefahren für das gesammte Europa in sich schließen kann. Solchen Gefahren aber wird man doch hoffentlich vorbeugen dürfen in irgend einer Form (S. w.! r.), und äußerstenfalls auch mit der ultima ratio. Der vorliegende Entwurf, m. H., aber gewährt einen Freibrief zur Verletzung aller Traktate. (S. r.! r.) Wir wollen, das ist meine Ansicht, nicht das Beispiel des eben gestürzten Herrschers einer mächtigen Nachbarnation nachahmen, welcher die Traktate von 1815 für detestabel erklärt hat. Wohin diese Anschauungsweise ihn ge­ führt hat, das weiß die Welt, und ich brauche es Ihnen nicht erst zu sagen. — Wenn Herr von Bennigsen noch darauf hingewiesen hat, wie die Gegensätze zwischen Kaiser und Papst die Quelle von furchtbarem Unheil gewesen seien, so will ich das einmal zugeben, um mich eben nicht in nähere historische Untersuchungen einzulassen; ich gebe dies zu, aber ich glaube, m. H., das ist doch unser Wunsch, daß ein solcher Gegensatz nicht entsteht; wir wollen ja nicht den Gegensatz zwischen Kaiser und Papst, wir wollen vielmehr die Einigkeit zwischen Kaiser und Papst. (Aha! l.; Br.! r.) Ich hoffe, das wird denn doch noch ein berechtigter Wunsch sein; (H.) ich will noch hinzüfügen, daß ich das zuversichtlichste Vertrauen hege, daß solche Einigkeit her­ gestellt wird. Ich hoffe, m. H., das bisher Gesagte wird schon genügen, um Ihnen darzuthun, daß es uns, meinen Freunden und mir, die von denselben Gesichtspunkten ausgehen, nicht möglich ist, schon um des einen, die Intervention betreffenden Passus willen, dem Adreßentwurf, welchen die Majorität eingebracht hat, zuzustimmen. Ich bedaure lebhaft, aber ich kann nicht anders. Ich komme nun zu einigen untergeordneten Meinungsverschiedenheiten, welche in unserem Entwurf Ausdruck gefunden haben. Zunächst aber freut es mich aus vollem Herzen, denjenigen Passus, welche auf die Nichtinterventions-Theorieentwickelung folgen, zusammen zu können. Darin sind wir eben Alle einverstanden, daß es unsere hei­ ligste Pflicht ist, die Wunden zu heilen, welche der Krieg geschlagen hat, die Pflicht des Vaterlandes zu erfüllen gegenüber denjenigen, welche Leben und Gesundheit für seinen Schutz geopfert haben. Vor Allem sollte, meiner Ansicht nach, die Deutschland zufrllende Kriegsentschädigung diesem Zwecke gewidmet werden. Es folgt nun in dem durch Herrn von Bennigsen eingebrachten Adreßentwurf wi(der ein Satz, den wir uns nicht vollständig aneignen können. Es heißt da: „Es überrascht nicht, daß der Krieg die Vorarbeiten der regelmäßigen Gesetz­ gebung verzögert hat, und vermindert nicht unsere Hoffnung, daß die Gesetz­ gebung des Reiches sich eben so fruchtbar erweisen wird, wie die Gesetzgebung des norddeutschen Bundes. Die umfangreiche Einführung norddeutscher Ge­ setze in den Südstaaten erhöht unser Vertrauen zu dem harmonischen Zusam­ menwirken aller Glieder des Reiches, auch der Organe, welche berufen sind, die einzelnen Staaten zu vertreten." M. H., ich will hier keinen direkten Widerspruch einlegen; aber die Tendenz scheint mir eine solche zu sein, welcher ich nicht zustimmen kann. Die Fruchtbarkeit auf dem Geriete der Gesetzgebung artet sehr leicht in Superfötation aus, (H.) und man muß in dieser Beziehung, meines Erachtens, sehr bedenklich sein. Nur nicht zu rasch vor­ gehen, aber am allerwenigsten sich überstürzen! — darauf aber scheint mir der Wunsch des Entwurfs hinaus zu laufen. Draußen im Volke habe ich schon vielfach die Aeußerurg gehört, daß die hohen Versammlungen gewissermaßen Gesetzessabriken seien, die mit Dampfmaschinen arbeiten; ich bin natürlich weit entfernt davon, diesen Vergleich zu adoptiren, ich referire nur. Es scheint mir nun nichts ungeeigneter zu sein, als ein übereiltes legislatorisches Vorgehen, namentlich wenn es sich um ganze Gesetzbücher

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handelt. Es ist ein alter Spruch, m. H.: quid leges sine moribus! Dieser Spruch scheint ganz vergessen zu sein; man bekümmert sich durchweg wenig darum, welche Sitten, welche Gewohnheiten, welche Herkommen in den betreffenden Ländern herrschen, man dekretirt einfach einen Gesetzkodex, und die Leute müssen ihn annehmen; sie mö­ gen wollen oder nicht, sie müssen sich darnach richten, ohne auch nur eine Ahnung davon gehabt zu haben, was denn bei ihnen eigentlich Gesetz und Recht werden soll. Weiter glaube ich noch hinzufügen zu müssen, daß sehr oft solche Gesetze gemacht wer­ den, Gesetze, die im striktesten Sinne organische Gesetze sind, ohne daß man weiß oder wenigstens gehörig in Ueberlegung zieht, welche Gesetzgebung man verdrängt — dar­ auf aber kommt es doch auch an —, ohne daß man in Erwägung zieht, daß die Ge­ setzgebung, die vielleicht Jahrhunderte oder doch Generationen hindurch bestanden hat, gewissermaßen Fleisch und Blut des Volkes geworden ist, sich mit seinem innersten Wesen identificirt hat. Blos um der Abstraktion „Einheit" willen, damit Alles ein­ heitlich ist, muß Alles beseitigt werden, was dieser Einheit irgendwie störend oder hindernd entgegen steht. Das ist nicht der rechte Weg der Gesetzgebung. Sie wissen, daß eine unserer größten Autoritäten auf dem Gebiete der Gesetzgebung, v. Savigny, daß diese große Autorität bezweifelt und seine Zweifel sehr ernstlich motivirt hat, ob überhaupt unsere Zeit berufen sei, gesetzgeberisch im großen Stil, im weiteren Sinne des Wortes, vorzugehen. (U.) — Zch glaube, m. H., es wäre sehr räthlich, dieses Büchlein noch einmal zur Hand zu nehmen, und möchte ich es der verehrlichen Ma­ jorität vor Allem empfehlen. Man spricht so oft von französischer Leichtfertigkeit, und leider kann man das Volk von diesem Vorwurfe nicht ganz freisprechen; aber auf dem Felde der Gesetzgebung dürfen Sie ihm diesen Vorwurf nicht machen, in dieser Be­ ziehung können wir uns sogar die leichtfertigen Franzosen zum Muster nehmen. Zch bitte nur nachzulesen, auf welchem Wege die verschiedenen Gesetzbücher zu Stande ge­ kommen sind, welche man Frankreich gegeben hat, um die heillose Verwirung zu be­ seitigen, die auf dem ganzen Gebiete des Rechts und der Rechtspflege geherrscht hat; eine Verwirrung, wie sie auch am Rhein bei uns vor der französischen Zeit herrschte. Eine derartige Verwirrung herrscht aber keineswegs in Deutschland; durchweg befinden fich die deutschen Stämme in ganz behaglichen Zuständen, was die Gesetzgebungsma­ terie betrifft. Deswegen bitte ich Sie, übereilen Sie auf dem in Rede stehenden Ge­ biete nichts, treffen Sie alle Vorsichtsmaßregeln, fragen Sie möglichst viele Experten und vor Allem die Volksstämme, ob es ihnen recht ist, um der bloßen Einheit willen neue Gesetze zu bekommen. So also, m. H., glauben wir auch in Bezug auf diesen Passus eine Modifikation eintreten lassen zu müssen, eingedenk überdies des bekannten Ausspruches von Tacitus: pessima respublica, plurimae leges. Nun, m. H., komme ich zum Schluß. Wie Sie aus unserem Entwürfe sehen, haben wir auch den letzten Passus der Bennigsen'schen Adresse verändern zu sollen ge­ glaubt. Zn diesem Passus ist zweimal von der Einheit die Rede, sie ist ganz beson­ ders betont. Auch vorher war dieselbe einmal betont worden. Ich meinerseits bin weit entfernt, den Einheitsbestrebungen entgegentreten zu wollen. Auch wir haben von einer Einheit gesprochen, welche wünschenswerth ist in vielen solchen Dingen, wo die Einheit wahrhaften Vortheil bringt, oder wo die Besonderheit dem Ganzen schadet. Zn diesen Fällen wollen auch wir die Einheit. Aber, m. H., wir wollen nicht eine Einheit, die durch Einerleiheit sich zu erkennen giebt, wir wollen keine starre Symmetrie, wir wollen, wie Sie es auch selbst in Ihrem Entwurf gesagt haben, wir wollen har­ monische Einheit, wir wollen Harmonie, das heißt Einheit in der Verschieden­ heit. Diesen Wunsch nun ^wollten wir betonen, wir wollten demselben vor dem Throne Seiner kaiserlichen Majestät Ausdruck geben. Es ist ja doch auch verfassungs­ mäßig die Besonderheit der verschiedenen Stämme berücksichtigt, eben so wie das Mo­ ment der Einheit. Warum sollte denn in einer Adresse nicht dem einen wie dem anderen Wunsche Ausdruck gegeben werden? Zch schließe, m. H.: zu allem Glücke waltet ein Grundgedanke durch beide, Adreßentwürfe; es findet derselbe in dem Wunsche seinen Ausdruck: Gott schütze das neue

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demtsche Reich, Gott erhalte recht, recht lange seinen siegreichen Kaiser! Möge Gott feinten Segen dazu verleihen, daß unter dem mächtigen Scepter des Kaisers der Friede, der' innere wie der äußere, freudig gedeihe! (Br. im C. und auf der äußersten R.) Abg. Schulze: Sicher, m. g. H., hat der Schluß des Redners, der vor mir auff dieser Tribüne war, auch Sie nach einer gewissen Richtung hin erfreut. In Situmtionen, wie die jetzige, wo es sich ja in solcher Adresse nicht etwa blos darum hamde't — wogegen sich auch der Herr Vorredner verwahrt hat —, die Stellung der einzelnen Parteien eines parlamentarischen Körpers, der zum ersten Mal zusammentritt, zu signalisiren, sondern wo es wesentlich mit gilt, dem Ausland gegenüber Position zu nehmen, da ist es gewiß wünschenswerth, daß die verschiedenen Richtungen in Bezug auf die politische Entwicklung, in Bezug auf innere Fragen zurücktreten vor einer gemeiinsamen nationalen Haltung. Wir haben eine solche zu finden gewußt beim Beginn des» Krieges, als wir, die Parteien, die sich in vielen Ansichten scharf bekämpft hatten, wo es die innere Entwicklung galt, einhellig die Mittel zu dem Kriege bewilligten. Wi:r haben damals eine einheitliche Adresse ohne jeden Gegenentwurf zu Stande ge­ bracht, und das, m. H., hätten wir unbedingt auch jetzt gesollt, wo der Friede dem Kampfe gefolgt ist, wo es gilt, wie der zuerst diese Stelle einnehmende Redner bemetrkte, die ganzen Tendenzen und Ziele eines neuen gewaltigen Staatswesens, welches in das europäische System eintritt, vor dem Welttheil zu kennzeichnen. Ich bedauere daher, ungeachtet des Schlusses des Herrn Vorredners, den Gegen­ antrag. Wenn das so ist, wie er sagte, wenn die Friedenswünsche wirklich so vor­ herrschend sind unter den Herren, auch die Wünsche des äußeren Friedens nach allen Seiten, dann, glaube ich, dürfte die Differenz mit dem Ausdrucke des Friedensdranges unserer Nation durch den ursprünglichen Adreßentwurf, wie er in dem Hervorheben des Prinzips der Nichtintervention enthalten ist. Sie, m. H., nicht veranlassen, mit einem Gegenentwurf aufzutreten. Sie konnten sich dann, weil die Sache eben nur neben­ sächliche Bedeutung gewinnt nach den letzten Motten des Herrn Vorredners, der ja den. Wunsch einer Intervention seinerseits nicht betonte, Sie konnten sich dann wohl, des Eindruckes gedenkend, den das einheitliche Auftreten nach außen hat, dem Entwürfe anschließen. Aber, m. H., die Sache ist nicht so unschuldig, wie sie nach den letzten Motten des Herrn Vorredners aussieht. (Oho! im C.) Denn wir kennen ja eine Menge von Thatsachen, die es uns sehr wohl klar machen, weshalb man von Seiten der Herren auf die Dinge nicht eingegangen ist. Lassen Sie mich zuerst anknüpfen an die Position, die wir nach Außen gewinnen durch das Kaisetthum. Solche geschicht­ liche Rückblicke wurden von dem Herrn Vorredner als etwas rein Theoretisches, als eine Vorlesung blos, die wenig in einem Parlament zu sagen habe und nicht dahin gehöre, bezeichnet. Ich frage Sie, m. H., wie kann denn ein Volk sich der Ziele seiner Politik, der Gesetze, der geschichtlichen Entwickelung, die es von einem bestimmten Aus­ gangspunkte aus in der Vergangenheit verfolgt hat, und durch welche es nach einer bestimmten Richtung in der Zukunft mit innerer Nothwendigkeit hingedrängt wird, — wie kann ein Volk seiner ganzen geschichtlichen Bestimmung sich anders bewußt werden, als durch geschichtliche Rückblicke? Es existitt ja gar kein anderer Weg, man muß ja in der Vergangenheit die Zukunft sich spiegeln lassen, wenn man sich überhaupt in diesen Dingen klar werden will. Und da that es gewiß sehr noth, wie der erste Adreß­ entwurf thut, zu sagen: das ist nicht das alte römische Kaiserthum deutscher Nation; das ist etwas ganz Anderes! Gebrochen ist für immer mit dem verhängnißvollen Erbe, welches sich an den Kaisertitel — an den römischen Kaisettitel wohl verstanden — geknüpft hat. Wir sind zu der Erkenntniß gekommen, daß die Deut­ schen gar nicht dazu gemacht sind, solchen Dingen nachzujagen. Ja, woran ist denn jener Aufschwung, dessen der Herr Kollege von Bennigsen gedachte, jenes Anstreben der Weltherrschaft — denn es ist doch nur ein Versuch geblieben im Mittelalter, wir sind doch nicht zum rechten Ziele gelangt! — woran ist er gescheitett? Während die römische Weltherrschaft gebrochen wurde, theils durch den Verfall ihres eigenen Wesens, theils durch den Ansturm der Germanen, während der Cäsarismus in Frank-

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reich zweimal niedergeworfen ist vom Auslande, ist das römisch-deutsche Kaifirthurn in seinen Machtbestrebungen gescheitert durch den Konflikt mit dem eigenen inneren Wesen der deutschen Nation. Es wurde im Stich gelassen durch bett, alten deutschen Zug, das Widerstreben gegen Centralisation, und ohne Centralisation im Innern ist doch die Vergewaltigung des Auslandes nicht durchzuführen bei solchen Wellherrschastsgelüsten! Zn uns selbst hat sich der Bruch mit jenem Anlauf vollzogen, und m. H., zu dem Mangel dieser Eigenschaft, dazu, daß wir das Zeug nicht haben, eine Weltherrschaft zu gründen, daß dies vielmehr unserem inneren Wesen widerstrebt, dazu gratulire ich unserem Volke und dazu gratulire ich dem Welttheile. Gewiß ist aber der Hauptpunkt der Differenz, die Nichtintervention und der prinzipielle Ausdruck derselben im ersten Entwürfe, von dem allerhöchsten Werthe. Za, das Prinzip der Nichtintervention — wenn ich nicht irre, deutet dies auch der Herr Vorredner an — hat schon mehrfach auf der europäischen Tagesordnung gestanden und ist verschiedentlich durchbrochen worden hier und da; namentlich der französische Cäsa­ rismus hat es mehrfach durchbrochen. Aber woran lag denn das? — Zch behaupte, das Prinzip der Nichtintervention in seiner Durchführung in Europa war absolut un­ möglich vor der nationalen Konstituirung Deutschlands. Zu dieser Stelle berufen uns Natur und Geschichte! Die Lage unseres Landes im Herzen des Welttheils bringt es mit sich, daß Weltherrschastsgelüste — sie kommen von Osten oder von Westen, sie kommen vom Norden oder vom Süden — über uns hinweg müssen. Deutschland muß erst niedergeworfen werden, man muß erst mit uns fertig sein, ehe von irgend einer Seite her dem Welttheil die Diktatur, die Obmacht, aufgedrängt werden kann. Wie das französische Prestige seine Bedeutung verloren hat in dem Augenblicke der deutschen Konstituirung, so wird es jeder andern solchen Anmaßung geschehen, sie komme woher sie wolle. Das ist unsere natürliche Aufgabe. Erst jetzt kann im Ernst davon die Rede sein, daß die Nichtintervention in Europa zum großen geltenden Prinzipe erhoben werden kann. Noch möchte ich Einiges bemerken gegen den Herrn Vorredner. Er führte für dies frühere Verhältniß zwischen dem römischen Kaiser und römischen Papst, wenn ich ihn recht verstanden habe, an: die Vereinigung dieser Gewalten, der geistlichen und der weltlichen, sei doch besonders wünschenswerth; es sei ja die Hauptabsicht gegenwär­ tig, eine Einigung zu stiften;man solle daher nicht länger von den Konflikten reden, die früher so viel Unheil bei uns hervorgerufen. Za, m. H., mit dieser Einigung zwischen den Gewalten hat es seine eigene Bewandtniß; sie sind im Augenblicke einig, wenn sich die eine der anderen absolut unterwirft; aber ehe das nicht geschieht, ist es mit dieser Einigung gegenwärtig nichts, wie es früher damit nichts war. Die Grenze der Kompetenz zwischen den beiden Gebieten, die sie für sich in Anspruch nehmen, ist äußerst elastisch. Entweder die eine oder die andere wird überwiegen. Und wenn die weltliche Gewalt ihre alte Form in dem absoluten Princip aufgegeben hat — gegenüber der geistlichen Gewalt des Papstthums in der neuen Form der Unfehl­ barkeit wird sie sich schwerlich zu Konzessionen herbeilassen können, wenn da nicht die eine Macht sich der anderen fügt und ganz bestimmte Schranken anerkennt, was wahrscheinlich in der nächsten Zeit nicht in Aussicht steht. M. H., es ist mit dieser Einigung nichts, wollen wir uns auf diesen Zielpunkt der Entwickelung nicht hindrän­ gen lassen, sondern lieber diejenigen Garantien in unserem kräftigen Staatswesen fin­ den, die uns vor Konflikten dieser Gewalt so viel als möglich schützen! Ich meine, wir sind es ganz entschieden unserer Stellung schuldig, daß hier auf das Allerausführ­ lichste, auf das Deutlichste ausgesprochen werde, wie wir denken uns in der Zukunft Europa gegenüber zu verhalten. M. H., es ist keine Phrase, wenn wir hier unter uns aussprechen: man hört auf die Debatten dieses Hauses weithin im Auslande, und es ist doppelt unsere Pflicht, daß wir hier, ohne irgend eine Zwischendeutung zuzu­ lassen, uns klar darüber aussprechen, was uns ziemt und was auf dem Gange, den die Entwickelung genommen hat, uns für Ziele vorschweben. Wir mögen die geschichtlichen Rückblicke für so werthvoll oder so wenig werth-

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voll Hallen, wie wir wollen, wir kommen doch immer wieder darauf zurück. Das Mißtrauen, welches uns von vielen Seiten im Auslande entgegentritt und was ein sehr praktisches Ding ist, wahrhaftig nichts Theoretisches, die Antipathie und die Furcht, die uns entgegentreten und Demonstrationen ganz unerhörter Art gegen uns veran­ lassen — worauf sind sie begründet? Eben auf die geschichtlichen Rückblicke. Man sagt sich im Auslande: das und das ist geschehen in früheren Zeiten von Seiten Deutschlands, in den Zeiten seiner Kraft; was wird jetzt geschehen, wo Deutschland wieder in dieser eminenten Kraft und Bedeutung auftritt? — Also mit dem bloßen Abweisen dieses Mißtrauens kommen wir nicht aus, wir müssen ganz entschieden uns darüber klar werden und es hier aussprechen: daß vermöge der geschichtlichen Mission unseres Volkes wir dazu berufen sind, den Cäsarismus zu stürzen, aber wahrhaftig nicht dazu, ihn von Neuem zu begründen. Wir haben in den schlimmsten Zeiten un­ serer politischen Ohnmacht und Erniedrigung eine große Kulturmission in unserem Vaterlande verfolgt, wir haben mit an der Spitze der civilisatorischen Entwickelung gestanden, und kein anderes Volk hat Aehnliches aufzuweisen, denn bei den übrigen Völkern kommt die große Epoche ihrer Literatur und was damit zusammenhängt, erst auf dem Höhepunkt der politischen Entwickelung zur Erscheinung. Wir sind dieser großen civilisatorischen Mission nie untreu geworden; wir haben sie festgehalten und uns dadurch fast allein unseren Namen in der Geschichte erhalten in den Zeiten der kläglichsten öffentlichen Zustände. Nun, m. H., in dem Augenblick, wo wir die natio­ nale Konstituirung, die Sicherung der staatlichen Existenz nach so großen Kämpfen durchgeführt haben, werden wir die doppelte Verpflichtung fühlen, dieser civilisatorischen Mission nicht untreu zu werden und uns nicht auf Bahnen verlocken zu lassen, die so unsägliches Unheil für unser Vaterland heraufbeschworen haben. Deshalb, m. H., meine' id), wie auch die Tendenz sein mag, wie man auch die Nichtintervention, die

wir ja ganz klar in dem Entwurf der Adresse als eine solche bezeichnet haben, die sich enthalten soll, in die innere Gestaltung anderer Völker einzugreifen, von jener Seite auffassen mag, — wir müssen ganz unbedenklich für den ursprünglichen Adreßentwurf stimmen, weil eben nur er dieses Prinzip klar ausspricht, um dessen Konstatirung vor Europa es uns hier zu thun sein muß. Wenn der Herr Vorredner das Bild von dem Brennen des Hauses des Nach­ barn gebraucht hat, so ist das gewiß ein sehr mißliches. Ja, m. H., da fragt es sich doch immer, wenn der Nachbar aufgerufen wird: wem gehört denn das Haus, das gerettet werden soll? Können denn nicht diejenigen, die gerade in dem Hause wohnen sollen, für die das Haus bestimmt ist, eine andere Gestaltung dieses Hauses wünschen? und soll sich dann der Nachbar einmischen, (M.; gr. U.) um das wieder herzustellen, was den eigentlichen Inhabern des Hauses gar nicht paßt? (F. U.) Das ist ein äußerst mißliches Bild, das führt zu sehr schlimmen Konsequenzen; und die Berechti­ gung, über das Haus zu verfügen, die von vielen Seiten doch sehr wahrscheinlich den Völkern zugesprochen werden wird, ist eine Sache, über die man sich erst klar sein muß, ehe man sich in die ganzen Konsequenzen dieses Bildes näher einläßt. Zch bitte, m. H., stimmen Sie für den ursprünglichen Adreßentwurf. (Lebh. Br.) Abg. Miquel: M. H., in der Adresse ist — und darin stimmen alle Parteien überein — der höchste Dank dem Kaiser persönlich ausgesprochen, der Dank der gan­ zen Nation der Armee, der Heeresleitung, dem General wie dem einfachen Soldaten dargebracht. Wenn auch die ganze Nation von diesem Gefühl durchdrungen ist, wenn die Adresse diesem Gefühl Ausdruck gegeben hat, so glaube ich, ist es doch gerathen, daß es auch hier noch einmal durch das einfache Wort von Herz zu Herz wieder be­ tont wird. (Br.!) — Die ganze Nation ist der Bewunderung ihrer eigenen Brüder voll; was eine Armee leisten kann, ist geleistet worden: Muth, Ausdauer, Disciplin, in Allem ist die deutsche Heeresleitung und deutsche Armee unübertroffen. Der Gegen­ satz wird um so schärfer, wenn wir das Verhalten einer auch tapferen Nation, der französischen, damit vergleichen. M. H., dann, wenn wir diesen Vergleich ziehen,

kommen wir aus

den eigentlichen Grund unserer Kraft, —

nämlich der Unterschied

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Adrehdebatte.

besteht in der sittlichen Grundlage, auf der unsere Entwickelung, auf der derr deutsche Charakter beruht. . Zn der Adresse ist nicht bestimmt ausgesprochen der Dank für unsre politische Leitung, der Dank für den Herrn Reichskanzler, — nicht, glaube ich, als vemn irgend einer von uns diese Dankbarkeit gegen diesen Mann weniger lebhaft führte,, sondern es ist geschehen, weil er noch mitwirkend unter uns ist, und weil wir es', in einer Adresse an den Kaiser nicht für richtig halten, den einzelnen Mann besomerrs hervor­ zuheben, ich glaube aber in Uebereinstimmung zu sein mit der großen Mchrhieit dieses Parlaments, wenn wir ihn für denjenigen Staatsmann halten, der die gröftenr Schwie­ rigkeiten überwand und, so lange die deutsche Geschichte besteht, die gröftenr Erfolge erreicht hat. (Br.) M. H., es ist hier eine Differenz bedauerlicher Art entstanden, bedauerlich, weil es so wünschenswerth gewesen wäre, heute vollständig einig zu sein in der Vertretung des Volkes in der Feststellung unserer Friedenspolitik, wo wir doch alle so Vollständig einig gewesen sind, alle Staaten, alle Stämme, alle Konfessionen, in der Abwehr, in der Vertheidigung des Vaterlandes nach außen; bedauerlich doppelt, weil dieser Gegen­ satz ein sehr tiefer ist, weil man ihn nicht vertuschen und verheimlichen kann, weil wir durch die Lage der Dinge genöthigt waren, den Gegensatz offen zu Tage treten zu lassen. (S. r.! l.) — M. H., bis dahin sind die Redner mehr oder minder über diesen Gegensatz spielend hinweggegangen, sie haben ihn nur berührt, sie haben den Gegensatz nicht vollständig bloßgelegt; ich thue dies nur mit Widerstreben, ich glaube aber, es ist doch nützlich, wir werden uns dann vielleicht eher verständigen. Der Herr Abg. Reichensperger hat erklärt, er könne der Betonung der Nichtinterventions-Politik um deswegen nicht zustimmen, weil ein Grundsatz der Nichtintervention nicht aufgestellt werden könne, weil die Frage, ob ein Staat berufen sei, in die Sachen anderer Na­ tionen einzugreifen, nur in den einzelnen Fällen eine bestimmte Ansicht hervorrufen könne. Nun gut, m. H., — dieser einzelne Fall liegt vor, (s. r.! l.); der einzelne Fall ist bereits vorhanden, es haben doch eine große Anzahl sehr angesehener Ver­ treter einer großen Partei die Intervention zu Gunsten des Papstes gefordert; es ist eine Thatsache, daß bei den Wahlen gerade dies als Zweck der Wahlen bezeichnet worden ist, die Znterventionspolitik in Italien aufs Neue wieder aufleben zu lassen. (H.! H.!) M. H., unter diesen Umständen haben wir für uns und unsere Nachbarvölker zeigen wollen, daß dies nur eine Partei ist, daß die große Mehrheit in Deutschland von einer solchen Politik ganz und gar nichts wissen will. (Br.! I.). — M. H., wir haben in der Adresse dies nicht gerade bestimmt ausgedrückt in Beziehung auf Ztalien, aber derselbe Grundsatz, den wir in die Adresse ausgenommen haben, kann auch auf andere Verhältnisse Anwendung finden, und dies haben wir als Grundsatz hingestellt in der Adresse: nicht allgemein, unter keinen Umständen, keine Intervention, sondern wir haben gesagt, niemals Intervention allein aus dem Grunde, weil ein Volk sich seinen Staat und seine Einheit nach seiner Weise bildet. — Da liegt die Sache anders; allerdings den Satz stellen wir ganz allgemein hin: uns gereicht er zum Unheil, wenn wir, aus Sympathie oder Antipathie, aus religiösen oder politischen Tendenzen eine Tendenzpolitik verfolgend, die Zustände anderer Nationen und ihre Einrichtungen nach unserem Maße gebildet wisien wollen. Die Achtung vor der eigenen Unabhän­ gigkeit, die wir selbst für uns fordern, gestehen wir auch jeder anderen Nation zu. M. H., aus welchen Gründen sind denn die Kriege in den neuen und alten Zeiten entstanden? Einfach, weil dieser Grundsatz verleugnet wurde, weil entweder ein Volk sich berufen hielt, eine Universalmonarchie zu gründen und alle anderen Völker zu unterdrücken, oder weil es sich berufen und vorzugsweise aus religiösen Gründen verpflichtet glaubte, die Zustände anderer Nationen zu modeln, so wie sie ihm selbst richtig zu sein schienen. Der Mann, den wir jetzt niedergeworfen haben,, der Kaiser Frankreichs, was erklärte er noch bis in die neueste Zeit hinein in fast jeder seiner Thronreden, wenn er über das deutsche Volk sprach? Er sagte: die Deutschen mögen

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ihre Einrrichungen machen, wie sie ihnen bequem sind, sie mögen ihre Einheit Herstellen ober nicht, wir werden keine Hand rühren, so lange nicht unsere Interessen verletzt werden. & behielt sich also die Reserve vor, sobald Deutschland so mächtig würde, daß der französische Anspruch auf das Principat in Europa nicht mehr aufrecht erhalten werden Hörne, die Konstituirung Deutschlands zu verhindern. Daraus ist der Krieg heroorgegargen, daran ist Frankreich gescheitert. Wir wollen nicht in denselben Fehler verfallen.. (Br.!) M. vor Allem aber glaube ich, gerade das deutsche Reich ist dazu angethan, jede Eimmschung in die Verhältnisse eines andern Volkes aus konfessionellen und religiösem Gesichtspunkten abzuweisen. Es verträgt sich nicht, die Freiheit der Kirche und der Kmfession, die Unabhängigkeit der Verwaltung der eigenen Angelegenheiten, die Trenmmg der Kirche vom Staat zu fordern und gleichzeitig doch zu verlangen, daß mit Rücksicht auf die konfessionellen Glaubenssätze einer Religionspartei die ganze Nation ichre Politik einrichte und sich nötigenfalls selbst in einen Krieg zu verwickeln hätte. (Br!) Das verträgt sich nun und nimmermehr, und wenn die katholischen Staaten Erropas ruhig zusehen dem Schicksal des Papstes gegenüber, wie kann man dann von rns, einem Lande, von dem man doch zugeben muß, daß sehr gemischte Konfessionell darin vorhanden sind, daß mindestens fast 3/5 des Staates protestantisch sind, einem Lande, wo man zugeben muß, daß ein großer Theil auch der Katholiken eine solche Politik von sich weist, — (f. r.!) — wie kann man, sage ich, von einem solchen Larüe verlangen, daß es zu Gunsten des Papstes intervenirt, also auch nöthigen­ falls mit Waffengewalt seine Wiedereinsetzung fordert! M. H., wer intervenirt, wer Forderungen an einen Nachbarstaat stritt, der muß auch entschlossen sein, sie durch­ zuführen, sonst wird unsere Politik gleich der heutigen englischen werden, von der wir so klägliche Beispiele gesehen haben. Forderungen stellen und ihnen keinen Nachdruck geben, ist der allergefährlichste Fehler, den die Politik einer großen Nation machen kann. Sie sehen also, m. H., es handelt sich hier nicht'um Lehrbücher, es handelt sich hier nicht um die Richtigkeit eines staatsrechtlichen Grundsatzes, sondern um einen ganz konkreten Gedanken, um ganz bestimmte politische Forderungen, um deren Zugeständnis

oder Ablehnung. — Nun hat mein Freund Bennigsen mit Recht gesagt, man lasse derartige Agitationen oder Forderungen nicht zu weit kommen, im Keime muß man sie ersticken. Diejenigen, die sie wünschen, vielleicht aus innerem Gewissensgefühl wünschen, müssen von vorn herein, sobald sie die Forderung aufzustellen versuchen, sich darüber klar werden, daß damit in Deutschland nicht durchzudringen ist, daß das Kaiserreich von heute nicht das Kaiserreich des Mittelalters, das römische Reich deutscher Nation ist, sondern daß wir heute einen modernen Staat gründen,- wenn auch mit dem alten Namen, daß wir heute in dem Verkehr der Völker untereinander niemals aus politischen oder religiösen Gründen eine Tendenzpolitik, niemals die Politik der alten deutschen Kaiser, noch die Metternichsche Tendenzpolitik, die Politik des Löschens des Brandes, von dem der Herr Abg. Reichensperger gesprochen hat, ganz vollständig Metternichschen Ausdrücken folgend, daß wir solche Politik nie befolgen können. M. H., so bedauerlich es ist, daß wir hier nicht einig sind mit den Herren, so werthvoll ist es doch, daß alle anderen Parteien, wie ich glaube, einig stimmen werden, so gewichtig also wird das Wort sein, welches wir hier sprechen — doppelt gewichtig, weil wir glücklicher Weise dabei uns ganz an die Thronrede anschließen, nur das deutlicher und bestimmter noch, wie es naturgemäß in der Stellung der Volks­ vertretung liegt, aussprechen, was bereits der Kaiser als den maßgebenden Grundsatz der modernen Politik des heutigen deutschen Reichs proklamirt hat. Ich empfehle Zhnen die Annahme der Adresse. (Lebh. Br.) Abg. Freiherr von Ketteler (Baden): M. H., erlauben Sie mir, auch kurz zu motitnten, warum ich dem ersten Adreßentwurf nicht beistnnmen kann. Zch bedaure auch aus ganzer Seele, daß es dadurch unmöglich wird, daß Alle einstimmig im gan­ zen Hause sich zur selben Adresse bekennen; ich habe aber höhere Gründe, welche mich abhalten, diesem meinem Herzenswünsche zu folgen. Reichstags-Repertorium. 1.

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Unsere ruhmreiche Kriegsführung hat uns auch durch die schlichten, einfachen, wah­ ren Berichte über die Kriegsereignisse ein leuchtendes Beispiel gegeben. Sie hat diese Art, voll Wahrheit und Einfachheit zu berichten, gelernt von unserem erhabenen Kriegs­ herrn selbst, dessen ganze Natur dem entsprechend ist. Zn derselben Weise muß nun auch nach meiner Ueberzeugung der erste Reichstag den Kaiser ansprechen; in derselben schlichten, ganz wahren Art muß der erste deutsche Reichstag zum deutschen Kaiser reden. Ob der erste Entwurf dieser Anforderung entsprochen hat, ob er sich überall dieser Mäßigung des - Ausdruckes beflissen hat, welche beim Vollgefühl der Stärke und der Kraft immer lieber etwas weniger als zuviel sagt, will ich bezüglich aller Theile desselben nicht untersuchen; in einigen Sätzen scheint es mir jedenfalls nicht der Fall zu sein. Zch will namentlich drei Sätze hervorheben, die es mir schon unmöglich machen, der Adresse beizustimmen, ohne gegen die eben angegebene Regel zu verstoßen. Sie scheinen mir etwas von dem an sich zu haben, was man Phrasenmacherei nennt. Der erste Satz ist folgender: Auf festeren Grundlagen als je ist das deutsche Reich wieder aufgerichtet. Zch kann in diesem Augenblick der Entwickelung des deutschen Reichs das noch nicht unbedingt mit voller Wahrheit aussprechen. (H.! H.!) Die eine feste Grundlage des deutschen Reichs ist ein unvergleichliches Heer und eine unvergleichliche Heeresführung und vielleicht auch ein unvergleichliches Volk, was ich wahrhaftig nicht bezweifle. Zn dieser Hinsicht, glaube ich, können wir sagen, daß das deutsche Reich eine so feste Grundlage hat, wie sie in demselben Umfange noch nie vorhanden war. Das ist aber nicht die einzige Grundlage eines Reiches. Wenn wir jetzt schon urtheilen „auf festeren Grundlagen als je", so dürfen wir nicht ver­ gessen, daß wir da einen Vergleich ziehen mit einem Reiche, das doch jedenfalls lausend Jahre bestanden hat. Daß das jetzige Reich noch festere Grundlagen habe als jenes, das wünsche ich von ganzem Herzen; aber es.in dieser Art schon jetzt auszusprechen, das halte ich in diesem Augenblick noch nicht für berechtigt. So hat unser Heer und unsere Kriegsführung nicht gesprochen bei den großen und gewaltigen Siegen. (Br. auf der R. und im C.) Zu den festen Grundlagen eines Reiches gehört außer einem so tüchtigen Volke und einer so intelligenten Kriegsführung auch noch vor allem das, was jener alte Spruch sagt: justitia est fundamentum regnorum. Zch hoffe von ganzem Herzen, daß auch diese Grundlage dem neuen deutschen Reiche nicht fehlen werde, aber das muß sich erst beim Aufbau desselben zeigen; da muß sich zeigen, ob die Gerechtigkeit, die übrigen sittlichen Grundlagen eines Reiches, namentlich die Gottesfurcht, die auch zu den festen Grundlagen gehört, worauf man Reiche baut — ob auch in dieser Hinsicht überall das Fundament des neuen Reichs so stark sein wird, daß wir sagen können, es sei „auf festeren Grundlagen als je" gebaut. (Br. auf der R. und im C.) Der zweite Satz, der mir Bedenken macht, lautet: Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Ueberlieferungen eines fremdländischen Ursprungs folgten, durch Einmischung in das Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen. M. H., dieser Satz entspricht einer Geschichtsauffassung, wie wir auch heute von einigen Rednern schon etwas Aehnliches gehört haben. In wieweit nun die Geschichts­ auffassungen des Herrn Abg. Miquel und des Herrn Abg. Schulze-Delitzsch die richtigen sind, will ich gar nicht mit den Herren erörtern; ich gebe ihnen die volle Freiheit ihrer Anschauung. Ebenso verlange ich aber, daß sie auch so gerecht sein werden, auch uns die. volle Freiheit unserer Geschichtsauffassung zu lassen. (S. g.! im C.) — Darauf kommt es an. Da komme ich schon auf das fatale Kapitel der Gerechtigkeit auch gegen Andere. Es sind das eben verschiedene Geschichtsauffassungen, und wenn wir soeben gehört haben, wie viele Rückblicke und Nebenblicke und Hintergedanken mit diesen Sätzen verbunden sind, so finde ich diesen Satz um so bedenklicher. Der deutsche Reichstag ist für das ganze deutsche Volk; und wenn gesagt ist, daß wir Katholiken eine Minorität im deutschen Volke bilden, so scheint es mir um so mehr für Sie eine

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Pfliicht der Gerechtigkeit zu sein, daß Sie der Minorität auch Rechnung tragen und bei allgemeinen Adressen sich nicht Ausdrücke bedienen, die es uns eigentlich unmöglich machen, dafür zu stimmen, weil wir uns dadurch Ihren Geschichtsauffassungen anschließen müßten. (Br.! s. w.! auf der R.) — Gerechtigkeit auch in dieser Hinsicht! Ich'ver­ lange nicht eine Geschichtsauffassung, wie wir sie haben, als Ausdruck der Adresse für den deutschen Reichstag; eben so wenig müssen Sie es uns zumuthen, für eine Adresse mit Ihrer Geschichtsauffassung stimmen zu sollen; Sie machen es uns unmöglich, uns einer solchen Adresse anzuschließen, ohne unsere Anschauungen zu verleugnen. Der dritte Satz endlich, der es mir ganz unmöglich macht, jener Adresse beizu­ stimmen, ist eben der, den der Abg. Miquel, wie mir scheint, nicht richtig verstanden hat (Bew.) — Ich bitte um Verzeihung, wenn das ein harter Ausdruck ist; ich weiß nicht, wie ich mich milder ausdrücken soll — „Die Tage der Einmischung in das innere Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren." Können Sie das, m. H., können Sie das vor der Welt erklären? (Ruf L: Ja!) — Ja, das will ich einmal untersuchen. (H.) M. H., eben sind Sie im Begriff, einen Vertrag abzuschließen mit der Republik San Salvador. Aus diesem Vertrage erwachsen doch dem dortigen Volke Pflichten uns gegenüber, und wenn sich nun später diese Republik bei der Berathung ihrer inne­ ren Angelegenheiten über alle diese Pflichten hinwegsetzt und dieselben mit Füßen tritt, werden Sie dann auch antworten, „unter keinem Vorwande und in keiner Form mischen wir uns ein" ? (Lebh. W. und Unr. l.) Ich gehe noch weiter — haben Sie die Güte, mich noch etwas anzuhören, ich bin gleich fertig. — Wir sind jetzt Frankreich gegenüber. Da sind allerlei schwierige Verhältnisse noch zu lösen. Augenblicklich ist da ein großer Haß gegen uns Deutsche; — wir bedauren dies von ganzem Herzen, aber es ist der Fall. Wenn nun dieser Geist, der jetzt gegen Deutschland in Frankreich herrscht, seinen Ausdruck findet in der französischen Gesetzgebung, wenn eine solche Versammlung jetzt zusammentreten und uns rechtlos behandeln würde, Deutschland mit allen seinen Interessen und mit allen Bewohnern, die sich in Frankreich aufgehalten haben, werden Sie dann auch wieder antworten: „Unter keinem Vorwande und in keiner Form mischen wir uns ein in die Einrichtungen"? (Gr. Unr. l. Ruf: „in die inneren!") — Das steht nicht dabei. (Ruf L: „aber vorne!") — Rechtlich hätten Sie dabei setzen sollen. Ueberhaupt hat man so oft ausgesprochen — und das war berechtigt — daß wir jetzt einer Zeit entgegengingen, wo auch das deutsche Volk in allen Theilen der Welt einen mächtigen Schutz finden würde, der einzelne Deutsche, der sich in fernen Ländern aufhält, das Eigenthum der Deutschen, der Handel der deutschen Kaufmannschaft. Man hat darüber geklagt, daß wir bisher keinen Schutz gehabt haben in allen Theilen der Welt. Ich finde diese Klagen unaussprechlich berechtigt. Daraus scheint mir aber gerade hervorzugehen, daß es zum Wesen des deutschen Kaiserthums gehören wird, wo irgend ein deutsches Recht gekränkt wird, zum Schutz dieses deutschen Rechtes aufzu­ treten in allen Theilen der Welt. (Ruf I.: S. r.!) Ich werde mich jetzt mit Ihnen nicht in eine Diskussion darüber einlassen — da es nicht unsere Sache ist, Krieg zu erklären oder nicht, sondern nach unserer Verfassung Sache des Kaisers —, ich werde mich nicht in eine Diskussion der Frage einlassen, welche Rechte geschützt werden sollen, ob das nur materielle Rechte sind, oder ob das Reich auch andere vertragsmäßige Rechte schützen muß; ob namentlich in Bezug auf das, was Sie über den Papst gesagt haben, auch solche Interessen berechtigt sind, Schutz zu fordern? Das würde zu einer fruchtlosen Diskussion führen, und die müssen wir vermeiden. Ich bekämpfe nur den Satz, wie er nude hier steht, was wir nämlich offen vor der Welt erklären, das deutsche Kaiserreich und der deutsche Kaiser kann sich „unter keinem Vorwande, in keiner Form" in die Angelegenheiten der anderen Völker ein­ mischen. (Ruf: „in die inneren!") — Solche Fragen, wie ich sie vorher berührte, find eben zugleich auch innere, wenn sie in die Landesgesetzgebung hineingezogen werden. 2*

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Zn diesen Sätzen der Adresse entbehre ich also diese schlichte, diese wahre, diese nach allen Seiten hin gerechte Art des Ausdrucks, wie sie unserer Kriegsführung eigen war. Deshalb, so schmerzlich es mir ist, so unendlich ich mich gefreut hätte, wenn wir einstimmig eine Adresse hätten annehmen können, so treten hier doch höhere Rücksichten entgegen, welche es unmöglich machen. Prinzipien und Grundsätzen kann man nicht entsagen und eben so wenig der Pflicht, einfach die Wahrheit zu sagen. Deshalb bitte ich, unsere Adresse anzunehmen und die andere zu verwerfen. Abg. vr. Völk: M. h. H.! Sie werden begreiflich finden, wenn ich, der ich heute zum dritten Male diesen Platz einnehme, mit einer ganz besonderen Bewegung dies thue. Ich werde nicht einen Rückblick darauf werfen, was in den letztvergangenen Jahren in Beziehung aus Deutschland noch beim Zollparlament hier geschehen ist; aber ich werde wohl dem Gefühl der Genugthuung Ausdruck geben dürfen, wenn wir heute sagen können: das, was vor weniger als einem Jahr noch ein Wunsch war, dessen Erfüllung in der Ferne zu liegen schien, der deutsche Staat, ist heute zur Thatsache und zur Wirklichkeit geworden. Was die vorliegenden Adreßentwürfe anlangt, so kann ich dem, was von Seiten des Herrn Abg. Miquel angeführt worden ist, nur beistimmen. Es wäre sehr wünschenswerth gewesen, wenn es möglich gewesen wäre, einen einstimmigen Ausdruck dieses Hauses an den kaiserlichen Thron zu bringen; allein nach der geschichtlichen Entwicke­ lung dieser beiden Entwürfe ist dieses eben nicht möglich gewesen. Der letzte Herr Redner mir gegenüber, Bischof von Ketteler, hat Anstoß genommen an dem historischen Rückblick auf das Kaiserthum und hat das als einen Grund bezeichnet, warum er der Adresse nicht zustimmen könne. Ich werde mich in Erörterungen über die historische Richtigkeit oder Unrichtigkeit nicht einlassen. Ich will nur der Vollständigkeit halber bemerken, daß die Vertreter der Majorität geneigt waren, diesen historischen Rückblick aus der Adresse wegzulassen, wenn damit eine Einigung hätte zu Stande kommen können. (S. r.! h., h.!) Man kann also nicht das Stehenbleiben dieses Satzes als einen Grund anführen, weshalb es nicht möglich gewesen sei, hier einmüthig zu gehen. Aber der zweite Satz des vierten Absatzes des von Bennigsenschen Entwurfes, der ist es gewesen, welcher die Einigung unmöglich gemacht hat. Und warum, m. H.? Die Herren Redner der gegnerischen Seite gehen hier in verschiedenen Theorien über Intervention und Nichtintervention sich herumwindend zu Werke; man bringt ein Buch von Escher, man stellt allgemeine Theorien auf, verwirft sie, man geht, was man so sagt, herum, wie die Katze um den heißen Brei. (H. Br.! S. r.!) Warum, m. H. Gegner, wollen Sie sagen, wenn draußen im Lande bei den Wahlen damit agitirt worden ist, daß man gesagt hat, man dürfe nur gut und echt katholische Mit­ glieder in dieses Haus schicken, weil es die Aufgabe dieses Hauses sein wird, auf die kaiserliche Regierung dahin zu wirken, daß eine Intervention in Italien stattfinde. (H., H.! W.) So, m. H., ist agitirt worden! (Ruf im C.: Nein! l.: Ja!) Gut, m. H., die Einen sagen Nein, die Andern sagen Ja; — ich will Ihnen ein Auskunstsmittel geben: sagen Sie dort, daß Sie eine derartige Agitation miß­ billigen, daß Sie nicht wünschen, daß in Zukunft jemals wieder in einer derartigen Weise agitirt werde; erklären Sie (nicht, was man unter Intervention und Nicht­ intervention zu verstehen hat), sondern sagen Sie: es ist unsere Anschauung, daß das deutsche Reich zu Gunsten der Wiedereinsetzung der weltlichen Herrschaft des Papstes nicht intervenire! — wenn Sie das gesagt haben, m. H., dann werden sich die Sätze über Intervention und Nichtintervention ohne Weiteres finden lassen, und wir werden dann in den anderen Auffassungen gar nicht mehr weit auseinander gehen! (Br.! l.) Das, m. H., ist aber bis jetzt nicht gesagt worden; im Gegentheil, es scheint mir, wenn wir uns gegenseitig offen einander gegenüber treten wollen, daß nur des­ halb — und das ist sogar ausdrücklich gesagt worden von dem ersten Herrn Redner — dem betreffenden Satze nicht beigestimmt worden sei, weil man damit zugleich die Nichtintervention in die italienischen Angelegenheiten nicht bejahen wollte, und das ist der Grund gewesen, warum Sie der Adresse nicht zustimmen konnten. Wenn man

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nun sagt, es sei alle und jede Intervention des deutschen Reiches durch die frag­ lichem Sätze verboten „unter aller und unter jeder Form", so muß ich mich hiev zu­ nächst dem letzten Herrn Redner gegenüber wenden; und wenn er mit einem etwas harten Ausdruck, was er ja selbst gefühlt hat, Herrn Miquel vorgeworfen hat, er habe diesen Satz nicht verstanden, so möchte ich, ohne hart zu sein, dem Herrn Red­ ner mir gegenüber sagen, er habe die Sätze, um welche es sich hier handelt, seiner­ seits. nicht verstanden. Es ist gesagt worden: wir haben einen Vertrag mit der Repu­ blik San Salvador geschlossen; wenn nun diese Republik ihre Verbindlichkeit nicht er­ füllt, soll sich dann das deutsche Reich dies gefallen lassen oder soll es in San Sal­ vador interveniren? „Intervention", m. H., ist in dem Falle gar nicht einmal der richtige Ausdruck; aber die klare und deutliche Antwort liegt in dem Satze: Sn dem Verkehr mit fremden Völkern fordert Deutschland für seine Bürger nicht mehr, als die Achtung, welche Recht und Sitte gewährleisten. Wenn die Republik San Salvador oder auch ein mächtigerer Staat die Verträge, welche sie mit Deutschland geschlossen haben, nicht halten, und wenn es sich einmal darum handeln sollte, den Rechten unserer eigenen Bürger einem fremden Staate gegenüber, der sie verletzt, Geltung zu verschaffen, so interveniren wir nicht in dem fremden Staat, sondern wir kommen, um das gekränkte Recht unserer Mitbürger wieder herzustellen und unser eigenes Recht zur Geltung zu bringen, d. h. wir erklären einem solchen Staat den Krieg! Aber man wird doch das nicht eine Intervention heißen wollen! Wir sagen: „unbeirrt durch Abneigung oder Zuneigung wollen wir jeder Nation die Wege zur Einheit, jedem Staate die beste Form seiner Gestaltung nach eigener Weise finden lassen." Es ist bereits bemerkt worden, daß wohl die eigentliche Grundursache des Krieges, in den wir gestürzt worden sind, das Mißwollen Frankreichs gegen die Neugestaltung Deutschlands gewesen ist. Das ist der innere und tiefe Grund, und wenn die nach­ träglich gedruckten Berichte des Herrn Militärbevollmächtigten Baron Stoffel ächt sind, so geht daraus mit einer Deutlichkeit, welche nichts zu wünschen übrig läßt, hervor, daß früher oder, später dieser Frage wegen mit Frankreich der Krieg losbrechen mußte. Ei nun, m. H., glauben denn Sie, daß, wenn es nöthig gewesen wäre, einen Aggressiv­ krieg — das konnte er nach Umständen der Form nach werden — mit Frankreich zu führen, dies ein Interventionskrieg mit Frankreich gewesen wäre, oder hätten wir nicht vielmehr die Frage der Intervention damit nur abgewendet? Aber die Haupt­ sache — und was immer von dem Herrn Redner vor mir übersehen worden ist, und worauf ganz entschieden aufmerksam gemacht werden muß - — ist, wenn es heißt, daß die Tage der Einmischung in das innere Leben anderer Völker geendet seien und daß sie unter keinem Vorwande und unter keiner Form wiederkehren. Sie thun nicht Recht, m. H., wenn Sie das „unter keiner Form und unter keinem Vor­ wande" immer darauf beziehen, daß überhaupt irgend eine Intervention gar niemals mehr stattfinden würde. Zn die innere Gestaltungsmöglichkeit und in den Willen der äußeren Völker, sich innerlich für sich zu gestalten, soll allerdings das deutsche Volk nicht einwirken; beispielsweise, wenn ein Volk angemessen findet, sich unter irgend einer Form selbst neu zu konstituiren, so hat das deutsche Volk, sofern es selbst damit nicht gefährdet wird, durchaus nichts drein zu reden. (Aha! aha!) Sofern es selbst nicht gefährdet wird! — da rufen Sie aha! in. H. Ich will Ihnen sagen, unter welchen Verhältnissen man eine Intervention in Italien, was Sie Intervention heißen, (wir heißen es nicht so) billigen würden; es ist von Ueberschwemmung und Ueberfiuthung die Rede gewesen, der man fich doch entgegenstellen müßte. Wenn das italienische Volk einmal die Alpen überfluthet und zu uns herüber kommen will, wenn es uns deutsche Gebiete entreißen will, wenn es in unsere inneren An­ gelegenheiten sich einmischen möchte, wenn das italienische Volk beispielsweise irgend einer konfessionellen Auffassung zu Liebe von uns eine bestimmte Staatsinstitution, deren Einführung oder Aufrechterhaltung verlangen würde, dann würde ich sagen: wir interveniren nicht in Italien, sondern wir weisen derartige Ueberfluthungen, Angriffe und Eingriffe bei uns zurück. Aber es ist nicht an dem, und es wird wohl,

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glaube ich, nicht an dem sein, daß in der nächsten Zeit die Frage geradezu zunächst praktisch wird. Ich kann nur anführen, daß, wenn es sich gefragt hat, es sei eine gewisse Gleichberechtigung zwischen Katholiken und Protestanten gegeben, und man müsse die Gleichberechtigung namentlich auch auf die Katholiken ausdehnen, ich nirgends habe wahrnehmen können, warum gerade in der Hinweisung auf diesen Punkt die Gleich­ berechtigung nicht vollständig gegeben sein soll. Ich wohne in einem Lande, und bin aus einem Wahlbezirke hervorgegangen, welcher Wahlbezirk zum allergrößten Theile von Katholiken bewohnt ist. Zch habe aus meinen Anschauungen und Auffassungen auch nie ein Hehl gemacht, wie ich sie jetzt Ihnen vorgetragen habe. Zch bin sogar noch weiter gegangen und gestehe das auch hier freimüthig. Zch habe offen gesagt, es werde die nächste Zukunft einen Kampf des germanischen Geistes gegen die Knecht­ schaft des Romanenthums zu ringen haben, und ich glaube allerdings, daß das in Deutschland kommen wird. Man hat zu Hause daraus gegen mich Kapital gemacht, hat mich als einen nicht grade sehr treuen Sohn meiner Kirche verschrieen, hat namentlich die Punkte hervorgehoben, von denen ich vorher zu sprechen die Ehre hatte. Und meine Wähler, meine katholischen Wähler, haben damit geantwortet, daß sie mir nahezu 12,000 Stimmen gegeben haben. Sie mögen daraus ersehen, und ich kann das von dem Lande, in dem ich wohne, von Bayern, mit aller Entschiedenheit bestätigen: wenn die Frage käme oder nur angeregt würde, ob das deutsche Reich einen Krieg behufs Intervention in Ztalien anfangen sollte und wenn die Frage so gestellt würde, ob die auf jener Seite (r.) sitzenden Abgeordneten für diesen Krieg stimmen sollten oder nicht, daß dann gar keiner von denen mehr kommen würde, viel weniger aber diese Wähler selbst in ihrer Mehrheit für den Krieg eintreten würden. So steht es in einem vor­ herrschend katholischen Lande. Wir wollen uns deshalb durchaus nicht in Gegensatz zu der Kirche und auch durchaus nicht in Gegensatz zum Papste stellen. Es soll kein Gegensatz zwischen Kaiser und Papst, zwischen Staat und Kirche sein. Aber, m. H., der Papst schaffe dann auch die Gegensätze nicht und sanktionire solche Sätze nicht, welche ihn mit dem Staate, wie wir ihn brauchen, nothwendig in Gegensatz setzen müssen! (Z. und W.) — Und wenn jetzt ein Gegensatz auszukämpfen ist im deutschen Staate, so ist es nicht unsere Seite, welche diesen Gegensatz geschaffen hat, sondern wir sind nur gezwungen, den Gegensatz aufzunehmen, den Gegensatz auszukämpfen. Und der germanische Geist, der uns durch die Jahrhunderte ge­ führt hat, und der uns heute hierher geführt hat, glauben Sie, der wird mächtig und kräftig genug sein, auch diesen Gegenstand zu überwinden. (Lebh.Br.) Es ist weiter angeführt worden, wir thäten nicht recht, zu sagen, daß auf festeren Grundlagen als je das Reich aufgebaut worden sei. Zch will auch hier in eine histo­ rische Untersuchung nicht eingehen, ich will nur dem Grunde entgegentreten, welchen der Herr Redner mir gegenüber dafür angeführt hat, daß es einmal in der Zeit des Mittelalters gefesteter gewesen sei, dieses Reich, und daß dazu namentlich auch die Gottesfurcht gehöre. Zch bin vollständig einverstanden, daß dies dazu gehört, aber ich leugne, daß dem deutschen Volke die Gottesfurcht abhanden gekommen sei, (Stimme aus dem C.: Das behaupten wir auch nicht!) und ich leugne, daß das Mittelalter, welches durch seine Gottesfurcht das Reich mehr gefestigt haben soll, als es jetzt ge­ festigt ist, auf einer höheren Stufe wahrer Gottesfurcht gestanden sei als unser Kaiser­ staat! (Lebh. Br. l.) Hiernach, dächte ich, rechtfertigen sich die Sätze, welche der Majoritätsentwurf eingeführt hat, in aller Vollständigkeit, und ich glaube, wir werden nur gut thun, wenn wir diese Sätze annehmen und dadurch nach allen Richtungen hin kräftige Po­ sition nehmen. Man kann auch nicht sagen, es sei Sache des Kaisers allein, den Krieg zu beschließen. Was die Herren im Sinne hatten, das wäre ein Krieg behufs Wieder­ herstellung oder Aufrechterhaltung einer Institution im italienischen Staate. Das würde nicht anders als unter der Form des Angriffskrieges, dächte ich, möglich sein. Bei einem derartigen Kriege aber bestimmt der Kaiser nicht allein, sondern auch der Bundes-

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raH, und wenn wir dem Bundesrathe gegenüber aussprechen, wie wir erwarten, daß er Pch niemals einfallen lassen solle, zu einem derarügen Kriege seine Zustimmung zu geben, so sind wir, glaube ich, schon aus diesem Grunde gewiß in unserm vollen Rechte. Ich werde nur noch kurz auf ein paar andere Bemerkungen kommen, welche von Seiiten des ersten Herrn Redners gemacht worden sind und welche sich speziell — wenn auch nicht wörtlich, so doch in der That — auf die süddeutschen Verhältnisse beziehen. — Cs ist nämlich vor einer zu großen Fruchtbarkeit in der Gesetzgebung ge­ wärmt worden, und man hat uns gesagt: wir sollten uns nicht überstürzen, wir sollten uns ja vor einer Superfötation hüten; es wäre das nicht gut. Und.man hat hiev Savigny angeführt, obwohl ich doch nicht ganz gewiß weiß, ob Savigny, der von seiner Zeit gesprochen hat, auch von unserer Zeit so sprechen würde. (Stimme aus dem C.: gewiß!) — (H.) — „Gewiß!" wird mir zugerufen; wer ist, m. H., der legitime Erbe des Herrn von Savigny in dieser Beziehung? (Abg. von Savigny:*) Ich nicht!) — (Gr. H.) Zch glaube, m. H., ich konnte nicht mißverstanden werden; denn ich habe gesagt: in dieser Beziehung. Allein, es käme auf eine Autorität hier gar nicht an, sondern ich sage im Gegentheil: die Zeit, welche so kräftig ist, neue Staaten zu bilden, muß nothwendig auch die Kraft haben, diese Staaten bis in das Einzelnste organisch zu gestalten, und der Umstand, daß ein Umbildungsprozeß im socialen und im staatlichen Leben in Deutschland vor sich geht, ist allein schon nicht blos die Legitimation zur Gesetzgebung, sondern die Nöthigung zur Gesetzgebung selbst. Daher, daß eine ge­ wisse Periode der Stagnation eingetreten war und daß man nun in einer kürzeren Periode das nachholen muß, was man nicht nach und nach zur rechten Zeit gethan hat, daher kommt es, daß man rascher und in einer fruchtbareren Weise mit det Gesetz­ gebung hat vorgehen müssen. Wenn also jetzt auf eine raschere Weise das nachgeholt wird, so kann ich darin kein Uebel, sondern nur einen Vortheil finden. Wenn man gesagt hat, man solle die verschiedenen einzelnen Partikularrechte, die einzelnen Institutionen schützen, und so viel der Herr Redner wisse, werde bei uns im Süden durchaus kein Verlangen danach getragen, daß man sich dieser Rechte ent­ kleide, — so muß ich das sehr bezweifeln. Zm Gegentheil, ich muß sagen, es herrscht bei uns ein sehr großes Verlangen danach, von so und so viel Rechten und Rechtlein recht bald befreit zu werden. Es wissen vielleicht nur meine speciellen Landsleute, wie vielerlei Civilrechte in Bayern gelten; ja ich gehe noch weiter, m. H., wie vielerlei Civilrechte in Bayern gelten, das wissen nicht einmal meine Landsleute, denn auf un­ gefähr ein Dutzend kann es in Bayern selbst Niemand sagen. (H.) — Zn irgend einer Registratur, in irgend einer Bibliothek findet man gelegentlich wieder ein neues Statut, das irgend ein Abt, irgend ein Kloster, Bischof oder Domkapitel erlassen hat. Wenn also das deutsche Reich mit seiner Gesetzgebung in dieser Beziehung uns von einer großen Misere befreit, so können wir nur sehr dankbar sein. Unbesehen werden wir die Gesetze nicht annehmen, und wenn die Nichtzustimmung zu dem betreffenden Passus der Adresse — es ist die Nummer 5 in dem Entwurf des Herrn von Ben­ nigsen — wenn eine Nichtzustimmung vielleicht aus einem gewissen Mitleid mit uns Süddeutschen hervorgehen sollte, so, glaube ich, würde dieses Mitleid sehr am unrechten Orte sein. (Z.) Zch mußte mich sehr wundern, von.einer Seite von Ueberstürzung, von Uebereilung, von Superfötation und von Beschleunigung im Gesetzgebungswerke zu hören, während ich einen Antrag vor mir habe, welcher in 7 Positionen Grund­ rechte des deutschen Volkes schon morgen auf die Tagesordnung setzen will. (Gr. H.) — Zch dächte, m. H., wenn man einer Adresse deshalb nicht beistimmt, weil es sich um Einführung norddeutscher Gesetze in den Südstaaten handelt, weil man nicht zu rasch zu Werke gehen will; wenn man ein nicht so beschleunigtes oder ein etwas lang­ sameres Tempo für diese untergeordneten Dinge in Anspruch nimmt, so soll man nicht schon gleichzeitig und im ersten Augenblick gleichsam die Grundlage der ganzen Ver*) der Sohn des angeführten Gelehrten.

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fassung auf eine neue Weise feststellen wollen. Wollen, sage ich, m. H., aber in der That thut man es ja gar nicht einmal. Weil ich nun auf den Punkt der fruchtbaren Legislative gekommen bin und weil mich die gegnerischen Erwägungen nothwendig dahin geführt haben, so möchte ich die geehrten Antragsteller doch bezüglich der Grundrechte bitten, sich die Sache noch einmal anzusehen; nämlich diejenigen, welche die Güte haben, besondere Rücksichten auf Bayern zu nehmen, möchte ich darauf aufmerksam machen, daß eine sehr mäßig liberale und sehr stark ins Reaktionäre neigende Kammer der Abgeordneten in Bayern schon im Jahre 1850 dem Herrn Baron von der Pfordten das verweigert hat, was Sie jetzt als Grundrechte dem deutschen Volke geben wollen, die Abschaffung der Geschwornen in Prozeßsachen. (H.) Nun kommt noch ein weiterer Punkt, welcher angeregt worden ist, und wonach es in der gegnerischen Adresse heißt, daß man wolle „eine Einheit, welche, weit ent­ fernt, die Erhaltung altbegründeter, berechtigter Besonderheiten der einzelnen Stämme auszuschließen, dieselben vielmehr gewährleistet." — Ich glaube, man darf in dieser Beziehung durchaus nicht ängstlich sein. Ich gehöre gewiß auch nicht zu denjenigen, welche eine starke centralistische Richtung einnehmen; durch die Bestrebungen, welche ich vor dem Zustandekommen der Reichsverfassung in eentralistischer Beziehung in Bayern gepflogen habe, bin ich sogar in den Verdacht gekommen, ein Anhänger des nach und nach zu schaffenden Einheitsstaats zu sein, und es war eine gewisie Ent­ täuschung, wenn man mich nun nicht auf dieser Seite findet. Aber das kann ich Sie versichern, daß, wenn es sich um altbegründete, sogenannte berechtigte und besondere Einzelheiten der Stämme handelt, nicht die Gesetzgebung, nein, die Besonderheit, die berechtigte Besonderheit der einzelnen Stämme selbst'dafür sorgen wird, daß sie nicht zu Grunde geht. Die Pfälzer sind Pfälzer, die Schwaben Schwaben, die Bayern Bayern geblieben, obwohl sie schon mehr als ein halbes Jahrhundert unter dem Scepter des Königs von Bayern vereinigt sind. Lassen Sie die einzelnen Stämme in ihrer Lebensfähigkeit und in ihrer Lebenskraft selbst für ihre Berechtigungen sorgen. Der Schutz des großen deutschen Reiches, der überall gegeben ist, wird diese einzelnen Stammeseigenthümlichkeiten eher neu beleben, als daß er sie zurückstemme, und die einzelnen Stämme, welche ein gemeinsames Oberhaupt und ein gemeinsames Parlament haben, werden sich als einzelne Stämme im deutschen Reich viel freier finden, als wenn sie zu dritt, zu viert, zu fünft eingeschnürt sind in kleine Staaten, wie fie seiner Zeit ad usum der gnädigen Herren zu Wien zusammengemacht worden sind. Sie brauchen also in dieser Beziehung gar nicht bange zu sein, m. H., daß da, wo ein kräftiges Stammes- und Provinzialleben gegeben ist, sich dies auch im deutschen Reiche entfalten werde; und es ist wahrhaftig kein Grund, sich deswegen der einen Adresse gegenüber ablehnend zu stellen. Ich sage nun, so wünschenswerth es gewesen wäre, in allen Punkten einig zu gehen, so ist es nicht möglich gewesen, und da es nicht möglich war, so ist eine klare und deutliche Sprache immer besser als eine verhüllte. Sei dem aber, wie ihm wolle, ich glaube nicht, daß in dem freien Leben des deutschen Volkes der Gegensatz sich jemals so wird vergiften können, daß in Wirklichkeit ernste Gefahr daraus ent­ stände. Zwei Rechte neben einander ausgeübt, werden ganz gut thun; man muß nur nicht wollen, daß man gleichzeitig gleich berechtigt und gleichzeitig hoch priviligirt sei. Setzen wir uns einmal vollständig auf den Standpunkt der Gleichbe« rechtigung; damit, m. H., und dann wird die echte und richtige Lösung auch in dieser Frage entweder schon gewonnen sein oder doch mit der guten Kraft des deutschen Volkes und mit der wahren Einsicht und mit der Liebe desselben zum Vaterlande ge­ wonnen werden. Diese Liebe aber zu unserem deutschen Volke, dem großen, edlen und entwickelungsfähigen, wollenwir unter allenUmständen und für alle Zukunft bewahren unverändert und unveränder­ lich für alle Zeiten! (Br.! l.)

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Abg. von Oheimb: Als ein Mitglied der freien Adreßkommission halte ich mich für verpflichtet zu einigen kurzen Erwiderungen. Es ist gewiß mit vollem Recht hervorgehoben, daß auch die Minorität volle Gerechtigkeit und Rücksichtnahme auf ihre Ansichten verlangen kann. Ich glaube gewiß, daß auf keiner Seite des Hauses und am allerwenigsten auf dieser Seite des Hauses (r.) die Achtung gegen die Minoritäten jemals aus den Augen gesetzt wird, und es ist gerade diese Rücksicht, die uns bewogen hat, bei der Vorberathung der Adresse, an welcher damals auch die Mitglieder des Centrums Theil nahmen, eine Aenderung unsererseits zu beantragen bei einzelnen Sätzen, die bei den Herren Anstoß erregten. Es war der Wunsch, der von allen andern Parteien des Hauses getheilt wurde, bei dieser Adresse nicht blos einmüthig unseren Dank für die großen Thaten, die geschehen sind, unserem erhabenen Kaiser und dem Heere darzubringen und unsere Uebereinstimmung bei demHerantreten an die großen Aufgaben, die uns bevorstehen, zu bekunden, sondern es war auch der Wunsch, bei diesem erstmaligen Zusammentreten mit der Fraktion, die sich das Cen­ trum nennt, die sich zu unserem Bedauern hat konstituiren müssen lediglich als eine konfessionelle, (W.) — und es ist doch nur, so viel ich we:ß, eine Konfession darin vertreten — übereinzustimmen und deshalb haben wir von vorn herein erklärt, daß wir unsererseits eine Aenderung dieser Sätze zugestehen würden. Darauf haben die Herren erklärt, daß, wenn auch die anderen Punkte so redigirt würden, daß sie daran keinen Anstoß nehmen würden, dann dieser eine Punkt, welcher sich über die Richt­ intervention ausspricht, einen vollständigen Grund für sie abgeben würde, der Adresse nicht beizustimmen. Damit fiel dann der Grund fort, daß wir, die wir bei der Fassung der übrigen Punkte kein wesentliches Bedenken hatten, in dieser Hinsicht nun nicht lediglich auf die Wünsche und Ansichten der Herren von der anderen Seite Rücksicht nahmen. Abg. Graf Bethusy-Huc: M. H., krank und fiebernd, hatte ich nicht die Ab­ sicht, in diese Debatte mich zu mischen, als die Rede des Freiherrn von Ketteler eine Entgegnung auch von dieser Seite gebieterisch zu erheischen schien. — Der Herr Frei­ herr von Ketteler warnt uns zunächst vor einer phrasenhaften Antwort auf die schlichten und einfachen Worte, welche unser Heldenkaiser uns aus seinem Feldlager herüber­ gesendet hat. M. H., ich will Sie nicht unterhalten von dem nothwendigen phrasen­ haften Beigeschmack, von welchem ich noch keine Adresse, die je gedacht, je geschrieben und je überreicht worden ist, ganz frei gesehen habe. Zch möchte nur darauf Hinweisen, wie anders die Stellung des Mannes ist, welcher handelt und über seine ruhmreichen Thaten an sein Volk selbst berichtet oder berichten läßt, und wie anders die Stellung des Volkes, resp, seiner Vertreter, welches diesem Helden für diese Handlungen dankt. Da darf Wärme, da darf Schwung, da darf Jubel mit Recht sich einmischen, und wenn die Herren das Phrase zu nennen belieben, so stelle ich es anheim. (Br.!) Run hat der Herr Freiherr von Ketteler sich auf diese allgemeine Kritik nicht beschränkt und hat als Belege für das, was er Phrase nennt, drei Sätze heraus­ gegriffen, welche mir weniger als irgend ein Satz, welcher je in einer Adresse gestanden hat, diese Bezeichnung zu verdienen scheinen. — Der erste Satz ist: Auf festeren Grundlagen als je ist das deutsche Reich wieder aufgerichtet, und die Nation ist entschlossen, es zu erhalten in der Fülle seiner Kraft, es fortzuentwickeln auf den Bahnen der Freiheit und des Friedens. Eine tausendjährige Geschichte ist es, auf die der Herr Freiherr von Ketteler hinweist, um diese Superlative für die Gegenwart abzuwenden. Ich provocire den Herrn Frei­ herrn von Ketteler, mir aus dieser tausendjährigen Geschichte einen einzigen Moment zu nennen, in welchem die vereinigte Kraft Deutschlands für die Zukunft eine festere Bürgschaft liefere als gegenwärtig. (Br.!) Für diejenigen Thaten, welche das Heer geleistet, für diejenigen Thaten, welche der Leiter unserer Diplomatie und Politik geleistet, hat der Herr Freiherr von Ketteler selbst seine Anerkennung nicht zu versagen vermocht; er hat aber als pium desiderium zunächst auf den Satz hingewiesen: Justitia regnorum fundamentum. Entweder, m. H.,

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sagt dieser Satz nichts, oder er involvirt die Behauptung, daß diese justitia gegenwärtig dem deutschen Reiche fehlt. M. H., in Preußen hat das Sprichwort suum cuique, welches mit anderen Worten ungefähr dasselbe sagt, seine Bestätigung durch unsere ganze Geschichte gesunden, und was das andere Deutschland betrifft, so haben unsere sämmtlichen Verbündeten aus Nord und Süd diesem Krieg gegenüber sich schnell über die Frage schlüssig gemacht, ob das Bündniß Platz zu greifen habe oder nicht; die justitia ist mit einer Einstimmigkeit sämmtlicher Fürsten, sämmtlicher Völker bethätigt, wie solche nur auf der sittlichen Grundlage der gesammten Regierungen und des Volkes entstehen konnte. M. H., dieser justitia, diese Vertragstreue, diesem Patriotismus unserer deutschen Brüder aus Süd und Nord gegenüber wird der hohe Reichstag vielleicht schon morgen oder übermorgen auch seinerseits der justitia und der Vertragstreue anzuhängen Gelegen­ heit haben und sie zu bethätigen wissen, wenn er den Anträgen, welche von jener Seite, die uns heute auf justitia hinweist, ausgingen, aus dieser Vertragstreue heraus entgegentritt. M. H., wenn der Herr Freiherr von Ketteler uns endlich auf die Gottesfurcht als eine Grundlage dev künftigen Befestigung des deutschen Reiches hingewiesen hat, so hat einer meiner Herren Vorredner schon bemerkt, daß nach seiner — von mir getheilten — Meinung die Gottesfurcht des deutschen Volkes heute mindestens ebenso hoch, mindestens ebenso warm sei als in irgend einer anderen Zeit. Das öffentliche Gebet unserer Truppen vor jeder vorbereiteten Schlacht, das Benehmen unserer Kranken und Sterbenden, von dem ich selbst, wie Viele von uns, Gelegenheit hatte Augenzeuge zu sein, giebt den mannichfachsten Beweis dafür. M. H., ich protestire dagegen, daß irgend eine Partei des Hauses explicite oder implicite Gottesfurcht als ihre eigene Domaine für sich in Anspruch nimmt. (Lebh. Br.) M. H., noch schwächer scheint mir die Charakterisirung als Phrase für den zweiten von dem Herrn Freiherrn von Ketteler angezogenen Punkt. Erlauben Sie mir, auch diesen zu verlesen: Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Ueberlieferungen eines fremdländischen Ursprunges folgten, durch Einmischung in das Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen. M. H., ist dies Phrase, so ist dies unwahr. Zeder, der die Geschichte studirt hat, aber wird mir zugeben müssen, daß Heinrich der Löwe, daß Harald von Dänemark neben Friedrich L, neben Friedrich II. von Deutschland eine ebenbürtige, ja, eine über­ legene, eine das deutsche Reich zernichtende Macht nur darum entwickeln konnten, weil der deutsche Kaiser die von ihm zu vertretende Politik nicht in, sondern außerhalb Deutschlands trieb. Daß Deutschland auf diesem Wege gemindert wurde, ist unbe­ streitbar. Die Habsburger, welche nach langer, viel verwüstender Zeit des Interregnums den eben von mir genannten Herrschern folgten, haben nicht zufällig, nicht aus klein­ lichem Eigennutz, sondern aus innerer Nothwendigkeit eine Hausmacht erstreben müssen, nachdem die Reichsmacht durch Erstrebung der Weltmacht für alle Zeiten vernichtet und zertrümmert war. Es gab keine deutsche Reichsmacht mehr, sie hätte sich nur bilden können, wenn der Kampf mit Heinrich dem Welfen, wenn der Kampf mit Harald von Dänemark ausgefochten wäre auf die eine oder die andere Weise; ja, m. H., ich wage zu behaupten, ein solcher Kampf hätte niemals entstehen können, wenn die Ableitung der besten deutschen Kräfte, des deutschen Mittelpunkts selbst nach Italien nicht einen solchen Kampf erst heraufbeschworen hätte. M. H., der Herr Freiherr von Ketteler sagt, dieser Satz, der Ausspruch einer einfachen unbestreitbaren und, wie ich hinzusügen muß, unbestrittenen historischen Wahrheit — denn der Herr Freiherr von Ketteler hat sich nicht die Mühe gegeben, den Satz ernsthaft in Abrede zu stellen — mache es einer Minorität unmöglich, für die Adresse zu stimmen. Er sagt: von zwei Dingen eins; entweder Deutschland hat in der That durch die Bestrebungen der Weltherrschaft keine Einbuße an seinem eigenen Zusammenfassen erlitten — oder aber die Gerechtigkeit, diese justitia fundamentum regnorum, ist unverträglich mit der deutschen Einheit, es steht über diesem nationalen

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Streben ein anderes, welches er justitia nennt, welches ich anders bezeichnen würde. M- H., ist diese justitia, ist das oberste Princip, welches der Herr Freiherr kennt, unvereinbar mit deutscher Nation Einheit und Macht, nun dann möge er es einfach aussprechen und möge er sagen, warum? möge er aber nicht 'seine Deduction damit schließen: „es scheint mir so, ich wiederhole, es scheint mir so." Das ist ein falscher Schein, mit dem der Herr sich umgiebt, und welchen ich Sie bitte selbst zu lüften; die Geschichte würde sonst ihr Gericht an diesem falschen Schein unerbittlich vollziehen. M. H., was den dritten Punkt anbelangt, so hat Herr Dr. Völk die Güte ge­ habt, seine Widerlegung zu übernehmen. Zch kann dieselbe resumireN in zwei Worte. Der Herr Abg. Freiherr von Ketteler hat die inneren Angelegenheiten eines fremden Volkes bei dem von ihm angezogenen Beispiel ganz ausdrücklich mit seinen äußeren Angelegenheiten vermischt; denn wenn Salvador seine Verträge mit Deutschland nicht hält, so tangirt das die äußern Angelegenheiten Salvadors, die uns angehen können, wenn sie in die unsrigen sich hineinmischen. Er hat ferner die fremden Angelegen­ heiten mit den eigenen eines Staates vermischt, denn diese äußeren Angelegenheiten Salvadors wären, gleichwie auch in dem zweiten von ihm angezogenen Beispiele, eigene Angelegenheiten des deutschen Reichs; und diese zu vertreten und zu ver­ theidigen und dieser Vertheidigung, wenn nöthig, auch auf dem Wege des Angriffs, wenn derselbe wirksamer zu sein verspricht, herbeizuführen, wird kein Deutscher je und nimmer entsagen. Wohl aber ziemt es diesem Parlament, nach einem siegreich durch­ gefochtenen Kampfe hier ernstlich und feierlich zu erklären, daß seine Absichten gegen alle, starken und schwachen, Nachbarn die des Friedens, die der Eintracht, die der Nichteinmischung sind, und ich bitte, m. H., den Ausdruck, den dieser Gedanke in der Adresse gefunden hat, durch allgemeine Zustimmung zu dem Ihrigen zu machen. (Lebh. Br.) Abg. Dr. Windthorst: M. H., meines Theils werde ich für die Adresse stimmen, welche die Abgg. Reichensperger, Probst und Freytag eingebracht haben. Was den Grund betrifft, weshalb ich für diese Adresse und nicht für die Adresse Bennigsen stimme, so bin ich verpflichtet, denselben näher darzulegen.

Zch hätte meines Theils sehr gewünscht, daß ein einmüthiger Ausdruck in diesem Augenblick gefunden worden wäre; denn in dieser Einmüthigkeit — so scheint mir wenigstens — allein liegt eine Bedeutung für diese Adresse .... (Lebh. W. l.) — Za, m. H., das ist meine Ansicht, (H.) und die darf ich aussprechen, und vor Unterbrechungen wird mich der Präsident dann schützen.

Wenn der Herr Abg. von Oheimb in dieser Rücksicht gemeint hat, auch er habe das gewünscht, er habe namentlich gewünscht, daß er im Einverständnisse habe gehen können mit einer Partei, die sich nach seiner Ansicht ohne Noth gebildet und konfessio­ nell gebildet, so erwidere ich dem Herrn von Oheimb, daß die Nothwendigkeit der Bildung dieser Fraktion sich aus der heutigen Diskussion sehr klar ergiebt. Konfessio­ nell ist sie übrigens gar nicht (H., Z.); es steht Jedem aus jeder Konfession, der die Statuten annimmt, der Eintritt völlig offen (H.), und ich bin überzeugt, daß der Herr Abg. von Oheimb, wenn er wirklich konservative Interessen und die Interessen des gläubigen Christenthums verfolgt, vollständig seinen Platz in dieser Fraktion finden würde. Wenn es leider nicht gelungen ist, diese Einigkeit herbeizuführen, so haben die Herren geglaubt, es sei wichtig genug, die Minorität hier niederzuvotiren. Za, tu. H., es ist klar, daß die Majorität aus Ihrer Seite ist — ich will nicht erörtern, wie das zugeht — (H.); aber ich kann nur fragen, ob es wohlgethan war, an der Schwelle des geeinigten Deutschlands ohne Noth diese Diskussion herbeizuführen. Mir ist das sehr fraglich. (S. r.! im C.) — Zch glaube, statt Einigung herbeizufüh­ ren, könnte diese Diskussion sehr leicht unangenehme, die innere Einigung hemmende Folgen herbeiführen. (Ruf: sie sind schon vorhanden!) — Und wenn mir hier soeben erwidert wird, daß sie schon da sind, so sollte man die Gegensätze nicht schärfen, in-

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dem man in den Wunden wühlt, sondern sie zu heilen suchen, indem man sie mit sanfter Hand verbindet. (S. w.! im C.) Komme ich hiernach zu den Einzelheiten der beiden Adressen, so ist, m. H., auf die Behauptung des Herrn Abg. von Ketteler in Beziehung auf die Phrasen zunächst gesagt worden, daß man ohne Phrasen nicht fertig werden könne in einer Adresse. Der Heerführer an der Spitze einer Armee könne von Thaten kurz und ohne Phrasen sprechen, ein Parlament nicht. M. H., wenn das deutsche Parlament in der That keine Thaten vollbringen kann, wenn es sich zu bloßen Phrasen entschließen muß, dann bedaure ich es. Ich meine auch nicht, daß diese Aeußerung dem geehrten Abg. Grafen Bethusy-Hue so vollkommen Ernst sein konnte. Die Beschlüsse der Parla­ mente sind Thaten, wie die Thaten der Armee, wenn auch verschiedener Art; sie haben eine große moralische Kraft und das Volk hinter sich, wenn man bei den Beschlüssen die Beziehungen des Volkes im Ganzen und nicht blos einzelne Schichten in Be­ tracht zieht. Ich bin deshalb auch nicht der Meinung, daß Adressen absolut nur Phra­ sen seien, sondern sie können sehr nützliche Thaten sein, dann vornehmlich, wenn sie in einer möglichsten Einmütigkeit entstehen. Hiernach ist die Behauptung, daß das Reich fester als je begründet sei, wiederholt als vollkommen zutreffend bezeichnet, denn zu keiner Zeit deutscher Geschichte sei ein so thatkräftiges Heer dagewesen, wie dies­ mal. Zch werde aus vielen Gründen Ursache haben, den Herrn Grafen Bethusy-Hue zu bitten, mir ein Privatissimum über Geschichte zu lesen (H.), denn ich muß gestehen, daß ich nach seinen Anführungen in demjenigen, was ich bisher in der Geschichte ge­ lesen habe, ganz irre geworden bin. (Gr. H.) — Aber den hervorgehobenen Punkt betreffend, so möchte ich den doch nicht ganz aus der Geschichte ausstreichen, um alles Andere einmal an die Seite zu schieben, die großen Thaten der Zahre 1813 und 181'4; wenn ich gern bereit bin, die Großthaten der heutigen Zeit anzuerkennen, so bin ich eben so aus Pietäts- und anderen Rücksichten gezwungen, zu sagen, die Söhne sind der Väter werth; ich glaube aber, sie waren nicht größer als die Väter (Ruf: Aber das deutsche Reich?). — M. H., Sie sagen hier an meiner Seite, es haben uns die Jahre 1813 und 14 nicht das Reich gebracht. 1813 und 14 haben uns einen Bund gebracht, und in diesem Bunde war die ganze deutsche Nation, während heute nicht die ganze deutsche Nation darin ist. (W.) Außerdem hat der Bund uns 50 Jahre Frieden gebracht — ich hoffe, daß das Kaiserreich uns den ewigen Frieden bringen wird (H.), obwohl die Eröffnungsrede des vorigen Reichstags nicht so lautete. Was die Rückblicke auf die Geschichte des Mittelalters und auf die Römerzüge betrifft, so weiche ich in deren Auffassung ganz entschieden von dem Grafen Bethusy ab. Ich kann Vieles in diesen Dingen beklagen. Nichts destoweniger bin ich aber der Meinung, daß, wenn die Herstellung von „Kaiser und Reich" in der deutschen Bevölkerung einen Anklang fand, die Erinnerungen an jene Zeit, Erinnerungen, die im Volke nicht untergehen, es waren, welche das bewirkten, denn aus dem moder­ nen Staate — er entsteht ja erst heute — konnte der Enthusiasmus nicht entstehen, besonders dann nicht, wenn er sich so nüchtern ankündigt, wie es in den Verfassungen des deutschen Reichs der Fall ist, in welcher von irgend welcher Poesie — von Din­ gen, die eine Anregung des Gemüths bringen, und das ist eine tiefe Saite des deut­ schen Charakters — gar nicht die Rede ist, sondern lediglich von den allermateriellsten Dingen. Deshalb ist es in der That unmöglich, einen Satz wie den angegebenen anzunehmen; von dem Herrn Professor Sybel wird derselbe ganz vortrefflich gefunden werden, von mir nicht. (H.) M. H., dann ist bemängelt worden der vom Abg. von Ketteler aus­ gesprochene Gedanke, daß die Justitia fundamentum regnorum sei, und es ist gesagt, damit sei geleugnet, daß das Reich aus der Justitia ruhe. Ich will im Interesse des Friedens diese Frage heute näher nicht erörtern und nur bemerken, daß in der Rede, gegen die der Herr Gras Bethusy sich wandte, lediglich gesagt ist: wie in der Folge die Justitia geübt werden würde, das werde sich zeigen, und es werde erst dann erkannt werden, ob das Reich auf der Gerechtigkeit beruhe. Der Herr Graf Bethusy hat uns

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für die folgenden Tage einen Akt seiner Justitia angekündigt. Wenn das das Voll­ mes ber Justitia ist, welches uns bevorsteht, dann bedaure ich das deutsche Reich. (Gr. H.) Hiernächst, m. H., hat der Herr Graf Bethusy die Hinweisung auf die Gottes­ furcht bedenklich gefunden (Einige Stimmen: Nein, nein!); — als ob damit das Vorharrdensein der Gottesfurcht an irgend einer Stelle geleugnet oder beanstandet worden wäre. M. H., ich habe in den desfallsigen Aeußerungen nichts gefunden, was zu einer solchen Annahme irgendwie Berechtigung gäbe. (Die Katholiken: S. w.!) Ich habe auch nicht darin gefunden, daß man die Gottesfurcht und deren Pflege für irgend eine Partei in Anspruch nähme. Das aber bekenne ich, wenn die Anschauungen des Herrn Grafen Bethusy die seiner Partei sind, so würde ich die Pflege der Gottesfurcht seiner Fraktion nicht anvertrauen. (Gr. H.) M. H., jetzt komme ich auf den Punkt, der vorzugsweise die Unmöglichkeit der Einigung begründet; denn ich glaube wirklich, über die anderen Punkte hätte man bei gutem Willen zu einer Einigung kommen können. (Ruf: Sie wollten aber nicht!) —Sie wollten nicht, m. H., und wenn das richtig ist, dann ist es sehr schlimm, denn dann ist das Sprechen hier auch vergeblich; es ist vergeblich, wenn ich immer noch bemüht bin. Sie herüberzubringen. (H.) — Also, m. H., dieser Punkt der Nichtinter­ vention ist es, welcher uns es unmöglich gemacht hat, einig zu werden. Ich erkenne an, daß Deutschland so stark ist, daß ich gar nicht bedenklich wäre, zu sagen, Deutsch­ land ist der Welt gewachsen. Es war deshalb ganz in der Ordnung und es war ganz zweckmäßig, daß, so wie die Thronrede es thut, den fremden Völkern gegenüber erklärt wird, Deutschland werde fortan in weiser Selbstbeschränkung seine inneren Verhältnisse kultiviren, für keinen Staat eine feindliche Gesinnung hegen. Ich habe in den desfallsigen Ausdrücken der Thronrede nichts von Intervention, sondern nur das gelesen, daß man den Völkern sagt, wir werden unsere jetzt überwiegende Kraft zu Eroberungen nicht gebrauchen. Das war in dem Munde eines eben aus dem Felde kehrenden siegreichen Kaisers eine gewiß löbliche Selbstbeschränkung. Aber, m. H., daß Seine Majestät nicht gewillt ist, der Intervention zu entsagen da, wo sie berechtigt ist, haben Allerhöchstdieselben sogleich ausgesprochen, damit man ihn nicht mißverstehe. Der Kaiser hat gesagt, nachdem er den von Ihnen angerufenen Satz ausgesprochen hat: Es hat Mir zur besonderen Genugthuung gereicht, in diesem Geiste des Frie­ dens in Mitten des schweren Krieges, den wir führten, die Stimme Deutsch­ lands bei den Verhandlungen gellend zu machen, welche auf der durch die vermittelnden Bestrebungen Meines auswärtigen Amtes — das ist doch eine kleine Intervention — (H.) herbeigeführten Konferenz in London ihren befriedigenden Abschluß gefunden hat. (B.) M. H., ich werde Ihnen gleich beitreten, wenn Sie sagen, eine Intervention, wie sie in diesen orientalischen Dingen geübt worden, halten wir für zulässig; denn ich sage Ihnen, ich verlange für die Herstellung der Selbstständigkeit des päpstlichen Stuhles keine andere und keine kräftigere, aber eine eben solche und eine ebenso kräftige Intervention, wie in der Pontusfrage. Mit einer solchen Intervention würden unsere Wünsche erfüllt werden. (W. I.) M. H., wenn Sie so denken, wie dieser Widerspruch, dann sagen Sie gefälligst nicht generell: wir wollen überhaupt nicht interveniren, sondern sagen Sie einfach und klar — und das ist doch auch Ihr Wille —: wir wollen überall interveniren, nur in dieser Sache nicht! (Oho! l.) — Das ist des Pudels Kern! (H.) und ich sage Ihnen, daß ich dem Abg. Miquel dankbar bin, daß er von der Frage den Schleier weggezogen, in den man sie gehüllt, und daß er klar und bestimmt gesagt hat, was er mit dem fraglichen Passus der Adresse eigentlich will. (Abg. Miquel: was Sie wollen!) M. H., Sie wollen dadurch also erklären: daß in dem neuen deutschen Reiche die vitalen Interessen der katholischen Mitbürger unberücksichtigt bleiben sollen. (Ruf:

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Was sind das für Interessen?) — Zch sage das ganz unumwunden. Es ist ein Lebensinteresse der katholischen Bevölkerung Deutschlands, daß das Oberhaupt ihrer Kirche unabhängig und frei in seinen Entschließungen sei. Ich bin der Meinung, daß dieses Oberhaupt diese Unabhängigkeit niemals haben wird als Unterthan oder als geduldeter Miteinwohner der Residenzstadt eines fremden Fürsten! — M. H., das ist unzweifelhaft: zu dieser Unabhängigkeit, zu dieser Selbstständigkeit gehört eine fest fundirte Souveränetät auf eigenem Territorium. Durch alle Jahrhunderte der deut­ schen Geschichte hat man das anerkannt, und der Gründer des deutschen Reichs, Karl der Große, seine Vorgänger und seine Nachfolger waren es, welche diese Unabhängig­ keit in dem Territorium schufen. (Abg. Dr. Wehrenpfennig: Aber vorher!) — Zch erwidere dem Herrn Dr. Wehrenpfennig, daß ich gern heut Abend zu ihm kommen will, um mich mit ihm näher darüber zu unterhalten. — Daß die auf einem Territorio basirte Souveränetät nothwendig ist, wird auch überall, wo man rein objektiv urtheilt, anerkannt. Zch verweise die Herren dieserhalb auf die berühmte Darlegung, welche einer der bewährtesten Staatsmänner der jetzigen Zeit, protestantischer Kon­ fession, Herr Guizot, gemacht hat; ich verweise Sie auf die Haltung, welche England in der Sache einzunehmen entschlossen scheint. Wir haben von England bereits kräf­ tigere Lebenszeichen in der vorliegenden Frage als von der deutschen Regierung, ob­ wohl ich überzeugt bin, daß die Schritte der deutschen Regierung darum nicht minder kraftvoll sein werden. Wir haben aber nicht allein diese theoretischen und, wie ich ge­ sagt habe, praktischen Belege, wir haben in der Thronrede Seiner Majestät des Königs von Preußen von 1867 die Gewähr, daß an höchster Stelle diese Interessen anerkannt werden. Nun behaupten Sie, den Exemplifikationen des Herrn von Ketteler (Baden) gegenüber, gegen solche Fälle schütze der Ausdruck, daß man sich nicht in das innere Leben der Völker einmengen solle. Zch bin gar nicht verwundert, daß die Herren von der nationalliberalen Partei und deren Sprossen, der liberalen Reichsfraktron und der deutschen Reichsfraktion, diese Ansicht haben, denn das sind ja eben die nationalen Männer; (H.) daß aber die Herren von der konservativen Partei einen solchen Satz unterschreiben, das wundert mich, denn dieser Satz spricht entschieden, klar und bestimmt das Nationalitätsprinzip aus. M. H., ich will Ihnen ein Beispiel geben, welches einigermaßen deutlich machen könnte, wohin wir mit Ihren Sätzen steuern. Es giebt ein Volk mit reicher Geschichte und großen Thaten, das ist das polnische Volk. Wenn das polnische Volk nun einmal sagte: ich bin ein Volk wie die anderen Völker und will meine inneren Angelegenheiten selbstständig ordnen im eigenen Hause (W.) — das ist im Innern der Völker — wollen Sie dann gar nicht interveniren? Es wäre interessant zu hören, wie das ist, namentlich für die polnischen Mitglieder dieses Hauses. Ihre Lehre von der Intervention ist bedenklicher Art und ihre Konse­ quenzen sind bedenklich. Napoleon ist am Nationalitätsschwindel gefallen. (Oh! Oh!) — Za am Nationalitätsschwindel ist er gefallen und ich wünsche nicht, daß das deut­ sche Reich irgend welchen Stoß gewinnen könnte, wenn es diese Politik wieder auf­ nimmt. — Zudem aber handelt es sich in der römischen Frage gar nicht darum, in das Innere der Völker sich einzumischen, sondern es handelt sich um die Frage, ob der Kirchenstaat und die übrigen Staaten Ztaliens, die jetzt unter Victor Emanuel ge­ einigt sind, ob die bereits ein Volk sind. Sie nehmen das an und machen sich des­ halb einer petitio principii schuldig. Allerdings wohnen in beiden Ländern, in beiden Staaten Italiener, wenigstens vorzugsweise, obwohl auch viele Andere da wohnen. Aber daraus folgt doch noch nicht, daß, weil in diesen beiden Ländern, in diesen bei­ den Staaten hauptsächlich Italiener wohnen, daß sie nun ohne Weiteres zusammen­ gehören, ohne Weiteres einen Staat bilden müßten, sonst müßten wir ja morgen auch nach der Hofburg in Wien ziehen dürfen, denn auch dort wohnen Deutsche. Die gedachten Staaten, der Kirchenstaat und die übrigen italienischen Staaten sind fest be­ gründet in dem Traktate von 1815, welcher die Unterschrift Preußens und aller euro­ päischen Staaten trägt. M. H., es ist die Wiederherstellung des Kirchenstaats im Jahre 1815 auf dem Wiener Kongresse wesentlich mit durch die Bemühungen des hoch-

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seligen Königs Friedrich Wilhelms in. zu Stande gekommen und der erleuchteten Staatsmänner, die ihn damals umgaben. Sollen wir nun annehmen, daß ein Wort zur Aufrechterhaltung dieser im Jahre 1815 geschlossenen Verträge eine unzulässige Intervention sei? M. H., wenn ein Staat wie Deutschland nicht in der Lage sein will oder soll, bei der Verletzung der europäischen Staatsordnung und der Verträge, auf welchen dieselbe beruht, ein Wort mitzusprechen, was wäre dann der ganze Gewinn werth, den wir vom Deutschen Reiche uns versprechen und den Sie so hoch anschlagen? Das gerade wollten wir erreichen, daß unsere Worte in Europa vernommen werden und Kraft haben, wenn wir sie geltend machen für die Aufrechterhaltung der euro­ päischen Ordnung, wie sie in den Verträgen begründet steht. Nun meint der Abg. Miquel: so einige Worte könnte man für die Aufrechterhaltung dieser Ordnung wohl sagen, man solle aber gleich dabei erklären, wenn man den Worten nicht folgt, dann sind wir auch zufrieden. (Abg. Miquel: Genau das Gegentheil habe ich gesagt.) So ungefähr habe ich den Abg. Miquel verstanden. M. H., wenn ein Staat bei den Ver­ handlungen, die er zu leiten und einzugehen hat, von vorn herein erklärt, ich werde der Macht, die ich habe, mich gänzlich entäußern, dann gilt er eben nichts in der Ver­ handlung; denn die Staaten gelten eben nur das, was sie an Kraft haben und sonst gar nichts. Sonst könnte auch ein einzelner Staatsmann die Verhandlungen machen, und der Abg. Miquel würde bei seiner großen Beredtsamkeit vielleicht im Stande sein, für sich allein die ganze römische Frage in unserem Sinne zu erledigen. (Oh! oh!) M. H., Sie sagen dann ferner, es wäre hier nicht ebenso, als wenn es sich etwa dämm handle, bei den Verträgen, die wir mit anderen Staaten schließen, für die dadurch begründeten Interessen einzutreten. Wenn wir einen Handelsvertrag schließen, und man will uns dessen Bestimmungen nicht halten, oder wenn man unsere Kauffahrteischiffe wegnimmt aus ungerechtfertigten Gründen, dann finden es die Herren ganz unbedenklich, daß man intervenire, um das Recht geltend zu machen. Zn solchen Fällen liegen allerdings materielle Interessen vor, und in dieser materiellen Zeit be­ greife ich sehr wohl, daß ein Eintreten für diese noch gefordert wird; aber, m. H., für uns sind die vitalen Religionsinteressen wichtiger, als irgend einem Andern seine Handelsgeschäfte oder seine Schiffe oder seine sonstigen Vortheile, die aus Verträgen entnommen sind. (Stimme I.-: Zehnten!) — Und wir sagen deshalb, aus den Ver­ trägen, die mit Rom und der ganzen europäischen Gesellschaft geschlossen sind, sind uns diese Rechte erwachsen, und wir erwarten, weil diese unsere Interessen in Italien ver­ letzt sind, daß man dafür eintrete. Das ist vollkommen korrekt, und die Beispiele, die von Herrn von Ketteler angeführt worden, sind deshalb auch ganz zutreffend. Mir scheint unter diesen Umständen, daß die Frage wegen der Intervention oder Nicht­ intervention gar nicht hätte angerührt zu werden brauchen. Zn dem Adreßentwurfe, dem ich meinestheils beitrete, ist von der ganzen Frage nicht die Rede; dieser Entwurf schließt sich einfach der Thronrede in diesem Satze an. Nichts in der Welt war vor­ handen, was Sie veranlassen konnte, nun Ihrerseits so hervorzutreten, wie Sie es in Ihrem Adreßentwurfe thun. Wenn gesagt wird, es wäre anderswo kriegerisches Einschreiten verlangt, so er­ widere ich einfach, daß das nirgends geschehen ist. Es ist allerdings von Vielen, auch von mir, eine Petition an Seine Majestät den Kaiser gerichtet, daß für die Unabhän­ gigkeit und Selbstständigkeit des heiligen Stuhles gewirkt werden möge. Es ist darin

ausdrücklich auf die diplomatischen Verhandlungen hingewiesen, und ich habe die Ueber­ zeugung, daß das Wort Deutschlands stark genug ist, um das zu erreichen, was erreicht werden muß, — und zwar ohne Krieg! Wir wollen gar keinen Krieg beanttagen, eben weil er zur Erreichung unseres Zweckes nicht nöthig ist. Ich habe die Ueber­ zeugung, es werde durch den moralischen Einfluß, den wir jetzt haben, vollkommen das Nothwendige erreicht werden. Wenn Sie aber erklären: „in keiner Form und nach keiner Rücksicht", dann ist es unzweifelhaft, daß auch nicht einmal ein Wort gesagt werden soll, und das können wir unter keinen Umständen zugeben. Wir müssen durch­ aus verlangen, daß dieses geschehe! Wollen Sie das nicht — ich kann es nicht

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ändern. Was aber aus solchen Debatten und aus solchen Erklärungen von Ihrer Seite weiter folgt, das haben Sie sich demnächst auch selber zuzuschreiben! M. H.! Es ist gesagt worden, es sei überflüssig, zu erörtern, ob es gut gewe­ sen sei, von der Fruchtbarkeit der Gesetzgebung im norddeutschen Bunde zu sprechen, und von dem Berufe der Zeit, Gesetze zu geben. M. H., es ist unzweifelhaft, daß neue Verhältnisse auch neue Ordnungen verlangen, und diese wird man machen müssen; aber bei diesen neuen Ordnungen ist es nicht immer nothwendig, alles Alte umzustoßen! Und so entsteht dann die Frage, ob man in der heutigen Adresse so unbedingt Alles billigen soll, was im norddeutschen Bunde geschehen ist, und zwar selbst dann, wenn man dagegen anzukämpfen bemüht gewesen ist. Ich glaube, daß allerdings so viel Gesetze gegeben sind, daß bei der Gesetzgebung, wie sich ein Mitglied des norddeutschen Reichstages ausdrückte, die Zeit zum Befolgen derselben nicht bliebe, indem sie nicht einmal ausreichte, sie zu lesen. Und so meine ich, daß wir es ganz in der Ordnung finden mußten, den fraglichen Passus zu beseitigen. Was nun den Schluß betrifft, so hat der Herr Abg. Völk gemeint, die Stämme würden ihre Besonderheiten selbst zu schützen wissen. Nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, ist allerdings der Wunsch der Stämme in dieser Richtung sehr stark vor­ handen; aber die Kraft dazu ist sehr oft nicht vorhanden in Beziehung auf die Einzel­ institutionen, namentlich gegenüber den Systemen der Nivellirung nicht, die in den Büreaukratien aller deutschen Staaten vorherrschen. Es ist deshalb ganz in Ordnung, in der Adresse dem Kaiser, der auch in der Thronrede in der Hinsicht seinen Schutz hinlänglich in Aussicht gestellt hat, die Zustimmung auszudrücken. Die Stämme wer­ den ohne den Schutz des Kaisers nicht Kraft genug haben, gegenüber den centralisirenden Gelüsten, die leider immer noch stattfinden, einzuschreiten. Vor dieser Centrali­ sation habe ich immer Sorge gehabt, nach den Erfahrungen aber, die wir alle Tage und heute aus Frankreich vernehmen, habe ich sie doppelt. Darum, m. H., glaube ich, daß zu meinem Bedauern in der That solche Gegensätze in der Adresse stehen, daß ich meinestheils wenigstens nicht für die des Abg. von Bennigsen u. Gen. werde stimmen können. Aber ich erkläre, es ist mein tiefstes Bedauern daß diese Uneinigkeit sich zeigt. Diese Uneinigkeit wird, fürchte ich, nicht die guten Früchte tragen, die ich von einer Adresse erwartet. (Br.! im C.) Die Diskussion wird, nachdem noch ein Redner gesprochen, geschlossen. Von den Antragstellern verlangt nur Abg. Probst als einer der Verfasser der Reichensperger'schen Adresse das Wort. Er könne den Passus der anderen Adresse, daß nun die Sehnsucht der deutschen Nation nach Einigung erfüllt sei, nicht mit unter­ schreiben, so lange ein großer Theil der deutschen Nation, der in Oesterreich, von dem Einigungsbunde ausgeschlossen sei. Das Erreichte möge ein Anfang zur Erfüllung sein, aber nicht die Erfüllung. Zn Betreff der römischen Frage erkläre er offen, wenn irgend wo eine Veranlassung zur Ausübung eines Einflusses im Sinne und Interesse zahlreicher Reichs-Angehöriger gegeben sei, so sei es hier der Fall. Dies von vorn herein auszuschließen, halte er für unmöglich.

Der Reichensperger'sche (klerikale) Entwurf wird mit sehr großer Majorität abgelehnt, darauf der der freien Commission mit 243 gegen 63 Stimmen angenommen. Mit „Nein" stimmten die Klerikalen, Partikularisten und Radikalen; 6 polnische Mitglieder enthielten sich der Abstimmung. Die Adresse wurde am 2. April durch die ausgeloosten 30 Abgeordneten Seiner Majestät dem Kaiser in besonderer Audienz verlesen und überreicht und lautete die Antwort Seiner Majestät:

„Ich habe die verlesene Adresse mit herzlichem Dank entgegengenommen. Zch freue Mich der. Gesinnungen, welchen der Reichstag in derselben Ausdruck gegeben hat; sie beweist, daß die Worte Meiner Thronrede durchaus richtig ergriffen worden sind. „Wohl ist dem Heldenmuthe der deutschen Heere, die Mir zu führen vergönnt war, und ihren unvergleichlichen Thaten Dank zu zollen, vor Allem aber der göttlichen

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Vorsehung, deren Finger man bei jedem Schritt so deutlich erkennen konnte. Wir wollen uns bestreben, stets so zu handeln, daß ihr Schutz auch ferner uns nicht fehle. „Der Reichstag hat der Niederlage Frankreichs gedacht, das auch jetzt noch, nach­ dem es mit uns Frieden geschlossen, in Konvulsionen liegt. Darin zeigt sich die Folge der seit achtzig Jahren immerwährenden Revolution, die Alles bis auf die Dynastie entwurzelt hat, und auf deren Wegen es kein Ende giebt. Das soll auch uns eine Warnung sein, deren es aber bei den von dem Reichstage kundgegebenen Gesinnungen nicht bedarf. „Wohl ist in den dem deutschen Reiche zurückgewonnenen Ländern die deutsche Volksthümlichkeit nicht zerstört, aber doch in der That sehr verwischt; wir dürfen darum keine zu rasche Wandlung erwarten, sondern müssen Geduld und Nachsicht üben. Es wäre ja nicht einmal wünschenswerth und gut, wenn Völker bei einem solchen Scheiden aus dem bisherigen Zusammenhänge gleichgültig blieben. Durch Milde werden wir die deutsche Gesinnung in den in Rede stehenden Ländern allmählich wieder erwecken; er­ freuliche Spuren davon beginnen schon jetzt sich zu zeigen.

„Mögen denn die Vertreter des deutschen Reiches in treuer Pflichterfüllung fort­ arbeiten, damit das neue deutsche Reich den Erwartungen entspreche, die die Welt davon hegt. Mir bei Meinen vorgerückten Jahren wird es nur noch vergönnt sein, an dem Grundbau thätig zu sein; aber ich vertraue, daß Meine Nachfolger in gleichem Sinne und mit gleicher Innigkeit und Herzlichkeit daran fortbauen werden. „Ich bitte mitzutheilen."

Sie,

RestchStags-Repertorium. I.

Meine Worte und Meinen Dank dem

deutschen Reichstage

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n. Wahlprüfungen. I. In der 4. Sitzung am 27. März 1871 wurden zuerst beanstandet, aber später nach stattgehabter Untersuchung für gültig erklärt: 1. die Wahl des Fürsten Pleß (10. Breslauer Wahlbezirk). Abg. von Benda: M. H. Ich bin beauftragt, über die Wahl im zehnten Breslauer Wahlbeziick zu berichten und bitte Sie, Ihre Aufmerksamkeit auf meinen Vor­ trag hinzulenken, da es sich darum handelt, die Wahl des Fürsten Pleß zu beanstanden. Die Verhältnisse sind folgende. In dem 10. Breslauer Wahlbezirk sind im Ganzen 12,051 Stimmen abgegeben worden. Die absolute Majorität beträgt 6026. Fürst Pleß hat 6038 Stimmen, also eine Majorität von 12 Stimmen erhalten. Nach dem Wahlprotokolle vom 7.-März d. I. in fine hat der Wahlkommissarius monirt, daß in einer Gemeinde ein Stimmzettel, auf den Justizrath Karsten lautend, für gültig erklärt worden ist, auf welchem sich ein zweiter Name befand; und er hat ferner monirt, daß in einem anderen Orte nur 277 Wähler erschienen sind, während 278 Stimmzettel sich vorgefunden haben und dem ungeachtet diese größere Zahl der Zusammenzählung der Stimmen zu Grunde gelegt worden ist. Wenn man diese beiden Stimmen von der Gesammtzahl abzieht, so würde die Majorität von 12 Stimmen für den Fürsten Pleß dieselbe bleiben. Es ist inzwischen seitens des Wahlkomites der Arbeiter im Kreise Waldenburg ein Protest eingegangen unter dem 23. März, der unter zehn Punkten gegen die Wahl Ausstellungen erhebt. Es ist unter Nr. 1 des Protestes dagegen Beschwerde erhoben, daß von dem Wahlvorstand in Oberwaldenburg ein Zettel, auf welchem gedruckt der Name Fürst Pleß und daneben geschrieben der Name des Fürsten Pleß sich befand, für gültig er­ klärt worden ist. M. H., ich bin der Ueberzeugung, daß der Wahlvorstand in diesem Falle richtig gehandelt hat. Wenn zwei Namen, die identisch sind, auf dem Wahlzettel sich befinden, so halte ich das für denselben Namen. (Z.) Es ist unter Nr. 2 Beschwerde dagegen erhoben, daß in der Gemeinde Tann­ hausen zwei Päckchen, beide mit je zwei Stimmzetteln, alle vier den Namen des Fürsten Pleß enthaltend, abgegeben worden sind, und daß von diesen zwei und zwei zusammen­ gepackten Stimmzetteln der Wahlvorstand zwei für gültig, zwei für ungültig erklärt hat. Nach dem 8 15 in Verbindung mit dem § 19 des Wahlreglements halte ich auch dieses Verfahren für richtig. Ferner ist in Nr. 9 des Protestes angegeben, daß in der Stadt Gottesberg der Herr Kantor Bienert als Protokollführer sich um 12 Uhr allein in dem Wahllokale befunden, einem erschienenen Wähler den Zettel geöffnet und, weil er nicht auf den konservativen Kandidaten Fürsten von Pleß gelautet habe, den Stimmzettel im Wahl­ lokale zerrissen habe. Es sind auch hierfür Zeugen angeführt. Wäre die Thatsache richüg, so würde der etwa nunmehr ausgewechselte Stimmzettel auf den Fürsten von Pleß jedenfalls ungültig sein, aber, wenn Sie auch annehmen, daß diese sechs Stimmzettel bei Feststellung der thatsächlichen Verhältnisse alle zu Ungunsten des Fürsten von Pleß abgerechnet werden müßten, würde nach einem sehr einfachen Kalkül die Stimmen­ mehrheit für den Fürsten von Pleß immer noch neun betragen.

Wahlprüfungen.

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Abe:, m. H., es sind in diesem Proteste des Wahlkomites von Waldenburg auch Beschwerden genereller Natur enthalten. Es ist unter den Nummern 5, und 7 aufgefühirt, drß in den Ortschaften Dittersbach, Weisstein und Niedersalzbrunn die nach § 9 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 vorgeschriebene Publizität ausgeschlossen worden fei. Der Wahlvorsteher habe den Gemeindeboten vor die Thür gestellt und die Wähle: angewiesen, sich an den Polizeiverwalter zu Neuhaus zu wenden, um die Erlaubniß zu erhalten, der Wahl beiwohnen zu dürfen. Hier hätten sie die Erlaubniß nicht erhallen, und wenn sie sich an die Thür gedrängt hätten, so sei höchstens immer Einem vor, ihnen der Eintritt verstattet worden. Dasselbe wird auch in Bezug auf die Wahlbezirke Weisstein und Niedersalzbrunn behauptet. Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß nach § 9 des Wahlgesetzes der Ausschluß der Oeffentlichkeit ein grober Fehler ist, es scheint mir das aber auch keinem Zweifel zu unterliegen, daß, wenn etwa bei Zusammenzählung der Stimmen und der Feststellung des Resultats Unordnungen oder Excesse vorkommen, der Wahlvorsteher befugt sein würde, sich gegen solche zu schützen, und daß daraus unwillkürlich eine Beschränkung der Oeffentlichkeit der Wahlverhandlung sich ergeben würde. Ob eine solche Unordnung stattgefunden hat, oder ob der Ausschluß der Oeffentlichkeit in dem genannten Orte wirklich in unzulässiger Weise und gegen das Gesetz geschehen ist, ergiebt sich aus den uns vorliegenden Notizen nicht; wohl aber ergiebt sich das auffallende Resultat, daß in diesen drei Bezirken, über welche der Protest sich beschwert, Fürst Pleß eine sehr erhebliche Minorität erlangt hat; der Fürst Pleß hat nämlich in diesen drei Bezirken 327 Stimmen bekommen, während sein Hauptgegenkandidat, der Kassirer des hiesigen Gewerkvereins, Herr Landgraf, 566 Stimmen bekommen hat. Der Ausschluß der Publizität hat also dieses Resultat nicht verhindert, und es ist ja ganz offenbar, daß, wenn man bei Feststellung der Thatsachen zu weiter keinem anderen Resultate käme, als die Wahl in den drei Ortschaften zu annulliren, die Majorität des Fürsten Pleß eine sehr erheblich größere sein würde. Aber auf der andern Seite können die Protestirenden wieder behaupten, daß die Majorität des Herrn Landgraf bei voller Oeffentlichkeit möglicherweise eine viel größere geworden sein würde. M. H., in dem Wahlbezirk Nieder-Hermsdorf unter Nr. 8 haben die Protestirenden sich darüber beschwert, daß der Gemeindebote Wittich sich an die Thür gestellt und den Stimmenden für die Fortschrittspartei ihre Stimmzettel entrissen und zerrissen und da­ durch zu Gunsten des Fürsten Pleß eine Wahlbeeinflussung geübt habe. M. H., wir haben uns in der Abtheilung bemüht, zu erfahren, welche Bedeutung ein Gemeindebote in Schlesien hat, und nur dann würde eine solche Beeinflussung anzunehmen sein, wenn ihm etwa polizeiliche Funktionen, wenn ihm etwa das Exekutoramt zu Gebote stände. Wir haben darüber nichts erfahren können, und müssen daher in Bezug aus diesen Punkt annehmen, daß er noch unaufgeklärt bleibt. Endlich in Bezug auf den Fall 9 ist die Abtheilung der Meinung gewesen, daß es sich hier nicht um vereinzelte Fälle handelt, sondern daß, wenn die Thatsache fest­ gestellt würde, allerdings daraus eine Ungehörigkeit zu folgern sei, die möglicherweise das Wahlresultat im ganzen Wahlbezirk in Frage stellen könnte. Der Punkt 10 der Beschwerde enthält vage und nicht bescheinigte Behauptungen. M. H., wir haben uns nun die Frage in der Abtheilung vorgelegt, ob man die Erörterung und die Beschlußfassung in dieser Angelegenheit lediglich auf die Anfein­ dung der einzelnen Stimmen beschränken könnte, ob man den Fürsten Pleß einfach, da die Majorität durch diese nicht alterirt wird, bestätigen und die erhobenen Beschwerden als völlig irrelevant bezeichnen könne. Die Abtheilung ist einstimmig der Ansicht ge­ wesen, daß dies unmöglich sei, daß eine weitere Erhebung über diese Beschwerden er­ folgen müsse, und die Abtheilung hat als die nothwendige Konsequenz dann angesehen, daß, wenn überhaupt diese Angelegenheit zur Untersuchung an die Behörden zurück­ gegeben wird, bei der äußerst knappen Majorität des Fürsten Pleß dessen Beanstandung ausgesprochen werden müsse. Die Abtheilung schlägt Ihnen daher vor, das Bundeskanzler-Amt zu ersuchen, 3*

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Wahlprüfungen.

weitere Erhebungen zu veranlassen über die Beschwerdepunkte, die ich ihnen vorgetragen habe, und inzwischen die Wahl des Fürsten Pleß zu beanstanden. Dieser Antrag wird angenommen. Abg. von Benda berichtet in der 53. Sitzung, nachdem die Untersuchung statt­ gefunden: M. H., wir haben vor einigen Wochen beschlossen, die Wahl des Fürsten Pleß im 10. schlesischen Wahlbezirke zu beanstanden auf Grund eines Protestes, welchen das Arbeiter-Wahlkomito in Waldenburg eingereicht hatte, und wir haben zu gleicher Zeit beschlossen, daß über die verschiedenen Punkte, die in diesem Protest enthalten sind, Erhebungen veranstaltet werden sollten. Der Bericht ist jetzt eingegangen und hat folgendes Ergebniß geliefert. Die Punkte 8 und 9 des damaligen Protestes bezogen sich auf die Aussage, daß in Nieder-Hermsdorf und in der Stadt Gottesberg eines Theiles der Wahlvorstand nicht gehörig gebildet worden sei, andern Theiles seien die Zettel zerrissen worden und andere Zettel diesen substituitt worden; sie haben sich nach Vernehmung der bezüglichen Zeugen als unrichtig herausgestellt. In den Punkten 5, 6 und 7 bleibt die Berufung darauf übrig, daß in den Ortschaften Dittersbach, Weißstein und Niedersalzbrunn von den Wahlvorständen die im Artikel 9 des Wahlgesetzes vorgeschriebene Publicität ausgeschlossen worden sei. Es hat sich erstens ergeben, daß in diesen sämmtlichen drei Ortschaften zwischen den Wahllokalen und den Schanklokalen eine unmittelbare Verbindung bestand; sie lagen entweder angrenzend oder ihnen gegenüber. Es hat sich ferner herausgestellt, daß während der Wahl in diesen drei Ortschaften eine lebhafte Unruhe, viel Lärm statt­ gefunden hat, und zum Theil wohl auch eine etwas höhere Stimmung in Folge des Genusses von geistigen Getränken; ferner daß man namentlich in Dittersbach die ein­ zelnen Wähler nur nach und nach hat eintreten lassen. Der Gemeindebote stand vor der Thür und hat nur die einzelnen Wähler zur Thüre in das Wahllokal hineingelassen und abstimmen lassen. Es ist geschehen, wie die Wahlvorstände bezeugen, weil sie befürchtet haben, daß bei der gehobenen Stimmung in den betreffenden Schank­ lokalen die Ueberfluthung mit mehreren Wählern das Wahlgeschäst stören würde. M. H., endlich hat sich herausgestellt, daß bei der Zusammenzählung der Stimmen in sämmtlichen Ortschaften die Thüren zugemacht worden sind, und es hat sich bei Ditters­ bach ergeben, daß man bei dem in dem Schanklokal befindlichen Publikum durch die Gemeindeboten und leider auch durch einzelne Mitglieder des Vorstandes die Ansicht verbreitet hatte, daß der Vorstand, wie es in dem Berichte heißt, wohl den Eintritt der Wähler in das Wahllokal nicht gestatten würde. Es ist demzufolge auch that­ sächlich in Dittersbach die Zählung der Stimmen ohne Anwesenheit der Wähler in den beiden Ortschaften nur unter Anwesenheit von ein oder zwei Wählern, die sich zufällig dort befanden, erfolgt. Dagegen, m. H., ergiebt sich aus den beeidigten Aussagen, daß nirgends der Aus­ schluß der Wähler von dem Wahlvorstande als solchem angeordnet wäre; daß nirgends die Thür, die nur zugemacht war, verschlossen worden ist; daß keiner von den Wäh­ lern direkt behindert worden ist, in das Wahlloeal zu treten; sie haben zwar an den Thüren Spektakel gemacht, haben mit den Hacken dagegen geschlagen; es scheint sich aber keiner ermannt zu haben, die nicht verschlossene Thür aufzuklinken und von feinem Rechte, das Wahllocal zu betreten, Gebrauch zu machen. Und endlich, m. H., ist nir­ gends festgestellt oder auch nur behauptet, daß bei der Zählung der Namen Unregel­ mäßigkeiten stattgefunden hätten. M. H., nach dem Ergebnisse, was ich eben vorgetragen habe, ist die Abtheilung der Ansicht gewesen, daß ein eigentlicher Ausschluß der Oeffentlichkeit im Sinne des Artikels 9 nicht stattgefunden hat. Es kommt dazu der besondere Umstand, daß, wenn man auch aus dem moralischen Drucke, der in Dittersbach möglicherweise durch die Mittheilung des Gemeindevorstehers erzeugt worden ist, eine Ungehörigkeit folgern wollte, aus welcher man diese Wahlen aus den betreffenden Ortschaften vernichten könnte, dann die Zahl der Stimmen für den Fürsten Pleß sich erheblich vermehren würde. Denn in den bezüglichen drei Ortschaften hat schließlich der Gegenkandidat des

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Fürsten vm Pleß beinahe 300 Stimmen mehr bekommen wie der Fürst Pleß. Unter diesen Umständen hat die Abtheilung eine Ungültigkeit der Wahl, selbst unter der An­ nahme, dcß die Wahlen in den betreffenden drei Ortschaften ungültig wären, in toto nicht folgern können, und sie nimmt keinen Anstand, nach dem Ergebniß dieser Er­ mittelungen nunmehr Sie zu ersuchen, die Wahl des Fürsten Pleß definitiv für gültig zu erklärer. Die Wahl wird für gültig erklärt. 2. die Wahl des Assessors a. D. Rudolstadi).

Eugen Richter (Fürstenth. Schwarzburg-

Berichterstatter Abg. Dr. Becker: Zch habe den Auftrag, zu berichten über die Wahl in dem Fürstenthum Schwarzburg-Rudolstadt, und zwar im Auftrage der Ab­ theilung citte Beanstandung zu beantragen. Zn diesem Wahlbezirke ist der Assessor a. D. Eugen Richter als gewählt proklamirt worden. Die Majorität beträgt 21 Stimmen. Zhn Abtheilung hat geglaubt, so weit die Mängel, die bei dieser Wahl hervor­ treten, in der Nichterfüllung der formellen Bestimmungen bestehen, darauf weiter kein Gewicht fegen zu sollen, weil diese eben keine anderen find, als die in anderen Be­ zirken, also solche, von denen man fast sagen muß, daß sie die beinah allgemein üblichen stien. Die Abtheilung hat aber geglaubt, einen anderen Punkt besonders be­ tonen zu sollen. Zn einer Gemeinde Dörnfeld ist die Wahl zwar im Ganzen in le­ galer Weise vor fich gegangen; aber dieser Gemeinde Dörnfeld war auch der Gutsbezirk Dörnfeld und Kottendorf zugeschlagen, so daß diese drei Ortschaften, Dörnfeld Dorf, Gutsbezirk Dörnfeld und Kottendorf zusammen einen Stimmbezirk bildeten. Es ist nun von dem Wahlvorstande registrirt worden, daß ihm von dem Gutsbezirke Dörnfeld eine Wählerliste nicht zugegangen, und daß im Wahltermin ein Wähler dieses Bezirks überhaupt nicht erschienen ist. Der Wahlkommissarius erwähnt in seinem Berichte eben­ falls dieses Umstandes, daß die Wählerliste des Gutsbezirks Dörnfeld ganz fehle. Ob die Zahl der Wähler in diesem Bezirke groß genug ist, um die Majorität von 21 Stimmen so zu alteriren, daß der als gewählt Proklamirte als nicht zu Recht gewählt erscheint, das festzustellen ist nicht möglich, weil der Wahlkommissarius das Berzeichniß der Wahlbezirke und die Zahl der Wahlberechtigten nicht zu den Wahlakten gebracht hat. Es ist also hier bloß von einer Möglichkeit die Rede. Eine gewisse leichte Behandlung des Geschäfts tritt überhaupt in diesen Akten nicht blos bei dem einzelnen Wahlvorstande, sondern auch bei dem Wahlkommissarius hervor. Die Abtheilung hat also geglaubt, da die Majorität eine so kleine sei, eine Ermittelung des Umstandes herbeiführen zu sollen, ob in dem Gutsbezirke Dörnfeld die Wähler auch wirklich in die Lage gekommen sind, wählen zu können, mit anderen Worten, ob eine Wählerliste auf­ gestellt worden ist und ob die Wähler des Gutsbezirks eingeladen worden sind, an der Wahl Theil nehmen. Die Abtheilung beantragt also, bis zum Eingänge dieser Er­ mittelungen die Wahl zu beanstanden. Dieser Antrag wird angenommen. Berichterstatter Abg. Dr. Becker berichtet in der 42. Sitzung nach stattgehabter Untersuchung: Es hat das schwarzburgische Ministerium zu Rudolstadt mitgetheilt, daß in dem Gutsbezirk Dörnfeld der von dem fürstlichen Landrathsamt dahin erlassenen speziellen Anweisung ungeachtet eine Wählerliste nicht aufgestellt, und daß die Wähler desselben auch nicht eingeladen worden seien, an der Wahl Theil zu nehmen. „Wenn bei der Ermittelung des Wahlergebnisses, so fährt das Ministerium fort, dieses Um­ standes zu erwähnen unterlassen worden ist, so dürfte diese Unterlassung ihre Erklärung darin finden, daß die Nichttheilnahme an der Wahl seitens der Wähler des genannten Gutsbezirks, deren Berzeichniß hier ebenfalls beiliegt, der geringfügigen Anzahl der Wähler halber einen Einfluß auf das Wahlergebniß nicht gehabt habe." Sie hören, m. H., in dem Gutsbezirk'ist eine Wählerliste nicht ausgestellt und sind die Wähler nicht ausgefordert worden, an der Wahl Theil zu nehmen. Aber, m. H., die Wählerliste umfaßt im Ganzen nur vier Namen; es besteht dieser Guts-

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bezirk Dörnfeld an der Zll blos aus dem Domänenpächter, dessen Schafknecht, dessen Futterknecht und einem Tagelöhner. (H.) Beiläufig will ich bemerken, daß schon, unmittelbar nachdem unsere Verhandlung vom 27. März bekannt geworden war, die Ortsbehörde telegraphisch Nachricht gegeben hat, wie die Sache liege, und daß diese Mittheilung in der Hauptsache mit dem über­ eingestimmt hat, was-ich aus dem Bericht des Ministeriums Ihnen soeben mitgetheilt habe. Die Sache liegt so, daß eine grobe Ordnungswidrigkeit vorliegt, daß deren Tragweite aber nicht ausreicht, die Majorität für Herrn Richter zu erschüttern. Unter diesen Umständen trägt die Abtheilung darauf an, daß von der Bean­ standung der Wahl Abstand genommen und die Wahl des Assessors Eugen Richter für gültig erklärt werden möge. Dieser Antrag wird angenommen. II. Zn der 5. Sitzung am 28. März wurde die Wahl des Pfarrers Maranski im 4. Wahlkreise des Regierungsbezirks Marienwerder für ungültig erklärt. Berichterstatter Abg. Dr. Elben: Für die Wahl, für welche ich Bericht zu er­ statten habe, darf ich wohl das Interesse des Hohen Hauses durch die vorausgeschickte Bemerkung in Anspruch nehmen, daß es sich um eine Vernichtung dieser Wahl handelt. Es ist die Wahl im vierten Wahlkreise des Regierungsbezirks Marienwerder. Daselbst haben nach Abzug ungültiger Stimmen abgestimmt 14,376; davon beträgt die absolute Majorität 7189. Der als gewählt Proklamirte, Pfarrer Antoni Maranski in Rinsk hat erhalten 7200 Stimmen; sein Gegenkandidat, Zustizrath Dr. Meyer aus Thorn, früheres Mitglied des norddeutschen Reichstages, 7165 Stimmen; zersplittert sind 11 Sümmen. Gegen die Wahl ist ein Protest eingelaufen von dem deutschen Wahlkomite in Thorn; außerdem liegt in den Akten eine Reihe von Material, welches auf den Antrag zur Beanstandung der Wahl geführt hat. Es sind drei Kategorien, nach welchen diese Beanstandungen betrachtet werden müssen; einmal Verstöße gegen posiüve formale Vorschriften, zweitens die Behauptung einer Wahlfälschung und drittens der Eingriff einer höhern Gewalt. Da es sich um eine Wahl handelt, bei welcher der Gewählte nur 11 Stimmen über die absolute Majorität erhalten hat, so ist es klar, daß man auf alle Verletzungen formaler Vorschriften sehr genau Acht haben muß, sofern sie Einfluß auf das Wahlresultat haben könnten. (Folgt die Auseinandersetzung der formalen, einige Stimmen berührenden Verletzungen und der behaupteten Wahlfälschung.) Es hat bei dieser Wahl ein höherer Eingriff, eine höhere Gewalt stattgefunden, nämlich eine Überschwemmung, ein Eisgang der Weichsel. Vom 28. Februar bis zum 4. März war die Weichsel in jener ganzen Gegend aus ihren Ufern getreten; die Brücken über die Weichselarme bei Thorn waren zerstört. Noch schlimmer sah es in der Weichselniederung aus; die die User schützenden Dämme waren am 1. März an fünf Punkten zerrissen worden, so daß die ganze Niederung von Wasser und Eis­ blöcken überfluthet und jede Kommunikation der einzelnen Ortschaften und Gehöfte unter einander vollständig unterbrochen war. Ebenso war es auf dem linken Weichsel­ ufer. Man hat noch am 3. März versucht, mit Kähnen in die Ortschaften zu kommen, um denselben Lebensmittel zuzuführen; allein auch dies war trotz aller Versuche un­ möglich. Die Schilderung, wie ich sie gegeben habe, beruht auf den übereinstimmenden Angaben theils in dem Wahlprotest, theils in einer Eingabe des königlichen Landraths Hoppe; ferner sind sie übereinstimmend enthalten in dem Wahlprotokoll der Wahl­ kommission am 7. März; außerdem bezeugt in seinem Theile der Stadtmagistrat Thorn dasselbe; ferner haben viele einzelne Wahlvorsteher auch aus solchen Orten, in welchen die Wahl nicht ganz gehemmt war, ihre Wahrnehmungen über den Eisgang in das Protokoll niedergelegt: endlich aber sind die Angaben von 11 Wahlvorstehern aus den betreffenden Bezirken dem Wahlprotest beigefügt, alle 11 mit amtlich beglaubten Unter­ schriften der Wahlvorsteher. Danach bezeugen sie übereinstimmend, daß in 11 Be­ zirken eine Wahl überhaupt nicht zu Stande gekommen ist. Es wurde kein Wahl­ vorstand konstituirt, es hat sich selbst kein einziger von den Wahlvorstehern dort ein-

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finden können; einer sagt, das ganze Wahllokal war rings von Wasser umfluthet. Die Gesammtzahl der Stimmen derjenigen Wähler, welche in diesen 11 Bezirken ab­ zustimmen gehabt hätten, betrug 1030; dazu kommen 30 Wähler der Stadt Thorn, welche auf dem linken Weichselufer wohnen und nicht über die Weichsel kommen konnten, zusammen also 1060. Es wird bezeugt, daß bei der letzt vorhergegangenen Wahl aus diesen 11 Bezirken 766 Wähler ihre Stimmen abgegeben haben. Nun braucht es kein Wort, um darzuthun, daß, wenn diese große Anzahl von Wählern ihr Wahl­ recht hätte ausüben können, ein anderes Resultat der Wahl sehr leicht möglich, ja vielleicht wahrscheinlich gewesen wäre. Es handelt sich auch nicht um ein Unglück, das nur einen Wähler oder eine Gruppe von Wählern betroffen hat, es handelt sich um ein höheres Naturereigniß, um eine höhere Gewalt, welche einen großen Landstrich von 11 Wahlbezirken in einem Umfange betroffen hat, wie ein solches Ereigniß seit dem Jahre 1719 in jener Gegend nicht mehr stattgefunden hat; und wenn man etwa glauben sollte, daß dieses Unglück eben die Einzelnen treffe, so ist auch die Erwägung noch entgegenzustellen: es war ja vielleicht möglich, daß noch einzelne der Wähler, z. B. die Bewohner des betreffenden Wahllokals oder die Bewohner der nächsten Häuser im Stande gewesen wären, vielleicht selbst mit Lebensgefahr in das Wahllokal zu kommen, um an dem betreffenden Tage ihre Stimme abzugeben. Wenn sie aber auch in das Wahllokal gekommen wären, so konnten sie doch ihre Stimmen nicht abgeben, weil nirgends das Wahlkollegium konstituirt war, weil nirgends auch nur der Wahlvorsteher selbst gekommen war. Man hatte einige Tage vor der Wahl, da dies Ereigniß vor­ auszusehen war, an das Bundeskanzler-Amt telegraphisch die Anfrage gerichtet, ob eine Verschiebung der Wahl nicht möglich sei; es kam aber telegraphisch die Antwort, daß dies in Uebereinstimmung mit § 14 des Wahlgesetzes unmöglich sei, und so mußte denn die Wahl stattfinden, gewiß nach dem Wottlaut des Gesetzes eine Nothwendigkeit; aber ebenso ist es in der Macht des Reichstages gelegen, das Recht eines so bedeutenden Theils der Wähler eines Wahlkreises, welches durch die höhere Gewalt beeinttächtigt wurde, durch die Vernichtung der Wahl wieder herzustellen. Die 7. Abtheilung hat beschloffen und zwar einstimmig beschlossen, aus den Ihnen vorgetragenen Gründen sowohl zu der' ersten Kategorie, was die formalen Mängel der Wahl betrifft, als aus den Gründen, die ich soeben vorgetragen habe, auf die Vernichtung dieser Wahl den Antrag zu stellen. Abg. Schröder (Lippstadt): Es war gewiß einer der interessantesten Theile dieses Vortrages, zu Hören, was sich für Naturereignisse zugetragen haben im Weichselthale; aber so interessant diese Ereignisse sind, für ebenso total unerheblich halte ich sie als Grund für eine Vernichtung dieser Wahl. Bei einem solchen Naturereignisse muß man doch voraussetzen, daß es beide Theile gleichmäßig trifft, und die einzig richtige Annahme, die ich statuire, ist, daß man annehmen muß, es hätte die eine Hälfte so und die andere Hälfte so gestimmt. (H. l.) Ja, m. H., es liegt hier doch kein Parteimanöver vor, und wenn es in einer Stadt am 3. März brennt und überhaupt eine Wahl nicht stattfinden kann, so werden Sie mir doch zugeben, daß deswegen dort keine Neuwahl veranstaltet werden kann. Es muß eben am 3. März gewählt werden, und wer durch ein höheres Naturereigniß behindert nicht wählen kann, hat eben Unglück gehabt. (W. l.) Ich glaube deshalb, daß wir zu dem Anträge kommen müssen, zu dem die Ab­ theilung selbst ursprünglich gekommen wäre, wenn sie nicht dieses Naturereigniß er­ wogen hätte, nämlich die Wahl zu beanstanden, uud ich bitte Sie daher, nur für Beanstandung und Heranziehung der Dokumente über die stattgesundene ungesetzliche Beeinflussung zu stimmen, nicht aber schon jetzt für die Vernichtung der Wahl. Abg. Dr. von Niegolewski: Ich freue mich sehr, daß aus der Mitte des Hauses ein solcher Antrag auf Beanstandung gestellt ist, so daß wir, die polnische Fraktion, ihn nicht erst zu stellen brauchen. — Ein eben solches Naturereigniß, das jetzt die Abtheilung bewogen hat, den Antrag auf Vernichtung der Wahl zu stellen, ist schon einmal im preußischen Abgeordnetenhaus zur Sprache gekommen, ist aber

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nicht als Grund angenommen worden, die Vernichtung der Wahl auszusprechen. Es war vor mehreren Zähren — ich weiß nicht mehr in welchem Jahre, aber es wird sich ja später ergeben — eine Rheinüberschwemmung, und die Wähler von dem linken Rheinufer konnten -nicht zum Wahllokal auf die andere Seite herüberkommen. Das Ausbleiben dieser Wähler wurde aber nicht als Grund angesehen, um die Wahl zu vernichten; deshalb glaube ich auch, daß man mit Rücksicht auf den früheren Präcedenzsall die Wahl nur beanstanden kann, und ich glaube, es sei nicht gerathen, daß man überhaupt aus solchen Rücksichten und auf Grund solcher Zufälligkeiten die Wahlen vernichten sollte, denn alsdann könnte das zu unabsehbaren Unregelmäßigkeiten und zu fortwährenden Anfechtungen und Neuwahlen führen. Abg. Lasker: Die Wahl, um die es sich hier handelt, ist zu Stande gekommen mit 11 Stimmen über die absolute Majorität, und es sind mehrere Gründe vor­ getragen worden, die selbstverständlich zur Vernichtung der Wahl führen sollen: Gründe, die auch ohne Beweisaufnahme schon gegenwärtig für einen Theil der Mitglieder der Abtheilung bestimmend gewesen sind, wie sie ausdrücklich erklärt haben. Zch dagegen will mich nur beschränken auf den letzten und dritten Grund. Es ist von einem Herrn von der anderen Seite behauptet worden, daß die Ueberschwemmungen der Weichsel ihn sehr interessirt haben, aber sie seien kein Parteimanöver gewesen. Auch nicht eine Silbe habe ich aus dem Munde des Herrn Referenten gehört, die darauf angespielt hätte, daß die Dämme von einer der Parteien etwa durchbrochen worden wären (H.); jene Bemerkung war also durch nichts provocirt. Es handelt sich um eine rein objektive Prüfung der gegenwärtigen Wahl, und von keiner Seite spielt ein anderes Moment hinein; ich für meine Person erkläre, daß, wenn ich selbst durch eine solche Wahl gewählt worden wäre, ich nicht einen Augenblick die Ungültigkeit dieser Wahl bestreiten würde. Der Fall ist nämlich wie folgt: 1100 Wähler können ihr Wahlrecht nicht ausüben, weil nirgends ein Wahlvorstand konstituirt ist; mit 11 Stim­ men Majorität ist der Abgeordnete gewählt worden, und 1100 Wähler wären, selbst wenn sie sich der Lebensgefahr aussetzen wollten, um ihr Wahlrecht auszuüben, dennoch nicht im Stande gewesen zu wählen, weil dem Gesetze nicht genügt werden konnte. Zch halte den Fall für so klar, daß ein Weiteres darüber noch ausführen zu wollen überflüssig wäre. Nun vermuthet allerdings der Herr, dessen Namen ich nicht kenne, daß man das Exempel so anlegen müsse: es würde die eine Hälfte der Wähler für den einen und die andere Hälfte für den andern Kandidaten gestimmt haben. (H.) Das ist eine Phantasie, aber ich glaube, nicht geeignet, um ernste Männer zu bestimmen, ihr Urtheil danach abzugeben. Wenn eine Möglichkeit wäre, auch nur zu ahnen, wie die einzelnen Wähler gestimmt haben, so mag Zeder seinen Standpunkt aufrecht erhal­ ten; aber man kann nicht gut sagen, daß in einem Wahlkreise richtig gewählt sei, in welchem mit 11 Stimmen Majorität entschieden worden ist und in welchem 1100 Wähler nicht haben wählen können, und zwar deswegen nicht haben wählen können, weil ein Naturereigniß daran gehindert hat. Man kann dieses Naturereigniß nicht ganz so behandeln, wie wenn es von Menschen herbeigeführt worden wäre; aber ich will auch auf diese Meinung eingehen: dies Naturereigniß sei eben so zu betrachten, wie wenn es durch freien Willen der Menschen herbeigeführt worden wäre. Wenn Sie diese Auffassung gelten lassen, dann hat der Staat seine Pflicht nicht gethan, denn er hat den Wahlvorstand nicht bestellt. Werden Sie in Zweifel sein, daß, wenn eine Anzahl Wähler gekommen war, um ihre Stimmen abzugeben, aber einen Wahlvorstand nicht vorgesunden und sich wieder entfernen gemußt, Sie dann diese Wahl für nichtig erklären, wenn die Anzahl der ausgeschlossenen Wähler so groß ist, daß sie Einfluß auf das Resultat haben könnte? Ich glaube, Niemand im Hause wird darüber im Zweifel sein; denn wenn Sie eine solche Wahl nicht vernichten wollten, so würde ja in jedem zweifelhaften Wahlbezirk eine Anzahl von Wahlvorstehern es in Händen ha­ ben, die Wahlen in den Kreisen, die ihnen ungünstig sind, nicht zu Stande kommen zu lassen. Sie können es überhaupt nicht von dem Willen des Einzelnen abhängig

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machen, ob der wahre Wille eines Kreises zum Ausdruck kommen soll oder nicht. Ob Sie nun das Naturereigniß als solches erachten, als welches wir es erachten müssen, d. h. als ein Ereigniß, an welches sich bestimmte Folgen knüpften, oder ob Sie sich erhaben über das ganze Naturereigniß Hinwegsetzen, als ob es nicht in der Welt ge­ wesen wäre, immer kommen Sie zu dem Resultat: ein großer, Ausschlag gebender Theil der Wähler war nicht im Stande, seinen Willen zu äußern, und deswegen ist mir klar, was wir einer Wahl mit 11 Stimmen Majorität gegenüber unter mehr als 14,000 Abstimmenden zu thun haben, und man braucht gar nicht zu imputiren, daß diejenigen, welche für die Nichtigkeit der Wahl plaidiren, der andern Seite ein Partei­ manöver vorwerfen, in Folge dessen der Dammdurchbruch stattgefunden habe. (H.) Abg. -Reichensperger (Olpe): M. H., es scheint mir für den Reichstag nur von Interesse zu sein, eine feste Meinung über die Frage zu gewinnen, ob das hier in Rede stehende Naturereigniß die Vernichtung der Wahl herbeiführen solle oder nicht. Ich erkenne nun an, daß dem allgemeinen menschlichen Gefühle gemäß die durch Natur­ ereignisse herbeigeführte Nichtbetheiligung von 1100 Wählern ein sehr erhebliches Mo­ ment ist. Allein den Grundsatz, den wir jetzt aufstellen, müssen wir auch in seinen Konsequenzen eventuell gelten lassen wollen, wenn einmal nicht 1100, sondern nur 14 oder nur 1 Wähler durch irgend ein Naturereigniß abgehalten wird. (Lebh. W.) — Za, m. H., nehmen Sie es mir nicht übel, ich erinnere Sie dann an die Frage, die bereits Horatius gestellt hat: wie viel Haare machen einen Pferdeschwanz? Das kann eben Niemand beantworten. Wenn einmal Zahlen entscheiden sollen, dann muß man sie entweder fixiren oder jeder Zahl dasselbe Recht einräumen. Denn im Prinzip ist es gleich, ob 10, 20, 30 Wähler mehr oder weniger betroffen worden sind. Hier handelt es sich also um eine Prinzipienfrage. Ich bin nun der Meinung, daß die Frage selber allerdings schwer zu beantworten ist. Es sprechen Gründe für und wider. Für mich ist aber doch ohne Zweifel die Thatsache maßgebend, daß es kaum eine Wahl giebt, wobei nicht eine gewisse Zahl von Wählern durch Naturereig­ nisse behindert wird, theilzunehmen. Wir haben die Fälle, wie gesagt, sehr häufig hier gehabt, und wir haben sie in dem Falle, den der Herr Abg. v. Niegolewski hier vorgeführt hat, in demselben großartigen, ich glaube in noch großartigerem Maßstabe bei einer Wahl gehabt, die in Niederwesel auf dem rechten Rheinufer stattgefunden hat. Es war damals eine' mächtige Ueberschwemmung des Rheins eingetreten, und es war die Wahl angefochten, indem sämmtliche Wahlmänner von dem linken Rheinufer nicht herüber kommen konnten. Meiner Erinnerung nach — ich will es nicht bestimmt behaupten, ich habe mit einigen Herren Rücksprache genommen, sie erinnern sich des Falles zwar auch, wissen aber ebenso wenig genau anzugeben, wie die Entscheidung ausgefallen ist — meiner Erinnerung nach ist aber die Wahl nicht für gültig erklärt worden. Zch bin nun der Meinung, daß der rechte Weg, den der Reichstag zu gehen hat, der ist, die betreffende Entscheidung des preußischen Abgeordnetenhauses einzusehen (lebh. SB.) und genau ebenso zu entscheiden, wie damals entschieden worden ist. (W.) — Das ist darum meine Meinung, weil wir einer Prinzipienfrage gegenüberstehen, die doch unmöglich in dem einen Falle so, in dem anderen Falle anders entschieden werden kann. Wenn bei irgend einer Frage, dann ist es bei einer wie der vorliegen­ den am geratensten, die Präcedenzfälle zu berücksichtigen. Das ist der Weg, auf dem das englische Parlament zu einer bestimmten, festen Stellung gekommen ist. Zch meine, daß eine derartige Anschauung sich um so mehr empfehle, damit auch der Anschein nicht Platz greife, es könnte die Parteistellung eines Gewählten irgend welchen Einfluß auf die Entscheidung des Reichstags ausüben. Will man das aber vermeiden,- dann muß man auf einem einmal betretenen Wege weitergehen. Abg. Di. Harnier: Wenngleich ich mit dem Herrn Vorredner hinsichtlich des von ihm gemachten Vorschlages der ferneren formellen Behandlung der Sache nicht einverstanden bin, so möchte ich doch glauben ihm folgen zu können und dennoch die Sache alsbald zur Erledigung gebracht zu sehen. — Der Herr Vorredner hat seine

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prinzipielle Frage darauf zugespitzt, daß eben eine gewisse Anzahl einzelner Wähler durch das Naturereigniß verhindert worden sind, im Wahllokal zu erscheinen. Aber, m. H., nicht blos dieser Sachverhalt, über dessen Bedeutung wir uns durch präjudi­ zielle Entscheidung erst instruiren sollen, liegt hier vor, sondern es liegt ja die weitere Thatsache vor, daß in 11 Wahlbezirken die Wahlvorstände nicht haben konstituirt wer­ den können, daß also das Erscheinen der Wähler, hätte es stattgefunden, ein ganz unerhebliches gewesen wäre. M. H., dieser Unterschied ist schon von Herrn Lasker sattsam hervorgehoben und ich glaube nicht noch weiter hierauf eingehen zu dürfen. Erlauben Sie mir aber daran zu erinnern, daß ganz unabhängig von diesem Seitens unseres Herrn Referenten als dritter Punkt behandelten Naturereignisse schon die erste Kategorie von Angriffen gegen die Gültigkeit der Wahl zu dem Resultat ihrer Ver­ nichtung geführt haben würde. Diese Stimmenmehrheit von 11 verflüchtigte sich ja durch die nähere Betrachtung der unter der ersten Kategorie für ungiltig erkannten Stimmen zu einer Minderheit. Ihre Abtheilung hat nun geglaubt, sich nicht mit Doktorfragen beschäftigen und nicht über Entscheidungsgründe abstimmen zu sollen; sie hat vielmehr geglaubt, daß bei solchen Wahlprüfungen gewiß mit richterlicher Gewissenhaftigkeit, aber mehr ähnlich der Stellung der Geschwornen zu entscheiden sein wird. Wir haben gesehen, daß nach dem Vortrage des Herrn Referenten erstlich durch Angriffe auf einzelne für ungültig erklärte Sümmen die absolute Mehrheit des proklamirten Abgeordneten ohnehin ver­ schwunden war; wir haben an zweiter Stelle gehört, daß eine Wahlfälschung behauptet worden war — für die Richtigkeit dieser Behauptung lagen bereits drei eidliche Zeug­ nisse vor, — und man kann nach den Vorgängen, wie sie in der ersten Kategorie als erwiesen seststanden, sich dem Eindrücke, daß diese Wahlfälschung, würde sie weiter untersucht werden, eben wohl zur Vernichtung der Wahl führen würde, gar nicht ent­ ziehen; sie hat eine dringende Wahrscheinlichkeit für sich. Dazu kommt dann aber das vielbesprochene Naturereigniß, bei dem nahezu 1100 Wähler verletzt sind, verletzt in­ sofern, als ihnen der Staat die Möglichkeit zur Ausübung ihres Wahlrechts nicht ge­ währt hat. Dies war die Auffassung, welche die Abtheilung, gegenüber der angeblichen Stimmenmehrheit von 11 Stimmen, zu dem einstimmigen Antrag geführt hat, daß die Wahl ohne Weiteres, ohne weitere Feststellung über die Wahlfälschung, für nichtig zu erklären sei. Abg. Dr. Wehrenpfennig: M. H., indem ich die Gründe anerkenne, die mein Herr Vorredner hervorgehoben hat, muß ich doch auf den Hauptpunkt zurück­ kommen, der von dem Herrn Abg. Reichensperger berührt ist. Er sagt: wenn Sie we­ gen 1100 ausfallender Stimmen eine Wahl kassiren, warum wollen Sie sie dann nicht kassiren wegen 100 ausfallender Stimmen oder wegen noch weniger? wv liegt die Grenze? bei welcher Zahl wollen Sie anfangen zu kassiren? Ich glaube, das war das Prinzip des Herrn Abg. Reichensperger. Dies Princip ist total falsch; denn wir kön­ nen natürlich nicht durch eine brutale Zahl feststellen, wann eine Wahl gültig und wann sie gültig sein soll, sondern wir können dies nur feststellen, wenn wir die Zahl der fehlenden Stimmen vergleichen mit der Majorität, die ein Abgeordneter erhalten hat. Wenn ein Abgeordneter eine Majorität von 11 Stimmen bei der Wahl erhalten hat, so genügen 12 durch ein Naturereigniß ausgefallene Stimmen völlig, um hier eine Wahl zu kassiren, denn diese 12 könnten sich auf den Andern gewandt haben — wir müssen das wenigstens, wenn wir nicht reine Phantasiewahlen machen wollen, durchaus als möglich hinstellen —: folglich ist das einfache Faktum, daß durch das Durchbrechen der Weichsel 12 Stimmen nicht zur Wahl gekommen sind, vollständig genügend, um die Wahl eines mit 11 Stimmen Majorität gewählten Abgeordneten zu kassiren. Wenn dagegen der Abgeordnete gewählt ist mit einer Majorität von 5000 Stimmen, so können 4000 von der Wahl abgehalten sein, und ich würde mich gleichwohl nicht für berechtigt hal­ ten, die Wahl zu kassiren, denn die Majorität ist durch dieses Naturereigniß nicht be­ rührt. Darin allein, daß wir die Zahl der ausgefallenen Stimmen mit der erhaltenen Majorität vergleichen, gewinnen wir ein festes und für jeden einzelnen Fall vollständig

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ausreichendes Prinzip. Zm Uebrigen muß ich bemerken, daß ich den Grundsatz, daß wir hier im ersten deutschen Reichstage uns entscheiden müßten nach den Präcedenzen des preußischen Abgeordnetenhauses, welches vielleicht gerade diesen strengen Grundsatz nicht eingehalten hat, sondern bald so bald so verfahren ist, in keiner Weise an­ erkennen kann. Abg. Dr. Windthorst: Was diesen letzten Punkt anbetrifft, so hat es gewiß keinen Zweifel, daß die Konklusionen des preußischen Abgeordnetenhauses an sich für uns keine Präcedenzfälle sind in dem Sinne, daß sie uns binden. Ich nehme aber doch für das preußische Abgeordnetenhaus das in Anspruch, was man im juristischen Leben überhaupt als eine Autorität anerkennt. Zn diesem Sinne finde ich allerdings, daß eine Entscheidung dieser Art, aus dem preußischen Abgeordnetenhause hervorgegan­ gen, nicht irrelevant in dieser Sache ist. — Ich würde zu dieser Angelegenheit mir in­ zwischen gar nicht das Wort erbeten haben, wenn nicht der Herr Abg. Wehren­ pfennig einen Satz ausgesprochen hätte, den ich im höchsten Grade für bedenklich erachte. Ich für meinen Theil weiß zwar sehr wohl, daß man die vorliegende Wahl, dem Abtheilungsantrage entsprechend, Jassiren wird, nicht weil die zwei ersten Gründe vor­ handen sind, sondern wesentlich wegen des sogenannten Naturereignisses. (H.) Zch meine nämlich, daß die Erfahrung an die Hand giebt, daß Versammlungen wie der Reichstag bei Entscheidung solcher Fragen, wenn sie auch anders wollten, schließlich doch mehr einem Billigkeitsgefühle folgen, als dem strengen Rechte. Es ist das nicht un­ bedenklich, weil es sehr schwer ist, die Einflüsse, welche den Ausdruck des Billigkeits­ gefühls herbeiführen, richtig zu erkennen und zu messen. Aber dennoch muß ich dem Satze des Herrn Abg. Wehrenpfennig entgegentreten. Der Herr Abg. Wehrenpfennig hat gegenüber der Frage des Herrn Abg. Reichensperger, bei welcher Zahl er anfangen solle, gesagt, daß dann, wenn durch ein Naturereigniß zwölf Wähler, welche die Ent­ scheidung hätten geben können, abgehalten wären zu kommen, so würde er die Wahl für nichtig erklären. (Ruf: elf.) Es ist einerlei, ob wir die Zahl elf oder eine andere Zahl nehmen, es ist immer derselbe Grundsatz. Wenn durch ein Naturereigniß soviel Männer behindert sind, zu wählen, als nöthig sind, um die Majorität zu ändern, so ist nach Wehrenpfennig's Ansicht die Wahl nichtig. Wohlan! es ist in einem Wahl­ kreise der Fall, daß der Erwählte eilf Stimmen Majorität hat. Zwölf sehr eifrige politische Männer bekommen in dem Augenblick, wo sie wählen wollen, die Cholera. Das ist auch ein Naturereigniß! (Gr. H.) Es ist allerdings ein Naturereigniß, wie das hier in Frage befindliche, denn es liegt außerhalb des menschlichen Willens. Wer­ den Sie behaupten, daß dann die Wahl ungültig sei, weil diese zwölf Männer durch ein Naturereigniß gehindert worden sind, zu wählen? M. H., es ist gar nicht so gleichgültig, wie Sie diese Sache entscheiden. Es ist an unseren Küsten eine ganze Inselgruppe gelegen. Wenn in den angrenzenden Bezirken die Wahl anberaumt wird im Winter, so werden sehr häufig die Inselbewohner nicht kommen können. Wollen Sie nun jedesmal, wenn es sich trifft, daß die Wahl im Winter ausgeschrieben wird und die Inselbewohner nicht kommen können, die Wahl nicht gelten lassen? Zch werde deshalb gegen das aus dem Naturereigniß entnommene Argument stimmen. — Zch habe diese Ausstellungen nur gemacht, damit mir bei etwa vorkommenden neuen Gelegenheiten der heutige Vorgang nicht als Präjudiz entgegengehalten wird. Abg. Dr. Braun (Gera): Die Frage ist allerdings nicht ohne Wichtigkeit. Was die formelle Beanstandung anlangt, so habe ich mich nicht überzeugen können, daß um ihretwillen die Wahl zu kassiren sei — wir könnten auf Grund derselben höchstens nur die Wahl beanstanden und weitere Untersuchungen herbeiführen. Der vorliegende Stoff reicht zur Kassation nicht aus. Was dagegen das Naturereigniß, das „so­ genannte" Naturereigniß anlangt, wie das verehrliche Mitglied für Meppen meint, wahrscheinlich von der Voraussetzung ausgehend, es sei ein Kunstprodukt, (H.), so muß ich bestreiten, daß die Abstimmung des preußischen Abgeordnetenhauses, um die es sich handelt, für uns ein Präeedens im parlamentarischen Sinne sei. Es ist ja nicht die­ selbe Versammlung wie wir; wir sind nicht eine Fortsetzung dieser Versammlung; es

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wird für diese nach einem ganz anderen Wahlsystem gewählt, wo es auf Massen weit weniger ankommt, wo es genügt, daß kleine Minoritätswahlen sich vollziehen, und der Schwerpunkt im Körper der Wahlmänner liegt. Alles das bindet uns nicht. Jeden­ falls ist aber das, was bei jenem Falle angeführt worden ist, nicht identisch mit dem hier vorliegenden Falle, d. h. es sind die einzelnen Substantialia und der konkrete In­ halt jenes Falles uns nicht mitgetheilt; das fehlt uns. Darauf kommt es aber meiner Meinung nach vor allen Dingen an; damit kommen wir auch über die Schwierigkeit des Pferdeschwanzes des Horatius hinaus. Ich beantworte die Frage des Horaz, deren Berechtigung an und für sich ich nicht bestreite, dahin: es kommt darauf an, was für ein Pferd es ist. Für ein kleines Pferd genügen wenige Haare, für ein großes sind viele erforderlich. So verhält es sich auch im vorliegenden Falle. Wenn, wie hier, nur mit einer kleinen Majorität gewählt ist, mit 5V2 Stimmen Majorität, so genügt doch gewiß die Ausschließung von Tausenden, die effektiv nicht wählen konnten, zur Vernichtung der Wahl, auch abgesehen von dem Naturereigniß, einfach aus dem Grunde, weil kein Wahlvorstand da war, wie der Herr Abg. Lasker schon zur Genüge hervor­ gehoben hat. Beziffern, m. H., mit Dezimalstellen, lassen sich dergleichen Dinge nicht; das hat die Jurisprudenz schon längst eingesehen. Zn den früheren Prozeßordnungen war vorgeschrieben, daß so und so viel Zeugen oder Indizien nöthig seien; man hat da allerlei künstliche Rechenexempel gemacht. Unser neueres Verfahren in bürgerlichen und Strafsachen hat den ganzen Plunder mit dem Ziffersystem über den Haufen ge­ worfen, und ich habe noch keinen Juristen und Niemanden aus dem Publikum gefun­ den, der sich darüber beschwert hat, daß man mit diesen Antiquitäten aufgeräumt hat. Gerade so, m. H., ist es mit dem vorliegenden Falle. Man könnte einfach über die Schwierigkeiten hinauskommen, wenn man sich dem Systeme der Halbheit anschlösie, wenn man sagte: wir präsumiren für jeden die Hälfte. Aber wohin kommen wir denn damit? Nehmen Sie an, in einem Wahlbezirke von 25,000 Wählern habe nur eine einzige Gemeinde gewählt und in dieser nur drei Wähler, alle übrigen seien aus­ geschloffen. Von diesen drei haben nun zwei für M. und einer für N. gestimmt, und wir müßten nun sagen, die übrigen halbiren wir — das ist die gesetzliche Präsumtion — und dann wäre trotzdem, daß alle anderen Gemeinden rechtswidrig ausgeschlossen waren,- derjenige rite gewählt, für welchen von den drei Wählern zwei gestimmt haben. Das sind die Konsequenzen. Ich für meinen Theil halte mich jedesmal an den kon­ kreten Fall, ich stelle kein Präjudiz auf; ich sage nicht, unter allen Umständen muß bei Naturereignissen der Art die Wahl kassirt werden; ich sage auch nicht, unter allen Um­ ständen darf nicht kassirt werden; ich prüfe die Verhältnisse des konkreten Falles, und da sage ich mir hier weiter: es sind beinahe 1100 Personen ausgeschlossen und die Akten über die früheren Wahlen weisen nach, daß in diesem ausgeschlossenen Bezirk 700 gewählt haben, und es ist danach nicht nur die Ausschließung konstatirt, sondern auch der Wille, zu wählen. Die Leute haben gewählt in früheren Jahren und nicht so halb und halb, sondern, je nach der Verschiedenheit der Wahlbezirke, in der ver­ schiedensten Weise. Wenn Sie nun, m. H., alle diese konkreten Verhältnisse zusammen­ fassen und namentlich die verschwindend kleine Majorität berücksichtigen, so werden Sie meiner Meinung nach zu der Ueberzeugung kommen, daß die Wahl in diesem Bezirk nicht rite vollzogen worden ist, weil die Leute einfach, selbst abgesehen von dem Natur­ ereigniß, nicht wählen konnten, da ein Wahlvorstand nicht da war. Wir müsien also diese Wahl nach Maßgabe der Verhältnisse entscheiden und unser Verdikt darüber von dem Standpunkte eines Geschworenen aus abgeben, der auch nicht mit den Diffikultäten der legalen Beweistheorie rechnet, sondern sich an den einfachen, natürlichen Ein­ druck der Thatsachen hält, und darüber kommen wir auch hier nicht hinaus. Wir se­ hen — davon bin ich fest überzeugt — von allen Seiten ab von den Parteiunter­ schieden bei der Wahl, um die es sich hier handelt, aber wir kommen nicht darüber hinaus: die Wahl ist nicht rite vollzogen. Abg. Freiherr zur Rabenau: M. H., ganz ein ähnlicher Fall wird Ihnen in wenigen Tagen noch zur Entscheidung vorgelegt werden. Nämlich die Inseln Pellworm

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und die Halligen im vierten schleswig-holsteinischen Wahlbezirk waren durch zwei Mo­ nate von Festlande vollständig durch Eis abgeschlossen. Dort wohnen circa 500 Wähler und sie erfuhren erst am 7. März überhaupt etwas von der Reichstagswahl. Das ist doch auch unbezweifelt ein Naturereigniß. Zch möchte rathen, die Frage, die uns eben hier vorliegt, im Zusammenhang mit den ähnlichen Fällen, die ohne Zweifel noch kommen werden, zur Entscheidung zu bringen. Zch beantrage daher, die Entscheidung über den jetzt hier vorliegenden Fall auszusetzen, bis die ähnlichen Fälle gesammelt und dem Hause zur Entscheidung vorliegen. Abg. Miquöl: Zch habe mich nur erhoben, um gegen diesen Antrag zu sprechen. Es ist ganz richtig von verschiedenen Rednern hervorgehoben, daß man hier kein festes Prinzip und keinen ganz unbedingt in allen Fällen gültigen Grundsatz aufstellen kann, sondern daß wir uns entscheiden müssen als Geschworene und uns nicht an bestimmte Formen zu binden haben bei einer Frage, die wir zu prüfen haben, ob nämlich ein Zustand dagewesen ist, in welchem es den Wählern des Bezirks möglich war, ihre po­ litische Pflicht auszuüben, und ob die Wahl wirklich der Ausdruck des Willens der Mehrheit der Wähler ist. — Wenn wir untersuchen, ob der Grad der Einwirkung, der stattgehabt hat, auf den Willen der Wähler so groß war, daß dadurch die Wahlfreiheit der Wähler beschränkt wurde, so kann man -darüber auch keine bestimmten Prinzipien oder Gmndsätze aufstellen; das muß man an dem einzelnen Falle untersuchen. Hat der Landrath sich eine Einwirkung erlaubt, die über das gewöhnliche Maß hinausging? ist die Einwirkung so groß gewesen, daß dadurch die innere Unabhängigkeit vieler Wühler beseitigt worden ist? Alle derartigen Dinge muß man nach dem einzelnen Falle entscheiden. — Im vorliegenden Falle scheint aber doch gar kein Zweifel zu sein, ab­ gesehen von allen Theorien. Wenn Wahlvorstände gar nicht gebildet worden sind, wenn also diejenigen Wähler, die sich in die Schiffe setzten und bereit waren, ihr Leben zu wagen, um sich an den Ort des Wahllokals zu begeben, dort gar kein Wahllokal fanden, — wenn Sie ganz von dem Naturereignisse absehen und sich einfach an die Thatsache halten, daß durch den Umstand des Fehlens eines Wahllokals selbst diejeni­ gen, die die Gefahren in Folge des Naturereignisses überwanden, nicht in der Lage waren, ihr Wahlrecht auszuüben, so ist es in dem vorliegenden Falle ganz klar, daß eine große Anzahl Wähler außer Stande war, selbst wenn sie wollten, ihr Wahlrecht auszuüben. — Zch will zum Schluffe noch ein Wort über die Anführung der Autori­ tät des Abgeordnetenhauses sagen und, damit im Laufe der Diskussion dies nicht wieder verloren geht, daran erinnern, daß selbst diejenigen Herren, welche die Autorität des Abgeordnetenhauses in diesen Dingen anerkennen, doch im vorliegenden Falle hierauf kein Gewicht legen können aus dem Grunde, weil Niemand die Entscheidung des Ab­ geordnetenhauses kennt. Mehr brauche ich nicht zu sagen. Eine Entscheidung, die man nicht kennt, kann unmöglich eine Autorität sein. Berichterstatter Abg. Dr. Elben: Zch möchte den beiden Herren Rednern, welche zuerst gesprochen haben, gegenüber nur daran festhalten, daß auch abgesehen von dem Naturereignisse eine Vernichtung der Wahl, nicht nur eine Beanstandung von der Ab­ theilung beantragt ist. Eine eventuelle Beanstandung war nur in Aussicht gestellt wegen der behaupteten Wahlfälschungen. Wenn der Antrag der Abtheilung verworfen würde, so würde sie eventuell den Antrag stellen, den Gewählten vorerst zu bean­ standen und die Kriminalakten einzufordern, sie hat aber aus zwei Gründen die Ver­ nichtung der Wahl beantragt, und der erste der Gründe war der, daß bei dieser Wahl in drei Bezirken die nothwendige Anzahl der Beisitzer nicht vorhanden gewesen ist. Was nun aber das Naturereigniß anbelangt, so glaube ich nicht mit dem Herrn Abg. Reichensperger, daß wir in eine Kasuistik kommen könnten, wenn heute der Beschluß im Sinne des Antrages gefaßt wird. Das Haus wird sich jederzeit vor­ behalten, in jedem einzelnen Falle zu prüfen. Auch das Beispiel, das uns in Aus­ sicht gestellt worden ist mit den Wählern von den Halligen, wird ohne Zweifel nicht zutreffen; denn wenn ich mich nicht durchaus täusche, so ist in jenem Wahlkreise mit einer sehr großen Majorität gewählt worden, in unserm Falle aber beträgt die Mehrheit des Gewählten nur 11, und es ist ganz klar, daß, wenn 1060 Wähler durch das Natur-

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ereigniß um ihr Wahlrecht gebracht worden sind, bei einer Differenz von nur 11 Stim­ men beinahe mit Gewißheit irgend ein anderes Resultat in Aussicht steht, als wenn diese beinahe 1100 Wähler nicht stimmen. Es ist auch nicht blos die Billigkeit, welche uns leitet — und das möchte ich dem Herrn Abg. Windthorst gegenüber mit aller Festigkeit festhalten. — Das angezogene Beispiel vom Rhein scheint mir nach dem, was vorgetragen wurde, entfernt nicht zu passen. Es wurde mitgetheilt, daß damals eine Anzahl Wähler des hohen Wasserstandes wegen nicht über den Fluß in den Wahlbezirk kommen konnten. Das ist in unserem Falle ganz anders. Nach dem, was von mir und von verschiedenen Wählern ausdrücklich nachgewiesen worden ist, waren ja 11 Wahllokale gar nicht zur Aufnahme der Wahl konstituirt, die Wahlkolle­ gien nicht versammelt, nicht einmal der Wahlvorsteher da, es ist also auch in rechtlicher Beziehung das Naturereigniß der Anlaß geworden, die Wahl zu einer ungültigen zu machen, weil in allen 11 Bezirken das vorgeschriebene Wahlkollegium sich nicht konstituirt hat. Ich habe unter diesen Umständen keinen Zweifel, daß der einstimmige Antrag der Abtheilung auch die Genehmigung dieses hohen Hauses finden wird. Die Wahl wird mit großer Majorität für ungültig erklärt.

III. Zn der 6. Sitzung am 29. März wurde beanstandet, aber später für gültig erklärt die Wahl des Advokaten Fischer II. (im 12. hannoverschen Wahlkreise). Berichterstatter Abg. Dr. von Buns en: Der mir gewordene Auftrag betrifft den 12. hannoverschen Wahlkreis, umfassend Amt und Stadt Göttingen, Amt und Stadt Münden, Amt Reinhausen, Amt Gieboldehausen, Stadt Duderstadt. (Redner konstatirt zunächst, daß wie in den allermeisten Fällen eine Unzahl von Formver­ letzungen vorgekommen.) Die erste Wahleinsprache betrifft einen einzigen Wahlbezirk, der im Ganzen, wenn er abgeschnitten würde, nur 96 Stimmen Herrn Advokaten Fischer II. zu Han­ nover nehmen würde. In der That sind aber die behaupteten Thatsachen zu unter­ geordneter Art, um sie im Detail vorzuführen. Die zweite Wahleinsprache rührt her von dem Buchhändler Spielmeyer und Getreidehändler Walters in Göttingen. Sie enthält zwei Behauptungen. Deren erste ist begründet; es wird bemerkt, daß die Ziffern für die beiden Kandidaten Fischer und Mithof sich um 220 Stimmen anders stellen, indem durch ein Versehen die betreffen­ den Stimmenzahlen aus dem Wahlbezirke Dransfeld dem einen statt dem andern zu­ geschrieben worden sind. Es gestalten sich dadurch die amtlich anders angegebenen Zahlen wie folgt: Fischer erhielt 6748 Stimmen, sein Gegenkandidat 4715. Da die absolute Majorität 5738 Stimmen erforderte, so bleibt für Fischer immer noch ein Stimmenmehr von 1010 Stimmen. Mehr ins Gewicht fällt die zweite Behauptung. Die Protesterheber behaupten, daß in dem Amte Gieboldehausen, wenigstens in 15 von deffen 24 Wahlbezirken, die allerärgsten Ungehörigkeiten stattgefunden haben. Einen Erweis erklären dieselben nicht beibringen zu können, weil sie in dem betreffenden Amte außer aller persönlichen Verbindung seien. Sie ersuchen deshalb den Wahlkommissarius, Erhebungen vornehmen zu lassen und danach zu handeln. Der Wahlkommissarius hat den Protest einfach ein­ gesendet mit einer Beilage, auf welche ich zurückkommen werde. Die Behauptungen gehen nun erstens dahin, daß in den genannten 15 von 24 Wahlbezirken angeblich Stimmzettel bis gegen Mitternacht angenommen seien. Es liegt auf der Hand, daß hierfür die Akten keinen Belag ergeben können. Zweitens, daß Stimmzettel mit Nummern und Zeichen versehen abgegeben worden seien. — Hierauf bezieht sich die Beilage. Es liegt nämlich dem Aktenstoß ein kleines Packet bei, bestehend aus drei kleinen Sammlungen von Wahlzetteln aus dem Amte Gieboldehausen. Dieselben waren rite versiegelt. Jedes dieser Päckchen enthält an­ geblich die Wahlzettel von einem Wahlbezirke, — wir haben hier also drei Wahlbe­ zirke in ihren Wahlzetteln repräsentirt und diese Wahlzettel sind vom ersten bis zum letzten nicht mit Nummern und Zeichen versehen. Es kam aber in der Abtheilung

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der Verdacht zur Sprache, daß vielleicht unter den übrigen 21 solchen Packeten, der diesfälligen Behauptung entsprechend, Wahlzettel vorhanden seien, die mit Nummern und Zeichen versehen sind, und auf Grund dieser Behauptung beantragt die Abtheilung, die Wahl zu beanstanden und die Stimmzettel zur Prüfung des Reichstages einzu­ fordern. Endlich behauptet der Protest noch, daß überhaupt „ein völlig tumultuarisches und nichtiges Verfahren beobachtet worden sei." Die Abtheilung hat sich aus den Akten hiervon nicht überzeugen können. Die Akten sind in ordnungsmäßiger Weise geführt und waren bis auf den einen oder andern kleinen Verstoß durchaus als gültig abgeschlossen anzuerkennen. Die Abtheilung beantragt: Der Reichstag wolle beschließen: 1. die Wahl des Advokaten Fischer DE. zu beanstanden; 2. sämmtliche Stimmzettel des Amtes Gieboldehausen einzufordern, um daraus zu ersehen, ob Stimmzettel, welche mit Nummern oder Zeichen versehen waren, wie in einem Proteste angeführt ist, abgegeben worden seien. Dieser Antrag wird angenommen. Es reiht sich daran folgender Zwischenfall: In der 42. Sitzung wird beschlossen, eine Eingabe aus einer Gemeinde des Amtes Gieboldehausen, in welchem die Angabe enthalten ist, es habe der Gemeindevorsteher die Vornahme der Wahl an­ befohlen unter Androhung einer Strafe von 15 Sgr. für denjenigen, der von der Wahl sich enthielte — zur Kenntniß des Herrn Reichskanzlers zu bringen. Zn der 53. Sitzung berichtet nach stattgefundener Untersuchung vr. von Bunsen: Dem Beschlusse des Hauses entsprechend, sind die Wahlzettel eingefordert worden. Zch muß bemerken, daß aus zwei Wahlbezirken die Wahlzettel nicht mit eingeschickt wurden, weil dieselben nach Angabe dieses Schreibens sich nicht mehr im Besitze des betreffen­ den Wahlvorstehers befänden. Letzterer ist deshalb vom Amte Gieboldehausen zur Verantwortung gezogen worden. Es handelt sich nur um zwei Wahlbezirke. Die übrigen Stimmzettel aus dem Amte Gieboldehausen sind seitens der Abtheilung sorg­ fältig untersucht, und dabei aufs Klarste nachgewiesen worden, daß dieselben zum aller­ größten Theile überhaupt gar nicht, und wo sie überhaupt bezeichnet waren, das augen­ scheinlich nur herrührte von Zeichen, welche der betreffende Wahlvorsteher am Abend beim Durchzählen der Wahlzettel, was vollkommen gestattet ist, gemacht hat, um leichter zu übersehen, wie viel für den einen und wie viel für den anderen Kandidaten ab­ gegeben seien. Auch glaubte die Abtheilung, daß eine Veranlassung zur Bezeichnung der betreffenden Wahlzettel durchaus fehle, weil, wie das irrthümlich in den meisten Wahlkreisen noch geschieht, die Wahlzettel für den einen Kandidaten in der Farbe sich wesentlich von den Wahlzetteln für den andern unterschieden. Es ist dies ein Fehler, auf den es vielleicht nicht ganz unnütz sein mag, von dieser Stelle aus noch einmal hinzuweisen. Die Wahlkomitä's würden überall am besten thun, wenn sie sich ver­ einigten, das Papier für ihre Wahlzettel von derselben Papierfabrik zu entnehmen und denselben genau dasselbe Format zu geben. Die Abtheilung kam deshalb einstimmig zu dem Beschluß, die definitive Gültigkeitserklärung der Wahl des Abgeordneten Fischer vorzuschlagen und ist der Meinung, daß auf eine weitere Verfolgung der im nach­ träglich eingegangenen Proteste berührten geringfügigen Ungehörigkeiten einzugehen nicht mehr am Platze sei. Dieser Antrag wird angenommen.

IV. Zn derselben Sitzung wurden beanstandet die Wahlen der Herren Roß, Banks und Dr. Wolffson in Hamburg. Berichterstatter Abg. Dr. von Bunsen: Zu den Wahlen für die freie Stadt Hamburg ist ein Protest von Seiten des dortigen Arbeiterkomite's eingereicht worden, Welcher sich im Wesentlichen auf zwei Behauptungen bezieht: einmal, daß die Oeffent^ichkeit der Wahlhandlung durch polizeiliche Maßregeln, die wiederum auf einer allge-

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meinen polizeilichen Instruktion beruhen, beeinträchtigt worden sei; und zweitens auf die Behauptung, daß den Wählern Stimmzettel aufgedrungen worden seien. Um mit dem Letzteren anzufangen, ist für die Behauptung nicht hinreichende Unterlage geboten. Anders ist es mit der behaupteten Beschränkung der Oeffentlichkeit bei der Wahlhandlung. Zn dieser Beziehung wie in der anderen sind eine ganze Reihe — über 40 — Zeugen für jede einzelne Behauptung aüfgeführt. Die Abthei­ lung beantragt: 1. die drei Wahlen in der Stadt Hamburg zu beanstanden; 2. den Protest des dortigen Arbeiterkomite's dem Herrn Reichskanzler mit dem Ersuchen zu überreichen, über die Wahrheit der darin angegebenen Thatsachen, insbesondere in Betreff des behaupteten Erlasses einer allgemeinen polizeilichen Instruktion, wonach in dem Wahllokal blos die Mitglieder des Vorstandes sich aufhalten sollten, gerichtliche Erhebungen anstellen zu lassen. V. Zn der 8. Sitzung vom 31. März wurde beanstandet die Wahl des Frei­ herrn von Loo (im 7. Wahlbezirk des Regierungsbezirks Düsseldorf). Berichterstatter Abg. Schmidt (Zweibrücken): M. H., im Auftrage der 6. Ab­ theilung soll ich Zhnen über eine Wahl Bericht erstatten, welche im 7. Wahlbezirk des Regierungsbezirks Düsseldorf stattgehabt hat. Gegen diese Wahl sind fünf Beschwer­ den eingelaufen mit Unterschriften in der Anzahl von 3388, und diese Beschwerden gegen bCe Wahl sind durchgehends desselben Inhalts und mit folgendem Petitum versehen: Es wolle dem Reichstage gefallen, die Prüfung der Wahlverhandlungen des Wahlkreises Mörs-Rees thunlichst bald vorzunehmen, und demgemäß: 1. die am 3. d. M. in den oben bezeichneten drei Wahlbezirken der Bürger­ meisterei Sonsbeck und Labeck vorgenommenen Reichstagswahlen und even­ tuell auch die in dem angeführten Wahlbezirk Veen als ungiltig zu kassiren und 2. insofern der Professor Aegidi in Bonn, welcher dann mit absoluter Mehr­ heit gewählt sein würde, als Vertreter des Wahlkreises Mörs-Rees in den Reichstag nicht einberufen werden könnte, für den Wahlkreis Mörs-Rees die sofortige Vornahme einer Neuwahl anzuordnen. Zn diesem Wahlbezirk, m. H., sind 23,631 Wahlberechtigte. Es sind im Gan­ zen abgegeben worden 15,680 Stimmen. Für ungiltig wurden 43 Stimmen erklärt, und es verblieben sonach an giltigen Stimmen 15,637. Die absolute Majorität hat hiernach betragen 7819, und es haben hiervon erhalten: Freiherr Otto von Loo zu Breslau 7893, und der zweite Kandidat Herr Professor Aegidi in Bonn 7735 Stim­ men. 10 Stimmen haben sich zersplittert. Bei der Verhandlung über die Ermittelung des Wahlergebnisses, welche am 7. März vor dem ernannten Wahlkommissar, Landrath von Dönhof, stattgehabt hat, wurde folgender Passus in das betreffende Wahlprotokoll ausgenommen: „Es wurde erklärt, daß der Legationssekretär Freiherr Otto von Loo zu Bres­ lau mit absoluter Majorität zum Abgeordneten des Wahlkreises Mörs-Rees gewählt sei." Zugleich aber wurden in diesem Wahlprotokoll folgende drei Beschwerdepunkte resp. Beanstandungen niedergelegt, drei Beschwerdepunkte, welche zu gleicher Zeit den Gegenstand der Beschwerdeschriften ausmachen, von welchen ich das Petitum vorhin vorgelesen habe. Es sind das folgende Punkte: Vorerst wird behauptet, und zwar als erster Beschwerdepunkt, daß eine Verletzung des § 12, Alinea 2, des Wahlreglements vom 28. Mai 1870 vorliege, welcher Paragraph Folgendes sagt: „Zn keiner Zeit der Wahlverhandlungen dürfen weniger als drei Mitglieder des Wahlvorstandes gegenwärtig sein." Die Beschwerdeführer allegiren nun Folgendes; sie sagen: in dem Bezirk Labeck und Hammerbruch, Nr. 25 des Kreises Mörs, seien laut Protokoll vom 3. März gegen 5 Uhr Nachmittags nur zwei Mitglieder des Wahlvorstandes in dem Wahllokale axv-

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wesemd gewesen, nämlich ein Beisitzer und 1 Protokollführer; die Wahlvorsteher und die (übrigen Mitglieder aber hätten sich entfernt. Hieraus folgern die Beschwerdeführer, daß der § 12 des Wahlreglements verletzt worden sei. Es findet sich nun in den Wahlaktem ein Protokoll des Bürgermeisters van Laak zu Sonsbeck folgenden Inhalts: Sonsbeck, den 3. März 1871. Der Unterzeichnete kam Nachmittags um 5 Uhr in das Wahllokal zu Labeck und überzeugte sich daselbst, daß nur zwei Mitglieder des Wahlvorstandes während der Wahlverhandlung gegenwärtig gewesen sind. Das, m. H., ist also der erste Beschwerdepunkt. Der zweite Beschwerdepunkt besteht in einer behaupteten Verletzung des § 12, Alimea 3, des angezogenen Wahlreglements, welcher sagt: Der Wahlvorsteher und der Protokollführer dürfen sich während der Wahl­ verhandlung nicht gleichzeitig entfernen; verläßt einer von ihnen vorüber­ gehend das Wahllokal, so ist mit seiner zeitweiligen Vertretung ein anderes Mitglied des Wahlvorstandes zu beauftragen. Nun wird in der Beschwerdeschrift behauptet, es hätten bei der Wahl in Sons­ beck und Ploheide, 43 des Wahlbezirks Mors, laut Protokoll des Polizeidieners Roh­ koch, gegen 1 Uhr Nachmittags der Wahlvorsteher, der Protokollführer und ein als Stellvertreter des Wahlvorstehers fungirender Beisitzer sich entfernt gehabt. Das be­ zügliche Protokoll, m. H., ist ausgenommen durch den Bürgermeister van Laak zu Sons­ beck «am 3. März 1871 und sagt im Wesentlichen Folgendes: Es erschien vor dem unterzeichneten Bürgermeister van Laak der Polizeidiener Rohkoch und hat angezeigt, daß er um 1 Uhr Nachmittags in dem Wahllokal sich umgesehen und daselbst entdeckt habe, daß der Wahlvorsteher und der Protokollführer zu gleicher Zeit aus dem Wahllokal während der Wahlverhandlung sich entfernt hätten. Daraus wird nun also gefolgert, daß das Alinea 3 des Z 12 des Wahlregle­ ments verletzt sei. Zch bemerke hierbei, m. H., daß der Bürgermeister van Laak, welcher das Protokoll auf Anstehen des Polizeidieners Rohkoch ausgenommen hat, derjenige Bürgerweister und Wahlvorsteher ist, der gerade diese Uebelthat verübt hat. Er ist nämlich Wahlvorsteher gewesen und hat sich aus dem Wahllokale mit dem Protokollführer ent­ fernt gehabt. Der Polizeidiener ist hinzugekommen und hat sofort den Wahlvorsteher van Laak bei dem Bürgermeister van Laak angezeigt. (H.) — Ich will sogleich noch bemerken, daß gestern in der Abtheilung zwei weitere Schriften eingelaufen sind, in welchen beiden Aktenstücken nunmehr grade das Gegentheil von dem behauptet wird, was ich so eben die Ehre gehabt habe zu referiren als das Resultat der Wahlakten. Hier schreiben nämlich die angegriffenen Stellvertreter, die nach dem Beschwerdepunkt 1 sämmtlich das Wahllokal verlassen haben sollen, so daß nur zwei Mitglieder an­ wesend gewesen seien, — sie behaupten, das sei Alles nicht in der Ordnung, es sei nicht wahr, der Polizeidiener habe sich entweder geirrt oder aus irgend welchem Grunde habe er hier nicht die Wahrheit angegeben, und ebenso wird der zweite Punkt in dieser Schrift als irrig dargestellt. Zch bemerke, daß diese Schriften nur von Privaten unter­ schrieben, von keiner Behörde legalisirt sind, so daß es sich fragt, welches Gewicht darauf zu legen sein wird. Zch glaube übrigens nicht, daß es zur Zeit darauf ankommt. Die dritte Verletzung wird behauptet bezüglich des § 10 des Wahlreglements, welcher sagt: „Der Wahlvorsteher ernennt aus der Zahl der Wähler seines Wahlbezirkes einen Protokollführer und drei bis sechs Beisitzer." Nun wird behauptet, daß ausweislich der Wahlverhandlung konstatirt sei, daß in dem 44. Wahlbezirk außer dem Wahlvorsteher und Protokollführer nur zwei Bei­ sitzer ernannt gewesen seien und fungirt hätten. Zn der That, m. H., geht aus dem bezüglichen Wahlprotokoll, das den Akten annexirt ist, hervor, daß der betreffende Wahl­ vorsteher von dem Wahlbezirk Hamm, Stadt-Veen und Bönninghardt nicht, wie der Reichstags-Repertorium. 1.

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§10 vorschreibt, drei bis sechs Beisitzer ernannt hat, sondern nur zwei. Diese beiden Beisitzer haben auch fungirt während der Wahlverhandlung, und am Schluß das Protokoll mit dem Wahlvorsteher und dem Protokollführer unterzeichnet. Nun, m. H., ist die Frage hier im Hause erörtert und es ist meines Erachtens hier mit vollem Rechte gesagt worden, daß diese Vorschrift des Wahlreglements jeden­ falls eine essentielle ist, eine absolut nothwendige. Das Gesetz will eine gewisse Ga­ rantie haben, es will ein Kollegium haben, welches die ganze Wahl überwacht und eine Entscheidung über etwa ungiltig abgegebene Stimmzettel herbeiführt. Es muß also ein Kollegium von wenigstens drei bis sechs Personen gebildet sein. Es wird nun behauptet, daß diese Vorschrift vernachlässigt und dadurch das Wahlreglement in dem § 10 verletzt worden sei. Die soeben erörterten Beschwerdepunkte, m. H., sind denn auch enthalten in dem Wahlprotokoll, welches der Landrath von Dönhoff zu Wesel ausgenommen hat, in welchem Protokoll das Gesammtergebniß der Wahl niedergelegt ist, und hier heißt es in fine: Da in dem vorgedachten 3. Wahlbezirk 363 Stimmen auf von Loe, 35 Stimmen auf Aegidi gefallen sind, so haben die vorgedachten Wahlbezirke den Ausschlag für die Wahl des Herrn von Loe gegeben, und würde daher, wenn die in diesem Wahlbezirk vollzogene Wahl als nichtig erklärt sein würde, die absolute Mehrheit nicht auf Herrn von Loe, sondern auf den Herrn Professor Dr. Aegidi in Bonn gefallen sein. M. H., wenn das richtig ist, daß die in den 3 angeführten Wahlbezirken vor­ gekommenen Verstöße gegen die reglementarischen Bestimmungen des Wahlgesetzes we­ sentlicher und präjudizirlicher Natur sind und die Ungiltigkeit der betreffenden Wahlen zur Folge haben könnten, so hätten wir vorher erst zu untersuchen, ob denn, den Nach­ weis der Verstöße gegen das Reglement vorausgesetzt, die Summe der in den drei Wahlbezirken zu Gunsten des einen oder zu Gunsten des anderen Kandidaten erwach­ senen Stimmen den Ausschlag giebt bei der Wahl, beziehungsweise ob hierdurch das Endresultat der Wahl alterirt wird. Zn dieser Richtung, m. H., will ich Ihnen in Kürze nur die einzelnen Ziffern angeben, und es wird sich da zeigen, ob eine solche Alterirung vorkommt oder nicht. Herr von Loe hat in diesen drei angegriffenen Be­ zirken 363 Stimmen erhalten, Herr Professor Aegidi 35 Stimmen. Zieht man diese 398 Stimmen von der abgegebenen giltigen Stimmenzahl ab, so ergiebt sich eine Summe von 15,239 giltigen Stimmen, und die absolute Majorität wäre hiernach 7620. Nun aber hat Herr von Loe nur 7530 erhalten, während die Stimmenzahl für Herrn Professor Aegidi unter der angegebenen Voraussetzung die Zahl von 7700 erreichen würde. Nachdem nun, wie ich bemerkt habe, die absolute Majorität 7620 beträgt, wäre die Folge der Ungiltigkeitserklärung der Wahl in den drei bezeichneten Bezirken, daß die Stimmenzahl des Herrn von Loe mit 7530 die absolute Majorität nicht erreicht, 90 Stimmen weniger, daß aber die Stimmenzahl des Herrn Professor Aegidi solche um 80 Stimmen übersteigt. M. H., ich habe natürlich heute nicht die Frage zu prüfen, ob der Gedanke, welcher in dem Protokoll niedergelegt ist, dem Gesetz entsprechend sei oder nicht. Diese Frage würde uns etwa in zweiter Reihe beschäftigen können, heute gehe ich darüber hinweg. — Wenn nunmehr, m. H., nach meiner Berechnung nicht zweifelhaft sein kann, daß die Wahl in diesen drei Bezirken, für den Fall sie für nichtig erklärt wer­ den sollte, allerdings auf das Endresultat ein sehr wesentliches Gewicht äußern würde, so würde uns vorerst die Frage beschäftigen: liegt denn der Beweis in den Akten, daß die Thatsachen, welche in den Beschwerdeschriften artikulirt werden, vollkommen und klar nachgewiesen sind oder nicht? Zn dieser Richtung, m. H., habe ich das Geeignete zu bemerken schon die Ehre gehabt. Es steht eine Behauptung der anderen Behauptung gegenüber; namentlich wird bezüglich der zwei ersten Punkte von Seiten der übrigen Mitglieder des Wahl-' Vorstandes behauptet, daß die Allegationen der Protokolle unrichtig seien. Freilich kann man hiergegen erwähnen, daß die Protokolle von dem Bürgermeister ausgenommen

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worden sind und also von vornherein einen gewissen Grad von Autorität für sich in Anspruch nehmen. Allein, m. H., es kommt später noch ein Umstand hinzu, der uns zuletzt doch auf das Resultat führen wird, daß wir vor der Entscheidung in der Haupt­ sache noch ein Beweisverfahren anordnen müssen, so daß man diese Frage noch des Näheren zu prüfen hat. Bezüglich des dritten Punktes, wonach nur zwei Beisitzer ernannt gewesen sein sollen, ist der Beweis durch das Protokoll selbst schon geführt, da der Wahlvorstand sich unterzeichnet hat und dadurch dokumentirt ist, daß in der That nur zwei Beisitzer ernannt gewesen sind. Nunmehr aber, m. H., ist noch ein weiterer Punkt zu erwähnen, der ganz kurz ist. Zn dem Wahlbezirk Veen nämlich, Nr. 45, soll die Wahl nicht in dem von den zuständigen Behörden bezeichneten und publicirten Wahllokal, nämlich in der Schule zu Veen stattgehabt haben, sondern in der Behausung des Wahlvorstehers in Veen, welcher zu gleicher Zeit eine Schankwirthschaft betreibt. Durch dieses Verfahren, wird nun in der Beschwerdeschrift behauptet, sei der § 8 des Wahlreglements verletzt, welcher Folgendes sagt: Die zuständigen Behörden haben das Lokal, in welchem die Wahl vorzu­ nehmen ist, zu bestimmen; alles dies ist mindestens acht Tage vor dem Wahl­ termin durch die zu amtlichen Publikationen dienenden Blätter zu veröffent­ lichen und von dem Gemeindevorstande in ortsüblicher Weise be­ kannt zu machen. Daß diese reglementarische Vorschrift eine sehr wesentliche ist, dürfte nicht be­ zweifelt werden können; jeder Wähler muß Wissenschaft darüber haben, in welchem Lokale er seine Stimme abzugeben hat, und dies ist auch der Grund der bezüglichen reglementarischen Bestimmung. Wenn nun hierdurch eine wesentliche Vorschrift des Wahlreglements verletzt worden ist, so wird auch hier die weitere Frage auszuwerfen sein: ist dann die Stimmenzahl des Wahlbezirks Veen in Bezug auf das Wahlresultat relevant, oder mit anderen Worten: verbleibt Herrn von Los immerhin noch die abso­ lute Majorität, selbst wenn die Wahl in Veen für ungiltig erklärt und die daselbst zu seinen Gunsten erwachsenen Stimmen abgezogen werden? Hier, m. H., ergiebt sich die Sache sehr klar, wenn ich Ihnen die Zahlen vorlege. Herr von Los behält, wenn die Stimmen in Veen mit 198 in Abzug kommen, noch 7695, der Herr Pro­ fessor Aegidi hat 13 Stimmen in diesem Bezirk bekommen und behält 7722 Stimmen. Die absolute Majorität würde in diesem Falle betragen 7714 Stimmen, und die Folge wäre also, daß der Herr von Los die absolute Majorität nicht besitzt, während der Herr Professor Aegidi 8 Stimmen darüber hätte. Dies, m. H., sind die wesentlich­ sten Punkte, welche ich Ihnen in dieser Sache hervorzuheben habe. Die Abtheilung hat den folgenden Antrag angenommen: „Der Reichstag wolle unter einstweiliger Beanstandung der Wahl in dem Kreise Mörs-Rees beschließen, an den Reichskanzler das Ersuchen zu richten, zu veranlassen, daß über die in den Beschwerdeschristen enthaltenen, oben näher entwickelten vier Punkte amtliche Erhebungen angeordnet, die in dem Protokolle indicirten und weiter sich ergebenden Zeugen in gerichtlicher Weise vernommen, die Wahlvorsteher und übrigen Mitglieder der betreffenden Wahl­ ausschüsse in Bezug auf die inkriminirten Thatsachen gehört und die Resultate der vorgenommenen Instruktionen ohne Verzug vorgelegt werden." — ■ Diesem Anträge gemäß wird beschlossen. Zn der 12. Sitzung berichtet Abg. Schmidt: Es ist nachträglich eine weitere Beschwerde eingelaufen, welche folgendermaßen lautet: „Wesel, den 29. März 1871. Dem hohen Reichstage erlaubt sich das unter­ zeichnete Wahlkomite im Anschluß an den Protest de dato Mörs den 13. März c. und Wesel den 24. März c. gegen die Wahl des Reichstags-Abgeordneten Herrn Legations­ rath Freiherrn von Los in Breslau folgendes Faktum mitzutheilen: „Der katholische Pastor in Haldern bei Rees hat nach einer bezüglichen Predigt von der Kanzel herab öffentlich seiner versammelten Gemeinde bekannt gemacht, daß er für die bevorstehende 4*

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Wahl Stimmzettel verbreiten würde, und daß andere ihnen etwa zukommende zu ver­ nichten seien." — Bei der unbedingten Autorität aber, die der katholische Geistliche in hiesiger Gegend über seine Gemeindeglieder ausübt, ist eine derartige Mittheilung ein direkter Eingriff in die freie Wahl, mithin eine ungesetzliche Wahlagitation. Indem wir den hohen Reichstag um Abhülfe bitten, ersuchen wir ergebenst, das mitgetheilte Faktum von der zuständigen Behörde konstatiren lassen zu wollen. — Das Wahlkomitä für die Wiederwahl des bisherigen Abgeordneten zum norddeutschen Reichstag, Herrn Professor Aegidi in Bonn. Für dasselbe: C. Kühler, Redakteur des „Sprecher". , Der Antrag, respektive Beschluß, m. H., den ich Zhnen im Auftrage der Wahl­ abtheilung vorzulegen habe und den ich Ihrer Annahme empfehle, lautet folgender­ maßen: es sei der Antrag zu stellen, der Reichstag wolle anordnen: daß an den Reichskanzler das Ersuchen gerichtet werde, zu veranlassen, daß die nachträglich eingelaufene Beschwerde des Wahlkomites zu Wesel vom 29. März 1871, dahin gehend: „der katholische Pastor in Haldern hat nach einer bezüglichen Predigt von der Kanzel herab öffentlich seiner versammelten Ge­ meinde bekannt gemacht, daß er für die bevorstehende Wahl Stimmzettel ver­ breiten würde, und daß andere ihnen etwa zukommende zu vernichten seien", — mit den übrigen Beschwerdepunkten durch gerichtliche Untersuchung näher instruirt und das Resultat alsbald in Vorlage gebracht werden soll. Auch diesem Anträge wird durch Beschluß stattgegeben.

VI. In der 12. Sitzung vom 5. April 1871 wird die Wahl des geistlichen Raths Müller (in dem Kreise Rybnik-Pleß) beanstandet. Berichterstatter Abg. Dr. Gneist: M. H., in dem Kreise Rybnik-Pleß, Oppelner Bezirk 7, ist der geistliche Rath Müller gewählt mit 9117 Stimmen — das ist 719 über die Hälfte. Ich bitte die Zahl 719 im Gedächtniß zu behalten. Es war früher ein Protest eingegangen, in welchem behauptet wurde, in dem Wahlbezirk Tichau seien die Wahlzettel vertheilt worden an sämmtliche Wähler durch den Gemeindewächter im Auftrage des Steuererhebers Ritsche mit dem Eröffnen, daß, wenn die Wähler bei der Wahl nicht erscheinen und ihren Zettel für Müller nicht abgeben sollten, sie eine Strafe von 5 Thalern zu bezahlen hätten. (H.! h.!) — Das Haus hat beschlossen, das Kanzler­ amt zu ersuchen, über diese Behauptung, die unter Zeugniß gestellt war. Beweis er­ heben zu lassen, hat aber die Wahl nicht beanstandet, weil es sich nur um 373 Stimmen in diesem Wahlbezirk handelt. Jetzt ist ein zweiter Protest eingegangen am 27. März, also zeitig hiervorgelegt, von dem Theerschweelereibesitzer Schmidt, der weitere Beschwerde erhebt in Bezug auf sechs Wahlbezirke, und ich bevorworte, daß die Abtheilung dadurch zu einem Anträge auf Beanstandung gekommen ist. Es wird behauptet, in dem Wahlbezirk Krassow habe der Wahlvorsteher Lehrer Lanczek die ohne Wahlzettel erschienenen Wähler angewiesen, die Wahlzettel von seiner Ehefrau in der Küche abzuholen (H.), nämlich für den geist­ lichen Rath Müller; das sei während des Wahlakts geschehen. — 3m Wahlbezirk Lendzin soll der Wahlvorsteher Lehrer Borzutzky unmittelbar vor der Wahl die Wahl­ zettel für den geistlichen Rath Müller vertheilt haben im Wahllokal. — Im Wahl­ bezirk Podlesi soll der Wahlvorsteher Lehrer Frank sämmtliche Beisitzer und den Pro­ tokollführer nicht verpflichtet haben, was allerdings zunächst nur ein Formfehler sein würde. — Im Wahlbezirk Urbanowitz soll der Lehrer Kubanek die Wahlzettel für Ab­ wesende angenommen und haben eintragen lassen. — Im Wahlbezirk Wilkowh sollen die sämmtlichen Beisitzer sich wiederholt entfernt haben aus dem Wahllokal — was wiederum nur ein Formfehler sein wird, doch unter Umständen tendenziös sein kann. — Im Wahlbezirk Zabrzeg soll der Wahlvorsteher Schulze Kocur die Wahlzettel mit dem Namen des geistlichen Raths Müller im Wahllokal in der Westentasche getragen und sie unmittelbar an die Wähler vertheilt haben. (H.) Es sind Beweise für diese Behauptungen überall angegeben. Der Antrag der Abtheilung geht dahin:

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die Wahl zu beanstanden, das Kanzleramt zu ersuchen um Erhebung der Beweisaufnahme und um Mittheilung des Resultates. Der Antrag wird angenommen. Zn der 27. Sitzung berichtet Berichterstatter Abg. Prinz Handjery: M. H., es sind zwei Schriftstücke eingegangen zu der Wahl im 7. Oppelner Wahlbezirk, und die 3. Abtheilung hat mir den Auftrag ertheilt, über den Inhalt dieser Schriftstücke zu referiren. Das eine dieser Schriftstücke geht aus von den Anhängern des Gewählten, des geistlichen Raths Herrn Müller. In diesem Schriftstück werden lediglich diejenigen Thatsachen, welche gegnerischerseits behauptet worden waren, bestritten; neue Thatsachen werden darin nicht angeführt. Dieses Schriftstück dürfte daher eo ipso an diejenige Stelle hingehören, bei welcher zur Zeit die Untersuchung der angeblich vorgekommenen Unregelmäßigkeiten in dieser Wahl schwebt, nämlich an das Bundeskanzleramt. Es ist daher auch die Meinung der 3. Abtheilung gewesen, daß dieses Schriftstück als dorthin gehörig an den Herrn Bundeskanzler abzugeben sein dürfte. — Das zweite Schriftstück geht aus von Gegnern des geistlichen Raths Herrn Müller. Es enthält eine Menge neuer Thatsachen, von denen einige seitens der Abtheilung für unerheblich, einige andere für erheblich gehalten worden sind. Es wurden folgende fünf Punkte für erheblich erachtet. Drei von diesen Punkten betreffen Anpreisungen des Kandidaten von der Kanzel herunter. Zn dem einen Falle heißt es in dem betreffenden Schreiben: Zn der katholischen Kirche zu Loslau hat der Pfarrer Marx in den letzten Tagen vor der Reichstagswahl über letztere gepredigt und dabei nach glaub­ würdigen Mittheilungen folgendes gesagt: „Diejenigen, welche gegen Müller stimmen, wollen den Katholiken alle Rechte im Staate nehmen. Wählt wen Ihr wollt; ich aber bringe Euch den geistlichen Rath Müller in Vorschlag." Diese Anführung wird unter Beweis gestellt. Der zweite Punkt betrifft wiederum das Verhalten des Pfarrers Marx, jedoch diesmal in der Gemeinde Marklowitz. Derselbe soll von der Kanzel herab eine Rede zu Gunsten von Müller gehalten und unter Anderem im Anfänge derselben folgendes gesagt haben: Meine lieben Kinder, ich bin Euch Allen herzlich gut. Wählt aber Nie­ mand anders als den Rath Müller in Berlin! Das ist ein Mann von Gott geschickt. — (H.! und H. r.) — Ich kenne ihn persönlich, denn ich habe mit ihm studirt. — (Gr. H.) — Er liegt in der größten Armuth in einem finstern Kämmerlein — (H.) —, hat in der großen Kälte keine Kleider zum Anziehen, und wenn sich Zemand über ihn erbarmt und schenkt ihm einen alten Pelz, so gibt er denselben den Armen. — (w. H.) — Er hat kein Bett, keinen Ofen in der Stube, nagt am Hungertuche und entbehrt aller menschlichen Bedürfnisie. — (Gr-, anh. H.) — Schon jetzt ist ■ er ein halber Heiliger. Dem gebt Eure Stimme und keinem Anderen. Das ist der zweite Fall. Der dritte Fall besteht darin: es wird erwähnt, daß der Pfarrer Siekira zu Ober-Zastrzemb vor der Wahl von der Kanzel herab den Rath Müller als ReichstagsKandidaten warm empfohlen habe. Der vierte Punkt, der auch für erheblich erachtet worden ist, gehört in eine andere Kategorie; er ist analog einem Falle, der bereits in Ansehung der vorliegenden Wahl hier zur Sprache gebracht ist. Es soll nämlich in der Gemeinde Wilchwa der Ordon­ nanz (Gemeindebote) Stimmzettel für Müller ausgetheilt und dabei den Wählern ge­ droht haben, daß, wer nicht zur Wahl gehe und nicht dem Müller seine Stimme gebe, 5 Silbergroschen Strafe zahlen müsse. Der fünfte Fall betrifft nur eine einzelne Stimme, wurde aber dessenungeachtet für erheblich erachtet. Es heißt nämlich, daß in der Stadt Costau ein gewisser Mosch mitgewählt habe, obwohl derselbe, wie der dortige Magistrat bestätigen werde, im letzten Zahre dort aus städtischen Mitteln eine Armenunterstützung bezogen habe.

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Diese fünf Punkte sind, wie gesagt, m. H., von der Abtheilung für erheblich erachtet worden. Da ein Theil der Akten beim Bundeskanzler-Amt sich befindet, 'so ließ sich nicht klar ersehen, ob diese Proteste oder Nachträge sich auf Wahlbezirke be­ ziehen, in denen bereits durch die früheren Proteste Unregelmäßigkeiten gerügt worden sind. Im Anschluß an den von dem Plenum acceptirten Grundsatz, daß, wenn eine Wahl einmal beanstandet worden sei, auch nach Ablauf der zehntägigen Frist Nach­ träge zu den eingebrachten Protesten zuzulassen seien, wurde indessen von der Abthei­ lung angenommen, daß, wenn sich auch nicht feststellen lasse, ob diese Spezialitäten nur Nachträge zu den früher angebrachten Protesten seien, dennoch, da die Wahl ein­ mal beanstandet worden sei, auch diese nachgebrachten Widersprüche dem Herrn Bundes­ kanzler mit der Bitte zu überweisen seien, dieselben als Material zu einer Untersuchung der Vorgänge bei der betreffenden Wahl zu benutzen und insbesondere auf die Punkte 2, 3, 4, 8 und 9 ad b des zweiten Schreibens die Untersuchung auszudehnen. Abg. Dr. Reichensperger (Crefeld): M. H., ich habe in der Abtheilung zur Minorität gehört. Meine Ansicht ging dahin, daß es nicht angemessen sei, Thatsachen, welche wir soeben aus dem Munde des Herrn Referenten gehört haben, zur Unter­ suchung zu überweisen. Was die allgemeinen Prinzipien betrifft, so habe ich mich bei einer neulichen Berathung dahin ausgesprochen, daß, wenn einmal eine Beanstandung beschlossen sei, dann alles dasjenige, was auch später als nach zehn Tagen noch an Protesten und Beweismaterial eingeht, demjenigen angefügt werden könne, was früher schon, während der zehn Tage, an das Haus gekommen war. Insoweit hege ich also nicht in formeller Hinsicht ein Bedenken, daß es an sich zulässig sei, die vorliegende Eingabe in Betracht zu ziehen. Ich glaube aber, daß es derselben an jeder Erheblich­ keit mangelt. Wenn ich mich recht aus der in der Abtheilung stattgehabten Erörterung erinnere, so bezieht sich alles dasjenige, was früher an Beweismaterial hier eingegangen ist, auf Abstimmungen, welche in einer anderen Abtheilung des betreffenden Wahl­ bezirks stattgefunden haben; es bezieht sich auf Abstimmungen in dem Kreise Pleß. Darauf zielen nun aber die gegenwärtigen Angaben nicht hin; Alles, was hier vor­ gebracht wird, spielt in dem Bezirke Rybnik. So ist wenigstens in der Abtheilung auf eine von mir ausdrücklich gestellte Frage erwidert worden. Es kann also das Material, um welches es sich hier handelt, nicht als Ergän­ zung oder Unterstützung für jenes andere Material dienen, über welches schon hier be­ funden worden ist. Es ist etwas ganz Isolirtes, für sich Bestehendes; wir haben hier eine ganz andere Gruppe von Wählern vor Augen, als es der Fall bei unserem frü­ heren Beschluffe war. Wenn Sie nun aber die Thatsachen, welche Ihnen soeben referirt worden sind, und die theilweise mit Recht eine allgemeine Heiterkeit veranlaßt haben, ins Auge fassen, so, glaube ich, werden Sie mit mir einverstanden sein, daß es der Stellung dieses hohen Hauses nicht entspricht, eine Spezialuntersuchung über dieselben in einem noch nicht in Frage gekommenen Bezirke einzuleiten. Ich erkläre hiermit, daß, was zunächst die vorgeblichen Anpreisungen von der Kanzel betrifft, ich es entschieden mißbillige, wenn von derselben herab für die Person eines Kandidaten oder gegen dessen Gegenkandidaten irgendwie agitirt wird. Ich bin also weit entfernt davon, zu bestreiten, daß das, was hier angegeben wird, wenn es wirklich so statt­ gesunden hat, woran ich indeß einstweilen noch sehr zweifle, eine Mißbilligung verdienen mag; aber aus dem Vorgetragenen, wenn es auch wörtlich durch Zeugen 'erwiesen werden sollte, zu schließen, daß ein wirklicher, bestimmender Einfluß auf die Wähler oder auf eine Anzahl von Wählern geübt sei, — ein solcher Schluß scheint mir doch wirklich allzu kühn; man kann ihm unmöglich beistimmen. Wir wissen ja gar nicht einmal — es wird nichts darüber gesagt —, ob überhaupt Wähler in der Kirche waren, in welcher gepredigt worden ist. (W. l.) — M. H. (nach links), sehen Sie sich doch nur einmal hier in Berlin um, ob da nicht oft nur sehr wenig Herren, ja mitunter nur Damen bei Predigten gegenwärtig sind. Das ist aber doch wohl die nothwendigste Vorbedingung, daß überhaupt Wähler zugegen waren. Davon ist aber, wie bemerkt, kein Wort gesagt. Ich möchte sogar nach dem Namen desjenigen, der

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die Eingabe gemacht hat, glauben, daß er keinenfalls in der Kirche anwesend war, daß er nur aus drittem oder viertem Munde seine Angaben vernommen hat, wie es denn überhaupt scheint, als wolle sich allmählich eine Art von Sagenkreis um den geistlichen Rath Müller bilden. (Gr. H.) — Soll die allgemeine Empfehlung: wählt den Kaplan Müller und keinen Anderen! wirklich auf die freie Willensbestimmung der anwesenden Wähler einen maßgebenden Einfluß gehabt haben? Wer kann das so ohne Weiteres wissen, selbst wenn Sie annehmen wollten, der Geistliche hätte vor einev großen Anzahl Wähler gesprochen? Beides aber entbehrt aller irgendwie sicheren Unterlage. — Dann weiter die Anpreisungen der Lebensweise und des ganzen Ver­ haltens des Kaplans Müller, der nach der Eingabe wohl als ein halber Heiliger dar­ gestellt worden sein soll. Ich glaube, daß diese Art von Anpreisung eher geeignet gewesen wäre, die Wähler abzuschrecken, als anzuziehen. Ein Mann, der so lebt, wie geschildert wird, der keine Bedürfnisse hat, ja sogar keine Kleidungsstücke besitzt, — ich glaube nicht, m. H., daß ein solcher Mann sich sonderlich zum Reichstags-Abgeordneten selbst in den Augen der betreffenden bäuerlichen Wähler — wenn welche vorhanden gewesen sind — eignete. (Gr. H.) Uebrigens kann ich bemerken, und gebe ich den Herren anheim, sich näher dar­ über zu erkundigen, daß es hier in Berlin in denjenigen Kreisen, welche in näherer oder auch entfernterer Beziehung zu dem Gewählten stehen, notorisch ist, daß er aller­ dings so ziemlich Alles, was er einnimmt, zu Almosen und guten Werken verwendet, wonach denn nur eine etwas starke und gerade nicht geschmackvolle Uebertreibung wäre, was wir aus dem Munde des Herrn Referenten soeben gehört haben. Keineswegs aber sind das Thatsachen, in Betreff welcher man im Ernst eine Untersuchung einleiten kann. — Dann, m. H., glaube ich doch auch noch, daß wir schon um des Prinzipes willen den Satz festhalten müssen, daß es nicht genug ist, wenn möglicherweise irgend eine von der Kanzel herab gemachte Aeußerung auf die Wähler eine Einwir­ kung habe üben können. Die Möglichkeit genügt doch wahrlich nicht, um daraus ohne Weiteres auf die Wirklichkeit zu schließen; wenn aber nicht ein wirklicher Einfluß statt­ gefunden hat, dann können Sie doch unmöglich abgegebene Stimmen für ungültig er­ klären. Wir müssen doch nothwendig einen über die bloße Möglichkeit hinausreichenden Nachweis verlangen; in welche Allgemeinheiten, in welche vage Willkürregionen ver­ lören wir uns sonst! Endlich, m. H., kommt dann noch die Angabe, daß gewissen Wählern — genannt werden sie meines Wissens nicht — von einem gewissen, auch ungenannten — ich laffe es indeß dahingestellt sein, ob er genannt ist — Feldschützen, glaube ich, gedroht wor­ den sei, sie würden mit fünf Silbergroschen gestraft, wenn sie nicht dem Müller ihre Stimme gäben. Das vorige Mal handelte es sich in einem Proteste wenigstens doch um fünf Thaler, welche ein Steuereinnehmer denjenigen angedroht haben soll, die nicht für Herrn Müller stimmen würden. Ich gestehe, ich kenne die Bauern in Schlesien nicht; soweit ich aber überhaupt Bauern kenne/ kann ich mir gar nicht denken, daß eine solche Androhung irgend welchen Effekt haben könnte. Indessen, das ist eine ab­ gemachte Sache. Hier aber gar auf die Konstatirung einer Androhung von fünf Silbergroschen Strafe zu erkennen, um daraus hernach die Folgerung zu ziehen, die Leute seien unter dem Eindruck solcher entsetzlichen Drohung an den Wahltisch gegangen und hätten in ihrer Angst für Müller gestimmt, um keine fünf Silbergroschen zahlen zu müssen — so weit, glaube ich, sollten wir denn doch nicht gehen, wie strenge wir es auch mit den Wahlen nehmen wollen, namentlich mit denjenigen Wahlen, wo von der Kanzel herab in der einen oder anderen Weise auf die Wähler eingewirkt worden sein soll. Lassen Sie uns doch eine gewisse Grenze festhalten. Die Thatsachen, um die es sich hier handelt, überschreiten meines Erachtens alle Grenzen des Zulässigen; (ja wohl! l.) — ich sollte meinen, daß es angemessen wäre, einfach darüber hinweg­ zugehen. Abg. Graf Bethusy-Hue: M. H., ich stimme mit dem Herrn Vorredner zu­ nächst darin überein, daß der Herr Abg. Müller in dem von dem Pfarrer Marx ge-

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schilderten Zustande kaum einen Platz in einer Berliner Bildergallerie haben dürfte, (H.) — gewiß aber nicht in den Räumen dieses Saales. Als der Herr Abgeordnete von dem Sagenkreise sprach, der sich um Müller nach seiner Meinung zu sammeln scheine, so glaubte ich, er spräche von demjenigen, an fernste Sagen erinnernden Vor­ trage, welchen als von der Kanzel gehalten der Herr Referent uns soeben berichtet hat; ich habe mich aber aus seiner späteren Ausführung überzeugt, daß er eine scharfe Grenze zwischen Sage und Legende gezogen hat. Zm Uebrigen habe ich nur ganz kurz zu konstatiren, daß das Haus nicht, wie der Herr Abg. Freiherr von Los meint, beschlossen hat, nur solche Proteste nachher zuzulassen, welche als Beweismittel für schon früher beigebrachte Proteste gelten, son­ dern — und zwar auf Antrag und wenigstens nach Bestätigung dieser Ansicht durch den Abg. Dr. Windthorst und nach einer heute wiederum derselben Ansicht zu Theil gewordenen Bestätigung von Seiten des Herrn Abg. Dr. Reichensperger — beschlossen hat, nach Eingang eines Protestes die Sache als eine schwebende zu betrachten, welche von beiden Seiten mit Protesten und Gegenprotesten so lange von neuem angegriffen werden kann, bis hier eine definitive Entscheidung erfolgt ist. Zch habe zweitens zu konstatiren, daß der Herr Abg. Dr. Reichensperger, welcher sich in dieser Beziehung in Uebereinstimmung mit dem früheren Beschlusse des Hauses befindet, in anderer Beziehung einen Beschluß des Hauses zu ignoriren scheint. Er nennt den Einfluß von der Kanzel einen unerheblichen; früher sind die Herren nur so weit gegangen, zu behaupten, daß allgemeine Ermahnungen, welche sich nur auf die Parteirichtung des zu wählenden Kandidaten beziehen, als unerheblich zu betrachten seien, und auch in dieser Beziehung hat der Beschluß des Hauses sie nicht unterstützt, sondern sich dagegen ausgesprochen. Zetzt aber erzählt uns der Herr Abgeordnete, daß solche Beeinflussungen von der Kanzel, welche einen bestimmten Abgeordneten unter Nennung des Namens und Hinzufügung abenteuerlicher Qualitäten dem Wähler em­ pfehlen, als unerheblich zu betrachten seien. Das scheint mir mit dem früher vom Hause angenommenen Beschluß im Widerspruch zu stehen, und bitte ich Sie, in Kon­ sequenz deffelben dem Antrag des Herrn Referenten Statt zu geben. Abg. Dr. Windthorst: Es ist allerdings die Frage, inwieweit nach erfolgter Beanstandung einer Wahl neue Thatsachen beigebracht werden können, vormals diskutirt worden. Die Grenze ist damals aber keineswegs klar gezogen. Zch glaube, daß in Beziehung auf bereits angeführte Thatsachen zur Begründung eines Protestes neue Beweismomente und neue adminikulirende, erklärende Thatsachen bei­ gebracht werden können. Eine Serie ganz neuer, selbstständiger Thatsachen mit neuen Begründungen und neuen Beweisen nachträglich bringen zu wollen, das würde in ein Labyrinth führen, aus dem man niemals herauskäme, das, glaube ich, würde auch den Bestimmungen der Geschäftsordnung nicht entsprechend sein. Dann ist gesagt worden, in dem Schüttinger'schen Fall wäre bereits entschieden, daß jede Beeinflussung von der Kanzel die Nichtigkeit der Wahl herbeiführte. M. H., wenn man die Diskussionen über den Schüttinger'schen Fall liest, wird man sich über­ zeugen, daß das mit nichten der Sinn des damaligen Beschlusses gewesen ist. Außer­ dem glaube ich, daß nach den Aeußerungen, die hier früher schon vorgekommen sind und die insbesondere der Herr Abg. von Blanckenburg vorgetragen hat, es gut sein dürfte, wenn wir an diesem Falle nicht exemplificirten und ihn nicht als ein Präjudiz hinstellten. Zudem hatte der Prediger in dem Schüttinger'schen Falle nicht irgendwelche Person von der Kanzel empfohlen, sondern hatte dadurch, daß er sagte, er wolle über die Wahl weiter sprechen außerhalb der Kirche, sehr klar zu er­ kennen gegeben, daß er in der Kirche über die Kandidatur einer bestimmten Person zu reden überhaupt nicht die Absicht habe. Wenn der geehrte Abg. Graf Bethusy glaubt, es sei von dieser Seite früher eine andere Auffassung geltend gemacht, als heute, so irrt nach meiner Ansicht der Abgeordnete darin ebenfalls. Wir haben zu jeder Zeit zugegeben, und ich gebe das auch heute bereitwilligst zu, daß es nicht geeignet ist, auf der Kanzel die Eigen-

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schäften einer konkreten Person zu behandeln. Aber daraus folgt für mich nicht, daß, wenn das dennoch geschehe, darum die Wahl ungiltig wird; daraus folgt für mich vielmehr nur, daß dem Geistlichen, der das thut, bemerklich gemacht werden muß, er habe das in der Folge zu lassen. Die Nichtigkeit folgt daraus nicht, weil — es ist das ja schon früher wiederholt auseinandergesetzt und ich habe versucht, es bei der Wahl aus Crefeld darzulegen — es unmöglich daraus ankommen kann, was auf in­ tellektuellem Wege geschieht, um für den endlichen freien Entschluß den Wählern Material zur Erwägung zu unterbreiten. Eine Nichtigkeit daraus folgern zu wollen, daß Material zu solcher Erwägung an diesem oder jenem Orte, auf der Kanzel, im Amtsblatt, auf der Amtsstube, auf der Landrathsstube beigebracht worden, wäre nach meiner Ansicht etwas durchaus Irriges, etwas durchaus Falsches. Ist im vorliegenden Falle das Vorgetragene vorgekommen, so liegt Veranlassung vor, das Material an den Herrn Bundeskanzler zu schicken, damit der betreffende Geistliche aufmerksam gemacht wird, daß er die Grenzen überschritten habe; aber eine Nichtigkeit der Wahl daraus zu folgern, führt zu weit. Ich bin deshalb der An­ sicht, daß in Beziehung auf die Giltigkeit der Wahl auf die Dinge, die hier vorliegen, nicht Rücksicht genommen werden kann, einmal weil sie zu spät eingebracht, und zweitens weil sie irrelevant sind. v Abg. Dr. Völk: Ich habe mich, m. H., bis jetzt, obgleich ich wohl auf Grund meiner Erfahrungen viel Veranlassung dazu gehabt hätte, in den Streit nicht einge­ mischt, welchen Einfluß die Empfehlung der Kandidaten von der Kanzel herab haben könne. Ich würde es auch heute nicht thun, wenn nicht aus Anlaß des Schüttinger'schen Falles immer wieder und wieder bei Gelegenheiten, wie sie hier gegeben sind, diese Frage von den Herren aus dem Centrum auf die Spitze getrieben würde. Einmal handelt es sich in dem vorliegenden Falle um den Punkt der Zulässigkeit und sodann um den Punkt der Relevanz der Thatsache. Was die Zu­ lässigkeit anlangt, so möchte ich den Grundsatz aufstellen, daß wir uns ja davon fernhalten müssen, Wahlprüfungen nach den Regeln des Civilprozesses zu behan­ deln und gleichsam eine civile Rechtskraft da oder dort eintreten zu lassen. Wenn einmal eine Wahl beanstandet ist, und so lange sie nicht im Hause definitiv für giltig erklärt worden, so vindicire ich dem Hause nicht nur das Recht, neue Beweismittel, sondern auch neue Thatsachen zu beachten, welche dem Hause die Gelegenheit geben, zu erkennen, ob der betreffende Abgeordnete als richtig gewählt im Hause sitzt oder nicht. (S. w.!) — Das Gesetz erkennt meines Erachtens eine derartige Präklusion von Thatsachen nirgends an, und die Geschäftsordnung ebenfalls nicht, und es ist nicht statthaft, nach den Regeln des Civilprozesses hier Präklusionen auszusprechen, weil wir es nicht mit dem Privatrecht, sondern mit dem öffentlichen Recht und dem öffent­ lichen Interesse zu thun haben. Nur soweit es im Interesse der Aufrechthaltung der Ordnung und eines geregelten Geschäftsganges nothwendig ist, kann man Präklu­ sionen eintreten lassen. Aber ich wiederhole, es ist nicht lediglich Sache des Einzelnen, ob. er hier zu sitzen das Recht hat, sondern es ist Sache der Gesammtheit, zu unter­ suchen, ob Jemand berechtigt oder unberechtigt hier sitzt. Was nun den Punkt anbelangt, inwieweit die Kanzel als mißbraucht oder nicht mißbraucht anzusehen sei, so gebe ich dem Herrn Vorredner zu, daß wir durchaus nicht berechtigt sind, darüber zu wachen, ob in einer katholischen oder auch protestanti­ schen Kirche die Kanzel mißbraucht ist oder nicht. Wir haben keine polizeilichen Be­ fugnisse in den Kirchen, und ich will auch sagen, wir wollen solche Befugnisse nicht haben, obwohl, wenn die Herren sich einmal herausnehmen, die Kanzel zur Arena politischer Diatriben zu machen, der Staat zu untersuchen hat, ob er diejenigen Mittel, die er den Vereinen gegenüber hat, nicht auch hier anzuwenden habe. Aber ich will vorläufig auf diese Frage nicht eingehen. Wir haben also hier nicht das Recht, Polizei darüber zu üben, ob die Kanzel gebraucht oder mißbraucht worden, ob die Kirche da­ durch verunstaltet wird oder nicht. Aber, m. H., wir haben das Recht, unser Haus rein zu halten von allen Persönlichkeiten, die lediglich durch den Mißbrauch unter

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uns geschickt werden sollten, (s. w.!) — das ist unser Recht, das wollen wir hier ausüben, und wir wollen es den geistlichen Obern überlassen, ob sie es für recht fin­ den, daß die Kanzel in dieser Weise ge- oder mißbraucht wird. Meine persönliche Anschauung ist: je mehr man die Kanzel zu politischen Zwecken mißbraucht, desto mehr schadet man sich selbst, weil man sie in der That dadurch mißbraucht. (S. w.! S. r.!) Aber, m. H., indem man lediglich gerichtlicherseits eine Mißbilligung ver­ langt, hat man des Hauses Recht nicht genug gewahrt. Wir wissen nie und nimmer, welche Wirkung eine derartige Mißbilligung hat, und selbst wenn wir es dahin bräch­ ten, daß ein geistlicher Oberer aus Anlaß der weltlichen Gewalt dem Geistlichen, der die Kanzel ge- oder mißbraucht hat, eine Rüge giebt, so wissen wir noch nicht, ob nicht in demselben Kouvert die Entschuldigung dafür steckt, daß man so verfahre. (Lebh. W. im C. S. r.! l.) M. H., ich will das nicht weiter ausführen. Wer so genau in die einzelnen Minengänge einzudringen Gelegenheit gehabt hat, wie wir in Bayern, der wird nicht den geringsten Zweifel darüber haben, daß zwei derartige Briefe zugleich abgehen können. (W.) — Ich glaube nun aber, wenn wir nicht das bei Gelegenheit der Schüttingerschen Wahl und bei Gelegenheit der an demselben Tage entschiedenen Wahl Beschlossene geradezu auf den Kopf stellen wollen, nicht gegen den Antrag des Aus­ schusses stimmen dürfen. Denn — bemerken Sie wohl, ein Redner vor mir hat sich nicht damit begnügt, zu rechtfertigen, ja sogar anzupreisen und als Pflicht zu erklären, daß von der Kanzel herab, wenn gegen die „Freiheit der Kirche" ein Kandidat zu sein scheine, vor dessen Wahl gewarnt werde, sondern er hat mit einer gewissen Kon­ sequenz und, wie ich glaube, in richtiger Auffassung behauptet, dasselbe Recht der Beeinfluflung stünde auch den Landräthen und jeglicher Art von obrigkeitlichen Beamten zu. Zu solcher Konsequenz kommt man allerdings, wenn man das Eine zugiebt. Nun ist auch heute wieder andeutungsweise geltend gemacht worden: wenn man nun mit innerlichen Mitteln auf den Willen der Wähler wirke, sie dazu bestimme, einem be­ stimmten Kandidaten die Stimme zu geben, das eigentlich nicht gegen die Wahlfreiheit sei; das mündige Volk habe bezüglich des allgemeinen und geheimen Stimmrechts durch­ aus derartige Beeinflussungen nicht zu scheuen, man habe solchen Beeinflussungen irgend eine Folge nicht zu geben. Dagegen kommt aber zu erinnern: einmal, daß wir noch nicht in der Weise eine geheime Abstimmung haben, wie es in der That scheint. Bei den kleinen Wahlbezirken, in denen es sich um Abgabe von 10, 12, 15 Stimmen handelt, bei der Art und Weise, wie auf dem Lande die Abstimmungen betrieben wer­ den, behaupte ich steif und fest, es ist in dem größten Theil der Wahlbezirke gar keine geheime Abstimmung vorhanden, und es ist in der That und Wirklichkeit eine solche nicht durchgeführt. (S. w.!) — Zch will aber davon absehen. Ich frage: wer ist denn frei? Nur derjenige, welcher nach eigener, wohlüberlegter Entscheidung seine Stimme abgiebt, und nicht derjenige, welcher, von höheren amtlichen oder geistlichen Einflüssen unfrei gemacht, seine Stimme abgiebt. Diese höheren Einflüsse liegen nun bei der höheren Amtsgewalt und dem Ge- und Mißbrauch derselben vor, und sie liegen, sage und behaupte ich, in einem noch höheren Maße in den Beeinflussungen von der Kanzel herab vor. Lassen Sie mich auf die Gründe bezüglich des letzteren Punktes nicht weiter eingehen — sie sind hier schon richtig angeführt worden. Zch habe über­ haupt nur deshalb das Wort ergriffen, damit nicht, nachdem diese Gründe wiederholt geltend gemacht und angegriffen worden sind, es am Ende so erscheine, als sei Nie­ mand mehr im Hause da, der diesen Anschauungen 'widerspreche. Zch kann daher nur dringend davor warnen, den Auffassungen jener Herren dadurch beizupflichten, daß Sie den Antrag der Abtheilung verwerfen. M. H., Sie werden gut thun, wenn Sie die Grundsätze, die wir früher einmal an einem Tage bezüglich des Mißbrauches der Kanzel und des Amtsmißbrauches eines Landrathes aufgestellt und angewendet haben, heute hier wiederholt sanktioniren. Es liegt freilich dort ein großes Interesse vor, die großen Grundsätze, die Sie an einem Tage in die Welt, in die deutschen Lande hinaus­ geschleudert haben, und die dort allgemein einen großen Eindruck gemacht haben, wieder

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wegzuleugnen, und es liegt in einem gewissen Interesse, diese Grundsätze wieder ab­ zubröckeln und das Haus zu Beschlüssen zu bringen, wonach man in Zukunft nicht mehr weiß, woran man mit denselben sei; aber es liegt im Interesse der Wahlfreiheit und der Ehre dieses Hauses und der Aufrechthaltung der Wahlfreiheit durch das ganze Volk, daß Sie nicht abweichen von Ihren Grundsätzen; und dokumentiren Sie dies, ich bitte Sie, dadurch, daß Sie dem Anträge der Abtheilung zustimmen! Die neuen 5 Nummern der Anstände werden auch zur näheren Untersuchung mit großer Majorität verwiesen.

VH. In der 12. Sitzung vom 5. April 1871 wird die Wahl des Fürsten zu Hohenlohe (4. Wahlbezirk des Regierungsbezirks Oppeln) für giftig erklärt. Berichterstatter Abg. Albrecht: Als Spezialreferent der dritten Abtheilung habe ich zu referiren über die Wahl im vierten Wahlbezirk des Regierungsbezirks Oppeln. Es sind darin 13,637 gültige Stimmen abgegeben; davon ist die absolute Majorität 6819. Es sind auf den Herrn Fürsten zu Hohenlohe, Herzog von Ujest gefallen 9023 Stimmen, also 2104 Stimmen über die absolute Majorität; auf den Herrn Ministerialdirektor Dr. Krätzig in Berlin sind gefallen 4378 Stimmen. Die übrigen find zersplittert. Es find mehrere Proteste gegen die Wahl eingekommen, die zu würdigen sind. Die Proteste sind folgende. Einmal ein solcher, welcher bereits dem Wahlkommissarius überreicht ist, und welcher darauf hinausgeht, daß in zwei Wahlbezirken Beeinflussun­ gen unerlaubter Art auf die Wahlen vorgekommen seien. Es sind die Wahlbezirke Boronow und Boronower-Antheil. Es wird behauptet von dem Protestirenden, Pielot aus Boronow, daß eigenthümliche Arten des Kaufs von Stimmen stattgefunden hätten; es seien nämlich den Wählern, die mit Krätzigschen Stimmzetteln versehen in das Wahllokal gekommen wären, von dem Wahlvorsteher Bodtländer andere Stimmzettel mit dem Namen des Herzogs von Ujest eingehändigt oder von anderen Personen, die von jenem beauftragt seien, und man habe ihnen zugleich mit diesen mit Ujest bezeich­ neten Zetteln einen Bon gegeben, worauf die Firma des Bodtländer verzeichnet ge­ wesen sei, und für diesen Bon habe man dann für einen oder anderthalb Silbergroschen Speisen und Getränke bekommen können; die Bons seien ausgehändigt worden, wenn der betreffende Wähler den Zettel für den Herzog von Ujest in die Urne gelegt habe. Von dem Wahlvorsteher eines anderen Wahlbezirkes sei der Groschen baar gezahlt worden. Ferner wurde behauptet, daß die Gendarmen in diesem Wahlbezirk in un­ zulässiger Weise auf die Wahl eingewirkt hätten, indem sie in den Wahllokalen gegen­ wärtig gewesen seien und den Wählern die Sttmmzettel zerrissen und andere auf­ gedrungen hätten. Da das Resultat der Stimmabgabe in diesen beiden Bezirken gar keinen Ein­ fluß auf das Wahlresultat üben karln, so beschloß die Abtheilung, ehe weitere Proteste vorlagen, diesen Protest nur dem Bundeskanzler zu übersenden, um wegen dieser Vor­ kommnisse eine Untersuchung anstellen und die nöthige Bestrafung eintreten zu lassen. Schon bei dem Wahlkommissar waren noch zwei andere Proteste eingegangen, einer von dem katholischen Lehrer, und ein anderer von dem katholischen Geistlichen Tschirner in Sodow. Beide behaupteten, daß in zwei von ihnen angegebenen Wahl­ bezirken, Ruschinowitz und Groß - Droniowitz, Unrechtsertigkeiten insofern vorgekommen seien, als sich in der Stimmurne viel weniger Stimmzettel für Krätzig gefunden hätten, als für Krätzig abgegeben seien. Der Lehrer insbesondere führt an, daß er bei der Wahl in dem einen Bezirke, Ruschinowitz, Protokollführer gewesen sei und habe wahr­ nehmen können, wie viel Stimmzettel bei der Stimmabgabe für Krätzig abgegeben seien — er hat sie also äußerlich erkannt —; und nun sei er einmal hinausgegangen; da müsse eine List vorgekommen sein; denn bei der Stimmeröffnung habe sich gezeigt, daß viel weniger Stimmen für Krätzig in der Urne gewesen seien, als für denselben ab­ gegeben worden. Der Pfarrer Tschirner behauptet für den betreffenden Bezirk dasselbe und stellt in Aussicht, daß er noch mehr Mittheilungen dem Reichstage machen würde,

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sobald er die Sache weiter untersucht haben würde. Diese Mittheilungen sind von ihm dann auch dem Reichstage gemacht worden, indem ein Protest von ihm eingegan­ gen ist, der sich nun nicht bloß auf diese Behauptungen bezieht, sondern noch auf eine ganze Reihe von anderen Unrechtfertigkeiten, die bei der Wahl vorgekommen seien. Diese Unrechtfertigkeiten sind von ihm einmal in sehr allgemeinen Ausdrücken bezeich­ net, und ich will gleich hier bemerken, daß die Abtheilung über diese Unrechtfertigkeiten, die in ganz allgemeinen Aeußerungen bestehen, geglaubt hat hinweggehen zu dürfen und hinweggehen zu müssen, daß sie aber diejenigen Anführungen in diesem Wahl­ proteste, die mit Zeugen belegt, und sich auf einzelne bestimmte, thatsächlich substantiirte Unrechtfertigkeiten beziehen, in reifliche Erwägung gezogen hat. Die allgemeinen Bemerkungen und Behauptungen gehen dahin, daß in dem Lublinitzschen Kreise — und ich bemerke, daß zu dem hier in Frage kommenden Wahl­ bezirke zwei Kreise gehören, einmal der Kreis Tost-Gleiwitz, und zweitens der Kreis Lublinitz; die Wahlanfechtungen beziehen sich nur auf den Lublinitzer Kreis — die Wahlen unfrei und inkorrekt gewesen seien, unfrei deshalb, weil das Landraths-Amt zu Lublinitz für die Kandidatur des Herzogs von Ujest in durchaus unerlaubter Weise aufgetreten sei; das Landraths-Amt habe einen Druck geübt auf die Wähler, durch Drohungen, durch Benutzung von Gendarmen und Polizeiverwaltern zu Agitationen für den Herzog von Ujest und zur Hintertreibung der Wahl des Dr. Krätzig; namentlich der Kreissekretair Fock, wie behauptet wird, eine im dortigen Kreise gefürchtete Per­ sönlichkeit, sei vielfach herumgereist, und habe insbesondere auch die Behauptung auf­ gestellt, die Regierung, der König wolle, daß der Herzog von Ujest gewählt werde. Ferner seien die Polizeiverwalter wiederholt thätig gewesen, „auch die Gendarmen," — wird wörtlich gesagt — „die vom Volke so sehr gefürchteten, haben gezeigt, wie die freie Wahl verstanden werden muß, bloß die Regierung, das Landraths-Amt habe freien Willen, das Volk aber solle blind gehen und sich nicht erdreisten, bei den Wahlen seinen eigenen freien Willen zu haben. Niemals waren die Gendarmen so eifrig im Besuch der ihrer Aufsicht übergebenen Ortschaften, als gerade vor der Wahl; hier traten sie als förmliche Reiseprediger auf, veranstalteten Versammlungen, hielten sogar theologische Vorlesungen und bewiesen so, daß die Geistlichen unnütz. Wo ihre Beredsamkeit und ihre Lügen nichts fruchteten, da griffen sie zu Drohungen." Ebenso seien die Dominialbesitzer und Pächter von Dominien, welche zugleich die Polizeigewalt hätten, sehr thätig gewesen für den Herzog von Ujest und hätten ihren Leuten gedroht, daß man sie aus ihren Häusern weisen würde, wenn sie nicht für den Herzog von Ujest ihre Stimmen abgäben/ Dann wird das „Sündenregister" der Ujestschen Partei noch weiter ausgeführt. „Zn dem Vorerwähnten" — heißt es — „zeigten sie sich als Tyrannen, als Mörder des freien Willens und der freien Selbstbestimmung, von der sie in anderen Fällen sehr schöne Reden zu führen wissen; in dem Nachfolgenden soll auch noch Aergeres nachgewiesen werden." Und nun wird außer anderen Inkorrektheiten insbesondere noch betont, daß in den Wahlkreisen bei der Stimmenabgabe das Resultat gefälscht sei; und es wird endlich behauptet, daß von Seiten des Landraths-Amts den Leuten Mährchen aufgebunden und zu Verleumdungen der Geistlichen die Zuflucht genommen sei, und darauf der Anttag begründet, den hohen Reichstag zu bitten, dahin wirken zu wollen, daß für künftig die freien Wahlen nicht nur auf dem Papier stehen, sondern Garantien geschaffen werden zum Schutze der Freiheit und Korrektheit der Wahl, und daß dem Volke durch Bestrafung der Schuldigen die nöthige Genugthuung gegeben werde. Das ist der Antrag des Protestes des Pfarrers Tschirner in Sodow. Außer diesen allgemeinen Behauptungen sind noch eine Reihe von Spezialfällen angeführt, worin im Einzelnen unter Angabe von Zeugen behauptet wird, daß von dem Kreis­ sekretair z. B. der Gemeindebote Pospieck aus Wierzbie bedroht worden sei mit Ab-

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setzung, wenn er nicht den Herzog von Ujest wähle und den Gemeindemitgliedern in Wierzbie nicht befehle, den Herzog zu wählen. Der Schulze Masson in Ruschinowitz kann bezeugen, daß der Kreissekretair mit Absetzung gedroht habe. Der Gemeinde Groß-Droniowitz sei gedroht worden mit Entziehung der Zulage zum Lehrergehalte, wenn der Herzog von Ujest nicht gewählt würde; dem Lehrer Schramm in Molna sei gedroht, er solle den von der Regierung bewilligten Gehaltszuschuß von 40 Thalern verlieren. Dem Scholzen aus Lubschau drohte er mit Wegebauten, der Gemeinde­ schreiber von Jezowa habe der Gemeinde gedroht mit allerlei Bedrängnissen und dem Lehrer Mika mit allerlei Unliebsamkeiten seitens der höheren Behörden; und so folgen noch eine Anzahl einzelner Behauptungen von Unrechtfertigkeiten, die in der Abtheilung im Einzelnen vorgetragen sind, die ich hier aber wohl nicht weiter fortzusetzen und insbesondere die einzelnen Gendarmen u. s. w. namhaft zu machen nöthig habe, welche, und wo und wann diese bedroht haben sollen. Die Abtheilung ist darüber nicht zweifelhaft gewesen, daß alle diese im Einzelnen durch Zeugen substantiirten Fälle ohne Frage einer Untersuchung unterzogen werden müssen; und die Abtheilung hat sich nun die Frage vorgelegt, wenn die Untersuchung bewiese, was behauptet worden, welchen Einfluß das auf das Wahlresultat üben würde. In der Beziehung darf ich bemerken, daß in allen 15 Wahlbezirken Stimmen abgegeben sind für den Herzog von Ujest im Ganzen: 1273; wenn man nun alle diese Stimmen dem Herzog von Ujest abzieht, so stellt sich folgendes Resultat heraus: er hat erhalten im ganzen Wahlkreise 9023' Stimmen, er behält noch 7750 Stimmen, also immer noch 931 Stimmen über die absolute Majorität von 6819 stimmen. Zählt man alle diese Stimmen dem Dr. Krätzig zu, so erhält dieser 5651 Stimmen, bleibt also noch immer mit 1168 Stimmen unter der absoluten Majorität. Die Abtheilung hat aber geglaubt noch weiter gehen zu sollen. Man hat aus diesen 15 Wahlbezirken die Stimmen auch derjenigen wahlberechtigten, in die Liste ein­ getragenen Wähler, die überall gestimmt haben bei dieser Wahl, gezählt, und das ergiebt das Resultat, daß 798 in diesen 15 Wahlbezirken überall nicht gestimmt haben. Wenn man nun diese Stimmen, die ja vielleicht nach dem Proteste aus Furcht bei dieser Wahl nicht abgegeben sind, den gesammten abgegebenen Stimmen zuzählt, dann stellt sich das Verhältniß so: es hätten dann im ganzen Kreise abgestimmt 14,435 Wähler, davon würde die absolute Majorität 7218 sein; der Herzog von Ujest hat erhalten mindestens 7750 gültige Stimmen, also 532 Stimmen über die absolute Majorität. Wenn man diese gar nicht abgegebenen Stimmen auch noch dem Dr. Krätzig zuzählt, so bekommt dieser immer nur 6449 Stimmen, bleibt also mit 769 Stimmen unter der absoluten Majorität. Unter diesen Umständen, und da der Protest des Pfarrers Tschirner nicht als ein ganz unbefangener angesehen werden kann, glaubt die Abtheilung sich darauf be­ schränken zu sollen, die im Einzelnen mit Zeugen belegten Beeinflussungen in den in Frage kommenden 15 Wahlbezirken in Rechnung zu ziehen. Zn drei Fällen soll das Wahlresultat von dem Wahlvorstande gefälscht sein; es sind das die Wahlbezirke Ruschinowitz, Groß-Droniowitz und Zielona. Der Pfarrer Tschirner ist derjenige, der alle oder doch einen Theil der Protokolle ausgenommen hat, die er seinem Wahlproteste beigelegt hat, und worin er aus den betreffenden Kreisen die Eingesessenen über die Wahl vernommen hat; er führt selbst an, daß er die Stimm­ zettel für Dr. Krätzig an die Eingesessenen vertheilt, nun aber hinterher erfahren habe, daß die Stimmzettel von denen, an die er sie vertheilt hat, nicht abgegeben sind und führt eine Reihe von Personen auf, die das beeidigen würden. Zch habe mir die Mühe gegeben, sie mit der Wahlliste zu vergleichen, und habe gefunden, daß der unter Nr. 40 in der Gemeinde Ruschinowitz genannte Johann Upierz, der das auch beeidigen will, in der Wahlliste überall gar nicht vorkommt. Ein anderer, der Viertelsbauer Zohann Danys, hat nach der Wahlliste nicht mitgestimmt. Ebenso wird in Beziehung auf die Wahl in Groß-Droniowitz behauptet, daß 86 Stimmzettel für den Herzog von Ujest, 68 für den Dr. Krätzig in Berlin sich ge-

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funden hätten; der Pfarrer sagt auch hier wieder: „Hier ist ein Betrug geschehen, und können die nachstehend Genannten eidlich bezeugen, daß sie nur Zettel, auf Dr. Krätzig lautend, respektive von mir ausgegebene Zettel abgegeben haben." Dasselbe wird behauptet in Bezug auf den Wahlbezirk Zielona. Der Pfarrer Tschirner giebt an, daß ihm ein Dritter, ein Gärtner Josef Nawrot, eine Zusammen­ stellung von solchen Personen gegeben habe, die behaupteten, daß sie nur auf Dr. Krätzig lautende Wahlzettel abgegeben hätten, während so viele Stimmzettel für Dr. Krätzig nicht vorgefunden worden.

M. H., die Abtheilung war darüber vollständig außer Zweifel, daß die Unrecht­ fertigkeiten dem Bundeskanzler-Amte zur Untersuchung mitgetheilt werden sollten. Zn Beziehung auf die Ermittelung der hier behaupteten Wahlfälschungen hatte sie aller­ dings ein Bedenken; sie fürchtete, daß, wenn ohne irgend eine Einschränkung wir, der Reichstag, dazu Veranlassung geben wollten, nach der Wahl 311 ermitteln, wie der Einzelne bei der Wahl gestimmt habe, das Wahlgeheimniß, welches verfassungsmäßig die Grundlage der Wahl bilden solle, schwerlich in jeder Beziehung geachtet werden könne. Der Fall liegt hier so. Ein Pfarrer giebt seinen Pfarrkindern Stimmzettel für den Dr. Krätzig; hinterher findet sich bei dem Resultat der Wahl, daß so viele Stimmzettel für Dr. Krätzig nicht abgegeben sind. Jetzt wird von dem Pfarrer nach­ geforscht, und, wie hier behauptet wird, haben verschiedene Personen dem Pfarrer gegen­ über zu beeidigen sich bereit erklätt, daß sie für denjenigen Kandidaten, der ihnen von dem Pfarrer empfohlen sei, gestimmt und die Stimmzettel, die ihnen der Pfarrer ge­ geben, abgegeben hätten. Es schien uns doch im höchsten Grade bedenklich, daß wir ohne Weiteres und ohne irgend welche Schranken diese Personen dadurch, daß man sie etwa vor Gericht jetzt eidlich befragte: für wen habt ihr gestimmt? zwingen wollte, das Wahlgeheimniß zu brechen; denn man kann sich den Fall sehr wohl denken, daß vielleicht von verschiedenen Seiten auf diese Personen eingewirkt ist. Es wird ja be­ hauptet in diesem Protest, daß in demselben Wahlbezirke, wo der Pfarrer agitirt hat, auch der Grundherr agitirt habe; der Eine hat vielleicht gedroht damit, daß kirchliche Folgen eintteten würden, wenn nicht so gestimmt würde, wie er gewollt; der Grund­ herr hat vielleicht gedroht, daß, wenn nicht nach Wunsch gestimmt würde, weltliche Folgen eintreten würden, daß den Wählern, wie in dem Proteste angegeben, die Wald­ streu entzogen werden sollte, oder daß sie andere Nachtheile erleiden müßten. Nun kommt der Wähler, der für den Einen sich entschieden hat und von dem Anderen zur Rechenschaft aufgefordert wird, allerdings in eine sehr eigenthümliche Lage, und wir wenigstens wollten von Seiten der Abtheilung den Grundsatz allgemein hinstellen, daß für jede solche Behauptung der Beweis dadurch sollte hergestellt werden können, daß die Wähler eidlich darüber vernommen werden: für wen habt ihr gestimmt? — Wenn, wie das der betreffende Protokollführer behauptet hat, mit der Wahlurne Manipula­ tionen vorgenommen sind, so ist durchaus nothwendig, um die Sicherheit der Wahl auch von Seiten des Reichstags möglichst festzustellen, zu übersehen, ob das Wahl­ resultat gefälscht ist. Aber wir haben geglaubt, dahin wirken zu sollen, daß solche Untersuchungen nicht damit anheben, daß man die Leute eidlich vernimmt, wie sie ge­ stimmt haben. Es ist dies um so mehr nöthig, wie die Abtheilung meint, in einem Wahlkreise, wo nach Ausweis der Akten die Agitationen von beiden Seiten sehr leb­ haft gewesen sind. Um das zu zeigen, will ich eine Mittheilung machen aus einem mir vorliegenden Blatte „der Katholik". (Redner verliest eine längere Stelle.)

Ich habe dies angeführt, um zu zeigen, wie lebhaft die Agitation in diesem Kreise war, und deshalb hat die Abtheilung geglaubt, sich sehr bedenken zu sollen, ehe sie eine Untersuchung anstellt darüber, ob die Einzelnen auch bei der Wahl dasjenige gethan haben, was der Pfarrer von ihnen erwartet hat. Der Antrag der Abtheilung geht dahin: Der Reichstag wolle beschließen: 1) die Wahl des Fürsten zu Hohenlohe, Herzogs von Ujest, zum Abgeordneten

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für den 4. Wahlkreis des Regierungsbezirks Oppeln (Tost-Gleiwitz-Lublinitz) für gütig zu erklären; 2) zugleich von den eingebrachten Wahlprotesten des Franz Pielot zu Boronow und des Pfarrers Tschirner zu Sodow dem Herrn Bundeskanzler mit dem Ersuchen Kenntniß zu geben, über die darin behaupteten, in Bezug auf die Wahlen in den Wahlbezirken Nr. 5, 6, 8, 12, 13, 15, 16, 18, 21, 22, 23, 24, 28, 35, 37 des Kreises Lublinitz vorgekommenen Unrechtfertigkeiten eine Untersuchung und eventuell die Rüge, beziehungsweise Bestrafung der Schuldigen zu veranlassen; 3) daß bezüglich der in den Belägen XIV, XV und XVI zu dem Proteste des Pfarrers Tschirner behaupteten Thatsachen eine Untersuchung im Verwaltungs­ wege nur insoweit einzuleiten ist, als eine solche ohne eine Verletzung des Geheimnisses der Abstimmung ausführbar erscheint; auch von dem Resultate der Untersuchung dem Reichstage Mittheilung zu machen. Abg. Dr. Gneist: M. H., die Abtheilung war in der Hauptsache einig; nur wegen des Schlußsatzes bestand eine Meinungsverschiedenheit, und ich bitte Sie, die Minorität hören zu wollen. Wir haben ein großes Bedenken, auf eine Verwaltungs­ untersuchung über die angeblich gefälschte Stimmenzahl, Protokolle Nr. 14 bis 16, einzugehen. Erwägen Sie den Hergang. Ein Geistlicher — wie von einer Seite be­ hauptet wird — hat die Stimmzettel für Herrn Dr. Krätzig vertheilt. Das Resultat ist aber nicht erwünscht. Es wird nachgefragt, wie kommt es, daß die Stimmen für Kratzig nicht abgegeben sind? Und nun versammelt der Geistliche in seiner Gemeinde und in den benachbarten Gemeinden die stimmberechtigten Wähler, um Rechenschaft zu fordern, was aus den Zetteln geworden. Die Leute kommen und sagen: ja, wir ha­ ben die Zettel abgegeben, das muß eine „Fälschung" sein. Wollen Sie im Wege der Verwaltungsuntersuchung auf diese Art von Beschwerden eingehen, m. H., so er­ öffnen Sie eine Kette von Kontrolmaßregeln für das Stimmrecht, deren Tragweite sich gar nicht absehen läßt; Sie eröffnen damit ein Verfahren, das der Reichstag nicht scharf genug zurückweisen kann. Denn mit demselben Recht wie die geistliche Obrigkeit kann jeder Polizeiverwalter, jeder Kreisdirektor auf den naheliegenden Gedanken kom­ men: was ist aus meinen Zetteln geworden? Die Leute haben sich verpflichtet, richtig zu stimmen. Werden sie nun hinterher zur Rede gestellt, so möchte ich darauf wetten, es gelingt nicht blos der geistlichen Obrigkeit, es gelingt auch der weltlichen Obrigkeit: die Leute werden zu Hunderten erklären: wir haben richtig gestimmt, das Wahlverfah­ ren ist gefälscht. Dieser Vorwurf der Fälschung wird hier gegen einen Wahlvorstand erhoben, der, so wie man sieht, ein ganz respektabler Vorstand ist, und der nun so leichthin, blos weil die Leute sich herausreden wollen, der Fälschung beschuldigt wird. Nein, m. H., das sind keine Gegenstände für eine Verwaltungsunter­ suchung. Es kommt noch dazu die sehr bedenkliche Frage, sollen wir die Verwaltungs­ behörde auffordern, überhaupt nach der Person zu fragen, für welche gestimmt ist. Die Majorität will deshalb einen Vorbehalt machen: es soll die Untersuchung „vorbehalt­ lich des Stimmgeheimnisses" geschehen. Aber, m. H., wie ist das möglich? Eines unserer Mitglieder accentuirte immer: wenn die Leute freiwillig sagen wollen, für wen sie gestimmt haben, — warum nicht? Die Frage selbst aber bringt die Leute in Verlegenheit; denn wenn sie gefragt werden und sie wollen darauf nicht antworten, so machen sie sich suspekt, nicht vorschriftsmäßig gestimmt zu haben. Man gewinnt damit das einfache Mittel, Jeden indirekt zu nöthigen, hinterher den Namen anzu­ geben, für den er gestimmt hat. Diese Art von Ex-post-ÄontroIe müssen wir von dem Verwaltungswege wie von uns selbst abhalten. Diese Fragen gehören nur vor die Gerichte. Aus solcher Art von Ex-po8t-Agitation muß Ernst gemacht werden durch ein gerichtliches Verfahren. Der Pfarrer Tschirner mag mit seinem Protokoll an den Staatsanwalt gehen: — entweder ist die Angabe begründet, so möge man

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das Strafverfahren wegen Fälschung einleiten; oder sie ist unbegründet, so muß man den Angeber wegen falscher Denunciation zur Verantwortung ziehen. Nicht die Verwaltungsbehörden sollen entscheiden, ob und wieweit ein Wähler verpflichtet ist, Zeugniß abzulegen, für wen er gestimmt hat, sondern die Gerichte. Wir glauben, daß jeder außergerichtliche Schritt zur Verfolgung solcher Anzeigen die Wahlfreiheit gefährdet und eine allgemeine Nachkontrole herbeiführt, und darum bitten wir dringend, diesen ersten Schritt nicht zu thun und diesen Schlußantrag ab­ zulehnen. Zch hatte den Antrag gestellt, diese Protokolle Nr. 14 bis 16 durch das Reichskanzler-Amt an die Staatsanwaltschaft abzugeben; aber ich glaube, es wird dessen nicht bedürfen. Unsere Verhandlungen werden öffentlich geführt, die Staatsregierung hat Kenntniß von den Vorgängen, und alle Betheiligten haben die Befugniß, sich an den Staatsanwalt zu wenden mit der Behauptung, daß die Stimmenabgabe gefälscht ist. Abg. von Lenthe: In unserem Wahlgesetz ist ausdrücklich ausgesprochen, daß die Wahlhandlung sowie die Ermittelung des Wahlergebnisses öffentlich sein soll; in dieser Oeffentlichkeit liegt die Kontrole derartiger Handlungen, wie sie indirekt dem Wahlvorstande imputirt werden. Es sind nun in den Beschwerden durchaus keine be­ sonderen Thatsachen behauptet, die dem Vorstande zur Last fielen; ich glaube, das hätte geschehen müssen; es hätten diejenigen, die Beschwerde führen, sagen müssen, wir ha­ ben die Kontrole geübt, es ist etwas vorgefallen, was nicht hätte geschehen sollen. Zch trete dem Herrn Professor Gneist vollständig bei, daß diese Vorgänge, die hier vor­ gekommen sind, mir nicht geeignet scheinen, eine Untersuchung einzuleiten; ich glaube aber weiter, daß auch von den Gerichten eine solche Untersuchung nicht zu veranlassen sei, denn, wie der Herr Professor Gneist selbst uns darlegte, so erklärt sich die Be­ hauptung der Leute, die hier gefragt sind, aus der Furcht vor ihrem Pfarrer. Ich denke deshalb, daß die Sache nicht dazu angethan ist, weitere Ermittelungen zu ver­ anlassen. Zch trete dem Herrn Referenten darin vollkommen bei, daß man unter keinen Umständen die Leute, die ihre Stimmen abgegeben haben, veranlassen kann, Zeugniß darüber abzugeben, wie sie gestimmt haben. Das würde eine entschiedene Verletzung des Wahlgeheimnisses sein, welches zur Sicherung des Stimmrechtes nothwendig ist. Der Abtheilungsantrag wird angenommen.

VIII. Zn der 12. Sitzung vom 5. April 1871 wird die Wahl des Pfarrers Ober­ mayer von Feichten (im 7. oberbayerischen Wahlbezirke Rosenheim) beanstandet.

Berichterstatter Abg. Dr. Buhl: Die 5. Abtheilung hat mich beauftragt, dem hohen Hause über die Wahl im 7. oberbayerischen Wahlbezirk, Rosenheim, zu referiren. — Es liegen von zwei Seiten Proteste gegen diese Wahl vor, von der Partei des Gewählten und von der unterlegenen Partei. Diese Proteste haben für die Wahl selbst Bedeutung, da der Gewählte, Herr Pfarrer Obermayer von Feichten, nur eine Majorität von 222 Stimmen hat; er erhielt 7647 Stimmen, sein Gegenkandidat 7183, und 19 Stimmen waren zersplittert. Die Proteste von der Partei des Gewählten beziehen sich aus die Wahl in zwei Bezirken und lauten in ihren wesentlichsten Punk­ ten, wie folgt. Erstens der von Hirnsberg: „Es wurde gegen die Wahl gefehlt 1) dadurch, daß von einem Wähler auch für seine zwei nicht anwesenden Knechte die Stimmzettel ab­ gegeben wurden; 2) daß Nachmittags das Wahllokal wenigstens 172 Stunden lang bis auf ein Mitglied des Wahlausschusses leer gelassen wurde; 3) daß bei der Zu­ sammenzählung der Stimmen sich nur 16 Stimmen für Fr. H. Obermayer ergaben, während doch von Mehreren Stimmzettel auf diesen Namen lautend abgegeben wurden. — Wir, die wir dies gethan, bezeugen dies durch eigenhändige Unterschriften." Diese Unterschriften sind 24. Aus diesem Grunde beantragt Hirnsberg, der hohe Reichstag wolle den Wahlakt von Hirnsberg kassiren. Der zweite Protest von den Anhängern des Gewählten kommt aus Sachrang. Hier sind die Beschwerdepunkte folgende: „1) war das Wahllokal (Schulzimmer) einen großen Theil der Wahlzeit verschlossen, indem der Wahlausschuß in das Gasthaus ging.

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2) Die Schlüssel zum Wahllokal hatte das Ausschußmitglied, der Gemeindeschreiber Lehrer Eberle, welcher öfters allein das Gasthaus verließ. Daß derselbe die Wahl­ urne durchmusterte, geht aus einer Aeußerung hervor, die er Nachmittags gemacht: „Wählt nur den Pachmayer, Obermayer hat bis jetzt nur 12 Stimmen." 3) Die Wähler mußten zuerst in das Gasthaus und dort zuwarten, bis dem Lehrer Eberle gefiel, dieselben zur Wahlurne zu führen. Die Wähler wurden hierbei nicht allein von Eberle und Anderen bearbeitet, den Pachmayer zu wählen, sondern Lehrer Eberle nahm dem Andreas Pfeffinger seinen Wahlzettel, öffnete denselben und warf ihn zer­ rissen zu dessen Füßen hin. sHier möchte ich bemerken, daß Pfeffinger doch abgestimmt hat.^ 4) Als Wahlliste diente die von den Zollparlamentswahlen. Deswegen waren viele neue Hausbesitzer und Ledige nicht eingetragen. Hatte nun der Wähler den Ober­ mayer, so durfte er, weil nicht eingetragen, auch nicht wählen. Hatte er den Pach­ mayer, oder war der Wähler bereit, für Obermayer den Pachmayer zu nehmen, so wurde er eingeschrieben und konnte wählen. Mit Pachmayer konnte man sogar wäh­ len, wenn Einer nicht eingeschrieben und auch das 25ste Zahr lange noch nicht erreicht hatte. — Da dieses Verfahren im Wahlbezirk Sachrang den gesetzlichen Bestimmungen über die Reichstagswahlen schnurstracks entgegen ist, so erlauben sich hiermit die ge­ horsamst Unterzeichneten gegen diese Wahl zu protestiren und an das k. k. Präsidium des Reichstags in Berlin die Bitte zu stellen: dasselbe wolle die Reichstagswahl im Wahlbezirk Sachrang kassiren." Zu dieser Aufzählung habe ich zu bemerken, daß die Behauptung sub 4 nach den Akten selbst widerlegt ist. Gegenüber diesen Beanstandungen von der Partei des Gewählten liegen nun weitere Beanstandungen vor von der unterlegenen Partei. Der eine Protest, datirt Rosenheim, trägt 10 Unterschriften und ist gegen die ganze Wahlhandlung gerichtet. Zn seinen Hauptpunkten lautet er: „3) Ein weiterer Grund der Anfechtbarkeit und Nichtigkeit mehrerer Wahlen im Wahlkreise Rosenheim liegt in folgenden Verstößen gegen § 13 des Wahlreglements: a. In Hözelwang hat der Herr Pfarrer Riemer von dort, ohne Mitglied des Wahlausschusses zu sein, sich im Wahllokale aufgehalten und hat dort seinen Einfluß als Seelsorger und Vorstand der Armenpflege den Wählern gegenüber durch Diskussionen und Ansprachen in ungebührlicher Weise geltend gemacht und dadurch die Freiheit der Wahl beschränkt, b. Ebenso hat der Pfarrer in Endorf und sein Koadjutor, ohne Mitglieder des Wahlausschusses zu sein, während der ganzen Dauer der Wahl im Wahllokale zu Endorf die Wähler öffentlich zur Wahl des Pfar­ rers Obermayer aufgefordert und vor der Wahl des Gegenkandidaten gewarnt, also ihre Pfarrkinder in der Freiheit ihrer Wahl beschränkt. Namentlich kann angeführt werden, daß der Wirth Rechl in Mauerkirchen, welchen wir als Zeugen zu vernehmen bitten, von dem Koadjutor in Endorf im Wahllokale öffentlich gefragt wurde, wen er wähle, c. Gleiche Beeinflussung und Beschränkung der Wahl hat in Wilden­ wart stattgefunden, indem dort ein Carmelitermönch aus dem Kloster in Reisach, ohne Mitglied des Ausschusses zu sein, sich fortwährend im Wahllokal aufhielt und An­ sprachen, sowie Aufforderungen an die Wähler zur Wahl des Pfarrers Obermayer machte. Namentlich hat dieser Mönch dem Wirthe Elstermann von Wildenwart, als dieser einen Wahlzettel für Pachmayer verlangte, im Wahllokale zugeredet, nicht den Pachmayer, sondern den Obermayer zu wählen. Wirth Elstermann wird als Zeuge dieses Vorkommniß eidlich erhärten, d. Im Wahllokale zu Riedering hat der geistliche Rath und Pfarrer Herr Wurm von dort, ohne Mitglied des Ausschusses zu sein, nachdem der Wahlausschuß bereits verpflichtet war, eine Rede gehalten und for­ derte die Anwesenden auf, von ihm Stimmzettel, worauf Pfarrer Obermayer von Feich­ ten gedruckt war, in Empfang zu nehmen und Pachmayer nicht zu wählen. Derselbe wurde zwar von dem Protokollführer in seiner Rede unterbrochen, hatte aber den Ein­ fluß seiner Stellung bereits mißbraucht und die Zuhörer eingeschüchtert. Außerdem hielt er sich fortwährend im Wahllokale auf und wollte für den Kandidaten Pachmayer Peichstags-Nepertorium. I.

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keinen Stimmzettel abgeben lasten. Als der Holzhändler Beer von Riedering an den Tisch des Wahlvorstandes trat, rief ein Vorstandsmitglied: „Jetzt kommt gar wieder ein Pachmayer!" — Der Bruder des Beer, welcher im Ausschüsse saß, redete dem Letzteren zu, den Obermayer, wie alle Anderen gethan, zu wählen. Beer zog sich zu­ rück mit der Aeußerung, er müsse sich erst besinnen, wurde aber im Wahllokale selbst von Herrn Pfarrer Wurm am Arme gefaßt und ihm bedeutet, daß er den Obermayer wählen müsse, worauf Beer sich entfernte, weil er nicht wählen dürfte, wie er wollte. Holzhändler Beer, Lehrer Streitberger und Wirth Höfter werden als Zeugen über diese Vorgänge benannt. Ueberdies schlagen wir über alle unter a bis d erzählten That­ sachen auch noch sämmtliche Mitglieder der betreffenden Wahlausschüsse als Zeugen vor. — 4) Ein noch gröberer Verstoß gegen das Gesetz ist in Höhenmoos gemacht worden, indem dort der Kooperator von Rohrdorf für sich allein, ehe noch der Wahl­ vorstand versammelt und verhandgelübdet war, schon nach 9 Uhr die meisten Wahl­ zettel in Empfang genommen hat. Der Wahlvorsteher kam erst kurz vor 11 Uhr in das Wahllokal zu Höhenmoos, und bei seiner Ankunft waren die meisten Stimmzettel von dem Kooperator bereits in die Wahlurne gelegt, ohne daß bis dahin ein Wahlausschuß konstituirt und verpflichtet war, und der später zusammengetretene Ausschuß, der ver­ muthlich gar nicht verhandgelübdet worden ist, hat sich die ungesetzliche und anmaßende Handlung des Kooperators gefallen lassen. Als Zeugen hierüber werden die Mitglie­ der des Wahlausschusses und namentlich der Schullehrer von Höhenmoos benannt. — 5) Mit welchen Mitteln namentlich die Priester die Wähler und die Wahl auch im Wahllokale beeinflußten, mag daraus hervorgehen, daß beispielshalber der Pfarrer in Sachrang auf der Kanzel gepredigt hat: Zeder, der den Pachmayer wähle, begehe eine Todsünde, — (H.! h.!) — welche der Wähler zu Ostern beichten müsse, von welcher er aber von ihm, Pfarrer, nicht absolvirt werde." Es folgt nun unter dem Protest eine Zusammenstellung der Stimmen, die nicht ganz richtig ist, da auch formelle Bedenken zu sehr in den Vordergrund gestellt werden. Das Schlußpetitum lautet: Wir wagen deshalb die ehrfurchtsvollste Bitte zu stellen: die Wahl des Herrn Pfarrers Obermayer als Abgeordneten in den deutschen Reichstag für den Bezirk Rosenheim als ungültig zu kassiren und eine Neuwahl, even­ tuell eine engere Wahl anzuordnen. M. H., beruhen diese Behauptungen sämmtlich auf Wahrheit, so wäre das Re­ sultat für die Wahl selbst das folgende. Der Pfarrer Obermayer hat erhalten 7647 Stimmen, davon ab die Stimmen der fünf Bezirke Hözelwang, Endorf, Wildenwart, Höhenmoos mit 542, bleiben 7105 Stimmen. Ueberhaupt abgegeben wurden 14,839, davon ab die Stimmen der 5 beanstandeten Orte 624, bleiben 14215 Stimmen; dazu eventuell die in Höhenmoos nicht abgegebenen 25 Stimmen (da die Wahl zu spät be­ gonnen), ergiebt 14,240. Absolute Majorität ist jetzt 7121, die also nicht mehr erreicht wird. Es läßt sich noch nicht kontastiren, ob auch in den anderen Bezirken nicht ab­ gegebene Stimmen zuzurechnen wären, wozu der Umstand drängen würde, daß der Holz­ händler Beer in Riedering sich nach Angabe der Anzeige von der Ausübung seines Wahlrechts abhalten ließ. — Wir haben jetzt den Protest gegen die Wahlen von Sachrang und Hirnsberg in Rechnung zu ziehen. Herr Obermayer verliert 36 Stim­ men und hat jetzt 1069 Stimmen. Von der Zahl der überhaupt abgegebenen Stimmen sind 143 abzurechnen und 5 zuzuzählen, da so viele Wähler in Sachrang, wo das Wahllokal während 1 ]/2 Stunden geschlossen gewesen sein soll, nicht gestimmt haben. Die abgegebenen Stimmen sind jetzt 14,102, die absolute Majorität ist 7052, sie wird von Herrn Obermayer um 17 Stimmen überschritten. Da jedoch die Richtigkeit der Einsprachen von der einen Seite nicht involvirt, da ferner aus den vorliegenden Akten nicht konstatirt werden kann, ob nicht auch in anderen Wahlbezirken die Stimmen der Wähler, die sich der Wahl enthalten haben, in Rechnung gezogen werden müssen, so beantragt die Abtheilung: das hohe Haus möge die Wahl des siebenten oberbayerischen Wahlkreises Rosenheim beanstanden, damit durch den Herrn Bundeskanzler bei der königlich

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bayerischen Regierung die nöthigen Recherchen über die Richtigkeit der einge­ laufenen Proteste eingezogen werden. Dieser Antrag wird mit großer Majorität angenommen. IX. In der 16. Sitzung vom 17. April 1871 wird die Wahl beSDr. Schüttinger (in dem 5. Wahlkreise von Oberfranken sBambergj) für ungültig erkärt.

Es liegt ein gedruckter Bericht der Abtheilung vor. Berichterstatter Abg. Freiherr von Unruhe-Bomst: Es sind gegen diese Wahl drei Proteste eingegangen. Zunächst ein Protest aus Bamberg, unterzeichnet von mehreren Bürgern aus Bamberg. Er enthält Anfangs allgemeine Behauptungen. Sie sagen: „Wir wollen absehen von dem Mißbrauch der Religion, womit man von Seite der Anhänger des Herrn Dr. Schüttinger im Allgemeinen agitirt hat; — absehen davon, daß man in Wort und Schrift, auf der Kanzel und vor den Wahllokalen allenthalben absichtlich die Verfassung und gesetzliche Aufgabe des Reichstages den Wählern fälschte, indem man den katholischen Glauben als im Reichstage gefährdet hinstelllte; — absehen davon, daß der liberale Kandidat, Dr. Schmitt überall unwah­ rer Weise als „Protestant" ausgegeben wurde, der die Katholiken im Reichstage „lutherisch" mache; — auch absehen davon, daß von den Kanzeln herab und vor Wahl­ lokalen den Wählern vorgepredigt wurde: „im Reichstage solle durch die Liberalen die Civilehe eingeführt werden, wodurch Zeder seine Frau fortjagen und alljährlich sich eine andere Frau nehmen könne, ferner daß das Sakrament der Ehe von den Liberalen im Reichstage aufgehoben werden wolle;" — von allen diesen unwahren Verdächtigungen, Vorspiegelungen und dieser Gewissensbeängstigung der Wahlfreiheit wollen wir absehen und nut zunächst folgende Nichtigkeiten einzelner Wahlen hervorheben." „In Höfen trat der Wahlausschuß erst um 1 Uhr Mittags zusammen; von 10—1 Uhr waren nur Wirth Albert und der Lehrer von Höfen anwesend, um den Wahlausschuß zu repräsentiren, und auch diese beiden blieben nicht kontinuirlich bei­ sammen. Wähler, die von 10—1 Uhr kamen, konnten ihre Stimmzettel nicht abgeben, oder mußten sie beim Wirth hinterlegen, der dann später einen Theil der Zettel in die Urne abgab." Der Wahlvorsteher ist vernommen und hat zugegeben, daß er die Wahl auf Wunsch der Gemeinde, weil sie den Gottesdienst an dem Tage, der ein Diöcesanfeiertag ist, nämlich der Kunigundentag, in Bamberg besuchen wollte, die Wahlverhandlung erst um 1 Uhr begonnen habe. Es ist festgestellt, daß in der Zwischenzeit von 10—1 Uhr zwei Wähler von auswärtigen Gemeinden erschienen sind, sich darüber unwillig geäußert haben, daß kein Wahlvorstand vorhanden sei, und schließlich ihre Zettel an den Lehrer abgegeben haben, mit der Weisung, sie später abzugeben; daß der Lehrer das auch gethan hat, und daß die Zettel, in die Urne gelegt, mitgerechnet worden sind. Es ist in dieser Beziehung in der Abtheilung zur Sprache gekommen, ob man die zwei Zettel, die nicht vor legal zusammengesetztem Wahlvorstande abgegeben waren, nicht für ungültig erklären müßte, und ob man eine weitere Berechnung anstellen müsse, nämlich die, daß die 18 Wähler, die nach der Liste nicht gestimmt haben, möglicher­ weise durch die Beschränkung in der Zeit abgehalten worden sind zu stimmen, und daß man also, da nach der bisherigen Praxis in solchen Fällen immer der ungünstigste Fall angenommen worden ist, auch annimmt, daß diese 18 Wähler, wenn sie gestimmt hätten, ihre Stimme dem Gegenkandidaten gegeben hätten. Die Majorität der Abthei­ lung hat sich dafür entschieden und angenommen, daß zunächst die zwei nicht vor legal zusammengesetztem Wahlvorstande abgegebenen Stimmzettel für ungültig erklärt werden müssen, und daß demnächst 18 Stimmen der Gesammtzahl und dem Gegenkandidaten zugerechnet werden müssen. Zn dem Protest wird weiter angefühtt: „In den Wahlbezirken Schönbrunn, Zettmannsdorf, Birkbach, Vora und Frensdorf wurde den Wählern vom Wahllokale aus bedeutet: „sie dürften

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nur Dr. Schüttinger wählen." — Der Wahlvorstand Wiesneth von Vora insbe­ sondere soll eine Ansprache an die Wähler gehalten haben: „er wähle Dr. Schüttinger, und sie Alle müßten Dr. Schüttinger auch wählen," worauf die Wähler von Birkbach, die liberal wählen wollten, sich der Wahl enthielten in dem Glauben, ihre Zettel wür­ den nicht angenommen." Die Aussagen der Zeugen, die sehr ausführlich vernommen worden sind, und unter denen sich auch ein Gendarmeriebrigadier befindet, der sehr genau die Vorgänge bei der ganzen Wahl schildert, haben diese Behauptung nicht bestätigt, im Gegentheil wird versichert, von allen Zeugen, die vernommen worden sind, wird bekundet, daß in dem Wahllokale selbst keinerlei ungesetzliche Diskussionen stattgefunden haben. Es wird ausdrücklich versichert, daß nirgend der Wahlvorsteher sich erlaubt habe, eine Ansprache an die Wähler zu richten, wen sie zu wählen hätten. Es wird sogar hinzugefügt, daß vor dem Wahllokale in einem eigenen Raum Zettel zu haben gewesen wären für beide Kandidaten, für den Dr. Schüttinger und Dr. Schmitt, daß man also vollständig nach seinen eigenen Wünschen hätte wählen können, welchen Zettel man nehmen wollte; es wird nur hinzugesetzt: der Gemeindediener des einen Bezirks, der auch beschuldigt wird, daß er sich ungesetzliche Wahlbeeinflussungen erlaubt habe, habe geäußert: die Wahl­ zettel für Schüttinger schienen besseren Abgang zu haben, und man möchte diese nehmen. Es kommt nun der Wahlbezirk Trunstadt-Viereth. Der Protest sagt: „dort nahm der Wahlvorstand noch während des Wahlaktes viele Wähler in die Wahlliste auf, um eine große Mehrheit für Dr. Schüttinger zu erzielen." Zn Bezug auf Trunstadt ist noch ein weiterer Protest eingegangen von dem Bürgermeister des zu Trunstadt hinzugezogenen Ortes Viereth, welcher sagt: „Von Pflichtgefühl durchdrungen, sieht der gehorsamst Unterzeichnete sich genöthigt, folgendes anzuzeigen: Schon am 2. c. Nachts wurden in Trunstadt und hier Wahl­ zettel mit dem Namen des Herrn Dr. Schüttinger von Haus zu Haus kolportirt und den Leuten aufgedrungen. Sogar Herr Kaplan Knetzger hat solche Zettel zur Nacht­ zeit in Trunstadt herumgetragen. Sogleich beim Beginn der Wahl hatte Herr Pfarrer Schrauder fast sämmtliche Wähler vor der Eingangsthür zum Schulhause um sich herum­ stehen, wobei seine Gehilfen mit größter Thätigkeit benannte Zettel vertheilten. Herr Kaplan Knetzger war während des ganzen Tages im Schulzimmer, meistens in der nächsten Nähe des Wahltisches, und kontrolirte, daß nichts Unheiliges in die Wahlurne komme, und hat sogar seinen Abend-Gottesdienst dahier nicht abgehalten. Zn seiner Predigt am 26. Februar c. hat er seine Zuhörer ernstlichst ermahnt, nur patriotisch zu wählen, indem durch die Liberalen die Religion geschwächt werde. — Der Wahlvor­ stand Farmbach hatte als Beisitzer zur Wahl bestimmt: Martin Löhr, Peter Wirth, Zohann Hofmann und Daniel Ziegler, sämmtlich von Trunstadt, von denen der erste zu den Geringstbesteuerten gehört, die übrigen drei ganz besitzlos und steuerfrei sind. Dann hatte der Protokollführer, Herr Schullehrer Förtsch, auch einen Assistenten, Ernst Wohlpart, welcher, allen hohen Anordnungen zuwider, das Hauptexemplar der Wähler­ liste vor sich hatte und die Wahlstimmen auch darin verzeichnete. Während der Wahl­ handlung wurden in die Wählerliste für Trunstadt neue Wähler eingetragen, viele Vornamen abgeändert und das Alter sehr vieler Wähler erst nachgetragen. Diese Liste hatte die vielfältig vorgeschriebene Vollständigkeit nicht." Was nun die Agitation der beiden Herren Geistlichen betrifft, die hier namhaft gemacht werden, so ist die Abtheilung der Ansicht gewesen, daß sie sich über die Gren­ zen einer gesetzlich erlaubten Agitation nicht hinausbewegt haben, wenigstens so weit man nach dem Proteste schließen kann. Dagegen ist auf das genaueste geprüft wor­ den, wie es sich mit der Wahlliste von Trunstadt verhalte. Bereits der GesammtWahlvorstand hat bei der Zusammenstellung des Resultats der Wahlen, obgleich ihm damals nur das Protokoll und die Wählerliste vorlag, und er also von den Zeugen­ aussagen und dem Proteste noch keine Kenntniß hatte, in dem Protokolle gesagt: es scheint die Wählerliste von Trunstadt nicht in Ordnung zu sein, es scheint die Wähler-

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liste erst nach oder während der Wahl durch Einlage eines neuen und zwar des letzten Bogens ergänzt und erweitert worden zu sein. Der erste Abschluß, Trunstadt, den 2. Februar 1871, entbehrt der Unterschrift des Bürgermeisters, worauf ein Nachtrag folgt, bei dem sich die Bemerkung vorfindet, daß die betreffenden Wahlberechtigten über­ gangen und nachträglich eingetragen worden sind, ohne daß des Datums der Eintra­ gung Erwähnung geschieht, und wobei jede Beglaubigung mangelt. Zch erlaube mir nun zu bemerken, daß bei den Listen drei verschiedene Daten in Betracht kommen, zunächst der 2. Februar, das ist der Tag, an dem die Wählerlisten dort in allen Be­ zirken zum Abschluß gebracht worden sind, demnächst der 25. Februar, das ist der Tag, an welchem die Reklamationsfrist abgeschlossen war und an welchem die Bekanntmachung in den verschiedenen zu dem Wahlbezirk gehörigen Gemeinden erfolgt sein mußte, dahin gehend, wer Wahlvorsteher sei, welches Wahllokal gewählt sei, und überhaupt, bis zu welcher Zeit die Wahl vor sich gehen müsse. Endlich kommt in Betracht der 3. März, der Tag der Wahl. Die Liste von Trunstadt ist nun zwar nicht legal abgeschlossen, aber es finden sich 134 Wähler darin verzeichnet, dann kommt eine Unterschrift: „Trunstadt, den 2. Februar 1871, der Bürgermeister" ohne Namen, dann kommt am Rande: „NB. Wurden aus Versehen übergangen und nachträglich eingetragen" 7 Wähler, die sämmtlich gestimmt haben; es finden sich in der betreffenden Rubrik die Kreuze, und darunter die „amtliche Bescheinigung, daß das gegenwärtige Exemplar mit dem Hauptexemplar der Wählerliste völlig übereinstimmt, Trunstadt, den 2. Fe­ bruar," — also das ursprüngliche Datum des Abschlusses der Liste — „Farmbach, Bürgermeister." Darunter steht: „Abgeschlossen" und die amtliche Bescheinigung: „daß die vorliegende Wählerliste nach vorgängiger ortsüblicher Bekanntmachung vom 3. bis 11. dieses Monats zu Jedermanns Einsicht ausgelegen hat," u. s. w. Nach den Zeugenaussagen, — und es sind vernommen eben der Bürgermeister von Viereth, der den Protest erhoben hat, dann ferner ein Beisitzer, zwei Leute, die ihre Stimmen abgegeben haben, und der Gemeindeschreiber und Schullehrer. Der Ge­ meindeschreiber und Schullehrer Förtsch hat nach seiner eigenen Aussage die Liste selbst gefertigt; er sagt bei seiner Vernehmung: „Wie ich nicht anders weiß," — die Liste hat ihm natürlich bei der Vernehmung nicht mehr vorgelegen — „war die Liste ab­ geschloffen, und zwar mit dem Datum vom 25. Februar e." — Das ist nicht richtig; sie hat das Datum vom 2. Februar c. Nach der Eröffnung der Wahl erschienen nun — sagt er — „sieben verschiedene Leute, die sich darüber sehr beschwerten, daß sie nicht ausgenommen seien. Obgleich man ihnen klar machte, daß sie hätten reklamiren müssen und, da sie nicht reklamirt hätten zur rechten Zeit, nun nicht mehr berechtigt wären zu stimmen, so hat man doch, um den Lärm zu vermeiden und die Leute zu beruhigen, ihre Namen in die Liste ein­ getragen, und ihre sieben Zettel angenommen. Die Zettel sind aber nicht in die Urne gelegt worden, sondern unter die Urne, sind später eröffnet worden, und von diesen sieben haben sechs für Dr. Schüttinger und einer für Dr. Schmitt gestimmt. Die Zettel sind auch noch besonders aufgehoben und befinden sich in dem Gemeinde-Regi­ straturschrank zu Trunstadt." Von den anderen Zeugen wird bestätigt, daß die sieben Wähler nachträglich auf­ getreten sind; es kommt immer die Zahl sieben vor. Es wird behauptet, daß einige Vornamen abgeändert seien, und da wird namentlich ein Oekonom Schmitt aus dem Orte Weiher genannt, der dem Bezirk Trunstadt bei der Wahl zugeschlagen war, und endlich wird von dem Bürgermeister von Viereth der Kaplan Knetzger als einer der­ jenigen genannt, die in der Liste gefehlt hätten und nachträglich eingetragen seien. Nun findet sich unter den sieben, die nachträglich eingetragen sind, wirklich der Kaplan Knetzger, ein Oekonom Schmitt aber nicht. Dagegen befindet sich der Oekonom Schmitt aus Weiher, welches ein ganz kleiner Ort zu sein scheint — denn es sind nur wenig Namen dabei —, unter den 134 Wählern, die vor dem Abschlüsse stehen. In den Vornamen ist aber nichts geändert. Es befinden sich zwar bei zwei oder drei Namen kleine Nachtragungen von Vornamen, bei diesem aber gerade nicht. Auf der letzten

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Seite der Liste, und zwar auf dem Umschlagbogen, sind die beiden Rubriken, die der Umschlagbogen noch hat, nämlich „Wohnort und Hausnummer" und „Abstimmung", ausgefüllt mit dem Ortsnamen Trunstadt oder Weiher, und dann befindet sich das Zeichen der Stimmabgabe dabei, und diese Eintragungen sind durchgestrichen, und zwar erst quer und dann mit einem Kreuz darüber, und nun geht diese nachträgliche Beschei­ nigung vom 2. Februar, die ich vorhin erwähnte, über diese Eintragung hinüber. Die Mehrheit der Abtheilung war also bei ihrer ersten Debatte der Ueberzeugung, daß diese Liste, wie sie hier vorliegt, offenbar nachträglich gefälscht worden sei. Ich bemerke, daß 199 Stimmen abgegeben sind und daß, wenn man nach der Wahlliste die Stimmen aufrechnet, die sieben, die nachträglich gestimmt haben, bei den 199 mit­ gezählt sind; denn ohne die sieben würden nur 192 gestimmt haben. Die Minderheit der Abtheilung war der Ansicht, daß die Fälschung noch nicht definitiv erwiesen sei, daß man nicht so ohne Weiteres annehmen könne, daß die Liste gefälscht sei, und selbst wenn man annehmen wollte, daß sie verändert sei, so würde man doch noch zunächst feststellen müssen, in welcher Weise und wie es gekommen, daß diese Aenderung vor­ genommen sei. Die Majorität der Abtheilung war der Ansicht, daß die Wählerliste ein nothwendiges Requisit der Prüfung der Wahlen für den Reichstag ist, und daß, wenn ein solches Essentiale, wie die Mehrheit eben annimmt, nachträglich verändert und gefälscht ist, dem Reichstage die Möglichkeit genommen ist, die Wahl ordentlich zu prüfen und so zu prüfen, wie er die Pflicht hat. Die Mehrheit nahm demnach an, daß man diese ganze Wahl als eine ungültige ansehen müsse, und daß die Stimmen, die in dem Bezirke Trunstadt abgegeben sind, sowohl von der Gesammtzahl als respektive von den Summen der Kandidaten, für die sie abgegeben sind, abzurechnen sind. Nach­ dem dieser Beschluß gefaßt und der Bericht gedruckt war, ist eine Eingabe von dem Wahlvorstande an die Abtheilung gelangt. Dieses Schreiben lautet wie folgt: „Sn Folge verbreiteten Gerüchts, als seien bei der in Trunstadt abgehaltenen Wahl züm deutschen Reichstage ungesetzliche Wahlbeeinflussungen vorgekommen, findet sich der unterzeichnete Wahlvorsteher veranlaßt, auf Pflicht und Gewissen zu bestätigen und durch den gesummten Wahlausschuß mit bestätigen zu lassen, daß im Wahllokale zu Trunstadt die größte Ordnung stattfand und jede gesetzliche Bestimmung genau ein­ gehalten wurde. Es lagen die gefertigten Wählerlisten die gesetzliche Zeit auf und konnten zu jeder Stunde während der öffentlichen Auflage Einsprüche vorgebracht werden, und wurde auch eine Erklärung durch Herm Kaplan Knetzger vorgebracht und dessen Name (aber vor der Wahl) nachgetragen. — Am Wahltage selbst kamen noch 6 Wähler, welche nicht in der Wahlliste eingetragen waren; deren Wahlzettel wurden zwar in Empfang genommen und ihre Namen nachträglich in die Liste eingetragen, jedoch ihre Stimmzettel nicht in die Urne, sondern unter dieselbe gelegt. — Von diesen 6 Wählern, welche in der Liste nicht eingetragen waren und deren Namen nicht nachgetragen wurden, damit der Wahlakt ungestört vor sich ging, ergab sich bei Oeffnung derselben, daß fünf Herrn Dr. Schüttinger und einer Herrn Dr. Schmitt hatten wählen wollen. — Es wurde durch diese gerechte und gesetzliche Handlungsweise also Herr Dr. Schüttinger um fünf Stimmen und Herr Dr. Schmitt um eine Stimme geschmälert. Die sehr überwiegende Stimmenzahl erhielt ohnedies Herr Dr. Schüttinger, und muß jede An­ klage gegen die in Trunstadt abgehaltene Reichstagswahl als eine boshafte Denunciation bezeichnet werden. — Dies unterzeichnen auf Pflicht und Gewissen" — nun folgen die Namensunterschriften. Die Abtheilung ist durch diese Schrift erst recht überzeugt worden, daß wirklich eine Fälschung vorliege. Diejenigen Mitglieder der Mehrheit, welche vorher noch viel­ leicht zweifelhaft waren, haben nun die feste Ueberzeugung, daß die Liste wirklich ver­ ändert worden ist. (Folgt Motivirung.) Es kommt nun der letzte Punkt in Bezug auf Oberhaid. Der Protest sagt: Bezüglich der Wahl in Oberhaid und des ungesetzlichen Auftretens des Herrn Pfarrers Keck verweisen wir auf den von dem Bürgermeister Herrn Fösel bereits eingebrachten Protest."

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Dieser Protest befindet sich bei der Wahlliste von Oberhaid und lautet: „Zm Nachgange zu den Akten der unter dem 3. d. M. dahier vollzogenen Wahl zum deut­ schem Reichstage bringt der gehorsamst Unterzeichnete dem königlichen Wahlkommissar des Wahlkreises Bamberg pflichtschuldigst zur Anzeige, daß der Pfarrer und Distrikts-SchulinspEktor Herr Keck von Oberhaid vor dem Beginne des Wahlaktes sowie auch im ersten Begjinne desselben auf die ungeeignetste Weise die Freiheit der Wahl durch Ueberredung, sowHe auch durch gewaltiges Aufdringen von Stimmzetteln und Verdächtigung des gehorslamst unterzeichneten Wahlvorstehers beeinträchtigte. Alle Vorstellungen und Ein­ wendungen waren nutzlos, ja, reizten den Herrn Pfarrer zu Ausfällen aller Art gegen die Unterzeichner des vom Bürgerverein von Bamberg ausgegangenen Wahlaufrufes, so daß der Unterzeichnete zur Vermeidung skandalöser Auftritte gegen seine Person, sowie aller weiteren Excesse und ferneren Versuche sich aus der Versammlung entfer­ nen mußte. — Deswegen sieht sich Unterzeichneter verpflichtet, -gegen diese Wahl Pro­ test zu erheben mit der geziemenden Bitte: der königliche Wahlkommissar möge diese Angelegenheit der Prüfung unterstellen wollen." Zn Bezug auf diese Vorgänge hat nun der Pfarrer von Oberhaid, Keck, selbst eine Eingabe zu den Akten gegeben und sind von dem Bezirksamt auch hier viele Zeugen vernommen. Die Abtheilung hat aber namentlich das Schreiben des Herrn Pfarrers angezogen und auf Grund der eigenen Angaben des Herrn Pfarrers eben den Beschluß gefaßt, den ich Ihnen bereits Anfangs genannt habe. Das Schreiben lautet: „Der königliche Pfarrer Keck in Oberhaid an das königliche Bezirksamt, Bam­ berg II. Auf Aufforderung des königlichen Bezirksamts Bamberg II. vom 12./14. l. M., beehrt man sich zu erklären, daß jeder Punkt der betreffenden Beschuldigung Unwahrheit, zum Theil Lüge und Verleumdung enthält.. Zur Rechtfertigung erlaubt man sich Folgendes. Der Unterzeichnete ist grundsätzlich gegen jede Wahlagitation; das beweisen die früheren Wahlen zum Landtage, wo er seine Schulprüfung auswärts abhielt, ohne sich um die Wahl zu kümmern, aber fast einstimmig abwesend zum Wahl­ mann von mehreren Gemeinden gewühlt wurde. Ebenso äußerte sich derselbe wieder­ holt, daß er bei den bevorstehenden Wahlen sich passiv verhalten werde. Durch Ge­ meindeglieder jedoch in Kenntniß gesetzt, wie Alles aufgeboten werde, um für einen Herrn Dr. Schmitt die hiesigen Einwohner zu bearbeiten, und wie Flur- und Wald­ schütze, Tagwächter und Postbote und sonstige nicht zur hiesigen Gemeinde gehörige Per­ sonen agitirten, hielt es der Unterzeichnete für seine Pflicht, in geeigneter Weise seiner Gemeinde den vom sogenannten patriotischen Wahlkomits vorgeschlagenen Kandidaten zu empfehlen. Er wollte dies nicht für sich thun, benahm sich deswegen mit dem hiesigen Bürgermeister Fösel und Gastwirth Wagner, als Beigeordneten, ob sie bereits einen Kandidaten zu Vorschläge hätten. Wagner erklärte, ihm sei es ganz gleiche­ re. Schmitt sei aber ein ganz gesetzter Mann. Fösel erklärte, er müsse morgen in das Bezirksamt, dort erfahre er, was zu thun sei." — fZch bemerke hier einschaltend, daß, wie sich aus den Akten ergiebt, das Bezirksamt an einem Tage die sämmtlichen Wahl­ vorsteher vorgeladen hatte, um mit ihnen die Formalien durchzugehen und sie gehörig zu informiren, was bei der Wahl zu beobachten wäre, daß aber bei dieser Versamm­ lung, wie dies ausdrücklich zu den Akten konstatirt ist, von weiter nichts als von For­ malien die Rede gewesen ist. Der Bürgermeister ist also vielleicht der Meinung ge­ wesen, es könnte ihm von dem Bezirksamte gesagt werden, wen er wohl wählen solle, wenn er im Sinne der Regierung wählen wolle. ] „Ich ersuchte, man möge Gelegenheit am Vorabend der Wahl geben, um die Gemeindeglieder aufzuklären und nicht blind zur Wahl zu führen. Einem der Beiden erklärte ich, daß ich auf eigene Faust handeln werde, wenn man es nicht vorziehe, ge­ meinschaftlich sich zu berathen. — Es war dies zwei Tage vor der Wahl. Da ich nichts erfuhr, hielt ich am Wahltage meinen Gottesdienst um acht Uhr wie am voraus­ gehenden Sonntag verkündet, mit Predigt und Amt. Nach der Predigt und dem Gebete für Se. Majestät ersuchte ich im Konservationston — (H.) — von der Kanzel aus, die Gemeindeglieder bei der Wichtigkeit des Tages für unser Bayerland und das

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gesammte neu geschaffene Deutschland sich vor der Knabenschule zu versammeln, dort werde ich meinen Vertrauensmann in Vorschlag bringen, hoffend, daß man mir mit Vertrauen entgegenkommt, da ich mir das Zeugniß geben kann, während meines neun­ jährigen Aufenthalts in der Gemeinde dieser nur guten Rath gegeben zu haben — (H.) — mit der Bemerkung, ich hätte nicht gesprochen, wenn ich nicht von Einem oder dem Andern Vorwürfe fürchten müßte. An dem bezeichneten Platze um halb zehn Uhr angekommen, verwies sofort Fösel in leidenschaftlichster Weise mir den Eintritt Wahllokal, um dort zu sprechen. — sDie Knabenschule war nämlich das Wahllokal. ] — Ich hatte nichts weiter vor, als den Wahlaufruf vom sogenannten patriotischen Konnte vorzulesen, den ich zu diesem Zwecke schon geöffnet in der Hand hielt. Er­ staunt und entrüstet über ein solches Benehmen erklärte ich, daß ich nicht in das Wahllokal eintreten wollte, da ich ausdrücklich gesagt: „vor dem Schulhause"; Fösel behauptete wiederholt, ich hätte gesagt „in die Knabenschule". Die ganze Gemeinde bezeichnete sofort seine Behauptung als unwahr. Hierauf schrie er, ich hätte schon in der Kirche ihn verdächtigt, da ich gesprochen, ich hätte der Gemeinde immer guten Rath gegeben, das käme heraus, als hätte er der Gemeinde schlechte Rathschläge ge­ geben. — (H.) — Welche Logik! da auch nicht im Geringsten ein Beisatz folgte, woraus man dies schließen konnte. Da kann man sich einen Begriff machen von dem Bildungsgrade und den Fassungskräften eines Mannes, der die Vorstandschast bei einer so hochwichtigen Sache führte; ich werde kaum mehr staunen, wenn er auch noch behauptete, ich hätte Gift und Dolch angewendet zur Durchführung meines Vor­ schlages. Zch empfahl meinen Kandidaten unter Angabe der Gründe, ohne irgend eine Person oder ein Wahlkomite nur zu nennen, wie viel weniger zu verdächtigen; dabei bemerkte ich wiederholt, daß sie wählen könnten, wie sie wollten, forderte bejt Vorsteher auf, auch zu sprechen und seinen etwaigen Kandidaten zu empfehlen. Er that es nicht, wohl aber, wie unten bemerkt, im Wahllokale, während dies von mir im Freien, vor aller Welt frei und offen, wie ich zu handeln gewohnt bin, nicht hinter­ listig und auf Schleichwegen geschah. — Was das gewaltsame Aufdringen von Wahl­ zetteln vor der Wahl betrifft, gab ich am Tage vor der Wahl einem Manne etwa 25 Zettel mit dem Bedeuten, er möge dieselben an solche abgeben, die Herrn Dr. Schüttinger zu 'wählen gesonnen; dann kam ein zweiter Mann zu mir ins Haus ohne Auf­ forderung, dieser erhielt etwa dreißig, und ein Dritter einen Zettel. Die übrigen — zweihundert im Ganzen — wurden beim öffentlichen Vorschläge des Kandidaten von mir ohne die geringste Aufforderung begehrt. Ich vertheilte einige sechs bis zehn, die übrigen gab ich einem Zunächststehenden zur Verkeilung und entfernte mich. Beim Beginn des Wahlaktes war ich nicht mehr im Besitze eines einzigen Zettels. Darin nun besteht das gewaltthätige Ausdrängen von Wahlzetteln vor und nach Beginn der Wahl. — Zm Wahllokal sprach ich nicht eine Silbe, obgleich ich das gesetzwidrige Ver­ fahren des Vorstehers sah und hörte. Er hielt eine Ansprache, hatte einen Pack Schmitt'sche Zettel in der Hand, pries dieselben an und bezeichnete den Ort, wohin er sie zur Verwendung lege, — die Wahlurne vor sich. — Zch war der Erste, der seinen Wahlzettel abgab, dann entfernte ich mich sofort und kümmerte mich weder um das Wahllokal und die Wahl selbst, noch um irgend einen Wählenden. Um 1 Uhr hielt ich den Abend-Gottesdienst, nach demselben begab ich mich mit einem Ortsnach­ barn in den Wald, um gekauftes Holz anzusehen, und kam vor Schluß der Wahlzeit nicht ins Dorf zurück. — Wer anders sagt, den muß ich, da mir die Sache zu dick kommt, einen Verläumder und Schurken nennen. — (H.) — Das schönste Zeugniß für mein geeignetes Benehmen und Handeln ist das Wahlresultat selbst — 23 zu 125. Vorsteher Fösel verurtheilte sich selbst durch sein Auftreten und gewiß auch die Sache seiner Partei. Diese ist ihm keinen Dank schuldig; ja ich habe zu viel Achtung vor der s. g. liberalen Partei, als daß diese nicht mit Abscheu das Gebühren dieser Männer verurtheilen würde; denn sie würde sonst das schöne Wort „liberal" nur zum Aus­ hängeschild machen, in der That auf die schnödeste Weise an den Pranger stellen. — Man ersucht das königliche Bezirksamt, mit allen zu Gebote stehenden Mitteln diese

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unerquickliche Sache zu untersuchen und dem Unterzeichneten die gebührende Satisfaetion zu gewähren, da er auf die niedrigste Weise verdächtigt und verleumdet wurde." Nach den Zeugenaussagen hat sich die Sache so verhalten, wie der Herr Pfarrer angiebt: er hat von der Kanzel herab bekannt gemacht, daß er vor der Knabenschule seinen Vertrauensmann nennen werde, und man möge sich dort versammeln. Dort ist ihm der Bürgermeister in der Meinung, er wolle in die Schule gehen, entgegengetreten, es hat ein heftiger Streit und Kampf sich entsponnen, man hat dem Bürgermeister mit Fäusten gedroht, und er hat sich in Folge dessen zurückgezogen. Seine Tochter ist dazu gekommen, hat ihn gerettet, — (H.) — der Pfarrer hat sich gegen die Nase­ weisheit seiner Tochter ausgesprochen, und der Vorsteher ist in seine Wohnung zurück­ gegangen, ist aber, wie ich ausdrücklich bemerke, wie er selbst bei seiner Vernehmung zugiebt, vor 10 Uhr, also vor der gesetzlichen Zeit des Beginnes des Wahlaktes, in das Wahllokal gegangen und hat dort also zur rechten Zeit die Wahl eröffnet, während er in seinem Proteste es so erscheinen ließ, als ob er von dem Pfarrer verdrängt war. Er hat die Wahl eröffnet, der Pfarrer ist der Erste gewesen, der seinen Zettel ab­ gegeben hat, die Wahl ist ganz regelmäßig vor sich gegangen, die Zeugen bekunden nichts von einer Ansprache des Bürgermeisters im Wahllokal, vielmehr soll Alles gesetz­ mäßig vor sich gegangen sein. Zu den Akten des Bezirksamts hat der Pfarrer nachträglich ein Schreiben gerichtet, welches er bittet mit seinem Schreiben, das er ursprünglich eingereicht habe, abzugeben: „Der königliche Pfarrer Keck, in Oberhaid, das königliche Bezirksamt Bamberg II. — Der Unterzeichnete erlaubt sich nachträglich die Bemerkung, daß er bei Abweisung des Vorwurfes, als hätte er nach Beginn des Wahlaktes dahier irgend eine unbefugte Handlungsweise begangen, eine etwas derbe Ausdrucksweise deswegen gebraucht, um dem königlichen Bezirksamte die gänzliche Grundlosigkeit der falschen Beschuldigung darzustellen, da man glaubte, bei einfacher Erklärung diese kolossale, aus der Luft ge­ griffene Beschuldigung nicht entkräften zu können. Zugleich erklärt man, daß eine ehr­ erbietigste EÄlärung von der Grundlosigkeit der ganzen Beschuldigung bereits unter dem 12. h. der hohen königlichen Regierung abgegeben wurde." Die Mehrheit der Abtheilung ist nun der Ansicht gewesen, daß das Auftreten des Pfarrers vor der Knabenschule zwar eine sehr lebhafte Agitation bekunde, daß aber diese Agitation dem Pfarrer ebenso gut wie einem Privatmann gestattet sei, und es ihm überlassen werden müsse, wie weit er sich in den Grenzen bewegt habe, in welchen er sich als Geistlicher zu bewegen habe. Dagegen ist aber die Mehrheit der Abtheilung der Ansicht gewesen, daß die Kanzel und der Altar von jeder Agitation in politischer Beziehung freigehalten werden müsse. Die Mehrheit der Abtheilung hat namentlich hervorgehoben, daß die Kirche und namentlich die Kanzel und der Altar, ebenso wie die Religionsdiener, wenn sie in ihrem Berufe thätig sind, wenn sie also als Geistliche auf der Kanzel oder am Altar stehen, eines besonderen Schutzes der Strafgesetze genießen, daß deshalb auch ein Miß­ brauch, der an diesen Orten und von diesen Personen ausgeübt werde, den strengsten Tadel verdiene und der, wenn er in ein Gebiet Übergriffe, auf welchem der Reichstag mitzusprechen habe, auch von dem Reichstag auf das Kräftigste getadelt werden müsse, und der Reichstag könne den Tadel nicht kräftiger aussprechen, als wenn er eine Wahl, in welcher sich ein solcher Mißbrauch geltend gemacht, kassire. Die Minderheit der Abtheilung ist der Ansicht gewesen, daß das Verfahren des Geistlichen durchaus nicht gegen die Strafgesetze, nicht gegen die Wahlgesetze, nicht gegen das Wahlreglement verstoße, daß er sich cülerdings einer sehr lebhaften Agitation befleißigt habe, und daß man an sich wohl eine solche Agitation mißbilligen könne, daß man aber trotz dieser Mißbilligung nicht dahin gelangen könne, die Wahl als durch diese Agitation zu einer unfreien gemacht anzusehen und deshalb die Wahl zu kassiren. Die Mehrheit der Abtheilung ist auch bei einer späteren Debatte bei ihrer Ansicht stehen geblieben. Der Herr Pfarrer Keck hat, nachdem der Bericht bereits gedruckt vorlag, nochmals

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eine Eingabe an den Reichstag selbst gerichtet; die Eingabe geht aus zunächst von einigen Personen, die vor dem Pfarrer eine Erklärung abgegeben haben, und er schließt sich dann an. Aus ihr geht hervor, daß der Herr Pfarrer noch jetzt der Ansicht ist, man habe die Ungültigkeit der Wahl hauptsächlich wegen seiner Thätigkeit vor dem Wahl­ lokal beantragt, während auch die Mehrzahl der Abtheilung der Ansicht gewesen ist, daß diese Thätigkeit in keiner Weise die Ungültigkeit hätte herbeiführen können. Die Mehrheit der Abtheilung hat also geglaubt, auf dieses Schriftstück gar keine Rücksicht nehmen zu müssen. Sie ist bei der nochmaligen Debatte bei ihrer frühern Ansicht stehen geblieben; sie hält hauptsächlich das für tadelnswerth und zu rügen, daß der Pfarrer von der Kanzel die Gemeinde ausgefordert hat, sich vor der Schule zu ver­ sammeln, und daß er dort ihr seinen Vertrauensmann nennen werde und daß er von ihr erwarte, da er ihnen immer nur guten Rath ertheilt habe, daß sie ihm Folge leisten würden. Diese Aeußerung von der Kanzel ercklärt die Mehrheit der Abtheilung für einen Mißbrauch, und eben um dieses Mißbrauchs willen, der hinübergreift auf das Gebiet der Politik, glaubte die Mehrheit der Abtheilung, daß die Wahl in dem Be­ zirke Oberhaid keine freie gewesen ist, und daß man also mindestens zu der Kassirung der Wahl in dem Bezirke Oberhaid kommen müsse. Die Minderheit der Abtheilung ist in diesem letzten Zusammensein wieder bei ihrer Ansicht stehen geblieben, sie hält die Agitation des Geistlichen nicht für eine ungesetzliche. Wenn man Oberhaid für gültig erklärt und alles Uebrige für ungültig, dann sind 13,625 gültige Stimmen, absolute Majorität 6813, Dr. Schüttinger erhält 6834, mithin 22 über die Hälfte oder 21 über die absolute Majorität. Es kommt mithin nur auf die Wahl in Oberhaid an. Es sprechen mehrere Redner für die Gültigkeit der Wahl, dagegen für ihre Un­ gültigkeit Abg. Dr. Wehrenpfennig, welcher im Verlaufe seiner Rede erklärt: M. H., wir wollen Alle im Wahlkampfe Gleichheit des Rechts, eine jede Partei kann Vereine gründen, eine jede Partei Preßorgane halten, eine jede kann gegen die andere Proklamationen erlassen, sie mögen auch straffälligen Inhalts sein. Zch bin er­ staunt darüber, weshalb der Herr Vorredner die Proklamation z. B. für den Herrn Abg. Schraps für sich angeführt hat, — solche Proklamationen kann jede Partei machen, das ist keine Ungleichheit des Kampfes; wenn sie aber die Kräfte ins Feuer führen, die von Natur eine andere Autorität haben als diejenigen Kräfte, über die alle Parteien gebieten, und die von den Orten aus agiren lassen, die dem menschlichen Gemüthe heilig sind, also von Kanzel und Altar, dann heben Sie die Gleichheit des Rechts auf, und dann kommt für uns der Fall in Frage, daß wir uns wehren müssen gegen solche Aufhebung der Rechtsgleichheit. M. H., irgend ein geistvoller Mann hat einmal gesagt, die verständigen Leute in Deutschland seien sehr verständig, aber die Dummheit in Deutschland sei auch sehr dumm. Ich will keine Anwendung machen von diesem Satze auf irgend einen be­ stimmten Wahlkreis; — (H.) — aber im Allgemeinen, m. H., werden auch Sie mir zugeben, daß es eine Dummheit ist, die sehr dumm ist, wenn irgend ein Mensch an­ nimmt, ob er stimme für diesen oder jenen Kandidaten, das könne einen Einfluß haben auf das Heil seiner Seele, das könne ihn in den Himmel oder in die Hölle bringen. Aber obwohl das ja einen großen Grad religiöser Unwissenheit beweist, so ist es leider Thatsache, daß es Tausende und Hunderttausende giebt, die so glauben; und wenn nun auf einem solchen Boden ein Geistlicher auftritt, diese Unwissenheit mißbraucht und, wie das ja durch so viele Wahlproteste durchgeht, damit droht die Absolution zu Ostern zu verweigern — (W. im C.) — oder den Gläubigen andere Sorgen macht, die schließlich immer mit Fegefeuer oder Hölle endigen, so sage ich, das sind Waffen, gegen die wir nicht ankämpfen können, und deshalb müssen wir Sorge tragen, daß diese Waffen stumpf gemacht werden. Ueberall, wo nachgewiesen ist, daß der Geistliche nicht blos als Privatperson — denn das können wir ihm nicht wehren — durch seinen allgemeinen sittlichen und religiösen Einfluß auf die Gemeinde gewirkt hat, sondern daß er von der Kanzel aus gewirkt hat, und hätte er auch nur seinen Vertrauens-

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mann angezeigt, überall wo wir nachweisen können, daß die Majorität für den Ge­ wählten nur so groß war, daß jener Akt auf die Majorität hat wirken können, müssen wir gegen die Wahl auftreten. Thun wir das nicht, m. H., dann werden wir in Zu­ stände kommen, die jedenfalls dem Ideal der Freiheit, welches Sie (C.) uns prophezeit haben, nicht entspricht, wir werden dann in Zustände kommen, die für einen großen Theil von Deutschland den französischen entsprechen; denn ob irgend ein Präfett und Maire oder ob ein stilles klerikales Konnte dem Wahlkreise seine Kandidaten vorschreibt, ob dieses Konnte, wie es doch in Frankreich wenigstens immer der Fall war, in dem Vaterlande selber sitzt, oder ob es vielleicht schließlich gar außerhalb des Vaterlandes seinen Sitz hat, das kommt, wenn es sich um die Freiheit der Wahl handelt, doch nicht in Betracht. Wollen wir es nicht dahin bringen, daß für ein Drittel von Deutschland die Freiheit der Wahl aufhört, dann müssen wir uns gegen diese Prin­ zipien stemmen, und hier liegt ein Fall solcher Prinzipien vor. Sie (C.) haben vor einiger Zeit geäußert, die Freiheit der größten Korporation der Welt begründe alle übrigen Freiheiten, ohne sie ständen alle Freiheiten auf thönernen Füßen. Wenn aber die Agitatoren jener größten Korporation uns das französische Wahlbevormundungs­ System nach Deutschland importireü, dann wird nicht die Freiheit, sondern die Knecht­ schaft des deutschen Volkes die Folge sein. Für die Ungültigkeit spricht ferner Abg. Kraußoldt, der mit den Worten schließt: M. H., ich kann nicht anders, als ich muß sagen, das hohe Haus wird gut daran thun, ohne aus besondere juristische Gesetze zu reflektiren, aus dem Totaleindruck eines solchen agi­ tatorischen Verfahrens heraus, das an höchst ungeeigneter Stelle geschehen ist, und bei welchem diejenigen, welche dort einen Widerspruch dagegen hatten erheben wollen, bestraft worden wären, von diesem Standpunkte aus diese Wahl einfach zu kassiren. — Sie, m. H. (zu der Centrumspartei), haben gesagt, Sie seien hierher gewählt worden, um die Interessen der katholischen Kirche zu vertreten: ich glaube Sie vertreten die Interessen der katholischen Kirche würdig, wenn Sie selbst einem solchen Mißbrauch auf das Kräftigste entgegentreten. (Br.!) Abg. Fischer (Augsburg): Es scheint mir die Entscheidung der vorliegenden Frage bedingt zu sein durch die Auffassung, welche man sich aneignet in Bezug auf die Berechtigung des Klerus, kirchliche Handlungen und kirchliche Versammlungs­ lokale zur Verfolgung politischer Zwecke zu benutzen. . Ich bin so sehr wie irgend Jemand in diesem hohen Hause geneigt, jedem Kleriker das gleiche volle Maß der staatsbürgerlichen Rechte einzuräumen, daß Zeder von uns in Anspruch nimmt. Ich habe auch nie beklagt und werde es nie beklagen, wenn die Kleriker, von den ober­ sten bis zu den untersten Branchen des Klerus, an der politischen Agitation sich be­ theiligen mit ber Lebendigkeit, welche ihnen passend zu sein dünkt. Ich habe nichts dagegen zu erinnern, wenn der Klerus in der Presse, wenn der Klerus in Volks­ versammlungen seine politischen Anschauungen zur Geltung zu bringen sucht. Aber, m. H., ich glaube nicht, daß die von dem geehrten Mitglieds für Aichach auf­ gestellte Forderung der Gleichberechtigung es mit sich bringt, dem Klerus die Befugniß eimäumen zu müssen, daß er an dem Orte und zu der Zeit, wo er eine privilegirte Stellung einnimmt, von der privilegirten Pflicht sich vollständig entbinden dürfe, welche nothwendig mit der privilegirten Stellung korrespondiren muß. M-. H., so lange Sie die an kirchlichen Versammlungsorten in Ausübung ihrer kirchlichen Funktionen befind­ lichen Personen durch das Gesetz in weit höherem Maße, als es einem Privatmanne oder einem Privathause zu Theil wird, schützen — gegen den leisesten Widerspruch sogar —, so lange, behaupte ich, hat die Kirche und haben die Diener der Kirche die Verpflichtung, in der Ausübung ihres Amtes und an dem Orte, der dem Gottesdienste bestimmt ist/ auch sich darauf zu beschränken, nur das zu thun, was dort ihres Amtes ist. M. H., wenn der Geistliche in der Kirche auf der Kanzel politische Angelegenheiten behandelt, so hat er nicht nur nicht zu befürchten, daß Jemand ihm sofort gegenüber tretz und die ausgesprochene Meinung berichtige, sondern er hat sogar die gesetzliche Gewißheit, daß Zeder, der nur den Versuch machen wollte, ihm an diesem Orte auf

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jenes Gebiet zu folgen, sofort vor den Strafrichter gezogen wird. — (H.!) — Das ist ein wichtiges Privilegium, dessen sich die Kirche und der Klerus erfreut, und die Kirche und der Klerus sollten nicht vergessen, daß das Privilegium, welches ihnen der Staat gewährt hat, wenigstens die Anerkennung verdiene, daß man es nicht mißbraucht, — (s. w.!) — und um einen Mißbrauch dieses Privilegiums handelt es sich nach meiner Ueberzeugung, wenn man in Wahlangelegenheiten so verfährt, wie es der Pfarrer Keck in Oberhaid im Wahlkreise Bamberg gethan hat. Es ist allerdings von dem geehrten Mitglieds für Aichach gesagt worden, der Pfarrer Keck von Oberhaid habe sich darauf beschränkt, am Schlüsse der Predigt — aber immerhin, bemerke ich, doch noch auf der Kgnzel und in der Kirche — am Schlüsse der Predigt „im Konver­ sationstone" den Leuten zu sagen: „Jetzt versammeln wir uns auf dem Platze vor dem Schulhause, dort werde ich Euch mittheilen, wer nach meiner Ansicht der richtige Kandidat für die bevorstehende Reichstagswahl ist." Es scheint wirklich, daß der Pfarrer Keck in Oberhaid im Vergleich zu vielen anderen seiner Standesgenossen sich einer ganz lobenswerthen Kürze bei seiner Agitation auf der Kanzel beflissen hat; andere reden länger; aber, m. H., es kommt nach meiner Ansicht darauf, wie lange er auf der Kanzel über diese Angelegenheit gesprochen hat, gar nicht an; die Thatsache allein, daß er an dem Ort, an dem er über Politik nicht zu sprechen hatte, davon gesprochen hat, genügt mir. Wenn der Pfarrer Keck von Oberhaid einen Reichstags-Kandidaten seinen Gemeindegenossen anempfehlen will, dann soll er in eine Wählerversammlung gehen; er mag sie abhalten, wo er will, nur nicht in der Kirche. (Ruf rechts: Das hat er ja auch nicht gethan!) — Ich möchte überhaupt die Herren, welche geneigt sind, der­ artige Uebergriffe mit der Hinweisung auf die Gleichberechtigung Aller zu vertreten, darauf aufmerksam machen, wie gefährlich die Konsequenzen sind, die aus einer solchen Hinweisung entstehen müßten. Gleichberechtigt, m. H., mit jedem Anderen im Staate wird der Klerus dann, wenn er die vorher angedeuteten Privilegien, deren er sich erfreut, aufgiebt, und wenn man ganz einfach die Bestimmungen des gemeinen Rechts über Vereine und Versammlungen anwendet auch auf die kirchlichen Versamm­ lungen. M. H., wenn Sie das thun, wenn Sie Jedem, der an einer solchen Ver­ sammlung — es ist das dann eine Volksversammlung in der Kirche — theilnimmt, das Recht einräumen, dem Herrn Pfarrer, der von der Kanzel herab seine Meinung verkündet, sofort zu widersprechen, wenn Sie den Staat auf Gmnd des Vereinsgesetzes in die Lage bringen, durch seine Polizeikommissäre sich in dieser Versammlung vertreten zu lassen und die Versammlung zu schließen, sobald der Herr Pfarrer etwas über die Schnur hinausgeht, (U. im C.) — dann, m. H., haben Sie den Standpunkt des ge­ meinen Rechts und der Gleichberechtigung gewahrt. Es hat einmal in der bayerischen Kammer einer jener Herren (zur Centrumspartei) die Unvorsichtigkeit begangen, die Erklärung abzugeben, daß er für die katholische Kirche blos das Recht verlange, wie es nach dem Vereinsgesetze jeder politischen Partei im Lande eingeräumt sei. M. H., auf dieser Grundlage wäre ich jeden Augenblick bereit, mit Ihnen einen Vergleich zu schließen. (H.) — Richtig ist, was von einigen Herrn Vorrednern betont wurde, daß man nicht mit mathematischer Gewißheit nachweisen kann, welchen Einfluß die Agitation, die der Pfarrer Keck auf der Kanzel sich erlaubte, auf die Abstimmung übte. Das, m. H., kann ich nicht behaupten, daß die Aeußerungen des Pfarrers 10 oder 20 oder 30 Personen bestimmt haben, ihr Votum so oder so abzugeben; allein, m. H., glauben Sie wirklich, daß man deshalb annehmen darf, es sei eine solche Agitation an solchem Orte ohne Einfluß? und, m. H., haben Sie die Absicht, einen derartigen Mißbrauch für alle Zukunft zu sanktioniren? Wenn wir allerdings straf­ gesetzliche Bestimmungen hätten, wie. sie in den Strafgesetzen anderer Staaten bestehen, strafgesetzliche Bestimmungen, welche sagen: jeder Diener der Kirche, der bei Ausübung seiner kirchlichen Funktionen oder an einem kirchlichen Versammlungsorte über politische Angelegenheiten spricht, wird so und so bestraft, — so würde sich die Sache vielleicht etwas einfacher machen. Aber, m. H., derartige Bestimmungen haben wir nicht; ich frage nun, sollen wir deshalb, weil eine Bestrafung nicht stattfinden kann, ruhig

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zusshen, wie durch derartige Benutzung eines Einflusses, der auf ungeeignete Weise gelttend gemacht wird, geradezu die moralische Unmöglichkeit für Viele herbeigeführt wirk, (oho! im C.) — nach freiem Ermessen und nach bester Ueberzeugung zu stimmen? M. H., ich beurtheile die Leute ganz genau so wie sie sind; und diejenigen Herren hiev: in diesem Saale, die in derselben Gegend wohnen, in der ich wohne, werden mir bestätigen — diejenigen, die meiner politischen Ansicht sind, werden es laut bestätigen, diejenigen, die nicht meiner Ansicht sind, werden es sich wenigstens stillschweigend sagen , daß der Einfluß, der durch solche Agitationen des Klerus geübt wird, ein ganz außer­ ordentlich großer ist, obwohl man ihn nicht ziffermäßig nachweisen kann. Uebrigens, m. H., glauben Sie ja nicht, daß der Fall, wie er heute erörtert wird, ein vereinzelt stehender ist! Ich sage das hauptsächlich auch aus dem Grunde, um nicht den Herrn Pfarrer Keck, den ich übrigens nicht kenne, als einen vorzugsweisen Bösewicht erscheinen zu Lassen. Der Herr Pfarrer Keck hat, im Grunde genommen, nichts Anderes gethan, als was die meisten seiner Standesgenossen gethan haben; (Z.) — der Herr Pfarrer Keck hat nur das Unglück, daß es sich hier um eine Wahl handelt, in der die Majorität eine so geringe ist, daß die Wahrscheinlichkeit, daß nur durch seine Agitation die Majorität für den Gewählten erreicht wurde, nahezu zu einer Gewißheit hinaufgeschraubt wird. (W. u. Z.) — M. H., wenn Sie betrachten, wie andere Geistliche über der­ artige Dinge auf der Kanzel sprechen, so erscheint sogar der Herr Pfarrer Keck noch als ein relativ maßvoller und anständiger Mann, (Z. im C.; Ruf: Das ist er auch!) — der von der Möglichkeit zu agitiren nur einen sehr gemäßigten Gebrauch macht, (Rrrf: sehr! im C.) — ja sehr mäßigen Gebrauch macht, aber immerhin Mißbrauch getrieben hat mit seiner amtlichen Stellung als Geistlicher, Mißbrauch getrieben hat mit der Kanzel. Nehmen Sie z. B. einen Landsmann des Herrn Pfarrers Keck, den Pfaner Mahr von Ebermannstadt, der hat auch über die Reichstagswahl gepredigt und am 26. Februar in Ebermannstadt mit Rücksicht auf die acht Tage darauf stattfindende Reichstagswahl unter anderm gesagt: „Wählet nur nicht diesen liberal-preußisch gesinnten Hohenlohe. Zch verwerfe die Wahl des Hohenlohe." (H.) — Das sprach Mahr auf der Kanzel; es war eine Predigt, eine Sonntagspredigt. Er fuhr dann bei der Ver­ kündigung des Wortes Gottes fort: „Ich verwerfe die Wahl des Hohenlohe, selbst wenn ich wieder in Untersuchung komme wie schon einmal. Hohenlohe ist nicht der Mann, welcher dem Bismarck entgegentritt, — (H.) — sondern Alles gutheißt, — (gr. H.) — was dieser thut. Selbst wenn der Graf Bismarck sagt, daß im nächsten Zahre gleich wieder ein Krieg angefangen werden soll, wird sich Hohenlohe beugen und sagen: dagegen kann man nichts thun. (H.) — Wenn die Beamten sowohl hier als auswärts diesen Hohenlohe wählen und für ihn werben, so laßt Euch nicht irre machen, denn diese Beamten werden mit preußischen Thalern ausbezahlt, — (H.) — ohne sich aber daran zu kehren, wenn auch die Steuern erhöht werden; sie wollen alle Tage noch mehr. Zch habe den Ministern schon in der Kammer die Wahrheit ganz gehörig gesagt, ohne daß Einer den Muth hatte, mir entgegenzutreten, weil ich eben die Wahr­ heit sagte, und darum höret mich und wählet einstimmig nicht den Hohenlohe, sondern den Herrn von Horneck, denn nur dieser ist der Mann, welcher die Religion und das Volk im. Auge hat." (Gr. H.) Das ist nur ein Theil der Predigt, ich kann sie natürlich nicht ganz verlesen. Nun, m. H., wenn man derartige Dinge täglich miterlebt, wenn man sich in der Lage befindet, die Wirkung dieses Mißbrauches zu verspüren, dann beurtheilt man derartiges Vorgehen viel strenger. Zch betrachte nicht diese einzelne hier vorliegende Wahl, und ich betrachte nicht blos das, was der Pfarrer Keck gethan hat, sondern — ich bin ganz offen und sage es ehrlich — es handelt sich darum, endlich einmal diesem Mißbrauche, der mit der Religion getrieben wird, ein Ziel zu setzen. (Lebh. Br. l.) Es ist ein Mißbrauch, der getrieben wird, (n.! n.! r.) und wir dürfen diesen Mißbrauch nicht dulden. Eines, m. H., werden Sie mir zugeben: wenn auch gesagt wurde, es sei im Wahlgesetze nirgends mit ausdrücklichen Worten bestimmt, daß die Kanzel zu politischen Agitationen und zur Empfehlung von Wahlkandidaten nicht benutzt werden dürfe, —

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so werden Sie mir doch zugeben, daß diese Benutzung der Kanzel zweifellos im Wider­ sprüche steht mit dem Geiste eines jeden Wahlgesetzes, welches haben will, daß der Einzelne nach freier Ueberzeugung wählt; und deshalb sage ich: es ist durch das Vor­ gehen in dem gegebenen Fall der Geist des Wahlgesetzes verletzt worden. Es ist nach der Natur der Sache, nach dem Geiste des Gesetzes und durch die politische Nothwen­ digkeit uns die Pflicht auferlegt, das einzige uns zu Gebote stehende Mittel zu ge­ brauchen, und das Mittel ist das, daß wir eine Wahl als ungültig erklären, bezüglich deren wir nach sorgfältiger Erwägung aller Umstände die moralische Ueberzeugung ge­ wonnen haben, — (W. r. u. im C.) — wir urtheilen hier als Geschworene — daß das Wahlresultat nur erzielt worden sei durch einen Einfluß, der geeignet war, die Freiheit der Abstimmung zu beeinträchtigen. (W.) Diese Ueberzeugung habe ich in diesem Falle gewonnen, diese Ueberzeugung haben Viele mit mir gewonnen, und ich weiß mein Gewissen salvirt, wenn ich nach dem Anträge der Abtheilung mein Votum dahin abgebe, diese Wahl sei als ungültig zu erklären. Zch bitte Sie, m. H., stim­ men Sie in diesem Sinne, Sie werden damit der Freiheit der Wahl, Sie werden damit dem inneren Frieden in Deutschland einen großen Dienst erweisen. (Lebh. Br. l.) Der Schluß der Debatte wird angenommen. Präsident: M. H., wir werden allein über den Antrag des Abg. Schels abzustimmen haben, die in Rede stehende Wahl als gültig vollzogen anzuerkennen. Der Antrag desselben geht dahin: der Reichstag wolle die Wahl des Dr. Schüttinger im königlich bayerischen Wahlkreise von Oberfranken (Bamberg) für gültig erklären. Der Antrag.wird abgelehnt und damit die Wahl für ungültig erklärt.

X. In der 16. Sitzung vom 17. April 1871 wird ferner die Wahl des Landes­ hauptmanns Gras Pückler (9. Breslauer Wahlbezirk) für ungültig erklärt. Berichterstatter Abg. Freiherr von Loe: M. H., es handelt sich um die Wahl des 9. Breslauer Wahlbezirks, woselbst der Landeshauptmann Graf Pückler gewählt worden ist. Die Zahl der gültig abgegebenen Stimmen betrug 12,037, mithin die absolute Majorität 6019. Der Landeshauptmann von Schlesien, Graf Pückler, erhält 6695 Stimmen, mithin 676 Stimmen über die absolute Majorität. Zu Bedenken nach dem Protokoll des Wahlkommissars hat die Wahl keine Ver­ anlassung gegeben. Nachträglich ist hingegen ein Protest gegen diese Wahl eingegan­ gen und zwar rechtzeitig. Der Protest gründet sich auf den Einwand der Wahlbeein­ flussung seitens des Landraths. Diese Wahlbeeinflussung wird aus einer Proklamation des Landraths hergeleitet, in welcher er behauptet, er könne zu einem Passus, welcher sich in dem Wahlaufrufe der Gegenpartei befindet, als Landrath nicht schweigen, weil der Passus in diesem Ausruf der Gegenpartei nicht mehr Agitation, sondern Aufrei­ zung der Arbeiter gegen die Arbeitgeber sei. Zch erlaube mir zuerst diese Proklama­ tion des Landraths, welche in dem Kreisblatte erschienen ist, vorzulesen: „Schweidnitz, den 1. März. In einem der vielen von der sogenannten libera­ len Partei aus Striegau erlassenen Wahlaufrufe heißt es wörtlich: — sdas Folgende ist nämlich der von dem Landrath angegriffene Passusj — Ob die Wahlen wichtig sind? Gewiß! Gebt mal Acht! Wenige Tage vor dem Wahltage wird Euer Gutsherr oder Arbeitgeber, Euer Vorgesetzter im Amte, Euer Brotherr oder Wohlthäter Eure Nähe suchen, — seid Ihr in einem öffentlichen Lokale, möglichst unbemerkt Euch bei Seite winken, oder, seid Zhr bei ihm auf der Stube, wird er Euch äußerst freundlich zu sich auf den Stuhl nöthigen — früher ließ er Euch wohl gar an der Thür stehen — und wird Euch einen weißen Zettel, bedruckt oder beschrieben mit einem Namen, geben und sagen: na, mein lieber Müller oder Schulze, ich hoffe und erwarte. Sie werden — sonst spricht er: Zhr werdet — wohl diesen Zettel am Wahltage in die Wahlurne legen. Und lest Zhr nun den Zettel, so steht entweder der Name Eures Land- oder irgend eines anderen Raths darauf, oder der vom Herrn Pfarrer oder der von irgend einer anderen unbekannten, oft sehr hohen, oft sehr unbedeutenden Person." Dies ist also der Passus, welcher sich in dem Wahlaufruf der Gegenpartei be-

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fand. Darauf sagt der Landrath: „Das ist ein Passus, zu dem ich als Landrath nicht schweigen darf; das ist nicht mehr Agitation, das ist Aufreizung der Arbeiter gegen die Arbeitgeber und gegen die Obrigkeit. Ob ein Mann, der sich durch solchen Aufruf den Wählern empfehlen will, zu den liberalen gehört, mag Zeder selbst beur­ theilen; ich nenne ihn einfach einen Sozialdemokraten. Und was die Sozialdemokra­ ten anstreben, das haben wir an den fern und nah von ihnen angezettelten Arbeiter­ bewegungen erfahren, die auch mit dem Ruin der Arbeiter enden. Dem gegenüber halte ich es als Landrath des Kreises für meine Pflicht, den Wählern zuzurufen: Seid auf Eurer Hut und wählt den Bürgermeister Raute nicht. Der königliche Landrath von Zedlitz." Auf diese Proklamation des Landraths gründet sich der Protest, der von einer Anzahl von Wählern unterzeichnet ist. M. H., die Abtheilung hat beschlossen, trotzdem die Wahl für gültig zu erklären, aber den Herrn Bundeskanzler durch den Reichstag ersuchen zu lassen, dem Landrath eine Rüge zu ertheilen. M. H., eine Wahlbeeinflussung kann nach der Ansicht der Majorität der Abtheilung eine Wahl nur dann ungültig machen, wenn diese Wahl­ beeinflussung die positive Wirkung gehabt hat, die Wähler zu bestimmen, wider ihren Willen zu votiren; die Geltendmachung, der Versuch einer derartigen Beeinflussung genügt eben nicht, und deshalb genügt auch nicht diese einfache Aufforderung, für oder wider irgend einen Kandidaten zu stimmen; es muß eben der Erfolg hinzutreten, es muß eben ein Zwang konstatirt sein, der darin besteht, eben die Wähler zu bestimmen, wider ihren Willen zu stimmen. M. H., diesen Erfolg in leichtfertiger und willkürlicher Weise anzunehmen, dazu sind allerdings immer Diejenigen bereit, welche ein Interesse dabei haben, eine Wahl umzustoßen. Aber meiner Ansicht nach kann dieser Erfolg eben nur dann vorausgesetzt werden, wenn entweder eine Androhung materieller Nachtheile oder ein Versprechen materieller Vortheile vorliegt. Eine derartige Androhung oder ein derartiges Ver­ sprechen ist jedenfalls in dieser Aufforderung, gegen einen Kandidaten zu stimmen, nicht vorhanden; im vorliegenden Falle haben wir eben nur eine durchaus höfliche Aufforderung des Landraths, gegen einen bestimmten Kandidaten zu stimmen, (H.) — und ich bemerke, zunächst kann diese Aufforderung doch nur auf diejenigen eine Wir­ kung ausgeübt haben, denen sie bekannt geworden ist; dieses Kreisblatt aber hat nur 200 Abonnenten, während 8000 Wähler zur Wahlurne geeilt sind. Angenommen nun aber auch, diese Aufforderung sei allen Wählern bekannt geworden, so wäre doch noch zu untersuchen, welche Wirkung denn diese Aufforderung gehabt hätte. Wie gesagt, eine Androhung von materiellen Nachtheilen oder ein Versprechen von materiellen Vor­ theilen darin liegt gar nicht vor, wie es vorhanden war bei der Wahl des Abg. Grafen Schulenburg-Filehne, dessen Wahl in der ersten Reichstagssitzung für ungiltig erklärt worden war, und zwar auch auf Grund eines landräthlichen Erlasses, für den Grafen Schulenburg zu stimmen; in diesem Erlaß aber — und das war das Moment, welches den Reichstag veranlaßte, die Wahl für ungültig zu erklären — war eben das Ver­ sprechen gewisser materieller Vortheile enthalten. Dieses Versprechen ist in dieser Auf­ forderung keinesweges vorhanden. Zch erlaube mir nun. Ihnen einen Maßstab überhaupt zu geben für die Wirkung der Gunst oder Ungunst eines Landraths, da die außerpreußischen Abgeordneten nicht in der Lage sind, dieses zu beurtheilen. M. H., ich verlange nicht, daß Sie die Wir­ kung einer landräthlichen Gunst oder Ungunst nach einem einzelnen Falle bemessen, sonst würde ich mich auf meine eigene Wahl berufen, da ich in dem Kreise, wo mich der Landrath unterstützt hat, durchgefallen bin, während ich in dem Kreise, wo er mich bekämpft hat, durchgekommen bin. (S. g.!) M. H., es ist ein besonderes Gewicht darauf gelegt worden, und dies thut haupt­ sächlich der Protest, daß der Landrath seinen Willen in einem amtlichen Organ kund gegeben hat. M. H., wenn überhaupt dem landräthlichen Willen diese einschüchternde Wirkung beigelegt wird, so erscheint es mir durchaus unerheblich, in welcher Form und

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durch welche Mittel er sich kundgiebt. Wenn aber überhaupt der Kundgebung des landräthlichen Willens diese Wirkung beigelegt wird, dann muß diese Wirkung einer solchen Kundgebung in jedem Falle beigelegt werden, und dann müssen nothwendiger Weise in allen denjenigen Kreisen, wo landräthliche Kandidaten durchgekommen sind, die Wahlen kassirt werden, denn in jedem einzelnen Kreise giebt der Landrath auf irgend eine oder die andere Weise seinen Willen oder Wunsch in dieser Beziehung kund. (Gr. U. Ruf: Das soll er aber nicht!) Aus diesen Gründen hat die Abtheilung sich bewogen gefunden, den Antrag zu stellen, die Wahl für gültig zu erklären, dabei aber den Herrn Bundeskanzler zu er­ suchen, dem Landrath eine Rüge zu ertheilen. (H.! H.! I.) Abg. Klotz (Berlin): Ich werde erst den Herrn Referenten ersuchen, mir die Akten zu geben. M. H., ich bin in der Abtheilung in der Minorität gewesen mit dem Anträge, die Wahl des Grafen Pückler für ungültig zu erklären. Diesen Antrag stelle ich hiermit, und ich glaube, es wird nöthig sein, nach dem Vorträge des Herrn Referenten auch diejenigen Gründe vorzutragen, welche die Minorität gehabt hat für den Antrag, der in der Abtheilung allerdings abgelehnt ist. — Der Termin zur Wahl war am 3. März. Am 1. März erschien in einem Extra-Kreisblatt und zwar allein folgender Aufruf, unterzeichnet „Der Königliche Landrath". Er lautet dahin: „In einem der vielen von der sogenannten liberalen Partei in Striegau erlassenen Wahlaufrufe heißt es wörtlich" . . . (Ruf: Es ist schon vorgelesen worden!) — Ich muß darauf zurückkommen, um diejenigen Punkte zu betonen, die mir nothwendig scheinen betont zu werden. Der Landrath sagt: „Das ist ein Passus, zu dem ich als Landrath nicht schweigen darf. Das ist nicht mehr Agitation, das ist Aufreizung der Arbeiter gegen die Arbeitgeber und gegen die Obrigkeit. Ob ein Mann, der sich durch solchen Aufruf den Wählern empfehlen will, zu den Liberalen gehört, möge Jeder selbst beurtheilen; ich nenne ihn einfach einen Sozialdemokraten. Und was die Sozial­ demokraten anstreben, das haben wir an den fern und nahe von ihnen angezettelten Arbeiterbewegungen erfahren, die auch mit dem Ruin der Arbeiter enden. Dem gegenüber halte ich es als Landrath des Kreises für meine Pflicht, den Wählern zu­ zurufen: seid auf eurer Hut und wählt den Bürgermeister Raute nicht. Der königliche Landrath von Zedlitz." M. H.! In dem Proteste, der gegen die Gültigkeit der Wahl eingegangen ist, wird hervorgehoben, daß der Aufruf, welcher in diesem Erlaß des Landraths angegriffen wird, nicht von dem Bürgermeister Raute herrührt. Es ist also thatsächlich unrichtig in diesem amtlichen Erlaß, daß der Bürgermeister Raute den Wahlaufruf verfaßt hat. Dieses Extrablatt ist am 1. März in die Welt geschickt worden, und es ist dem Bürgermeister Raute nicht möglich gewesen, die Behauptung zu widerlegen, daß er der Verfasser dieses Aufrufs sei. Er bestreitet entschieden, daß er der sozialdemo­ kratischen Richtung angehört. Nun, m. H., die Abtheilung hat sich zuvörderst die Frage vorgelegt, ob denn dieses Schriftstück überhaupt zu den amtlichen Befugnissen des Landraths gehört, und ist einstimmig der Meinung gewesen, daß er amtlich dazu nicht befugt ist, und daß in dieser Beziehung eine Remedur eintreten müßte. Das Haus hat bei der heute stattgehabten Wahlprüfung sestgestellt, daß eine un­ berechtigte Einwirkung auf die Wahl dann angenommen werden müffe, wenn zwischen den für die Wahl agitirenden Parteien nicht Licht und Schatten gleich getheilt seien; wenn die eine Partei in die Unmöglichkeit versetzt wird, gegen die Mittel und gegen die Gewalt der Agitation der anderen Partei ihrerseits mit gleichen Waffen zu kämpfen. M. H., ich brauche nicht viele Worte zu verlieren; die Prinzipien sind weitläufig erör­ tert, und ich frage Sie, ob dieser Fall nicht ganz ebenso liegt, wie der vorige Fall. (S. r.! l.) — Im vorigen Falle ist die Kanzel benutzt worden gegen das Recht und gegen die Pflicht; in diesem Falle ist das Amt des Landrathes benutzt worden, um von amtlicher Seite die Kandidatur eines Gegenkandidaten zu bestreiten. Das ist die­ selbe Art und Weise; das ist eben ein Eingriff amtlicher Gewalten in die Freiheit der

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Wahl, der nicht geduldet werden kann und der nicht geduldet werden darf. Und, m. H., wer gleiches Maß und gleiches Recht eintreten lassen will, und wer in dem vorigen Falle die Wahl für ungültig erklärt hat, weil die Kanzel zur Wahlagitation benutzt ist, der muß auch in diesem Falle die Wahl für ungültig erklären, weil hier ein unberechtigter amtlicher Einfluß benutzt worden ist, und füge ich noch hinzu, m. H., daß dieser Landrath von Zedlitz nicht bloß Landrath des Kreises, sondern daß er auch der ernannte Wahlkommissar gewesen ist (H.! H.!), der vor allen Dingen verpflichtet war, unparteiisch zu sein bei Leitung der ihm übertragenen Wahl, so werden Sie um so mehr meinem Anträge zustimmen, diese Wahl zu kassiren. (B. l.) Abg. Dr. Windthorst: M. H.! Ich muß mich für die Gültigkeit der Wahl des Grafen Pückler erklären. Es ist vorhin aus den Verhandlungen des norddeutschen Reichstages uns mitgetheilt worden, wie dort die hier vorliegenden Fragen aufgefaßt wurden. Man hat dort angenommen, daß das direkte, allgemeine, geheime Stimmrecht eingeführt ist in der Meinung und Voraussetzung, daß das deutsche Volk mündig sei, selbst zu beurtheilen, vollständig und ganz, wie es seine Stimme abgeben müsse. Und in der geheimen Abstimmung hat man das Mittel gefunden, dafür Sicherheit zu geben, daß die Abstimmung geschehen kann ohne Rück­ sicht auf unsere Verhältnisse, die sonst dabei bestimmend Mitwirken könnten. Wenn Sie nun heute in entgegengesetzter Richtung plaidiren, so plaidiren Sie gegen die Grundlage unserer Verfassung, gegen die Voraussetzung und die Grundlage des all­ gemeinen, direkten Stimmrechts. Wenn Sie das im Allgemeinen wollen, dann werde ich vielleicht geneigt sein, mit Ihnen mich zu verständigen. — Der Herr Abg. Wehren­ pfennig hat nach einer uns nicht näher angegebenen Autorität das deutsche Volk ein­ getheilt in absolut intelligente und in absolut dumme Menschen. (H.) — Wenn man diese Alternative aufstellt, so ist es unmöglich, daß der Erlaß des Landraths irgend etwas gewirkt hat. Die Intelligenten werden ihm nicht glauben, und die Dummen werden ihn nicht verstanden haben. (Gr. H.) M. H., es ist das so recht bezeichnend für den Weg, auf welchen wir uns be­ geben, und ich glaube, es ist Zeit, daß wir auf demselben Halt machen. Der Graf Pückler ist nach meiner Ansicht rite gewählt, weil ich dafür halte, daß die Leute, die ihn gewählt haben, wohl wußten, was sie thaten, und weil ich glaube, daß sie durch die geheime Abstimmung hinlänglich geschützt waren. Der Herr Landrath hat allerdings schwer peccitt, vorausgesetzt, daß alle Thatsachen so richtig sind, was ich nach dem Re­ ferat leider wohl nicht bezweifeln kann. Der Herr Landrath muß darüber von seiner Behörde angesehen werden, es muß dem Beamten klar gemacht werden, daß er in solcher Methode einzugreifen durchaus nicht berechtigt war. Eine absolute Ent­ haltung der Regierung bei den Wahlen zu verlangen, fällt mir darum nicht ein. (W. l.) — Ich behaupte, die absolute Enthaltung der Regierung von den Wahlen zu verlangen, geht zu weit, obgleich ich sehr stark unter dem Einwirken der Regierung gegen mich gelitten habe; die Einwirkung muß aber in angemessener Weise geschehen; die Weise, welche der Landrath hier in Frage angewendet, halte ich ganz gewiß nicht für zulässig. Zulässig halte ich von Seiten der Regierung nur, daß sie aufklärend wirkt, (aha! l.) — das halte ich aber nicht allein für die Regierung, sondern für alle Parteien und für alle Autoritäten zulässig. Namentlich halte ich dafür, daß auch die Geistlichkeit auf den Kanzeln aufklärend wirken kann und aufklärend wirken soll, (aha! l.) — darüber kann gar kein Zweifel sein. Jetzt der Geistlichkeit zuzumuthen, gegenüber den Strömungen und Kämpfen der Parteien, in denen es sich um die heilig­ sten Güter, die sie zu vertreten hat, handelt, sich neutral zu verhalten, das ist eine Anforderung, die ich viel für zu weit gehend finde, eben so wie es zu weit gehen würde, wenn man von der Regierung verlangen wollte, sie solle sich absolut neutral verhalten gegenüber den destruktivsten Patteibestrebungen. M. H., wenn die Herren, welche diese Wahl beanstanden, zum Regiment kommen, so werden sie ganz gewiß meine Wahl aufs Aeußerste bekämpfen. Das ermatte ich. — Sie werden ja ans Regiment kommen, und wir werden uns dann sehen. Darum sage ich: bedenken Sie wohl, was Reichstags-Repertorium. 1.

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heute geschieht, damit Sie dann nicht in Kollisionen kommen. — Zn Anbetracht aber des Prinzips, auf welchem das allgemeine Wahlrecht beruht, bitte ich Sie, für die Gültigkeit der Pücklerschen Wahl zu stimmen, den Herrn Bundeskanzler aber zu ver­ anlassen, dem Landrath seinen Standpunkt klar zu machen. (H.) Abg. von Hennig: M. H., ich bedaure sehr, aber der Herr Referent hat sich gewaltig in den Zahlen geirrt. Er hat uns vorgetragen, es sind im Ganzen abgegeben in beiden Kreisen 12,037 Stimmen, mithin beträgt die absolute Mehrheit 6019 Stim­ men; der Graf Pückler hat erhalten 6695 Stimmen, davon 6019 Stimmen abgezogen, bleiben 676 Stimmen. Also wenn der Fall eintritt, daß im Kreise Schweidnitz die Stimmen, die für den Grafen Pückler abgegeben sind, abgezogen werden, so hat er nicht mehr die absolute Majorität. (Ruf: davon war nicht die Rede!) — Zch bitte, m. H., das war die Frage des Herrn von Kardorff, und die ist meiner Ansicht nach falsch beantwortet worden. Ich will jetzt versuchen, sie richtig zu beantworten. Also, m. H., es sind abgegeben im Kreise Schweidnitz — das ist der Kreis, in welchem der Landrath von Zedlitz wohnt, um den es sich hier handelt — für den Grafen Pückler 4810 Stimmen und 3441 Stimmen für Raute. Wenn Sie nun an­ nehmen wollen, daß die Stimmen, die der Graf Pückler in dem Kreise erhalten hat, für ungültig erklärt werden, dann ist ganz unzweifelhaft, daß Raute die Majorität erhält. Abg. Lasker: M. H. Für mich ist äußerst interessant, daß heute zwei Wahlen verhandelt werden, in denen wiederum eine gewisse Uebereinstimmung angeknüpst wird zwischen dem Geistlichen, der beeinflußt, und dem Landrath, der beeinflußt. M. H., wir sind weit entfernt davon, irgend einer Partei einen loyalen Einfluß entziehen zu wollen. Der Geistliche hat eine ungeheure Macht über die Gemüther; er mag sie als Privatmann benutzen und mit sich abmachen, wie weit dies der Religion, die er ver­ tritt, Vortheil oder Schädigung zufügt; das haben wir nicht zu beurtheilen. Ebenso haben wir nichts dagegen, wenn der Landrath in seinem Kreise sich einen so bedeutenden Einfluß verschafft, daß er die Wahlen als Privatmann zu lenken im Stande ist. — Wir haben viele Landräthe, in diesem Hause, welche durch ihre vorzügliche Verwaltung derartig in dem Kreise sich beliebt zu machen wissen, daß Alles, was zwischen liberal und konservativ steht, für den Landrath stimmt, der die Interessen des Kreises wahr­ nimmt, und ich freue mich weit eher über einen solchen Landrath, der so die Liebe seiner Kreisbewohner sich zu erwerben weiß, als wenn er sich verhaßt macht. Aber, m. H., unser Interesse, an welchem ich wünsche, daß Herr Windthorst uns festhalten soll, wenn einmal die liberale Partei den Staat zu lenken haben wird, dieses Interesse fängt dabei an, daß weder die Staatsgewalt, noch die öffentlich garantirte religiöse Gewalt gemißbraucht werde, um eine bestimmte Wahl herzustellen. — Ein Landrath ist in der Reihenordnung seines Amtes keine sehr bedeutende Person, aber er ist der Inhaber der Staatsgewalt, und das ist am Ende gleichgültig, ob er noch so tief unten in der Hierarchie der Staatsgewalt steht oder hoch oben. Die Staatsgewalt ist in jedes Menschen Hand mächtig, auch in der Hand des letzten Nachtwächters und Gendarmen. (H. S. w.!) — M. H., es ist thatsächlich so, Zeder von uns, der gewiß gesellschaft­ lich nicht vor dem höchsten Mann in Deutschland sich beugen wird, nicht beugen wird in dem Sinne der Untertänigkeit und des Gehorsams gegen seinen Willen, Zeder von uns wird sich für verpflichtet halten, einem Gendarmen gegenüber Gehorsam zu leisten, insofern er Inhaber der Staatsgewalt ist, und so leistet Zeder von uns dem Landrath Gehorsam. Nun begeht man in der öffentlichen Meinung eine große Fälschung, wenn man im Namen des Staates spricht an einer Stelle, wo man nicht im Namen des Staates, sondern nur in seinem eigenen Namen sprechen darf. Der Landrath des Striegauer Kreises hätte immerhin in Uebereinstimmung mit dem Herrn Abg. Wilmanns den Herrn Raute für einen Socialdemokraten erklären können, was ich beiläufig für keine Beleidigung halte, und würde ungefähr denselben Effekt hervorgerufen haben, den Herr Wilmanns im Hause hervorgerufen hat. (H.) — Aber darauf hat sich der Landrath nicht beschränkt, sondern er hat die Kreisbewohner

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angeredet: „ich als Landrath darf dazu nicht schweigen, fräst meines Amtes muß ich Euch warnen, den Raute zu wählen." — Nun sind Viele unserer Bürger noch so gut gewöhnt, daß sie, wenn im Namen des Amtes zu ihnen gesprochen wird, eine ganz andere Folge leisten, als wenn ein noch so hochgestellter Mann sie anredet, — (W.)— ja Viele unserer Bürger sind noch so gut gewöhnt; wir haben es erlebt, daß gegen einen Minister im Dienste vom Land­ rath agitirt worden, und der Landrath hat dies gethan mit der Macht seines Amtes und hat deshalb im Kreise mehr gegolten als der Minister, und mit Recht, denn der Landrath im Amte ist bedeutender als der Höchstgestellte im Staate außerhalb eines Amtes. Dies ist aber eine schwere Unterscheidung, daß jeder Letzte im Lande sich sagen soll, wenn auch ein Landrath im Namen des Amtes spricht, er handle dennoch nicht als Beamter und man brauche ihm nicht Folge zu leisten. Wir haben im Straf­ gesetzbuch uns darüber unterhalten, und die ganze rechte Seite war mit dem Ober­ tribunal der Meinung, wenn ein Beamter im Namen des Amtes handelt, so müsse ihm Folge geleistet werden, und es sei kein Widerstand gestattet; gegen das Streben der rechten Seite hat die linke Seite des Hauses durchgesetzt, daß jetzt Jedem gestattet ist, zu unterscheiden, ob eine Anordnung oder ein Befehl in der rechtmäßigen Aus­ übung des Amtes erfolgt. Sie sehen daraus, daß die Unterscheidung nicht so leicht ist, und man braucht wirklich nicht äußerst dumm zu sein, um dennoch zu meinen, wenn der Landrath im Namen seines Amtes gegen einen Wahlkandidaten warnt, so habe er genügende Gründe, und der Staatsbürger müsse sich wohl überlegen, ob er nicht lieber für den Gegner stimmen soll. M. H., solche Einmischung wollen wir nicht haben. Wir brauchen das Parla­ ment, damit der freie Wille des Volkes darin abgespiegelt werde. Allerdings sollen sich alle legitimen Znteressen geltend machen; ich bin der festen Ueberzeugung, wenn wir nicht im Augenblick eine konservative Regierung hätten, und wenn sich nicht im Augenblick ein aus den konservativen Kreisen hervorgegangener Mann um den Staat so hoch verdient gemacht hätte, so würden wir nicht so viele konservative Abgeordnete in dem Reichstag sehen. (S. w.! l.) — Zch bin äußerst zufrieden. Beides zusammen mit in den Kauf zu nehmen: auf der einen Seite den Vortheil, den ein aus der kon­ servativen Partei erwachsener bedeutender Mann dem Staate geleistet hat, und auf der anderen Seite mehr Konservative hier zu sehen, als wir sonst unter uns haben würden — natürlich nicht bezogen auf irgend einen der Abgeordneten, die mit uns gemeinsam zusammenwirken. — Dies, m. H., ist der legitime Einfluß, und es nehme sich der Landrath des Kreises den Mann an der Spitze des Staates zum Muster, er wirke gut für seinen Kreis, und er bringe dann immerhin einen konservativen Abgeordneten in den Saal, ich werde ihm keinen Vorwurf machen. Aber wir streben dagegen, daß nicht der Geistliche sich verbinde mit dem Landrath, daß nicht der Eine die Kanzel mißbrauche und der Andere sein Amt, um im Namen der Religion an geeigneter Stelle oder im Namen des Amtes im Kreisblatte gegen oder für einen Kandidaten aufzutreten. Freilich kann ein Fall so liegen, daß bei großer Uebereinstimmung der Einfluß, den der Landrath ausgeübt hat, nicht als überwiegend und durchschlagend be­ trachtet zu werden braucht. Wenn z. B. in dem Kreise des Herrn Abg. von Blanckenburg oder von Denzin überflüssigerweise sich der Landrath mit hineinmischte in die Wahlbewegung, so würde ich sagen, der Mann hat nichts geschadet und nichts genützt. (H.) — Wenn es sich aber in einem Kreise darum handelt, ob unter 12,037 Wählern möglicherweise 677 durch die öffentliche und amtliche Bekanntmachung des im Namen seines Amtes redenden Landraths beeinflußt worden seien oder nicht, dann werden wir wirklich nicht über einen idealen Staat sprechen, Sie werden mir Alle wohl zugestehen, daß unter einer bedeutenden Landbevölkerung sich allerdings diese Zahl richten kann nach der Empfehlung, welche der Landrath amtlich erlassen hat. Wir wünschen Strenge, nicht um unsertwillen, es kann uns ziemlich gleichgültig sein, ob ein Abgeordneter der konservativen Partei mehr in dem Reichstag sitzt oder nicht. Auch gegen die Person des betreffenden Abgeordneten ist der Angriff nicht gerichtet. Wir wünschen, daß der­ selbe Kreis nochmals wähle, und wenn der betreffende Abgeordnete ohne Mißbrauch 6*

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des Amtes wieder in diesen Saal eintritt, so werden wir Alle ihn gern willkommen heißen. Aber es ist nothwendig, daß ein für alle Mal feststehe, irgendwo giebt es eine Stätte, an der nur der legitime Einfluß der öffentlichen Meinung sich Geltung verschaffen darf, aber nicht der Mißbrauch des Amtes oder derjenigen Obliegenheiten, welche im Namen der öffentlichen Gewalt anvertraut werden. Ist irgend ein Landrath mit dem Mandat versehen, daß er als Landrath für Diesen oder Jenen in die Wahl eintrete? Kein Landrath ist mit diesem Mandat versehen; ich glaube sogar der Regierung nachrühmen zu dürfen, daß sie in hoher Würdigung der Zeiten, innerhalb deren diese Wahlen vollzogen worden sind, von der Centralstelle aus ... — (W.) — Andeutungen gegeben sind, weder nach der einen oder anderen Seite hin zu wirken. Aber die Landräthe haben, wie es scheint, an einzelnen Stellen, verwöhnt durch frühere Zeiten, dies aus eigener Machtvollkommenheit gethan; sie haben von ihren kleinen Amtsstätten aus es unternommen, die ihnen anvertraute Staatsgewalt zu mißbrauchen für eine Funktion, die ihnen nicht übertragen war. — Aus diesem Grunde meine ich, daß wir im Augen­ blick, wenn wir bloß die Personenfrage in Betracht ziehen, Strenge üben, in der That aber nur die Reinheit der Zusammensetzung dieses Hauses wahrnehmen. Wir wollen nicht, daß durch irgend welche Mittel, welche die Staatsgewalt einem Beamten in die Hand giebt, ein Anderer aus der Wahlurne hervorgehe, als wenn blos loyale Mittel angewendet werden. Zugestanden ist von Ihnen Allen, daß das Mittel, welches der Landrath in diesem Falle angewendet hat, kein loyales ist; denn Sie Alle wollen die Regierung auffordern, daß der Landrath getadelt werde. Wenn aber das angewendete Mittel entnommen ist aus der Staatsgewalt, die zu anderen Zwecken dem Landrath anvettraut ist, so sind wir ganz berechtigt, zu sagen: wir vernichten die Wahl und geben dem Kreise anheim, vielleicht freiwillig nochmals denselben Abgeordneten zu wählen und ihn zu befreien von dem Gefühl, daß er nur durch Mißbrauch der Amts­ gewalt ein Mandat hat erringen können. (Br.! l.) Die in Rede stehende Wahl wird für ungültig erklärt und beschlossen, es soll das Ersuchen an die Regierung gestellt werden, dem betreffenden Landrath eine Rüge zu ettheilen.

XI. In der 17. Sitzung vom 18. April wird die Wahl des Kammerpräsidenten Kratz zu Köln (im 10. Düsseldorfer Wahlkreise) auf Anttag des Berichterstatters Graf v. Behr-Negendank beanstandet und beschlossen, das Bundeskanzler-Amt zu ersuchen, durch gerichtliche Erhebungen feststellen zu lassen, ob, eventuell in wie weit, die im Proteste vorgetragenen Fakta gegründet sind und gleichzeitig dafür Sorge tragen zu lassen, daß sämmtliche Wahlbezirke, über welche Beschwerde geführt wird, ihrer Nummer nach festgestellt werden.

XII. In der 17. Sitzung wurde ferner über die Wahl des Abg. Dr. August Reichensperger (im Kreise Crefeld) verhandelt. Berichterstatter Abg. Dr. Reyscher: M. H., die 6. Abtheilung hat über die Wahl des Herrn Dr. August Reichensperger im Kreise Crefeld Bericht zu erstatten. Der Sachverhalt ist folgender: In dem Kreise Crefeld fand ein lebhafter Wahlkampf statt. Auf der einen Seite waren die Anhänger des Dr. August Reichensperger, auf der andern Seite die Freunde des Kaufmanns Seyffardt in Crefeld. Stand der letztere Kandidat als Angehöriger des Bezirks Crefeld und als Industrieller dem Wähler­ kreise näher, so wurde auf der andern Seite zur Empfehlung des Herrn Reichensperger angeführt seine bisherige parlamentarische Wirksamkeit, und daß er als Katholik der Religion der Mehrheit des Wahlkreises zugethan sei. Die Wahlbetheiligung war eine ganz ungewöhnliche. Es stimmten 80 Procent oder V5 der Wähler ab. Die Zahl der Wähler des ganzen Wahlbezirks beträgt 15,575, die Zahl der gültig abgegebenen Stimmen 12,344. Demnach war die absolute Stimmenmehrheit 6173. Es hat aber erhalten Dr. August Reichensperger, Appellationsgerichts - Rath in Cöln, 7820 Stim­ men. Da sich demnach die absolute Mehrheit auf den Kandidaten vereinigte, so wurde er proklamirt.

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Nun, m. H., ist aber ein Protest eingelaufen von einer Anzahl Seyffardtscher Wähler, welche Eingriffe in die Wahlfreiheit durch die Geistlichen behaupten, und zwar in verschiedener — amtlicher oder außeramtlicher — Weise. Der Beweis wurde an­ getreten in einer Eingabe, worin je einer oder mehrere Zeugen für die aufgestellten Behauptungen genannt werden. Es erfolgte darauf ein Gegenprotest von Seiten der Reichenspergerschen Wähler, und später eine Gegenbeweis-Antretung. Zn der ProtestEingabe wird zugegeben: „Es gehört in unserm Wahlkreise die Majorität der Wahlberechtigten der katho­ lischen Konfession an, und es ist daher wohl natürlich, daß bei Besprechung über die wünschenswerthen Kandidaturen die Fragen, wie der zu Wählende sich zu den die ka­ tholische Welt bewegenden Tagesereignissen zu stellen beabsichtigt, der ernstesten Prüfung unterliegen. Soweit nun der Klerus in diesem Sinne der Wahlbewegung seine Auf­ merksamkeit schenkt, soweit er dazu auffordert, diese Prüfung mit der äußersten Gewissenhaftigkeit vorzunehmen, soweit er selbst die am geeignetsten erscheinenden Kandi­ daten in Vorschlag bringt, gebraucht er nur ein jedem Einzelnen zustehendes politisches Recht, und wir haben um so weniger etwas dagegen zu erinnern, als wir immer dazu bereit sind, dem mit ehrlichen und offenen Waffen geführten Kampfe, dem im bürger­ lichen wie im staatlichen Leben sich Anerkennung und Autorität verschaffenden Einfluß Vollberechtigung zuzugestehen. Anders aber, — fährt die Eingabe fort — wenn der Klerus, statt die Diskussion anzuregen, sie vielmehr durch ein geistliches Machtgebot abschneidet, wenn er, sich stützend auf Aeußerungen des die katholische Kirche repräsentirenden Episkopats, wie sie enthalten sind unter Anderem in den Hirtenbriefen und Erlaffen des hochwürdigsten Herrn Erzbischofs Paulus von Köln, ein Anathema her­ aufbeschwört über alle diejenigen, die nicht blindlings für seine Kandidaten einzutreten geneigt sind." M. H., zur Steuer der Wahrheit muß ich hier zunächst bemerken, daß mir als Referenten zwei gedruckte Erlasse des Herrn Erzbischofs von Köln in Wahlsachen vom 28. Oktober 1870 und 23. Januar 1871 von dem Herrn Korreferenten mitgetheilt wurden, worin nur eine allgemeine Hinweisung enthalten ist auf den Ernst und die Bedeutung der Wahlen für Staat und Kirche, keine direkte Empfehlung dieses oder jenes Kandidaten, noch weniger eine Bedrohung religiöser oder politischer Gegner. Nun folgen aber in der Protesteingabe spezielle Beweise von Seiten der protestirenden Partei. Es wird behauptet, daß theils versteckt, theils offen in allen Ge­ meinden des Wahlkreises, fast ohne Ausnahme, von geistlicher Seite agitirt worden sei. Am offensten und unzweideutigsten sei dies geschehen in einer seitens der liberalen Wähler ausgeschriebenen Versammlung zu Osterrath, wo ein Crefelder Kaplan Herr Tietz ohne Rückhalt den anwesenden Glaubensgenossen, an deren gut katholisches Herz er appellirte, die Stimmabgabe für Reichensperger gebot, da die Kirche und das Episko­ pat sich für Reichensperger ausgesprochen hätten. „Zn Fischeln und Lank — heißt es weiter — wurde der Wahltag selbst noch dazu benutzt, um von der Kanzel herab, kurz vor Beginn der Wahl auf die Wähler, die zu der am genannten Tage zur späten Stunde angesetzten Fastenandacht zahlreich erschienen waren, in diesem Sinne einzuwirken. Aehnliches — wird fortgefahren — geschah auch anderwärts, so daß direkt aus der Kirche die Wähler, mit der Geistlichkeit an der Spitze, zum Wahllokal zogen. Zn Anrath wurden am 19. Februar von der Kanzel herab die Mitglieder des Komites für den Gegenkandidaten als Ungläubige und Heiden bezeichnet, und in der christlichen Lehre wurden durch ähnliche Aeußerungen die Kinder gegen ihre eigenen Eltern aufgereizt. Eine Stimmenabgabe gegen Reichen­ sperger wurde durch von Mund zu Mund kolportirte Aeußerungen als Verrath von 30 Silberlingen an unserem Herrn Zesus Christus bezeichnet. Die Katholiken, welche gegen die Wahl Reichenspergers sich aussprachen, wurden als schlechte oder laue Ka­ tholiken ihren Glaubensgenossen gegenüber in öffentlicher Versammlung und von der Kanzel herab verdächtigt; ja, ein Versuch zur Einigung, der von sehr achtbaren Katho­ liken, darunter Mitglieder des Kirchen- und Schulrathes, gemacht wurde, wurde von

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dem Konnte für die Reichenspergersche Wahl, dem die Geistlichkeit angehörte, als ein unwürdiges Ansinnen in öffentlichen Blättern zurückgewiesen." M. H., diese Behauptungen sind nicht alle gleich zu nehmen. Was den Vor­ gang in Osterrath betrifft, wo der Kaplan Tietz in einer Wählerversammlung erschienen ist und dort geboten haben soll, daß die Anwesenden für Reichensperger stimmen, so werden Sie wohl der Meinung sein, daß dies keine offizielle Einwirkung auf die Wähler war. Ein Geistlicher hat so gut, wie ein Anderer, das Recht, an Wähler­ versammlungen Theil zu nehmen und auch hier zu sprechen. Wenn der Geistliche den Anwesenden das Gebot ertheilt hätte, in dieser oder jener Weise zu stimmen, so hätte er allerdings sich eine Verschuldung erlaubt, die eine Rüge verdiente; indessen soll diese Rüge — so behauptet der Gegenverfasser — auf der Stelle erfolgt sein, indem dem Geistlicheu in scharfen, beleidigenden Worten geantwortet wurde von anwesenden Wählern. Etwas Anderes ist es, wenn der Geistliche bei Ausübung seines Amtes Eingriffe sich erlaubt, wie wir dieser Tage öfters gehört haben, wenn der Geistliche von geheiligter Stelle aus, von der Kanzel herab, oder wenn der Geistliche bei der Christenlehre, bei der Religionslehre die Wahlsache zur Sprache gebracht hätte. Wenn wir uns freilich auf amerikanische Grundsätze stützen wollten, m. H., so würde auch in dieser Beziehung eine Einsprache nicht erfolgen können. Allein in Deutschland stehen Staat und Kirche unter sich in Verbindung. Die Kirche ist nicht blos eine durch die Kirche geheiligte, sondern auch eine von dem Staate geschützte und befriedete Einrichtung; es müssen also die Religionsgenossen gegenseitig Frieden halten, und sie dürfen auch nicht, wie schon der westphälische Friede ausspricht, mit Mißachtung sich gegen die Andersgläubigen aussprechen.

Nun, m. H., ist aber ein Zeugniß mit dem Gegenprotest ein Zeugniß von 10 Wählern aus Anrath. Dasselbe lautet:

vorgelegt

worden,

„Unterzeichnete erklären hiermit, daß alle von dem Seyffardt'schen Wahlkomito verbreiteten und, wie verlautet, auch an den hohen Reichstag beförderten Anschuldi­ gungen über hiesige Wahlagitationen zu Gunsten Reichenspergers durchaus unwahr sind. Ohne den Gegenkandidaten zu verdächtigen, wurden nur die durch das offene Programm der Verfassungspartei bekannten Gründe zur Prüfung und Würdigung empfohlen. Von Beeinflussung einzelner Wähler ist hier nichts bekannt, auch nicht von einem Versuche zur Einigung oder irgend welcher Replik der hiesigen Geistlichen in öffentlichen Blättern. Die Wahlfreiheit wurde hier so wenig beschränkt, daß noch am Schluffe der einzigen hier abgehaltenen öffentlichen Wahlversammlung der zum Vor­ sitzenden gewählte Pfarrer erklärte: jeder, der seine Interessen durch Seyffardt besser vertreten glaube, sei gehalten, ihm, dem Seyffardt, und nicht Reichensperger seine Stimme zu geben. Die Angaben von Predigt und Christenlehre sind ebenso falsch." Nun folgen im Protest noch einige minder relevante Behauptungen, die aber gleichwohl in Betracht gezogen werden müssen, um Ihnen ein vollständiges Bild zu geben. Die Abtheilung glaubte, die Wahlsache in objektiver, ruhiger Weise behandeln zu sollen, und wenn auch die Mehrheit des Reichstages, wie dieser Tage behauptet wurde, souverän ist in der Beurtheilung von Wahlanständen, so darf doch auch die Mehrheit nur nach Gründen handeln, und es ist um so wichtiger, genauer einzugehen, als hier ein Vorgang gebildet werden könnte. Es ist nämlich das erste Mal, daß die Anfechtung einer Wahl lediglich auf geistliche Beeinflussung gegründet wird. Zwar ist es bisher schon öfter vorgekommen, und namentlich gestern, daß nebenbei auch von geistlichen Beeinflussungen die Rede war; aber hier in dem jetzt vorliegenden Falle wird einzig aus der geistlichen Beeinflussung die Nichtigkeit der Wahl abgeleitet. Es ist in dem Protest die Rede von dem Vorwurfe eines unwürdigen Ansinnens, welcher der Seyffardt'schen Partei von Reichenspergerffcher Seite gemacht worden sei. Das ist eine Znjuriensache, die nicht vor den Reichstag gehört. Nun ist aber noch ein anderer Vorwurf der Reichensperger'schen Partei gemacht: „Weniger öffentlich, aber eben so notorisch — heißt es in dem Proteste — ist es, daß zwei Monate hindurch

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in den religiösen Vereinen unserer Stadt in regelmäßig wiederkehrenden Versamm­ lungen das Gebot der Kirche, für Reichensperger zu stimmen, verkündet wurde." Diese Behauptung, bezüglich der religiösen Vereine wird ausdrücklich in Abrede gezogen von dem Gegenprotest. Es handelt sich hier aber auch nicht um die Sache, die wir zu beurtheilen haben; es handelt sich hier um das Vereins recht. Wenn in einem religiösen Verein, sei es in einem katholischen oder evangelischen, eine Wahl­ sache besprochen wird, so wird man den Mitgliedern doch nicht das Recht nehmen wollen, von ihrem religiösen Standpunkte aus den Kandidaten anzusehen und Vor­ schläge zu machen. Es wird von der Reichenspergerschen Partei wirklich behauptet, daß der evangelische Bürgerverein in Crefeld gleichfalls von konfessioneller Seite die Wahl aufgefaßt, und daß er durch ein Plakat seine Mitglieder ausgesordert hätte, ihre Schuldigkeit bei der Wahl zu thun. Sei dem, wie es wolle, die Abtheilung glaubte den Vorwurf der Einmischung eines religiösen Vereins in die Wahlsache durch Auf­ forderung ihrer Mitglieder, im Interesse ihrer Konfession thätig zu sein, weder als erheblich ansehen zu müssen, noch auch als geeignet, einer Untersuchung unterworfen zu werden. Es ist noch ein Punkt übrig, der aber gleichfalls nicht entscheidend sein dürfte. Es wird nämlich im Proteste gesagt, daß es durch unermüdliche persönliche Besuche von Pfarrern und Kaplanen von Haus zu Haus und von Stube zu Stube gelungen sei, über 4000 Unterschriften zu sammeln, (H.! H.! l.) durch welche die Betreffenden so zu sagen an Eides statt sich verpflichtet hätten, für Reichensperger zu stimmen. Was die viertausend Unterschriften betrifft, so ist kein Zeugniß dafür ausgestellt; es ist keine Urkunde vorlegt worden, worin Tausende oder auch nur einige Wähler sich so zu sagen an Eidesstatt verpflichtet hätten, für Reichensperger zu stimmen; wohl aber sind auf telegraphischem Wege einem Mitglieds dieses Hauses drei Zeugen genannt worden, welche behaupten, daß unterschrieben worden sei, oder daß sie für die Behaup­ tung der gesammelten Unterschriften aufkommen wollen. Zwei dieser Zeugen sollen aussagen, sie hätten selbst unterschrieben. In diesem.Falle könnten sie wohl am besten Auskunft geben; aber sie sagen nicht, daß sie sich eidlich oder so zu sagen an Eides Statt verpflichtet hätten, sondern sie sagen nur, sie hätten unterschrieben für den Kan­ didaten Reichensperger zu stimmen. Dieses Unterschreiben für einen Kandidaten kommt sehr häufig vor, kommt auch im Süden vor und zwar in verschiedener Weise. Mit dem Gegenprotest sind zwei Bogen mit Unterschriften eingekommen, an deren Spitze es heißt: „Unterzeichnete erklären ihren Beitritt zu dem Komits, welches sich gebildet hat, die Kandidatur des Herrn Reichensperger bei der nächsten Reichstagswahl zu fördern." Also eine eidliche oder „so zu sagen eidliche" Verpflichtung hat nicht stattgefunden, sondern man ist nur dem Konnte beigetreten, um die Wahl zu fördern; man hat nicht einmal unterschrieben, selbst zu wählen, der Sinn freilich war es. Uebrigens soll das Sammeln von Unterschriften auch in dieser Weise nachher aufgegeben worden sein. Bemerken muß ich zur Herstellung der Wahrheit wieder, daß ein gleich starkes Seiffardtsches Konnte bestand. Ich habe hier in der Hand einen Aufruf „an die Wähler der Stadt und des Landkreises Crefeld" mit 186 Unterschriften aus der Stadt und 71 Unterschriften vom Lande. Am Ende der Protesteingabe ist gesagt: „Indem unterzeichnete Wähler, die fich zu verschiedenem Glauben bekennen, fußend auf jene vorausgeschickte Erörterung, gegen die Wahl des Herrn Reichensperger protestiren, sind dieselben sich bewußt, einer weiteren Aufgabe gerecht zu werden, möge auch die Wahl weder gegen die Form noch direkt gegen einen geschriebenen Paragraphen des Gesetzes verstoßen." Das Letztere ist in der That der Fall. Bei Prüfung der Wahlakten hat sich keine irgend erhebliche Ausstellung ergeben. Es handelt sich also blos von der Be­ hauptung eines geistlichen Einflusses. M. H., die Abtheilung in ihrer Mehrheit war der Ansicht, daß die offizielle Einmischung der Geistlichen von der Kanzel aus, wenn sie sich als wahr ergeben sollte, ebenso die Einmischung in der Christen­ lehre oder Religionslehre gemißbilligt werden müßte. Sie war ferner der Meinung,

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es sollte zu diesem Zwecke eine Mittheilung an das Bundeskanzler-Amt erfolgen, da-, mit eine Untersuchung eingeleitet werde und, je nachdem die Untersuchung ausfällt, durch Kommunikation mit dem Episkopat dafür gesorgt werde, daß dergleichen Aus­ schreitungen der Geistlichen nicht wieder vorkommen. Eine Beanstandung der Wahl glaubte die Abtheilung nicht empfehlen zu sollen. Eine solche Beanstandung würde die Absicht voraussetzen, sofort die Nichtigkeit auszusprechen, wenn die behaupteten Thatsachen bewiesen würden. Man könnte wohl in einer Beanstandung der Wahl eine schärfere Rüge finden, allein jede Rüge und noch mehr die größere muß doch immer eine Grundlage haben. Die Hauptrücksicht der Abtheilung bei der Frage von der Wahlbeanstandung war die auf das Stimmenverhältniß. Gestern, m. H., wurde wohl auch die Beanstandung beschlossen in einer Sache, wo geistliche Einmischungen behauptet wurden; aber es handelte sich dort nur von vergleichungsweise weniger Stimmen. Hier aber, m. H., handelt es sich von einer sehr großen Mehrheit der Stimmen. Der Abg. Reichensperger hat mehr als das Doppelte der Stimmen des Gegenkandidaten in sich vereinigt; es fielen auf ihn 7820 Stimmen, auf Seyffardt 3849. Selbst wenn der Reichstag alle Stimmen der Bezirke, worin die behaupteten Einflüsse stattgefunden haben, alle Stimmen nicht blos der Orte, wo von der Kanzel für die Wahl des Kandidaten Reichensperger ge­ predigt, oder der politische Unterricht bei der Kinderlehre eingemischt worden sein soll, sondern der Bezirke, unter deren Namen die Stimmen im Wahlprotokoll aufgeführt sind, ausschließen wollte, würde dennoch Reichensperger die absolute Mehrheit erhalten. Es wurden für ihn abgegeben in Anrath I. und II. Wahlbezirk 591 Stimmen, in Böckum I. und n. 667, in Fischeln I. und II. 574, in Lank I. und II. 553, zu­ sammen 2385. Diese 2385 Stimmen abgezogen von den im ganzen Wahlkreis ab­ gegebenen 12,344, bleiben immer 9959, die absolute Mehrheit berechnet sich also auf 4980. Reichensperger erhielt aber in den anderen Bezirken zusammen 5435, also immer noch 454 über die absolute Mehrheit. Der Antrag der Abtheilung ist folgender: 1) die Wahl nicht zu beanstanden; jedoch 2) den eingegangenen Protest von 32 Wählern zu Crefeld vom 18. bis 20. März 1871, nebst einer nachträglichen Zeugenbenennung vom 31. März und zwei Gegenerklärungen Reichenspergerscher Wähler vom 2. und 11. April 1871 dem Bundeskanzler-Amt unter dem Ersuchen mitzutheilen: im Falle die in der Protesteingabe aufgestellten Behaup­ tungen einer direkten, offiziellen Wahlbeeinflussung von Seiten eines Theiles der Geist­ lichkeit bei der einzuleitenden Untersuchung als wahr sich erweisen sollten, solchen Aus­ schreitungen durch Kommunikation mit dem vorgesetzten Episkopat für die Zukunst zu begegnen. (Berichterstatter erwähnt noch, daß ein entgegenstehender Antrag in der Ab­ theilung auf Beanstandung und gerichtliche Untersuchung mit 21 gegen 19 Stimmen abgeworfen wurde.) Zn der 20. Sitzung vom 22. April Fortsetzung der Prüfung derselben Wahl. Abg. Dr. Bock: M. H., im Anschluß an den in der 17. Sitzung erstatteten Bericht erlaube ich mir zunächst darauf hinzuweisen, daß der Protest der Herren von Lumm und Genossen selbst die Gültigkeit der Reichenspergerschen Wahl indirekt aner­ kennt. Denn in seinem Schlußsätze sagt derselbe ausdrücklich, daß, wenn auch nicht gegen Recht und Gesetz gefehlt worden sei, man die Wahl dennoch bemängeln müsse, um damit einer weiteren Aufgabe gerecht zu werden. Diese nicht näher bezeichnete weitere Aufgabe soll dann anscheinend dadurch der Lösung entgegengeführt werden, daß man in unserem Hause die katholische Geistlichkeit Crefelds mit gehässigen Verdächti­ gungen überschüttet. Nun aber waren diese Verdächtigungen ursprünglich durch gar nichts unterstützt, ja man hatte sich nicht einmal die Mühe gegeben, auch nur den ge­ ringsten Beweis dafür anzutreten oder in Aussicht zu stellen. Erst in einer nachträg­ lichen Eingabe hat Herr von Lumm für verschiedene seiner Behauptungen verschiedene Zeugen namhaft gemacht. Inzwischen sind, wie wir das gehört haben, Gegenproteste der Partei Reichensperger eingelaufen, worin der förmliche Beweis für die Nichtigkeit der von Lummschen Darlegung angeboten worden ist.

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Um nun auf das Einzelne einzugehen, so wollen die Herren Beschwerdeführer, welche sich, nebenbei bemerkt, das Prädikat von „Freunden der Menschheit" beilegen, uns glauben machen, daß in mehreren Landgemeinden Creselds Kanzel und Christen­ lehre zur Wahlagitation mißbraucht worden seien. Dazu habe ich, abgesehen von den Beleuchtungen des Herren Referenten, zu erinnern, daß das weiland Reichenspergersche Komite in Crefeld sich beeilt hat, den betheiligten Landklerus über die erhobenen An­ klagen zur Aeußerung aufzufordern. Die in Folge dessen eingetroffenen Berichte von acht Pfarreien sind in meiner Hand und liegen zu Zedermanns Einsicht offen. Es findet sich darin überall die kategorische Erklärung, daß die sämmtlichen Angaben des Protestes, soweit sie sich auf die einzelnen Ortschaften beziehen, jedes thatsächlichen Anhaltspunktes entbehren. Ob da von dem von Lummschen Zeugenbeweis angesichts des gleichfalls angetragenen Gegenbeweises, angesichts jener feierlichen, gewissermaßen amtlichen Versicherung der Pfarrer irgend etwas zu erwarten ist, das zu beurtheilen muß ich Ihnen natürlich überlassen. Wie aber auch Ihre Entscheidung ausfallen mag, auf das Wahlergebniß kann sie keinen Einfluß haben, denn die hier zu Grunde liegenden Zahlenverhältnisse sind derart, daß sie jedem Angriff trotzen. Es sind nämlich die Bezirke, woselbst angeblich der Klerus in der Kirche die Wahl beeinflußt haben soll, diejenigen von Anrath, Böckum, Fischelen und Lank. Nun aber fielen dort im Ganzen 2385 Stimmen auf Reichens­ perger und nur 200 auf Seyffardt. Wollte man alle diese auf Reichensperger ver­ einigten 2385 Stimmen für ungültig erklären, so würden dem Letzteren nach der ganz richtigen Berechnung des Herrn Referenten noch verbleiben 455 Stimmen über die sich alsdann ergebende absolute Majorität und 1586 über die für Herrn Seyffardt aufge­ brachte Gesammtzahl von 3849 Stimmen. Wenn der Protest so nebenbei bemerkt, es sei auch in anderen als den bezeichneten Landgemeinden der Klerus für Reichensperger eingetreten, so ist das eben eine ganz allgemeine Redensart, die wir um so weniger berücksichtigen dürfen, als das nachträgliche Beweisanerbieten des Herrn von Lumm darauf mit keinem Worte zurückgekommen ist. Uebrigens würde auch dieser Nothschrei unter keinen Umständen verfangen, insofern wir nämlich bedenken, daß in der Stadt Crefeld allein 4254 Stimmen dem Herrn August Reichensperger und nur 3339 dem Herrn Seyffardt angehören, mithin also sich schon dort eine relative Mehrheit von 915 Stimmen für Reichensperger herausgestellt hat. Die Herren Beschwerdeführer haben dann ferner geltend gemacht, es sei in der Stadt Crefeld der von Haus zu Haus und von Stube zu Stube geförderten Agitation vom Pfarrer und vier Kaplänen in der Stadt gelungen, über 4000 Unterschriften zu sammeln, wodurch die Betreffenden sich so zu sagen an Eidesstatt verpflichtet hätten, für Reichensperger zu stimmen. Glück­ licherweise ist der Gegenprotest in der Lage, diesen Einwand schon heute auf sein ge­ bührendes Maß zurückzuführen und zwar dadurch, daß er uns zwei der bezogenen Origi­ nallisten vor die Augen stellt. Auf diesen Listen lesen wir an der Spitze zahlreiche Namen die folgende gleichlautende Ueberschrift: „Die Unterzeichneten erklären ihren Beitritt zum Komitö, welches sich gebildet hat, die Kandidatur des Herrn Dr. August Reichensperger bei der nächsten Reichstagswahl zu fördern." Nun, m. H., ist das vielleicht eine so zu sagen an Eidesstatt übernommene Ver­ pflichtung, den Herrn Reichensperger zu wählen? — Und dennoch behaupten dies die Beschwerdeführer, und sie wollen es sogar durch Zeugen beweisen. Doch gehen wir weiter und sehen einmal zu, wie denn diese Listen entstanden sind. Auch darüber giebt der Gegenprotest Ausschluß. — Man ließ nämlich die Wähler sich blos deshalb als Mitglied des Reichenspergerschen Komites einzeichnen, um es damit der Gegenpartei nachzumachen, welche zuerst mit einem Sonnte von ungefähr 200 Per­ sonen in die Oeffentlichkeit getreten war; als man sich schließlich überzeugte, daß es doch unpassend erscheine, mit einem solchen Komite das dickleibige Komite der Gegner zu überbieten, blieb die Einzeichnung ohne die beabsichtigte Folge. Diese Einzeichnung aber geschah überall in öffentlichen Versammlungen und es ist, fährt der Gegenprotest fort, unwahr, daß die Geistlichkeit in den Häusern Unterschriften gesammelt habe.

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Ganz dasselbe, m. H., wird in einem Briefe bestätigt, welcher von einer Reihe der angesehensten Bürger Crefelds, darunter fünf Stadtverordneten, an ein Mitglied dieses Hauses gerichtet worden ist. Die Stelle lautet: „Falsch ist lie Behauptung, daß es durch Agitationen von Pfarrer und Kaplänen gelungen fei, über 4000 Unterschriften zu sammeln, durch welche die Betreffenden an Eidesstatt sich verpflichteten, für Reichensperger zu stimmen. Wohl wurden in einzelnen Wahlbezirken von unserer Seite Listen offen gelegt, in welchen sich diejenigen unter­ zeichneten, die dem Konnte beitreten wollten. Von einer Verpflichtung, einen bestimm­ ten Kandidaten zu wählen, war dabei keine Rede. Am wenigstens darf behauptet werden, es hätte auch nur ein Geistlicher eine Lifte von Haus zu Haus und von Stube zu Stube getragen. — -Uebrigens könnte es uns nur erwünscht fein, wenn im Reichstage Veranlassung genommen würde, die Unterzeichner des Protestes zum Beweise aufzufordern. Es würden ihre Behauptungen in Nichts zerfließen." Die Herren Beschwerdeführer sind endlich mit der allgemeinen Versicherung her­ vorgetreten, die katholische Geistlichkeit habe, gestützt auf die Hirtenbriefe des hochwür­ digsten Herrn Erzbischofs von Cöln, ein Anathema gegen alle diejenigen geschleudert, welche nicht blindlings für ihren Kandidaten zu stimmen gewillt gewesen seien. Zn Wirklichkeit steht in diesen von dem Herrn Referenten angezogenen erzbischöflichen Er­ lassen vom 28. Oktober vorigen und vom 23. Januar dieses Jahres das grade Gegen­ theil. Der hochwürdigste Herr ermahnt darin die Gläubigen, nur patriotisch und kirch­ lich gesinnte Männer zu wählen; gleichzeitig aber fordert er die Psarrgeistlichkeit auf — ich gebe den Wortlaut —, „auch bei dieser Gelegenheit die Gläubigen über ihre Pflicht der fleißigen Betheiligung an den bevorstehenden Wahlen und über die Art und Weise, wie sie dieses Recht im wahren Interesse des Staates sowohl als der Kirche auszuüben haben, gründlich zu belehren; dagegen aber auch mit Sorgfalt Alles zu ver­ meiden, was der Würde und den Pflichten eines Dieners der Kirche und eines Seel­ sorgers nicht entsprechen oder der christlichen Liebe und den schuldigen Pflichten gegen die von Gott gesetzte Obrigkeit zuwiderlaufen würde." Schließlich will ich betonen, daß in Crefeld über 80 Procent der Wahlberechtigten ihre Stimmen abgegeben haben. Daß eine solche Betheiligung nicht ohne die äußersten Anstrengungen auf allen Seiten zu erzielen war, liegt auf der Hand. Auch ist es nicht unwahrscheinlich, daß dabei hin und wieder die Grenzen der erlaubten Agitation überschritten worden sind; wenn man aber alle etwa vorgekommenen Ungehörigkeiten haupt­ sächlich der Partei Reichensperger in die Schuhe schieben will, dann ist das im höchsten Grade ungerecht, denn gerade die Partei Seyffardt ist es gewesen, welche mit den äußersten Mitteln vorgegangen -ist. Zum Belege dafür will ich Ihnen nur einige ganz kurze Bemerkungen des Gegenprotestes mittheilen. Es heißt da unter Anderem: „Wie aber haben unsere Gegner verfahren? Die anliegenden Flugblätter mit ihren Angriffen auf kirchliche Institute, auf Sakramente und Begräbnisse stellen wahr­ haftig keine sonderlich loyalen Agitationsmittel dar. Indessen wir sind auch in der Lage, — thuen dies freilich nur gezwungen, — noch anderweite Einzelheiten aufzuführen. In Lank haben unsere Gegner Stimmzettel mit dem Namen Peter Reichensperger drucken und verbreiten lassen. Es war offenbar nur ein in der Ohnmacht ergriffenes Mittel, um die Wahl zu zersplittern, ja es ist nicht zu viel gesagt, um die Wahl zu fälschen, wenn man die Thatsache hinzunimmt, daß solche Zettel arglosen Wählern, die für August Reichensperger zu stimmen die Absicht hatten, in die Hände gespielt wurden. Solches geschah in der Wahlstube des Johann van Dawen in Lank. (Folgen zwei Zeugen.) — Eben in Lank, in der Schenke des Pius Tiegen wurde Bier gespendet, um Stimmen für Seyffardt zu werben. (Folgen fünf Zeugen.) — Zn acharnirtester Weise haben sodann die Herren Dr. Kreußen, Dr. Meller, Dr. Tillmanns und Andere für die Wahl Seyffardts im Landkreise agitirt, so daß sie sich den Namen Bauern­ fänger — freilich nicht in der strafrechtlichen Bedeutung des Wortes — verdient und erworben haben. — (H.) — Mitglieder des Seyffardtschen Komites haben sich in dem Maße zudringlich erwiesen, daß sie die Unterschrift des Wirthes Werners in Lank ohne

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Ermächtigung für das Seyffardtsche Konnte usurpirt und in Verberg gegen sie der Wirth Möllers das Hausrecht sogar wahren mußte." Abgesehen von diesen Thatsachen, m. H., ist mir in den jüngsten Tagen eine weitere, gleichfalls unter Beweis gestellte Notiz von Seiten der Unterzeichner des Gegen­ protestes zugegangen. Dieselbe bekundet, daß am Wahltage ein Mitglied des Seyffardtschen Komitss sich nicht entblödet hat, seinen (speciell angeführten) Arbeitern je 20 Silbergroschen und einen Stimmzettel für Seyffardt zu geben, mit der Weisung, wählen zu gehen. (H.! H.!) Was nun die von der Abtheilung gewünschte Untersuchung gegen den katholischen Klerus betrifft, so hätte ich an und für sich nichts dagegen; denn unsere Partei braucht wahrhaftig das volle Tageslicht nicht zu scheuen. Dessen ungeachtet muß ich mich auch hier abwehrend verhalten, weil ich allerdings der Ansicht bin, daß unter den dargelegten Umständen es dem Protest zu viel Ehre anthun hieße, wenn wir denselben noch weiter berücksichtigen wollten, nachdem er in einzelnen, wesentlichen Punkten sich als durchaus unwahr und verleumderisch erwiesen hat. Sollte der eine oder der andere katholische Geistliche wirklich seine Pflicht bei den Crefelder Wahlen verletzt haben, dann wird — davon seien Sie überzeugt — auch ohne Ihr Zuthun der hochwürdigste Herr Erz­ bischof von Köln einschreiten und die Wiederholung ähnlicher Ungeheuerlichkeiten für die Zukunft in Uebereinstimmung mit seinem Hirtenschreiben und in Uebereinstimmung mit seiner seitherigen Praxis zu verhindern wissen. — Zch bitte Sie, m. H., die Wahl des Herrn Dr. August Reichensperger einfach zu bestätigen und alle weiter gehenden Anträge der Abtheilung abzulehnen! (Br. in der Centrumspartei.) (Die Abgg. Kanngießer und Duncker haben den Antrag erhoben: Die Wahl des Abg. Dr. Reichensperger im 11. Düsseldorfer Wahlbezirk zu beanstanden und den Herrn Bundeskanzler aufzufordern, die in dem Protest d. d. Crefeld 28. März 1871 be­ haupteten Thatsachen durch richterliche Untersuchung feststellen zu lassen.) Abg. Kanngießer: M. H., aus der Fülle des Stoffes, der Zhnen theils in dem Referate des Berichterstatters, theils in dem vorangegangenen Vortrage entgegengetragen worden ist, will ich kurz die Punkte präcisiren, mit denen meines Erachtens der Antrag auf Beanstandung steht und fällt. — Es ist das zunächst die behauptete Benutzung der Kanzel und der Kinderlehre in Anrath, Lank, Fischelen und Böckum zu politischen Er­ örterungen, namentlich zur Empfehlung des Herrn Reichensperger. M. H., die Ver­ wendung der Kanzel zu politischen Erörterungen ist wiederholt in diesem Hause der Gegenstand mehrfacher, vielleicht allzu lebhafter Verhandlung gewesen. Zch will daher diese Frage hier nicht weiter ausführen und aufrühren, das Haus hat in dieser Sache entschieden. Nur soviel will ich sagen, daß nach meiner Meinung die Benutzung der Kinderlehre rechtlich und sittlich der Benutzung der Kanzel zu politischen Zwecken voll­ kommen gleichzustellen sein wird. Was aber in den Verhandlungen bisher weniger hervorgetreten ist, das sind zweitens die in dem Proteste behaupteten und unter Beweis gestellten Erklärungen der Geistlichkeit, die Wahl eines Protestanten sei eine Todsünde, oder, wie es ein an­ deres Mal heißt, sie sei dem Verrath des Judas an Jesu Christo für dreißig Silber­ groschen (H.) gleichzustellen. M. H., diese Aeußerungen sind allerdings nach der Be­ hauptung des Protestes nicht von der Kanzel und nicht in öffentlichen Versammlungen geschehen; aber ich meine deffenungeachtet, sie tragen den amtlichen Charakter an sich. Denn sie enthalten ein kirchlich-religiöses Urtheil, welches aus dem Munde eines Geist­ lichen in den amtlichen Bereich der kirchlichen Belehrung fällt und mit autoritärer Gewalt verbunden ist. Ebenso werden Sie nicht bezweifeln, daß darin, ein amt­ licher Mißbrauch enthalten, eine schwere Verletzung des Religionsfrieden begriffen sein würde. Zch komme nun auf den dritten Punkt, auf den wir den Antrag stützen, auf jene in dem Protest behauptete und unter Beweis gestellte Einsammlung von 4—5000 Unterschriften für die Wahl des Herrn Reichensperger. M. H., ich gebe vollständig zu, daß eine schriftliche Erklärung, für eine bestimmte Person zu stimmen, eine schriftliche

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Einzeichnung in eine offenliegende Liste unter Umständen durchaus nichts Bedenkliches hat. Dasjenige, was dies Verfahren hier für die Wahlfreiheit gefährlich macht, ist, daß nach der Behauptung des Protestes jene Einzeichnung veranlaßt worden ist von der Geistlichkeit. M. H., in einem solchen Falle, wo die öffentlichen Gewalten, sei es die Gewalt der Kirche, sei es die Gewalt des Staates, solche vorgängige schrift­ liche Abstimmungen veranlassen/da ist meines Erachtens der Wähler in dem Augen­ blicke, wo er gerade frei sein soll, am Wahltage im Augenblick der Stimmenabgabe, nicht mehr vollständig frei, (W. der Centrumspartei), er ist an seine- frühere schriftliche Erklärung gebunden. (S. w.! I.) Das entscheidende Gewicht liegt daher — ich wie­ derhole es — darauf, daß die Geistlichen diese Einzeichnungen veranlaßt haben. Nun gebe ich dem Herrn Vorredner zu, daß, wenn man lediglich die Stimmen derjenigen Ortschaften abrechnet, in denen die fraglichen politischen Ansprachen von der Kanzel erfolgten, jenes Stimmverhältniß herauskommt, welches der Herr Referent uns vorgerechnet hat, und dies ist derartig, daß die Majorität der Stimmen dem Herrn Abg. Reichensperger verbleibt. Die Minorität der Abtheilung hielt es aber für einen Zrrthum, wenn man lediglich die Stimmen in den betreffenden Ortschaften berechnet und damit die Thatsachen im Einzelnen gewürdigt hat, ohne den Zusammen­ hang derselben ins Auge zu fassen. Sie glaubte in den vorgetragenen Thatsachen des Protestes die Symptome einer Wahlbeeinflussung zu finden, welche auf dem gesammten Wahlkreis einen die Wahlfreiheit lähmenden Druck hervorgerufen hat. Bei dieser Annahme wurde die Minorität der Abtheilung durch folgende Erwä­ gungen geleitet. Die Ansprachen waren an verschiedenen Orten des Wahlkreises, von verschiedenen Kanzeln, durch verschiedene Geistliche erfolgt; sie mußten deshalb in einer Zeit, wo das gesammte Interesse des Kreises sich den Wahlen zuwandte, offenbar den ganzen Wahlkreis durchdringen; sie gingen, wie es in dem Proteste, wenn ich nicht irre, heißt, „von Mund zu Mund." Nun ist von dem Herrn Vorredner gesagt wor­ den: ja, der Herr Erzbischof hat doch ganz anders gesprochen und deshalb gilt alles das, was in dem Proteste von den Ansprachen der Geistlichen gesagt ist, nichts. Ich meine, darin wird man ihm nicht folgen können. Der Herr Erzbischof hat gesprochen in der Zeitung, und Zeitungen werden in der Regel von dem Volke nicht gelesen, zumal, wenn ich dem Herrn Vorredner einräume, der größte Theil der Bevölkerung aus Katholiken, aber auch zugleich aus armen Webern besteht, die in der That nicht Zeit haben, mit der Preffe sich zu beschäftigen, die aber wohl hören, was in der Stadt und im Kreise gesprochen wird. Wenn ich mir nun denke, ein solcher Wähler erfährt, daß von der Kanzel verkündet worden, „Reichensperger ist der Kandidat der Kirche, und die Wahl eines Protestanten ist eine Todsünde," ja dann sage ich, der Mann hat keine Wahl mehr, und wenn er in der That nachher für den Abg. Reichen­ sperger gestimmt hat, so war diese Wahl nicht mehr frei. Endlich noch muß ich zur Verstärkung der Auffassung der Minorität anführen, daß ein anderweiter Protest dem Reichstage überreicht und der sechsten Abtheilung zur Kenntniß gebracht ist, welcher von Protestanten und Katholiken der Stadt Cöln gemeinsam ausgegangen sind. Zn diesem heißt es im Eingänge: „Der Aus­ fall -er jüngsten Reichstagswahl in der Rheinprovinz hat unter dem größten Theile der gebildeten und vaterlandsliebenden Bevölkerung eine allgemeine Entrüstung hervorge­ rufen," und dann wird, nachdem eine Reihe von Mißbräuchen geschildet ist, fortge­ fahren: „derartige Mißbräuche sind in unserer Stadt wie im ganzen Rheinlande vielfach vorgekommen." — M. H., der Protest wird Gegenstand eines besonderen Antrages an dieses Haus werden. Zch habe mich nur verpflichtet gehalten, denselben kurz zu berühren, muß nun aber auch eine vor einer Viertelstunde mir zugegangenen Erklärung des Central-Wahlkomites der Verfaffungspartei in Cöln mittheilen. Es heißt darin: „Zn Erwägung, daß — abgesehen von dem auffallenden, ganz unmotivirten Angriffe auf das allge­ meine Stimmrecht — der Inhalt des Protestes, nach gründlicher Beleuchtung und ein­ gehender Besprechung sich als ein jeden Beweises entbehrendes Machwerk herausstellt,

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erklärt die Versammlung, daß sie die Unterzeichner desselben so lange und insoweit der Verleumdung und Beleidigung der Katholiken der Rheinlande und ihrer Kirche bezichtigt, Lis sie die Wahrheit der unerlaubten und nach ihrer eigenen Erklärung unver­ bürgten Thatsachen erwiesen haben." — M. H., wenn Sie die von mir vorgetragenen Thatsachen zusammensassen, so wer­ den Sie der Minorität der Abtheilung die Auffassung nicht verübeln, daß es sich in der That nicht um unstatthafte Wahlbeeinflussungen einzelner Ortschaften des Crefelder Wahlkreises, sondern des ganzen Wahlkreises handelt, und daß dieselbe nament­ lich in der behaupteten Zahl der Unterzeichner der schriftlichen Erklärung, für den Abg. Reichensperger zu stimmen, welche ja 4000 übersteigen soll, einen Fingerzeig für den Umfang der Wahlbeeinflussung findet, womit dann der Abg. Reichensperger nicht mehr die Majorität des Wahlkreises haben würde. — M. H., die Abtheilung hat selbst anerkannt, daß die in dem Protest behaupteten Thatsachen, namentlich was die Benutzung der Kanzel angeht, das Maß erlaubter Wahlagitation der kirchlichen Organe überschritten, und sie hat Ihnen vor­ geschlagen, einen Antrag an den Herrn Reichskanzler zu stellen, eine Untersuchung der­ selben herbeizuführen, mit dem Episkopat zu verhandeln, je nach dem Ergebniß der Untersuchung die Rüge zu veranlassen, welche nach der Meinung der Abtheilung das Verfahren der Geistlichkeit verdienen würde. M. H., wir haben diesen Antrag nicht für geeignet halten können, wir meinen vielmehr, daß er nur dazu geschaffen ist, dem Herrn Reichskanzler Verlegenheiten zu bereiten. Denn, m. H., derselbe hat nicht die Macht, wenn wirklich die Thatsachen des Protestes sich bestätigen und er mit der Ab­ theilung eine Rüge für angemessen halten sollte, diese Rüge durchzusetzen, (H.! H!) und in diese Lage wollen wir ihn nicht bringen. Wir glauben um so weniger ihn in diese Lage bringen zu dürfen, als wir ausnahmsweise in der Lage sind, mehr Macht als der Herr Reichskanzler zu haben. Wir haben nämlich unser Hausrecht, unser Recht der Legitimationsprüfung, welches wir nach dem Umfange der Beeinflussung der öffentlichen Gewalt, sei es der kirchlichen, sei es der staatlichen Gewalt, in strengerer oder milderer Weise zu handhaben in der Lage sind. Nun denke ich, wir haben in erster Linie die Aufgabe, die Wahlfreiheit zu schützen. Es ist uns freilich gesagt worden: „die Wahlfreiheit stände nicht in unserem Wahl­ gesetz"; das ist richtig, sie steht eben nicht darin, weil sie sich von selbst versteht, weil eine jede Wahl die Wahlfreiheit zu ihrer Voraussetzung hat. Es ist uns aber auch vorgehalten: „die Wahlfreiheit sei durch das geheime Stimmrecht von der Verfassung stabilirt und garantirt, und es sei eine Art Beleidigung für das Volk, wenn man bei der geheimen Stimmabgabe die Wahlfreiheit nur irgendwie in Zweifel zieht." M. H., diejenigen Männer, die die norddeutsche Verfassung und das Wahlgesetz gemacht haben, sind wirklich sehr weit von der Fiktion entfernt gewesen, daß mit dem geheimen Stimmrecht die Wahlfreiheit in jedem einzelnen Falle absolut verbürgt sei. Dazu waren sie viel zu erfahren und kannten das Maß politischer Bildung in den einzelnen Volksschichten zu genau, sie waren aber auch zu eifersüchtig auf die Rechte des Reichstages, um ihn irgendwie das Recht seiner souveränen Wahlprüfung zu verschränken. Zn Frankreich bestanden seit des heiligen Ludwig Zeiten Gerichtshöfe, welche, im Falle sich die kirchliche Gewalt Uebergriffe in das staatliche Leben erlaubte, durch rechtsförmliches Urtheil darüber entschieden und die Akte der Kirche für nichtig erklären durften. Das waren die alten Parlamente Frankreichs bis zum 19. Jahr­ hundert, seitdem der Staatsrath. Solche Gerichtshöfe haben wir nicht. Wenn, wie der Protest behauptet, in der That die Geistlichkeit in Creseld die Wahlbewegung miß­ braucht, um die Gewissen zu beunruhigen, wenn sie den Frieden der Konfession gestört hätte, den Frieden, dessen Bewahrerin sie sein soll, den Frieden der Konfessionen, der nach meiner Meinung iu einem paritätischen Lande die Voraussetzung der Selbststän­ digkeit der Kirche ist, alsdann drängen Sie die Staatsgewalt zur Nothwehr und den Reichstag zu einer strengeren Prüfung der Wahlfreiheit, von der ich vorhin sprach. Und nun zum Schluß nur noch ein Wort: Der Herr Präsident stellt bei jeder

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Wahlprüsung meines Erachtens mit vollem Recht die Frage nach der Gültigkeit der Wahl, nicht nach der Ungültigkeit; und in dieser Frage liegt stillschweigend die Frage, ob Sie überzeugt sind, daß bei der Wahl Wahlfreiheit vorhanden war. Sie dürfen daher meines Erachtens eine Wahl nicht für gültig erklären, wo mit Beweis vertretene und begründete Zweifel an der Wahlfreiheit erhoben sind. Solche Zweifel bietet meines Erachtens der Crefelder Protest, und deshalb, glaube ich, werden Sie die Wahl bean­ standen müssen. Zch beantrage dieses bei Ihnen und bitte Sie, damit das Recht der souveränen Wahlprüfung diesem Hause und den Wahlkreisen ihre Freiheit zu wahren. (Br.) Abg. Günther (Sachsen): M. H., obwohl ich die Anschauung theile, daß auch hier wieder unberechtigte Wahlagitationen der katholischen Geistlichkeit vorgekommen sind, habe ich doch in der Abtheilung gegen die Beanstandung und für den Antrag des Herrn Referenten gestimmt und werde auch heute dafür stimmen, nicht um damit eine mildere Anschauung der Sachlage zu konstatiren, sondern weil ich glaube, daß wir auf dem von dem Herrn Referenten vorgeschlagenen Wege der Prinzipfrage näher treten, deren Lösung mir täglich nöthiger erscheint, der Frage: inwieweit ist die Einmischung der katholischen Geistlichkeit bei den Wahlen überhaupt berechtigt? Die Lösung würde freilich am einfachsten erfolgen, wenn die katholische Geistlichkeit ihrerseits freiwillig auf eine Mitwirkung bei den Wahlen verzichtete, (H.) — wenn sie dieselbe Freiheit und Selbstständigkeit, welche sie für innere kirchliche Angelegenheiten für sich in Anspruch nimmt, auch dem Staate zu Theil werden ließe und sich in Folge dessen da nicht ein­ mischte, wo es sich nicht um innere kirchliche Angelegenheiten, sondern um Dinge von staatlicher und politischer Natur handelt, wie bei den Reichstagswahlen. Allein, m. H., diese Einmischung ist doch nun einmal vorhanden, sie wird gewissermaßen als Recht beansprucht, und bis zu einem gewissen Grade wird auch von anderer Seite diese Be­ rechtigung anerkannt. Zch erlaube mir in dieser Beziehung auf den bischöflichen Erlaß Bezug zu nehmen, welcher Ihnen vorhin von dem Herrn Korreferenten vorgelesen ist, und welcher allgemeine Ermahnungen enthält, daß die katholische Geistlichkeit dafür Sorge tragen möge, kirchlich und christlich gesinnte katholische Männer zu wählen. Zch möchte glauben, daß ein solcher allgemeiner Erlaß ernstlichen Anstoß nicht gefunden hat; wenigstens ist er, soviel mir bekannt ist, von den Behörden nicht beanstandet worden. Man anerkennt also die Berechtigung der katholischen Geistlichkeit, bei den Wahlen mitzuwirken, bis zu einem gewissen Grade. Wenn man das aber thut, m. H., so entsteht bei dem Mangel genügender gesetzlicher Bestimmungen über die Grenze der Berechtigung dieser Wahlbeeinflussungen sofort die Frage: wo beginnt denn die Unzu­ träglichkeit, die Unzulässigkeit dieser Beeinflussung, inwieweit ist die Wahlagitation be­ rechtigt oder nicht? Man begiebt sich auf das Gebiet der Meinungsverschiedenheiten, der willkürlichen Beurtheilung, der Gefühlseindrücke und vielleicht auch hin und wieder der parteilichen Interessen und Zwecke. Solche Meinungsverschiedenheiten, m. H., haben wir bei der Beurtheilung der klerikal beeinflußten Wahlen außerordentlich viele gehört; ich will sie nicht wiederholen, sondern nur auf ein paar Punkte Bezug nehmen, die gerade bei der vorliegenden Wahl besonders wieder in Frage kommen, auf die Frage zunächst: inwieweit ist es gestattet, die Kanzel zu Wahlzwecken zu gebrauchen? Von anderer Seite hat man behauptet, es sei das durchaus ein für alle Mal zulässig. Von anderer Seite hat man wieder das Gegentheil ausgesprochen und gemeint, es dürfe nur der Name des Wahlkandidaten nicht genannt werden. Wieder von anderer Seite hat man geäußert, es könne sich nicht um das einzelne Faktum handeln, sondern um die Kontinuität, und nur das allgemeine Verhalten der Geistlichkeit könne den Maßstab zur Beurtheilung abgeben. M. H., alle diese Annahmen sind mehr oder weniger willkürlich und geben einen wirklichen Maßstab zur Beurtheilung über die Grenze der Zulässigkeit einer Wahlbeeinflussung nicht ab. So lange wir eben eine solche gesetzliche Bestimmung über diese Grenze nicht haben, liegen Gefahren verschiedener Art fortwährend, theilweise auch in dem gegenwärtigen Falle vor. Z. B., m. H., be­ steht die Gefahr der Inkonsequenz; es ist sehr leicht möglich, daß bei dem Mangel gesetzlicher Bestimmungen ähnliche oder beinahe gleiche Fälle verschieden beurtheilt werden,

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und ich kann mich nicht ganz des Eindruckes erwehren, daß wir dieser Gefahr theilweise schon unterlegen sind. Wir wissen, daß die Agitation der katholischen Geistlichkeit überall so ziemlich dieselbe war, und doch haben wir in manchen Fällen Wahlen ge­ nehmigt, die unverkennbar unter dem Einfluß dieser Wahlagitation zu Stande gekommen sind; andere Wahlen haben wir beanstandet, bei denen Aehnliches vorlag, vor einigen Tagen haben wir eine solche Wahl sogar für ungültig erklärt, und heute liegt wieder ein Antrag auf Beanstandung vor. Es liegt aber auch weiter die Gefahr vor, daß Debatten so unerfreulicher und unerquicklicher Att, wie wir sie in diesem Saale immer wieder und wieder gehört haben, (s. w.!) sich wiederholen werden, und ich glaube nicht, daß solche Debatten geeignet sind, den Frieden zu fördern, den wir gewiß Alle in diesem Hause wünschen. (S. r.!) — Endlich aber, m. H., ist der Mangel an gesetz­ lichen Bestimmungen auch für die katholische Geistlichkeit selbst ziemlich peinlich. Ihr eigener Berufseifer und die Anregung der Oberen führt sie dazu, für die Wahlen thätig zu sein; man macht sie darauf aufmerksam, sich aller Ausschreitungen und un­ gesetzlichen Beeinflussungen zu enthalten, aber Niemand weiß, wo die Grenze des Un­ gesetzlichen beginnt. Zur Lösung dieser Frage scheint mir aber der Antrag des Refe­ renten, dessen Sie sich erinnern werden, viel mehr geeignet als der Antrag auf Bean­ standung; denn wenn Sie die Wahl des Abg. Reichensperger beanstanden, oder vielleicht auf Grund von weiter eingezogenen Erkundigungen späterhin kassiren, so treffen Sie immer nur eine Entscheidung über einen einzelnen Fall. Anders ist es mit dem An­ träge des Herrn Referenten, der dahin geht, den Herrn Bundeskanzler zu ersuchen, im Einverständniß mit dem Episkopat Schritte zu thun, um ähnliche Ausschreitungen zu verhindern. Freilich würde ein direkter Antrag auf Herstellung gesetzlicher Bestimmungen mir noch viel zweckmäßiger erscheinen, aber ich möchte glauben, daß der Antrag des Herrn Referenten doch sehr geeignet ist, uns die Lösung der Frage näher zu führen; denn bei dem Vernehmen, in welches der Herr Reichskanzler mit dem Episkopat treten soll, muß die Frage entstehen, was sind Ausschreitungen? Nun bin ich zwar der Meinung, daß zwischen dem Herrn Reichskanzler und dem Episkopat eine Meinungs­ verschiedenheit entstehen wird, (Z. und H.) — die aber doch dahin führen muß, all­ gemeine Normen zu schaffen, auf Grund deren wir später eher im Stande sind, zu beurtheilen, inwieweit der katholische Klerus seine berechtigten Grenzen überschritten habe. Es würde auch nichts schaden, wenn dergleichen Bestimmungen auch auf amt­ liche Beeinflussungen anderer Art sich erstreckten. , Aus diesen Gründen, und da mir der vorliegende Fall nicht als ein solcher erscheint, wo wir — so zu sagen — ein Exempel statuiren müßten, habe ich gegen den Antrag Kanngießer und für den des Referenten gestimmt und möchte Ihnen auch heute noch den Antrag des Herrn Referenten empfehlen. Zch muß aber bekennen, daß zur Zeit, als die Entscheidung in der Abtheilung erfolgte, die Beschlüsse des Hauses in Bezug auf ähnliche Angelegenheiten noch nicht vorlagen, und es wäre wohl möglich, daß Mancher von Zhnen heute eine gewisse Furcht vor Inkonsequenz hätte, wenn man heute von der Beanstandung absehen will, die man in ähnlichen Fälleu früherhin aus­ gesprochen hat. Allein, wie ich vorhin schon sagte, gewisse Inkonsequenzen sind wohl jetzt schon vorgekommen, und ich wiederhole, daß gerade der Fall Reichensperger, be­ sonders nach den von dem Herrn Korreferenten mitgetheilten Notizen, doch nicht ein solcher zu sein scheint, wo eine ganz besonders skrupulöse Strenge einzutreten haben wird. Wie Sie sich aber auch entscheiden mögen, m. H., möchte ich Ihnen doch empfehlen, selbst dann, wenn Sie für Beanstandung stimmen, den Antrag des Herrn Referenten, insoweit er das Gesuch an den Herrn Reichskanzler betrifft, doch anzu­ nehmen; es können beide Anträge recht gut neben einander bestehen. Vor Allem wünsche ich, daß die Lösung der Frage recht bald erfolgen möge und die Bestimmung des zu erwartenden Gesetzes möglichst so lauten möge: jeder amtliche und jeder geist­ liche Einfluß ist unter allen Umständen untersagt! Abg. Dr. Wehrenpfennig: M. H., ich bin mit dem Herrn Vorredner ganz einverstanden, daß es nicht wünschenswerth ist, die allgemeinen Betrachtungen über

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klerikale Wahlbeeinflussungen, die wir, glaube ich, zur Genüge gehabt haben, noch zu vermehren. Vielleicht hätte auch der Herr Vorredner in dieser Beziehung seiner von ihm selbst ausgestellten Regel etwas treuer bleiben können. Nur dagegen muß ich mich verwahren, als ob das Haus bisher eine schwankende Praxis geübt hätte, als ob es grundsatzlos einmal so, einmal so beschlossen hätte, hier sich für Gültigkeit erklärt, dort für Ungültigkeit, hier beanstandet, dort nicht beanstandet hätte. — Daß in den ein­ zelnen Fällen das Endresultat verschieden gelautet hat, ist allerdings richtig; daß aber die Grundsätze verschiedene und schwankende gewesen wären, von denen dieses Endresultat abhing, das bestreite ich ganz positiv. Wenn z. B. gewisse Wahlbeein­ flussungen von Kanzel und Altar aus in einem Bezirk stattgefunden haben, dessen Stimmenzahl sehr viel geringer war, als die Majorität, die der betreffende Abgeord­ nete bei der Wahl erhalten hatte, so versteht es sich von selbst, daß wir auf diese Wahlbeeinflussungen keine Rücksicht nahmen, denn die Majorität dieses Abgeordneten war größer als der Bereich der Wahlbeeinflussungen. Wenn dagegen, wie z. B. bei der Bambergschen Wahl, die Stimmen, von denen wir annehmen mußten, daß sie beeinflußt waren, größer waren als die Majorität, die der Abgeordnete erhalten hatte, so haben wir in Folge dessen die Wahl für ungülttg erklärt. Wenn die behaupteten Thatsachen, falls sie wahr wären, die Wahl zwar ungültig gemacht hätten, aber noch nicht bewiesen waren, so haben wir die Wahl beanstandet. Ich muß also behaupten: Wir sind durchaus konsequent geblieben. Nun, m. H., komme ich auf den Punkt, wo ich mir Ihre spezielle Aufmerksamkeit erbitten möchte, da ich hier eine Ketzerei zu begehen im Begriff bin. Zch kann näm­ lich die Rechnung, welche die Abtheilung angestellt hat, und die früher auch in einigen anderen Abtheilungen angestellt ist, nicht für richtig halten, die Rechnung nämlich, wonach solche angeblich beeinflußten Stimmen von der Gesammtzahl der Abstimmenden abgezogen werden. Das ist die Rechnung, die der Herr Referent uns gemacht hat. Sie erlauben mir wohl, die Zahlen hier vorzulesen. Er sagte: „Selbst wenn der Reichstag alle Sümmen der Bezirke, worin die behaupteten Einflüsse stattgefunden haben, ausschließen wollte, so würde dennoch Reichensperger die absolute Mehrheit be­ halten, denn die abgegebene Gesammt-Stimmenzahl betrug 12,345; zieht man davon die angeblich beeinflußten 2385 Stimmen ab, so bleiben nur noch 9960, die Hälfte davon sind 4980. Herr Reichensperger hat aber mehr als die Hälfte bekommen, folg­ lich würde, selbst wenn alle Thatsachen wahr wären, er immer noch eine Majorität haben." M. H., wenn diese Art der Berechnung richtig wäre, dann würde ich ganz bestimmt für den Antrag des Herrn Referenten und der Abtheilung stimmen müssen, dann müßte ich die Wahl für gültig erklären; aber ich halte jene Berechnung für falsch. Formell — und das bitte ich zu kontroliren, ich kann mich ja irren und lasse mich gerne belehren — formell ungültige Stimmen (Stimmen zum Beispiel auf grauem Papier oder Stimmen mit Namensunterschrift oder dergleichen) müssen natürlich von der Gesammtzahl der Abstimmenden abgezogen werden, denn sie sind wirklich ungültig. Formell gültige Sümmen aber, an denen gar kein Makel haftet, von denen blos behauptet wird, daß bei ihrer Abgabe Beeinflussungen stattgefunden hätten, so daß zum Beispiel der betreffende Wähler Reichensperger schrieb, während er sonst vielleicht Seyffardt geschrieben haben würde, solche formell gültige Stimmen kann ich nicht von der Gesammtzahl der Abstimmenden abziehen, denn sie sind ja gültig. Bei diesen formell gültigen Stimmen kann ich nur behaupten, wenn der Einfluß nicht stattgefunden hätte, dann würde nicht Reichensperger die Stimmen bekommen haben, sondern eventuell der Gegenkandidat. — Die Auffassung ist abweichend von der bisherigen Praxis, viel­ leicht ist sie aber doch richüg, untersuchen Sie nur. Zch kann nur den Zweifel auf­ werfen, daß diese Stimmen, wenn sie nicht beeinflußt gewesen wären, nicht auf Reichen­ sperger, sondern auf den Gegenkandidaten gefallen wären; aber formell gültig sind fte, und als ungültig vernichten und von der Gesammtzahl abziehen darf ich sie nicht. Wenn diese Hypothese, die ich hiermit aufstelle, und deren Widerlegung ich mir erbitte, richtig ist, dann, m. H., ist die Rechnung der Abtheilung unrichtig, dann ist

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die absolute Majorität in diesem Wahlbezirke nicht vermindert worden, nicht her­ abgesunken auf 4980, sondern sie ist dieselbe geblieben wie ursprünglich, nämlich 6173, und wenn ich nun supponire — denn die behaupteten Thatsachen der Wahlbeeinflussung müssen wir ja durch die Untersuchung erst feststellen lassen —, daß wirklich jene 2385 Stimmen in den vier Bezirken so beeinflußt waren, wie in dem Protest behauptet ist, dann hat Herr Reichensperger die absolute Mehrheit verloren, und dann, aber auch nur dann — würden wir die Wahl für ungültig erklären müssen. Abg. von Blanckenburg: M. H., wir sind auf einem Wege, bei dessen Ver­ folgung dasjenige, wessen Herr Dr. Wehrenpfennig uns beschuldigt hat, hier zum Gesetz werden muß. M. H., wenn wir diese Grundsätze anwenden, so werden wir zu dem Resultat kommen, daß das Haus in seiner Mehrheit beschlösse, daß die Partei, welche

sich Centrumspartei nennt, — vielleicht mit Unrecht, man könnte sie vielleicht eine excentrische nennen — (H.) — daß diese Partei die Sitze in diesem Parlamente zu verlassen hat! Der Herr Abg. Kanngießer hat gesagt, das Haus hat entschieden, daß, wenn Einflüsse von der Kanzel, ganz gleich welche, geübt worden sind, dann die Wahl ungültig sei! Wenn Sie diesen Grundsatz als Grundsatz aussprechen, dann kommen wir sehr weit. Seine Konsequenzen sind heute schon gezogen, denn in demselben Athem setzte der Herr Dr. Kanngießer hinzu: „und in der Kinderlehre"; mit demselben Recht können wir auch hinzusetzen: „wenn Einflüsse geübt worden sind über­ haupt durch Geistliche". Za, m. H., auch das haben Sie schon ausgesprochen, Sie haben die Kirche, die Kanzel, den Altar schon bei Seite gelassen; denn Sie haben wörtlich gesagt in jener Debatte: „Gemeindemitglieder sind einem Pfarrer gegenüber, der Zettel austheilt, nicht mehr frei in ihrer Abstim­ mung"; und heute hat der Dr. Kanngießer noch hinzugesetzt: „wenn verkündigt worden ist, daß der Herr Dr. Reichensperger der Kandidat sei, dann sei kein Katholik mehr in dem Wahlkreise frei". So, m. H., fahren Sie nur fort, diese Grundsätze auszudehnen, dann werden wir auch dahin kommen, daß wir über­ haupt jeder Kirche — ich kann auch wohl sagen, auch jeder Korporation, auch jeder anderen Macht im Staate — die Art und Weise vorschreiben, wie sie sich zu benehmen hat, wenn sie Mitglied dieses Hauses bleiben wolle! Sie können ja eben so gut sagen, mit demselben Recht: „so lange überhaupt in der römischen Kirche Ohr en beichte besteht, so lange überhaupt noch das Episkopat besteht, können wir dieser gefährlichen Körperschaft nicht gestatten, daß sie Mitglieder in dieses Haus sen­ det". (S. r.! H.) M. H., ich bestreite, was der Herr Dr. Kanngießer, oder wer es war, sagt, daß wir nicht die Absicht gehabt hätten, mit der geheimen Stimmabgabe wo möglich jede Untersuchung nach Wahlbeeinflussung auszusprechen. Gerade das war eins von den Motiven. M. H., verwerfliche, widergesetzlich geübte Einflüsse, sei es von Beamten, sei es von der Kirche, sei es von anderen Korporationen, die kann ich als Grund der Ungültigkeitserklärung irgend einer Wahl nur dann anerkennen, wenn mir bewiesen wird, daß dadurch so und so viele Stimmen wirklich gegen besseres Wissen unfrei, unter einem gewissen Zwange abgegeben sind. Alles Andere, m. H., ist reine Vermuthung. — Zch bitte Sie, wenn Sie diese Grundsätze, die Sie jetzt aufstellen, gegen die römische Kirche anwenden wollen, doch gerecht zu sein und sie auch auf andere Korporationen auszudehnen. M. H., meine Mitantragsteller vom vorigen Jahre werden sich noch entsinnen, mit welcher rührenden Offenheit man in der Börsenzeitung und anderen derartigen Organen der Börsenkorporation uns bedrohte, im nächsten Jahre dafür zu sorgen, daß wir nicht wieder in das Haus kämen. Für das Mal haben jene Zeitungen sich freilich blamirt und haben bewiesen, daß dort die Macht bis jetzt nicht ist. Aber nehmen Sie doch an, m. H., man kommt zu dieser Macht! Wollen Sie etwa auch alle Wahlen für ungültig erklären, weil Sie ja wissen, daß der Eine, weil er ein Freimaurer ist, nicht stimmen kann gegen einen anderen Freimaurer, und weil Sie wissen, daß Niemand gegen den Kandidaten stimmen kann, von dem er weiß, Neichstags-Repertorium. L

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er ist sein Ches im Verwaltungsrath?! Diese Grundsätze lassen sich nach allen diesen Richtungen hin ausdehnen, und darum bitte und warne ich das Haus, nach dieser Richtung hin nicht weiter zu gehen! (Br.!) M. H., wie kommerr wir nun ferner dazu, wenn wir, — und ich bin hierin Ihrer Meinung, — hier erkennen, daß die römische Kirche verwerfliche Uebergriffe sich hat zu Schulden kommen lassen, daß ste nicht blos in ungeschickter, sondern in ver­ werflicher, in für die Kirche selbst verderblicher Weise eine Agitation von Kanzel und Altar getrieben hat; ich sage, m. H., wenn wir dies mit offenen Augen sehen, wie kommt dieses Haus dazu, die römische Kirche korrigiren zu wollen? Sind wir dazu berufen, der römischen Kirche auszuhelfen? M. H. überlassen Sie das ihr selbst! rvill sie sich damit schädigen, ich kann es nicht und will es nicht ändern! — Und dann noch Eines, m. H.! So sehr ich auch die Fehler anerkenne, die jene Herren begangen haben in der Art der Zusammengruppirung, so warne ich doch auch meine Gegner auf jener Seite (links), nicht in denselben Fehler zu verfallen! M. H., vermeiden Sie selbst den Schein, als machten wir eine Koalition gegen diese Partei! Ich entsinne mich noch der Zeit, m. H., der sogenannten Kölner Wirren! — Als sie längst beseitigt waren, da sagten hervorragende Männer der Kle­ rikalen selbst mit einem gewissen Bedauern: „ach, nun ist jene schöne Zeit vorbei! es war doch eine goldene Zeit, die Zeit der Verfolgung!" M. H., machen wir nicht ganz unnöthig, ohne allen Grund, die Herren dort zu Märtyrern! — Ich bitte Sie daher, revidiren Sie noch einmal diese Grundsätze und sagen Sie nicht, das Haus hat apo­ diktisch beschlossen: wir erklären jede Wahl für ungültig, wenn in irgend einem Wahlbezirke irgend ein Geistlicher auf der Kanzel taktlos eineWahlversammlung angekündigt hat! — Und nun lassen Sie noch einen einzigen Gedanken mich aussprechen. Welch eine Macht geben Sie damit einem Geistlichen auf der Kanzel, wenn Sie diesen Grundsatz annehmen, und welch eine Macht geben Sie einem Landrathe, wenn Sie annehmen, daß, wenn derselbe eine ungeschickte Warnung erlassen hat, er dadurch die Wahl ungültig machen kann. M. H., wenn ich an der Regierung wäre und wollte die Wahlen beeinflussen — wie ich es thun würde —, (H.! H.! l., H.) — dann! m. H., würde ich mich freuen über diesen Grundsatz; denn ich würde dem Landrath befehlen, auf die allerungeschickteste Weise jede Wahl zu em­ pfehlen, die ich nicht haben will. (Gr. H.) Abg. Lasker: M. H., ich habe den Verhandlungen über diese Wahl mit gro­ ßer Aufmerksamkeit zugehört, weil in Ermangelung eines schriftlichen Berichtes ich ja nur aus dem, was in diesem Hause verhandelt wird, mich informiren konnte über meine Schlußabstimmung, und ich muß gestehen, daß ich trotz der Rede des Herrn Abg. von Blanckenburg — ich sage trotz derselben — doch zu keinem anderen Votum kommen kann, als am Schluß dieser Verhandlung, wenn nicht neue und noch wichtigere Thatsachen vorgebracht werden sollten, für die Gültigkeit der Wahl und gegen die Beanstandung zu stimmen. M. H., ich halte in vollem Maße den Grundsatz aufrecht, den ich früher einmal vertreten habe, daß die Agitation von der Kanzel den Geistlichen aller Konfessionen absolut ebenso verwehrt sein muß, wie der direkte Einfluß der Beamten innerhalb ihres Amtskreises, gleichviel ob ein Gesetz diese Agitation bereits verboten hat oder nicht, und ich meine deshalb, daß das Haus in der früheren Wahl des Herrn Schüttinger, die heut erwähnt worden ist, zwar einen sehr strengen Beschluß, aber keinesweges einen excentrischen gefaßt hat, sondern nach der Berechnung war uns nachgewiesen, daß die Agitation von der Kanzel herunter geschehen ist in Anwesenheit so vieler Wähler, als nach unserer Berechnung ausschlaggebend gewesen ist für die Majorität, und wir befolgen immer den Grundsatz, daß man nicht das innere Ge­ zwungenwerden zu beweisen braucht, sondern lediglich den Zusammenhang der äußeren Thatsachen, um die Wahl für eine nicht gehörige zu erklären, für eine solche, die in unerlaubter Weise beeinflußt ist. Aber, m. H., ich habe nach allen Thatsachen, die hier vorgetragen worden sind, .mich nicht überzeugen können, daß wir selbst bei der äußersten Strenge in der Lage wären, die gegenwärtige Wahl zu beanstanden. Ich

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muß allerdings sagen, daß die Praxis, welche unter Wahrung der vollsten freien Ent­ scheidung für das Schlußvotum es leichter nimmt mit der Beanstandung, mir keines­ wegs gefällt; theoretische Beweisaufnahmen halte ich nicht für gestattet, um gewisse interessante Thatsachen bei Gelegenheit der Wahlen zu ermitteln; das halte ich für ein sehr gefährliches Prinzip. Wenn ich eine Beanstandung ausspreche, so thue ich es nur, wenn ich heute schon bereit bin zu einer Abstimmung, daß, falls die Thatsachen erwiesen wären, ich die Wahl vernichten würde, und ich habe deshalb mit der größten Strenge heute so wie bei der Schlußabstimmung zu prüfen, ob die hier von beiden Seiten behaupteten Thatsachen geeignet sind, anzunehmen, daß entweder der Herr Abg. Reichensperger die Majorität unbeeinflußter Wähler nicht gehabt, oder die-ganze Wahl­ handlung als eine verderbte betrachtet werden muß; denn auch dies, m. H., gebe ich zu, daß es Umstände giebt, unter denen wir von einer Berechnung gänzlich absehen und feststellen müssen, es liege eine verderbte Wahl vor. Keiner dieser Fälle aber liegt vor; denn, m. H., es sind in dem Protest mehrere Punkte behauptet worden, von denen einige von der anderen Seite widerlegt und von dieser Seite nicht erhärtet worden sind, namentlich die Frage, ob Geistliche Stimmen eingesammelt, und die Unter­ schriften mit eidesstattlicher Versicherung haben abgeben lassen. Wenn mir nachgewiesen wäre, daß 4000 Wähler unter eidesstattlicher Versicherung sich früher verpflichtet ge­ habt, für den Herrn Reichensperger zu stimmen, so würde ich alle diese 4000 Stimmen für nichtig erklären müssen, denn die Wähler wären dann in die Lage gebracht, ent­ weder vorher öffentlich ihre Stimme bereits abgegeben zu haben, oder gegen die eides­ stattliche Versicherung zu handeln; und wenn auch diese eidesstattliche Versicherung nicht bindend ist vor dem Gesetz in dem Sinne, daß ein Strafverfahren damit ver­ knüpft werden könnte, so wäre doch schon die Verleitung, daß der Wähler in einen solchen Gewissenskonflikt gebracht wird, mir ausreichend, um die Wahl für eine schlecht beeinflußte zu halten. Aber es ist von dem Herrn Abg. Bock ein Schema vorgelesen worden, das von den Protesterhebern selbst eingereicht sein soll. Ich habe dieses Schema mit angehört, und es ist nicht bestritten worden von dieser Seite; darin war blos eine einfache Erklärung enthalten, man wolle für den Herrn Abg. Reichensperger stimmen. Von einer eidesstattlichen Versicherung habe ich nicht das Mindeste gehört, und ich glaube, auf keiner Seite des Hauses wird man das bloße Einsammeln von Stimmen und das vorherige Sichverpflichten für die eine oder für die andere Seite verbieten wollen; wenigstens gehe ich nicht soweit. Wenn nun Geistliche Stimmen eingesammelt haben sollen, so ist für mich die Grenze allerdings gegeben: die Geistlichen sind Staats­ bürger wie alle anderen Staatsbürger, und sie dürfen sich als Privatleute in die Wahl­ agitation mischen wie die anderen Privatleute. Ich habe dies schon in der Debatte, auf die vielfach angespielt worden ist, dem Herrn Abg. Reichensperger gegenüber fest­ gehalten, daß ich nicht zu beurtheilen habe, ob die Geistlichkeit, die sich in die Wahl­ agitationen mischt, dem besonderen kirchlichen Interesse ihrer Religion diene. Das liegt mir nicht zu beurtheilen ob. Aber die feste Grenze ziehe ich mir, daß die Stelle, von der aus Geistliche öffentlich unter der Wirkung religiöser Andachtsübungen zu den Ver­ sammelten sprechen, nicht benutzt werden dürfe zu Wahlagitationen. Dieser Grundsatz ist streng; aber wir sind gewohnt, Strenge bei den Wahlprüsungen zu üben, sowohl wenn es sich um Mitglieder von unserer, wie wenn es sich um Mitglieder von der anderen Seite handelt. Indessen, die Thatsache ist nicht widerlegt worden, daß, selbst wenn die Stimmen sämmtlicher Wähler, die der gottesdienstlichen Ver­ sammlung beigewohnt haben, in welcher die Wahl des Herrn Abg. Reichensperger empfohlen worden ist,' von der Gesammtzahl der Wähler abgezogen werden, der Herr Abg. Reichensperger immer noch die Majorität für sich hat. Es hat dies mit aller Bestimmtheit der Herr Abg. Dr. Wehrenpsennig ausgesprochen für den Fall, daß seine Hypothese, wie er es genannt hat, nicht für die richtige gehalten würde, und dieser thatsächliche Umstand ist für mich entscheidend. Denn so weit zu gehen bis zu der Vermuthung, daß eine Empfehlung von der Kanzel durch mündliche Berichte weiter getragen sei zu solchen Personen, die nicht gegenwärtig waren und dennoch beein7*

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flußt sein sollen, das ist mir viel zu künstlich. Für mich liegt das Unerlaubte der Beeinflussung darin, daß Jemandem, während er religiös andachtsvoll gestimmt ist, in der religiösen Versammlung von seinem Geistlichen und Seelsorger gewissermaßen Namens der Religion ein Kandidat empfohlen wird. Aber auch das etwaige Weitertragen treffen zu wollen, daß Jemand unerlaubt beeinflußt sei, weil ihm gesagt sein könne, der Geist­ liche habe diesen Kandidaten als wählenswerth empfohlen, — so weit zu gehen bin ich unmöglich im Stande. M. H., es heißt in der That, einer befleckten und beeinflußten Stimme zu viel Ehre anthun, wenn Sie dieselbe, weil sie eine formell gültige Stimme sei, in Rechnung ziehen, daß sie möglicherweise dem Gegenkandidaten hätte zu gute kommen können. Sie wollen das Wahlrecht einem Manne retten, der eben von diesem Wahlrechte einen guten Gebrauch nicht gemacht hat, und dies halte ich für entschieden falsch. Ein Wähler, der aus formellen Gründen eine ungültige Stimme abgegeben hat, kann immer noch ein guter Wähler bleiben, und ich bedaure, daß er durch formelle Fehler nicht dazu gekommen ist, sein Wahlrecht aüszuüben. Ein Wähler aber, der sich hat beein­ flussen lassen, dessen Stimme ist mir gar nichts werth, und ich habe auch nicht zu be­ dauern, daß ihm nicht die Freiheit gegeben worden ist, für einen Anderen zu stimmen. Deshalb, m. H., würden wir viel zu weit gehen, wenn wir die Rechnung so anlegten, daß der beeinflußte Wähler nicht allein als gänzlich nicht wählend ausscheidet, sondern daß wir ihn gewissermaßen als wählend behandeln und hypothetisch unterlegen, er würde für den Gegner oder einen Anderen gestimmt haben. M. H., wir dürfen und sollen bei den Wahlen mit der größten Strenge vorgehen; aber wenn Sie in voller Strenge sich selber treu bleiben wollen, und wenn Sie trotz der Strenge Zhr Votum in der öffentlichen Meinung auch überall gerechtfertigt wissen wollen, wenn die Wähler sich nicht gekränkt fühlen sollen, weil ihr Votum zurückgewiesen wird, so kommt es darauf an, Zhre Deduktionen nicht zu künstlich zu machen, nicht eine drei- und vier­ fache Rückwirkung des Fehlers anzunehmen und gewissermaßen künstlich aus einer un­ tauglichen Wahlstimme eine taugliche zu machen. Weil nun für mich klar vorliegt,, wie auch von dieser Seite (links) zugestanden worden ist, daß die Majorität noch immer für Herrn Reichensperger vorhanden sein würde, selbst bei der Strenge, daß jede beeinflußte Stimme für ungültig erklärt wird, bin ich für die Gültigkeit der Wahl. Gegen den zweiten Theil des Antrages, den die Abtheilung Ihnen anzunehmen vorgeschlagen hat, muß ich. mich gleichfalls erklären, weil es nicht unsere Sache ist, die Staatsbehörde aufzufordern, in welcher Weise sie am schicklichsten in einen Konflikt mit den kirchlichen Oberbehörden gelangen kann. Unsere Sache ist es, zu fragen: liegt Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Wahl vor und ohne Rückfrage an die Behörden zu entscheiden. Ich freue mich sagen zu dürfen, daß ich aus vollster Ueberzeugung schon heute für die Gültigkeit der Wahl stimmen kann. Abg. von Keudell: M. H., in der Abtheilung habe ich mit den Abgg. Kanngießer und Duncker für die Beanstandung der Wahl gestimmt und werde dieses Votum heute wiederholen, ohne mir alle Motive der Herren Antragsteller anzueignen. Ich lege Gewicht nur auf einen Punkt: das ist nämlich die Einsammlung von schrift­ lichen Voten vor der Wahl, nach Behauptung der Verfasser des Protestes in der Zahl von 4000. M. H., ich bin sehr erstaunt gewesen, zu hören, daß der Abg. Lasker die Sache anders beurtheilen würde, wenn eine eidesstattliche Versicherung diesen Unter­ schriften beigefügt oder vorangestellt wäre. Auf diese kommt es meines Erachtens nicht an. Zeder zur Ausübung eines politischen Rechtes, des Wahlrechtes, berufene Mann ist meines Erachtens verpflichtet, sein gegebenes Wort zu lösen, und wenn dies ein armer und ungebildeter Mann ist, so macht das keinen Unterschied. Ich halte aller­ dings diejenigen Personen, welche einen gewissen Fragebogen unterschrieben haben, der ihnen vorgelegt worden ist, und der sie für die Wahl des Herrn Reichensperger zu stimmen verpflichtet, nun weiter für verpflichtet, in der Wahlhandlung dieses ihr Wort einzulösen, gleichviel ob darüber eine Kontrole stattfindet oder nicht. Die Abfassung dieser Wahlbogen bietet noch zu manchen Betrachtungen Anlaß.

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Es steht darüber: „dem Komits für die Wahl des Herrn Reichensperger treten bei" — dann folgen eine Reihe von Unterschriften, deren Zügen man leicht ansieht, daß mindestens die Schreiber nicht gewohnt sind, als Mitglieder von Wahlkomites sich zu geriren. Man kann dagegen einwenden, es sei im Gesetz nicht verboten, daß Zeder vorher mündlich oder schriftlich erkläre, wie er in der Wahl stimmen wolle. Es hat immer Wahlkomites gegeben und wird immer Wahlkomitös geben. Aber, m. H., ich gebe zu bedenken, ob es nicht eine Grenze der Zahl nach gibt, jenseits welcher solche Erklärungen aufhören mit dem Gesetz im Einklang zu stehen, mit dem Gesetze, welches das Geheimniß^ der Abstimmung, die Einheit des Ortes uud die Einheit der Zeit für die Wahl vorschreibt. Ich setze den Fall, sämmtliche Wähler in einem Bezirk erklärten vorher schriftlich, wie sie stimmen wollten: dann wäre der Wahlakt überflüssig, dann brauchte man nur die Listen zusammenstellen und würde so das Resultat finden. Nach meinem Dafürhalten — ich gebe zu, es läßt fich darüber streiten — aber nach meinem Dafürhalten ist es bereits ein die Wahl entscheidender Akt, wenn 4000 Personen, welche in diesem Falle ein Drittheil der gesammten Wählerschaft darstellen, vorher sich schriftlich verpflichten, so oder so stimmen zu wollen. Das heißt nichts Anderes, als den entscheidenden Akt der Wahl außerhalb des Wahltages, außerhalb des Wahllokals vollziehen. Zch halte es deshalb für unerläßlich, daß der Reichstag sich noch einmal mit der Frage beschäftigt, wenn durch gerichtliche Untersuchung festgestellt sein wird, in welchem Umfange diese Stimmeneinsammlungen stattgefunden haben. Wenn es sich nur um ein paar Zettel handelte, wie sie hier bei den Akten sich befinden, so würde ich dar­ über hinweggehen; da die Sache aber einen weiteren Umfang gewonnen hat, so halte ich dies für einen äußerst gefährlichen Präzedenzfall. Man braucht keine besondere Sehergabe, um vorauszusagen, was bei der nächsten Wahl geschehen wird, wenn dieser Fall unbeanstandet bleibt; (f. w.! l.) — wir werden dann in sehr vielen Wahlkreisen das Resultat, welches die Wahl haben wird, sich in den Wochen vor dem Wahltage vollziehen sehen, (s. w.! l.) — und das Gesetz wird in seinen wichtigen Prinzipien zu einer Chimäre. Zch ersuche meine Freunde von dieser Seite des Hauses (nach rechts), welche diesen Umstand aus dem Referat vielleicht nicht entnommen haben, sich noch einmal die Frage vorzulegen, ob sie unter diesen Umständen gegen die Beanstan­ dung der Wahl stimmen können und vor dem Vorwurf der Inkonsequenz sich nicht scheuen. (Br.! l.) Abg. Dr. Windthorst: Das Kardinalprincip, welches hier in Frage ist, kann ich nicht genug dem Nachdenken eines Jeden empfehlen. Es ist in der That bei dem allgemeinen direkten Wahlrecht die Frage, wie auf die Abgabe der Stimmen gewirkt sein mag, selbstverständlich immer auf dem rein intellektuellen Wege, und wieweit diese Einwirkung gewirkt, für die Beurtheilung der Gültigkeit des Resultats der Wahl indifferent. Zch muß es wiederholen, daß wir kein all­ gemeines direktes Wahlrecht haben können, wenn wir nicht voraussetzen, daß das Volk selbst denkt und selbst sich entschließt nach vorgängiger eigener Ueberlegung, mag man als Material zu dieser seiner Ueberlegung von dieser oder von der anderen Seite auf intellektuellem Wege Beihülfe gewähren. Wenn wir diese Voraussetzung nicht machen können, dann müssen wir das allgemeine direkte Wahlrecht so rasch wie möglich beseitigen, denn dann haben wir die wichtigsten und heiligsten Interessen des Vaterlandes in die Hände Unmündiger gelegt, — und das ist im höchsten Grade bedenklich, bedenklich namentlich in einer Zeit, wie die heutige, wo die Grund­ lagen der menschlichen Gesellschaft auf das Tiefste erschüttert sind. M. H., es ist un­ zweifelhaft, daß man bei dem allgemeinen direkten Wahlrecht (und das würde auch bei dem indirekten gelten) Interesse haben konnte, das geheime Stimmrecht herzustellen. Zch bekenne Zhnen, daß ich gar nicht für das geheime Stimmrecht bin, weder in der indirekten noch in der direkten Wahl, immer ausgehend von der Voraussetzung, daß das Wahlrecht nur in die Hände gelegt wird, welche es üben können, welche Einsicht und Charakter genug haben, es richtig zu üben, andere Hände sollen gar nicht wählen.

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Wenn man aber von einem anderen Standpunkt einmal ausgeht — und es scheint sogar, daß in England man jetzt zu dieser Anschauung gekommen ist —, dann sollte man doch nicht bezweifeln, daß die geheime Stimmabgabe genügende Sicherheit ge­ währt gegen alle Einflüsse, mögen sie von den Parteien, mögen sie von Korporationen, mögen sie vom Staate ausgehen. Und ist etwa der jetzige Modus für die Geheim­ haltung noch nicht genügend, so will ich auf einen Modus des Herrn Sombart ein­ gehen, nämlich den, daß wir noch Couverte für die abzugebenden Stimmzettel dazu geben. Mit diesem geheimen Stimmrechte aber sind in der That alle unberechtigten Einflüsse beseitigt, und Alles, was vorher geschieht, kann ich nur ansehen als das Material, welches man dem einsichtigen, zu dem höchsten und wichtigsten Akte berufenen Volke für seine Beurtheilung vorlegt. Darum kann ich auch meines Theiles gar nicht annehmen, daß man die ungeeig­ netsten Aeußerungen der Staatsbeamten, die ungeeignetsten Aeußerungen der Parteien — und die sind sehr stark gewesen —, die ungeeignetsten angeblichen Aeußerungen der Geistlichkeit irgend wie weiter in Betracht ziehen kann. Zch mache dabei, weil hier immer nur von katholischen Geistlichen gesprochen wird, aufmerksam, daß die pro­ testantischen Geistlichen an sehr vielen Stellen Deutschlands ebenfalls sehr energisch eingewirkt haben, die rationalistischen für Sie (nach links) und die anderen für die andere Seite. (Ruf: Beweise!) Nun entsteht die Frage: sollen denn die Geistlichen auf der Kanzel überhaupt nichts Politisches äußern, insbesondere in Beziehung auf die Wahlen? Und da weiche ich ganz entschieden ab von vielen Voten, die hier gefallen sind. Ich behaupte, daß die Geistlichkeit gar nicht umhin kann, auf der Kanzel auch die Politik zu berühren. (Lebh. Rufe l.: H.! H.!) Za wohl, „hört! hört!" sage ich selbst; (gr. H.) — denn ich wünsche, daß man es lebendig hört und beherzigt, was ich jetzt gesagt habe. — Die Geistlichkeit soll die zehn Gebote vor Allem klar und bestimmt dem Volke vor­ legen, und, m. H., immer in Anwendung auf das Leben ringsum; und das Leben ringsum verlangt sehr bestimmt und mit Flammenzügen, daß sie über die zehn Gebote auch auf politischem Gebiete spricht! (S. g.! im C.) Die Geistlichkeit soll meines Erachtens namentlich auch bei den Wahlen sich äußern. Denn, m. H., aus den Wahlen gehen die Vertreter des Volks hervor; Sie Alle — und ich leugne nicht, daß ich angesteckt werde — sprechen täglich viel von der Souveränetät dieses Hauses, und in der That scheint es prächtig, wenn man souverän ist. Wenn man aber eine solche souveräne Versammlung schafft, die entscheiden soll über die wichtigsten und durchschlagenden Verhältnisse des Lebens — und das sind aller­ dings insbesondere die, welche die Kirche und die Geistlichkeit vertreten —: sollen dabei die Geistlichen mundtodt sein? sollen sie nicht ausfordern, daß man richtige Wahlen macht? (Ruf L: Zn Versammlungen!) — Nein, auf der Kanzel sollen sie es thun! (H.! H.! l.) M. H., in Frankreich hat man ähnlich gesprochen, wie die Herren, die mich unterbrochen haben: die Zünger Voltaires dort haben mit Verachtung hingesehen auf das Volk der Bretagne und der Vendee, indem sie sagten, dieses Volk ist den kleri­ kalen Einflüssen unterworfen; — heute sehen dieselben Zünger des Voltaire — sie sind gegenüber der Kommüne, den kommunistischen und sozialistischen Elementen — (U.) — sie sehen mit Sorgen hin, ob noch nicht die Armeen aus der Bretagne und der Vendee erscheinen, mit dem Rosenkranz im Gürtel nnd mit dem Bilde der heiligen Maria auf ihren Fahnen! (S. w.!) — M. H., ich wünsche wahrhaftig nicht, daß es jemals in Deutschland zu einem Schauspiel, erschreckend und erschütternd, wie wir es in Paris sehen, kommen möge: aber es kann kommen, und wir werden uns dann freuen, wenn die Geistlichkeit noch einen Einfluß auf das Volk hat, und wenn das Volk ihr folgt, wenn es mit fliegenden Fahnen an die Urne geht. (Br.!) M. H., dann ist, um auf die Sache zurückzukommen, die speciell uns beschäftigt, das doch unzweifelhaft klar gestellt aus dem Berichte des Referenten, aus den Ergän­ zungen des Herrn Korreferenten, daß unter allen Umständen, selbst dann, wenn

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die Bezirke abgesondert werden, in welchen angeblich ein unberechtigter Einfluß statt­ gehabt haben soll, die Majorität für Reichensperger bleibt. Wie kann man dann noch die Wahl beanstanden wollen, selbst wenn man die Principien nicht gelten lassen will, die ich hervorgehoben habe, und die in ihrer Nichtbeachtung gewiß dahin führen, daß schließlich dieses Haus nicht mehr nach bestimmten Gesetzen urtheilt, sondern gar leicht sich verleiten lassen kann — nicht bewußt, das setze ich bei Keinem voraus —, daß es sich verleiten lassen kann, nach Parteirücksichten zu gehen. Es ist das einer der Punkte, in denen ich den beredten Worten des Herrn von Blankenburg un­ bedingt beitrete. Nun komme ich noch auf die Bemerkungen des Herrn von Keudell. Der Herr von Keudell meint, das Allergesährlichste wäre hier, daß angeblich 4000 Menschen unterschrieben haben sollen, Reichensperger zu wählen. M. H., zunächst habe ich — ich kann aber vielleicht nicht ganz recht unterrichtet sein — nicht gehört, daß die Behaup­ tung aufgestellt worden, daß die 4000 unterschrieben hätten, daß sie Reichensperger wählen wollen; ich habe nur vernommen, daß sie einem Komitä beitreten, welches Reichensperger wählen wolle — (Gel.) — m. H., das ist allerdings ein feiner Unter­ schied, aber doch ist er da: (H.) — ich kenne eine ganze Reihe von Männern, die ihrer Verhältnisse wegen im öffentlichen und Privatdienst sich genöthigt sehen, diesem und jenem Komits beizutreten, und die trotzdem anders gestimmt, ja auch anders agitirt haben. (W.) — Es ist deshalb der von mir gemachte Unterschied recht erheblich. Dann aber bemerke ich, daß gar nicht von eidesstattlicher Unterschrift die Rede sein kann. Das, was uns hier vorgelegt, beweist das zur Genüge; auch ist in den vor­ gelegten Aktenstücken von 4000 Unterschriften nicht die Rede. Wenn der Herr Abgeordnete dann glaubt, es seien einige Unterschriften da, die nicht perfekt geschrieben seien, so mache ich ihn darauf aufmerksam, daß bei längerer Anwesenheit in der Mitte des Volkes und namentlich einer ländlichen Bevölkerung er finden wird, daß viele und sehr tüchtige Leute, die wohl wissen, was sie wollen, und die Energie genug haben, ihren Willen zum Ausdruck zu bringen, doch nicht in der Lage sind, eine Kanzleihand zu schreiben. (H.) — Die Unleserlichkeit der Handschrift ist also gar kein Beweis nach irgend welcher Richtung, daß die Leute, welche unter­ schrieben haben, nicht solche sein, die nicht recht gewußt, was sie thaten. Außerdem habe ich auch nicht gehört, daß die Abtheilung diese Unterschriftsfrage eruirt wissen will, sondern nur die unzulässige geistliche angebliche Einwirkung. Endlich möchte ich wissen, was man denn dazu sagt, daß ein Komitä für Herrn Seyffardt vom 18. Februar in einer mir hier vorliegenden großen Druckschrift, wahrscheinlich für die Litfaßsäulen in Creseld bestimmt, mit einer Unterschriftenzahl von 226 in sehr energischer Weise für Herrn Seyffardt sich ausgesprochen hat. Die Unterschriften sind in diesem Falle gedruckt vor­ handen, und gedruckt ist doch noch immer mehr als geschrieben. (H.) — Das ist blos aus Creseld; aus den anderen Orten wird man vielleicht noch mehr bringen, man ist nur noch nicht darauf gefallen. Endlich muß ich entschieden das Princip ablehnen, was der Herr Abgeordnete aufgestellt hat. Es kommt nur darauf an, daß die officielle Stimmenabgabe geheim ist. Ob die Stimmabgeber vorher gedruckt oder geschrieben sagen, wie sie stimmen wollen, das beeinträchtigt ihren freien Willen bei der wirklichen Stimmabgabe nicht. Sie kön­ nen nachher immer noch stimmen, wie sie wollen. Wie Viele haben nicht schon das wieder zurücknehmen müssen, was sie vorher geschrieben haben oder haben drucken lassen. Zch möchte wissen, ob der geehrte Herr niemals etwas geschrieben hat oder hat drucken lassen, was er nachher recht gern wieder zurückgenommen hat. (H.) — Das scheint mir also kein wirklich irgend wie in Betracht kommendes Moment, und so muß ich nach allen diesen meinen unmaßgeblichen Bemerkungen, die ich dem Wohlwollen der Herren unterbreite, zu der Konklusion kommen, daß man die Wahl nicht beanstanden kann, sondern daß man sie für gültig erklären muß. Der Schluß wird angenommen.

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Der Antrag der Abgg. Duncker, Kanngießer und Genossen geht dahin: der Reichstag wolle beschließen die Wahl des Abg. Reichensperger zu Cöln im 11. Düsseldorfer Wahlbezirk zu beanstanden und den Reichskanzler aufzusordern, die in dem Proteste d. d. Crefeld den 18. März 1871 behaupteten Thatsachen durch richterliche Untersuchung feststellen zu lassen. Bei namentlicher Abstimmung wird dieser Antrag mit 151 gegen 141 Stimmen abgelehnt. — Die Gültigkeit der Wahl ist somit anerkannt; dagegen wird der zweite Antrag der Abtheilung fast einstimmig abgelehnt. XIII. In der 22. Sitzung vom 25. April 1871 wird die Wahl des Legations­ raths von Kommerstädt (im Wahlkreise Fürstenthum Reuß ä. L.) wegen gröblicher Verstöße gegen die Wahlfreiheit und gegen das Prinzip der Oeffentlichkeit der Wahlen zur Sprache gebracht. 1) Auf Zeugnisse gestützt wird gesagt, in Arnsgrün habe im Wahllokale auf dem Tisch der Wahlurne ein Topf mit gedruckten Zetteln gestanden, aus welchem der Wahlvorsteher aufgefordert habe die Zettel zu nehmen; außerdem sei ein Gensdarm anwesend gewesen, welcher versucht habe, die Wähler zu beeinflussen. Die Abtheilung beschloß, die zu Arnsgrün stattgehabte Wahl event, für ungültig zu erklären, und kämen danach für von Kommerstädt 63 Stimmen, für seinen Gegner Dr. Oppenheim 4 Stimmen in Abzug. 2) Zm Wahlbezirk Alt-Gomla und im 4. und 5. Greizer Stadtbezirk soll, jedoch nur bei Auszählung der Stimmzettel und Feststellung des Wahlergebnisses die Oeffentlichkeit ausgeschlossen gewesen und den anwesenden nicht zum Wahlvorstande gehörenden Per­ sonen aufgegeben worden sein, sich zu entfernen. — Zum Beweise wird auf das Zeug­ niß der Beisitzer provozirt, und deren Vernehmung beantragt. Zn der Abtheilung herrschte Einstimmigkeit, daß diese 3 Wahlen event, für un­ gültig zu erklären seien. Eine längere Debatte entspann sich indessen darüber, in welcher Weise die Absetzung dieser Stimmen zu erfolgen habe. Es ward von einer Seite ausgeführt, daß bei Ausschluß der Oeffentlichkeit jede Garantie für die statt­ gehabte Wahl fehle und daß deshalb dem Kandidaten, welcher die Majorität erhalten, sämmtliche in den Wählerlisten der fraglichen 3 Bezirke befindlichen Stimmen ab­ gezogen werden müßten. Aus dem Grunde indessen, daß der Ausschluß der Oeffent­ lichkeit erst bei Ermittelung des Wahlergebnisses eingetreten, die eigentliche Wahlhand­ lung aber unter öffentlicher Kontrole stattgefunden, entschied sich die Majorität für eine mildere Auffassung und beschloß nur die in den Wahlhandlungen abgegebenen Stimmen für ungültig zu erklären. Der Antrag der Abtheilung geht dahin: 1) dem Anträge des Protestes nicht stattzugeben, vielmehr die Wahl des Legationsraths von Kommerstädt im Wahlkreise Fürstenthum Reuß ä. L. für gültig zu erklären; 2) das Bundeskanzler-Amt zu ersuchen, falls die im Proteste behaupteten Thatsachen sich als wahr erweisen sollten, eine Rüge derselben und für die Zukunft Abstellung ähnlicher Verstöße zu veranlassen. Ein bereits schriftlich unterstützter Antrag des Abg. Lesse und Gen. lautet: Der Reichstag wolle beschließen, den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, 1) durch eine gerichtliche Untersuchung die Richtigkeit der in der Einleitung des Berichts unter Nr. 2 und 4, sowie der unter Nr. 1 und 3 des Berichts aufgestellten Thatsachen und endlich feststellen zu lassen, ob auch noch in anderen Bezirken des Wahlkreises, als den im Berichte angegebenen, für die Wahl zum deutschen Reichstage neue Wählerlisten nicht aufgestellt sind; 2) bis zum Abschluß der unter 1. bezeichneten Ermittelungen die Wahl des Legationsraths von Kommerstaedt zu beanstanden. Berichterstatter Graf von Behr-Negendank'(auf den Bericht Bezug nehmend, welcher gedruckt vorliegt). Derselbe führt u. A. an: 1. In der Stadt Greiz, welche sechs Wahlbezirke umfaßt, sind die Wählerlisten

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vom 19. bis incl. 26. Januar c. auf dem Rathhause Behufs der etwa zu erhebenden Einsprachen öffentlich zu Jedermanns Einsicht ausgelegt worden. Es wird nun hervorgehoben, die Zeit vom 19. bis 26. Zanuar umfasse zwar gerade acht Tage, da jedoch Sonntag den 22. Zanuar die Rathsexpedition, auf welcher sämmtliche Listen ausgelegen, geschlossen und die Gelegenheit benommen gewesen sei, an diesem Tage die Wählerlisten einzusehen, so hätten die Listen nur sieben Tage zu Zedermanns Einsicht ausgelegen und sei deshalb die Einsprachefrist ungesetzlich um einen Tag gekürzt. Als Zeugen werden angeführt: Der Raths-Aktuar Franz Schultz, der Raths-Registrator Ferdinand Schultz und der Rathsdiener Wenzel, sämmtlich zu Greiz. Die Abtheilung war der Meinung, daß das Verfahren des Stadtraths, insoweit am genannten Sonntag die Rathsexpedition nicht geöffnet gewesen, event, zwar ent­ schieden zu rügen, daß man aber, da die Vorschrift, die Wählerlisten mindestens acht Tage zu Jedermanns Einsicht auszulegen, expressis verbis nur im Wahlreglement, nicht aber im Wahlgesetz selber enthalten sei, die Vernachlässigung dieser reglementa­ rischen Vorschrift um so eher passiren lassen könne, als ein wesentlicher Mangel in dieser faktischen Beschränkung auf sieben Tage nicht zu erblicken sei, da der fragliche Sonntag in die Mitte der Auslegungszeit gefallen und das Publikum somit noch vier Tage Zeit gehabt habe, Einsprache zu erheben. 2. Unter Beibringung zahlreicher Zeugen und Beweisstücke wird vorgetragen, in den Städten Greiz und Zeulenroda und in den Wahlbezirken Naitschau, Rothenthal und Döhlau seien für die diesjährige Wahl keine neuen Wählerlisten aufgestellt, son­ dern die alten im Zuli 1870 für die zweite Legislatur-Periode des Norddeutschen Bundes angefertigten benutzt worden, und weiter ausgeführt, es unterliege nach § 18 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869, nach welchem letzteres bei der ersten nach dessen Verkündigung stattfindenden Neuwahl des Reichstages in Kraft treten solle, keinem Zweifel, daß für die Wahlen zum ersten Deutschen Reichstage neue Wählerlisten hät­ ten aufgestellt werden müssen. Die Abtheilung hielt dafür, daß es räthlicher gewesen, neue Listen zu fertigen, glaubte aber, daß der strikten Vorschrift des Wahlgesetzes dadurch genügt, daß über­ haupt nach Emanation des fraglichen Gesetzes und des dazu gehörigen Reglements neue Listen aufgestellt seien, und war der Ansicht, daß man nach Analogie des § 34 des Wahlreglements folgern dürfe, daß die Gültigkeit der Listen aus dem Juli pr. ein Zahr dauere, während dieselben in Wirklichkeit erst sechs Monate alt und, da sie noch bei keiner Wahl zur Unterlage gedient, neue im Sinne des Gesetzes gewesen seien. Zm Uebrigen hätten nach Auffassung der Abtheilung die Mängel der fraglichen Listen leicht durch Reklamation der nicht aufgenommenen Wähler beseitigt werden können. Eine solche Reklamation ist jedoch nicht erfolgt. Abg. Thiel: M. H., Sie wissen, daß in der Stadt Greiz die Frist, während welcher die Listen ausgelegen haben, gerade acht Tage umfaßt hat. An dem Sonn­ tage, welcher innerhalb dieser Frist fiel, soll die Rathsexpedition in Greiz, wo die Listen auslagen, geschloffen gewesen sein. Daraus folgert der Protest einen Ungültig­ keitsgrund; ich kann dem nicht beistimmen. Als Grundsatz und Regel gilt wohl all­ gemein, daß auch in solche gesetzlichen Fristen, welche nach Tagen bestimmt sind, die hineinfallenden Sonn- und Feiertage einzurechnen sind, sobald nicht das Gesetz etwas Anderes bestimmt. Diesen Grundsatz haben wir meiner Ansicht nach festzuhalten. Nun ist zwar die Fristfrage, um die es sich hier handelt, eine solche, innerhalb deren nicht nur eine Handlung, die Einsichtnahme der Wahllisten, vorzunehmen war, sondern wäh­ rend deren auch ein Zustand, die Auslage der Wahllisten, fortzudauern hatte. Allein für mich ist die entscheidende Frage nur die: ist irgend ein Wähler an der rechtzei­ tigen Einsichtnahme der Listen gesetzwidrig verhindert worden? Das glaube ich verneinen zn können. Gingen wir so weit, fußten wir auf den Unterlagen des Pro­ testes, so könnten wir noch weiter gehen, wir könnten auch sagen: es genügt nicht, daß an acht hinter einander folgenden Tagen die Wahllisten überhaupt stundenweise

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ausliegen, sondern es ist erforderlich, daß die Einsichtnahme in die Wahllisten faktisch achtmal vierundzwanzig Stunden möglich gewesen sei. Dies ist der Sinn des Gesetzes gewiß nicht; und ist er es nicht, m. H., so dürfte dem Gesetze auch Genüge geschehen sein, wenn die Wahllisten an acht auf einander folgenden Tagen nur so lange aus­ gelegen, haben, als dies geschäfts- beziehentlich ortsüblich ist. Zst die Rathsexpedition in Greiz an jedem anderen Sonntage geschlossen, so würde ich daraus, daß sie den betreffenden Sonntag ebenfalls geschlossen gewesen ist, nicht einmal einen Grund zu einer Rüge herleiten. Aber auch der ausnahmsweise Verschluß derselben würde mir allein noch nicht genügen, die Wahl zu kassiren. Zch würde dazu noch den Nachweis verlangen, daß während des Verschlusses der Rathsexpedition ein Wähler, der später nicht noch Einsicht in die Wahllisten erlangte, gekommen sei, um das Recht der Wahllisten-Einsehung auszuüben, dieses jedoch nicht vermocht habe. Wollen Sie sich, m. H., an dem Nachweis des Faktums genügen lassen und nicht zugleich den Beweis des gesetzwidrigen Erfolges verlangen, so stellen Sie meiner Ansicht nach ein sehr gefähr­ liches Präjudiz auf, mit dessen Hilfe es leicht sein dürfte, eine Wahl hinfällig zu machen; denn wir wissen Alle, daß namentlich in ländlichen Bezirken es mit der Be­ obachtung rein formaler Vorschriften nicht so genommen zu werden pflegt. Abg. Lesse: Es ist in dem Bericht gesagt: in mehreren Wahlbezirken sei, der Beweis vorausgesetzt, bei Auszählung der Stimmzettel die Oeffentlichkeit ausgeschlossen gewesen, und deshalb hat die Abtheilung, wie ich annehme mit großer Majorität, den Beschluß gefaßt, daß das so wichtig und so wesentlich sei, daß die Wahl in jenem Bezirke als ungültig gelten muffe. Nun hat die Abtheilung, und das gebe ich zu Ihrer Erwägung, m. H., nur die Stimmen, die auf Kommerstädt und Dr. Oppenheim ge­ fallen find, abgezogen; aber ich sage, wenn Sie bedenken, daß hier jede Garantie durch den Ausschluß der Oeffentlichkeit bei der Stimmzettel-Zählung fehlt, dann müssen Sie anders rechnen; Sie wissen ja gar nicht, wie das Resultat in diesem Bezirke ausge­ fallen wäre, wenn die nöthigen Garantien beobachtet wären; Sie muffen also sagen: alle Wähler, welche in der Liste eingeschrieben sind, haben möglicherweise gegen den Herrn von Kommerstädt gestimmt, und, m. H., es handelt sich doch in diesem Be­ zirke um ein paar hundert Stimmen, und das ist sehr wichtig, weil eine ähnliche Zahl bei der ganzen Wahl den Ausschlag gegeben hat. Wenn Sie sich dem Beschluß der Abtheilung anschließen, wenn Sie sagen: wo die Oeffentlichkeit nicht obgewaltet hat, da fehlt jede Garantie, dann müssen Sie konsequent auch annehmen, daß alle berech­ tigten Wähler in diesem Bezirke möglicherweise nicht für Kommerstädt gestimmt haben, sondern für Oppenheim oder für irgend einen anderen Kandidaten. Schließlich noch einen Punkt, der mir persönlich von dem allergrößten Werthe zu sein scheint. Es ist nämlich in dem Proteste hervorgehoben worden, daß in dem Wahl­ bezirke Reuß ältere Linie zu dem deutschen Reichstage gar keine Wählerlisten angefer­ tigt worden sind, sondern daß zu diesen" Wahlen die Wählerlisten benutzt wurden, welche im Zuli 1870 aufgestellt waren. — Das ist behauptet; ob es richtig ist, das wird die Beweisaufnahme ergeben. Nun, m. H., wie lag die Sache? Zm Zuli 1870, wo Jedermann in kurzer Zeit eine Neuwahl zum norddeutschen Reichstage erwartete, sind die Wahllisten angefertigt worden; demnächst hat- der norddeutsche Reichstag das Mandat prolongirt bis zum Schluffe des Jahres; es sind die großen Ereignisse einge­ treten, und nun Anfang Februar dieses Jahres wurden die Wahlen zum deutschen Reichstage ausgeschrieben. Die Behörden von Reuß älterer Linie haben nun dem deutschen Reichstage nicht die Ehre erwiesen, neue Wahllisten anzufertigen, sondern sie begnügten sich damit, daß Wahllisten aus dem Zuli 1870 aus der Zeit des nord­ deutschen Reichstages existirten, und ließen nach diesen wählen. Das scheint mir geradezu ungesetzlich zu sein. Zch behaupte also mit Recht: es sind zum deutschen Reichstage gar keine Wahllisten dort angefertigt; damit ist nicht nur das Reglement, sondern das Gesetz verletzt. Die Abtheilung rügt auch das; was sagt sie aber ? Sie hilft sich mit einer Analogie aus dem Wahlgesetz, indem sie sagt, das Wahlgesetz habe eine Bestim­ mung, daß wenn innerhalb eines Zahres eine Neuwahl etwa wegen einer Mandats-

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niede-rlegung stattfindet, dann die alten Wahllisten maßgebend sein sollen. Zunächst glaube ich, daß eine solche Bestimmung auf einen Fall wie diesen überhaupt nicht An­ wendung finden kann; ich verwerfe aber auch den Rechtsgrund ganz entschieden, daß man eine Ausnahmebestimmung, wie die eben angeführte, überhaupt analogisch anwen­ den kann. Man kann wohl für einen Fall, wo es an einer Regel fehlt, eine andere Regel analogisch anwenden, dagegen darf eine Singularbestimmung, welche die Natur einer Ausnahme hat, niemals analoge Ausdehnung finden. — Ich glaube also, die Abtheilung hat gegen einen kleinen Rechts-Grundsatz verstoßen, wenn sie annimmt, es ließe sich die erwähnte Ausnahmebestimmung hier analog anwenden. M. H., ich weise Sie noch auf ein anderes Moment hin. Halten sie es für möglich, daß in diesem Wahlbezirk diejenigen Süddeutschen, die in Reuß ä. L. wohnen, bei dieser Wahl mitgewählt haben? Das ist absolut unmöglich, denn die reußischen Be­ hörden können doch unmöglich die Voraussicht gehabt haben und im Zuli 1870 die dort wohnenden Süddeutschen in die alten Wahllisten eingetragen haben. (S. r.!) Also auch nach dieser Richtung hin sind die Wahllisten ungesetzlich. Und wenn nun endlich zum Schluß gesagt worden ist in dem Bericht: ja, das hätte durch Reklama­ tionen beseitigt werden müssen, so halte ich das wiederum für unrichtig. M. H., wenn ein einziger Wähler in der Liste übergangen ist, dann kann er reklamiren; aber das setzt doch vor Allem die gesetzliche Grundlage voraus, das überhaupt eine gesetzliche Wahlliste existirt; wo die fehlt, da kann man doch unmöglich verlangen, man solle durch Reklamationen diesen Mangel aufdecken und zur Beseitigung bringen. Umgekehrt, ich sage, die Wähler haben sich im entschiedenen Irrthum- befunden, sie haben angenom­ men, hier lägen gesetzliche Wahllisten vor, und mancher Wähler hat vielleicht deshalb die Wahllisten nicht angefochten, weil er glaubte, eine gesetzlich angefertigte Wahlliste habe ihn ausgeschlossen. Ich schließe damit, daß ich bemerke, daß dieser Grund der Abtheilung mir ganz hinfällig zu sein scheint. Wo die gesetzlichen Grundlagen fehlen, da dürfen Sie den einzelnen Wähler nicht auf Reklamationen verweisen, sondern Sie müssen sagen: hier — z. B. in Greiz, und das ist gerade die bevölkertste Stadt der Herzogthums, wo das geschehen sein soll — haben keine gesetzlichen Wahllisten bestanden, folglich, da wir das Resultat gar nicht absehen können, was eingetreten wäre, wenn sie bestanden hätten, müssen wir die Wahl kassiren, vorausgesetzt, daß sich die angeführten Thatsachen be­ wahrheiten. Ich bitte daher, für meinen Antrag auf Beanstandung der Wahl zu stimmen, um die von mir angeführten Thatsachen näher zu untersuchen. (Br.!) Dem Anträge der Abtheilung steht der Antrag des Abg. Lesse gegenüber. Die Abgg. Lesse, Hölder und Genossen schlagen vor: Der Reichstag wolle beschließen, 1. den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, durch eine richterliche Untersuchung die Richtigkeit der Einleitung des Berichts unter Nr. 2 und 4, sowie der unter I und III des Berichts aufgestellten Thatsachen, sowie endlich fest­ stellen zu lassen, ob noch in anderen Bezirken des Wahlkreises, als den im Bericht angegebenen, für die Wahl zum deutschen Reichstage neue Wählerlisten nicht aufgestellt sind; 2. bis zum Abschluß der sub 1 bezeichneten Ermittelungen die Wahl des Legationsraths von Kommerstädt zu beanstanden. Dieser Antrag wird bei namentlicher Abstimmung mit 135 gegen 124 Stimmen

angenommen. Zn der 55. Sitzung vom 13. Juni berichtet über die stattgehabte Untersuchung Berichterstatter Abg. von Cranach. Die beschlossenen Untersuchungen haben im aus­ gedehntesten Maße stattgefunden, und hat die Abtheilung bei eingehendster Prüfung dieser Verhandlungen auf den übereinstimmenden Antrag beider Referenten demnächst einstimmig beschlossen, Ihnen die nunmehrige Gültigkeitserklärung für die von Kommerstädt'sche Wahl zu empfehlen. (Redner behandelt die einzelnen Beschwerden wegen Beeinflussung.)

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Es war nach I. des mehrerwähnten Berichtes behauptet worden, daß in der Stadt Greiz, welche sechs Wahlbezirke umfaßt, die Wählerlisten vom 19. bis inkl. 26. Januar c. auf dem Rathhause Behufs der etwa zu erhebenden Einsprachen öffentlich zu Jedermanns Einsicht ausgelegt worden seien, daß aber die Zeit vom 19. bis 26. Ja­ nuar einen Sonntag, nämlich den 22. Januar, umfaßt habe, und daß an diesem Tage die Rathsexpedition, auf welcher sämmtliche Listen ausgelegen, geschlossen, und die Ge­ legenheit benommen gewesen sei, an diesem Tage die Wählerlisten einzusehen; sonach hätten die Listen nur sieben Tage zu Jedermanns Einsicht ausgelegen und sei deshalb die Einsprachefrist ungesetzlich um einen Tag gekürzt. Es waren darüber mehrere Zeugen genannt, und ich habe zu bemerken, daß die­ ses Faktum festgestellt worden ist. Es ist richtig, daß der Rathsdiener am Sonntag, den 22. Januar d. I., das Lokal geschlossen hat; ob mit oder ohne Auftrag, das er­ hellt nicht, ob aus Unkenntniß oder aus welchen anderen Gründen ebensowenig. M. H., die Abtheilung hat in ihrem ersten Bericht schon die Ansicht ausgesprochen, daß das Verfahren des Stadtraths, insoweit am genannten Sonntag die Rathsexpedition nicht geöffnet gewesen, eventuell zwar entschieden zu rügen, daß man aber, da die Vor­ schrift, die Wählerlisten mindestens acht Tage zu Jedermanns Einsicht auszulegen, expressis verbis nur im Wahlreglement, nicht aber im Wahlgesetz selber enthalten sei, die Vernachlässigung dieser reglementarischen Vorschrift um so eher passiren lassen könne, als ein wesentlicher Mangel in dieser faktischen Beschränkung auf sieben Tage nicht zu erblicken sei, da der fragliche Sonntag in die Mitte der Auslegungszeit gefallen und das Publikum somit noch vier Tage Zeit gehabt habe, Einsprache zu erheben. Die Abtheilung hat bei ihrer abermaligen Berathung nicht Veranlassung genom­ men, von dem früher von ihr eingenommenen Standpunkte zurückzutreten; sie hält ihre damalige Auffassung aufrecht. Nun ist ferner behauptet, in den Städten Greiz und Zeulenroda und in den Wahlbezirken Naitschau, Rothenthal und Döhlau seien für die diesjährige Wahl keine neuen Wählerlisten aufgestellt, sondern die alten, im Juli 1870 für die zweite Legis­ laturperiode des norddeutschen Bundes angefertigten benutzt worden. Sie haben vorher von mir vernommen, daß diese Behauptung von dem Reichs­ tage soweit in Betracht gezogen worden, daß darüber hinaus beschloffen ward, es sollten sämmtliche Ortsrichter und Beisitzer darüber vernommen werden, ob Unrichtigkeiten in Betreff der Zifferaufstellungen u. s. w. stattgesunden haben. In dieser Beziehung nun ist das Resultat der Zeugenvernehmung gewesen, daß weit überwiegend in dem ganzen Wahlkreise neue Wählerlisten für den Zweck der Abgeordnetenwahl zum ersten deut­ schen Reichstage aufgestellt worden, daß aber allerdings auch vielfach nicht neue Listen aufgestellt, sondern die alten, die im Juli 1870, also nach dem Erscheinen der neuen Wahlgesetze von 1869 Behufs der Wahl für die zweite Legislaturperiode des nord­ deutschen Reichstags, ausgestellt worden, benutzt sind; es ist aber weiter festgestellt, daß überall die Revision und nach Bedürfniß auch Nachtragung der Wähler statt­ gefunden hat; nur von den zwei Bezirken 3 und 6 zu Greiz ist gesagt: bezüglich der­ jenigen Veränderungen, welche durch Umzug aus dem einen Stadtbezirk in den andern veranlaßt wären, sei eine Vervollständigung der Listen nicht geschehen, und zwar aus Veranlassung des Rathsaktuars März. Man habe die Leute in den Bezirken, für die sie ursprünglich eingetragen waren, stehen lassen, habe nun aber, wenn sie in einen falschen Bezirk gekommen, sie in den andern, wo sie ihr Wahlrecht auszuüben hatten, gewiesen. Die Abtheilung hat bei ihrer ersten Berathung einen wesentlichen Mangel in dieser nicht rite geschehenen Listenausstellung nicht in dem Maße erkannt, um daran die Ungültigkeitserklärung für die bereits vollzogenen Wahlen zu knüpfen, sie hat dabei Gewicht darauf gelegt, daß Jedermann Zeit gehabt habe zu reklamiren. An diesem früheren Standpunkt hat die Abtheilung auch diesmal nichts geändert. Ich habe wiederholt im Namen der Abtheilung das hohe Haus zu bitten, nun­ mehr die Gültigkeitserilärung für die von Kommerstädt'sche Wahl auszusprechen. (Dies geschieht.)

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XIV. Zn der 22. Sitzung vom 25. April 1871 wird die Wahl des Pfennig­ meisters Petersen im 4. schleswig - holsteinischen Wahlbezirke für ungültig erklärt. Gegen diese Wahl sind zwei Proteste eingegangen „wegen Nichtbetheiligung der Znsel Pellworm und der Halligen an der Wahl" und weil die Znsel Pellworm und die Hallige Hooge nicht mitgestimmt haben. Ueber die Hallige Hooge liegt weiter nichts vor als ein Schreiben des dortigen Gemeindevorstehers an den Landrath von Husum vom 13. März, wonach die Wahl­ listen für den Reichstag des Norddeutschen Bundes vom 31. Mai 1869 dort nicht ausgelegen haben. Es ist deshalb auch die Zahl der Wähler von Hooge nicht zu ersehen. Zn der Wahlliste der Znsel Pellworm, welche dem § 8 des Wahlgesetzes gemäß vom 19. bis 27. Zanuar d. Z. öffentlich ausgelegen hat, befinden sich 446 Wähler eingetragen. — Auf eine Aufforderung des Wahlkommissars hat der Landrath des Kreises Husum, in welchem die Znsel Pellworm und die erwähnten Halligen gelegen sind, unter dem 24. März berichtet, „daß die Verfügung wegen Abhaltung der Reichs­ tagswahlen am 3. März an sämmtliche Wahlvorsteher des Kreises unter dem 4. Fe­ bruar erlassen und an demselben Tage zur Post gegeben worden, die Verkehrsunter­ brechung aber eine absolute gewesen sei." Die Abtheilung beantragt, der Reichstag wolle beschließen: 1) die Wahl des Abg. Petersen im 4. Wahlbezirke Schleswig-Holstein für ungültig, 2) das von dem Wahlvorstande bei der Hauptwahl rücksichtlich des Wahlkreises Lügumkloster beobachtete Verfahren für ungesetzlich zu erklären. Abg. Graf von Kleist: Zch habe in der Abtheilung zur Minorität gehört, welche die Ansicht vertreten hat, daß, wenn die Wahl durch einen Kasus, durch eine hinzu­ tretende höhere Gewalt partiell gestört wird, dadurch das Gesammtergebniß nicht als alterirt betrachtet werden könne. M. H., ich will diese Ansicht auch hier im Hause und gegen den Antrag der Abtheilung vertreten haben. Ich kann dafür nur denselben Grund wieder anführen, daß nämlich, wenn der Grundsatz richtig ist, daß wir die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer Wahl von dem Zutritt oder Nichtzutritt eines Kasus abhängig sein lassen wollen, wir dann auch dahin geführt werden, diesen Grundsatz zu verfolgen und ihm effektiv auch in den Fällen Folge zu geben, wo der Kasus nur eine einzelne Person betroffen hat, daß also, wenn sich Jemand auf dem Wege zur Wahl das Bein bricht, dann die Wahl aufgeschoben werden muß, bis das Bein wieder geheilt ist. Das würde die Konsequenz sein. Sie werden mir nun sicher einwenden: ja, wird denn die Stimme dieses einen Mannes von Einfluß auf das Gesammtergebniß sein? Za, m. H., dem gegenüber lege ich Ihnen die Frage vor: wer berechtigt uns überhaupt zu fragen: wie würde dieser Mann, oder wie würde eine ganze Gegend gestimmt haben, wenn sie nicht durch das Naturereigniß verhindert worden wäre, zu stimmen? Angesichts des Geheimnisses der Wahl, m. H., glaube ich, ist das eine Frage, die aufzuwerfen wir ganz unberechtigt sind, und wenn wir dazu nicht berechtigt sind, so ist heute auch nicht ersichtlich, daß, wenn die Bewohner der Halligen an der Küste von Schleswig würden haben wählen können, ein anderes Ergebniß die Folge gewesen wäre. Zch bitte daher, für die Gültigkeit der Wahl zu stimmen. Abg. Graf zu Eulenburg: M. H., ich glaube, daß der vorliegende Fall wesent­ lich von dem verschieden ist, den der Herr Abg. Graf von Kleist angeführt hat. Es handelt sich nämlich darum, daß über 50ü Wähler absolut außer Stande gewesen sind zu wählen, weil sie den Wahltag gar nicht erfahren haben, und zwar war die vis major die folgende: es waren durch das Eis die Halligen vom Festlande getrennt und eine Kommunikation weder mit der Post noch mit dem Telegraphen möglich, und zwar, wie amtlich bescheinigt ist, zwei oder drittehalb Monate lang. M. H., diese Halligen haben ihre Wahllisten aufgestellt und sind bereit gewesen zu wählen, sie sind aber von dem Wahltage nicht in Kenntniß gesetzt worden und daher außer Stande gewesen, ihre Stimmen abzugeben; sie sind also ihres Rechtes ohne eigene Schuld verlustig ge­ gangen. Es unterscheidet sich wesentlich, wenn Jemand zur Wahl fährt, mit dem

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Wagen umwirft und eitr Bein bricht, dann hat er Unglück gehabt und kann nicht wählen; aber wenn eine große Anzahl von Wählern absolut gar nicht in die Lage kommt, zu wissen, daß sie wählen soll, dann wird ihr das Recht vorenthalten und zwar durch eine vis major. Der Fall, der hier vorliegt, hat noch eine besondere Eigenthümlichkeit, daß es nämlich nicht eine einmalige Wahl ist, welche dadurch angefochten wird, sondern es ist eine Wahl, die erst durch Stichwahl zur Entscheidung gekommen ist. Dadurch aber, daß diese ganze Anzahl von Wählern bei der ersten Wahl ausgeschlossen worden ist, ist es fraglich geworden und zwar sehr fraglich geworden, ob dieselben Leute in die Stichwahl gekommen sein würden, wenn die Bewohner der Halligen ihre Stimmen hätten abgeben können. Darum hat sich die Abtheilung nicht für berechtigt gehalten, diese letzte Wahl als eine gültige anzusehen, weil es vollständig zweifelhaft ist, ob die beiden Leute, zwischen denen gewählt worden ist, überhaupt zur Stichwahl kommen konnten, oder ein Dritter, was viel wahrscheinlicher ist. — Deshalb hat die Abtheilung nicht anders gekonnt, als die Ungültigkeit der Wahl auszusprechen und diese dem hohen Hause zu empfehlen. Der Antrag der Abtheilung wird angenommen. XV. Zn der 24. Sitzung vom 27. April 1871 wird die Wahl des Kreisrichters Böhmer (im 2. Koblenzer Wahlbezirke) beanstandet. Abg. Kann gieß er: M. H., ich habe zu berichten über die Wahl im 2. Kob­ lenzer Wahlbezirk Neuwied. Dort ist gewählt worden der Kreisrichter Böhmer in Neuwied. Die Wahl ist durch sechs Proteste angegriffen, durch drei Gegenschriften vertheidigt worden. Es hat dann noch ein Schriftwechsel stattgefunden, so daß der Abtheilung außer den Wahlverhandlungen 13 Schriftsätze zur Entscheidung vorgelegen haben. Aus der Berathung der Abtheilung ist folgender Antrag hervorgegangen. Der Reichstag wolle beschließen: 1) die Wahl des Abgeordneten Kreisrichter Böhmer im 2. Koblenzer Wahlbezirk zu beanstanden; — 2) den Herrn Reichskanzler zu ersuchen: a. die Einreichung der in den Wahlbezirken Rheinbröhl, Heister und Brückradorf abgegebenen Stimmzettel zu veranlassen; — b. amtliche Auskunft von den Wahlvorständen in Orsberg, Rockenfeld und Hahnroth darüber zu erfordern, ob na­ mentlich in Orsberg zu jeder Zeit drei Mitglieder des Wahlvorstandes bei dem Wahl­ geschäft zugegen gewesen; c. die in den Eingaben des Pfarrers Meyer aus Waldbreit­ bach vom 20. März 1871, des Johann Scheiß, Pastors Hermes und Genossen eben­ daselbst vom 27. März 1871, des Stadtschultheiß Cäsar aus Neuwied vom 31. März 1871, des Rechtsanwalts Zimmermann aus Neuwied vom 22. März 1871, und in dem letzten Theil der Erklärung des Kaplans Colle in Rheinbröhl behaupteten Wahl­ vorgänge durch gerichtliche Untersuchung feststellen zu lassen; d. das von der Wahl­ kommission zu Neuwied unter Überschreitung ihrer amtlichen Befugnisse (§13 des

Wahlgesetzes vom 31. März 1869) und Verletzung des Wahlreglements vom 28. März 1870 beobachtete Verfahren bei Feststellung des Wahlresultats zu rügen. Der Sachverhalt der Wahl ist folgender. Nach der Zusammenstellung und der Berechnung der zur Ermittelung des Wahlergebnisses berufenen Kommission in Neu­ wied sind abgegeben 9446 Stimmen, als ungültig abgezogen 123, ergiebt gültige Stimmen 9323, und damit als absolute Majorität 4662 Stimmen. Von den Sei­ tens der Wahlkommission als gültig angesehenen Stimmen haben erhalten Kreisrichter Böhmer aus Neuwied 4694, Kaufmann Bartholomäus Haanen aus Köln 4628, 1 Stimme Kaufmann Haanen. Demnach hätte der Kreisrichter Böhmer 32 Stimmen über die absolute Majorität bekommen. Das Wahlseststellungs-Protokoll erklärt denn auch, er habe die Majorität, und Böhmer ist demgemäß proklamirt, hat die Wahl an­ genommen, ist zweifellos wahlfähig und, wie Sie wissen, in dieses Haus eingetreten. Bei Berechnung der 123 ungültigen Stimmen hat die Wahlkommission in Neu­ wied aus dem Wahlbezirk Rheinbröhl 62, aus dem Wahlbezirk Heister 30 Stimmen, welche als für den Kaufmann Haanen abgegeben bezeichnet waren, für ungültig erklärt,

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während die Wahlvorstände zu Rheinbrohl und Heister diese Stimmen als gültig be­ handelt hatten. Würden diese 92 Stimmen zu den 9323 gültigen Stimmen hinzu­ treten, so ergäben sich 9415 gültige Stimmen, und dadurch würde die absolute Ma­ jorität auf 4708 steigen. Alsdann hätte der Kreisrichter Böhmer, welcher nur 4694 Stimmen erhalten, nicht mehr die absolute Majorität, wohl aber der Kaufmann Haanen; denn zu seinen 4628 Stimmen würden hinzutreten jene 92 Stimmen aus Rhein­ brohl und Heister, macht 4720 Stimmen. Der Kaufmann Haanen aus Köln hätte somit 12 Stimmen über die absolute Majorität. Die Abtheilung war nun darin einstimmig, daß die Wahlkommission in Neu­ wied, indem sie Stimmen für ungültig erklärte, welche die Wahlvorstände der Bezirke für gültig angesehen, sich eine Ueberschreitung ihrer Befugnisse schuldig gemacht und gegen den klaren Wortlaut des § 13 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 verstoßen habe, welcher bestimmt: „Ueber die Gültigkeit oder Ungültigkeit der Wahlzettel entscheidet, mit dem Vorbehalt der Prüfung des Reichstages, allein der Vorstand des Wahlbezirkes nach Stimmenmehrheit seiner Mitglieder." In Folge dieser Ueberschreitung hat die Wahlkommission in Neuwied dem Kreis­ richter Böhmer die Mehrheit der Stimmen zugesprochen und demgemäß ihn als Ab­ geordneten proklamirt, während doch in der That der Kaufmann Haanen nach der maßgebenden Entscheidung der Wahlvorstände die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigt. Ueber alle diese Thatsachen, namentlich auch über die mitgetheilten Ziffern, war in der Abtheilung keine Meinungsverschiedenheit. Dagegen nahm die Minderheit der Abtheilung an, daß dieser Verstoß der Wahlkommission in Neuwied, welcher zugleich den hauptsächlichen Angriff der sechs Proteste der Ortschaften Rheinbröhl, Heister, Linz, Hönningen, Leitersdorf und Hammerstein bildet, ein so schwerer ist, daß es geboten sei, ohne Eintritt in eine materielle Wahlprüfung zunächst diesen formellen Verstoß rück­ gängig zu machen und unter Ungültigkeitserklärung der Wahl des Abg. Böhmer sofort die Einberufung des Kaufmanns Haanen aus Cöln herbeizuführen. Als Gründe wurden angeführt: von einer Wahlprüfung könne gar nicht die Rede sein, da sie eine gültige Proklamirung des Abgeordneten voraussetze, es sei aber in der That hier irrthümlich der Kreisrichter Böhmer an Stelle des Kaufmanns Haanen proklamirt; Böhmer sei nach den Bestimmungen des Wahlgesetzes und nach §. 6 der Geschäftsordnung als gewählt gar nicht zu betrachten. Man müsse unterscheiden zwischen vorläufiger Prüfung der Legitimation und zwischen endgültiger Wahlprüfung; jene, die vorläufige Prüfung der Legitimation sei nothwen­ dig, da nach der Geschäftsordnung bis zur definitiven Ungültigkeitserklärung der Ge­ wählte Sitz und Stimme im Hause habe. Hauptsächlich wurde hervorgehoben: wenn man hier nicht strenge verfahre, so habe ja die Wahlkommission es in der Hand, einen beliebigen Mann X zu proklamiren und dem Reichstag als Abgeordneten zu oktroiren, ohne daß das Haus sofort im Stande wäre ihn zu exmittiren. Die Majorität der Abtheilung war anderer Ansicht und hielt eine sofortige Ein­ berufung des Kaufmanns Haanen unter Ungültigkeitserklärung der Wahl des Kreis­ richters Böhmer für unstatthaft. Dieselbe erkannte freilich an, daß durch Irrthümer der Wahlkommission, wohin zum Beispiel auch einfach Additionsfehler gehören, es dahin kommen könne, daß Jemand in diesem Hause an den Berathungen Theil nehme, der in der That nicht gewählt sei. Inzwischen hielt sie dies nicht für ein so großes Un­ glück, eine vorläufige Feststellung des Wahlresultats durch eine Wahlkommission unter Zuziehung der Staatsbehörde aber für unumgänglich, um eine formelle Legitimation für den Eintritt in den Reichstag herbeizuführen. Die Gefahr, daß eine Wahlkom­ mission wider besseres Wissen eine beliebige Persönlichkeit als gewählt dem Hause oktroiren werde, sei doch möglichst entfernt; dagegen auch durch die Zusammensetzung der Wahlkommission, welche durch einen Reichsbeamten und durch Männer aus dem

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Volke, gebildet werde, und durch die Oeffentlichkeit des Wahlaktes ein genügender Schutz geboten. Entscheidend für die Majorität war Folgendes. Der Artikel 27 der Reichsverfassung bestimmt, daß der Reichstag die Legitima­ tion seiner Mitglieder zu prüfen hat. Unter diesen „Mitgliedern" sind nicht füglich andere Personen zu verstehen, als diejenigen, welche bei der Eröffnung des Reichstages oder später in denselben eingetreten. Das Recht zu diesem Eintritt wird dadurch er­ worben, daß der Eingetretene gewählt ist. Als gewählt konnte aber die Majorität nur denjenigen ansehen, welcher nach der Ermittelung und Feststellung der Wahlkommission die Mehrheit der Stimmen erhalten, proklamirt worden und die Wahl angenommen hat. Zeder Zweifel darüber, daß nur der als gewählte Proklamirte vorläufig als gewählt zu betrachten, schien durch den §. 33 des Wahlreglements vom 28. Mai 1870 beseitigt, wo es heißt: „der Gewählte ist von der auf ihn ge­ fallenen Wahl durch den Wahlkommissar in Kenntniß zu setzen." Dieser Gewählte kann doch eben kein anderer sein, als derjenige, den der Wahlkommissar als gewählt angesehen und proklamirt hat. Die Majorität sagte sich dann auch weiter, daß eine vorläufige Legitimationsprüfung und eine endgültige Prüfung der Wahl weder in der Verfassung vorgeschrieben, noch aus der Geschäftsordnung heraus begründet werden könne. Es giebt eben nur eine Prüfung, und das ist die endgültige Prüfung der Wahl. Die Probe für die Richtigkeit der Ansicht der Majorität liefert die praktische Erwägung, daß im vorliegenden Falle der Reichstag dahin kommen könnte, heute die Wahl des Abg. Böhmer für ungültig zu erklären und den Kaufmann Haanen ein­ zuberufen, demnächst — nach materieller Prüfung der Wahlakten — zu finden, daß die Wahl des Abg. Böhmer gültig und die des Herrn Kaufmann Haanen ungültig sei, also den Kaufmann Haanen wieder zu exmittiren und den Abg. Böhmer, dessen Wahl wir heute für ungültig erklären, als gültig Gewählten einzuberufen. Aus allen diesen Gründen wurde ein von der Minorität gestellter Antrag, die Wahl des Abg. Böhmer für ungültig zu erklären, die Einberufung des Kaufmann Haanen aus Cöln zu veranlassen gleichzeitig aber dieselbe zu beanstanden, von der Mehrheit abgelehnt. Die Abtheilung hat sich hierauf einer materiellen Prüfung der Gültigkeit der Wahl unterzogen und ist dabei aus den Gesammtinhalt der Wahlakten zurück­ gegangen und zu dem Ergebniß gelangt: 1) daß in der That in diesem Augenblicke die Wahlsache des Abg. Böhmer zur Entscheidung noch nicht reif sei; — 2) daß die in den erwähnten sechs Protesten und in einer Reihe der in den Gegenschriften von Neuwied vorgetragenen Thatsachen und außerdem noch andere dort nicht gerügte, bei der Officialprüfung der Wahlakten vorgefundene erheblichere Verletzungen des Wahl­ reglements einer weiteren Ermittelung bedürfen; — 3) daß bei der Menge der An­ stände — die Gültigkeit der Wahlen in 14 Wahlbezirken kommt in Frage — von einer Berechnung und Feststellung der verschiedenartigen ziffermäßigen Kombinationen, die dadurch entstehen, je nachdem nun die Anstände in dem einen oder in dem anderen Wahlbezirk für begründet resp, für unbegründet befunden würden, gegenwärtig abzu­ sehen sei. Es ist dies nach Ansicht der Abtheilung theils nicht möglich, jedenfalls aber überflüssig, da es sich nur um Beanstandung handelt. Die Anstände, welche sich ergeben, sind wesentlich folgende: 1) mangelhafte Be­ urkundung, 2) unvollständige Besetzung des Wahlvorstandes oder doch nicht dauernde Anwesenheit von mindestens drei Personen, 3) Abstimmung von Personen, welche nicht stimmberechtigt waren, namentlich Abstimmung durch Stellvertreter, 4) sogenannte kleri­ kale Beeinflussungen, welche darin bestanden haben sollen, daß der Kaufmann Haanen von der Kanzel als Kandidat der Kirche empfohlen, und daß der Wahlakt an verschie­ denen Orten durch Geistliche überwacht sei. Bei dieser Gelegenheit darf ich einfügen, daß sowohl der Kaufmann Haanen als der Kreisrichter Böhmer katholischen Glaubens sind. Zch gehe nun zu den einzelnen Wahlbezirken über und glaube, mich möglichst kurz fassen zu dürfen, da, wie erwähnt, sämmtliche Anträge aus einsümmigen Be­ schlüssen der Abtheilung hervorgegangen sind.

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I. Zunächst kommt in Betracht die Ortschaft Rheinbrohl. Von den in Rheinbrohl abgegebenen Stimmen hat, wie ich schon erwähnte, die Wahlkommission in Neuwied 62 Stimmen, welche der Wahlvorstand in Rheinbrohl als gültig behandelt hatte, für ungültig erklärt. Damit hat es folgende Bewandtniß. In dem Wahlpro­ tokolle, welches in Rheinbrohl ausgenommen, sind die Stimmen, welche der Kaufmann Haanen erhalten, der Vorschrift des Reglements und des Formulars entsprechend bis zur Zahl 147 mit Ziffern angegeben, dergestalt, daß die fünfte Stimme mit der Zahl 5, die fünfzehnte mit der Zahl 15 u. s. w. bezeichnet worden ist. Dann springt es in dem Wahlprotokoll über von der Ziffer 147 auf die Ziffer 150, von der Ziffer 150 an aber sind die einzelnen Stimmen überhaupt nicht mehr mit Ziffern, sondern nur mit Strichen angegeben. Zn der Gegenliste sind sämmtliche Stimmen nur mit Punkten vermerkt. Sowohl im Hauptprotokoll aber als in der Gegenliste ist die Summe sämmtlicher Stimmen, die für den Kaufmann Haanen abgegeben find, den vorhandenen Strichen und Punkten entsprechend aus 212 richtig berechnet und beurkundet. Nun hat die Wahlkommission in Neuwied angenommen, daß eine Bezeichnung der Stimmen mit Strichen unzuverlässig sei, und außerdem monirt, daß die Stimmzahl von 147 aus 150 springe. Die Abtheilung war einstimmig darüber, daß es vollkommen verkehrt sei, wenn die Wahlkommission daraus die Ungültigkeit der 02 Stimmen hergeleitet, und nur darüber zweifelhaft sei, ob nicht schon nach Lage der Akten sämmtliche 62 Stimmen zu Gunsten des Kaufmann Haanen für gültig anzusehen seien. Sie meinte jedoch, daß es nicht füglich anginge. Einmal blieb noch immer unaufgeklärt, warum auf die Stimmziffer 147 die Ziffer 150 folgt: andererseits hat die Formvorschrift des Wahlreglements und des darin in Bezug genommenen Formulars der Wahlverhand­ lung, daß die einzelnen Stimmen mit Ziffern bezeichnet werden sollen, ihren guten Grund darin, daß beim Markiren durch Striche leicht Irrthümer möglich sind. Die Abtheilung glaubte vielmehr, daß bei der geringen Majorität, um die es sich handelt, mag man den Kaufmann Haanen — der nur 12 Stimmen Majorität erhalten habe — mag man den Kreisrichter Böhmer als gewählt ansehen, es sich empfehlen würde, zu thun, was die Wahlkommission schon hätte thun müssen, nämlich nachträglich die Stimmzettel einfordern. Dazu kam, daß in Bezug auf Rheinbröhl in einer Gegenschrift aus Neuwied behauptet worden ist, daß gerade in diesem Bezirke eine Proklamirung des Kaufmann Haanen von der Kanzel seitens des Ortsgeistlichen statt­ gefunden habe. Endlich ist nach einer Erklärung des Kaplan Golle aus Rheinbröhl hervorzu­ heben, daß am Tage der Abstimmung daselbst die Namen von zwei Wählern in die Wählerlisten nachgetragen seien. Auf diese Momente gründet sich der Antrag der Abtheilung, zunächst die Stimm­ zettel aus der Ortschaft Rheinbröhl einzusordern und die behaupteten Thatsachen über die Proklamirung des Kaufmann Haanen von der Kanzel, respektive die nachträgliche Eintragung von Wählern in die Wählerliste gerichtlich zu konstatiren. II. Was den zweiten Wahlbezirk angeht, in Bezug auf welchen die Wahlkom­ mission in Neuwied Stimmen für ungültig erklärt hat, welche die Wahlvorstände für gültig angesehen hatten, so ist dies die Ortschaft Heister. Zn diesem Wahlbezirk sind ausweislich des Wahlprotokolls 30 Stimmen abgegeben — für wen, steht nicht im Protokoll. Dagegen ist eine Gegenliste geführt worden, die ich hier ihrem Gesammtinhalte nach verlesen muß, da sie nach der Ansicht der Abtheilung die Entscheidung der Wahlkommission als möglicher Weise unrichtig erscheinen läßt. Es heißt nämlich in dieser sogenannten Gegenliste wörtlich: Bei der nach Vorschrift erfolgten Eröffnung der Stimmzettel stellte sich heraus, daß nachbezeichnete Kandidaten die dabei vermerkten Stimmen erhalten hatten, nämlich Herr Kaufmann Bartholomäus Haanen in Cöln, Eliesenstraße Nr. 5. Nr. 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, 13, 14, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30. Also abgeschlossen zu Heister, den 3. März 1871. Der Wahlvorsteher. Die Beisitzer. Die Protokollführer re. Reichstags-Repertorium. I.

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Die Abtheilung war einstimmig der Meinung, daß diese sogenannte Gegenliste, welche in der That die wesentlichen Merkmale eines Wahlprotokolls enthält, von der Wahlkommission in Neuwied hätte berücksichtigt werden müssen und daß der allerdings dadurch entstehende Zweifel, daß das Hauptwahlprotokoll, welches für die Beurkundung der Wahl recht eigentlich bestimmt ist, den Namen des Gewählten nicht enthält, durch nachträgliche Einforderung der Stimmzettel gehoben werden müsse. Wenn es sich bestätigte, daß die 30 Stimmzettel sämmtlich auf den Kaufmann Haanen lauteten, alsdann hielt die Abtheilung dafür, daß dieselben auch sämmtlich dem Kaufmann Haa­ nen zu gute kommen müßten. — Sie war ferner der Ansicht, daß eine nachträgliche Ermittelung in Ansehung der Wahlstimmen in Heister, um so zweifelloser eintreten müsse, als in der Neuwieder Gegenschrift gegen dieselben der Einwand gemacht wor­ den ist, daß nicht sämmtliche Mitglieder des Wahlvorstandes dauernd bei dem Wahl­ geschäft zugegen gewesen. III. Der dritte Wahlbezirk Brückradorf zeigt insofern eine Unregelmäßigkeit, als ähnlich wie in Rheinbrohl nicht sämmtliche Stimmen durch Ziffern, sondern die Mehrzahl durch Striche angegeben sind. Das Versehen ist hier insofern ein gerin­ geres, als wenigstens die Dekaden, die zehnte, zwanzigste und die folgenden durch 10 theilbaren Stimmen, der Vorschrift gemäß mit Zahlen angegeben sind. Die Abthei­ lung würde vielleicht von der Einforderung der Stimmzettel abgesehen haben, wenn nicht gerade in Brückradorf die Stimmenmehrheit auf den Abg. Böhmer gefallen wäre, und es ihr deshalb gerecht erschien, auch in dieser Beziehung, für den Fall daß etwa die strenge Ansicht der Wahlkommission hier im Hause getheilt werden sollte, das voll­ ständige Material zur Entscheidung dem Reichstag bereit zu stellen. IV. In dem Wahlbezirk Waldbreitbach hat nach dem Wahlprotokoll der Kaufmann Haanen 119, der Kreisrichter Böhmer 8 Stimmen erhallen. Es ist nun in den Gegenschriften, welche die Aufrechterhaltung der Wahl des Abg. Böhmer ver­ treten, behauptet worden, daß in Waldbreitbach nicht blos 8, sondern 14 Personen für den Abg. Böhmer gestimmt haben. Diese 14 Personen haben sich namentlich genannt, sich erboten, ihre Abstimmung eidlich zu bezeugen (H.! H.!) und eine Rektificirung des Wahlergebnisses verlangt. Dagegen war von Seiten der Anhänger des Kaufmanns Haanen eingewendet: eine derartige nachträgliche eidliche Feststellung der Abstimmung sei unvereinbar mit dem Princip des geheimen Wahlrechts. Die Abtheilung hat dies nicht angenommen. Sie meint, daß in einem Fall, wo die betreffenden Wähler vor den Reichstag treten und bestimmt erklären, wie sie gestimmt hätten, im Interesse einer richtigen Feststellung des Wahlergebnisses ihre von ihnen verlangte eidliche Vernehmung erfolgen müßte. Zn den Gegenschriften war weiter bemängelt worden: unvollständige Besetzung der Wahlkommission, mangelhafte Beschaffenheit der Wahlurne, Kontrole der Abstim­ mung durch die Geistlichkeit, Nichtversiegelung der Stimmzettel. Das letzte Moment schien der Abtheilung besonders erheblich, und sie hat bei allen diesen Punkten gericht­ liche Untersuchung für nothwendig gehalten. (V. — XIV. enthalten Bezeichnung einer Reihe von anderen minder bemerkenswerthen Unregelmäßigkeiten.) Abgesehen von diesen Mängeln, die ich Ihnen vorgetragen habe, wimmeln die Akten von sonstigen Unregelmäßigkeiten. Ich verzichte darauf, die Einzelheiten hier auf­ zuführen, sie werden demnächst in dem Generalreferate der Abtheilung Ihrer Entschei­ dung- unterbreitet werden. Das Resultat der Berathungen der Abtheilung faßt sich dahin zusammen: zur Zeit ist eine Entscheidung unmöglich, die Beanstandung nothwendig, eine weitere Ermittelung unabweisbar. Das Resultat der Ermittelungen kann ein sehr verschiedenes sein, entweder: die Wahl des Abg. Böhmer ist gültig, oder die Wahl Böhmers ist ungültig und die sofortige Einberufung des Kaufmanns Haanen nothwendig, oder die Wahl Böhmers ist ungültig und es muß die Wahl zwischen ihm und dem Kaufmann Haanen durchs Loos entschieden werden, endlich eine Neuwahl.

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Was die gerichtlichen Erhebungen angeht, so will ich noch klar stellen, daß der Ab­ theilung die Ansicht fern gelegen, daß der Richter, welcher mit der Erhebung beauf­ tragt wird, inquisitorisch zu Werke gehen und von Amts wegen Zeugen ermitteln müßte, sondern daß der Richter sich an die Beweise, die in den Akten bereits ange­ treten oder doch vorbehalten seien, zu halten habe. Es erübrigt mir schließlich noch die Rüge zu rechtfertigen, welche'die Wahl­ kommission nach der Ansicht der Abtheilung erhalten muß. Dazu wird der Hinweis genügen, daß eine direkte, für die Rechte des Reichstags präjudizirliche Verletzung des klaren Wortlautes des Wahlgesetzes vorliegt, daß diese Verletzung nicht vereinzelt da­ steht, und daß sie nach der Ansicht der Abtheilung in dem Wahlverfahren des Ab­ geordnetenhauses und in dem früheren Verfahren bei den Wahlen des Reichstags wohl eine Erklärung, nicht aber eine Entschuldigung findet. Demgemäß habe ich den An­ trag, den ich bei Beginn meines Vortrages verlesen habe, in allen seinen Punkten Zhnen zur Annahme zu empfehlen. Abg. Dr. Windthorst: Ich muß bedauern, daß die Abtheilung nicht beschlossen hat, über diesen höchst wichtigen und intrikaten Fall uns einen schriftlichen Bericht vor­ zulegen, und wenn ich Anklang damit fände, würde ich den Antrag noch jetzt stellen; denn es ist wirklich schwer, die Verhältnisse vollkommen zu übersehen. Ich werde ge­ nöthigt sein, gegen die Abtheilung zu stimmen, weil mir scheint, daß die Abtheilung zwei in Betracht kommende Akte nicht auseinander gehalten hat. Man muß, soweit ich aus dem Vortrage des Herrn Referenten entnommen, unterscheiden den Akt der Wahlproklamirung durch die Schlußkommission, und man muß unterscheiden den Akt der Wahl selbst. Was den Akt der Wahlproklamirung betrifft, so ist, wenn ich den Herrn Referenten richtig verstanden habe, dieser Akt im vorliegenden Falle un­ zweifelhaft nichtig und ungültig. Der Herr Referent hat gesagt, daß der Wahlkommifsarius mit seinen Beisitzern sich berechtigt gehalten hat, eine Reihe von Stimmen, die von den Wahlvorständen für gültig erklärt worden waren, nicht zu berücksichtigen, sie auszuscheiden, also sich ein Urtheil über die Wahlvorstände zu erlauben. Das war gegen seine Befugnisse nach den von dem Herrn Referenten angeführten Bestimmungen und, soweit ich verstanden, auch nach des Herrn Referenten und der Abtheilung ein­ stimmiger Ansicht. Wenn das richtig, so ist etwas absolut Unzulässiges geschehen. Daß das ohne Weiteres klar sein muß, daß es dazu keiner weiteren Erhebung bedarf, geht daraus hervor, daß die Abtheilung kein Bedenken hat, ohne Weiteres für die Herren zu Neuwied — oder ich weiß nicht wo — eine Rüge zu beantragen. Ist das der Fall, so ist unzweifelhaft der Abg. Böhmer zu Unrecht proklamirt und kann hier im Hause nicht sitzen. Es entsteht nun die Frage: können wir, wenn das ausgesprochen ist, durch einen Beschluß unmittelbar veranlassen, daß der nach den Wahlergebnissen die Majorität habende Haanen einberusen wird, oder müssen wir den Herrn Bundes­ kanzler ersuchen, dem Wahlkommissar zu sagen, daß er richtig zu verfahren, die Sache ordentlich zu machen und dann Herrn Haanen zu befragen habe, ob er die Wahl an­ nehmen will oder nicht. Ich bin der Ansicht, daß dieses letztere Verfahren einzuschlagen wäre. Dann würde, wenn Herr Haanen annimmt, dieser hier erscheinen können. Nach den Mittheilungen, die uns der Referent gemacht hat, ist es freilich unzweifelhaft, daß wenn Herr Haanen hier erscheint, und wir machen die Wahlprüfung, seine Wahl be­ anstandet werden wird, wenn man nämlich die Berechnungen so annehmen muß, wie der Herr Referent es gesagt; allein das kann den Rechtsgang nicht ändern. Die Herren werden nun leicht glauben, es läge in meinem Vorschlag ein Um­ weg, wir könnten die ganze Sache zusammenfassen und gleich ein richtiges Urtel fällen. Das ist aber nicht richtig, denn es hat die Frage, wer hier ist, wessen Wahl beanstandet wird, eine große praktische Bedeutung nach der Richtung hin, ob demnächst bei der Schlußbestimmung nämlich eine Neuwahl eintritt oder nicht, nämlich ob eine Neu­ wahl eintritt in dem Fall, daß Haanen herkommt und seine Wahl demnächst etwa für nichtig erklärt wird, oder ob wir denn etwa einen Anderen, hier Herrn Böhmer einberufen. Das ist eine sehr intrikate und schwierige Frage, auf die ich mich zur Zeit 8*

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nicht einzulassen brauche. Wenn wir den von mir bezeichneten Weg gehen, kommen wir jedenfalls zu dem richtigen Resultat. Zch stimme gegen den Abtheilungsantrag. Abg. Duncker: M. H., ich glaube, daß es jedenfalls das Unkorrekteste ist, was der Abg. Windthorst thun kann, wenn er einfach gegen die Abtheilung stimmt. Wenn seine Ausführungen, die er eben gemacht hat, die richtigen wären, so müßte er den Antrag stellen — wie ein solcher Antrag auch in der Abtheilung allerdings von Freunden des Abg. Windthorst gestellt ist —, an Stelle des Abg. Böhmer den Abg. Haanen einzuberufen. Aber, m. H., ich glaube, die ganze Beweisführung, die einen solchen Antrag begründen könnte, ist eine hinfällige. Wie liegt die Sache bei der Prüfung der Wahl? Was ist die durch die Ver­ fassung und durch die Geschäftsordnung uns zugeschobene Obliegenheit? Die Ver­ fassung bestimmt: „der Reichstag prüft die Legitimation seiner Mitglieder". Wir müssen also, meine ich, zuvörderst untersuchen: worin besteht die Legitimation eines Mitgliedes? Das Wahlgesetz und das Wahlreglement bestimmen die Formen, unter welchen die Wahl erfolgt, und bestimmen schließlich namentlich die Form, wie der aus der Wahl hervorgegangene Abgeordnete proklamirt wird. Das Wahlreglement spricht ausdrücklich davon, daß, wenn die Wahlkommission die Resultate der einzelnen Wahl­ bezirke zusammengestellt hat, dann derjenige, der die Mehrheit der Stimmen erhalten hat, durch den Wahlkommissar als gewählt proklamirt, daß diese Proklamation auch durch die zu amtlichen Publikationen bestimmten Blätter veröffentlicht, daß ferner dem gewählten Abgeordneten Anzeige davon werden solle und er darauf seine Annahme zu erklären habe. M. H., alle diese Dinge sind in Bezug auf den Abg. Böhmer erfüllt worden, wie sie in Bezug auf alle anderen Abgeordneten dieses Hauses erfüllt worden sind, und der Abg. Böhmer hat in Folge dieser ihm ertheilten Legitimation hier seinen Sitz eingenommen. Jetzt findet aber die Abtheilung, daß in dieser Legitimation ein allerdings sehr wesentlicher Punkt nicht in Ordnung ist, daß nämlich — und darin gebe ich dem Herrn Abg. Dr. Windthorst vollkommen Recht — die Wahlkommission, welche beauftragt war mit der Zusammenstellung des Wahlresultats, zu Unrecht Stimm­ zettel, die von einzelnen Wahlvorständen für gültig erklärt waren, für ungültig erklärt hat. Es ist also hier allerdings ein sehr erheblicher Fehler in der Legitimation des Herrn Abg. Böhmer vorhanden; allein, m. H., was kann das lediglich für Folgen haben? Unsere Geschäftsordnung, welche das Verfahren bei den Wahlprüfungen näher feststellt, sagt ausdrücklich im § 6: „der Gewählte behält bis zur Ungültigkeitserklärung seiner Wahl Sitz und Stimme im Reichstage." Man kann also nach meiner Ansicht nicht, wie Freunde des Herrn Abg. Windthorst in der Abtheilung beantragten, und wie er eigentlich nach seiner Ausführung hier im Hause hätte beantragen müssen, jetzt sagen: der Abg. Böhmer ist falsch proklamirt; wir berufen den Abg. Haanen ein. Dem steht ganz entschieden diese Bestimmung der Geschäftsordnung gegenüber: „der Gewählte be­ hält Sitz und Stimme im Reichstage bis zur Erklärung der Ungültigkeit seiner Wahl." Nun könnten sich vielleicht die Herren darauf stützen und sagen, der Gewählte ist aber nicht der als gewählt Proklamirte. Ja, m. H., aber dann hätten wir niemals zu Anfang unserer Sitzungen, wo noch keine Prüfung der Legitimation stattgefunden hat, irgend einen „gewählten Abgeordneten"; da haben wir keinen anderen Abgeord­ neten als die, welche als gewählt proklamirt sind, und deßhalb meine ich, ist der in der Geschäftsordnung gebrauchte Ausdruck „der Gewählte" ganz gleich bedeutend mit dem Ausdrucke „der als gewählt Proklamirte", welcher so lange Sitz und Stimme Jm Reichstage haben soll, bis seine Wahl für ungültig erklärt ist. Und nun, m. H., können die Abgeordneten im Centrum und kann auch sonst Niemand im Hause im jetzigen Augenblicke dazu kommen, zu behaupten und zu beantragen, die Wahl des Abg. Böhmer sei ungültig, weil, wenn man auch den Fehler zugiebt, der bei der Zusammenstellung des Wahlresultats sich herausgestellt hat, nun wiederum, wenn man den Wahlakt noch weiter prüft, wie er schon zur Kenntniß des Hauses durch die Pro­ teste und Gegenproteste gekommen ist, man noch auf eine ganze Menge anderer Un-

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regelmäßigkeiten und Fehler stößt, die es wieder sehr zweifelhaft machen, ob, wenn man den Fehler bei der Proklamirung korrigirt, dann der Abg. Hannen als richtig gewählt erscheinen würde. Da dem aber so ist, da in diesem Augenblicke das Beweis­ material für diese Behauptung, welche die Majorität für Haanen wieder verschwindend machen und dem Böhmer die Majorität wieder zuführen würde — da über diese Be­ hauptungen noch nicht Beweis erhoben ist, da wir also weder die Wahl des Böhmer für ungültig noch die des Haanen für gültig erklären können, so bleibt nichts Anderes übrig, als so zu verfahren, wie die Abtheilung verfahren hat, d. h. die Wahl zu bean­ standen; dann wird es sich finden, wenn alle Thatsachen geprüft werden, ob entweder wirklich, wie der Herr Abg. Windthorst wünschte, der Kaufmann Haanen einzuberufen sei, oder wie nach meiner Kenntniß der Thatsachen es viel wahrscheinlicher ist, daß das Haus dann dazu kommen wird, die ganze Wahl für ungültig zu erklären und eine Neuwahl zu veranstalten. Abg. Dr. Schwarze: Was die hier angeregte Präjudizialfrage anlangt, so sind die Gründe, welche gegen das Votum der Abtheilung hier von zwei Seiten vorgetragen worden sind, in der Abtheilung sehr ausführlich erörtert. Die Abtheilung hat sich aber nicht überzeugen können, daß es irgendwie geschäftsordnungsmäßig sei, eine solche Spaltung in der Prüfung der Wahl, wie sie namentlich von dem Herrn Abg. für Meppen bean­ tragt worden ist, zuzulassen. M. H., die Geschäftsordnung kann hier allein maßgebend sein, und wenn der Herr Abg. für Meppen am Schluß seiner Rede gesagt hat, „es wäre juristisch unzweifelhaft", so möchte ich mich mit ihm in dieser Beziehung gar nicht in eine Diskussion einlassen; — für mich ist die Geschäftsordnung maßgebend, sie ist unser Gesetz, und in der Geschäftsordnung ist ausdrücklich die Stelle, die schon der Herr Abg. Duncker vorgetragen hat, enthalten: daß bis zur Ungültigkeitserklärung einer Wahl der Gewählte Sitz und Stimme im Reichstage hat. Wer ist nun der Gewählte? M. H., in dem Wahlreglement sind darüber ausdrückliche Bestimmungen enthalten. Da ist zunächst im § 27 vorgeschrieben: Zn dieser Versammlung werden die Protokolle über die Wahlen in den ein­ zelnen Wahlbezirken durchgesehen und die Resultate der Wahlen zusammen­ gestellt. Das Ergebniß wird verkündet und demnächst in den zu amtlichen Publikationen dienenden Blättern bekannt gemacht. Ferner im § 28: Hat sich auf einen Kandidaten die absolute Mehrheit der in den Wahlbezirken abgegebenen gültigen Stimmen vereinigt, so wird derselbe als gewählt proklamirt. Endlich heißt es im § 33: Der Gewählte ist von der auf ihn gefallenen Wahl durch den Wahlkommissarius in Kenntniß zu setzen und zur Erklärung über die Annahme der­ selben u. s. w. aufzufordern. Aus diesen Bestimmungen scheint mir doch hervorzugehen, daß im § 6 unter den Worten „gewählt ist" nur derjenige verstanden werden kann, der vom Wahlkom­ missar als solcher proklamirt worden ist. M. H., das ist ein. formaler Akt, mit welchem dieser Theil der Wahl abschließt, und in Folge dieses Aktes hat der Proklamirte das Recht, seinen Platz im Reichstage einzunehmen und zu behalten, so lange als nicht seine Wahl für ungültig erklärt worden ist. Ein solches Zwischenverfahren, wie die Herren Dissentienten eingeleitet wissen wollen, hat nach der Geschäftsordnung nicht den Anspruch auf Zulässigkeit. M. H., wohin sollte auch die Ansicht der Herren Dissen­ tienten führen? Hier tritt einmal der Fall sehr schroff hervor, daß die Wahlkommission ihre Befugniß überschritten hat; aber mit demselben Rechte, wie hier behauptet wird, daß wegen dieses Fehlers der ganze Akt der Proklamirung zu kassiren sei, würde es auch bei einer Menge anderer, viel kleinerer Fehler möglich sein; es würde mit jedem einzelnen Additionsfehler, der in Betracht kommt, auch der Anspruch erhoben werden können, die Proklamation der Wahl sei zu kassiren und der Andere, der Gegenkandidat, einzuberufen.

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M. H., es kommt aber noch ein Punkt hinzu. Aus den vorgelesenen Bestim­ mungen scheint mir hervorzugehen, daß darauf eben ein entscheidender Werth von dem Wahlreglement gelegt wird, daß eine bestimmte Person als gewählt proklamirt worden ist; in der Proklamation liegt der Abschluß des Wahlaktes. Wie wollen Sie denn nunmehr die Kommission ohne Weiteres zwingen und nöthigen, daß sie einen Anderen als gewählt proklamire? Das ist ja eben ein Officium, eine Funktion der Wahlkom­ mission und nicht des Reichstags; der Reichstag hat blos darüber zu entscheiden, ob der als gewählt Proklamirte der richtig Gewählte sei, aber keineswegs an Stelle der Entscheidung der Wahlkommission die Entscheidung zu setzen, daß nicht Der, sondern Jener als der Gewählte zu betrachten sei. M. H., es hat in dem norddeutschen Reichstage uns allerdings ein Fall vor­ gelegen, wo der Reichstag ein anderes Verfahren eingeschlagen hat; aber der Fall lag dort ganz anders; da hatte die Wahlkommission ohne Weiteres Stimmen, die vollstän­ dig gültig und klar waren, nicht dem betreffenden Kandidaten in Anrechnung gebracht, es lag also ein ganz einfaches Additionsexempel vor. Hier, m. H., ist bereits geltend gemacht worden, daß es sich ereignen dürfte, daß wir jetzt also erklärten, der Herr Haanen ist einzuberufen, daß dann dessen Wahl beanstandet würde und wir schließlich wieder erklären, Herr Haanen ist nicht der richtig Gewählte, und — ich gehe dann noch weiter als der Herr Abg. Duncker — wir könnten möglicherweise zu dem Ent­ schluß kommen, zu sagen, nein, Herr Haanen ist nicht der richtig Gewählte. Also erst sagen wir, Herr Böhmer muß das Haus verlassen, Herr Haanen muß kommen; Herr Haanen ist nicht der richtig Gewählte, Herr Böhmer muß herein. (Gr. H.) — M. H., ich sollte meinen, in dieser argumentatio ad hominem, die allerdings, das gebe ich zu, vielleicht etwas weit geht, liegt auch eine Kritik des Verfahrens, das uns empfohlen wird. Wir können unmöglich hier zu einem Verfahren die Hand bieten, welches Sie jetzt als ein lächerliches mit Recht bezeichnen, und eben weil die Geschäftsordnung eine solche doppelte Wahlprüfung nicht kennt, glaube ich, hat die Abtheilung den ganz rich­ tigen Weg betreten und hat im Anschluß an § 6 ausgesprochen: bis zur Ungültigkeits­ erklärung der Böhmer'schen Wahl hat Böhmer Sitz und Stimme im Reichstag. Abg. Lingens beantragt: Der Reichstag wolle beschließen, 1) die Einberufung des Abg. Böhmer als nicht zu Recht erfolgt zu erachten; 2) den Bundeskanzler zu ersuchen, die Einberufung des Haanen mit dem Bemerken zu veranlassen, daß dessen Wahl zu beanstanden sei, — und motivirt diesen Antrag. Derselbe wird abgelehnt, der Antrag der Abtheilung dagegen angenommen. XVI. In der 24. Sitzung vom 27. April 1871 wird ferner die Wahl des Gra­ fen Lehndorff (im 5. Gumbinner Wahlkreise) beanstandet.

Berichterstatter Abg. Richter: Namens der 7. Abtheilung habe ich die Bean­ standung der Wahl im 5. Gumbinner Wahlkreis, Angerburg-Lötzen, zu beantragen. Es ist dort als gewählt proklamirt worden der Herr Gras Lehndorff. Stimmen sind 8477 abgegeben worden; Graf Lehndorff hat erhalten 5586 Stimmen, also 1341 Stimmen über die absolute Majorität. Gegenüber dieser großen Majorität glaubt die Abtheilung kein Gewicht legen zu sollen auf einzelne Mängel, welche sich aus der Prü­ fung der Wahlakten ergeben haben. Dieselben würden auch bei der strengsten Be­ urtheilung nicht im Stande sein, die Mehrheit irgendwie erheblich zu erschüttern. Die Abtheilung gründet ihren Antrag daher einzig und allein auf einen Protest, der gegen die Wahl eingegangen ist. Derselbe geht aus von dem Rittergutsbesitzer ContagWentzken und ist unterzeichnet von 14 anderen Personen: Rittergutsbesitzern, Kaufleuten, Aerzten, Apothekern rc. Zu diesem Protest ist noch ein Nachtrag gekommen, der von dem Herrn Contag allein unterzeichnet ist. Ich muß das Wesentliche aus diesem Pro­ test vorlesen. Es heißt darin: „Schon bei der letzten Reichstagswahl sind im hiesigen Wahlkreis von einem Wahlvorsteher, einem Lehrer im Kreise Lötzen, Wahlfälschungen vorgekommen, wofür derselbe noch heute die verdiente gesetzliche Strafe verbüßt. Wir gehen von dem Ge-

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sichtspunkt aus, daß zu Wahlvorstehern nur solche Männer bestimmt werden können, die nicht nur die allgemeine Achtung genießen, sondern auch soweit gebildet sind, daß sie sowohl die hohe Wichtigkeit ihres übernommenen Amtes, als auch die schweren Folgen einer Verletzung desselben zu begreifen irrt Stande sind. „Wir sind zwar bisher gewöhnt gewesen, daß bei Ernennung der Wahlvorsteher das königliche Landrathsamt zu Angerburg eine andere Ansicht gehabt hat; nicht die Zuverlässigkeit, nicht die Bildung entscheidet, sondern lediglich allein die politische An­ sicht oder, wo bei der mangelnden Bildung von einer Ansicht überhaupt nicht die Rede sein kann, das willige Fügen in die Anordnung der Behörden. Die Besetzung des Wahlvorsteher-Amtes bei der letzten Wahl überstieg denn auch alles bisher Dagewesene. Mit wenigen Ausnahmen finden wir nur die Namen der Lehrer, Ortsschulzen und Schenkwirthe. Bedenkt man, daß ein großer Theil der beiden letzten Kategorien kaum im Stande sind, ihren Namen zu unterschreiben, ja mehrere auch dieses sogar nicht können, und bedenkt man ferner, daß unter dieser Zahl auch solche Personen sich be­ finden, die als notorisch bekannte Trunkenbolde sich auf öffentlicher Landstraße im Schmutze herumwälzen und dennoch als Wahlvorsteher fungirt haben, dann wird der Ausspruch entschieden seine Berechtigung haben: es mangelt uns jede Garantie, daß die Wahlen gerecht und ordnungsmäßig abgehalten worden sind. „Zum Beweise obiger Annahme möge nachfolgende thatsächliche Mittheilung die­ nen. Zm sechsten Wahlbezirk Willudden-Przerwanken war Lehrer Broszio aus Willudden Wahlvorsteher. Der Ortsvorstand Erdmann aus Przerwanken bemerkte, daß Broszio Zettel, die ihm anscheinend für den liberalen Kandidaten von Saucken abge­ geben wurden, durch andere kleinere Zettel mit Graf Lehndorff vertauschte und dann in die Wahlurne hineinlegte. Nachdem Erdmann noch die Wähler Ladwig und Wil­ helm Caspar (folgen noch mehrere Namen), alle aus Willudden, und ferner Eduard Friedel und Michael Statz auf den Betrug aufmerksam gemacht, beobachteten diese den Wahlvorsteher längere Zeit und überzeugten sich bei ca. 15 Zetteln von der Fälschung. Bei der Abgabe des Zeugen Wilhelm Caspar aus Willudden wurde Broszio auf der That überführt und gestand seinen Betrug ein, (H.! H.!) — meinte nur, es wären weniger Zettel vertauscht. „Der genannte Ortsvorstand Erdmann aus Przerwanken machte am 4. März dem königlichen Landrathe Baron von Salmuth in seinem Amtslokale in Gegenwart des Briefträgers Daumlehner und des Kreisschreibers Segien mündliche Anzeige von die­ sem Betrüge. Auf die Frage des Landraths, was Erdmann in der Sache zu thun gedenke, erwiderte derselbe, „er meine, er müsse die Sache dem Staatsanwalte anzei­ gen", worauf ihm der Herr Landrath Folgendes erwiderte: „Sie thun einen großen Dienst, wenn Sie die Sache auf sich beruhen lassen." (H.! H.! I.) — Die Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ist erst nach all' diesen Vorgängen von anderer Seite erfolgt. „Wenn nun ferner der Herr Landrath Baron von Salmuth in einer konserva­ tiven Wahlversammlung aufgefordert hat, ja darauf zu achten, ob auch Zettel für Graf Lehndorff abgegeben werden, die an dem dicken grauen Papier und kleiner Form sehr gut zu ernennen sind (Zeuge Lehrer Lemke-Zakunowen), dann behaupten wir: „die

Wahl ist eine so beeinflußte, daß selbst die große Majorität keine Garantie für die wahre Willensmeinung des Wahlkreises ist." Dann heißt es in dem Nachtrag noch weiter: „Folgende inzwischen ermittelte Fälle mögen weitere Bestätigung geben: im Wahlbezirk Willkowen, Prinowen, Stüllichen sind von dem Schriftführer Lehrer Nieotowski und dem Beisitzer Schulzen WienStüllichen beiliegende Schreiben während der Wahl abgefaßt und dem betreffenden Krüger übermittelt worden." Diese Schreiben liegen im Original vor; in dem einen heißt es: „Stüllichen, den 3. März 1871. Bitte, lieber Podowsky, ich bitte für 15 Sgr. Branntwein für Stüllicher Leute zu geben." In dem anderen Schreiben schreibt der Lehrer Nieotowski: „Herr Kölping, seien Sie so gut, den Wählern Schnaps zu geben, aber daß sie sich nicht zu viel betrinken. Abends werde ich Ihnen Geld bringen."

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Auch in anderen Wahlbezirken ist es vorgekommen, daß Schulzen und Gendar­ men Geld an die Wähler vertheilt haben. So hat unter Anderem der Schulze Both in Paulswalde bei Gelegenheit der Austheilung eines Zettels für Graf Lehndorff dem Hirten Gurreck daselbst 10 Sgr. gegeben, der in Folge dessen auch seinem Sohne, dem Losmann Gurreck, anräthig war, einen solchen Zettel zu nehmen. Gendarm Volkner in Possesern gab dem Schulzen Scheßla in Pietzarken, nachdem er ihn ersucht, er möge für die Wahl des Grafen Lehndorff wirken, mit dem Bemerken einen Thaler, er könne ihn vertheilen oder auch anders verbrauchen. Zeuge: Schulz Scheßla und dessen Bru­ der Wirth Scheßla, Beide aus Pietzarken, welchem Letzteren diese Mittheilung von dem Ersteren gemacht ist. Im Wahlbezirk Brosowen war als Wahllokal die Schule amtlich bestimmt worden; der Wahlvorsteher verlegte dasselbe jedoch aus Annehmlich­ keitsrücksichten in das dortige Wirthshaus. Die Anschuldigungen in dem Protest betreffen also theils die einzelnen Abstim­ mungsbezirke, theils sind sie gegen den Wahlkommissar gerichtet. Was zunächst die Beschwerde über Vorgänge in den einzelnen Abstimmungsbezirken betrifft, so legte die Abtheilung gegenüber der großen Majorität kein Gewicht auf die willkürliche Verlegung des Wahllokals in einem Bezirk. Sie hielt ferner auch für unerheblich die Vertheilung von Branntwein, weil nicht behauptet worden, daß die Beeinflussung hierdurch nur einem der beiden Kandidaten allein zu Gute gekommen sei. Dann erachtete sie auch die allgemeinen Beschwerden über die Auswahl der Wahlvorsteher aus Schankwirthen oder sogar notorischen Trunkenbolden für zu allgemein, es lasse sich auf solche All­ gemeinheiten keine Untersuchung gründen. Dagegen war man in der Abtheilung über­ einstimmend der Ansicht, daß die behauptete Vertauschung von Wahlzetteln seitens des Lehrer Broszio und dany die behauptete Bestechung von Seiten des Schulzen Both im 27. Angerburger Bezirk und des Gendarmen Völkner im 7. Angerburger Bezirk ge­ richtlich untersucht werden müßte. Es wurde in der Abtheilung konstatirt, daß, wenn auch alle diese gegen die einzelnen Abstimmungsbezirke gerichteten Beschwerden sich in der Untersuchung bewahrheiten sollten, sie doch in ihrer Gesammtheit ziffermäßig das Wahlergebniß nicht verändern könnten. Die Abtheilung gründet ihren Antrag auf Beanstandung auf die Aeußerungen, welche dem Wahlkommissar. Landrath von Salmuth nachgesagt werden, in Verbindung mit den eben erwähnten Thatsachen, welche nach der Ansicht der Abtheilung gerichtlich untersucht werden müssen. Nach dem Protest hat der Wahlkommissar, Landrath von Salmuth, zunächst geäußert, als ihm die amtliche Anzeige gemacht wurde über die in einem Wahlbezirk vorgekommene Vertauschung von Zetteln (liest): „auf die Frage des Lehrers, was Erdmann in der Sache zu thun gedenke, erwiderte derselbe, er meine, er müsse dieselbe dem Staatsanwalt anzeigen, worauf ihm der Landrath Folgendes erwiderte: Sie thun einen großen Dienst, wenn Sie die Sache auf sich beruhen lassen." Wenn das wahr ist, so würde das beweisen, daß der Parteieiser in dem Landrath das Bewußtsein seiner Amtspflicht in bedenklichem Grade verdunkelt hat. Er soll nun ferner in einer konservativen Versammlung, in der auch Wahlvorsteher zugegen gewesen sind, aufgefordert haben, ja darauf zu achten, ob auch Zettel für den Grafen Lehndorff abgegeben würden, die an dem kleinen Format und dem grauen Papier leicht erkennbar seien. Diese Aufforderung ist mehrdeutig; sie kann aber der schlimmsten Deutung unterliegen in dem Munde eines Beamten, der es für ein Verdienst hält, die Unter­ suchung wirklich vorgekommener Fälschungen zu unterdrücken; ja vielleicht steht die dummdreiste Art, in welcher in einem Wahlbezirk der Lehrer Broszio die Zettel vor der Urne vertauscht haben soll, in einer gewissen moralischen Verbindung mit der Auf­ forderung des Landraths in der konservativen Wahlversammlung. Die Mehrheit der Abtheilung war der Ansicht, daß, wenn diese beiden Aeuße­ rungen sich bestätigen sollten, dann die moralische Qualifikation des Landraths von Sal­ muth zum Wahlkommissarius in hohem Grade zweifelhaft erscheinen würde. Die Min­ derheit in der Abtheilung war der Ansicht, daß es auf die erste Aeußerung nicht an­ komme, da sie erst nach der Wahl gemacht sei. Was die zweite Aeußerung betrifft,

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so sei sie geschehen in einer konservativen Wahlversammlung, sie sei also nicht in amt­ licher Eigenschaft gemacht worden. Zudem habe der Landrath den Wahlvorstehern als solchen überhaupt keine, Ordres zu ertheilen. Darauf wurde erwidert, wenn es schon für den gewöhnlichen Mann schwer sei, zu erkennen, wo bei solchen Gelegenheiten die Privatperson des Landraths aufhöre und der Landrath anfange, so sei es für diese Leute noch weit schwerer, zu unterscheiden, wo die Befugnisse des Landraths aufhören und die Stellung des Wahlkommissars anfange. Zudem würden die Wahlvorsteher ja von dem Landrath ernannt und seien auch in ihren anderen Verhältnissen vielfach von demselben abhängig. Es wurde von einem Mitglieds noch hervorgehoben, daß diese Wahl um deshalb besonders streng müsse beurtheilt werden, weil der Kreis AngerburgLötzen stets den schlimmsten Wahlbeeinflussungen ausgesetzt gewesen wäre. Noch im Jahre 1868 habe nach gerichtlicher Untersuchung das Haus der Abgeordneten eine dort vorgekommene Wahl wegen amtlicher Beeinflussungen kassirt; auch habe im Zahre 1867 dem Reichstage ein Protest vorgelegen, und eine Stelle in diesem Proteste habe den Reichstag veranlaßt, eine gerichtliche Untersuchung herbeizuführen, worauf denn in der That drei Personen wegen Wahlfälschungen zu Gefängniß verurtheilt worden sind. Von einem süddeutschen Mitglieds wurde noch hervorgehoben, wie man besonders das Verhalten eines Wahlkommissars streng beurtheilen müsse und nicht wünschen könne, daß bei milder Beurtheilung eines solchen Benehmens derartige Vorgänge, wie sie bis­ her in Süddeutschland nicht vorgekommen seien, auch dort Eingang finden sollten. Für Viele in der Kommission war der Gesichtspunkt entscheidend, daß eine Beanstan­ dung in der Wahl nur eine Vertagung der Gültigkeitserklärung darstelle, also für das Endresultat nach festgestellter Erhebung der Thatsachen nicht präjudizirlich sei. Der Reichstag habe aber ein Interesse daran, den Legitimationsbrief seiner Mitglieder von den Flecken solcher Anschuldigungen gereinigt zu sehen. Nach alledem kommt aber die Abtheilung zu dem Anträge: 1) die Gültigkeit der Wahl des Abg. Grafen Lehndorff zu beanstanden; 2) den Herrn Bundeskanzler auf­ zufordern, daß er wegen der in den Protesten der Ritterguts-Besitzer Contag-Wentzken und Gen. vom 23./27. März in Betreff der Aeußerungen des Wahlkommissars Baron von Salmuth in seinem Amtslokale gegen den Ortsvorstand Erdmann und vorher in einer konservativen Wahlversammlung, sowie wegen der in Betreff der Wahlen im 6. Angerburger, 27. Angerburger und 7. Angerbürger Abstimmungsbezirke behaupteten Thatsachen die gerichtliche Untersuchung veranlasse und das Ergebniß derselben dem Reichstage mittheile. Abg. Graf Arnim-Boitzenburg: Zch habe zur Minderheit in der Abtheilung gehört, deren Motive für ihre Abstimmung der Herr Referent zwar im Allgemeinen schon erwähnt hat; ich will auf sie aber noch einmal zurückzukommen mir erlauben. Was enthält der Protest? Zunächst, m. H., eine Erzählung über eine Schnapsvertheilung, wobei nicht einmal behauptet, viel weniger bewiesen worden ist, daß etwa irgend einem dieser Genuß versagt worden wäre, weil er vielleicht für den Grafen Lehndorff nicht gestimmt hätte. Ich halte also die Sache für ganz irrelevant, sie ist auf die Gültigkeit der Wahl ohne den mindesten Einfluß. Dann kommen zwei Punkte: erstens eine Wahlzettel-Vertauschuug, betreffend 15 Stimmen; diese Sache liegt bereits der Staatsanwaltschaft vor. Ein anderer Fall ist die Behauptung, daß ein Gendarm einen Wahlbestechungs-Versuch gemacht habe. Die Sache liegt ebenfalls schon der Staats­ anwaltschaft vor. Diese beiden Fälle betreffen, hoch gerechnet, 30 bis 40 Stimmen, und diese haben gegenüber den 1347 Stimmen, welche Graf Lehndorff über die ab­ solute Majorität erhalten hat, doch wirklich gar keinen Einfluß. Zch komme zu der Behauptung, der Landrath habe versucht, eine Person, welche über eine vorgekommene Wahlzettel-Vertauschung Anzeige gemacht hat, zur Vertuschung der Sache zu veranlassen. Hat der Landrath diese'Aeußerung gethan, so hat er sich und der Sache, der er dienen wollte, einen sehr schlechten Dienst erwiesen. Er hat sich eventuell durch diese Aeußerung sehr gravirt, und ich glaube, ich darf, ehe nicht der Beweis geführt worden, daß er sie gethan hat, sein Benehmen nicht charakterisiren.

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denn der Ausdruck, den ich dafür anwenden würde, möchte vielleicht zu hart sein. Aber was für einen Einfluß das auf die Gültigkeit der Wahl haben kann, vermag ich nicht zu ersehen. Die Aeußerung ist erst möglich, nachdem die Abstimmung stattgefunden hat, also, was kann sie für einen Einfluß auf die Gültigkeit der Wahl habend Nun komme ich zu der letzten Behauptung. Der Landrath soll in einer konser­ vativen Wahlversammlung, wo also die Mitglieder doch wohl schon geneigt waren, für den konservativen Kandidaten zu stimmen, wo eine Beeinflussung also nicht nöthig war, die Aeußerung gethan haben: sehen Sie sich den Wahlzettel an, er hat die und die Merkmale! M. H., ich gebe zu, der Landrath hat gefehlt dadurch, daß er eine Aeuße­ rung gethan hat, die zweideutig sein konnte. Ich deute sie mir nun so: ich weiß nicht, ob vielleicht in der Wahlversammlung Leute anwesend waren, die der nützlichen Kunst des Lesens nicht ganz kundig waren, und denen hat er gesagt: es ist vorgekommen, daß euch vor dem Wahllokal Zettel weggenommen sind; laßt euch die nicht wieder wegnehmen, sondern legt die Zettel, die euch für den Grafen Lehndorff in die Hand gegeben sind, in die Urne. Das ist eine Aufforderung, die ich als Landrath vielleicht einem Anderen überlassen hätte, die aber doch die Wahl des Grafen Lehndorff nicht angreift und für deren Resultat nicht maßgebend ist. Ich frage mich: ist die Willens­ meinung des Wahlbezirks in der Abstimmung richtig getroffen? und ich kann nicht anders sagen, als: sie ist richtig getroffen: und ich kann von dem Terrorismus des Landraths, von dem hier gesprochen ist, nichts finden. Ich bitte Sie, die Wahl für gültig zu erklären. (B. r.) Es wird der erste Antrag der Abtheilung auf Beanstandung der Wahl verworfen, dagegen der zweite auf Untersuchung der Vorgänge angenommen.

XVII. Zn der 27. Sitzung vom 1. Mai 1871 wird über die Wahl des Geh. Regierungsraths v. Brauchitsch (im 1. Danziger Wahlkreise) verhandelt.

Berichterstatter Abg. Erhard: Zm ersten Danziger Wahlkreise wurden bei der am 3. März stattgehabten Wahl, wie Sie aus dem Bericht ersehen haben werden, 8965 gültige Stimmen abgegeben. Es erhielten der Geheime Regierungsrath von Brauchitsch 4056 Stimmen, der Rechtsanwalt von Forckenbeck 3181 und der Pfarrer Austen 1623 Stimmen. Sonach hatte keiner der Kandidaten die absolute Mehrheit, und es wurde auf den 16. März eine Neuwahl anberaumt. Bei dieser Neuwahl wurden 10,119 gültige Stimmen abgegeben. Die absolute Mehrheit war 5060. Es wurde der Geheime Regierungsrath von Brauchitsch als Meistgewählter proklamirt. Nun ist ein Protest gegen die Wahl eingekommen. Es wird in diesem Proteste behauptet, daß eine große Röihe von Wählern an der Wahl verhindert war; es wurde bei der Wahlfeststellung am 7. März konstatirt, daß in 32 Wahlbezirken die Wahl nicht stattfinden konnte, und es steht wenigstens in 27 Wahlbezirken fest, daß keine Wähler sich eingefunden haben. Wie Sie aus dem Bericht entnehmen werden, ist die Anzahl der Wähler in jenen 32 Wahlbezirken eine sehr bedeutende, es sind nämlich 3184, und die Stimmen dieser sämmtlichen Wähler konnten bei der Wahlfeststellung am 7. März nicht in Betracht gezogen werden. Wenn nun angenommen würde, daß diese 3184 Wähler bei der Wahl am 3. März gewählt hätten, so würde das Verhältniß, falls diese Wähler dem einen oder dem anderen der Kandidaten, welche am 3. März in Frage standen, ihre Stimmen gegeben hätten, total geändert werden. Würden diese sämmtlichen Wähler am 3. März dem Herrn von Brauchitsch ihre Stimmen gegeben haben, so würde schon am 3. März Herr von Brauchitsch mit absoluter Stimmenmehr­ heit gewählt gewesen sein. Ebenso würde es sich gestaltet haben, wenn diese sämmt­ lichen Wähler am 3. März dem Herrn von Forckenbeck ihre Stimme gegeben hätten. Hätten dagegen die sämmtlichen Wähler in dem fraglichen Wahlbezirke am 3. März dem Pfarrer Austen ihre Stimmen gegeben, dann wären nicht die Herren v. Brauchitsch und von Forckenbeck auf die engere Wahl gekommen, sondern die Herren Austen und von Brauchitsch. Nach diesen thatsächlichen Gründen nimmt die Abtheilung in ihrer großen Mehrheit an — ich erwähne, daß auch der Herr Korreferent, der Abg. Graf

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von Arnim, damit einverstanden war —, daß durch die Wahl am 16. März, wo die Wähler nur zwischen dem Herrn von Brauchitsch und dem Herrn von Forckenbeck zu wählen hatten, die am 3. März stattgehabte Wahl nicht als sanktionirt angesehen wer­ den kann. Vorausgesetzt, es hätten die sämmtlichen Wähler aus den Wahlbezirken, von welchen angenommen wird, daß am 7. März eine Wahl nicht stattfinden konnte, gewählt, so wären eben möglicherweise ganz andere Kandidaten auf die engere Wahl gekommen; man konnte nicht sagen, die Wähler konnten ja am 16. März ihr Wahl­ recht ausüben, weil sie hier nur zwischen den Herren von Brauchitsch und von Forcken­ beck wählen konnten, und möglicherweise, wenn die Wähler aus jenen 32 Wahlbezirken am 3. März hätten wählen können, andere Kandidaten in die engere Wahl gekommen wären. Nun stellt sich die Sache so. Es haben sich nachträglich noch Berichte aus fünf Wahlbezirken zu den Akten bringen lassen, wonach in fünf dieser Wahlbezirke allerdings gewählt wurde. Hierdurch mindert sich wohl die Anzahl der Wahlberechtigten, von denen man annehmen muß, daß sie nicht wählen konnten oder wollten, von 3184 auf 2792; es ändert sich aber an der ganzen Sachlage insofern nichts, als immerhin, wenn diese 2792 Wähler dem einen oder dem andern Kandidaten ihre Stimmen gegeben hätten, das Ergebniß ein anderes hätte werden können, so daß also nicht Herr von Brauchitsch und Herr von Forckenbeck auf die engere Wahl gekommen wären, oder daß am 3. März schon entweder von Brauchitsch oder von Forckenbeck die absolute Majo­ rität gehabt haben würde. Aus den Akten ist aber nun nicht klar, ob in diesen 27 Bezirken die Wahl deshalb nicht stattgehabt hat, weil überhaupt ein Wahlvorstand nicht konstituirt werden konnte, oder ob nur die Wähler angesichts der Wassersnoth nicht gewählt haben, trotzdem ein Wahlvorstand vorhanden war. Es sind nun von 18 unter den 27 Bezirken Berichte da. Zn einigen dieser Orte haben allerdings am 18. März die Wahlvorstände sich konstituitt, es sind aber keine Wähler gekommen; in anderen konnte überhaupt keine Wahl stattfinden, weil kein Wahlvorstand konstituirt war, und von 9 Bezirken fehlt der Bericht gänzlich. So lange man nun nicht in der Lage ist, zu übersehen, in welchen der 27 Wahl­ bezirke die Wahl deshalb unterblieben ist, weil die Konstituirung des Vorstandes nicht stattfinden konnte, so lange das nicht aktenmäßig festgestellt ist, ist es auch nach An­ sicht der Abtheilung in ihrer entschiedenen Mehrheit nicht möglich, zu sagen, ob die Wahl für gültig zu erklären ist oder nicht. Die Abtheilung ist nicht der Meinung, daß die Wahl dann zu kassiren wäre, wenn die nöthige Anzahl der Wähler die Wahl nur unterlassen hat, weil es ihr bei der Wassersnoth beschwerlich war, zu wählen; wenn ein Wahlvorstand konstituirt war, so nimmt die Abtheilung an, daß die Wahl gültig wäre, da das Erscheinen des Wahlvorstandes die Möglichkeit gewährt, daß eine Wahl stattfinden konnte. Nachdem nun aber aus 9 Bezirken überhaupt keine Wahl­ anzeigen vorliegen, nachdem aus den übrigen 18 zum Theil ersichtlich ist, daß die Kon­ stituirung des Wahlvorstandes nicht stattfinden konnte, hat sich die Abtheilung in ihrer entschiedenen Mehrheit gesagt, daß nach denselben Prinzipien, die bei der Wahl im Thorn-Kulmer Wahlbezirk und im vierten schleswigschen Wahlbezirk jüngst vom Hause angenommen wurden, hier auch die Wahl insolange zu beanstanden ist, als nicht fest­ steht, in welchen dieser 27 Wahlbezirke ein Vorstand sich nicht konstituiren konnte. Erst wenn das feststeht, läßt sich berechnen, ob die Anzahl der Wahlberechtigten in denjenigen Wahlbezirken, in welchen die Konstituirung des Wahlvorstandes nicht statt­ gefunden hat, eine so bedeutende war, daß, falls sie von ihrem Wahlrecht am 3. März hätten Gebrauch machen können, eine Aenderung des Wahlergebnisses als eine mög­ liche zu erachten ist. Aus diesen Gesichtspunkten ist die Abtheilung dazu gekommen, daß sie beantragt: die Wahl des Herrn von Brauchitsch zu beanstanden und den Herrn Reichskanzler aufzufordern, zuerst genau feststellen zu lassen, in welchem jener 27 Wahlbezirke eine Konstituirung des Wahlvorstandes nicht erfolgen konnte. Der Antrag der Abtheilung wird angenommen.

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Zn der 53. Sitzung berichtet Dr. Erhard: Zn Folge Beschlusses des Hauses wurden seitens des Wahlkommissars im Kreise Elbing-Marienburg Recherchen gepflogen, und derselbe hat seinen Bericht an die Regierung zu Danzig erstattet. Zn diesem Be­ richt wird nun seitens des Wahlkommissars auseinandergesetzt, daß, was den Elbinger Kreis anlangt, sowohl nach seinen eigenen Wahrnehmungen und Beobachtungen, als auch nach den Recherchen, welche er bei glaubwürdigen Persönlichkeiten gepflogen habe, nur in zwei Wahlorten eine Konstituirung des Wahlvorstandes nicht stattfinden konnte, daß dagegen in allen übrigen Wahlorten eine Unmöglichkeit der Konstituirung des Wahlvorstandes nicht stattgefunden hat, so daß also nur für zwei Wahlorte das Hinder­ niß obgewaltet hat, welches damals der Reichstag als maßgebend erachtete. Desgleichen berichtet der Wahlkommissar, daß im Marienburger Kreise von dem dortigen Landrath und dem Domänenrentamt Tiegenhof Erhebungen gepflogen wurden, nach welchen nur in vier Wahlbezirken eine Konstituirung des Wahlvorstandes unmöglich war. Also in sechs Wahlbezirken konnte diese Konstituirung nicht stattfinden, und zwar sind dies im Elbinger Kreise die Wahlbezirke 38 und 43, und im Marienburger Kreise die Wahl­ bezirke 82, 85, 86 und 87; diese sechs Wahlbezirke zählen zusammen 754 Wähler. Man kann also nach dem früheren Beschluß des Hauses nur fragen, inwieweit die Verhinderung dieser 754 Wähler irgendwie von Einfluß ans das Resultat der Wahl am 3. März war. Würde bei Hinzurechnung jener 754 Stimmen zu den Stimmen, welche irgend einer der drei Kandidaten, welche am 3. März in Frage waren, erhalten hatte, ein anderes Resultat herausgekommen sein? würde eine engere Wahl zwischen anderen Persönlichkeiten als zwischen Herrn von Brauchitsch und Herrn von Forckenbeck nothwendig geworden sein? und diese Frage ist zu verneinen. Bei der engeren Wahl hatte Herr von Brauchitsch 4165 Stimmen; rechnet man ihm auch die 754 derjenigen Wähler hinzu, welche nicht wählen konnten wegen der Unmöglichkeit der Konstituirung eines Wahlvorstandes, so würde die Anzahl der Wähler fich auf 9719 erheben, die absolute Majorität betrüge 4860, und es würde, wenn man die 754 Stimmen derer, welche nicht gewählt haben, Herrn von Brauchitsch zurechnete, derselbe erhalten haben 4910, und es hätte dann Herr von Brauchitsch schon am 3. März die absolute Mehrheit gehabt. Würde dagegen die Hinzurechnnng dieser 754 Stimmen stattfinden zu denjenigen 3181 Stimmen, welche für Herrn von Forckenbeck abgegeben wurden, so würden dies noch immer keine 4000 sein, und würde derselbe wie sonst mit Herrn von Brauchitsch auf die engere Wahl gekommen sein. Würde man aber diese 754 Stimmen dem Pfarrer Austen zurechnen, so hatte derselbe immer noch nicht ganz 2406, und es wären auch dann die Herren von Brauchitsch und von Forckenbeck auf die engere Wahl gekommen. Es ändert sich also das Wahlergebniß nicht, und die Abtheilung beantragt daher, die Wahl des Herrn von Brauchitsch im ersten Dan­ ziger Wahlkreise für gültig zu erklären. Dieser Antrag wird angenommen.

HI.

Gesetzentwürfe. Nr. 1.

Gesetzentwurf betreffend die Urrfnffnng des Deutschen Reiches. Wir Wilhelm rc. ic.

§ 1.

An die Stelle der zwischen dem Norddeutschen Bunde und den Großherzogthümern

Baden und Hessen vereinbarten Verfassung des Deutschen Bundes (Bundesgesetzblatt vom Jahre 1870 S. 627 ff.), sowie der mit den Königreichen Bayern und Württemberg über den Beitritt zu

dieser Verfassung geschlossenen Verträgen vom 23. und 25. November 1870 (Bundesgesetzblatt vom Jahre 1871 S. 9 ff. und vom Jahre 1870 S. 654 ff.) tritt die beigefügte:

Verfassungs-Urkunde für das Deutsche Reich. § 2.

Die Bestimmungen in Art. 80 der in § 1 gedachten Verfassung des Deutschen Bundes

(Bundesgesetzblatt vom Jahre 1870 S. 647), unter III. § 8 des Vertrages mit Bayern vom 23.

November 1870 (Bundesgesetzblatt vom Jahre 1871 S. 21 ff.), in Art. 2 Nr. 6 des Vertrages mit Württemberg vom 25. November 1870 (Bundesgesetzblatt vom Jahre 1870 S. 656), über die Ein­

führung der im Norddeutschen Bunde ergangenen Gesetze in diesen Staaten bleiben in Kraft.

Die dort bezeichneten Gesetze sind Neichsgesetze.

Wo in denselben von dem Norddeutschen

Bunde, dessen Verfassung, Gebiet, Mitgliedern oder Staaten, Jndigenat, verfassungsmäßigen Or­ ganen, Angehörigen, Beamten, Flagge u. s. w. die Rede ist, sind das Deutsche Reich und dessen

entsprechende Beziehungen zu verstehen.

Dasselbe gilt von denjenigen im Norddeutschen Bunde ergangenen Gesetzen, welche in der Folge in einem der genannten Staaten eingeführt werden.

§ 3.

Die Vereinbarungen in dem zu Versailles am 15. November 1870 aufgenommenen

Protokolle (Bundesgesetzblatt vom Jahre 1870 S. 650 ff.), in der Verhandlung zu Berlin vom 25. November 187Ö (Bundesgesetzblatt vom Jahre 1870 S. 657), dem Schlußprotokolle vom 23.

November 1870 (Bundesgesetzblatt vom Jahre 1871 S. 23 ff.), sowie unter IV des Vertrages mit Bayern vom 23. November 1870 (a. a. O. S. 21 ff.) werden durch dieses Gesetz nicht berührt.

Urkundlich re.

Gegeben rc.

Verfassung des Deutschen Reichs. Seine Majestät der König von Preußen im Namen des Norddeutschen Bundes, Seine Ma­

jestät der König von Bayern, Seine Majestät der König von Württemberg, Seine Königliche Hoheit

der Großherzog von Baden und Seine Königliche Hoheit der Großherzog von Hessen und bei Rhein für die südlich vom Rhein belegenen Theile des Großherzogthums Hessen schließen einen ewigen

Bund zum Schutze des Bundesgebietes und des innerhalb desselben gültigen Rechtes, sowie zur Pflege der Wohlfahrt des Deutschen Volkes.

Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich

führen und wird nachstehende Verfassung haben.

126

Gesetzentwürfe.

I. Qundrsgebiet. Artikel 1. Das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Sachsen-Weimar, Mecklenburg-Strelitz, Oldenburg, Braunschweig, Sachsen-Meiningen, Sachsen-Altenburg, Sachsen-Koburg-Gotha, Anhalt, Schwarzburg-Rudolstadt, Schwarzburg-Sondershausen, Waldeck, Reuß älterer Linie, Reuß jüngerer Linie, Schaumburg-Lippe, Lippe, Lübeck, Bremen und Hamburg.

II. Neichsgrsrhgrbung. Artikel 2. Innerhalb dieses Bundesgebietes übt das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maßgabe des Inhalts dieser Verfassung und mit der Wirkung aus, daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen. Die Reichsgesetze erhalten ihre verbindliche Kraft durch ihre Verkündigung von Reichs wegen, welche vermittelst eines Reichsgesetzblattes geschieht. Sofern nicht in dem publizirten Gesetze ein anderer Anfangstermin seiner verbindlichen Kraft bestimmt ist, beginnt die letztere mit dem vierzehnten Tage nach dem Ablauf desjenigen Tages, an welchem das betreffende Stück des Reichsgesetzblattes in Berlin ausgegeben worden ist. Artikel 3. Für ganz Deutschland besteht ein gemeinsames Zndigenat mit der Wirkung, daß der Angehörige (Unterthan, Staatsbürger) eines jeden Bundesstaates in jedem anderen Bundes­ staate als Inländer zu behandeln und demgemäß zum festen Wohnsitz, zum Gewerbebetriebe, zu öffentlichen Aemtern, zur Erwerbung von Grundstücken, zur Erlangung des Staatsbürgerrechtes und zum Genusse aller sonstigen bürgerlichen Rechte unter denselben Voraussetzungen wie der Ein­ heimische zuzulaffen, auch in Betreff der Rechtsverfolgung und des Rechtsschutzes demselben gleich

zu behandeln ist. Kein Deutscher darf in der Ausübung dieser Befugniß durch die Obrigkeit seiner Heimath oder durch die Obrigkeit eines anderen Bundesstaates beschränkt werden. Diejenigen Bestimmungen, welche die Armenversorgung und die Aufnahme in den lokalen Gemeindeverband betreffen, werden durch den im ersten Absatz ausgesprochenen Grundsatz nicht berührt. Ebenso bleiben 'bis auf Weiteres die Verträge in Kraft, welche zwischen den einzelnen Bundes­ staaten in Beziehung auf die Uebernahme von Auszuweisenden, die Verpflegung erkrankter und die Beerdigung verstorbener Staatsangehörigen bestehen. Hinsichtlich der Erfüllung der Militairpflicht im Verhältniß zu dem Heimathslande wird im Wege der Reichsgesetzgebung das Nöthige geordnet werden. Dem Auslande gegenüber haben alle Deutschen gleichmäßig Anspruch auf den Schutz des Reichs. Artikel 4. Der Beaufsichtigung Seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unter­ liegen die nachstehenden Angelegenheiten: 1) die Bestimmungen über Freizügigkeit, Heimaths- und Niederlassungsverhältnisse, Staatsbürgerrecht, Paßwesen und Fremdenpolizei und über den Gewerbe­ betrieb, einschließlich des Versicherungswesens, soweit diese Gegenstände nicht schon durch den Ar­ tikel 3 dieser Verfassung erledigt sind, in Bayern jedoch mit Ausschluß der Heimaths- und Nieder­ lassungs-Verhältnisse, desgleichen über die Kolonisation und die Auswanderung nach außerdeutschen Ländern; 2) die Zoll- und Handelsgesetzgebung und die für die Zwecke des Reichs zu verwendenden Steuern; 3) die Ordnung des Maaß-, Münz- und Gewichtssystems, nebst Feststellung der Grund­ sätze über die Emission von fundirtem und unfundirtem Papiergeld; 4) die allgemeinen Bestim­ mungen über das Bankwesen; 5) die Erfindungspatente; 6) der Schutz des geistigen Eigenthums; 7) Organisation eines gemeinsamen Schutzes des Deutschen Handels im Auslande, der Deutschen Schifffahrt und ihrer Flagge zur See und Anordnung gemeinsamer konsularischer Vertretung, welche vom Reiche ausgestattet wird; 8) das Eisenbahnwesen, in Bayern vorbehaltlich der Bestim­ mung im Artikel 46, und die Herstellung von Land- und Wasserstraßen im Interesse der Landes­ vertheidigung und des allgemeinen Verkehrs; 9) der Flößerei- und Schifffahrtsbetrieb auf den

mehreren Staaten gemeinsamen Wasserstraßen und der Zustand der letzteren, sowie die Fluß- und sonstigen Wasserzölle; 10) das Post- und Telegraphenwesen, jedoch in Bayern und Württemberg nur nach Maßgabe der Bestimmung im Artikel 52; 11) Bestimmungen über die wechselseitige Voll­ streckung von Erkenntnissen in Civilsachen und Erledigung von Requisitionen überhaupt; 12) sowie über die Beglaubigung von öffentlichen Urkunden; 13) die gemeinsame Gesetzgebung über das Obli-

Die Verfassung des Deutschen Reiches.

127

gationenrecht, Strafrecht, Handels- und Wechselrecht und das gerichtliche Verfahren; 14) das Militairwesen des Reichs und die Kriegsmarine; 15) Maßregeln der Medizinal- und Veterinairpolizei; 16) die Bestimmungen über die Presse und das Vereinswesen. Artikel 5. Die Reichsgesetzgebung wird ausgeübt durch den'Bundesrath und den Reichs­ tag. Die Uebereinstimmung der Mehrheitsbeschlüsse beider Versammlungen ist zu einem Reichsgesetze erforderlich und ausreichend. Bei Gesetzesvorschlägen über das Militairwesen, die Kriegsmarine und die im Artikel 35 bezeichneten Abgaben giebt, wenn im Bundesrathe eine Meinungsverschiedenheit stattfindet, die Stimme des Präsidiums den Ausschlag, wenn sie sich für die Aufrechthaltung der bestehenden Ein­ richtungen ausspricht. III. Lnn-esrath.

Artikel 6. Der Bundesrath besteht aus den Vertretern der Mitglieder des Bundes, unter welchen die Stimmführung sich in der Weise vertheilt, daß Preußen mit den ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt 17 Stimmen führt, Bayern 6, Sachsen 4, Württemberg 4, Baden 3, Hessen 3, Mecklenburg-Schwerin 2, Sachsen-Weimar 1, MecklenburgStrelitz 1, Oldenburg 1, Braunschweig 2, Sachsen-Meiningen 1, Sachsen-Altenburg 1, SachsenKoburg-Gotha 1, Anhalt 1, Schwarzburg-Rudolstadt 1, Schwarzburg-Sonderhausen 1, Waldeck 1, Reuß älterer Linie 1, Neuß jüngerer Linie 1, Schaumburg-Lippe 1, Lippe 1, Lübeck 1, Bremen 1, Hamburg 1 Stimme, zusammen 58 Stimmen. Jedes Mitglied des Bundes kann so viel Bevollmächtigte zum Bundesrath ernennen, wie es Stimmen hat, doch kann die Gesammtheit der zuständigen Stimmen nur einheitlich abgegeben werden. Artikel 7. Der Bundesrath beschließt: 1) über die dem Reichstage zu machenden Vorlagen und die von demselben gefaßten Beschlüsse; 2) über die zur Ausführung der Reichsgesetze erforder­ lichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften und Einrichtungen, sofern nicht durch Reichsgesetz etwas Anderes bestimmt ist; 3) über Mängel, welche bei der Ausführung der Reichsgesetze oder der vor­ stehend erwähnten Vorschriften oder Einrichtungen hervortreten. Jedes Bundesglied ist befugt, Vorschläge zu machen und in Vortrag zu bringen, und das Präsidium ist verpflichtet, dieselben der Berathung zu übergeben. Die Beschlußfassung erfolgt, vorbehaltlich der Bestimmungen in den Artikeln 5, 37 und 78, mit einfacher Mehrheit. Nicht vertretene oder nicht instruirte Stimmen werden nicht gezählt. Bei Stimmengleichheit giebt die Präsidialstimme den Ausschlag. Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Bestimmungen dieser Ver­ fassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur derjenigen Bundes­ staaten gezählt, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist. Artikel 8. Der Bundesrath bildet aus seiner Mitte dauernde Ausschüsse 1) für das Land­ heer und die Festungen; 2) für das Seewesen; 3) für Zoll- und Steuerwesen; 4) für Handel und Verkehr; 5) für Eisenbahn, Post und Telegraphen; 6) für Justizwesen; 7) für Rechnungswesen. In jedem dieser Ausschüsse werden außer dem Präsidium mindestens vier Bundesstaaten vertreten sein, und führt innerhalb derselben jeder Staat nur Eine Stimme. In dem Ausschuß für das Landheer und die Festungen hat Bayern einen ständigen Sitz, die übrigen Mitglieder desselben, sowie die Mitglieder des Ausschusses für das Seewesen werden vom Kaiser ernannt; die Mitglieder der anderen Ausschüsse werden von dem Bundesrathe gewählt. Die Zusammensetzung dieser Ausschüsse ist für jede Session des Bundesrathes resp, mit jedem Jahre zu erneuern, wobei die ausscheidenden Mitglieder wieder wählbar sind. Außerdem wird im Bundesrathe aus den Bevollmächtigten der Königreiche Bayern, Sachsen und Württemberg und zwei, vom Bundesrathe alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesstaaten ein Ausschuß für die auswärtigen Angelegenheiten gebildet, in welchem Bayern den Vorsitz führt. Den Ausschüssen werden die zu ihren Arbeiten nöthigen Beamten zur Verfügung gestellt. Artikel 9. Jedes Mitglied des Bundesrathes hat das Recht, im Reichstage zu erscheinen und muß daselbst auf Verlangen jederzeit gehört werden, um die Ansichten seiner Regierung zu vertreten, auch dann, wenn dieselben von der Majorität des Bundesrathes nicht adoptirt worden sind.

Niemand kann gleichzeitig Mitglied des Bundesrathes und des Reichstages sein. Artikel 10. Dem Kaiser liegt es ob, den Mitgliedern des Bundesrathes den üblichen

diplomatischen Schutz 311 gewähren.

Gesetzentwürfe.

128

IV. prast-ium. Artikel 11. Das Präsidium des Bundes steht dem Könige von Preußen zu, welcher den Namen Deutscher Kaiser führt. Der Kaiser hat das Reich völkerrechtlich zu vertreten, im Namen des Reichs Krieg zu erklären und Frieden zu schließen, Bündnisse und andere Verträge mit fremden Staaten einzugehen, Gesandte zu beglaubigen und zu empfangen. Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustimmung des Bundesraths erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt. Insoweit die Verträge mit fremden Staaten sich auf solche Gegenstände beziehen, welche nach Artikel 4 in den Bereich der Reichsgesetzgebung gehören, ist zu ihrem Abschluß die Zustimmung des Bundesrathes und zu ihrer Gültigkeit die Genehmigung des Reichstages erforderlich. Artikel 12. Dem Kaiser steht es zu, den Bundesrath und den Reichstag zu berufen, zu eröffnen, zu vertagen und zu schließen. Artikel 13. Die Berufung des Bundesrathes und des Reichstages findet alljährlich statt und kann der Bundesrath zur Vorbereitung der Arbeiten ohne den Reichstag, letzterer aber nicht ohne den Bundesrath berufen werden. Artikel 14. Die Berufung des Bundesrathes muß erfolgen, sobald sie von einem Drittel der Stimmenzahl verlangt wird. Artikel 15. Der Vorsitz im Bundesrathe und die Leitung der Geschäfte steht dem Reichs­ kanzler zu, welcher vom Kaiser zu ernennen ist. Der Reichskanzler kann sich durch jedes andere Mitglied des Bundesrathes vermöge schrift­ licher Substitution vertreten lassen. Artikel 16. Die erforderlichen Vorlagen werden nach Maßgabe der Beschlüsse des Bundes­ rathes im Namen des Kaisers an den Reichstag gebracht, wo sie durch Mitglieder des Bundesrathes oder durch besondere von letzterem zu ernennende Kommissarien vertreten werden. Artikel 17. Dem Kaiser steht die Ausfertigung und Verkündigung der Reichsgesetze und die Ueberwachung der Ausführung derselben zu. Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers werden im Namen des Reichs erlassen und bedürfen zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt. Artikel 18. Der Kaiser ernennt die Reichsbeamten, läßt dieselben für das Reich vereidigen und verfügt erforderlichen Falls deren Entlassung. Den zu einem Reichsamte berufenen Beamten eines Bundesstaates stehen, sofern nicht vor ihrem Eintritt in den Reichsdienst im Wege der Reichsgesetzgebnng etwas Anderes bestimmt ist, dem Reiche gegenüber diejenigen Rechte zu, welche ihnen in ihrem Heimathslande aus ihrer dienst­ lichen Stellung zugestanden hatten. Artikel 19. Wenn Bundesglieder ihre verfassungsmäßigen Bundespflichten nicht erfüllen, können sie dazu im Wege der Exekution angehalten werden. Diese Exekution ist vom Bundesrath zu beschließen und vom Kaiser zu vollstrecken.

V. Neichstag. Artikel 20.

Der Reichstag geht aus allgemeinen und direkten Wahlen mit geheimer Ab­

stimmung hervor. Bis zu der gesetzlichen Regelung, welche im § 5 des Wahlgesetzes vom 31. Mai 1869 (Bun­ desgesetzblatt 1869, S. 145) vorbehalten ist, werden in Bayern 48, in Württemberg 17, in Baden 14, in Hessen, .südlich des Main 6 Abgeordnete gewählt, und beträgt demnach die Gesammtzahl der Abgeordneten 382. Artikel 21. Beamte bedürfen keines Urlaubs zum Eintritt in den Reichstag. Wenn ein Mitglied des Reichstages ein besoldetes Reichsamt oder in einem Bundesstaat ein besoldetes Staatsamt annimmt oder im Reichs- oder Staatsdienste in ein Amt eintritt, mit welchem ein höherer Rang oder ein höheres Gehalt verbunden ist, so verliert es Sitz und Stimme in dem Reichstag und kann seine Stelle in demselben nur durch neue Wahl wieder erlangen. Artikel 22. Die Verhandlungen des Reichstages sind öffentlich. Wahrheitsgetreue Berichte über Verhandlungen in den öffentlichen Sitzungen des Reichstages bleiben von jeder Verantwortlichkeit frei. Artikel 23. Der Reichstag hat das Recht, innerhalb der Kompetenz des Reichs Gesetze vorzuschlagen und an ihn gerichtete Petitionen dem Bundesrathe resp. Reichskanzler zu überweisen.

Die Verfassung des Deutschen Reiches.

Artikel 24.

129

Die Legislaturperiode des Reichstages dauert drei Zahre.

Zur Auflösung

des Reichstages während derselben ist ein Beschluß des Bundesrathes unter Zustimmung des Kaisers erforderlich.

Artikel 25.

Zm Falle der Auflösung des Reichstages müssen innerhalb eines Zeitraumes

von 60 Tagen nach derselben die Wähler und innerhalb eines Zeitraumes von 90 Tagen nach der Auflösung der Reichstag versammelt werden. Artikel 26.

Ohne Zustimmung des Reichstages darf die Vertagung desselben die Frist

von 30 Tagen nicht übersteigen und während derselben Session nicht wiederholt werden. Artikel 27. über.

Der Reichstag prüft die Legitimation seiner Mitglieder und entscheidet dar­

Er regelt seinen Geschäftsgang und seine Disziplin durch eine Geschäftsordnung und erwählt

seinen Präsidenten, seine Vizepräsidenten und Schriftführer.

Artikel 28.

Der Reichstag beschließt nach

absoluter Stimmenmehrheit.

Zur Gültigkeit

der Beschlußfassung ist die Anwesenheit der Mehrheit der gesetzlichen Anzahl der Mitglieder er­

forderlich. Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Bestimmungen dieser Ver­ fassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur derjenigen Mitglieder­

gezählt, die in Bundesstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist. Artikel 29.

Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des gesammten Volkes und

an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden. Artikel 30.

Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Ab­

stimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes gethanen Aeußerungen gerichtlich oder dis­

ziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden. Artikel 31.

Ohne Genehmigung des Reichstages

kann kein Mitglied desselben während

der Sitzungsperiode wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung zur Untersuchung gezogen oder

verhaftet werden, außer wenn es bei Ausübung der That oder im Laufe des nächstfolgenden Tages

ergriffen wird. Gleiche Genehmigung ist bei einer Verhaftung wegen Schulden erforderlich. Auf Verlangen des Reichstages wird jedes Strafverfahren gegen ein Mitglied desselben und

jede Untersuchungs- oder Civilhaft für die Dauer der Sitzungsperiode aufgehoben. Artikel 32.

Die Mitglieder des Reichstages dürfen als solche keine Besoldung oder Ent­

schädigung beziehen.

VI. Zoll- und Handrlsrvesen. Artikel 33.

licher Zollgrenze.

Deutschland bildet ein Zoll- und Handelsgebiet, umgeben von gemeinschaft­

Ausgeschlossen bleiben die wegen ihrer Lage zur Einschließung in die Zollgrenze

nicht geeigneten einzelnen Gebietstheile.

Alle Gegenstände, welche im freien Verkehr eines Bundesstaates befindlich sind, können in jeden anderen Bundesstaat eingeführt und dürfen in letzterem einer Abgabe nur insoweit unter­

worfen werden, als daselbst gleichartige inländische Erzeugnisse einer inneren Steuer unterliegen. Artikel 34.

Die Hansestädte Bremen und Hamburg mit einem dem Zweck entsprechenden

Bezirke ihres oder des umliegenden Gebietes bleiben als Freihäfen außerhalb der gemeinschaftlichen

Zollgrenze, bis sie ihren Einschluß in dieselbe beantragen. Artikel 35.

Das Reich ausschließlich hat die Gesetzgebung über das gesammte Zollwesen,

über die Besteuerung des im Bundesgebiete gewonnenen Salzes und Tabaks, bereiteten Brannt­ weins und Bieres und aus Rüben oder anderen inländischen Erzeugnissen dargestellten Zuckers und

Syrups, über den gegenseitigen Schutz der in den einzelnen Bundesstaaten erhobenen Verbrauchs­ abgaben gegen Hinterziehungen, sowie über die Maßregeln, welche in den Zollausschlüssen zur Siche­

rung der gemeinsamen Zollgrenze erforderlich sind.

Zn Bayern, Württemberg und Baden bleibt die Besteuerung des inländischen Branntweins

und Bieres der Landesgesetzgebung vorbehalten.

Die Bundesstaaten werden jedoch ihr Bestreben

darauf richten, eine Uebereinstimmung der Gesetzgebung über die Besteuerung

auch dieser Gegen­

stände herbeizuführen.

Artikel 36.

Die Erhebung und Verwaltung der Zölle und Verbrauchssteuern (Art. 35.)

bleibt jedem Bundesstaate, soweit derselbe sie bisher ausgeübt hat, innerhalb seines Gebietes über­ lassen. Reichstags-Repertorium. I.

9

Gesetzentwürfe.

130

Der Kaiser überwacht die Einhaltung des gesetzlichen Verfahrens durch Reichsbeamte, welche er den Zoll- oder Steuerämtern und den Direktivbehörden der

einzelnen Staaten, nach Verneh­

mung des Ausschusses des Bundesrathes für Zoll- und Steuerwesen, beiordnet. Die von diesen Beamten über Mängel bei der Ausführung der gemeinschaftlichen Gesetz­ gebung (Art. 35.) gemachten Anzeigen werden dem Bundesrathe zur Veschlußnahme vorgelegt. Artikel 37.

Bei.der Beschlußnahme über die zur Ausführung der gemeinschaftlichen Ge­

setzgebung (Art. 35.) dienenden Verwaltungsvorschriften und Entrichtungen giebt die Stimme des Präsidiums alsdann den Ausschlag, wenn sie sich für Aufrechthaltung der bestehenden Vorschrift oder Einrichtung ausspricht. Artikel 38. Der Ertrag der Zölle und der anderen, in Artikel 35. bezeichneten Abgaben,

letzterer soweit sie der Reichsgesetzgebung unterliegen, fließt in die Reichskasse. Dieser Ertrag besteht aus der gesummten von den Zöllen und den übrigen Abgaben aufge-

kommenen Einnahme nach Abzug:

1) der

auf Gesetzen oder allgemeinen Verwaltungsvorschristen

beruhenden Steuervergütungen und Ermäßigungen, 2) der Rückerstattungen für unrichtige Erhebun­

gen, 3) der Erhebungs- und Verwaltungskosten, und zwar:

a. bei den Zöllen der Kosten, welche

an den gegen das Ausland gelegenen Grenzen und in dem Grenzbezirke für den Schutz und die

b. bei der Salzsteuer der Kosten, welche zur Besoldung der

Erhebung der Zölle erforderlich sind,

mit Erhebung und Kontrolirung dieser Steuer auf den Salzwerken beauftragten Beamten aufge­ wendet werden,

c. bei der Rübenzuckersteuer und Tabacksteuer der Vergütung, welche nach den je­

weiligen Beschlüssen des Bundesrathes den einzelnen Bundesregierungen für die Kosten der Ver­ waltung dieser Steuern zu gewähren ist, d. bei den übrigen Steuern mit 15 Prozent der Gesammt-

einnahme. Die außerhalb der gemeinschaftlichen Zollgrenze liegenden Gebiete tragen zu den Ausgaben des Reichs durch Zahlung eines Aversums bei.

Bayern, Württemberg und Baden haben an dem in die Reichskasse fließenden Ertrage der Steuern von Branntwein und Bier und an dem diesem Ertrage entsprechenden Theile des vor­

stehend erwähnten Aversums keinen Theil.

Artikel 39.

Die von den Erhebungsbehörden der Bundesstaaten nach Ablauf eines jeden

Vierteljahres aufzustellenden Quartal-Extrakte und die nach dem Jahres- und Bücherschlusse aufzustellenden Finalabschlüsse über die im Laufe des Vierteljahres, beziehungsweise während des Rech­ nungsjahres fällig gewordenen Einnahmen an Zöllen und nach Artikel 38 zur Reichskasse fließen­ den Verbrauchsabgaben werden von den Direktivbehörden der Bundesstaaten, nach vorangegangener

Prüfung, in Hauptübersichten zusammengestellt, in welchen jede Abgabe gesondert nachzuweisen ist,

und es werden diese Uebersichten an den Ausschuß des Bundesrathes für das Rechnungswesen

eingesandt. Der letztere.stellt auf Grund dieser Uebersichten von drei zu drei Monaten den von der

Kasse jedes Bundesstaates der Reichskasse schuldigen Betrag vorläufig fest und setzt von dieser Fest­ stellung den Bundesrath und die Bundesstaaten in Kenntniß, legt auch alljährlich die schließliche

Feststellung jener Beträge mit seinen Bemerkungen dem Bundesrathe vor.

Der Bundesrath be­

schließt über diese Feststellung. Artikel 40.

Die Bestimmungen in dem Zollvereinigungs - Vertrage vom 8. Zuli 1867

bleiben in Kraft, soweit sie nicht durch die Vorschriften dieser Verfassung abgeändert sind und so

lange sie nicht auf dem im Artikel 7, beziehungsweise 78 bezeichneten Wege abgeändert werden.

VII. Artikel 41.

Eisenbahnwesen.

Eisenbahnen, welche im Interesse der Vertheidigung Deutschlands oder im

Interesse des gemeinsamen Verkehrs für nothwendig erachtet werden, können kraft eines Reichs­ gesetzes auch gegen den Widerspruch der Vundesglieder, deren Gebiet die Eisenbahnen durchschnei­

den, unbeschadet der Landeshoheitsrechte, für Rechnung des Reichs angelegt oder an Privatunter­ nehmer zur Ausführung konzessionirt und mit dem Expropriationsrechte ausgestattet werden. Zede bestehende Eisenbahnverwaltung ist verpflichtet, sich den Anschluß neu angelegter Eisen­

bahnen auf Kosten der letzteren gefallen zu lassen.

Die gesetzlichen Bestimmungen,

welche bestehenden Eisenbahn-Unternehmungen ein Wider­

spruchsrecht gegen die Anlegung von Parallel- oder Konkurrenzbahnen einräumen, werden, unbe-

131

Die Verfassung des Deutschen Reiches.

schadet bereits erworbener Rechte, für das ganze Reich hierdurch aufgehoben.

Ein solches Wider­

spruchsrecht kann auch in den künftig zu ertheilenden Konzessionen nicht weiter verliehen werden. Artikel 42.

Die Bundesregierungen verpflichten sich, die deutschen Eisenbahnen im In­

teresse des allgemeinen Verkehrs wie ein einheitliches Netz verwalten und zu diesem Behuf auch

die neu herzustellenden Bahnen nach einheitlichen Normen anlegen und ausrüsten zu lassen. Artikel 43.

Es sollen demgemäß in thunlichster Beschleunigung übereinstimmende Betriebs­

einrichtungen getroffen, insbesondere gleiche Bahnpolizei-Reglements eingeführt werden.

Das Reich

hat dafür Sorge zu tragen, daß die Eisenbahnverwaltungen die Bahnen jederzeit in einem die nöthige Sicherheit gewährenden baulichen Zustande erhalten und dieselben mit Betriebsmaterial so

ausrüsten, wie das Verkehrsbedürfniß es erheischt.

Artikel 44.

Die Eisenbahnverwaltungen sind verpflichtet, die für den durchgehenden Ver­

kehr und zur Herstellung ineinander greifender Fahrpläne nöthigen Personenzüge mit entsprechen­ der Fahrgeschwindigkeit, desgleichen die zur Bewältigung des Güterverkehrs nöthigen Güterzüge

einzuführen,

auch direkte Expeditionen im Personen- und Güterverkehr, imter Gestattung des

Ueberganges der Transportmittel von einer Bahn auf die andere, einzurichten. Artikel 45.

gegen die übliche Vergütung

Dem Reiche steht die Kontrole über das Tarifwesen zu.

Dasselbe wird

namentlich dahin wirken: 1) daß baldigst auf allen deutschen Eisenbahnen übereinstimmende Be­

triebsreglements eingeführt werden;

2) daß die möglichste Gleichmäßigkeit und Herabsetzung der

Tarife erzielt, insbesondere, daß bei größeren Entfernungen für den Transport von Kohlen, Koaks, Holz, Erzen, Steinen, Salz, Roheisen, Düngungsmitteln und ähnlichen Gegenständen ein dem Be­ dürfniß der Landwirthschaft und Industrie entsprechender ermäßigter Tarif, und zwar zunächst thunlichst der Ein-Pfennig-Tarif eingeführt werde.

Artikel 46.

Bei eintretenden Nothständen, insbesondere bei ungewöhnlicher Theuerung

der Lebensmittel, sind die Eisenbahnverwaltungen verpflichtet, für den Transport, namentlich von Getreide, Mehl, Hülsenfrüchten und Kartoffeln, zeitweise einen dem Bedürfniß entsprechenden, von

dem Kaiser auf Vorschlag des betreffenden Bundesraths-Ausschusses festzustellenden, niedrigen Spe­ zialtarif einzuführen, welcher jedoch nicht unter den niedrigsten auf der betreffenden Bahn für Roh­

produkte geltenden Satz herabgehen darf. Die vorstehend, sowie die in den Artikeln 42 bis 45 getroffenen Bestimmungen sind auf

Bayern nicht anwendbar.

Dem Reiche steht jedoch auch Bayern gegenüber das Recht zu, im Wege der Gesetzgebung einheitliche Normen für die Konstruktion und Ausrüstung der für die Landesvertheidigung wichtigen Eisenbahnen aufzustellen. Artikel 47.

Den Anforderungen der Behörden des Reichs in Betreff der Benutzung der

Eisenbahnen zum Zweck der Vertheidigung Deutschlands haben sämmtliche Eisenbahnverwaltungen

unweigerlich Folge zu leisten.

Insbesondere ist das Militair und alles Kriegsmaterial zu gleichen

ermäßigten Sätzen zu befördern.

VIII. post- und Telegraphenwesen. Artikel 48.

Das Postwesen und das Telegraphenwesen werden für das gesammte Gebiet

des Deutschen Reichs als einheitliche Staatsverkehrs-Anstalten eingerichtet und verwaltet. Die im Artikel 4 vorgesehene Gesetzgebung des Reichs in Post- und Telegraphen-Angelegen-

heiten erstreckt sich nicht auf diejenigen Gegenstände, deren Regelung nach den in der Norddeutschen Post- und Telegraphenverwaltung maßgebend

gewesenen Grundsätzen der reglementarischen Fest­

setzung oder administrativen Anordnung überlassen ist. Artikel 49. Die Einnahmen des Post- und Telegraphenwesens sind für das ganze Reich gemeinschaftlich. ' Die Ausgaben werden aus den gemeinschaftlichen Einnahmen bestritten. Die Überschüsse fließen in die Reichskasse (Abschnitt XII.).

Artikel 50.

an.

Dem Kaiser gehört die obere Leitung der Post- und Telegraphenverwaltung

Die von ihm bestellten Behörden haben die Pflicht und das Recht, dafür zu sorgen, daß Ein­

heit in der Organisation der Verwaltung und im Betriebe des Dienstes, sowie in der Qualifikation

der Beamten hergestellt und erhalten wird. Dem Kaiser steht der Erlaß der reglementarischen Festsetzungen und allgemeinen administra-

9*

Gesetzentwürfe.

132

tiven Anordnungen, sowie die ausschließliche Wahrnehmung der Beziehungen zu anderen Post- und

Telegraphenverwaltungen zu. Sämmtliche Beamte der Post- und Telegraphenverwaltung sind verpflichtet, den Kaiserlichen Anordnungen Folge zu leisten.

Diese Verpflichtung ist in den Diensteid aufzunehmen.

Die Anstellung der bei den Verwaltungsbehörden der Post und Telegraphie in den verschie­ denen Bezirken erforderlichen oberen Beamten (z. B. der Direktoren, Räthe, Ober-Znspektoren),

ferner die zur Anstellung der zur Wahrnehmung des Aufsichts- u. s. w. Dienstes in den einzelnen Bezirken als Organe der erwähnten Behörden fungirenden Post- und Telegraphenbeamten (z. B. Inspektoren, Kontroleure) geht für das ganze Gebiet des Deutschen Reichs vom Kaiser aus, welchem

diese Beamten den Diensteid leisten.

Den einzelnen Landesregierungen wird von den in Rede

stehenden Ernennungen, soweit dieselben ihre Gebiete betreffen, Behufs der landesherrlichen Be­ stätigung und Publikation rechtzeitig Mittheilung gemacht werden. Die anderen bei den Verwaltungsbehörden der Post und Telegraphie erforderlichen Beamten,

sowie alle für den lokalen und technischen Betrieb bestimmten, mithin bei den eigentlichen Betriebs­ stellen fungirenden Beamten u. s. w. werden von den betreffenden Landesregierungen angestellt.

Wo eine selbstständige Landpost- resp. Telegraphenverwaltung nicht besteht, entscheiden die Bestimmungen der besonderen Verträge.

Artikel 51.

Bei Ueberweisung des Ueberschuffes der Postverwaltung für allgemeine Reichs­

zwecke (Artikel 49) soll in Betracht der bisherigen Verschiedenheit der von den Landes-Postverwal­

tungen der einzelnen Gebiete erzielten Reineinnahmen, zum Zwecke einer entsprechenden Ausgleichung während der unten festgesetzten Uebergangszeit folgendes Verfahren beobachtet werden.

Aus den Postüberschüssen, welche in den einzelnen Postbezirken während der fünf Jahre 1861 bis 1865 aufgekommen sind, wird ein durchschnittlicher Jahresüberschuß berechnet, und der Antheil, welchen jeder einzelne Postbezirk an dem für das gesammte Gebiet des Reichs sich darnach

herausstellenden Postüberschusse gehabt hat, nach Prozenten festgestellt.

Rach Maßgabe des auf diese Weise festgestellten Verhältnisses werden den einzelnen Staaten während der auj ihren Eintritt in die Reichs-Postverwaltung folgenden acht Jahre die sich für sie

aus den im Reiche aufkommenden Postüberschüssen ergebenden Quoten auf ihre sonstigen Beiträge zu Reichszwecken zu Gute gerechnet. Rach Ablauf der acht Jahre hört jene Unterscheidung auf, und fließen die Postüberschusse

in ungeteilter Aufrechnung nach dem im Artikel 49 enthaltenen Grundsatz der Reichskasse zu. Von der während der vorgedachten acht Jahre für die Hansestädte sich herausstellenden

Quote des Postüberschuffes wird alljährlich vorweg die Hälfte dem Kaiser zur Disposition gestellt zu dem Zwecke, daraus zunächst die Kosten für die Herstellung normaler Posteinrichtungen in den

Hansestädten zu bestreiten. Artikel 52.

Die Bestimmungen in den vorstehenden Artikeln 48 bis 51 finden auf Bayern

und Württemberg keine Anwendung.

An ihrer Stelle gelten für beide Bundesstaaten folgende

Bestimmungen.

Dem Reiche ausschließlich steht die Gesetzgebung über die Vorrechte der Post und Telegraphie, über die rechtlichen Verhältnisse beider Anstalten zum Publikum, über die Portofreiheiten und das Posttaxwesen, jedoch ausschließlich der reglementarischen und Tarifbestimmungen für den internen

Verkehr innerhalb Bayerns, beziehungsweise Württembergs, sowie, unter gleicher Beschränkung,

die Feststellung der Gebühren für die telegraphische Korrespondenz zu. Ebenso steht dem Reiche die Regelung des Post- und Telegraphen-Verkeh'rs mit dem Aus­ lande zu, ausgenommen den eigenen unmittelbaren Verkehr Bayerns, beziehungsweise Württembergs mit seinen, dem Reiche nicht angehörenden Nachbarstaaten, wegen dessen Regelung es bei der Be­

stimmung im Artikel 49 des Postvertrages vom 23. November 1867 bewendet. An den zur Reichskasse fließenden Einnahmen des Post- und Telegraphenwesens haben

Bayern und Württemberg keinen Theil.

IX. Marine und Schifffahrt. Artikel 53.

Kaisers.

Die Kriegsmarine des Reichs ist eine einheitliche unter dem Oberbefehl des

Die Organisation und Zusammensetzung derselben liegt dem Kaiser ob, welcher die Offi­

ziere und Beamten der Marine ernennt, und für welchen dieselben nebst den Mannschaften eidlich

in Pflicht zu nehmen sind.

133

Die Verfassung des Deutschen Reiches.

Der Kieler Hafen und der Zadehafen sind Reichskriegshäfen. Der zur Gründung und Erhaltung der Kriegsflotte und der damit zusammenhängenden

Anstalten erforderliche Aufwand wird aus der Reichskasse bestritten. Die gesammte seemännische Bevölkerung des Reichs,

einschließlich des Maschinenpersonals

und der Schiffshandwerker, ist vom Dienste im Landheere befreit, dagegen zum Dienste in der

Kaiserlichen Marine verpflichtet.

Die Vertheilung des Ersatzbedarfes findet nach Maßgabe der vorhandenen seemännischen Bevölkerung statt, und die hiernach von jedem Staate gestellte Quote kommt auf die Gestellung

zum Landheere in Abrechnung. Artikel 54.

Die Kauffahrteischiffe aller Bundesstaaten bilden eine einheitliche Handels­

marine.

Das Reich hat das Verfahren zur Ermittelung der Ladungsfähigkeit der Seeschiffe zu be-

stimmen, die Ausstellung der Meßbriefe, sowie der Schiffscertifikate zu regeln und die Bedingungen

festzustellen, von welchen die Erlaubniß, zur Führung eines Seeschiffes abhängig ist. In den Seehäfen und

auf allen natürlichen und künstlichen Wasserstraßen der einzelnen

Bundesstaaten werden die Kauffahrteischiffe sämmtlicher Bundesstaaten gleichmäßig zugelaffen und behandelt.

Die Abgaben, welche in den Seehäfen von den Seeschiffen oder deren Ladungen für

die Benutzung der Schifffahrtsanstalten erhoben werden, dürfen die zur Unterhaltung und gewöhn­

lichen Herstellung dieser Anstalten erforderlichen Kosten nicht übersteigen.

Auf allen natürlichen Wasserstraßen dürfen Abgaben nur für die Benutzung besonderer An­

stalten, die zur Erleichterung des Verkehrs bestimmt sind, erhoben werden.

Diese Abgaben, sowie

die Abgaben für die Befahrung solcher künstlichen Wasserstraßen, welche Staatseigenthum sind, dürfen die zur Unterhaltung und gewöhnlichen Herstellung der Anstalten und Anlagen erforder­

lichen Kosten nicht übersteigen.

Auf die Flößerei finden diese Bestimmungen insoweit Anwendung,

als dieselbe auf schiffbaren Wasserstraßen betriebe:: wird.

Auf fremde Schiffe oder deren Ladungen andere oder höhere Abgaben zu legen, als von

den Schiffen der Bundesstaaten oder deren Ladungen zu entrichten sind, steht keinem Einzelstaate sondern nur dem Reiche zu.

Artikel 55.

Die Flagge der Kriegs- und Handelsmarine ist schwarz-weiß-roth.

Artikel 56.

Das gesammte Konsulatwesen des Deutschen Reichs steht unter der Aufsicht

X. Honsirlatwrsen. des Kaisers, welcher die Konsuln, nach Vernehmung des Ausschusses des Bundesrathes für Handel und Verkehr, anstellt.

In dem Amtsbezirk der Deutschen Konsuln dürfen neue Landkonsulate nicht errichtet werden. Die Deutschen Konsuln üben für die in ihrem Bezirk nicht vertretenen Bundesstaaten die Funk­

tionen eines Landeskonsuls aus.

Die sämmtlichen bestehenden Landeskonsulate werden aufgehoben,

sobald die Organisation der Deutschen Konsulate dergestalt vollendet ist, daß die Vertretung der

Einzelinteressen aller Bundesstaaten als durch die Deutschen Konsulate gesichert von dem Bundes­

rathe anerkannt wird. XI. NrichS-ÄrirgKnrrsrn. Artikel 57.

Zeder Deutsche ist wehrpflichtig und kann sich in Ausübung dieser Pflicht

nicht vertreten lassen.

Artikel 58.

Die Kosten und Lasten des gesammten Kriegswesens des Reichs sind von

allen Bundesstaatm und chren Angehörigen gleichmäßig zu tragen, so daß weder Bevorzugungen,

noch Prägravationen einzelner Staaten oder Klassen grundsätzlich zulässig sind.

Wo die gleiche

Vercheilung der Lasten sich in natura nicht herstellen läßt, ohne die öffentliche Wohlfahrt zu schä­ digen, ist die Ausgleichung nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit im Wege der Gesetzgebung fest­

zustellen.

Artikel 59.

Zeder wehrfähige Deutsche gehört sieben Jahre lang, in der Regel vom

vollendeten 20. bis zum beginnenden 28. Lebensjahre, dem stehenden Heere — und zwar die ersten

drei Jahre bei den Fahnen, die letzten vier Zahre in der Reserve — und die folgenden fünf Lebens­ jahre der Landwehr an.

In denjenigen Bundesstaaten, in denen bisher eine längere als zwölf­

jährige Gesammtdienstzeit gesetzlich war, findet die allmälige Herabsetzung der Verpflichtung nur in

dem Maße statt, als dies die Rücksicht auf die Kriegsbereitschaft des Reichsheeres zuläßt.

Gesetzentwürfe.

134

In Bezug auf die Auswanderung der Reservisten sollen lediglich diejenigen Bestimmungen maßgebend sein, welche für die Auswanderung der Landwehrmänner gelten. Artikel 60.

Die Friedens-Präsenzstärke des Deutschen Heeres wird bis zum 31. Dezember

1871 auf Ein Prozent der Bevölkerung von 1867 normirt, und wird pro rata derselben von den einzelnen Bundesstaaten gestellt.

Für die spätere Zeit wird die Friedens-Präsenzstärke des Heeres

im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt. Artikel 61.

Nach Publikation dieser Verfassung ist in dem ganzen Reiche die gesammte

Preußische Militairgesetzgebung ungesäumt einzuführen, sowohl die Gesetze selbst, Ausführung,

als die zu ihrer

Erläuterung oder Ergänzung erlassenen Reglements, Instruktionen und Reskripte,

namentlich also das Militair-Strafgesetzbuch vom 3. April 1845, die Militair-Strafgerichtsordnung

vom 3. April 1845, die Verordnung über die Ehrengerichte vom 20. Zuli 1843, die Bestimmungen über Aushebung, Dienstzeit, Servis- uud Verpflegungswesen, Einquartierung, Ersatz von Flur­

beschädigungen, Mobilmachung u. s. w. für Krieg und Frieden.

Die Militair-Kirchenordnung ist jedoch

ausgeschlossen. Nach gleichmäßiger-Durchführung der Kriegsorganisation des Deutschen Heeres wird

ein

umfassendes Reichs-Militairgesetz dem Reichstage und dem Bundesrathe zur verfassungsmäßigen Beschlußfassung vorgelegt.

Artikel 62.

Zur Bestreitung des Aufwandes für das gesammte Deutsche Heer und die

zu demselben gehörigen Einrichtungen sind bis zum 31. Dezember 1871 dem Kaiser jährlich soviel­ mal 225 Thaler, in Worten zweihundertfünfundzwanzig Thaler,

als die Kopfzahl der Friedens­

stärke des Heeres nach Artikel 60 beträgt, zur Verfügung stellen.

Vergl. Abschnitt XII.

Nach dem 31. Dezember 1871 müssen die Beiträge von den einzelnen Staaten des Bundes zur Neichskasse fortgezahlt werden.

Zur Berechnung derselben wird die im Artikel 60 interimistisch

festgestellte Friedens-Präsenzstärke so lange festgehalten, bis sie durch ein Reichsgesetz abgeändert ist.

Die Verausgabung dieser Summe für das gesammte Reichsheer und dessen Einrichtungen wird durch das Etatgesetz festgestellt. Bei der Feststellung des Militair-Ausgabe-Etats wird die auf Grundlage dieser Verfassung

gesetzlich feststehende Organisation des Reichsheeres zu Grunde gelegt. Artikel 63.

Die gesammte Landmacht des Reichs wird ein einheitliches Heer bilden,

welches in Krieg und Frieden unter dem Befehle des Kaisers steht. Die Regimenter re. führen fortlaufende Nummern durch das ganze Deutsche Heer.

Für

die Bekleidung sind die Grundfarben und der Schnitt der Königlich Preußischen Armee maßgebend. Dem betreffenden Kontingentsherrn bleibt es überlassen, die äußeren Abzeichen (Kokarden rc.) zu besümmen.

Der Kaiser hat die Pflicht und das Recht, dafür Sorge zu tragen, daß innerhalb des Deutschen Heeres alle Truppentheile vollzählich und kriegstüchtig vorhanden sind und daß Einheit

in der Organisation und Formation, in Bewaffnung und Kommando, in der Ausbildung der

Mannschaften, sowie in der Qualifikation der Offiziere hergestellt und erhalten wird.

Zu diesem

Behufe ist der Kaiser berechtigt, sich jederzeit durch Inspektionen von der Verfassung der einzelnen

Kontingente zu überzeugen und die Abstellung der dabei vorgefundenen Mängel anzuordnen. Der Kaiser besümmt den Präsenzstand, die Gliederung und Eintheilung der Kontingente des Reichsheeres, sowie die Organisation der Landwehr, und hat das Recht, innerhalb des Bundes­

gebietes die Garnisonen zu bestimmen, sowie die kriegsbereite Aufstellung eines jeden Theils des Reichsheeres anzuordnen.

Behufs Erhaltung der unentbehrlichen Einheit in der Administration, Verpflegung, Bewaff­ nung und Ausrüstung aller Truppentheile des Deutschen Heeres sind die bezüglichen künftig er­

gehenden Anordnungen für die Preußische Armee den Kommandeuren der übrigen Kontingente,

durch den Artikel 8 Nr. 1 bezeichneten Ausschuß für das Landheer und die Festungen, zur Nach­ achtung in geeigneter Weise mitzutheilen.

Artikel 64. Folge zu leisten.

Alle Deutsche Truppen sind verpflichtet, den Befehlen des Kaisers unbedingte

Diese Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen.

Der Höchstkommandirende eines Kontingents, sowie alle Offiziere, welche Truppen mehr als eines Kontingents befehligen, und alle Festungskommandanten werden von dem Kaiser ernannt. Die von demselben ernannten Offiziere leisten 2hm den Fahneneid. Bei Generalen und den General-

Die Verfassung des Deutschen Reiches.

135

stellungen versehenden Offizieren innerhalb des Kontingents ist die Ernennung von der jedesmaligen Zustimmung des Kaisers abhängig zu machen. Der Kaiser ist berechtigt, Behufs Versetzung mit oder ohne Beförderung für die von Zhm im Reichsdienste, sei es im Preußischen Heere oder in anderen Kontingenten, zu besetzenden Stellen aus den Offizieren aller Kontingente des Reichsheeres zu wählen. Artikel 65. Das Recht, Festungen innerhalb des Bundesgebietes anzulegen, steht den: Kaiser zu, welcher die Bewilligung der dazu erforderlichen Mittel, soweit das Ordinarium sie nicht gewährt, nach Abschnitt XII. beantragt. Artikel 66. Wo nicht besondere Konventionen ein Anderes bestimmen, ernennen die Bundesfürsten, beziehentlich die Senate, die Offiziere ihrer Kontingente, mit der Einschränkung des Artikels 64. Sie sind Chefs aller ihren Gebieten angehörenden Truppenteile und genießen die damit verbundenen Ehren. Sie haben namentlich das Recht der Znspizirung zu jeder Zeit und erhalten, außer den regelmäßigen Rapporten und Meldungen über vorkommende Veränderungen, Behufs der nöthigen landesherrlichen Publikation, rechtzeitige Mittheilung von den die betreffenden Truppentheile berührenden Avancements und Ernennungen. Auch steht ihnen das Recht zu, zu polizeilichen Zwecken nicht blos ihre eigenen Truppen zu verwenden, sondern auch alle anderen Truppentheile des Reichsheeres, welche in ihren Ländergebieten dislocirt sind, zu requiriren. Artikel 67. Ersparnisse an dem Militair-Etat fallen unter keinen Umständen einer ein­ zelnen Regierung, sondern jederzeit der Reichskasse zu. Artikel 68. Der Kaiser kann, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiete be­ droht ist, einen jeden Theil desselben in Kriegszustand erklären. Bis zum Erlaß eines die Voraus­ setzungen, die Form der Verkündigung und die Wirkungen einer solchen Erklärung regelnden Reichs­ gesetzes gelten dafür die Vorschriften des Preußischen Gesetzes vom 4. Juni 1851 (Gesetz-Samml. für 1851 S. 451 ff.). Schlußbestimmung zum XI. Abschnitt. Die in diesem Abschnitt enthaltenen Vorschriften kommen in Bayern nach näherer Bestimmung des Bündniß - Vertrages vom 23. November 1870 (Bundesgesetzblatt 1871, S. 9) unter HI. § 5, in Württemberg nach näherer Bestimmung der Militair - Konvention vom 21./25. November 1870 (Bundesgesetzblatt 1870, S. 658) zur Anwendung..

XII. Nrichssinanzen. Artikel 69. Alle Einnahmen und Ausgaben des Reichs müssen für jedes Zahr veran­ schlagt und auf den Reichshaushalts-Etat gebracht werden. Letzterer wird vor Beginn des Etats­ jahres nach folgenden Grundsätzen durch ein Gesetz festgestellt. Artikel 70. Zur Bestreitung aller gemeinschaftlichen Ausgaben dienen zunächst die etwaigen Ueberschüsse der Vorjahre, sowie die aus den Zöllen, dm gemeinschaftlichen Verbrauchssteuem und aus dem Post- und Telegraphenwesm fließenden gemeinschaftlichen Einnahmen. Insoweit dieselbm durch diese Einnahmen nicht gedeckt werden, sind sie, so lange Reichssteuern nicht eingeführt sind, durch Beiträge der einzelnen Bundesstaatm nach Maßgabe ihrer Bevölkerung aufzubringen, welche bis zur Höhe des budgetmäßigen Betrages durch den Reichskanzler ausgeschrieben werden. Artikel 71. Die gemeinschaftlichen Ausgaben werden in der Regel für ein Zahr bewilligt, können jedoch in besonderen Fällen auch für eine längere Dauer bewilligt werden. Während der im Artikel 60 normirten Uebergangszeit ist der nach Titeln geordnete Etat über die Ausgaben für das Heer dem Bundesrathe und dem Reichstage nur zur Kenntnißnahme und zur Erinnerung vorzulegeu. Artikel 72. Ueber die Verwendung aller Einnahmen des Reichs ist durch den Reichs­ kanzler dem Bundesrathe und dem Reichstage zur Entlastung jährlich Rechnung zu legen. Artikel 73. Zn Fällen eines außerordentlichen Bedürfnisses kann im Wege der Reichs­ gesetzgebung die Aufnahme einer Anleihe, sowie die Uebernahme einer Garantie zu Lasten des Reichs erfolgen. Schlußbestimmung zum XII. Abschnitt. Auf die Ausgaben für das Bayerische Heer finden die Artikel 69 und 71 nur nach Maß­ gabe der, in der Schlußbestimmung zum XI. Abschnitt erwähnten Bestimmungen des Vertrages

Gesetzentwürfe.

136

vom 23. November 1870, und der Artikel 72 nur in soweit Anwendung, als dem Bundesrathe und dem Reichstage die Ueberweisung der für das Bayerische Heer erforderlichen Summe an Bayern nachzuweisen ist.

XIII. Schlichtung von Streitigkeiten un- Strafbestimmungen. Artikel 74.

Jedes Unternehmen gegen die Existenz, die Integrität, die Sicherheit oder die

Verfassung des Deutschen Reichs, endlich die Beleidigung des Bundesrathes, des Reichstages, eines

Mitgliedes des Bundesrathes oder des Reichstages, einer Behörde oder eines öffentlichen Beamten

des Reichs, während dieselben in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind oder in Beziehung auf ihren Beruf, durch Wort, Schrift, Druck, Zeichen, bildliche oder andere Darstellung, werden in

den einzelnen Bundesstaaten beurtheilt und bestraft nach Maßgabe der in den letzteren bestehenden oder künftig in Wirksamkeit tretenden Gesetze, nach welchen eine gleiche gegen den einzelnen Bundes­ staat, seine Verfassung, seine Kammern oder Stände, seine Kammer- oder Ständemitglieder, seine Behörden und Beamten begangene Handlung zu richten wäre. Artikel 75.

Für diejenigen in Artikel 74 bezeichneten Unternehmungen gegen das Deutsche

Reich, welche, wenn gegen einen der einzelnen Bundesstaaten gerichtet, als Hochverrath oder Landesverrath zu qualifiziren wären, ist das gemeinschaftliche Ober-Appellationsgericht der drei freien und

Hansestädte in Lübeck die zuständige Spruchbehörde in erster und letzter Instanz.

Die näheren Bestimmungen über die Zuständigkeit und das Verfahren des Ober-Appellations­ gerichts erfolgen im Wege der Reichsgesetzgebung.

Bis zum Erlasse eines Reichsgesetzes bewendet

es bei der seitherigen Zuständigkeit der Gerichte in den einzelnen Bundesstaatm und den auf das Verfahren dieser Gerichte sich beziehenden Bestimmungen.

Artikel 76.

Streitigkeiten zwischen verschiedenen Bundesstaaten, sofern dieselben nicht

privatrechtlicher Natur und daher von den kompetenten Gerichtsbehörden zu entscheiden sind, werden

auf Anrufen des einen Theils von dem Bundesrathe erledigt.

Verfassungsstreitigkeiten in solchen Bundesstaaten, in deren Verfassung nicht eine Behörde zur Entscheidung solcher Streitigkeiten bestimmt ist,

hat auf Anrufen eines Theiles der Bundes­

rath gütlich auszugleichen oder, wenn das nicht gelingt, im Wege der Reichsgesetzgebung zur Er­

ledigung zu bringen. Artikel 77.

Wenn in einem Bundesstaate der Fall einer Justizverweigerung eintritt, und

auf gesetzlichen Wegen ausreichende Hülfe nicht erlangt werden kann, so liegt dem Bundesrathe ob, erwiesene, nach der Verfassung und den bestehenden Gesetzen des betreffenden Bundesstaates zu be­

urtheilende Beschwerden über verweigerte oder gehemmte Rechtspflege anzunehmen und darauf die gerichtliche Hülfe bei der Bundesregierung, die zu der Beschwerde Anlaß gegeben hat, zu bewirken.

XIV. Allgemeine Arstimmung. Artikel 78.

Veränderungen der Verfassung erfolgen im Wege der Gesetzgebung.

Sie gelten

als abgelehnt, wenn sie im Bundesrathe 14 Stimmen gegen sich haben. Diejenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundes­

staaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit festgestellt sind, können nur mit Zustimmung des

berechtigten Bundesstaates abgeändert werden.

Motive. Der Gang der Verhandlungen, welche zur Gründung des Deutschen Reichs geführt haben,

hat zur Folge gehabt, daß das Verfassungsrecht des letzteren in drei verschiedenen Urkunden ent­ halten ist, in der zwischen dem Norddeutschen Bunde, Baden und Hessen am 15. November v. I. vereinbarten Verfassung, in dem Vertrage zwischen dem Norddeutschen Bunde und Bayern vom

23. November v. I. und in dem Vertrage zwischen dem Norddeutschen Bunde, Baden und Hessen einerseits und Württemberg andrerseits vom 25. November v. I.

Diese Zerstreuung der Grundlagen, auf welchen der politische Zustand Deutschlands beruhet, ist ein Uebelstand, welcher dadurch noch fühlbarer wird, daß der Vertrag vom 23. November v. I.

mehrere Bestimmungen der am 15. desselben Monats vereinbarten Verfassung nur ungenau wieder­ geben konnte und daß die dadurch herbeigeführte Inkongruenz wichtiger Vorschriften, ungeachtet der

vorsorglichen Verabredung unter Nr. XV. des Schlußprotokolls vom 23. November v. I., zu Miß-

Debatte über die Verfassung des Deutschen Reiches.

137

Verständnissen führen kann. Die Zusammenfassung der in diesen vier Urkunden enthaltenen Ver­ fassungsbestimmungen in einem einzigen Dokument ist daher ein nicht zu verkennendes Bedürfniß. Es kommt hinzu, daß diese drei Urkunden bereits unterzeichnet waren, als die Deutschen Fürsten und freien Städte, auf die Initiative Sr. Majestät des Königs von Bayern, sich zu dem Wunsche vereinigten, daß der erweiterte Bund den Namen des Deutschen Reichs wieder aufnehmen und Se. Majestät der König von Preußen die Präsidialrechte7 unter dem Namen des Deutschen Kaisers ausüben möge. Diese Lage gestattete es nicht, die einzelnen Bestimmungen der Verfassung entsprechend zu ändern; man muhte sich begnügen, die Namen: Kaiser und Reich an den beiden prägnanten Stellen der Verfassung — im Artikel 11 und im Eingänge — einzuführen. Dem Text der Verfassung fehlt daher die Konsequenz der Terminologie und die Kongruenz nnt der seit ihrer Unterzeichnung eingetretenen Entwickelung. Die vorliegende Verfassung des Deutschen Reiches hat den Zweck, diesen formellen Miß­ ständen abzuhelfen. Materielle Aenderungen des bestehenden Verfassungsrechts beabsichtigt sie nicht. Sie enthält nur eine Besttmmung, welche in den im Eingänge erwähnten Dokumenten nicht vor­ kommt, nämlich die Besttmmung im Artikel 8, nach welcher der durch den Vertrag vom 23. No­ vember v. I. Nr. II. § 6 geschaffene Ausschuß des Bundesrathes für die auswärtigen Angelegen­ heiten, außer aus den Bevollmächtigten von Bayern, Sachsen und Württemberg, aus zwei vom Bundesrathe alljährlich zu wählenden Bevollmächtigten anderer Bundesstaaten bestehen soll. Diese Bestimmung ist auf den Wunsch mehrerer Bundesstaaten, unter voller Zusttmmung der beiden Kon­ trahenten des Vertrages vom 23. November v. Z. getroffen worden. Nicht ausgenommen sind die, auf die Einführung Norddeutscher Gesetze als Bundesgesetze bezüglichen transitorischen Besttmmungen, welche der Arttkel 80 der mit Baden und Hessen ver­ einbarten Verfassung, der Vertrag vom 23. November v. I. unter III. § 8 und der Artikel 2 Nr. 6 des Vertrages vom 25. November v. Z. enthält. Diese Besttmmungen gehören nicht zum Ver­ fassungsrecht des' Reichs und finden daher ihre richttge Stelle in dem Gesetze, durch welches die Verfassung verkündet wird. Dieses Gesetz ist zugleich der Ort, um die rechtlichen Wirkungen ein für allemal festzustellen, welche mit der Einführung eines Norddeutschen Gesetzes als Reichsgesetz verbunden sind. Auch die Verabredungen, welche in den Schluhprotokollen vom 15., 23. und 25. November v. Z. und unter Nr. 6 des Vertrages vom 23. November v. I. getroffen sind, haben wegen ihres theils vorübergehenden, theils erläuternden, theils administrativen Charakters keine Aufnahme in die Verfassung gefunden. Ihre fortdauernde Geltung ist durch § 3 des Einführungsgesetzes außer Zweifel gestellt.

Präsident des Bundeskanzler-Amts Staatsminister Delbrück: M. H., zur Ein­ leitung der zu Ihrer Berathung stehenden Vorlage kann ich mich auf wenige Worte beschränken. Der materielle Inhalt der Vorlage ist Ihnen Allen aus früheren ein­ gehenden Berathungen bekannt, er hat den Gegenstand eingehender Erörterungen im Reichstage des norddeutschen Bundes und in den Landtagen der süddeutschen Staaten gebildet. Das, was Ihnen jetzt gebracht wird, nimmt nichts weiter in Anspruch als Bestimmungen in eine Redaktion zusammenzufassen, welche in einer Anzahl einzelner Dokumente zerstreut waren, und deren Uebersichtlichkeit durch die Zerstreutheit verloren ging. Er nimmt ferner in Anspruch die Durchführung der nur in zwei Stellen der früher genehmigten Bundesverfassung eingeführten Begriffe von Kaiser und Reich. Eine einzige Bestimmung, welche sich in dieser Vorlage findet, ist, wenigstens im norddeutschen Reichstage, noch nicht zur Erörterung gelangt; es ist das diejenige, nach welcher der durch den Vertrag mit Bayern vom 23. November vorigen Jahres geschaffene Ausschuß des Bundesraths für auswärtige Angelegenheiten um zwei von dem Bundesrath zu wählende Mitglieder verstärkt werden soll. Im Schooße des nord­ deutschen Reichstages selbst war auf eine solche Verstärkung hingewiesen, man hat sich darüber in Berlin noch im Laufe des vorigen Jahres verständigt; die Verständigung erfolgte zu spät, um noch dem dem norddeutschen Reichstage vorgelegten Dokumente einverleibt zu werden.

138

Gesetzentwürfe.

Abg. Schulze: M. H., wir können über die Bedeutung dieser Vorlage von keiner Seite in Zweifel sein. Gewiß that diese Redaktion in hohem Grade noth, denn es handelte sich ja darum, in dieser Vorlage den Rechtsboden, von dem allein wir bei der ganzen weiteren Entwickelung der Verhältnisse in unserem Vaterlande ausgehen können, klar festzustellen. Eine Bemängelung in dieser Hinsicht möchte wohl von keiner Seite erfolgen. Die Redaktion stützt sich auf Beschlüsse von denjenigen Organen, die zu diesen Beschlüssen befugt waren, und wenn eine einzige Aenderung, die Verhältnisse innerhalb des Bundesraths in Bezug auf den Ausschuß für auswärtige Angelegen­ heiten betreffend, hinzugefügt ist, so wird dies kaum, wie ich glaube, in den Reihen dieses Hauses zu einer Debatte eine Veranlassung geben. Aber, m. H., einen Ge­ sichtspunkt dabei haben meine Freunde und ich für nothwendig gehalten zur Kennzeich­ nung ihrer Stellung bei dem ganzen Werk, welches uns hier zusammenführt, zu be­ tonen. Gerade diese kleine, vielleicht nach einer Hinsicht bedeutungsvolle Aenderung — ein Punkt, über den ich mich hier nicht auszusprechen habe — ermahnt uns doch, daß wir auch innerhalb des Reichstages daran zu denken haben werden, das, was in den Rechten und in der Stellung des Reichstages selbst zu den übrigen Gewalten noch mangelhaft sein mag — und was dies ist, haben wir ja Gelegenheit gehabt in den verschiedenen parlamentarischen Körperschaften, die sich mit der Frage beschäftigt haben, hinlänglich auszusprechen — denn doch auch zur Sprache zu bringen. Wenn dazu hier bei einer mehr redaktionellen Aufgabe vielleicht weniger der Platz zu sein scheint, so meinten wir, daß in dem Augenblick, wo das erste deutsche Parlament Zu­ sammentritts in dem Augenblick, wo es diese erste wichtige Vorlage zu seiner Kenntniß nimmt und darüber von seiner Stellung aus mit zu befinden haben wird, wir wenig­ stens auszusprechen haben: wenn wir hier zur Redaktion des entschieden bestehenden Rechtes nichts zu sagen haben, wenn wir dieses bestehende Verfassungsrecht absolut als den Punkt anerkennen, von dem wir bei unseren ganzen Arbeiten ausgehen müssen, so geben wir damit die Stellung nicht auf, so behalten wir uns vor, in dem weiteren Verlauf der Arbeiten des Hauses auch unsererseits mit denjenigen Anträgen hervorzutreten, die wir für nöthig halten, um die Verfassung nach der Richtung hin, die in der Thronrede Sr. Majestät des Kaisers so treffend ausgedrückt ist, nach der freiheit­ lichen Richtung hin, zu vervollständigen. Präsident: Es nimmt Niemand weiter in der Generaldebatte das Wort; ich schließe sie. Zn der zweiten Berathung vom 1. April bemerkt der Präsident: Zu der Ueberschrist „Verfassung des deutschen Reiches" ist keinerlei Erinnerung erhoben. Auf den Eingang, welcher mit den Worten anfängt „Se. Majestät der König von Preußen" und mit den Worten schließt „nachstehende Verfassung haben", bezieht fich der Antrag des Abg. Duncker, der das Wort „Bundesgebiet" im Auge hat und statt dessen hier, wie an anderen Stellen der Verfassung, „Reichsgebiet" gesetzt wissen will. Zch gebe dem Abg. Duncker das Wort zur Entwickelung des Antrags. Abg. Duncker: M. H., ich will an dieser Stelle, da ich zufällig der erste Redner bin und der erste Antragsteller, der eine Redaktionsänderung vorschlägt, aller­ dings mein Bedauern aussprechen, daß diese Redaktion im Plenum vorgenommen wird. Zch habe es nicht versucht, einen dem entgegentretenden Antrag zu stellen, da ich die Abneigung des Hauses kenne, auf Kommissionsberathungen einzugehen; ich glaube aber kaum, daß wir zu einem allseitig befriedigenden Resultate in dem Plenum kommen werden, daß wir wirklich einen korrekt redigirten Text herstellen werden, denn dazu ist in der That eine so große Versammlung, wie das mir jeder Sachverständige wohl bestätigen wird, kaum in der Lage, und jeder Verbesserungsantrag wird daher auch an sich gewiß manche Unvollkommenheiten bieten. — Was nun den von mir ge­ stellten betrifft, so rechtfertigt er sich, glaube ich, durch die einfach logische Schlußfolge. Es ist in der Einleitung gesagt, daß der geschlossene Bund den Namen deutsches Reich führen soll, und ich meine also, daß an all den Stellen, wo fernerhin in der Verfassung vom Bunde die Rede ist, in konsequenter Weise dieser Ausdruck Bund

Debatte über die Verfassung des Deutschen Reiches.

139

durch den Ausdruck Reich ersetzt werden muß. Wenn wir ein Reich schaffen wollen, so muß natürlich das Ländergebiet, welches dieses Reich umfaßt, als das Reichsgebiet bezeichnet werden. Deshalb ist der Zweck meines Antrages, gleich hier an der ersten Stelle statt Bundesgebiet zu setzen Reichsgebiet und dann konsequent die Verfassung in dieser Hinsicht durchzukorrigiren. —- Es würde mir interessant sein, viel­ leicht von Seiten des Bundesraths-Tisches zu erfahren, welche Gründe denn etwa maß­ gebend gewesen sind, den Ausdruck Bundesgebiet beizubehalten, sowie die ähnlichen entsprechenden Ausdrücke, die in der Verfassung sich finden, wie Bundesrath und andere. Abg. Wiggers: M. H., der Passus in dem Eingang des Gesetzes, wonach das gültige Recht innerhalb des Bundesgebietes geschützt werden soll, stimmt ganz genau mit den betreffenden Worten der Verfassung des norddeutschen Bundes überein. Diese Worte haben aber innerhalb des Bundesraths und innerhalb des Reichstags eine ver­ schiedene Auslegung gefunden. Es war nämlich im Jahre 1869, daß Petitionen aus Mecklenburg an den Reichstag eingingen, und zwar dahin, den Bundesrath zu veran­ lassen, daß das Verfassungsrecht in Mecklenburg-Schwerin und zunächst die Kompetenz des sogenannten Freienwalder Schiedsspruchs zur Fällung des Urtheilsspruchs einer Prüfung unterzogen werde, und demgemäß weiter zu prozediren. Diese Petitionen wurden auf den Vorschlag der damaligen Petitionskommission von dem Reichstage mit großer Majorität dem Bundesrath zur Prüfung überwiesen, und hat ersterer damit anerkannt, daß, wenngleich das gültige Verfafsungsrecht gewährleistet ist, es dennoch möglich ist, auf Grund des Artikels 76 der Bundesverfassung die Rechtsbeständigkeit einer Verfassung anzufechten. Im Widerspruch damit hat der Bundesrath eine andere Entscheidung gefällt und die Petenten sofort abgewiesen, und zwar mit der wörtlich lautenden Erwägung: „daß die in Folge des schiedsrichterlichen Urtheils vom 11. Sep­ tember 1850 wiederhergestellte landständische Verfassung zur Zeit der Einrichtung des norddeutschen Bundes in anerkannter Wirksamkeit bestand, und daß deshalb das in dieser Verfassung sich gründende Recht als das gültige Verfassungsrecht im Sinne des Eingangs der Bundesverfassung angesehen werden muß." M. H., auch ich kann mit dieser Auslegung mich nicht einverstanden erklären und sehe mich daher veranlaßt, gegen diese Auffassung Verwahrung einzulegen, damit nicht aus einer stillschweigenden Annahme dieser Worte die Richtigkeit der Interpreta­ tion des Bundesraths gefolgert werde. — Es ist hier nicht die Stelle und jetzt nicht der Augenblick, auf die mecklenburgische Sache weiter einzugehen. Ich will nur kurz bemerken, daß diese Verwahrung nichts weiter bezweckt, als zu sagen, die Worte im Eingang sind bestritten, und den status quo aufrecht zu erhalten. Diese Verwahrung will ich nur mit zwei Worten motiviren. Das „gültige" Recht ist offenbar gesagt im Gegensatz zu dem „faktisch bestehen­ den" Recht. Die rechtlich bestehenden Verfassungen und Gesetze sollen im Gegensatz zu den faktisch bestehenden geschützt werden. Wenn zwischen verschiedenen Staaten Verträge abgeschlossen werden, kann die Gültigkeit dieser Verträge dadurch nicht in Frage gestellt werden, daß gesagt wird, die Staatsgewalten, die diesen Vertrag ab­ geschlossen haben, haben nicht zu Recht bestanden, und umgekehrt wird durch den Ab­ schluß eines solchen Vertrages nicht anerkannt, daß die faktisch bestehenden Staats­ gewalten rechtlich bestehende sind. Das ist meiner Ansicht nach ein anerkannter staats­ rechtlicher Satz. Eine entgegengesetzte Auslegung würde zu den widersinnigsten Kon­ sequenzen führen. Es würde dann z. B. mit Grund vielleicht gesagt werden können, oder wenigstens würden große Bedenken erhoben werden können, ob die Friedenspräli­ minarien mit Frankreich gültig abgeschlossen sind. M. H., bei Verträgen hat man nicht zu forschen, ob die Staatsgewalten rechtlich bestehen oder nicht, sondern mit den faktisch bestehenden Staatsgewalten schließt man rechtsgültig einen Vertrag ab. Zch sehe mich zu dieser Verwahrung um so mehr veranlaßt, als die mecklenbur­ gische Bevölkerung durch die Wahlen hinreichend ihren Willen dokumentirt und aus­ schließlich solche Abgeordnete gewählt hat, welche sich ausdrücklich verpflichtet haben, im Reichstage nachKräften für Wiedereinführung einer konstitutionellen Verfassung in Mecklenburg zu streben.

140

Gesetzentwürfe.

Zch beabsichtige übrigens mit dieser Verwahrung nicht zu sagen, daß gerade auf diesem Wege, auf Grund des Artikels 76, die Verfassungsfrage in Mecklenburg wie­ derum in Anregung gebracht werde. Ich hoffe auch im dringenden Interesse des deut­ schen Reiches und der mecklenburgischen Bevölkerung, daß der Bundesrath und der Reichstag sich über einen Weg verständigen werden, der zum Ziele führt und Mecklen­ burg aus einer Lage befreit, welche, wie der Herr Abg. Miquel in der Sitzung vom 7. December vorigen Zahres richtig bemerkte, den heutigen Kulturzuständen in Deutsch­ land nicht entspricht. Bundeskanzler Fürst von Bismarck: Zch erlaube mir nur, der vielleicht be­ stehenden Voraussetzung entgegenzutreten, als ob die Wahl zwischen den Worten „Reich" und „Bund" in der Ihnen vorgelegten Redaktion eine willkürliche oder zufällige ge­ wesen wäre. Daß beide Ausdrücke nach wie vor zulässig sind, geht meines Erachtens aus dem Eingänge der Verfassung hervor, aus den Worten: „Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen"; — es ist also eine Fortdauer des Bundesverhält­ nisses als Grundlage gedacht. Die Fragen haben meines Erachtens eine wesentliche, prinzipielle Bedeutung nicht, sondern nur eine sprachliche, und uns hat das Bestreben geleitet, für den rechtlichen Begriff den angemessenen sprachlichen Ausdruck zu finden. Wir sind davon ausgegangen, den Ausdruck „Reich" nur da zu gebrauchen, wo von einem Inbegriff der staatlichen und hoheitlichen Attribute die Rede ist, welche auf die Gesammtheit übertragen worden sind; dem Ausdruck „Bund" dort seine Anwendung zu belassen, wo mehr die Rechte der einzelnen Staaten, der Bundesglieder, in den Vordergrund treten. Bei den Worten „Reichsgebiet" und „Bundesgebiet" gebe ich gern zu, daß der Unterschied sich nicht nothwendig und scharf fühlbar macht. Es kommt aber auf den sprachlichen Begriff an, den man mit „Reich" und „Gebiet" verbindet. Wir haben geglaubt, daß auch da, weil die Souveränität, die Landeshoheit, die Territorialhoheit bei den einzelnen Staaten verblieben ist, bei Bezeichnung des Gesammtgebietes der Begriff des Bundesverhältnisses in den Vordergrund zu stellen sei. Schärfer stellt es sich meines Erachtens heraus bei dem Ausdruck „Bundesrath" oder „Reichsrath". Das Wort „Reichsrath" nach seinem bisherigen Gebrauch in Bayern und in Oesterreich führt leicht auf ein Mißverständniß bezüglich des Begriffs und der Attributionen; ein Miß­ verständniß, was durch Nachlesung der Verfassung leicht aufgeklärt werden kann; in­ dessen es fragt sich, ob es ein sprachlich berechtigter Ausdruck für die Sache sei. Die Reichsräthe in Bayern und in Oesterreich sind bekanntlich parlamentarische Körper. Zch halte auch dort die sprachliche Anwendbarkeit des Wortes nicht für ganz unbestreit­ bar. Zch würde unter dem Reichsrath eher nach Analogie des Wortes „Staatsrath" die Behörde verstehen, die in einem Reich diejenigen Funktionen ausübt, welche in einem einzelnen Staate der Staatsrath ausübt. Der Bundesrath ist nicht eigentlich eine Reichsbehörde, er vertritt das Reich als solches nicht; das Reich wird nach außen durch Seine Majestät den Kaiser vertreten, das gesammte Volk wird durch den Reichs­ tag vertreten, der Bundesrath ist nach unserer Auffassung recht eigentlich eine Körper­ schaft, in welcher die einzelnen Staaten zur Vertretung gelangen, die ich nicht als centrifugales Element, aber als die Vertretung berechtigter Sonderinteressen bezeichnen möchte, und wir halten diesem Berufe des Bundesrathes gerade das Wort „Bundes­ rath" für entsprechend, während wir befürchtet haben, durch das Wort „Reichsrath" die staatsrechtliche Stellung dieser Korporation zu verdunkeln und nicht mit dem rich­ tigen Namen zu bezeichnen; und ohne dieser Frage eine sehr wesentliche prinzipielle Bedeutung beizulegen, würde es den verbündeten Regierungen doch willkommen sein, wenn der Reichstag die entgegenstehenden Bedenken überwinden und sich die Auffassung der Regierung aneignen wollte. Abg. Lasker: M. H., meine Worte sollen nicht eine Kritik sein gegen das, was der Abg. Wiggers gesagt hat. Er sicher weiß am Besten, welche Erklärungen ihm beim Eingänge der Verfassung nothwendig waren; aber seinem Beispiele folgend, muß ich für mich die Erklärung abgeben, die vermuthlich auf vielen Seiten des Hauses ge^

Debatte über die Verfassung des Deutschen Reiches.

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theilt wird, daß es unsere Absicht nicht ist, gegenwärtig mit etwas Anderem uns zu beschäftigen, als was strikte Redaktion der Verfassung ist (S. r.!), und daß wir am Eingänge dieser Berathung Alle voraussetzen, daß durch diese Redaktion in keinem Theile das bereits abgeschlossene, bestehende Recht verändert werden kann. Selbst wenn ein Irrthum in diese Redaktion sich mitunter einschleichen sollte, selbst wenn irgend ein Satz vielleicht durch diese Redaktion nicht die passende Stelle bekommt, so wird man doch in Zukunft bei jedem durch die Worte nicht ausgetragenen Zweifel das Recht haben, zurückzugehen auf die Verträge, die wir genehmigt haben, als auf ein gewisses Aufklärungsmaterial; während aus dem Umstande, daß wir die Redaktion so oder anders heute gefaßt haben, nicht ohne Weiteres hervorgehen wird, daß wir das be­ stehende Recht haben ändern wollen. M. H., ich habe noch einen anderen Grund, weshalb ich für mich von jeder materiellen Behandlung der Verfassung an diesem Tage absehen möchte, und aus dem ich gewünscht hätte, daß von anderen Seiten Gleiches geschehen wäre, weshalb ich an einer materiellen Debatte über den Inhalt der Verfassung in keiner Weise Antheil zu nehmen gedenke. Ich meine, daß jede Nation einmal eines Ruhepunktes bedarf, in dem sie sich freut der Dinge, die sie vollendet hat (S. w.), besonders Deutschland, das so lange gerungen hat, um überhaupt eine Verfassung zu erhalten, wenn auch eine Verfassung mit den Mängeln, wie sie jedem menschlichen Werk eigenthümlich sind, weit mehr noch dem Verfassungswerk der Nation, welche mit so vielen geschichtlichen Hemm­ nissen und Hindernissen hat kämpfen müssen. Daß diese Hindernisse nicht ohne Mängel und nicht auf ein Mal vollkommen werden beseitigt werden, haben wir Alle gewußt. Wäh­ rend wir gegenwärtig an die Frucht der großen Thaten der Nation, an die Frucht der Staatsweisheit, welche gewußt hat, diese Thaten zu Gunsten der Nation zu verwerthen, den Maßstab anlegen, da geziemt es der Nation, einige wenige Tage wenigstens sich zu erholen, den Streit ruhen zu lassen und sich dessen zu freuen, was sie kraft ihres inneren Geistes trotz der äußeren Hindernisse zu erreichen gewußt hat, durch Festigkeit und Bescheidenheit. Dies, m. H., ist mein Standpunkt, weshalb ich wenigstens für meine Person mich enthalten werde, in jede materielle Debatte mich zu mischen, und irre ich nicht, so darf ich auch wohl im Namen der politischen Freunde sagen, daß dies es ist, was sie bewegt, an keiner Stelle und an keinem Orte darauf einzugehen, irgend eine mate­ rielle Aenderung in der Verfassung vorzunehmen, welche zu einem Streite in diesem Hause Veranlassung geben könnte. (L. Br.) Bundeskanzler Fürst von Bismarck: Ich kann mich der soeben geäußerten An­ sicht nur aus voller Ueberzeugung anschließen, nicht nur im eigenen Namen, sondern auch im Namen des Bundesraths, der dieselbe Ansicht in seinen Motiven bereits an­ gedeutet hat, und ich habe nicht nöthig, nach den beredten Worten, mit denen dies soeben befürwortet worden ist, meinerseits noch etwas hinzuzufügen. Abg. Dr. Hänel: Ich gehe zurück auf die redaktionellen Anträge, welche gestellt sind, und werde meinerseits -natürlich an dieser Stelle ebenfalls keine materielle Kritik üben. Ich knüpfe an an den ersten Theil der vorletzten Rede des Herrn Bundeskanzlers, worin derselbe einige Bedenken gegen das Amendement Duncker vorbrachte. Der Herr Bundeskanzler sagte, daß es die Absicht der Bundesregierungen gewesen sei, das Wort „Reich" überall da einzuführen, wo es sich um Gegenstände handelte, welche bisher den partikularen Gewalten zugestanden und nunmehr centralisirt worden seien. Mir scheint, daß das gerade auf das Wort „Bundesgebiet" paßt. Dies geht auf das Deut­ lichste aus dem Artikel 1 hervor; hier heißt es nämlich: „das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen rc.", nun folgen die einzelnen Staaten. Wir sehen also hier einen Gegensatz: die Summe der einzelnen Staaten wird aufgeführt, es werden die einzelnen Theile des Gebiets bezeichnet, und an der Spitze muß nunmehr, meiner Ueberzeugung nach, logisch und sprachlich oder, wie soll ich sagen, dem sprachlichen Rhythmus nach diejenige Bezeichnung stehen, welche eben die Gesammtheit ausdrückt. Also, m. H., nicht darf es heißen „Bundesgebiet", sondern es muß heißen „Reichs-

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gebiet". Daß darin irgend welche Tendenz nicht gefunden zu werden braucht, das, m. H., geht gerade aus diesem Artikel 1 hervor. — Aus den Gründen, die ich ent­ wickelt habe, und die, wie mir schien, auch der Herr Bundeskanzler theilt, gerade aus diesen Gründen würde ich plaidiren für die Ersetzung des Wortes „Bundesgebiet" durch das Wort „Reichsgebiet". Bundeskanzler Fürst von Bismarck: Zch appellire an bessere Kenner unserer sprachlichen Quellen und Zusammenhänge, wenn ich die Frage stelle: ist das Wort „Reichsgebiet" überhaupt sprachlich hergebracht, ist es nicht eine Art von Tautologie, liegt nicht in dem Worte „Reich" schon die Bezeichnung des Bereichs und des Gebiets? Ich will es nur anregen, weil meinem sprachlichen Ohr das Wort „Reichsgebiet" wider­ strebt, während das Wort „Bundesgebiet" gebräuchlicher ist. Ich würde dann lieber vorschlagen, an solchen Stellen, wo das Bedürfniß dazu vorhanden ist, das Wort „Deutschland" oder „Reich" zu gebrauchen, obschon man dann möglicherweise in Un­ verständlichkeiten verfallen kann. Zch übersehe im Augenblick die einzelnen Texte nicht, ich habe nur das Bedürfniß, wiederholt zu konstatiren, daß uns keine prinzipiellen An­ sichten scheiden, sondern nur sprachliche. Abg. Freiherr von Hoverbeck: M. H., ich mache darauf aufmerksam, daß hier ausdrücklich vom Schutze des Gebietes die Rede ist, vom Schutze des Bundes- oder Reichsgebiets, je nachdem Ihrer Auffassung das Eine oder das Andere richtig erscheint. Nun ist aber doch der Schutz dieses Gebietes, der Schutz unserer Grenzen entschieden Sache des Reichs und nicht der einzelnen Staaten, und aus diesem Grunde mußte mindestens an dieser Stelle gewiß „Reichsgebiet" gesagt werden. Abg. Miquel: Nur um spätere Mißdeutungen und Mißverständnisse zu ver­ meiden, will ich doch zu dem, was mein Freund Lasker in Uebereinstimmung mit dem Herrn Bundeskanzler bemerkt hat, eine Reserve hinzufügen; wenn er sagte, es ist in Zukunft der Sinn und Inhalt der Reichsverfassung nur zu interpretiren dadurch, daß man auf die Verträge zurückgeht und gewissermaßen also den sachlichen und wörtlichen Inhalt der Reichsverfassung als selbstständiges Material zur Interpretation beseitigt, so, glaube ich, geht das doch viel zu weit. Wir beschließen die Verfassung als ein Gan­ zes; welches Gewicht bei der Erklärung von Zweifeln, die der Wortlaut der Ver­ fassung etwa erregt, auf die der Verfassung zu Grunde liegenden Verträge zu legen ist, darüber kann heute von uns Niemand absprechen, das müssen wir nach den ein­ zelnen Fällen beurtheilen. Die Verfassung, die wir hier beschließen, geht aus dem übereinstimmenden Willen des Bundesraths und des Reichstages hervor, sie ist Ma­ terial zur Interpretation; inwiefern anderes Material, aus dem die Verfassung hervor­ gegangen ist, auch noch zur Benutzung kommt, darüber kann man keinen Grundsatz aufstellen. Zch glaube und vermuthe, daß mein Freund Lasker auch nicht in anderem Sinne seine Worte gemeint hat; ich halte aber doch um deswillen diese Erklärung für nöthig, weil er glaubte, daß er mit seinen Worten in voller Uebereinstimmung mit allen seinen politischen Freunden sei. Abg. vr. Hänel: Zch knüpfe wiederum nicht an die letzten Bemerkungen des Herrn Abg. Miquel, sondern an die Bemerkungen des Herrn Bundeskanzlers an. Selbstverständlich präsentire ich mich nicht als einen besseren Sprachkenner. Ich darf mich aber seiner Bemerkung gegenüber auf die späteren Artikel der Reichsverfassung berufen. Der Herr Bundeskanzler meinte, daß das Wort „Reichsgebiet" darum nicht gut sei, weil in dem Worte „Reich" bereits eine lokale Beziehung läge. So ver­ stand ich ihn. Allein, in dem Artikel 48 befolgt der Sprachgebrauch der vorliegenden Verfassung doch dieses Sentiment nicht, sondern hier heißt es: „das Postwesen und das Telegraphenwesen werden für das Gebiet des deutschen Reiches rc." Dies widerspricht. Es ist hier ausdrücklich ein „Gebiet" des deutschen „Reiches" an­ erkannt. Es müßte nach der Meinung des Herrn Bundeskanzlers lauten: „werden für das deutsche Reich rc." Allerdings hat er selbst auch diesen Sprachgebrauch eben be­ fürwortet, aber ich glaube doch so viel sagen zu dürfen, daß der Einwand des Herrn Bundeskanzlers aus der späteren Terminologie der Reichsverfassung wenigstens nicht gerechtfertigt ist.

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Abg. Lasker: M. H., ich sehe mich durch die Worte des Herrn Abg. Miquel zu einer Interpretation meiner eigenen Worte veranlaßt, während ich sie früher gar nicht für zweifelhaft gehalten hatte. Meine Erklärung ging dahin, daß überall, wo in der Redaktion nicht die Absicht angedeutet ist, die Verfassung abzuändern, da auch die Absicht einer Abänderung nicht vorausgesetzt werden darf, nicht mehr und nicht weniger. Daß natürlich der Wortlaut der Verfassung zunächst als das Gesetz selbst maßgebend ist, das, glaube ich, kann von keiner Seite bestritten werden, und in diesem Sinne glaube ich mich in gar keinem Widerspruche mit dem Herrn Abg. Miquel zu befinden, wenn er meine Worte nicht etwa in irgend einer anderen Weise aufgefaßt hat, als ich sie habe sagen wollen. Abg. Dr. Windthorst: Gegenüber der Erklärung des Abg. Miquel muß ich erklären, daß ich die Angelegenheit ganz so, wie der Bundesrath uns die Sache vor­ gelegt hat, auch meines Theils auffasse. Ich meine, daß wir gegenwärtig nur darüber urtheilen, ob das Bestehende, das Abgemachte richtig redigirt ist. Wir setzen in Beziehung aus das Abgemachte heute nichts Neues und nichts Anderes: dabei muß ich meines Theils beharren. In diesem Sinne werde ich rücksichtlich der Punkte, die auf das Abgemachte sich beziehen, mich verhalten. Es ist in dem Vorgelegten nur ein Punkt neu. Das ist der Punkt wegen des auswärtigen Ausschusses. Nur in Be­ ziehung darauf tritt eine Abstimmung zur Sache und nicht blos über die Redaktion ein. Präsident: Ich darf die Diskussion über den Eingang der Verfassung, das Stück zwischen den Worten „Se. Majestät der König von Preußen" bis „Verfassung haben" schließen und den Antrag des Abg. Duncker zur Abstimmung bringen. Ich möchte von ihm selbst aber erst erfahren, ob er den ganzen Antrag ungetheilt auffaßt dahin, daß, wenn hier für das Wort „Bundesgebiet" „Reichsgebiet" gesetzt würde, ebenso an allen weiteren Stellen der Verfassung (deren er fünf angeführt hat) beliebt werden soll, oder ob der Herr Abgeordnete zunächst nur für die gegenwärtige Stelle darauf besteht. Abg. Duncker: Ich bemerke zunächst, daß mein Antrag nicht zur Einleitung gestellt ist, sondern zur ersten Ueberschrift, der Ueberschrift „I. Bundesgebiet", und ich würde bitten, die Abstimmung nur auf diesen einen Fall vorerst zu stellen. Präsident: Ich beschränke mich also auf die Frage an das Haus: soll an Stelle des Wortes „Bundesgebiet", welches hinter der Zahl I als Ueberschrift vor dem Artikel 1 der Verfassung steht, nach dem Anträge des Abg. Duncker „Reichsgebiet" gesetzt werden? Diejenigen Herren, die das wollen, bitte ich, sich zu erheben. (Geschieht.) — Das ist die Minderheit; der Antrag ist abgelehnt. — Wir kommen nun zu dem Artikel 1, auf welchen sich der Antrag der Abg. Dr. von Zoltowski und Gen. bezieht, von welchem ich annehme, daß er sich thatsächlich darauf beschränkt, zwischen den Worten „Preußen mit Lauenburg" und „Bayern" zu inseriren: „mit Ausschluß der unter preußischer Herrschaft stehenden polnischen Landestheile". Abg. Dr. von Zoltowski: Erlauben Sie, m. H., daß, bevor ich zur Motivirung meines Antrages selbst komme, ich ein paar Worte dem Standpunkte widmen darf, welchen wir, meine politischen Freunde und ich, dem gesammten Gesetzentwürfe gegenüber einnehmen. Es ist nicht unsere Absicht, m. H., an und für sich gegen die demselben zu Grunde liegenden Anschauungen und Grundsätze Widerspruch zu erheben; im Gegentheil, wir wissen recht wohl — ich und diejenigen Herren, welche mit mir die Interessen der unter preußischer Herrschaft stehenden polnischen Landestheile in diesem hohen Hause zu vertreten haben — wir wissen recht wohl das großartige Werk der Vereinigung Deutschlands zu würdigen, welches darin seinen praktischen Ausdruck findet. Wir begreifen, wie groß die Freude sein muß, welche eines jeden Deutschen Herz erfüllt, bei dem Gedanken an die glänzenden Ereignisse des jüngsten Krieges und an die Resultate, welche er durch das Zustandekommen der deutschen Einheit mit sich gebracht hat. Diese Freude, wir theilen sie sogar mit Ihnen von unserem Stand­ punkte aus. Denn wir finden in dem gedachten Einigungswerke Deutschlands die

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kräftigste Bestätigung eines Prinzips, für dessen Aufrechthaltung wir von jeher stets aufgetreten sind, und aus dem wir unsere unverjährbaren Rechte herleiten; ich meine das Nationalitätsprinzip. Beinahe 200 Zahre sind verflossen, seitdem durch den Ryswicker Traktat das Elsaß an Frankreich abgetreten wurde; Metz hat schon lange vorher aufgehört deutsche Reichsstadt zu sein. Es schien, daß niemals diese Länder von Frank­ reich wieder losgetrennt werden sollten, und doch war das Streben des deutschen Nationalgefühls und der deutschen Politik stets darauf gerichtet, die verlorenen Gebiete für Deutschland wieder zu erwerben. Dieses Ziel ist nun in Folge des letzten Krieges endlich erreicht; Elsaß und Deutsch-Lothringen werden wieder zu deutschen Provinzen; sie werden es selbst gegen den Willen eines bedeutenden Theils ihre-r Bevölkerung, welche mit Frankreich vereinigt zu bleiben wünscht; sie werden es, weil sie von Alters her zum deutschen Reiche gehört haben; sie werden es schließlich, weil das historische Recht und das Nationalitätsprinzip hier den Sieg über faktisch und rechtlich jahrhundertelang bestehende Verhältnisse davon getragen hat. Diesen Sieg des Nationalitätsprinzips, m. H., ich begrüße ihn freudigst. Durch denselben wird nämlich die Thatsache ausdrücklich hestätigt, daß der durch die Vorsehung den Völkern ausdrücklich aufgedrückte Stempel der Nationalität ein so unvertilgbares Merk­ mal ist, daß es weder durch Jahrhunderte fremder Herrschaft ver­ jähren noch durch den Willen des einzelnen Menschen selbst verleugnet werden kann. Wir werden offenbar die Letzten sein, m. H., welche einer solchen Auffassung entgegentreten. Zst dieselbe aber, einmal als richtig anerkannt, so muß man, der Logik der Thatsache folgend, auch den Muth haben, die aus derselben sich ergeben­ den Konsequenzen anzunehmen. M. H., in der Thronrede sind folgende Worte ausdrücklich ausgenommen: „Die Achtung, welche Deutschland für seine eigene Selbstständigkeit in Anspruch nimmt, zollt es bereitwillig der Unabhängigkeit aller anderen Staaten und Völker, der schwachen wie der starken." Zn diesem erhabenen Worte erblicken wir nun, m. H., eine sichere Bürgschaft dafür, daß gleichzeitig mit der Neugestaltung des deutschen Reiches auf nationalem Gebiete auch unsere gerechten Forderungen, namentlich die uns Deutschland gegenüber durch die Wiener Kongreßakte feierlich gewährleistete nationale Sonderstellung, wieder zur Geltung gelangen werden. Das Bewußtsein dieser unserer nationalen Sonder­ stellung den deutschen Stämmen gegenüber hat sich übrigens auch in diesem hohen Hause neulich kund gegeben, indem Sie nämlich bei der letzten Adreßdebatte kein Mit­ glied der polnischen Fraktion weder zur Vorberathung des Adreßentwurfs in der Seniorenversammlung hinzugezogen, noch in der Adreßdebatte selbst sich haben betheiligen lassen; dadurch haben Sie, m. H., mit uns anerkannt, daß es für Polen zu einem deutschen Parlamente, wo spezifisch deutsche Interessen zur Sprache gebracht werden, keinen geeigneten Platz giebt. Wir hegen daher die Hoffnung, daß bei der jetzt vor­ genommenen Regulirung der deutschen Verhältnisse die Proteste endlich berücksichtigt werden, welche seit dem Zahre 1848 unsrerseits bei jedem Versuche einer Gebiets­ erweiterung des deutschen Bundes erhoben worden sind, gegen die Einverleibung der unter preußischer Herrschaft stehenden polnischen Landestheile in den norddeutschen, respektive in den deutschen Bund. Wir hätten zwar gewünscht, m. H., im Interesse Zhres eigenen Gerechtigkeitsgefühls, daß die Initiative zur Berücksichtigung unserer Proteste deutscherseits ergriffen worden wäre; wir hätten gewünscht, daß deutscherseits Zhre Inkompetenz anerkannt worden wäre, über die Aufhebung der uns durch inter­ nationale Verträge gewährleisteten nationalen Rechte einseitig zu statuiren. Dieser Wunsch ist indessen nicht in Erfüllung gegangen; bei der Redaktion des Gesetzentwurfs ist vielmehr unser nationaler Standpunkt ganz außer Acht gelassen worden und wir im Verhältniß zum deutschen Reich den preußischen Unterthanen deutscher Nationalität gleichgestellt. Wir aber, m. H., so schwach wir auch der Zahl nach Ihnen gegenüber sein mögen, wir haben doch das Recht und die Pflicht, für die Aufrechthaltung der uns garantirten nationalen Sonderstellung Sorge zu tragen, und wir können uns daher

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unmöglich mit einem Verfassungsentwurf zufrieden erklären, welcher das Werk der nationalen Konstituirung Deutschlands damit beginnt, daß er den Polen die ihnen auf Grund internationaler Verträge unbestritten zustehenden Rechte verkennt. M. H., diese Versammlung ist nicht die erste, der die wichtige Aufgabe zugefallen ist, über die Geschicke Deutschlands zu berathen; wir erinnern uns ja Alle, wie vor kaum 20 Jahren eine andere Versammlung zu demselben Zwecke in Frankfurt zusammentrat. Mit enthusiastischem Jubel wurde sie bei ihrer Entstehung in ganz Deutsch­ land begrüßt; aber wie kläglich hat sie geendet! Und wissen Sie warum, m. H.? weil dieselbe sich nicht zu der Höhe ihrer Ausgaben heraufzuschwingen vermochte, weil sie im Norden und Süden, im Westen und Osten, in Schleswig und Tirol, in Limburg und Posen diejenigen Prinzipien der Nationalität nicht anerkennen wollte, zu deren Verwirklichung in Deutschland sie selber berufen worden war. — Ich will nun, m. H., für Sie und für uns hoffen, daß die zweite deutsche Versammlung einen ganz ver­ schiedenen Weg einschlagen wird, und daß sie das für sich selbst einmal anerkannte Prinzip auch anderen Nationalitäten gegenüber nicht verleugnen wird. M. H., es haben sich in diesen Räumen bei der letzten Adreßdebatte mehrere Stimmen erhoben, um die Weisheit des erhabenen Ausspruchs: Justitia fundamentum regnorum est, zu preisen. Wohlan denn, m. H., mein Verbesserungsantrag bietet Ihnen Gelegenheit, diesen Ausspruch praktisch in Anwendung zu bringen. Auch giebt Ihnen die Annahme dieses Verbesserungsantrags für die Zukunft eine viel bessere Ge­ währ der deutschen Einheit, als es irgend eine materielle Macht je zu thun im Stande wäre. Deshalb glaube ich, m. H., daß Sie in Ihrem eignen Interesse selbst Motive genug finden werden, um für denselben zu stimmen. Bundeskanzler Fürst von Bismarck: Wir sind nicht zum ersten Male damit beschäftigt, die Prinzipiensragen zu erörtern, die der Herr Vorredner hier angeregt hat. Ich darf mich deshalb wohl aus eine kurze Erwiderung und auf die stenographischen Berichte friiherer Sitzungen des Reichstages sowohl wie des preußischen Landtages in Betreff des Nachweises der Unrichtigkeit in dem vorliegenden Verbesserungsantrag und in den Worten des Herrn Redners beschränken und mich hier damit begnügen, die einzelnen dieser Unrichtigkeiten hervorzuheben und in Bezug auf die Motivirung meiner Ansicht auf die früher geltend gemachten Argumente zu verweisen. Ich bestreite dem Herrn Vorredner und seinen Mitantragstellern zunächst das Recht, sich hier aus die Worte der Thronrede zu berufen. In der Thronrede ist die Rede von anderen Völkern und Staaten, deren Selbstständigkeit geschont werden soll. Die Herren gehören zu keinem anderen Staate und zu keinem anderen Volke als zu dem der Preußen, zu dem ich selbst mich zähle, und können Posen und Westpreußen, langjährige Bestandtheile der preußischen Monarchie, nicht zu denjenigen anderen Völkern und Staaten zählen, welche in der Thronrede gemeint sind. Es ist das eine der Fiktionen, die den Blick trüben und das Urtheil fälschen. Ich bestreite den Herren ferner das Recht, im Namen der Bevölkerung irgend eines preußischen Landestheiles zu sprechen, welches auch die Sprache dieser Bevölkerung sein mag. Ich will nicht daran erinnern, daß Sie gesetzmäßig hier nur die Gesammt­ heit des Volks und nicht einen einzelnen Landestheil vertreten und keine Spezialman­ date haben können; ich will nur daran erinnern, was ich Ihnen bei einer früheren Gelegenheit gründlicher nachgewiesen habe, daß Ihre Wähler mit dem, was Sie hier angeblich im Namen Ihrer Wähler erklären, nicht einverstanden sind, und daß die Sache von solcher Notorietät ist, daß ich mich darüber jedes Beweises überhoben halten kann. Ihre Landsleute haben mit demselben Muthe und mit derselben Hingebung für die Sache, welche uns hier vereint, gestritten, wie die Bewohner jedes anderen Theils von Preußen, und Ihre Landsleute, die Sie hier vertreten, sind für die Segnungen der preußischen Kultur gerade so dankbar, wie die Bewohner Schlesiens und anderer Provinzen. (L. Z.) Ich bestreite Ihnen ferner — und ich glaube, es geschieht von dieser Stelle schon zum zehnten Male — das Recht, sich auf einen Vertrag für Sonderstellung einzelner Reichstags-Repertorium. I.

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Provinzen im preußischen Staat zu berufen. Sie haben es stets sorgfältig vermieden, diese Verträge ihrem vollen Wortlaute nach anzuführen. Ich habe im preußischen Land­ tage an dieser Stelle Gelegenheit gehabt, dies wörtlich nachzuweisen, und nur, weil Sie hier unrichtige Behauptungen wiederholen, muß ich auch meinen Widerspruch da­ gegen wiederholen. Es wäre die Existenz des Großherzogthums Posen und Westpreußen im preußischen Staat, wie sie seit einem halben Jahrhundert ist, nicht möglich gewesen, wenn etwas Derartiges, wie Sie stets wiederholt anführen, in den Verträgen stipulirt wäre. Ich möchte Sie dann auch daran erinnern, uns mehr durch das Beispiel der Duldsamkeit als durch Ihre Worte zu belehren. Wie hat sich denn die polnische Nation zu der Zeit, wo sie selbstständig war, gegen die von ihr mit dem Schwert Unterwor­ fenen verhalten? Wollen Sie uns das Benehmen, welches Sie gegen die Nuthenen, gegen die unter Ihrem Szepter lebenden Russen, gegen die Litthauer, ja gegen die Deutschen beobachtet haben, zum Muster empfehlen? Dann, m. H., würde Ihre Existenz in diesem Lande vollständig unerträglich werden, wenn wir Sie so behandeln wollten, wie Sie die durch Eroberung unterworfenen Deutschen behandelt haben. Die Herren, die sich mit der Spezialgeschichte von Westpreußen vertraut gemacht haben, werden sich erinnern, daß wir in diesen Tagen einen Gedächtnißtag für die Stadt Thorn haben feiern können, wo die polnischen Herrscher es den Deutschen mit blutiger Schrift bewiesen haben, wie sie nationale Sonderbestrebungen zu behandeln entschlossen waren. Fürchten Sie nicht, m. H., daß wir aus diesen historischen Reminiscenzen, zu denen Sie mich wider meinen Willen zwingen, irgend ein Beispiel oder eine Empfind­ lichkeit übernehmen. Die verbündeten Regierungen und insbesondere Ihre Landes­ regierung, die königlich preußische, wird sortfahren in den Bestrebungen, die Segnungen des Rechtsschutzes und der Gesittung unter den Dankbaren und unter den Undankbaren zu verbreiten, und glücklicherweise sind die Dankbaren in der Mehrheit auch bei Ihnen. (L. Br.) Abg. von Krzyzanowski: M. H., es wird uns das Recht bestritten, im Namen der polnischen Bevölkerung für die Abänderung des Artikels 1 der Verfassung zu sprechen. Wir haben diese Worte von hoher Stimme bereits im Jahre 1867 ge­ hört. Die allgemeinen Wahlen, die in den polnischen Landestheilen jetzt geschehen sind, haben die Antwort darauf gegeben: wir sind in einer Mehrzahl vor Ihnen er­ schienen, wie es noch nie gewesen ist. Dort, wo wir gesiegt haben, haben wir starke Majoritäten; errungen dort, wo wir unterlegen sind, sind die Minoritäten ziemlich imposant. Die Wahlakten werden die Richtigkeit meiner Behauptung ergeben. Wes­ wegen sind nun diese Wahlen so ausgefallen? — Das Losungswort war das, was wir jetzt verlangen: wir wollen, m. H., bis Gott anders über uns bestimmt hat, unter preußischer Herrschaft bleiben, aber dem deutschen Reiche wollen wir nicht einver­ leibt sein. Sie haben, m. H., ein großes, homogenes Reich gebildet, das sich vielleicht einst zu einem noch größeren Umfange entwickeln wird. Es liegt, m. H., glaube ich, in der Natur der Sache, daß ein fremder Bestandtheil nicht hierher gehört. Ich muß nun, m. H., aus diesem Standpunkte an mich die Frage richten: ge­ höre ich denn wirklich zu einem deutschen Volksstamme? Nein, m. H., meiner Geburt, meinen Ueberzeugungen, meinen Ueberlieferungen nach gehöre ich nicht dazu. Und was nun den Sinn und die Ueberzeugung der Bevölkerung, die ich vertrete, anlangt, so will ich Ihnen nur anführen: ich hätte wahrlich ein Mandat zum Reichstage nicht an­ genommen; ich bin dazu veranlaßt worden durch den Wunsch unserer ehrlichen polni­ schen Bauern, welche von mir verlangt haben, hierher zu gehen und in ihrem Namen gegen die Einverleibung in das deutsche Reich zu protestiren. Nun, m. H., wir haben das schon im Jahre 1867 gehört: daß wir keine glor­ reiche Vergangenheit haben und kein historisches Recht auf Existenz. Es ist uns vor­ gehalten worden, wir seien nur eine Minderheit in dem polnischen Volke, — ja, m. H., es ist wirklich schwer, unparteiisch in der Geschichte zu sein. Ich will nur folgende Thatsachen konstatiren. — Unter den uns verbrüderten Stämmen in der polnischen Geschichte, den Ruthenen und Litthauern, ist kein Stamm verschwunden, die Stämme

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bestehen noch in ihrer ganzen Fülle; dagegen könnte ich anführen, daß zu Zeiten des alten deutschen Reiches Millionen von Slawen absorbirt worden sind; ich will, m. H., nicht weiter gehen und sagen, wie sie absorbirt worden sind, wie sie verschwunden sind; das würde Bitterkeit in diese Diskussion bringen, und wahrlich, ich möchte diese Bitter­ keit nicht hineinbringen, ich meinestheils nicht. Nun, m. H., was das historische Recht auf Existenz anbetrifft, so will ich Ihnen nur zwei Belege aus unserer Vergangenhrit bringen; der eine ist, daß wir Jahrhun­ derte die Vormauer gegen barbarische Horden gewesen sind, zum Schutz von ganz Europa, und das andere ist die Befreiung Wiens, wo wir Wien und das deutsche Reich gerettet haben. Den Dank dafür ist uns Deutschland bis zum heutigen Tage schuldig geblieben, der Schuldbrief ist noch nicht ausgelöst. M. H., wir sind allen Fraktionen im Reiche fremd, und trotzdem, ich könnte mich hier an alle Fraktionen wenden und sie um Berücksichtigung dieses Antrages bitten: an Sie, m. H. von der Rechten, — ich verlange dasselbe historische Recht, welches Sie in Anspruch nehmen, welches Sie bei der Neubildung Deutschlands eben­ falls angerufen haben, an Sie, m. H., von der Linken, wende ich mich und bitte um Anwendung derselben Freiheitsprinzipien, welche Sie stets anrufen. Wollen Sie, m. H., das Nationalitätsprinzip dort, wo es sich um dessen Anwendung gegen uns handelt, verleugnen, wenn Sie es sogar in Italien, wo es in eine gewisse Kollision mit dem historischen Rechte der Päpste kommt, anerkennen, wollen Sie es wirklich ver­ leugnen, dann, m. H., hört alle Konsequenz auf. Abg. von Hennig: M. H., die Herren, welche den Antrag gestellt haben, ver­ langen ziemlich viel; sie sprechen sich sogar gar nicht einmal bestimmt aus, wieviel sie verlangen; denn es heißt: hinter den Worten „Preußen mit Lauenburg" soll hinzu­ gefügt werden: „mit Ausschluß der unter preußischer Herrschaft stehenden polnischen Landestheile". Was verstehen die Herren darunter? Nach der gewöhnlichen Auffassung verstehen sie darunter Westpreußen und Posen; es giebt aber polnische Schriftsteller, die auch Oberschlesien darunter verstehen und sogar einen großen Theil des übrigen Schlesiens, weil da früher einmal die Piasten geherrscht haben — das soll nämlich eine polnische Fürstenfamilie gewesen sein. Nun, m. H., es ist sehr schlimm, wenn man in eine Verfassung, die doch überall klare und bestimmte Forderungen verlangt, solche allgemeinen Redensarten hineinfügen will, wie das hier von den Herren beab­ sichtigt wird. - Sie wollen augenblicklich gar nicht sagen, wie viel Land sie fordern, sondern sie wollen nur etwas Beliebiges hineinschreiben, um nachher so viel daraus machen zu können, wie es ihnen paßt. Aber, m. H., wie kommen die Herren dazu? Auf Grund der Nationalität doch wahrhaftig nicht; denn in der Provinz Westpreußen ist der überwiegende Theil der Nationalität deutsch, in Posen ist es beinahe die Hälfte. Also wie kommen die Herren darauf, eine entschiedene Nationalität für sich in Anspruch nehmen zu wollen? Sind denn die Deutschen, die dort wohnen, nicht ebensoviel werth wie die Polen? Und, m. H., ich frage, wie ist es überhaupt gekommen, daß die Her­ ren gewählt sind? wie sind sie hier in dieses Haus gelangt? Nicht durch die polnische Agitation — damit können sie Niemanden hervorlocken —, sondern nur dadurch, daß sie sich der klerikalen Partei angeschlossen haben; (H.! H.!) mit Hülfe dieser allein sind sie in dieses Haus gelangt! M. H., sie haben dadurch ihre eigene Schwäche und den Mangel an nationalem Sinn auf Seiten der klerikalen Partei deutlich gezeigt. (Br.!) In dieser Ueberzeugung — ich will mich hier nicht länger in die Debatte einlassen — schließe ich und sage nur: die Herren haben kein Recht, irgend einen Anspruch zu erheben. (Br.!) Abg. Dr. von Niegolewski: M. H., ich will vor Allem, um meine Stellung tut Hause persönlich zu kennzeichnen, dem Abg. Hennig, da er uns nicht als Vertreter des Volkes, sondern des katholischen Klerus anerkennen will, antworten. Ich bin aber gerade in Posen gewählt worden, also in einer Stadt, die der Abg. Hennig besonders als eine deutsche Stadt in Anspruch nimmt, und zwar mit mehr als 2000 Stimmen gegen den deutschen Kandidaten. Ferner will ich ihm zum Troste bemerken, daß ich 10*

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gerade Derjenige war, gegen den die ultramontane Partei aufgetreten ist und gestimmt hat, und ich bin doch gewählt worden mit einer so großen Majorität. Also sind die desfallsigen Behauptungen abgedroschene, abgethane, bekannte Versuchsmittel, um gegen uns Mißtrauen zu erwecken und uns gleichsam jede Berechtigung zur Wahrung unserer politisch-nationalen Rechte zu nehmen. Andererseits ist es eigenthümlich, daß uns, wenn wir an unserer Religion strenge halten, dieses zum Vorwurfe gemacht wird, — und doch, m. H., haben Sie sich Alle in dem Hause bei der Adreßdebatte dagegen verwahrt, daß der Religionssinn in Deutschland nicht stark wäre. Erlauben Sie uns also auch, an unserer Religion, an der Religion unserer Väter, festzuhalten und mit Wärme für ihre Berechtigung und ihre Rechte aufzutreten. Ferner hat Herr von Hennig gesagt, daß wir in unserem Anträge nicht sagen, was wir verlangen, wie weit sich unsere Ansprüche auf Ländergebiete erstrecken. Wir fangen hier ja aber gar nicht den Grenzstreit an. Dazu sind wir nicht berechtigt, einen Grenzstreit hier auszustellen, das ist Sache der Zukunft, in welcher die Vorsehung auch uns dasselbe Loos und dasselbe Schicksal bescheiden wird, das Sie jetzt mit solchen Er­ folgen, wie es geschehen ist, erreicht haben. Die Grenzfrage beschäftigt uns jetzt nicht. Wenn ferner der Herr Abgeordnete gesagt hat, daß in den ehemaligen polnischen Landestheilen Deutsche wohnen und deutsche Interessen daselbst gewahrt werden müssen, so stimme ich ihm bei und gehe vielleicht noch weiter: auch wir verlangen, daß die deutschen Interessen überall gewahrt werden. Nicht blos unter preußischer Herrschaft, denn es giebt auch Provinzen unter Fremdherrschaft, wo die deutschen Interessen sehr schlecht gewahrt werden, obgleich dort die deutsche Zunge klingt. Ich will darauf nicht zurückgehen in diesem Augenblicke. Andererseits haben Sie ja in Lothringen und Elsaß ebenfalls Franzosen mit ausgenommen, obgleich Sie sagen, daß Sie blos deutsches Land genommen haben; die ursprünglichen Bewohner und nicht die eingewanderten haben also darnach über das Schicksal des Landes zu entscheiden. Ich wende mich nun zur Beantwortung der gegen unseren Antrag vorgebrachten Vorwürfe und Behauptungen. Es wird von dem Herrn Bundeskanzler uns das Recht zu solchen Anträgen überhaupt nicht zuerkannt, und zwar aus dem Gesichtspunkte, weil wir kein Volk wären. Nun, m. H., das, was Gottes Werk ist, wird keine menschliche Kraft vernichten können, und so Gott will, werden wir auch zu der Durchkämpfung und Erlangung unserer Rechte mit Gottes Wallung ge­ langen müssen. Denn wahrlich, auch wir danken Gott, daß wir, trotzdem wir fort­ während nur Leiden zu bestehen haben, trotz der großen Opfer, die wir fortwährend gern und willig tragen, unserer Idee treu geblieben sind, daß wir trotz aller mensch­ lichen gegen uns gerichteten Machinationen durch Gottes Wallung und durch Gottes Fügung Polen geblieben sind und um keinen Preis der Welt aufhören werden, Polen zu sein. Also dieses göttliche Recht kann uns Niemand absprechen, und wir haben leider nicht geglaubt, daß uns in dem Augenblick, wo Deutschland mit Stolz auf das Nationalgefühl sich berufen kann, — wir haben aber insbesondere nicht geglaubt, daß in dem Augenblick, wo die ganze Welt, so lange sie bestehen wird, bewundern wird die Thaten, die Deutschland verübt hat, — daß in demselben Augenblick einem augen­ blicklich durch die Theilungsmächte geschwächten Volke von dem Reichskanzler des deut­ schen Reichs vorgehalten werden könnte, daß Polen kein Volk wäre. Za, Macht haben wir gegenwärtig nicht, um dieses mit Nachdruck zu dokumentiren; aber nicht in dem succes allein liegt das Recht, und es wird die Zeit kommen müssen, wenn über­ haupt Friede und Glück in Europa auftreten soll, daß unser Recht wird anerkannt werden müssen. Denn auch mit der Zeit wird Europa des kriegerischen Zustandes müde werden, und so lange dem polnischen Volke das Recht auf Selbstständigkeit nicht zuerkannt wird, ist auch weder an ein Aufhören des kriegerischen Zustandes noch an die Freiheit zu denken; denn wer unterdrückt, kann nicht frei sein. So oft es sich um unsere Verfolgung handelte, haben die Theilungsmächte selbst bewiesen, daß wir ein Volk und dazu ein lebenskräftiges Volk sein müssen, denn wozu hätten sie sich gegenseitig bewacht, daß keine Konzessionen den Polen gemacht werden; und wenn

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irgend ein Staat der polnischen Nationalität wohlbegründete Konzessionen gewährte, alsdann fanden sofort Remonstrationen und Interventionen der anderen Theilungs­ mächte, insbesondere preußischerseits, statt. Ich erinnere aus der letzten Zeit blos an die letzte Note, die der österreichische Reichskanzler Graf Beust vor wenigen Monaten an den Grafen Apponyi, österreichischen Gesandten in London, geschickt, in welcher Note Graf Beust in edlem Tone sich darüber beschwerend äußert, daß preußischer- und russischerseits Anstoß an dem Verfahren Oesterreichs den Polen gegenüber genommen und Verabredungen in dieser Beziehung stattgefunden haben sollen, wogegen Graf Beust remonstrirte. Ich erinnere ferner an die Interventionen und Vorstellungen, die sogar preußischerseits Rußland gegenüber gemacht worden sind, und zwar immer, so oft Ruß­ land geneigt war, den Polen Konzessionen zu machen. M. H., ich habe geglaubt, daß diese Art, uns zu behandeln, jetzt in Deutschland auf immer begraben sei. Früher haben wir es am Ende aus vielen Rücksichten erklär­ lich finden können. Aber wozu ist denn die Macht? Wenn sie auch nicht die Schwachen schützen soll, so ist sie doch nicht etwa dazu da, um den Schwachen noch abzunehmen den Rest ihrer Rechte! Wir haben eine andere Behandlung von Deutschland erwartet, und glaubten zu unserer Hoffnung berechtigt zu sein. Seit 1848, wo wir gegen unsern Willen und trotz unserer Proteste berufen waren, mit Deutschen zusammen in Repräsentativversammlungen zu tagen, haben wir immer, ohne Rücksicht darauf, ob es Anträge der Majorität oder der Minorität waren, so oft sie die deutsche Frage, die Einigung Deutschlands auf Grund des Nationalitätsprinzips bezweckten, unterstützt und dafür gestimmt. Sämmtliche Herren Abgeordneten aus den preußischen Landtagen müssen uns dieses Zeugniß zugestehen: wir haben uns immer gescheut, irgend einen Mißton in den deutschen Sinn hineinzubringen, weil wir, so wie wir wünschen, uns selbst zu regieren, es auch nicht gewagt haben, uns hineinzumischen in Deutschlands innere Angelegenheiten, bethätigten aber überall unsere Theilnahme für die staatliche Einigung deutscher Stämme. Zur Widerlegung der Behauptung des Herrn Bundeskanzlers, daß unser Antrag auf Fiktion der Antragsteller beruhe und daß wir Rechte beanspruchen, die unsere Wähler nicht wünschen, werden wenige Worte genügen. — Der Herr Bundeskanzler wird mir verzeihen, daß ich ihm in Erinnerung zurückrufe, daß ich von der Tribüne geantwortet habe auf seine Rede, auf die er verwiesen hat, nämlich die bei der Be­ rathung der Verfassung des norddeutschen Bundes; diese meine Beantwortung in mei­ ner damaligen Rede ist meinen Wählern wohl bekannt, und ich bin eben wohl deshalb sofort wiedergewählt' worden und jetzt wiederum gewählt, ungeachtet ich es nicht ge­ wünscht habe. — Wenn also meine Wähler meine Ansicht nicht theilten, sondern die des Herrn Bundeskanzlers, dann hätten sie mich nicht gewählt. Endlich mußten aus unserer Geschichte wiederum Vorwürfe gegen uns heran­ gezogen werden. Nun, wenn ich Lust und Muth hätte, Sie mit einer längeren Rede zu belästigen, dann würde ich Ihnen allerdings einen Geschichtsvortrag halten, wie die deutschen Zustände waren beim Auflösen des deutschen Reiches. Ich würde Ihnen auch ein Kapitel lesen können über die damalige Fremdherrschaft. Ich würde Ihnen aber aus ganz anderen Gesichtspunkten, als es der Herr Bundeskanzler gethan hat, Dokumente vorlesen können, daß unsere Herrschaft über andere Gebietstheile nicht schlecht war, daß man sich nach derselben gesehnt hat. (W.) — Ich verweise Sie, m. H., auf die Werke von Hartknoch, Lengnich, Voigt, Stenzel und Dropsen. M. H., wenn Sie es wünschen und wenn Sie mir widersprechen, dann werde ich mir erlauben müssen, Ihnen in Bezug z. B. auf Ostpreußen, wofür ich zufällig bei der Hand manche Beweise habe, solche zur Unterstützung meiner Behauptung vorzubringen. (N.! N.!) — Za, m. H., wenn Sie ungerechtfertigte Vorwürfe unserer ruhmreichen Geschichte machen und wir einmal hier sind, dann ist es auch unsere Pflicht, Sie zu widerlegen. Ich glaube, daß Sie, wie von allen Anderen, so auch von uns beanspruchen, daß wir nach unserem besten Wissen und Gewissen unsere Pflicht erfüllen; denn nur mit Männern, die so verfahren, kann man mit Behagen in denselben Räumen tagen.

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Nach dem Wehlauer Traktate 1657 — ich greise also nach der ältesten Geschichte Preußens, um dem Herrn Bundeskanzler gegenüber auszuführen, daß selbst nach dem Traktate von Wehlau im Zahre 1657, kraft welches Traktates dem Kurfürsten der souveräne Besitz Ostpreußens garantirt worden ist von der Republik Polen, sämmtliche Einwohner sich nach der Herrschaft Polens sehnten, und Alles, was damals das Volk repräsentirte, Kirche, Städte und Adel, machten Opposition gegen den Kurfürsten und erklärten, daß Se. Majestät der König von Polen kein Recht gehabt habe, sich der Souveränetät über sie zu entschlagen. Die Stadt Königsberg offerirte dem polnischen Thron-Schatzmeister Rey sogar ein Gehalt von 10,000 Thalern, damit er für ihre Wiederverbindung mit Polen arbeite. Die lutherischen Geistlichen nannten den reformirten Glauben des Kurfürsten ein Werk des Teufels und donnerten von allen Kanzeln für die Wiederherstellung von Polen, und Dropsen sagt, Band I, S. 530: „Die Pa­ storen der lutherischen Orthodoxie waren dem Kurfürsten ebenso abgeneigt wie die katho­ lische Geistlichkeit mit den Jesuiten an der Spitze; es gab in Preußen keine branden­ burgische Partei, selbst die Regierung des Landes war eher preußisch als kurfürstlich, und alle Stände einigten sich in der Opposition gegen die Macht und Herrschaft des Kurfürsten." — Hieronimus Roth, Bürgermeister von Königsberg, erwidert im August 1661 dem kurfürstlichen Kommissarius: „Der König von Polen hat kein Recht, uns wie Birnen oder Aepfel zu verschenken; hat der Kurfürst nicht genug, wenn er uns unser Gut genommen hat, will er uns unsere Freiheit nehmen; wir lassen uns nicht verkaufen." — Nach den ferneren Berichten des Statthalters an den Kurfürsten heißt es in Bezug auf die Stadt Elbing, daß die Nachricht, daß Polen die Uebergabe Elbings an den Kurfürsten verweigert hat, ein wahres Volksfest gewesen. M. H., ich könnte weiter gehen, aber auch ich kenne die Grenzen, inwieweit es der Anstand erlaubt, Sie mit geschichtlichen Notizen zu belästigen. Zch könnte Zhnen aus Stenzel, aus Voigt die Charakterisirung vorlesen, wie das Regiment der Hoch­ meister war, wie das Regiment der Deutschen war in den Theilen, die von Polen ab­ gefallen sind, und wie sich die Bewohner in den von der Republik Polen abgefallenen Ländern nach polnischer Herrschaft zurücksehnten. Damit ich mich jedoch meiner Pflicht entledige, so verweise ich auf die im Zahre 1867 in Berlin bei Herrmann gedruckte Brochüre, die vom geschichtlichen Standpunkte die Rede des Grafen Bismarck beleuchtet hat. In derselben werden Sie hinreichende Zusammenstellung finden, inwiefern wir das Recht haben, auf unsere Geschichte einen stolzen Rückblick zu thun. Was nun ferner den Antrag selbst anbetrifft, m. H., so muß ich aufrichtig ge­ stehen, daß ich nicht erwartet habe, daß ich auf die Wiener Verträge werde zurückkom­ men müssen. Ich habe geglaubt, daß von nun an Deutschland andere Grundsätze den Völkern gegenüber wird gelten lassen. Zch gehe nämlich von dem Standpunkte aus, daß die Völker nicht gegen einander, nicht neben einander, sondern für einander sein sollen, und, m. H., Deutschland gegenüber können wir die Anerkennung bean­ spruchen, daß wir wenigstens nie gegen Deutschlands Einigung und nationale Interessen aufgetreten sind; selbst nach unserer Niederwerfung haben wir immer mit der deutschen Civilisation, mit Deutschland gehalten, ja selbst mit Aufopferung unserer slavischen Lande, die uns mit dem übrigen Slaventhum vereinigen, und wir haben uns deshalb temporäre Abneigung desselben zugezogen; ja eine temporäre vielleicht, denn wir können trotzdem, daß wir dafür mit unserer ganzen Energie einstehen, daß Polen treu bleibe seinen Traditionen und mit den Kulturvölkern zusammengehe, doch dahin kommen, daß die anderen slavischen Völker uns überfluthen, und die Repräsentanten der Slaven werden andere Gebiete vindiziren als wir. Denn, m. H., ich könnte Zhnen eine Karte vorlegen, aus der Sie ersehen könnten, wie weit Rußland als slavisches Gebiet in Europa zurückvindizirt. Zch will aber auch darüber in diesem Augenblicke hinweggehen und begnüge mich mit der Andeutung der nothwendigen Konsequenzen. Da uns aber geradezu das Recht widersprochen worden ist, mit unseren Anträgen aufzutreten, so halte ich mich dafür jedenfalls berufen, auf unsere Berechtigung dazu zurückzugehen. Den Polen wird ja immer vorgeworfen, sie wären geborene Hoch-

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verräther, und daß sie fortwährend revolutioniren. Za, m. H., wenn wir in diesem Augenblicke einen Antrag auf unsere positiven Rechte stützen, dann sollen wir dazu auch nicht berechtigt sein. Wo ist der revolutionäre Sinn? Wo ist gerade das, was uns sonst vorgeworfen wird? Gewiß auf Seite derjenigen, die uns unsere garantirten Rechte nicht gewähren wollen. M. H., die Polen sind sämmtlich ihrerseits gewiß nicht gemeint, sich auf die Wiener Traktate als eine ausschließliche Basis ihrer unver­ äußerlichen Rechte zu berufen, da sie ohne ihre Zustimmung und Mitwirkung geschlossen sind und nur eine neue Theilung statuirten, also die unveräußer­ lichen Rechte auf Selbstständigkeit verletzten; allein gewiß steht Keinem, welcher dadurch Verpflichtungen gegen die Polen übernommen hat, das Recht zu, dieselben einseitig zum Nachtheil der Polen zu verkümmern oder gar aufzuheben, ins­ besondere da die Verträge nicht mehr politische, sondern auch Privatrechte garantiren. Satzungen des Völkerrechts aber können — soll nicht in dem Völker- und Staaten­ rechte eine allgemeine Anarchie entstehen — nur durch Kongresse geändert werden. So lange aber eine Aenderung des positiven Völkerrechts durch einen Kongreß nicht erfolgt, müssen die völkerrechtlichen Stipulationen als zu Recht bestehend anerkannt werden, und wenn sie auch von den Regierungen nicht ausgeführt werden, dann steht doch gewiß denjenigen, denen sie die Kardinalrechte als das Recht der Nationalität zusichern, die Berechtigung zu, sich auf dieselben zu berufen, und dieses Recht kann uns nicht genommen werden. Wir stehen als Volk da. Unsere politische Stellung in der europäischen Völkerfamilie ist ausdrücklich anerkannt in denWiener Verträgen. Ich verweise Sie auf die einzelnen Satzungen, dort sind die Grenzen gezogen, innerhalb welcher das polnische Volk eine territoriale Einheit bildet, dort ist ausdrücklich das Jahr 1772 nicht einmal, nicht zweimal, sondern ich glaube wenigstens zehnmal ausdrücklich gedruckt. Es handelt sich jetzt nicht darum, daß wir verlangen sollten von Ihnen die Wiederherstellung Polens; das ist eine andere Frage, welche Grenzen Polen haben wird, diesen Antrag bringen wir in dieses Haus nicht ein, denn ich sehe, wir periklitiren sogar, mit unserem Anträge, der sich auf positives Recht stützt, nicht durchzukommen. Also diese Anträge überlassen wir dem Laufe der Geschichte, und die Macht der Logik der Ereignisse ist mächtiger und größer als die größte menschliche materielle Macht, sowohl einzelner Männer als aller Staaten zusammen. Ich fahre fort mit der Beleuchtung der Satzungen des Wiener Vertrages, auf den wir uns berufen haben. Als im Jahre 1815 auf dem Wiener Kongresse neue Territorialbestimmungen getroffen wurden, hat man schon damals die Nothwendigkeit der Wiederherstellung Polens anerkannt. Obgleich aber Motive des Eigennutzes oder der Mißgunst den Gedanken der Wiederherstellung eines freien, selbstständigen Polens zurückdrängten, haben doch auch dort die paciscirenden Mächte zur Erhaltung des Rechtes und Friedens Europas die polnische Nationalität, die ihre Lebenskraft eben auf unzähligen Wahlstätten bewährt hat, in der europäischen Völkerfamilie anerkannt, sie schufen im Interesse Europas und in der An­ erkennung der Berechtigung des polnischen Volkes bei der neuen europäi­ schen Staatenordnung für dasselbe einen besonderen eigenthümlichen staatsund völkerrechtlichen Zustand, gleichsam den Polen zum Troste, daß sie nicht ganz vergebens für ihr Vaterland gekämpft haben. Man stellte nämlich das Land unter drei Fürsten, ohne das Land als vollständig getheilt anzusehen, vielmehr erkannte man zwischen den einzelnen Theilen eine Integrität, eine territoriale Einheit, indem innerhalb der Grenzen des alten Polens von 1772 trotz der drei verschie­ denen Scepter nicht nur im Grenzverkehr, sondern auch in allen merkantilischen Be­ ziehungen die größten gegenseitigen Erleichterungen ausbedungen wurden, so daß das Land hinsichtlich der Schifffahrt, der Kultur, der Industrie und des Handels als ein zusammenhängendes nationales Ganze anerkannt worden ist mit der dem polnischen Volke gegebenen Zusicherung nationaler Institutionen und Repräsentationen. Uebereinstimmend mit dem Okkupationspatent, in dem preußischerseits auf Grund der Wiener

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Verträge den Polen ihre Nationalität und ihr Vaterland zugesichert worden ist, hat auch die preußische Regierung selbst, gestützt auf diese Grundsätze, sich damit über­ einstimmend ausgesprochen. Ich berufe mich blos auf den Erlaß des Oberpräsidenten Zerboni di Sposetti, de dato Posen, den 6. September 1815. Derselbe lautet: „Die Monarchen, welche das Schicksal Polens bestimmten, sind bei dieser Bestimmung überall von dem Grundsätze geleitet worden, daß eine große Familie durch den Drang politischer Begebenheiten unter, mehrere Souveränetäten getheilt worden ist. Es ist der Wille dieser erhabenen Monarchen, „daß das Familienband der Nation unter ihren verschiedenen Regierungen fortdauere". Sie haben zu dem Ende aus ihren Administrationen Alles zu entfernen befohlen, was diesen hochherzigen Ab­ sichten entgegen sein und jener Theilung einen schädlichen Einfluß auf den Wohlstand der Individuen geben könnte." Ich schließe mit der Motivirung, daß uns ja sogar nach preußischen positiven Gesetzen das Recht zusteht, uns als polnisches Volk zu betrachten, und auf Grund dieses positiven politischen internationalen Rechtes werden wir in allen Repräsentativversamm­ lungen, mögen sie heißen, wie sie wollen, immer als solche, die zur Theilnahme an denselben auch nur gegen unseren Willen und ohngeachtet unserer Proteste berufen sind, desfallsige Anträge stellen. Bevor ich die Tribüne verlasse, muß ich noch der Worte gedenken, in denen der Herr Bundeskanzler hat unserer Landsleute gedacht, indem daraus, daß unter Preußens Befehlen unsere Landsleute für Deutschland gekämpft, ein Beweis gegen uns her­ geleitet wird. Allerdings haben die Polen, treu den Traditionen der polnischen Ge­ schichte, ihren Muth bewährt. Dadurch haben sie aber nicht aufgehört, Polen zu sein. Ich brauche mich nur auf den Hinweis zu beschränken, daß unter den Soldaten und Offizieren, die auf den Schlachtfeldern gefallen, oder die mit dem eisernen Kreuze dekorirt worden sind, sich solche befinden, die mit mir in Moabit und auf den preußischen Festungen ihre polnische Vaterlandsliebe bewährt haben, und finden sich darunter auch solche Männer, die mit mir zusammen auf den Schlachtfeldern im Aufstande 1863 freiwillig gekämpft haben. Woher entnehmen Sie daher die Berechtigung zu der Behauptung, daß diese Männer durch ihre aufBefehl erfolgte Theilnahme am Kampfe aufgehört haben, Polen zu sein? M. H., als Sohn eines Stabsoffiziers unter Napo­ leon L, habe ich öfters von meinem Vater gehört, daß Deutsche, insbesondere Preußen, die damals unter dem Oberbefehl Napoleons I. gedient, sich tüchtig bewährt und auch brav mitgekämpft haben, aber trotzdem haben Deutsche und Preußen damals nicht auf­ gehört, Deutsche zu sein, und sind wahrlich nicht Franzosen geworden, und es fiel auch Niemandem ein, sie für Franzosen zu halten. Eben darum, glaube ich, werden Sie uns auch dafür, daß wir unsere Pflichten der Regierung gegenüber auf Befehl erfüllten, nicht an unseren Rechten zum Lohne des vergossenen Blutes verkümmern wollen. M. H.! Jeder Pole hält, so lange er lebt, mit seinem Volke fest an dem Evangelium unserer Zukunft, und wir sind der festen Zuversicht, daß wir mit der von Gott uns gegebenen Liebe zu unserem Vaterlande des Sieges uns erfreuen werden durch Gottes Fügung! Bundeskanzler Fürst von Bismarck: M. H., ich fühle, daß ich den Erwar­ tungen der Versammlung mehr entsprechen würde, wenn ich jetzt nicht das Wort ergriffe. Ich thue es nur darum, um zu verhüten, daß eines jener Schlagwörter mehr in die Welt gesetzt werde, von denen ich an meiner Stelle nicht selten durch das Wohlwollen meiner parlamentarischen Gegner zu leiden gehabt habe, und so noch bis in die Tage des jetzigen ftanzösischen Krieges hin an dem Worte des Grafen Schwerin: „La force prime le droit, Gewalt geht vor Recht," was ich bekanntlich niemals gebraucht habe. Nun habe ich aus der Betonung des letzten Herrn Redners vermuthet, daß auch er sich ein neues Schlagwort vorbereitet: „Wir sind kein Volk." Ja, damit kann man viel Mißbrauch treiben; es kommt darauf an, was man unter dem „wir" ver­ steht. In meinem Sinn verstehe ich unter dem „wir" — und damit unterschreibe ich vollständig den Satz — die etwa 20 Herren Abgeordneten, die sich hier als Volk

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geriren, und zwar als polnisches Volk. Sie, m. H., Sie sind wirklich kein Volk, auch - vertreten Sie kein Volk, Sie haben kein Volk hinter sich, Sie haben nichts hinter sich als Ihre Fiktionen und Ihre Illusionen, und zu denen gehört unter anderm, daß Sie vom polnischen Volke hierher in den Reichstag gewählt seien, um die polnische Nationalität zu vertreten. Ich weiß auch etwas davon, wozu Sie gewählt worden sind. Zch habe es Ihnen schon bei früheren Gelegenheiten auseinandergesetzt und kann Ihnen darüber auch jetzt nähere Spezialitäten geben. Sie sind gewählt, um die Interessen der katholischen Kirche zu vertreten, und wenn Sie das thun, sobald diese Interessen in Frage kommen, so werden Sie Ihre Schuldigkeit gegen Ihre Wähler erfüllen. Denn dazu sind Sie ehrlich gewählt, dazu haben Sie das volle Recht: aber hier das polnische Volk oder die polnische Nationalität zu vertreten, dazu haben Sie das Mandat nicht; ein solches Mandat hat Ihnen kein Mensch gegeben, und das Volk im Großherzogthum Posen und in Westpreußen am allerwenigsten; es theilt nicht die Fiktionen, die Sie ver­ theidigen: daß die polnische Herrschaft gut gewesen wäre — oder nicht schlecht, wie der Herr Vorredner sich ausdrückte. Bei aller Unparteilichkeit und bei aller Neigung, gerecht zu sein, kann ich Ihnen versichern, sie war ganz herzlich schlecht, und darum wird sie niemals wiederckommen! (Br.) Abg. von Mallinckrodt: Zch danke dem Herrn Reichskanzler, daß er die Güte gehabt hat, eben hervorzuheben, daß die Herren aus dem Großherzogthum die volle Berechtigung haben würden, die Interessen der katholischen Kirche zu vertreten. Damit wird sich der Vorwurf, den der Herr Abg. v. Hennig erhoben hat, über die Verbindung mit den Klerikalen vollständig erledigen. Ueberhaupt hört ein derartiger Vorwurf doch allmälig auf geschmackvoll zu sein, und was den „Mangel an nationaler Gesinnung" der Klerikalen betrifft, so möchte ich empfehlen, lieber den Ausdruck „national­ liberaler Gesinnung" zu gebrauchen; dann würde er vollständig zutreffend sein. (Br. aus der Linken.) — Ich brauche nicht die Gründe auszuführen, weshalb meine Freunde so wenig wie ich in der Lage sein werden, dem Anträge des Herrn Dr. von Zoltowski beizustimmen. Zn den Erwägungen, die zu seiner Unterstützung angeführt werden, finde ich eine Mischung von richtigen und unrichtigen Sätzen. Den Antrag selbst be­ trachte ich auch nur als eine Rechtsverwahrung von dem Standpunkte aus, den die geehrten Herren einnehmen. Ich mag aber nicht schroffe Abweisungen derartiger An­ träge in diesem Hause hören, ohne doch Gelegenheit zu nehmen, meinerseits der Theil­ nahme Ausdruck zu geben, die mit mir gewiß Viele über das tragische Geschick einer edlen Nation empfinden, der auch die westlicher wohnenden Nationen Europas zu dauerndem Danke verpflichtet bleiben. (Br.) — Zch will nicht untersuchen, wie die Schuld sich vertheilt auf die unterdrückte Nation der Polen oder auf ihre Unterdrücker; ich werfe auch keinen Blick in die Zukunft. Meinerseits stehe ich auf dem Boden des Rechts, wie er durch die europäischen Traktate gegeben ist, und ich bin nur in der Lage, die Erwartung und die Hoffnung auszusprechen, daß die der polnischen Natio­ nalität traktatmäßig zugesicherten Rechte auch stets mit peinlicher Gewissenhaftigkeit ge­ währt werden mögen. Diejenigen Herren aber, die so laut das nackte Prinzip der Nationalitäten proklamiren, die weise ich darauf hin, daß es ihnen anstehen würde, auch Anderen dasjenige Recht zu gewähren, was sie für sich selbst in Anspruch nehmen; wo nicht, so sündigen sie gegen die ersten Grundsätze der Gerechtigkeit. Abg. Schraps: Es ist mir, der ich mich als Redner gegen beide Adreßentwürfe zeitig gemeldet, bei der Adreßdebatte trotz der ausreichenden Fülle von Reden derer, die. für beide Adressen gesprochen haben, durch die Schlußabstimmung das Wort ab­ geschnitten worden, und bei den Anfeindungen, die ich deshalb erfahren habe, halte ich es um so mehr für nothwendig, wenigstens kurz meine Abstimmung zu motiviren. Der Verdienste der Polen in früherer Zeit, die der Herr Vorredner auch anerkannt hat, ist vor Allem auch die europäische Demokratie eingedenk; wir finden, daß sie die Vormauer gewesen sind gegen die Türkengefahr und daß sie die Vormauer gewesen sind, wenig­ stens eine Zeitlang, gegen die Russengefahr, die noch nicht beseitigt ist. Wir meinen, daß alles dasjenige Unrecht, was jetzt in den Ostseeprovinzen geschieht gegen Deutsche

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und theilrveise auch in Kongreßpolen, nicht geschehen wäre unter den Polen, und wenn der Herr Bundeskanzler hingewiesen hat auf dasjenige, was von Seiten der Polen ge­ schehen ist vor 200 Jahren, so sage ich, das ist kein zutreffender Vergleich, denn dann müßte man vergleichen dasjenige, was damals unter den Polen geschehen ist, mit dem­ jenigen, was damals in anderen Ländern sich ereignete, und das ist nicht geschehen. Die Gefahr, die ich zuletzt angedeutet, besteht jetzt noch, und darum wird den Polen immer noch die Sympathie aller derjenigen Völker, die noch Werth legen auf die euro­ päische Civilisation, erhalten bleiben. Wenn nun bei der Adreßdebatte die Hoffnung ausgesprochen worden ist, daß dieses Reich auf festen Grundlagen gebaut worden wäre, so ist das eine Ansicht, die wohl nicht von Allen getheilt wird, und diese Hoffnung ist auch durchaus nicht meine Sache. Ich glaube auch nicht, daß das deutsche Reich, welches jetzt wieder aufgerichtet worden ist, tausend Jahre bestehen wird wie das frühere; ich glaube vielmehr, ehe zwanzig Jahre vorübergegangen sind, wird die Lage eine andere geworden sein nach der Gestaltung der Dinge, die sich jetzt im Westen vorbereiten. (Gr. H. u. U.) — M. H., ich kann nur wiederholen, es ist dies meine Ansicht, und es wird sich zeigen, wem die Geschichte Recht giebt. Ich sage, das Unrecht, das seiner Zeit Maria Theresia fühlte, als sie ihre Unterschrift und Zustimmung zur Theilung Polens gab, wird möglicherweise in wenigen Jahren an Oesterreich gerächt werden, und Jedermann wird anerkennen, daß der österreichische Staatsbau jetzt schon in allen Fugen kracht, und es wird seine Sühne zahlen zum Theil für das Unrecht, was es damals an Polen begangen hat. — Ich habe blos das Wort ergriffen, um im Namen meiner Parteigenossen hier zu protestiren gegen das Unrecht und zu erklären, daß wir keinen Theil haben wollen an dem Unrecht, was geschieht an der polnischen Nation. Ich habe gesprochen! (H.) Präsident: Ich schließe die Diskussion und komme zur Abstimmung. Der Antrag der Abg. Dr. von Zoltowski u. Gm. dahin gehend: Der Reichstag wolle beschließen, zu erklären: 1) daß es nicht zur Kompetenz des Reichstages des deutschen Reiches gehört, die ehemaligen polnischen Landestheile, die unter Preußens Herrschaft stehen, in das deutsche Reich einzuverleiben, und folgerecht 2) zwischen die Worte: „Preußen mit Lauenburg" und „Bayern" die Worte: „mit Ausschluß der unter preußischer Herrschaft stehenden polnischen Landes­ theile" aufzunehmen wird verworfen. Abg. Dr. Ewald: M. H., die Worte in dem ersten Artikel: „das Bundesgebiet besteht aus den Staaten Preußen mit Lauenburg, Bayern, Sachsen, Württemberg" empsangm chr vollkommenes Licht erst durch die Worte im sechsten Artikel, wonach Preußen auch die ehemaligen Stimmen von Hannover, Kurhessen, Holstein, Nassau und Frankfurt hat, nach dieser Verfassung haben soll. Ehemalige, das sind die nach der deutschen Bundesverfassung rechtmäßigen Stimmen. Da nun diese Einrichtung nur auf der einseitigen Anmaßung eines Rechtes beruht, welches von der anderen betheiligten Seite nie anerkannt ist und auch heute noch nicht anerkannt wird, so muß ich gegen diese beiden Artikel der vorgelegten Verfassung stimmen, weil, um die Gründe in aller Kürze doch im Einzelnen etwas genauer zu bezeichnen, zuerst Fürst Bismarck, welcher uns doch als der zunächst verantwortliche Minister gelten muß, im Jahre 1866 den nach meiner und nach vieler anderen Deutschen Ansicht noch heute rechtmäßig nicht auf­ gelösten deutschen Bund durch bloße Gewaltthat zerriß, (Gr. H.) dann einen nicht.ge­ rechtfertigten Krieg deutscher Bundesgenossen gegen deutsche Bundesgenossen begann und, um diesen Krieg siegreich beenden zu können, sich mit fremden Fürsten und Völkern verband; weil zweitens in Folge dieser Thaten deutsche Fürsten aus ihren recht­ mäßigen Besitzthümern vertrieben, deutsche Völker unterjocht und ihrer Rechte und Frei­ heiten bis heute beraubt, dagegen aber, was allem deutschen Wesen, aller besseren deutschen Wissenschaft und — ich füge die Hauptsache hinzu — am Ende auch aller wahren Religion zuwider ist, die Grundsätze der französischen und italienischen Revolution sogar

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von oben herab und ganz offen in Deutschland befördert wurden; und weil endlich drittens zwischen der Krone Preußen und insbesondere zwischen dem rechtmäßigen Fürsten und Könige von Hannover Georg V. bis jetzt kein Friede geschlossen ist. (Ern. H.) — M. H., Sie mögen darüber lachen; ich habe, glaube ich, das Recht, im Namen nicht blos meiner, sondern aller meiner Wähler hier zu sagen, was die Sache selbst verurtheilt. (S. r.!) — Weiter darüber zu reden, wird sich wohl später noch eine andere Veranlassung finden. Jetzt begnüge ich mich, nur noch zwei Bemerkungen hin­ zuzufügen. Die erste Bemerkung ist die: Fürst Bismarck hat uns heute und, soviel ich gehört habe, schon früher ein oder zwei Mal wiederholt, daß er nie gesagt habe, Gewalt gehe vor Recht; aber, m. H., auf das, was Einer sagt, — darauf kommt es nicht an; (Gr. H.) ich behaupte, die Sache ist geschehen, Gewalt ist vor Recht gegangen, und ich füge hinzu, wenn man etwas thut nach einem gewissen Grundsätze, ohne den Grundsatz vorher auszusprechen, so scheint mir das noch schlimmer, als wenn man nach einem Grundsätze handelt, den man ausgesprochen. Das ist meine erste Bemerkung. Meine zweite ist diese. Meine werthen Herren Kollegen vom norddeutschen Reichs­ tage her werden sich vielleicht noch erinnern, daß ich sie am 22. Februar des vorigen Jahres an den Wahlspruch des letzten römisch-deutschen Kaisers erinnerte: justitia est fundamentum regnorum. — Nun, m. H., wenn der Herr Bischof von Mainz unter uns vor­ gestern aufs Neue an diesen Kernspruch erinnerte, so bin ich ihm dafür zwar dankbar und freue mich, daß er es gethan hat, aber ich wünschte, er hätte das nicht blos im All­ gemeinen behauptet, denn allgemeine Behauptungen pflegen gewöhnlich selten etwas zu nützen, (H.) ich wünschte, er hätte weiter im Einzelnen ganz genau und bestimmt ge­ sagt, wie er meine, daß das Königreich Preußen, welches er doch vorzüglich dabei im Auge hatte, gegen diesen Kernspruch und Wahlspruch gehandelt habe, und dann hätte er auch vielleicht den besonderen Fall vorzüglich hervorgehoben, von dem ich hier rede. Und wenn dann der Herr Graf Bethusy-Huc in derselben Berathung weiter auf den­ selben Grundspruch zurückkam und dabei, soviel ich mich erinnere oder soviel ich dort in jener Ecke hören konnte, behauptete, daß vielleicht schon in den nächsten Tagen von dem Königreich Preußen ein großes Zeichen ausgehen werde, daß es diesen Kernspruch für eine Wahrheit halte, nun, so will ich hoffen, daß sich das in eben dieser Sache bewahrheiten werde. Von Ihnen aber, m. H-, aus Südwestdeutschland, die ich nun zum ersten Male nicht als Mitglieder des, wie es dies verdient hat, schon seinem Untergange anheimgegebenen Zollparlaments zu begrüßen habe, von Ihnen will ich hoffen, daß Sie, je näher Sie unseren norddeutschen und daher vorzüglich auch den preußischen Angelegenheiten treten, desto unverschleierter und richtiger das große, un­ sägliche Unrecht, Unheil und Elend erkennen, von dem ich hier rede. Abg. Dr. Dove: Dem Herrn Vorredner will ich vor diesem hohen Hause und vor der deutschen Nation nur mit einer Frage antworten. Die deutsche Nation hat den Kampf gegen Frankreich geführt für ihre Existenz, für ihre höchsten Güter: — wo ist das hannöversche Königshaus da gewesen? Mit einem Hause, m. H., welches in diesem Kampfe sich nicht hat finden lassen, brauchen wir keinen Frieden zu schließen! Artikel 1 wird mit fast ausnahmsloser Majorität in unveränderter Fassung an­ genommen. Es folgt jetzt der Antrag der von den Abg. Reichensperger (Olpe) u. Gen.*), *) Derselbe lautet: Der Reichstag wolle beschließen, in die Verfassung des Deutschen Reiches hinter Artikel 1 die nachfolgenden Zusatzbestimmungen aufzunehmen und demgemäß die Nummern der weitern Artikel abzuändern:

II. Grundrechte. Art. 2. Jeder Deutsche hat das Recht, durch Wort, Schrift, Druck und bildliche Darstellung seine Meinung frei zu äußern. — Die Censur darf nicht eingeführt werden; jede andere Beschränkung der Preßfreiheit nur im Wege der Gesetzgebung. Art. 3. Vergehen, welche durch Wort, Schrift, Druck oder bildliche Darstellung begangen werden, sind nach den allgemeinen Strafgesetzen zu bestrafen.

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auf welchen sich als Sousamendement ein Antrag der Abg. Sonnemann, Fischer (Göttingen) und Gravenhorst bezieht: Zum Artikel 2: den zweiten Satz dieses Artikels durch folgenden Passus zu ersetzen: Die Preßfreiheit darf unter keinen Umständen und in keiner Weise durch vorbeugende Maßregeln, namentlich Censur, Konzessionen, Sicherheits­ bestellungen, Staatsauflagen, Beschränkungen der Druckereien oder des Buch­ handels, Postverbote oder andere Hemmungen des freien Verkehrs, beschränkt, suspendirt oder aufgehoben werden. — Zum Artikel 3. Diesen Satz durch folgenden Passus zu ersetzen: Ueber Preßvergehen, welche von Amtswegen verfolgt werden, wird durch Schwurgerichte geurtheilt. — Zum Artikel 4. Derselbe soll folgende Fassung erhalten: Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln; einer besonderen Erlaubniß dazu bedarf es nicht. Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden. — Zum Artikel 5. Diesen Artikel folgendermaßen zu fassen: Die Deutschen haben das Recht, Vereine zu bilden. Dieses Recht soll durch keine vor­ beugende Maßregel beschränkt werden. Abg. Reichensperger (Olpe): M. H., Es hat Einer der geehrten Abgeord­ neten bereits zum Voraus unter zahlreichem Beifall des Reichstages die Entschließung ausgesprochen, keinem Zusatzantrage die Zustimmung zu geben, und zwar darum, weil man nach langen Mühen und Nöthen, nach langem Ringen endlich die Einheit erreicht habe und nun wohl auch einmal ruhen dürfe. Za, m. H., dieses Ruhebedürsniß theile ich vollständig; ich würde nichts so sehr wünschen, als mich dieser Anschauung anschließen zu können, allein ich dächte. Sie hätten sich bereits durch die Motivirung meines An­ trages davon überzeugt, und Sie werden sich, wenn Sie mir einige Aufmerksamkeit schenken wollen, noch weiter überzeugen, daß diese Ruhe hier nicht möglich ist ohne Ge­ fährdung der allerwesentlichsten, fundamentalsten Rechte und Interessen des deutschen Volkes. Und ich meine doch, daß, wie das preußische Volk in seiner ganzen Vergangen­ heit, so auch dieser Reichstag entschlossen sein wird, die Ruhe erst nach gethaner Arbeit zu suchen. — Es ist seit dem Zahre 1867 mit einer gewissen Konsequenz zum patrio­ tischen Grundsatz erhoben worden, daß man erst die Einheitsbestrebungen verfolgen und verwirklichen, alle Freiheitsforderungen dagegen einstweilen zurückstellen müsse, weil nach erlangter Einheit die Freiheit uns von selbst erwachsen, uns in den Schooß fallen werde. Nun, m. H., man konnte ja schon damals — und es hat nicht an Stimmen von mehr als einer Seite desfalls gefehlt — an der Richtigkeit dieser Anschauung zweifeln; denn es ist nicht immer wahr gewesen, daß mit der territorialen Ausdehnung der Staaten auch deren Freiheit gewachsen ist, vielfach hat sich sogar das umgekehrte Verhältniß herausgestellt. Ich meinestheils habe mir darum die Freiheit genommen, damals schon die Ueberzeugung auszusprechen, daß es nur des Willens des Reichstages bedürfe, um Art. 4. Alle Deutschen sind berechtigt, sich ohne vorgängige obrigkeitliche Erlaubniß friedlich und ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu versammeln. — Diese Bestimmung bezieht sich nicht auf Versammlungen unter freiem Himmel, welche auch in Bezug auf vorgängige obrigkeitliche Er­ laubniß der Verfügung des Gesetzes unterworfen sind. Art. 5. Alle Deutschen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, in Gesellschaften zu vereinigen. — Das Gesetz regelt, insbesondere zur Auf­ rechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, die Ausübung des in diesem und dem vorstehenden Ar­ tikel (4) gewährleisteten Rechts. — Politische Vereine können Beschränkungen und vorübergehenden Verboten im Wege der Gesetzgebung unterworfen werden. Art. 6. Die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, der Vereinigung zu Religions-Gesell­ schaften und der gemeinsamen häuslichen und öffentlichen Religions-Uebung wird gewährleistet. Der Genuß der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte ist unabhängig von dem religiösen Bekennt­ nisse. Den bürgerlichen und staatsbürgerlichen Pflichten darf durch die Ausübung der Religions­ freiheit kein Abbruch geschehen. Art. 7. Die evangelische und die römisch-katholische Kirche, sowie jede andere ReligionsGesellschaft, ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig und bleibt im Besitz und Genuß der für ihre Kultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen uno Fonds.

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sofort alle berechtigten Freiheitsforderungen zur Geltung zu bringen. Doch, m. H., das ist nun heute, Gottlob, ein müssiger Streit geworden. Wir haben hinter uns die un­ ermeßlich große Thatsache einer über alles Erwarten erreichten Einheit, einer so voll­ kommenen Einheit wenigstens, wie sie nach den thatsächlichen Verhältnissen möglich ist. Denn daß die österreichisch-deutschen Provinzen nicht unter uns vertreten sind, das ist eben eine große weltgeschichtliche Thatsache, an der Niemand etwas ändern kann; die Missionen der beiden großen deutschen Staaten sind einmal nach verschiedenen Richtungen hingewiesen. — Unsere Einheit ist also, abgesehen von diesen, unserem Bereiche ent­ zogenen Verhältnissen vollkommen, und wir haben sie gekrönt gesehen durch die Wieder­ herstellung der deutschen Kaiserwürde, und zwar wird es dem deutschen Volke nicht aus­ geredet werden können, daß diese Kaiserwürde sich anschließen soll an die alte große Kaiserzeit, an Karl den Großen, an die Ottone, an Barbarossa und nicht etwa an Franz II. oder Leopold II. oder Zoseph II., und wie diese Zweiten alle heißen, sondern an die wahre große deutsche Kaiserzeit, über die vor einigen Tagen meiner Meinung nach doch etwas zu hinfällig abgeurtheilt worden ist. M. H., dieser neue deutsche Kaiser ist dem neuen Reiche gegenübergetreten mit der laut ausgesprochenen Zusage:-er wolle allzeit ein Mehrer des Reiches sein, nicht in Thaten des Krieges und der Er­ oberung, sondern in den Werken des Friedens und alles bürgerlichen Gedeihens. Nun, m. H., schon diese Bezeichnung der Aufgabe des deutschen Reiches sollte doch, meine ich, den ersten deutschen Reichstag darauf hinführen, daß es nicht gut wäre, sich mit einer rein formalen Revision zu beschäftigen, da einmal durch die eben bezeichnete große Thatsache eine Revision nothwendig geworden ist. Es ist aber auch nicht wahr, daß es sich hier nur um eine formale Revision handelt. Es sind verschiedene erhebliche materielle Aenderungen proponirt, und darum, meine ich, ist die Veranlassung doppelt gegeben, auch nach anderen Seiten hin also erwünschte oder gar für nothwendig zu erachtende Verbesserungen eintreten zu lassen. M. H., der Standpunkt, den mein Antrag der jetzigen Verfassung gegenüber einnimmt, ist prinzipiell genau derselbe, den die Bundesregierungen und das norddeut­ sche Parlament seiner Zeit der norddeutschen Verfassung gegenüber eingenommen haben. Damals hat man es nicht für angemessen oder für erwünscht erachtet, Grundrechte in abstracto zu machen und aufzunehmen. Man hat aber bei der einzigen Materie, welche durch die Bundesverfassung der norddeutschen Gesetzgebung überwiesen war und welche einer grundrechtlichen Beschränkung für die künftige Gesetzgebung überhaupt empfänglich ist, in der Wirklichkeit Grundrechte etablirt. In der alten norddeutschen Bundesver­ fassung hat der Artikel 3 alle erforderlichen Dispositionen zum- Schutze gegen etwaige unfreiheitliche Richtungen derjenigen Gesetzgebung aufgestellt, wobei allein von solchen Grundrechten die Rede sein konnte, nämlich auf dem Gebiete des Heimatsrechts und des Zndigenats, indem er den Hauptinhalt der künftigen Gesetzgebung über diese Ma­ terie durch streng verzeichnete Normen, welche die Gesetzgebung nicht sollte überschreiten dürfen, fixirt. Nun, m. H., ist seitdem die neue Thatsache in's Leben getreten, daß zwei andere hochwichtige Gesetzgebungsmaterien in den Bereich des Reiches gezogen wor­ den sind, welche bisheran immerdar und allzeit, namentlich auch in der großen Mehr­ heit der deutschen Staaten, grundrechtlich regulirt sind: ich meine die Gesetzgebung über die Presse und das Vereinswesen. Diese Gebiete sind auch in die Bundesgesetzgebung hereingezogen, und es kann doch nicht bestritten werden, daß, wenn diese Gesetzgebungs­ gebiete dem Reiche überwiesen bleiben ohne Hinzufügung von Grundrechten, die recht­ liche Möglichkeit vorliegt, dieser Gesetzgebung einen Charakter, eine Signatur auszu­ drücken, die nicht im Einklänge steht mit denjenigen Grundrechten, welche in den Einzel­ staaten, ganz besonders im Staate Preußen, durch die Verfassungsurkunde gewähr­ leistet sind. Nun, m. H., wird man mir wohl einwenden, daß es doch eine ungerechtfertigte Besorgniß sei, daß jemals ein deutscher Reichstag sollte freiheitsfeindlichen Gesetzen über Presse und Vereinswesen seine Zustimmung geben; man wird vielleicht noch hinzufügen, daß, selbst wenn man diese Grundrechte aufnähme, eine absolute Garantie doch nicht

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gegeben sei, daß dieselben nicht künftig wieder geändert würden, weil ja auch Verfassungsänderungen durch einfache Majorität hier votirt werden können und nur eine größere Majorität im Bundesrathe erforderten. Allein, m. H., Sie werden mir doch Ihrer­ seits nicht bestreiten, daß der Standpunkt der Vertrauensseligkeit, des kindlichen Ver­ trauens in die Zukunft nicht mehr der richitge ist, wenn es sich darum handelt, konstitutionelle, verfassungsmäßige Angelegenheiten zu reguliren, — daß namentlich eine Volksvertretung die Pflicht hat, die desfallsiigen Rechte des Volkes möglichst formell sicher zu stellen. Allein, m. H., ich muß hier leider auch aus einer mehr als zwanzigjährigen Erfahrung aussprechen, daß das Vertrauen nach jener Seite hin auch thatsächlich nicht berechtigt ist. In diesen Räumen, wo wir sitzen, haben verhältnißmäßig schwache konstitutionelle Minoritäten lange Jahre hindurch zu kämpfen gehabt für die Auftechthaltung von Prinzipien unseres preußischen Rechtes. Und wenn wir damals es durchgesetzt haben, im Wesentlichen die alten Prinzipien zu erhalten, dann verdanken wir dies nur dem Umstande, daß diese Prinzipien wesentlich und fun­ damental durch die Versassungsurkunde selbst fixirt waren. Es ist Thatsache, daß jede, auch sonst nicht allzu rücksichtsvolle Majorität immerhin Respekt hat auch vor Dem­ jenigen, was einmal verfassungsmäßig festgestellt ist; und darum lege ich großen Werth darauf, daß man nicht derartige Rechte und Interessen im Blauen stehen läßt, statt sie formell nach besten Kräften zu fixiren. Allein, m. H., der deutsche Reichstag selbst hat bereits Gelegenheit gehabt, die praktische Erfahrung zu machen, was es heißt, Kompetenzen und Institutionen auf eine andere Behörde, auf den Bund, zu übertragen, ohne gleichzeitig die desfallsigen Garantien und Beschränkungen mit übergehen zu lassen. Im Dezember vorigen Jahres hat der Abg. Duncker Beschwerde im Reichstage darüber geführt, daß durch die Proklamirung des Kriegszustandes preußische Grundrechte verletzt worden seien; und was ist ihm darauf geantwortet worden? Der Abg. Wagener (Neustettin) hat gesagt, diese Be­ schwerde gehöre gar nicht zur Kompetenz des norddeutschen Reichstages, darum, weil die preußischen Grundrechte nicht in der norddeutschen Bundesverfassung ständen; man sollte sich desfalls an den preußischen Landtag und an das preußische Ministerium mit seinen Beschwerden wenden. Das hat der Abg. Wagener gesagt mit demselben Athem, mit welchem er anerkennen mußte, daß die ganze Angelegenheit des Kriegszustandes lediglich eine Bundesangelegenheit sei, und daß die kommandirenden Generale, welche den Kriegszustand zu erklären haben, mit dem preußischen Ministerium in gar keiner Verbindung stehen. Nun, m. H., ich dächte, ein derartiger Präzedenzfall müßte sich doch warnend dagegen erheben, daß man wichtige Rechtsmaterien auf andere Behörden übergehen lasse, ohne die betreffenden Schranken und Garantien mit überzuführen. Ich weiß in der That mir auch keinen denkbaren Grund Vorzuführen, weshalb nicht die große Mehrheit des Reichstages geneigt sein sollte, die Grundrechte zum Schutz der Preßfreiheit und des Vereinsrechts im Allgemeinen aufzunehmen. Sie sind ja in Preußen erprobt durch eine zwanzigjährige Erfahrung; sie haben sich verträglich gezeigt sowohl mit den Interessen des Landes, als mit denen der Regierung. Es handelt sich auch nicht darum, sie erst neu zu formuliren. Ich sollte also meinen, daß gar kein Bedenken obwalten könne, daß man sofort darauf bestünde, diese Grundrechte in die Reichsverfassung mit herüber zu nehmen. Einen Zweifel kann ich mir in der That nur erklärlich machen hinsichtlich der zwei letzten grundrechtlichen Artikel, die ich eben­ falls gefordert habe, nämlich hinsichtlich der Art. 12 und 15 der preußischen Verfassungs­ urkunde, welche die Garantie der kirchlichen und religiösen Freiheit betreffen. Ja, m. H., nach dieser einen Seite hin begreife ich die Möglichkeit von Beden­ ken und von Nichtwollen seitens der Majorität. Es ist ja eine Wahrnehmung, der man sich nicht verschließen kann, daß diesen freiheitlichen Rechten nicht so allgemein die Sympathien gewiffer Kreise zur Seite stehen, wie dies meines Erachtens erwartet werden sollte. Man konnte ja schon seit geraumer Zeit Stimmen von der sogenannten liberalen Seite her vernehmen, die es auf dem Gebiete des Kirchenwesens gar nicht so übel finden, zu den Grundsätzen des omnipotenten Staates zurückzukehren und die vor-

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märzliche Abhängigkeit und Unfreiheit der Religionsgesellschasten wieder her^ustellen. Allein wenn der Grund für diese Tendenz des Liberalismus in dem liegt, worin ich ihn suche, dann ist er unbedingt falsch. Ich glaube nämlich den Grund darin erblicken zu sollen, daß man sich sagt: die Interessen der Dissidenten und Juden, die früher das preußische Abgeordnetenhaus so viel beschäftigt haben, seien ja sicher gestellt; die bürgerliche und staatsrechtliche Gleichberechtigung ohne Rücksicht auf das religiöse Be­ kenntniß sei ja durch das Bundesgesetz vom 3. Zuli 1869 ausgesprochen; und was die evangelische Kirche anlangt, so seien die Meinungen ja verschieden hinsichtlich der Nützlichkeit und Nothwendigkeit desjenigen Maßes von Autonomie, welches die preußi­ schen Grundrechte gewährten; es blieben also nur übrig die Interessen der katholischen Reichsangehörigen und der katholischen Kirche in Deutschland u. s. w. Ich halte es aber für einen folgenreichen und sehr unglückseligen Irrthum, wenn man sich auf einen solchen Standpunkt wirklich stellen wollte. Ich gehe in meiner Auffassung von der Ueberzeugung aus, daß alle Freiheiten mit Nothwendigkeit solidarisch verbunden sind, und daß man keine fallen lassen kann, ohne daß sie alle in Gefahr kommen. Und ich füge dem Ausdrucke meiner Ueberzeugung hinzu, daß, wenn einmal die größte Korporaüon der Welt, die katholische Kirche, nicht mehr verfassungsmäßig geschützt ist, wie es bisheran als nothwendig anerkannt worden, alles andere desfallsige Freiheits- und Vereinsrecht nur noch auf thönernen Füßen steht. Allein, m. H., wenn es sich denn wirklich nur um das Interesse der katholischen Reichsangehörigen handeln möchte, so würden Sie es mir doch vielleicht nicht bestreiten können, daß die sehr ansehnliche Zahl von Millionen, mit welchen diese Bevölkerung auftritt, es denn doch nützlich erscheinen lassen könnte, auch zwei sie beruhigende Artikel in die Reichsverfassung aufzunehmen, nachdem dem Einpfennig-Tarife eine Stelle in derselben vergönnt worden ist — und zwar aus ganz guten, von mir anerkannten Gründen. Zch mache sie aber vor Allem darauf aufmeäsam, daß man sich in dem allergrößten Irrthume befinden würde, wenn

man annähme, es handelte sich überhaupt bei dieser Frage nur um das Interesse der katholischen Kirche oder um kirchliches Interesse überhaupt. Meiner Ueberzeugung nach handelt es sich um ganz etwas Anderes; es handelt sich in Wirklichkeit um eine emi­ nent politische Frage, um eine Frage ersten Ranges, und das ist der Hauptgrund, der mich zur Stellung des Antrages veranlaßt hat. Auch ich theile das allgemeine Ver­ trauen, daß wir reaktionäre Maßregeln gegenüber den Rechtszuständen, die seit zwanzig Jahren sich eingelebt, nicht so leicht zu besorgen haben. Wenn ich trostdem den An­ trag gestellt, die betteffenden Artikel in die Reichsverfassung aufzunehmen, so geschieht es vor Allem im Interesse der Erstarkung und der Befestigung des deutschen Reiches; es geschieht in dem Interesse, diejenigen Gegensätze und Gefahren nicht wieder aufkom­ men zu lassen, die in den Verhältnissen liegen. Die Frage nach der Stellung zwischen Staat und Kirche ist ja durch alle Jahrhunderte hindurch eine Frage ersten Ranges gewesen, und die Formen, unter welchen sie nebeneinander bestehen können, sind ja längst erprobt und gerichtet. Die Ueberordnung der Kirche über den Staat, die so ost in auffallend feind­ seliger Weise in unseren Volksvertretungen angegriffen wird, war im Mittelalter naturnothwendig und berechügt, weil die Kirche der einzige Träger der alten Kultur und der Wissenschaft gewesen ist. Als sodann diese Thatsache gerade durch die Thäügkeit der Kirche und ihrer Organe nicht mehr vorhanden war, — als die Kultur und die Wissen­ schaft immer mehr Gemeingut der Nation geworden war, und in demselben Verhält­ nisse, als sie es wurde, ist das frühere Verhältniß ein unmögliches geworden. Die lleberführung aus dem einen Verhältniß in das andere ist dann freilich nicht ohne Gingen und Kämpfen vor sich gegangen. Das zeigt ja die Geschichte auf jeder Seite, daß alle derartigen großen, fundamentalen, ich kann sagen, socialen Umwälzungen nicht durch einen Federzug auf hem Papier vollzogen werden, — sie gehen stets durch mächige Konvulsionen hindurch und zum Abschluß. — Allein diese Ueberordnung der Kirche |at aus den Gründen, die ich angedeutet, nicht blos ihr Ende genommen, sondern sie st kraft der Macht der Gegensätze mit einer ähnlichen Naturnothwendigkeit in ihr Gegen-

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theil umgeschlagen: die Kirche ist vielfach zur Dienerin des Staats, ja zur Polizeian­ stalt geworden, indem der Staat sich für omnipotent erklärte und diese seine Omnipotenz sich in den Absolutismus verehrt hat. Nun, dieser Absolutismus hat sich selbst gerichtet und vernichtet; er ist auf der einen Seite in Stagnation übergegangen im Cäsaropapismus unseres östlichen Nachbarlandes und hat anderseits in Aankreich zur

Revolution führen müssen, weil der Mensch und die menschliche Gesellschaft sich einem absoluten Staatsgötzen nicht anheimgeben kann, ohne damit die fteiheitliche Entwickelung des Menschengeschlechts unmöglich zu machen. Nun, m. H., dem neunzehnten Jahr­ hundert ist es vorbehalten gewesen, die, wie mir scheint, einzig mögliche Lösung der Frage zu geben: die Nebeneinanderordnung dieser beiden großen Institutionen von Staat und Kirche — die Hinverweisung beider auf das ihnen eigene Rechts- und Lebensgebiet. Ob man hierbei die Lösung der Frage auf den einzelnen Punkten des Grenzgebietes richtig trifft, ist eine verhältnißmäßig untergeordnete Frage, — im Großen und Ganzen ist es doch unbestreitbar die einzig mögliche Lösung, und der Staat Preu­ ßen, behaupte ich, hat das große, weltgeschichtliche Verdienst, diese Lösung zuerst am umfassendsten zu einer hohen, praktischen Bedeutung erhoben zu haben. (Br.!) Daß aber der Staat Preußm dies gethan hat, das ist ihm zu hohem Segen ausgeschlagen. M. H., der Staat Preußen hat diese Lösung unternommen und vollzogen nicht aus eigener Spontanität, sondern weil er mußte, und das eben ist die Bedeutung seiner geschichtlichen Mission. Aus demselben Grunde, aus welchem der Staat Preußen die wirthschaftliche Einheit des deutschen Volkes hat herbeiführen müssen, in Folge der Er­ werbung der von seinem Hauptkörper getrennten Westprovinzen, aus demselben Grunde hat er auch die Frage des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in die Hand neh­ men müssen, nämlich kraft derselben Erwerbung der überwiegend katholischen Westpro­ vinzen in Folge der siegreichen Befreiungskriege. Er hat die Frage gelöst, und daß er sie und wie er sie gelöst hat, hat wesentlich dazu beigetragen, das Zusammenwachsen aller Provinzen zu einem ganzen, einheitlichen Staatswesen in eminentester Weise zu fördern. (Br.!) — Es sind durch diese Lösung eine Reihe von Gegensätzen und Schwie­ rigkeiten beseitigt worden, die in allen Staaten und zu allen Zeiten schwere, tiefe Kon­ flikte hervorgerufen haben. Nun, m. H., dieselben Gründe, die Preußen bestimmt haben, damals in jener Weise vorzugehen, dieselben Gründe bestehen heute für Preußen kraft der Stellung, die es einnimmt, dem neuen deutschen Reiche gegenüber. Das alte, deutsche Reich, m. H., ist nicht, wie hier gesagt worden, an den Kreuzzügen oder an den italienischen Kriegen oder an dem Kriege mit einem König Harald untergegangen, das deutsche Reich ist üntergegangen an den Folgen der Religionsspaltung im sechs­ zehnten Jahrhundert. (S. w.! im C.) M. H-, es war ja die nothwendige Folge dieser Thatsache, — die nun einmal ebenso unabänderlich feststeht, wie so viele andere große Ereignisse, vor denen wir uns beugen müssen — die unmittelbare und unabwendbare Folge dieser Spaltung der frü­ heren einheitlichen Religionsgemeinschaft ist eben die gewesen, daß sich in Deutschland zwei Macht-Schwerpunkte bildeten, nach denen die einzelnen Territorien und Stämme, je nach ihrer verschiedenen konfessionellen Gestaltung, hin gravitirten. Diese Thatsache ist es, die Deutschland erst zur Schwächung, dann zur Lähmung, schließlich zur Auf­ lösung geführt hat. Aus dieser Thatsache sind die zahlreichen Gegensätze und Anti­ pathien erwachsen, die, genährt durch vielfache Mißverständnisse und Vorurtheile auf beiden Seiten, schließlich bis zur Entfremdung geführt und selbst das Bewußtsein natio­ naler Zusammengehörigkeit so weit gelähmt haben, daß unsere neuen Historiker gar keinen Anklagepunkt mehr darin finden, daß zu Ende des vorigen Jahrhunderts deut­ sche Fürsten und deutsche Stämme gegen einander standen, als wäre eine deutsche Na­ tion und ein deutsches Reich gar nicht mehr vorhanden! Ja, m. H., die Thatsache ist wahr, es ist durch diese Verhältnisse allmälig eine Entfremdung in die deutschen Stärnnu selbst eingedrungen, und es wird sich und muß sich darum handeln, diese Entfremdung zu lösen und diejenige volle, bewußte Einheit überall zurückzuführen, wie es in Preußen meiner Ueberzeugung nach — ich glaube darüber besser als viele Andere Zeugniß geben

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zu sönnen — in der That der Fall ist. — Und, m. H., wenn das nun wirklich eine richtige Anschauung der Dinge ist, und wenn Sie es nicht bestreiten werden, daß die von mir beantragten Artikel einen erheblichen und entscheidenden Einfluß auf die Lö­ sung dieser Frage üben müssen, dann werden Sie sich doch auch sagen, daß nichts so geeignet ist, die preußische Führerschaft, die Hegemonie Preußens innerhalb des neuen deutschen Reiches rasch und sicher zur allgemein befriedigenden Anerkennung zu bringen, als die Annahme dieser Verfassungsartikel. Die Thatsache der Glaubensspaltung können wir nicht ungeschehen machen; wir können aber die politischen Schädlichkeiten, die daraus erwachsen, überwinden. (Br.!) Das ist der Zweck meines Antrages. Zch stelle Ihrem Ermessen anheim, ob Sie den Zweck für gerechtfertigt und das Mittel zur Erreichung des Zweckes für geeignet hallen. (Br.!) Abg. Dr. von Treitschke: M. H., ich denke die Aufmerksamkeit des bereits ermüdeten hohen Hauses nur auf kurze Zeit in Anspruch zu nehmen. Ich glaube einer großen Zahl der neu in das Haus eingetretenen Mitglieder aus der Seele zu sprechen, wenn ich sage, wir sind nicht gefaßt gewesen auf solche Debatten, wie wir sie vorgestern und heute im Hause erlebt haben. Sie mußten uns Neulingen im parlamentarischen Leben wohl einige jugendliche Gefühle zu Gute halten, uns ging noch durch Herz und Sinn die Erinnerung an die gewaltigen Kämpfe der letzten Monate, uns lebte in Ge­ danken, was uns Deutsche eint, nicht die Erinnerung an die alten Parteikämpfe, die uns trennten; wir kamen hierher in der bescheidenen Hoffnung, in dem hohen Hause hier durch einige Wochen mindestens etwas nachklingen zu hören von dem schönen Geiste des Einmuths, der in den letzten Monaten unser Vaterland erhoben hat über alle an­ deren Völker. Diese Hoffnung, m. H., ist getäuscht worden. Em Theil des deutschen Volkes hier im Hause hat es vorgezogen, eine secessio in moniern sacrum, einen Aus­ zug auf den heiligen Berg zu halten, gleich beim Beginn unserer Verhandlungen bei der Antwort auf die Anrede unseres Kaisers eine Sonderstellung einzunehmen. Und nun sind wir beschäftigt worden durch Streitfragen über Staaten, deren Tage gewesen sind. Wir haben hier im Beginne des deutschen Parlamentes geredet von dem Reiche des Papstkönigs, heut von dem Reiche der Republik Polen und dem Reiche des Welsen­ königs, während ich gehofft hatte, wir würden, da wir jetzt festen Boden unter unseren Füßen fühlen, vorwärts schreiten und freudig in die Zukunft blicken. Zch kann nicht leugnen, so liberal und freisinnig der Antrag des Herrn Abg. Neichensperger und seiner Freunde klingt, auch dieser Antrag gemahnt mich mehr an die Vergangenheit, die hinter uns liegt, als an die großen Tage, die für Deutschland kommen sollen, er gemahnt mich, um es kurz zu sagen, an die Epoche vor 23 Jahren, an das Jahr 1848, da wir in der Politik noch die Kinderschuhe trugen. Damals, m. H., war es an der Zeit, sich darüber zu streiten, ob es möglich fei, die welthistorischen Fragen über das Verhältniß von Staat und Kirche, an denen die Jahrhunderte sich abgerungen haben, zu lösen mit einem Satze von 4 Zeilen. Wenn man damals in der preußischen Na­ tionalversammlung glaubte, so hochwichtige, ernste Dinge so leichtfertig, so kurzerhand lösen zu können, so kann ich das historisch verstehen; daß uns heut dieser selbe Versuch wieder geboten wird, das übertraf meine kühnsten Erwartungen. Es hat, m. H., zwischen allen Parteien fast im Hause ein stilles Einverständniß bestanden, wie es Herr Lasker vorhin so treffend ausdrückte, endlich einmal Deutschland zur Ruhe kommen zu lassen, endlich einmal die Verträge, die geschlossen worden sind unter so schwerer Selbstüberwindung aller Parteien, als eine gegebene Thatsache gelten zu lassen. Wir haben Alle, m. H., ein schweres Opfer bringen müssen. Ich persönlich kann nicht bergen, es ist mir sehr schwer geworden, mich zu entschließen, den Art. 78 dieser Bundesverfassung, der die Entwickelung unserer Zukunft so sehr erschwert, als eine Thatsache hinzunehmen. Aehnliche Opfer der Ueberzeugung hat fast Jeder hier im Hause bringen müssen, und ich kann nur den Herren von der Fortschrittspartei, nament­ lich dem Herrn Schulze, den Dank meiner Freunde aussprechen für die offene Erklä­ rung, daß auch sie sich jetzt begnügen wollten mit einer rein formellen Berathung. ReichStagS-Repertorium. I.

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Jetzt aber ist von derselben Seite her, welche vorgestern sich vom Hause absonderte, uns dieser Grundrechtsantrag gestellt worden. Die Herren dort im Centrum pflegen sich zu beschweren, sie seien eine gedrückte Minderheit. Nun, m. H., wenn dies wahr ist, so muß ich wenigstens sagen, daß die Herren ihre gedrückte Stellung mit einem sehr geringen Maße von christlicher Geduld ertragen. (Gr. H.) Schon zum zweiten Male versuchen sie eine Sonderstellung hier im Hause einzunehmen. Lassen Sie mich, m. H., soweit es die Kürze der Zeit erlaubt, auf den Inhalt des Antrages der Herren Reichensperger u. Gen. eingehen. Da bin ich, obgleich ich nicht zu den Verehrern der Grundrechte gehöre, doch vollständig der Meinung des Herrn Schulze. Wenn Herr Reichensperger und seine Freunde uns diese armen 6 Ar­ tikel als die Grundrechte der deutschen Nation ausgeben, dann bieten sie der Nation einen Stein anstatt des Brotes. (L. Z.) — Ist das, m. H., die magna Charta der deutschen Nation, sind das die „Rechte der Deutschheit", von denen der Freiherr von Stein auf dem Wiener Kongresse gesprochen hat? Selbst in der Frankfurter Bundes­ verfassung war von den wirklichen Grundrechten der deutschen Nation noch etwas mehr die Rede, als in diesen sechs Artikeln. Warum haben Sie aus den Grundrechten der preußischen Verfassung gerade diese wenigen herausgesucht? Warum fehlt in Ihren Grundrechten ein Artikel, der mir mindestens sehr am Herzen liegt? warum haben Sie nicht beantragt: die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei!? — (L. B.) Ein Grundsatz, der namentlich in die Fakultäten der katholischen Theologie eingesührt von großem Segen sein würde. — Warum haben Sie nicht beantragt jenen Artikel der preußischen Ver­ fassung, welcher bestimmt, daß die Civilehe bestehen soll? — (L. B.) Es ist das eine ganz willkürliche, nach einem System, dessen Gründe ich nicht kenne, getroffene Auswahl aus den Grundrechten der preußischen Verfassung. Nun freilich haben die Herren in den Motiven ihres Antrages die Gründe angegeben, welche sie gerade zur Auswahl dieser Grundrechte bewogen haben. Sie sagen: da Nr. 16 des Artikels 4 der Neichsverfassung die Angelegenheiten der Presse und der Vereine der Bundesgesetzgebung unterstellt, so liegt die Gefahr vor, daß die Presse und die Vereine bedingungslos der Reichsgewalt hingegeben werden. Nun, m. H., ich glaube, so schwarz­ sichtig werden wenige hier im Hause sein. Ich meine, es giebt sehr handgreifliche Bürg­ schaften dafür, daß Kaiser und Reich ihre Gewalt gegen Presse und Vereine nicht miß­ brauchen. Mustern Sie doch, m. H., die Vertreter des hohen Bundesraths uns hier gegenüber. Sie finden da von dem Vertreter des Großherzogthums Baden bis herüber zu dem Vertreter des Fürstenthums Reuß — ich weiß nicht, welcher Linie — so ziem­ lich jede Schattirung des Liberalismus und des Nichtliberalismus vertreten. Sollte es so leicht sein, eine so vielköpfige Versammlung von 25 verschiedenen Staaten zu Gewalt­ streichen gegen die Rechte der deutschen Nation zu mißbrauchen? Es ist ja kein Fürst Metternich mehr unter uns, der uns sagen könnte, eine im Dunkeln schleichende Partei bedrohe die Sicherheit der Throne. Wir haben in diesem Kriege, Fürsten und Stämme, einträchtig zusammengestanden. Jede deutsche Dynastie hat, wie jeder Einzelne unter uns, ein Interesse daran, die Erinnerung an diesen Krieg heilig zu halten. Es wird keiner Macht der Welt gelingen, wieder ein Mißtrauen der Throne gegen die Völker Deutschlands zu erregen. Und wenn Ihnen die Bürgschaft, die in der mannichsaltigen Zusammensetzung des Bundesrathes liegt, nicht genügt, so kenne ich eine andere, die liegt, m. H-, in uns selber, sie liegt in dem Dasein des deutschen Reichstages. (S. r.!) Es ist uns namentlich von dem Abg. von Ketteler vorgeworfen worden, wir seien allzu stolz, wir sprächen allzu zuversichtlich von der Zukunft des deutschen Reiches. Ich aber erlaube mir ihm zu antworten, warum wir ohne Ueberhebung glauben, daß heute das deutsche Reich auf festerer Grundlage steht als je zuvor in der Geschichte. Der Grund liegt nicht blos in der Macht des neuen deutschen Reiches, obgleich ich auch diese nicht geringschätzen möchte. Es ist doch kein Kleines, daß der Deutsche heut in allen Welttheilen sein Haupt stolz und kühn empörheben kann unter den anderen Völkern. Aber nicht auf diese Macht gründet sich unsere Zuversicht, sondern auf die Thatsache, daß der Kaiser des deutschen Reiches umgeben ist von einer Vertretung der Nation.

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Wann hat diese jemals in der gesummten deutschen Vorzeit bestanden? Denken Sie der vergangenen Jahrhunderte! Die deutsche Nation war vollständig mediatisirt: nur den Unmittelbaren des Reiches, den Fürsten und den Magistraten der freien Reichs­ städte war es gestattet, mitzureden über die Angelegenheiten unseres Volkes. Zn der guten alten Zeit würde allerdings der Bischof von Mainz auch auf einem Reichstage Deutschlands vertreten gewesen sein; er würde erschienen sein selber oder vertreten durch einen seiner Minister. Zetzt sind andere und, wie ich meine, bessere Tage gekommen. Wir haben die Freude, den Bischof von Mainz unter uns zu sehen als den erwählten Vertreter der deutschen Nation, und darin, meine ich, liegt ein ungeheurer Fortschritt. (H. u. Br.) Zn dem deutschen Reichstage, in dem Dasein einer populären Kraft, deren Be­ schlüsse Kaiser und Reich gar nicht in den Wind schlagen können, liegt die Sicherheit, soweit Menschenmacht reicht, daß eine Knebelung und Mißhandlung der Vereine und der Presse auf deutschem Boden niemals stattfinden kann. Und, m. H., wenn Sie alle diese Bürgschaften noch für zu schwach halten, welche Garantien gewähren Zhnen denn die von den Herren Abg. Reichensperger u. Gen. aufgestellten Grundrechte?! Zch kann in diesen Grundrechten, soweit fie Presse und Vereine angehen, durchaus nichts Anderes finden als dasselbe, was in der Reichsverfassung bereits enthalten ist. Was steht denn im Arükel 4 Nr. 16 der Verfassung? Es steht darin: der Beaufsichtigung seitens des Reichs und der Gesetzgebung desselben unterliegen die Besttmmungen über die Presse und das Vereinswesen. Das will sagen: die Preßfreiheit und ihre gesetzlichen Schranken werden später durch Reichsgesetze geordnet werden, desgleichen wie die Vereinsfreiheit und deren gesetzliche Schranken. Also genau dasselbe, was in den Grundrechten der Herren Reichensperger u. Gen. enthalten ist. Nur einen einzigen positiven Satz haben diese Herren hinzugefügt, und diese große, tiefsinnige Wahrheit, die man im Zahre des Heils 1871 uns als etwas Neues zu bieten wagt, sie,lautet, daß die Censur im deutschen Reiche niemals wieder eingeführt werden solle. Nun, m. H., mit demselben Rechte und mit demselben Aufwand von Tiefsinn könnten Sie den Satz aufstellen, daß die Folter im deutschen Reiche niemals wieder eingeführt werden dürfe. Zch glaube, es lohnt der Mühe nicht, daß man über solche Trivialitäten noch Worte verliert. Zch will das für den Politiker bekanntlich nicht zulässige Wort „unmöglich" hier gebrauchen und sage: eine Wiedereinführung der Censur in dem deutschen Reiche ist unmöglich! Außer diesem Satze haben aber die Herren Reichensperger u. Gen. in ihren Grund­ rechten für Presse und Vereine gar nichts gesagt, als eine Anweisung auf die Zukunft gegeben, worin erklärt wird, die Reichsgesetzgebung werde sich damit befassen. Nach alledem glaube ich den Herren Antragstellern nicht Unrecht zu thun, wenn ich meine, daß Presse und Vereine nur ein angenehmes Beiwerk bei ihrem Anträge sind, die eigentliche Absicht aber auf die Kirche und deren Selbstständigkeit gerichtet ist. Ich er­ laube mir zunächst die Frage an die Vertteter der alten Machtstellung der katholischen Kirche zu richten, nach welcher Logik man die katholische Kirche unter den einfachen Be­ griff der Vereine in unserm heutigen Staate bringen kann? Wollten die Herren offen und konsequent verfahren, so mußten sie beanttagen, man solle in dem Artikel 4 der Verfassung noch eine Nr. 17 hinzusetzen, dahin lautend, daß auch die Angelegenheiten der Kirche vor das Forum des Reichs unter die Kompetenz seiner gesetzgebenden Gewalt gehören. Die Herren haben jedoch vorgezogen, diesen so einfachen Weg nicht zu gehen, sie suchen eine Kompetenzerweiterung der Reichsgewalt, wofür nach meiner Meinung die Dinge noch nicht reif sind, einzuführen — ich kann nicht anders sagen — durch eine Hinterthür. Dies schon, m. H., stimmt mich bedenklich; und betrachte ich weiter den Znhalt jener kirchlichen Grundrechte, so muß ich sagen, wenn jene Grundrechte für die Presse und die Vereine überflüssig und unnütz waren, so erscheinen mir die allge­ meinen Bestimmungen über die Selbstständigkeit der Kirche hoch bedenklich als eine Ge­ fahr,^ den konfessionellen Frieden, namentlich in den kleineren deutschen Staaten. Zch kann nicht leugnen, m. H., ich weiche in dieser Frage etwas ab von meinen nächsten politischen Freunden, ich stehe in diesem Punkte den Ansichten der Herren vom 11*

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Centrum näher als mancher meiner Genossen. Zch sehe in dem Maße der Freiheit, welche der katholischen Kirche in Preußen thatsächlich zusteht, durchaus keine Gefahr; wohl aber eine Gefahr, und eine sehr große, in der Unsicherheit des Staats-Kirchenrechtes in Preußen. Wir haben jetzt seit zwanzig Zähren Tag für Tag und Monat für Monat gesehen, was es Heißt, die wichtige Grenzfrage zwischen Staat und Kirche durch die unbestimmte Erklärung: die Kirche ordnet ihre Angelegenheiten selbstständig, schlichten zu wollen. Dies hat dahin geführt, daß es in Preußen zahllose Kontroversen des Staats-Kirchenrechts giebt, über deren rechtliche Lösung noch heute die kundigsten Männer im Dunkeln tappen. Und meinen Sie nun, wir sollen diese ganz unklaren Verhältnisse der katholischen Kirche in Preußen einführen, in das übrige Deutschland sie einführen in einem Augenblick, wo durch die katholische Kirche selber eine Bewegung geht, deren letztes Ende Niemand von uns abzusehen vermag? Ich wenigstens denke zu hoch von dem Werth und der Bedeutung der römischen Kirche, ich habe einen zu stolzen Begriff von dem Einfluß, den sie ausübt auf einen großen und guten Theil unseres Volkes, als daß ich es verantworten möchte, so große und folgenreiche Dinge hier so nebenbei in einer beiläufigen Berathung eines Paragraphen von einigen Zeilen abzuthun. Für Preußen, sagen die Herren ja selbst, soll dadurch Nichts geändert werden, es soll also nur in den kleineren deutschen Staaten eine Aenderung entstehen. Zch frage, welche Aenderung? Zn dem Artikel der Reichsverfassung steht: den Landesgesetzen gehen die Reichsgesetze vor. Führen Sie nun die Grundrechte ein, worin kurz und kahl geschrieben steht: die katholische Kirche ordnet ihre Angelegenheiten selbstständig, so kann in jedem der kleineren deutschen Staaten mit einem Schein des Rechtes der Bischof auftreten und behaupten, wenn er das bestehende Landesgesetz mit Füßen tritt und sich nicht daran bindet, so sei er kraft des Reichsgesetzes in seinem Rechte. Das ist eine Gefahr, deren Eintreten durch sehr harte Erfahrungen namentlich im Großherzogthum Baden sehr nahe gelegt ist. Denken Sie daran, m. H., daß eine ganze Reihe von Verfassungen kleinerer deutscher Länder in einem einseitigen protestantischen Geiste geschrieben sind; es giebt Landesverfassungen, welche die Gründung von Klöstern und von geistlichen Orden verbieten oder aufs Aeußerste erschweren. Ich bin ganz der Meinung, daß solche Verfassungsbestimmungen früher oder später bei freien Völkern fallen müssen; ich bin aber nicht der Meinung, daß nun morgen jeder beliebige Bischof auftreten kann und, gestützt auf diesen allgemeinen Satz der Reichsverfassung, Klöster bauen kann gegen die Verfassung seines Landes. So ernste und schwierige Fragen sollen geordnet werden durch eine wohldurchdachte, sorgsam überlegte Gesetzgebung, nicht durch Schläge gleichsam aus dem Dunkel heraus. Es wird gewiß die Zeit kommen, wo die Kompetenz des Reiches sich erweitert, und auch die Kirchenangelegenheiten unter die Aufsicht des Reiches gestellt werden; dann aber werden Kaiser und Reich ruhig und sorgsam zu Rathe gehen und die Erfahrungen in Preußen und anderen deutschen Staaten weise benutzen. Sie wissen, m. H., es ist mir immer eine Freude, wenn ich von den Verdiensten Preußens sprechen kann; diesmal bin ich aber leider nicht in der Lage, das Lob, das der Herr Abg. Reichensperger ausgesprochen hat, nachzusprechen. Zch kann ein welt­ historisches Verdienst in der preußischen Gesetzgebung von 1848 nicht sehen; ich sehe darin nur ein Zeichen der damals herrschenden dilettantischen politischen Bildung. Ganz verschiedene Elemente wirkten zusammen, auf der einen Seite der Radikalismus, der da glaubt, daß man nach amerikanischer Weise die Kirche wie einen Schachklub, wie einen Privatverein behandeln könne, auf der anderen Seite jene klerikalen Bestrebungen, welche nach belgischer Art die Kirche zugleich privilegiren und vollkommen gleichberechtigt neben den Staat stellen wollen. So ganz verschiedene, unklare Tendenzen wirkten zusammen und haben so jenen kahlen Artikel 15 der preußischen Verfassung geschaffen. Zch glaube aber, wir haben jetzt zwei Zahrzehnte politischer Erfahrung seit dem Erlaß der Ver­ fassung und wollen beherzigen, was wir in jener Zeit gelernt haben. Ich bitte Sie, m. H., um des konfessionellen Friedens willen, geben Sie nicht einem beliebigen deut­ schen Landesbischof die Möglichkeit, gegen seine Landesregierung den Rebellen zu spielen. (M. im C.) — Zch sage mit Absicht dieses starke Wort; denn es würden Kontroversen

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entstehen, die sich gar nicht lösen lassen. Jeder Bischof könnte, auf den Artikel von der Selbstständigkeit der Kirche gestützt, den bestehenden Landesgesetzen geradezu ins Gesicht schlagen. Auf solche Experimente soll es Niemand ankommen lassen, der ein Herz hat für die Hoheit und den großen Gesittungsberuf der katholischen wie der evan­ gelischen Kirche. Ich sage Ihnen, m. H., ich komme aus dem Süden Deutschlands und weiß, wie es gewirkt hat, daß die herrschsüchtigen Bestrebungen eines Theils der katholischen Geistlichkeit von der Masse des Volks mit dem Wesen der katholischen Kirche selber verwechselt wurden. (S. w.) — Es giebt unter den süddeutschen Katholiken nur zu viele wackere Leute, welche meinen, daß der Kirchenhaß eine freie politische Ge­ sinnung ausmacht. Lassen wir es nicht dahin kommen, daß diese Gesinnungen, die jetzt in Belgien vorherrschen, auch auf deutschem Boden allgemein werden. Geben Sie nicht der katholischen Kirche gefährliche Rechte, welche ihr schließlich selbst zum Verderben ausfchlagen müssen. Und nun, m. H., noch ein letztes Wort über die Weise, wie wir diesen Antrag beseitigen wollen. Ich setze als selbstverständlich voraus, daß mit Ausnahme der Herren Antragsteller und ihrer nächsten Freunde alle Parteien des Hauses in der Verwerfung des Antrages einig sein werden. Es kommt mir hier nicht auf die Form an; ich werde für jede Weise der Ablehnung stimmen, von der man voraussehen kann, daß sie das gesammte Haus für sich gewinnt. Es ist jetzt schon motivirt worden und wird später noch motivirt werden, warum wir diese Grundrechte so nicht annehmen wollen; wir haben also nicht nöthig, durch eine motivirte Tagesordnung dies der Nation noch einmal zu verkünden. Vor Allem Sie, m. H., von der Fortschrittspartei bitte ich dringend, bei dem Entschluß zu bleiben, den der Herr Abg. Schulze früher ausgesprochen hat; fürchten Sie nicht, daß Ihre demokratischen Wähler diesen Ihren Entschluß je verkennen könnten. Die deutsche Nation ist klar und rechtschaffen genug, um zu begreifen, daß diese sechs armen Artikel nicht Grundrechte sind, sondern ein Versuch, auf einem Seiten­ wege der katholischen Kirche eine selbstständige Stellung dem Staate gegenüber zu ver­ schaffen, und darum werden Ihre demokratischen Wähler Ihnen nicht mißtrauen, wenn Sie mit uns zusammenstimmen zu der gänzlichen Verwerfung des Antrages. Nach meiner Meinung sollten wir einfach den Antrag ablehnen ohne Motivirung und die Begründung den Anderen überlassen. Wie aber auch die Motivirungen ausfallen, materiell oder formell, oder ob wir eine einfache Tagesordnung beschließen, lassen Sie uns einig sein, lassen Sie uns der Nation zeigen, daß wir nicht nach der Weise der Herren im Cen­ trum das erste deutsche Parlament beschäftigen wollen mit Fragen, die vor 23 Jahren schon abgethan sind, sondern lassen Sie uns an die ernste Arbeit gehen. Blicken wir nicht in die Vergangenheit, sondern in die Zukunft, auf die Ausgaben positiver Gesetz­ gebung, welche jetzt mit ihren trockenen, ernsten Details an uns herantreten und für deutsche Männer ein würdigerer Gegenstand der Arbeit sein werden, als die im All­ gemeinen niemals lösbaren Streitfragen über die Grenzen von Staat und Kirche. (L. Br. von allen Seiten.)

Fortsetzung am 3. April.

Abg. Freiherr von Ketteler (Baden): Ich werde nicht auf den Ton eingehen, m. H., und in denselben einstimmen, den der Herr Abg. Treitschke bei Beginn dieser Debatte angesümmt hat. Er hat Sie gebeten, keinen Gesetzen Ihre Zustimmung zu geben, die den Bischöfen Veranlassung sein könnten, Rebellen an den Landesgesetzen zu werden. Ich will Ihnen, m. H., ein Mittel angeben, wodurch Sie diese Gefahr ein für alle Mal vermeiden werden; obwohl dies bei Ihrem Billigkeitsgefühl überhaupt nicht zu befürchten ist: geben Sie niemals Zustimmung zu Gesetzen, welche Rebellen gegen Gottes Gesetz sind. Dann werden auch wir gewiß niemals Rebellen gegen Landes­ gesetze sein, (Ruf: Sie wollen es also doch!) sondern uns bemühen, mit allen'treuen Söhnen des Vaterlandes zu wetteifern in treuer Erfüllung der Landesgesetze. — Er hat Sie ferner gebeten, der Selbstständigkeit und Selbstverwaltung der christlichen Kon-

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fessionen deshalb Ihre Beistimmung nicht zu geben, damit nicht etwa die Selbstständigkeit von den Bischöfen als Vorwand benutzt werden könnte, sich über Landesgesetze hinaus­ zusetzen. Aber, m. H., dieser Vorwand, der trifft ja eigentlich alle Gesetze, welche die Freiheit garantiren. Möglichist überall der Mißbrauch der Freiheit, Sie müßten denn von dem Gedanken ausgehen, der Ihnen gewiß fern liegt, daß die Bischöfe allein in der Gefahr oder inder Möglichkeit sich befinden, Freiheiten zu mißbrauchen. Derselbe Grund läßt sich ja gegen alle anderen Freiheiten anwenden: die Preßfreiheit, die Vereinsfreiheit, alle Freiheiten lassen sich mißbrauchen. Deshalb halte ich auch diesen Einwand für gänzlich unbegründet. Ich nehme bei dieser Debatte vielmehr einen höheren Standpunkt ein, einen Stand­ punkt, von dem ich glaube, daß Alle ihm zustimmen müssen, die Gerechtigkeit und Frei­ heit lieben und die aufrichtig darauf verzichten, durch Staatsgesetze nur ihre Meinungen zur Durchführung zu bringen. Wenn ich nicht diese Ueberzeugung hätte, daß es einen solchen Standpunkt der Gerechtigkeit giebt, der uns vereinigen kann, würde ich nicht das Wort vor Ihnen ergreifen: wenn ich nicht die Ueberzeugung hätte, daß auch die Fraktion, der ich angehöre, diesen Standpunkt der höheren Gerechtigkeit gegen Alle ein­ nimmt, würde ich nicht zu dieser Fraktion gehören. Ich werde kein Wort aussprechen, welches ich nicht grade so in vollem Maße auch für die Protestanten und für alle Kon­ fessionen, welche zu Recht bestehen, gelten lasse. Von diesem Standpunkt aus, m. H., gehe ich nun mehr zu dem Einzelnen über, und, wie Sie wahrscheinlich erwarten werden, namentlich zu dem Anträge, den Art. 15 der preußischen Verfassung in die Reichsgesetzgebung auszunehmen. — Wir wollen, m. H., das Werk vollenden, das unsere Kriegsheere auf den Schlachtfeldern begonnen haben. Früher gab es auch im Endziel eigentlich in Deutschland keine Parteien, nämlich in dem Verlangen nach einer großen nationalen Einheit; nur über die Wege zu diesem Ziele gab es verschiedene Parteien. Sie sind alle jetzt verschwunden. Wir wollen Alle wett­ eifern in der Treue gegen unseren Kaiser und uns bemühen, an dem Aufbau eines einigen, großen, mächtigen, herrlichen Deutschlands mitzuwirken. Das ist auch insbe­ sondere die Aufgabe des Reichstages. Wenn aber dieser Aufbau gelingen soll, so muß er vor Allem fortgeführt werden in demselben Geiste, in dem ihn unser Kaiser und

Herr begonnen haben. Der Kaiser selbst hat bei jeder Gelegenheit Gott die Ehre ge­ geben, und auch noch in den eben verlesenen Worten, mit denen er die Adresse des Reichstages entgegen genommen hat, spricht sich so schön wieder diese Gesinnung aus. Ebenso war unser ganzes Heer ein von gottesfürchtiger Gesinnung durchdrungenes und erfülltes Heer, gewiß im Gegensatz zu dem französischen Heere. — Ich rede nicht von den Einzelnen, über die richte ich nicht; aber der ganze Geist des französischen Heeres ist nicht in dem Maße ein Geist der Gottesfurcht und der christlichen Gesinnung, wie es im deutschen Heere der Fall ist, welches unmittelbar aus dem Volke hervor­ gegangen ist, während das französische Heer ja eigentlich vom Volke fast ganz getrennt ist. Dieser Geist muß nun auch in irgend einer Weise, so scheint es mir, einen Ausdruck in unserem Verfassungswerke finden; auch die Verfassung muß der Achtung vor der Religion und vor der religiösen Ueberzeugung des deutschen Volkes in irgend einer Weise Ausdruck geben. Dazu bietet Ihnen die Annahme unseres Antrages eine Ge­ legenheit. Wenn jener Aufbau gelingen soll, dann müssen wir zweitens, soviel an uns liegt, —- und das ist der Gedanke, den auch schon der Abg. Reichensperger neulich aus­ gesprochen hat — die religiösen Kämpfe von dem politischen Boden ausschließen und für das öffentliche und politische Treiben die religiöse Versöhnung anbahnen. (H.! H.!) Ich betrachte deshalb auch in dieser Hinsicht unseren Antrag als eine rna^na Charta des Religionsfriedens in Deutschland, soweit er in unseren Händen liegt. Damit sind die Gegensätze nicht verwischt auf dogmatischem Gebiete, aber damit sind diese Gegensätze ausgewiesen aus den politischen Versammlungen. Dieser Religionsfriede ist nicht da­ durch zu erzielen, wie manche glauben, daß wir die bürgerliche Gesellschaft von der Religion trennen. Auch nicht dadurch, wie es Andere glauben, daß man die bekämpft, welche an einem christlichen Bekenntniß treu festhalten. Dieser wahre, festbegründete

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Religionsfrieden ist vielmehr nur dadurch zu erlangen, daß wir den verschiedenen reli­ giösen Ansichten und den berechtigten Bekenntnissen volle Parität gewähren; dem einen Bekenntniß wie dem anderen. (H.! H.! l.) — Dieser Parität aber giebt unser Antrag den rechten Ausdruck. Dieser Standpunkt, den ich eben entwickelt habe, m. H., ist allein der Standpunkt der vollen Gerechtigkeit. Zur Gerechtigkeit gehört, daß wir Jedem sein Recht geben; das thut unser Antrag. Er ist gerecht denen, die das Christenthum in den alten Be­ kenntnissen bekennen; er gewährt Toleranz denen, die glauben — was ich freilich für unmöglich halte — einem Christenthum ohne alles Bekenntniß anhängen zu können; er ist gerecht auch den nichtchristlichen Konfessionen. Unsere Forderung ist die Forderung der Gerechtigkeit gegen Alle, ohne Nebengedanken und ohne Hintergedanken. — Unser Standpunkt ist ferner, wie ich glaube, aud) zugleich allein der Standpunkt der wahren Religionsfreiheit vor den bürgerlichen Gesetzen, wie sie uns durch dieselben gewährt ist. Es ist eine gar große Täuschung, auf der einen Seite von Religionsfreiheit zu reden, wie uns die Verfassungen sie gewähren, und auf der anderen Seite sie lediglich auf die Gesinnung des Individuums beschränken zu wollen. Das ist mehr Gedankenfreiheit als Religionsfreiheit. (S. w.! im C.) Zur Religionsfreiheit gehört nothwendig eine Genossenschaft; wir nennen sie Kirche; aber das Wesen der Kirche ist ja wieder das Genossenschaftliche. Zur Religionsfreiheit gehört das Recht und die Freiheit, mit den Gesinnungs- und Glaubensgenossen in einem Bekenntniß zusammen zu sein, sich nach demselben frei zu bewegen und die eigenen Angelegenheiten selbst zu verwalten. Diese wahre Gewissensfreiheit fordern wir auch für die christlichen Bekenntnisse, die gewiß die allerberechtigtsten dazu sind. Darum fordern wir für sie das Recht der Selbstbewegung, der Selbstbestimmung, der Selbstverwaltung; immer selbstverständlich in'dem Rahmen der allgemeinen Gesetze, nicht außer diesem Rahmen der allgemeinen Gesetze. Wir be­ haupten mit dieser Selbstständigkeit in keiner Weise, daß wir uns über die Gesetze hin­ aussetzen dürften, wir bestreiten nicht, daß wir ihnen Gehorsam schuldig sind, wir maßen uns nicht das Recht an, nun alles uns Beliebige willkürlich in den Kreis der Selbst­ verwaltung und Selbstständigkeit hineinziehen zu dürfen. Es kommt eben für eine be­ sonnene und kluge Gesetzgebung darauf an, hier an der Hand der realen Verhältnisse die rechten Grenzen zu finden. Es ist aber, um unseren Antrag richtig aufzufassen, vor allem nothwendig, dies im Auge zu behalten, daß wir nämlich die Selbstständigkeit nur fordern im Rahmen der allgemeinen Gesetzgebung, und daß wir nur die Spezial­ gesetzgebung, die vorbeugende Gesetzgebung, die Ausnahmsgesetzgebung für Religion und religiöse Genossenschaften bekämpfen. (S. gut! Br.! von den Bänken der bayerischen Abgeordneten rechts.) — Die Einwendungen gegen unseren Antrag scheinen mir dagegen alle unhaltbar zu sein und das Prinzip der wahren Selbstständigkeit, der wahren Frei­ heit, wie es auf allen andern Gebieten anerkannt wird, zu verletzen. Darauf bitte ich Sie, m. H., bei der Diskussion besonders zu merken. Alles, was man gegen unsere Forderung sagen kann, widerspricht der wahren Freiheit, der wahren Selbstständigkeit, wie sie auf allen andern Gebieten des Staatslebens anerkannt wird. Der Abg. Dr. Treitschke hat Ihnen namentlich gesagt — und darin bin ich nun absolut der entgegengesetzten Meinung —, daß diese Verfassungsbestimmungen der preu­ ßischen Verfassung gewissermaßen der Kinderzeit des freiheitlichen Lebens angehörten, und daß die Absicht, zu der er sich bekennt, ein Fortschritt zu einer wichtigeren und besseren Freiheitserkenntniß sei. Dagegen muß ich mich aber doch im Namen aller der Männer, die im Jahre 1848 und im Jahre 1850 und später so lange in dem preu­ ßischen Landtage diese Grundsätze als ein überaus werthvolles Gut vertreten haben, verwahren. Mir scheint das Gegentheil der Fall zu sein, mir scheinen die Ansichten des Abg. von Treitschke nicht ein Fortschritt in der Entwickelung der Freiheit zu sein, sondern geradezu ein Rückschritt zu den alten Grundsätzen des Staats-Kirchenrechtes, denen wir entgehen müssen, wenn wir den religiösen Frieden im politischen Leben haben wollen. (S. richtig! Br.! von den bayerischen Abgeordneten rechts.) Um diesen Gegensatz klar zu machen, m. H., erlaube ich mir auf einen merk-

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würdigen Vorfall hinzudeuten, der in diesen Tagen in Berlin stattgefunden hat und der mir eigentlich die Seele jener Richtung zu sein scheint, soweit ich sie richtig auf­ zufassen im Stande bin. Zn einer Versammlung des Protestantenvereins hat der Abg. Prediger Müller in längerer Ausführung zu rechtfertigen gesucht die Ablehnung der hessischen Kirchenverfassung und seine Gründe dafür vorgebracht. Bei dieser Gelegenheit hat er nach dem Bericht der Berliner Zeitungen unter Anderem gesagt, die Regierung habe die hessische Kirchenvorlage gemacht mit absoluter Anerkennung des landesherrlichen Kirchenregiments. Zu einer solchen dürfte man sich jedoch nicht hergeben. Der Unions­ verein müsse nach wie vor die Beseitigung des landesherrlichen Kirchenregimrnts drin­ gend verlangen. Dagegen ist nun der Herr Professor Bluntschli, der Kollege — so viel ich weiß — unseres Herrn Abg. Dr. Treitschke, aufgestanden, und die Worte, die er da gesprochen hat, bezeichnen ganz genau den Gegensatz, welchen wir vor Augen haben müssen, wenn wir die Kontroverse, welche uns beschäftigt, recht auf ihre Grund­ gedanken zurückführen wollen. Der Professor Bluntschli war nicht der Meinung; er tadelte das Vorgehen der Gesinnungsgenossen des Abg. Prediger Müller in Ablehnung der hessischen Kirchenverfassung. Welche Gründe hatte er dafür? — folgende: Das landesherrliche Kirchenregiment zu beseitigen, sei eine politische Unmöglichkeit. Ich wieder­ hole: eine politische Unmöglichkeit! Ferner: von ihm seien alle Reformen, wie die Kirchen­ geschichte lehre, ausgegangen. Zch hüte mich wohl, zu untersuchen, inwieweit das be­ hauptet werden darf; Herr Professor Bluntschli hat es aber gesagt. Zn Baden zumal habe der Großherzog sehr viel für die Kirchenreform gethan. Die Konsistorien seien ein Generalstab, dem es an einem guten Gneralstabs-Chef mangele: sie brauchen einen Fürst Bismarck oder einen Graf Moltke. Die Prinzipienreitereien in Betreff der Aus­ führung des Artikels 15 gehören in die Schule, aber nicht in das politische Leben. Man müsse nehmen, was man bekommen könne. So weit Herr Bluntschli. — Das sind gefährliche Grundsätze. Ich glaube nicht, daß Männer der wahren Freiheit diesen Grundsätzen huldigen können. Ich glaube, daß das das Gegentheil von dem ist, was man im Jahre 1848 und im Jahre 1850 in den vorgelegten Verfassungsbestimmungen anerkannt hat. Ich glaube, daß diese Grundsätze ein Aufgeben, eine Art Verzweiflung an der wahren Freiheit sind. Sie gehen von dem Bestreben aus, von oben herab die Systeme, welche man sich nun einmal entworfen hat, einzuführen, weil man sie durch die wahre Freiheit nicht verwirklichen kann. Das bedeutet diese Zusammenstellung der Konsistorien mit einem Generalstab in Verbindung mit der Nennung solcher Namen, die dazu nothwendig wären, um die Ideen des Herrn Professor Bluntschli zur Aus­ führung zu bringen. Wollen Sie dies System annehmen oder es verwerfen? Das ist die Frage. Ich bitte Sie, wohl daraus zu achten. Hierüber müssen Sie sich entschei­ den. (S. w.!) — Wer glaubt, daß von jetzt an Deutschland bezüglich der Religion von Konsistorien geleitet werden müsse, in der Art, wie die Generalstäbe die Armee befehlen, und daß das im Interesse der Freiheit sei, habeat sibi! meine Meinung ist es wahrlich nicht. Und wer dagegen glaubt, daß auch diese Freiheit eine Freiheit des deutschen Volkes sein müsse, daß die Religion nicht von staatswegen regulirt wer­ den dürfe und daß namentlich auch das Volk, welches dem christlichen Bekenntnisse an­ hängt, das Recht hat, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, der muß, wie mir scheint, wenn er konsequent sein will, für unsern Anttag stimmen. Das, was der Herr Abg. Treitschke also für einen Fortschritt bettachtet auf dem Wege der Freiheit, das halte ich für den allerkolossalsten Rückschritt auf dem Wege der Freiheit; ich halte es für einen Akt der Desperation an den Grundsätzen der Freiheit. (S. w.! r.) — Der Herr Abg. Treitschke hat ferner gesagt, die Erfahrung habe ja ge­ lehrt, daß seit Erlaß dieser Verfassungsbestimmungen unzählige Streitigkeiten entstanden seien. Nichts ist unrichüger wie das. Es sind seitdem vielmehr — und dadurch haben sich die Verfassungsbestimmungen bewährt, dadurch hat sich bewährt, daß alle die Recht gehabt haben, die seit zwanzig Zähren im preußischen Abgeordnetenhause von der einen wie von der andern Seite, von der katholischen wie von der protestantischen Seite, für diese Verfassungsbestimmungen eingetreten sind — es sind ja seitdem die

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religiösen Streitigkeiten in Preußen fast ganz aus dem politischen Leben verschwunden. Die Kontroversen bleiben bestehen, m. H., sie werden auch in Zukunft bestehen bleiben, sie dürfen aber nicht in unserem Reichstage vorkommen, sie dürfen nicht in unserem öffentlichen Leben vorkommen, da müssen wir zusammen arbeiten auf den Grundlagen derselben Frecheit und derselben Gerechtigkeit. Darum erinnere ich mich noch immer mit Freuden, wie vor Zähren in einer Debatte ein früherer Zugendbekannter von mir, Georg von Vincke, als man eine religiöse Kontroverse einmischen wollte, mit großem Nachdruck dem Grundsatz Ausdruck gab, daß religiöse Debatten nicht in den Landtag gehörten. Zch glaube nicht, daß der Geist, aus dem diese Auffassung hervorgegangen ist, der Kinderzeit der Freiheit angehörte, sondern daß es Weisheitsgrundsätze rechten, echten Mannesalters waren, und ich glaube, daß es sich jetzt darum handle, ob diese alten, bewährten und darum seit 20 Zähren die religiöse Freiheit garantirenden Grund­ sätze auch auf Deutschland ausgedehnt werden sollen, oder ob man sogar in Preußen Rückschritte machen und auf ganz andere Systeme übergehen will, die uns in bodenlose Zerwürfnisse bringen. (Br.! r. u. im C.) Ich bitte Sie daher, m. verehrten H., neh­ men Sie unsere Anträge an! Sie werden dadurch, wie ich glaube, Deutschland ein großes Gut darbringen: den wahren religiösen Frieden, soweit er in unseren Händen liegt. Zch bitte auch, wenn Sie mir das noch gestatten wollen, in die Debatte doch nicht allerlei Nebendinge hineinzuziehen, sondern auf diese Hauptgrundsätze einzugehen. Der Reichstag hat nicht die Kompetenz, über religiöse Anschauungen zu entscheiden; mag unser konfessioneller Standpunkt Ihnen unangenehm sein oder nicht, darauf kommt es ja gar nicht an! Wir wollen zusammenleben in Frieden nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und wollen dann, Zeder aus seinem Gebiete, kämpfen für das, was wir für wahr annehmen. Wir erheben ja auch nicht den Anspruch, daß alle Zhre Grund­ sätze in religiöser Hinsicht uns gefallen müssen. Das ist ja gerade die Freiheit, daß man auch seinen Gegnern Freiheit läßt. — Wenn Sie, was ich nicht hoffe, in diese Debatte alle möglichen Dinge hineinziehen würden, worüber es verschiedene Ansichten giebt, welche von dem Einen so, von dem Andern so gedeutet werden, wenn Sie auf allerlei Gefahren hindeuten und durch willkürliche Interpretation katholischer Prinzipien Schrecken zu verbreiten versuchen sollten, so ziehen Sie hier in die Debatte Dinge hinein, die nicht vor Zhr Forum gehören. Ich werde auf keinen, auch nicht auf einen einzigen dogmatischen Angriff Antwort geben, weil ich hier Niemanden zu einem solchen Angriff für kompetent halte. Ich verzichte gänzlich darauf, diesen Weg auch Ihnen gegenüber einzuschlagen. Zch könnte Ihnen auch, wenn ich mir Mühe gebe, bald aus diesem bald aus jenem Buche, von diesem oder von jenem Verfasser verletzende Dinge sagen; ich werde mich wohl davor hüten! — Mit Zubel würde von vielen Deutschen ein Beschluß in unserem Sinne aus­ genommen werden. Zch habe noch nie daran verzweifelt, daß dieses Prinzip der Ge­ rechtigkeit auch uns Katholiken gegenüber zum Durchbruch kommen wird in Deutschland, und daß Sie, m. H., zuletzt doch Zhres Gerechtigkeitsgefühls wegen gezwungen sein werden, trotz mancher Vorurtheile, uns diese Stellung zuzuerkennen in Deutschland. Sie können nicht verkennen, daß wir berechügt sind, in Deutschland zu existiren, nach unserm Glauben zu existiren, nach diesen Prinzipien unserer Kirche zu existiren — innerhalb der allgemeinen wahren Prinzipien im Staate. Und diese Grund­ sätze müssen Sie anerkennen: uns gegenüber wie allen Anderen gegenüber, es mag Zhnen lieb sein oder nicht. Auch darüber bitte ich noch um einige Worte, und ich bitte, sie mit dem Wohlwollen aufzunehmen, wie ich sie mit der redlichsten Absicht aus­ spreche. Es wird gewiß diese Debatte auch mit unendlicher Aufmerksamkeit verfolgt werden im Elsaß; verletzen Sie nicht die religiösen Gefühle im Elsaß! Zch denke, m. H., darauf sollten Sie in wohlwollender, gerechter Weise Rücksicht nehmen. Die Elsässer sind ihrer großen Majorität nach ein ihrer Kirche und ihrem Glauben treu anhängendes Volk; treten Sie diesem unberechtigten Urtheil entgegen, daß man nicht mit Deutschland verbunden werden kann, ohne in religiöser Hinsicht in irgend einer Beziehung, wenn man Katholik ist, beeinttächügt zu werden; treten Sie dem da-

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durch entgegen, daß Sie innerhalb der allgemeinen Gesetze die Selbstständigkeit und Freiheit der kirchlichen Bekenntnisse proklamiren, und Sie thun dies, wenn Sie unsern Antrag annehmen. (Br.! im 6.) Abg. Graf Renard: Mit beredten Worten hat der Herr Abg. von Treitschke neulich die Gründe entwickelt, welche bestimmen müßten, den Antrag Reichensperger u. Gen. abzulehnen, und ich kann mich deshalb auf einige wenige Worte beschränken, um den Standpunkt zu kennzeichnen, den viele meiner politischen Freunde und ich zu der Sache einnehmen. Zn einer Beziehung allerdings sehe ich hoffnungsreicher auf das Zukunftsleben deutscher Nation als der Herr Abg. von Treitschke; ich glaube, daß es nicht allzu lang währen wird, und es wird dem deutschen Geiste auch gelingen, die Aufgabe zu lösen der freien Kirche im freien Staat. (Br.!) Zm Uebrigen sind wir der Ansicht, daß es nicht recht und auch nicht einmal zweckmäßig ist, den Antrag Reichensperger hier todt zu schweigen durch Uebergang zur einfachen Tagesordnung oder todt zu machen durch pure Ablehnung. Die Materien, von denen der Antrag handelt, sind ja von weittragender Bedeutung, sie verdienen auch mehr als bloße Rücksichtsnahme, sie erheischen eine durch und durch erschöpfende Behandlung. Es werden auch Fragen darin geltend gemacht, welche zweifellos über kurz oder lang im Reiche beantwortet werden müssen; nur über das Wann sind wir mit den Antragstellern verschiedener An­ sicht, das Wie will ich zur Zeit in keiner Weise präjudiziren. Was die Formulirung der Motive betrifft, die uns bestimmt haben, uns hier dissentirend zu verhalten, so finden Sie dieselben in der von uns vorgeschlagenen Tagesordnung angegeben, und da meine ich auch mit dem Herrn Abg. von Treitschke, daß es eines so hochwichtigen Gegen­ standes unwerth ist, ihn bei Gelegenheit einer rein redaktionellen Verfassungsänderung und so nebenbei abzumachen. Wir wollen eine viel gründlichere Erledigung desselben. Die Reduktionstabelle, die die Antragsteller uns geboten haben, erscheint uns unvoll­ ständig, unklar und unfertig. Wir wollen eine ernste, treue und gewissenhafte Prüfung, und daß eine solche zur Zeit nicht zu erwarten ist, darüber wird im Hause wohl kein Zweifel existiren. (Z.) Was uns aber vor Allem bewegt und bestimmt, uns diesem Anträge gegenüber ablehnend zu verhalten, sind die eben geschlossenen Verträge. Meine Freunde und ich, wir wollen diese Verträge nicht durchlöchern und durchsetzen, wir wollen die Zeit abwarten, bis die Einzelstaaten durch ihre berechtigten Vertreter die Lösung dieser Fragen im Reiche beantragen und anstreben werden. Hüten wir uns, in den Beginn des Reiches den Hader hineinzutragen, der stets zur Schwächung und Zersplitterung desselben geführt hat. Hegen und pflegen wir, was uns eint. Was uns trennt, wird dann nimmermehr von langer Dauer sein können. Durch die Frei­ heit, durch die Treue kommen wir zur Einheit, das ist der beste und rechte Weg. Zn seltener Vertragstreue haben nun unsere süddeutschen Brüder mit und neben uns ge­ rungen und gestritten in dem heißen, gewaltigen Kampfe, der kaum vorüber ist; sie haben uns geholfen, die Früchte zu pflücken und einzuheimsen, an denen wir uns Alle lange zu erquicken gedenken. Ebenso muß nun auch das Wort, das wir ihnen ver­ pfändet in feierlicher Übereinkunft, unverbrüchlich gehalten werden, damit der Nord­ deutsche sich würdig erweise und ebenbürtig dem Stammesgenossen an Ehre und Treue; (Br.!) und um dieser Treue allein willen müssen wir den Antrag ablehnen und es dem ganzen Lande sagen, warum wir es thun, offen, ehrlich, klar. Zch bitte Sie, für die von uns vorgeschlagene Tagesordnung*) zu stimmen. *) Dieselbe lautet: „Der Reichstag wolle beschließen: Zn Erwägung, daß dem Reichstage zur Zeit nur der Ent­ wurf einer Redaktion der Verfassungsurkunde auf Grund der Verträge vorgelegt ist, die jüngst zur Gründung des Reiches in seiner dermaligen Gestaltung geführt haben; in Erwägung, daß der Antrag Reichensperger u. Gen. zur Verfassung tiefgreifende Zusätze vorschlägt, welche den Gegenstand einer materiellen Verfassungsrevision bilden und somit die formelle Feststellung des Verfassungsrechtes gefährden; in fernerer Erwägung, daß etne reichsverfassungsmäßige Gewährleistung des Vereinsrechtes, des Rechtes der freien Meinungsäußerung durch die Presse, sowie der Unabhängigkeit und der Frei­ heit des religiösen Bekenntnisses zwar von hervorragender staatlicher und nationaler Bedeutung sind,

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Abg. Greil: M. H.! Die Mahnung, welche der erste Herr Redner im Lause seiner Rede ausgesprochen hat, nämlich keine fremdartigen Dinge in die Debatte hinein­ zuziehen, hat, wie Sie eben gesehen haben, nicht ganz Erfolg gehabt. Zch finde es als etwas Fremdartiges, auszusprechen, daß diejenigen Männer, welche „dafür gewirkt oder gestimmt haben, daß die alte bischöfliche Verfassung dem Absolutismus Platz machen müsse," hierher gezogen werden. Ich betrachte das als etwas Fremdartiges und spreche mich deswegen auch nicht näher aus und beweise nicht, daß es unrichtig ist, (Bew. I.) sondern lasse einfach die Sache bei Seite. Den Beweis, m. H., zu liefern, ist hier nicht die Aufgabe; (SB. l.) wenn es die Aufgabe wäre, würde ich keinen Augenblick anstehen, ihn zu liefern. — Wenn ferner der geehrte Herr Vorredner die Bemerkung gemacht hat, es könne die Schwierigkeit, welche uns im deutschen Reiche bevorstehe, wohl damit am besten gelöst werden, daß auch bei uns jenes Wort wahr werde: „Die freie Kirche in dem freien Staate", dann, m. H., muß ich Sie Hinweisen, woher denn dieses Wort stammt, und muß Sie Hinweisen auf die Erscheinungen, welche an dieses Wort sich geknüpft haben. Sie wissen, m. H., das Wort: „Die freie Kirche im freien Staat" stammt von Cavour, stammt aus dem Reiche Italien. Es hat seiner Zeit so bestechend gewirkt, daß selbst ein Graf Montalembert gemeint hat, diesem Worte sich fügen zu sollen. Aber die wirkliche Gestalt, welche in Italien jetzt die Kirche einnimmt, ist nicht von der Art, daß sich ein Freund der Freiheit in irgend einer Weise für dieses Wort in dieser Auslegung begeistern könnte. Auf diesem Wege, m. H., kann nach meiner Ansicht die Frage, die uns vorliegt, nicht gelöst werden; die Lösung wird wohl, wenn sie überhaupt in nächster Zeit erfolgen soll, nicht leicht auf einem andern Wege erfolgen können, als auf eben dem, der Ihnen in unserm Anträge vorgelegt ist. Freilich fürchtet man und meint man, es sei dieser Antrag eine Verletzung der bestehenden Verträge. Auch wir, m. H., haben uns diese Frage vorgelegt und haben uns gefragt, ob denn nicht vielleicht durch diesen Antrag eine Kompetenzerweiterung des Reichstages eintrete: und wenn wir uns hätten sagen müssen, es könne der Antrag ohne Kompetenzerweite­ rung nicht gestellt werden, so würden wir uns kaum entschlossen haben, ich mich jeden­ falls nicht entschlossen haben, meinen Namen zur Einbringung dieses Antrages herzu­ geben: aber, m. H., nachdem in die Verträge selbst das Recht ausgenommen ist, über Vereinswesen Gesetze zu geben, ist das Bedenken von einer Erweiterung der Kompetenz entschwunden. Auch wir, m. H., in Bayern sind in dieser Beziehung in einer ähnlichen Lage, wir haben ein Vereinsgesetz, und dieses Vereinsgesetz beschäftigt sich ebenfalls mit kirch­ lichen Dingen. Allerdings ist das gesammte Kirchenwesen mit dem Namen „Verein" keineswegs erschöpft, aber wir sind auch nicht der Absicht, das gesammte Kirchenwesen etwa aus dem Wege staatlicher Gesetzgebung regeln lassen zu wollen, wir sind blos der Absicht, soweit es überhaupt im Gebiete dieser Gewalt liegt, Gesetze zu geben. Auf solchem Wege, m. H., glauben wir eine Kompetenzerweiterung in keiner Weise anzu­ bahnen, und deshalb konnte auch ich meinen Namen für diesen Antrag unterzeichnen. Aber, m. H., ich begreife, daß, je nachdem der Standpunkt ist, den einer der Herren einnimmt, er dann diesen Antrag bedenklicher findet. Zch selbst, ich kann es nicht ver­ hehlen, m. H., habe eine Zeit lang geschwankt, ob ich als Bayer, abgesehen von einer Kompetenzerweiterung, dennoch zu dem Anträge vollends zustimmen könnte; wir, m. H., haben bereits ein Preßgesetz, haben ein Vereinsgesetz, welche, wenn sie auch Einzelnes zu tadeln übrig lassen, dennoch im Ganzen genommen sich bewährt haben; aber ab­ gesehen hiervon stehen wir in Bayern nicht mehr auf dem nämlichen Standpunkte, wie manche unserer deutschen Genossen; bei uns in Bayern ist das staatskirchenrechtliche baß jedoch die beantragten Verfassungsbestimmungen in ihrer Allgemeinheit ungenügend erscheinen, das angestrebte Ziel zu sichern; in endlicher Erwägung, daß den: weiteren Ausbau der Reichsverfassung vorbehalten bleibt, eine befriedigende Regelung der Beziehungen zwischen Staat und Kirche herbeizuführen, — beschließt der Reichstag: über den Antrag Reichensperger u. Gen. zur Tagesordnung überzugehen."

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Gebiet bereits vertragsmäßig geregelt, und ich, m. H., hätte nicht zustimmen können, daß diese vertragsmäßige Regelung durch unsern Antrag beseitigt würde. (H. H.!) Aber, m. H., weil der Antrag ein so allgemeiner ist, daß dieses Gebiet in Bayern dadurch nicht beirrt wird, daß das vertragsmäßige Gebiet aufrecht erhalten bleibt trotz dieses Antrages, eben deswegen habe ich zugestimmt. Uebrigens, m. H., mich bestimmen noch andere Dinge, noch andere Gründe, Ihnen recht dringend unsern Antrag zu empfehlen. Ein Grund, m. H., ist der Eindruck, den die Debatte neulich auf mich gemacht hat; es sind, m. H., neulich Aeußerungen ge­ fallen, die mich im höchsten Grade befremdet haben. (H.! H-!) Ich will Ihnen sagen, warum. Ich bin hierhergegangen in der Absicht, redlich mitzuarbeiten an einem ge­ sunden Fortbau des deutschen Reiches; es ist nicht unbekannt, daß ich persönlich bis zum letzten Augenblick mich dem Zustandekommen des Reiches, soweit es Bayern an­ belangte, widersetzt habe — (H.! H.!) aber nachdem das Reich zu Stande gekommen ist, auch mit Einschluß Bayerns, habe ich es als meine Aufgabe betrachtet, wenn ich irgend hierbei etwas zu sagen oder zu wirken habe, meinerseits redlich für den weiteren Bau des Reiches mitzuwiicken. Aber, m. H., wenn das möglich sein soll, dann muß ein Grundsatz festgehalten werden, und das ist der Grundsatz der gegenseitigen Achtung, namentlich der gegenseitigen Achtung der verschiedenen Konfessionen. (Br.!) Ich, m. H., ehe ich von Passau abging, habe nach der Wahl an meine eigenen Wähler eine Erklärung gegeben, welche in dieser Beziehung, glaube ich, an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt; vor der Wahl hatte ich kein öffentliches Programm auf­ gestellt, weil ich den Wählern freilassen wollte, mich zu wählen oder auch nicht zu wählen. (H.) Ich weiß nicht recht, was hierin etwa Lächerliches sein sollte, übrigens genirt es mich auch nicht, den Herren durch eine Erheiterung die Sache etwas angenehm zu machen. — Nun, m. H., nach der Wahl habe ich mich verpflichtet erachtet, meinen Wählern zu sagen, wie ich meine Stellung auszufüllen gedenke, und ich habe unter den Sätzen, die ich ausgesprochen habe, auch den folgenden formulirt; ich habe gesagt: Ich werde als Reichstagsmitglied entschieden für die Rechte der katholischen Kirche eintreten, aber ich werde auch mit gleicher Entschiedenheit auftreten, wenn es sich darum handelt, Unrecht gegen andere Konfessionen abzuwehren, wenn der Fall eintreten sollte, daß man auf ungerechte Weise andere Konfessionen be­ einträchtigen wollte. Das, m. H., habe ich öffentlich erklärt in meiner Ansprache an die Wähler, und dasselbe habe ich auch bereits im bayerischen Landtage erklärt, und danach werde ich handeln. Deshalb, m. H., hat es mich unangenehm berührt, daß neulich in einer allerdings nicht erfreulichen Weise von Katholiken in Deutschland ge­ sprochen worden ist. (W.) Ich will, m. H., ein paar Aeußerungen anführen, so weit sie mir noch im Gedächtniß sind. Die eine Aeußerung war von dem Abg. Miquel, der in Beziehung auf die Nichtintervention sich dahin ausgesprochen: es sei nicht zu er­ warten, daß Deutschland für Rom intervenire, was blos die Interessen einer Partei berührte, es sei das nicht zu erwarten bei einem Reiche, das aus beinahe 3/s Pro­ testanten bestehe. M. H.! Diese Hervorhebung von 3/z Protestanten in einer Frage, welche die Katholiken so innig berührt, wie die römische Frage ist, hat mich sehr verletzt, und wenn auch dieses Hervorheben vielleicht so übel nicht gemeint gewesen ist, ich hätte gewünscht, daß bei der Gelegenheit der Gegensatz gar nicht aus-» gesprochen worden wäre, wie wir ihn auch bisher nicht ausgesprochen haben, und, m. H., ich gebe Ihnen die Versicherung — und ich glaube, ich spreche hier im Sinne meiner sämmtlichen Gesinnungsgenossen — ich gebe Ihnen die Versicherung, ich werd« nie, so lange ich hier ein Wort spreche, je einen Gegensatz gegen eine andere Kon fession in der Weise betonen, wie derselbe hier betont worden ist, (Unr.) — nie, nie Uebrigens, m. H., war das nicht der einzige Ausdruck, der in dieser Beziehung gefallen ist, und der mir weh gethan hat; ein anderer Ausdruck hat geheißen: der Kampf der uns bevorsteht, sei der Kampf des Germanenthums, des germanischen Geiste;' gegen römische Herrschaft, gegen römische Gewalt. (Za wohl! S. r.!) — Nun, m. H. wenn man diesen Ausdruck zum ersten Male erst hörte, dann könnte man meinen

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darin liege nichts Verdächtiges, darin liege nichts, was einen entschiedenen Katholiken kränken könne; allein wenn man diesen Ausdruck bereits dutzende Male in den Zeitun­ gen gelesen hat und die Deutung zugleich gelesen hat, daß hiermit die Unterdrückung des Katholizismus gemeint sei, (lebh. W.) — m. H., die Zeitungen können beigebracht werden, wenn es nothwendig sein sollte, für den Augenblick habe ich sie nicht — (Ah! H.) — wenn sich nun zeigt, daß die Zeitungen die Sache so ausgelegt haben, dann ist Grund genug vorhanden, die Sache bedenklich zu finden, und ich hätte sehr ge­ wünscht, daß ein Norddeutschland angehöriges Mitglied unseres Reichstages diesen Aus­ druck abgeschwächt oder in einer Weise gedeutet hätte, daß er uns nicht verletzen könnte. Nun, m. H., einem solchen Wirken eines germanischen Geistes in dem Sinne, wie ich die Sache jetzt eben dargestellt und auch aufgefaßt habe, können Sie in keiner Weise besser entgegentreten, als wenn sie den christlichen Konfessionen, den Konfessionen, den Religionsgenossenschaften diejenige Freiheit geben, in welcher sie sich innerhalb ihres Gebietes unbeirrt durch unberechtigte Gewalten bewegen können, unbeirrt durch Eingriffe, welche doch zuletzt zu nichts Anderem führen, als zur Vergewaltigung eines großen Theils derjenigen Bürger Deutschlands, welche gleich den übrigen den Anspruch haben, daß sie in ihren heiligsten Interessen nicht beeinträchtigt werden. — Das, m. H., führt mich auf einen anderen Punkt, der ebenfalls in den Debatten bereits ausgesprochen worden ist. Es hat geheißen: „ein Gegensatz zwischen Staat und Kirche ist vorhanden, ein Gegensatz, dessen Ausgleichung wohl nicht leicht möglich ist; aber er kann aus­ geglichen werden, wenn der Papst diejenigen Sätze streicht, welche sich mit dem Staate nicht vereinbaren lassen, wie wir ihn brauchen." M. H., dieser Ausspruch, den Sie fast wörtlich so in den stenographischen Berichten lesen können — ich habe ihn erst heute Morgen gelesen — enthält für uns außerordentlich viel, enthält für uns eine Gefahr, gegen die wir uns im neuen Reiche nicht entschieden genug wehren zu können glauben —- eine Gefahr nämlich, daß das Kirchenwesen jeden Augenblick durch die Staatsgewalt nach eigenem Gutdünken, nach eigener Willkür neu geregelt, und daß das Kirchenwesen Veränderungen unterworfen werde, welche demselben durchaus fremd sind, und welche dasselbe gar nicht ertragen kann. Denn, m. H., was will denn der Redner sagen mit dem „Staat, wie wir ihn brauchen"? Er meint wohl ohne Zweifel einen Staat, wie er jetzt von gewissen Staatsrechtslehrern vertheidigt wird. Ich will Sie aufmerksam machen, m. H., auf ein Staatsrechts-Handbuch, das in Süddeutschland sehr bekannt und verbreitet ist, vielleicht auch in Norddeutschland, wo direkt der Satz ausgesprochen ist: vor der Staatsgewalt gilt das Wort, man muß Gott mehr als den Menschen gehorchen, nicht! — wo direkt der Satz ausgesprochen worden ist, daß die Staatsgewalt auf irgend eine höhere Autorität schlechterdings keine Rücksicht zu nehmen habe. Wenn das richtig ist, wenn der Satz, wie mir erklärt worden ist, richtig ist, dann folgt daraus, daß das ganze Gebiet der Moral jeden Augenblick durch die Staatsgewalt verändert werden kann (gr. Um:.), und gegen eine solche Veränderung, gegen solche Eingriffe der Staatsgewalt muß ich mich entschieden verwahren. Das, m. H., aber kann nicht anders vermieden werden, als wenn Sie die Religionsgesell­ schaften freistellen. Sie erreichen aber dadurch noch etwas Anderes, was nicht minder von Bedeutung ist. Es ist bereits vorhin bemerkt worden, daß die Freistellung der Religionsgesellschaften ein Schritt zur Freiheit sei. Ja, m. H., es ist ein Schritt und nicht blos ein Schritt, sondern ich sage, es ist die einzige dauernde, kräftige Bürgschaft gegen Vergewaltigung der Freiheiten überhaupt. Denn, m. H., wer einigermaßen den Gang der Dinge, die Entwickelung der einzelnen Reiche und Länder kennt, der wird wissen, daß zu allen Zeiten da, wo die Religionsfreiheit von den Staatsgewalten ver­ nichtet worden ist, zugleich die Freiheit überhaupt aufs Tiefste geschädigt worden ist. iRuf: Und der Kirchenstaat?) — Das hat sich durch das ganze Alterthum durchgezogen, das ist der Grundzug des byzantinischen Reiches, das ist der Grundzug des achtzehnten

Jahrhunderts — und, m. H., wer die Zustände des achtzehnten Jahrhunderts einiger­ maßen kennt, der wird sagen: um keinen Preis mehr solche Zustände! jedes Mittel, jedes erlaubte Mittel ist gerecht, das uns vor solchen Zuständen schützt.

Und, m. H.,

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das Hauptmittel, was wir haben, was das Alterthum nicht hatte — und weshalb sich dieses der Vergewaltigung des Einzelnen nicht entziehen konnte — das Hauptmittel ist: Freistellung der Konfession, Freistellung der Religion, Freistellung gegenüber einer in Ausbildung begriffenen staatlichen Omnipotenz, die unter allen Umständen unerträg­ lich ist, sie mag von einem Fürsten oder von einer Partei, von einem Reichstage, oder wie das Element immer heißen mag, geübt werden; sie ist jedesmal unerträglich, jedesmal eine Beeinträchtigung der heiligsten Rechte und Interessen jedes einzelnen Menschen! Das, m. H., sind die Gründe, welche mich bestimmt haben, für den Antrag Reichensperger meine Stimme zu geben, welche mich bestimmen, Ihnen dringend zu empfehlen, diesen Antrag, der Gefährliches nichts, aber nur höchst Vortheilhastes ent­ hält, anzunehmen. .Wenn Sie ihn annehmen, m. H., dann leisten Sie Deutschland einen doppelten Dienst: Sie werden das Element der Verbitterung in konfessionellem Gegensatz entfernen,, und Sie werden zugleich der Freiheit, der freiheitlichen Ent­ wickelung die kräftigste Unterlage bereitet haben! Und aus diesen Gründen, m. H., bitte ich Sie, stimmen Sie fest und entschieden dem Anträge bei! Abg. Dr. Löwe: M. H., ich bedauere, daß die Herren Antragsteller ihren Antrag in einem Moment gebracht haben, in welchem aus formellen Gründen die An­ nahme und auch eigentlich die Behandlung von vornherein zurückgewiesen werden muß. Ueber die formellen Gründe, die entgegenstehen, haben wir, meine Freunde und ich, schon früher uns ausgesprochen und unsern Standpunkt von neuem in der von uns eingebrachten motivirten Tagesordnung dargelegt. Ich gehe um so weniger noch darauf ein, als die Herren so tief in die Materie eingetreten sind. Ich trete deshalb sogleich auf das Gebiet, das die Herren Vorredner eingenommen haben, und begrüße vor Allem mit Freuden, daß sie bei der Darstellung der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche in allen ihren Erklärungen — und ich nehme Akt davon — von der früher behaupte­ ten Grundlage der Glaubenseinheit, auf der der Staat erbaut werden sollte, vollkom­ men abgesehen haben. Die Herren haben gesagt, daß sie nur auf dem Wege der Freiheit und mit der Freiheit die neuen Verhältnisse regeln wollen, und ich stehe mit dem Herrn Bischof von Mainz vollkommen auf dem Boden, daß auch ich nur durch die Freiheit das Reich der Gerechtigkeit, für das Deutschland bestimmt ist, gründen will. Dabei, m. H., muß ich doch gestehen, daß die Herren, die den Antrag gestellt haben, das Gebiet sehr knapp begrenzt haben. Denn wir haben es dabei doch nicht blos mit der Kirche und dem Staat im Allgemeinen zu thun, sondern wir haben, indem wir die Trennung zwischen Kirche und Staat seststellen, und indem wir sie in den einzelnen Theilen ausführen, zwei große Gebiete mit ins Auge zu fassen, die wir nicht übersehen dürfen, wenn wir zu einem Reiche der Gerechtigkeit kommen wollen. Staat und Kirche treffen sich auf verschiedenen Gebieten. Der Staat hat eine Reihe von Funktionen schon der Kirche und ihren Organen überlassen, wie die Ehe und die Führung der Standesregister, und die Kirche tritt in eine andere Reihe von Funktionen ein, für die der Staat in erster Linie die Pflicht hat zu sorgen, wie das Unterrichtswesen. Da ist zuerst die Schule. In die Schule ist bei uns in Preußen jetzt seit Jahren der konfessionelle Gegensatz hineingetragen — ich behaupte, gegen den Geist unserer Ver­ fassung, wenn auch aus Zweckmäßigkeitsgründen die preußische Verfassung sagt', daß womöglich die konfessionelle Schule genommen werden soll. Der eigentliche Geist der Verfassung ist doch aber der, daß der Staat das Unterrichtswesen selbstständig zu ord­ nen und zu überwachen hat, und daß nur der Religionsunterricht von Geistlichen in der Schule zu geben oder zu überwachen ist. M. H., dieses Gebiet ist nun von Ihnen immer ein bestrittenes gewesen, und wir können Ihrem Eifer, für die Freiheit in dieser Beziehung zu wirken, um so weniger Vertrauen schenken, als Sie gleichzeitig einen be­ sonderen Eifer zeigen, wenn Sie bei uns in Preußen eine Verwaltung aus das Leb­ hafteste unterstützt haben, die wesentlich dazu beigetragen hat, den konfessionellen Gegen­ satz auszubilden und zu stärken, (Lebh. Br. l. und Ruf: S. w.!) die ganz besonders wesentlich dazu beigetragen hat, die protestantische Kirche nicht aus der Konsistorialverfassung herauszulassen, die protestantische Kirche der Regierung gegenüber rechtlos in

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dem krankhaften Zustand des Cäsaropapismus zu erhalten, während Sie dabei der vollen Freiheit sich erfreuen. Diese Verwaltung haben Sie unterstützt und mit vollem Rechte, denn Sie haben den Vortheil davon gehabt. (S. t.l) Wenn diese Thatsachen aber fest stehen, so wird es uns doch schwer, daran zu glauben, daß Sie immer mit gleichem Maß und mit gleicher Gerechtigkeit überall messen werden. M. H., was nun speziell die Trennung des Staats und der Kirche betrifft, so verlangen wir in erster Linie, daß dabei die Selbstständigkeit der Schule, die Selbst­ ständigkeit des Unterrichtswesens der Kirche gegenüber festgestellt wird; und dann ver­ langen wir auch, daß das Individuum rechtlich sicher gestellt wird gegen alle Beherr­ schungsversuche und Verkümmerungen der Freiheit, welche die einzelnen Konfessionen machen. (H.! H.!) — Warum haben Sie sich nicht an die Grundrechte der Frankfurter Reichsverfassung gewandt, wenn Sie einmal Grundrechte in diesem Augenblick aufstellen wollen, warum haben Sie sich nicht an diese gewandt, statt an die Grundrechte der preußischen Verfassung? (S. w.!)"- In den Frankfurter Grundrechten ist festgestellt die Freiheit des Individuums, seine Sicherstellung gegen jeden Angriff, den die Kirche direkt oder indirekt durch den Staat auf dasselbe machen kann. Zn den Frankfurter Grundrechten ist zur Sicherstellung der persönlichen Freiheit, sogleich hinter dem Satze: „jeder Deutsche hat volle Glaubens- uud Gewissensfreiheit", zur Interpretation dieses Satzes noch hinzugefügt: „Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Ueberzeugung zu offen­ baren". Damit ist erst die Freiheit des Individuums den konfessionellen Ansprüchen gegenüber, die der Staat bis jetzt immer noch zur Geltung gebracht hat, sicher gestellt. Es giebt aber noch andere Gebiete, auf denen wir fordern müssen, daß, wenn die Aus­ einandersetzung zwischen Staat und Kirche vor sich geht, diese Auseinandersetzung auch vollzogen wird. Das ist das Gebiet der Ehegesetzgebung. Die preußische Verfassung hat in ihren Grundrechten den Artikel über die Civilehe. Wie kommt es, daß, wenn Sie die Paragraphen über die Rechte der Kirche herausnehmen, Sie gerade diese Artikel, dessen Bestimmungen nothwendig zur Ausführung der Trennung von Kirche und Staat gehören, fortlassen? M. H., die Frankfurter Verfassung hat noch den weiteren Satz: „Niemand soll zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit gezwungen werden," durch welchen die Freiheit des Individuums sicher gestellt wird. Sie hat weiter die Formel des Eides, durch welche derselbe dem Konfessionalismus enthoben wird. Sie sehen also, gerade diese Verfassung hat die Grundzüge der Freiheit festgestellt, die nothwendig dem Individuum gesichert werden müssen, wenn sie nicht in Gefahr sein soll, durch die ein­ zelnen Korporationen unterdrückt zu werden. Nun komme ich zu einem andern Punkte, den der Herr Bischof von Mainz hier in den Vordergrund gestellt hat. Er hat gesagt: „Sie fürchten ganz ohne allen Grund, daß die Kirche" — ich füge hinzu, diese mächtigste und größte aller Korporationen, wie sie von dieser Seite erst kürzlich genannt ist — „dem Staat in seinen Rechten gefähr­ lich werden könnte; und wenn Sie es fürchten", führt er weiter aus, „so gebe ich Ihnen ein ganz sicheres Mittel an, jede Gefahr zu verhüten. Das sichere Mittel be­ steht darin, daß Sie keine Gesetze geben sollen, welche die Menschen zu Rebellen gegen Gottes Gesetze machen, dann würde auch niemals der Bischof ein Rebell gegen seine Regierung werden." M. H., sagen Sie nicht, daß ich ein fremdartiges Gebiet betrete, wenn ich hier sage: Wer entscheidet denn, welches Gottes Gesetze sind? (S. w.! S. r.!) Darüber ist eben der größte Widerspruch vorhanden, und Sie, m. H., berufen sich ge­ rade heute auf die Gesetze Gottes als etwas Feststehendes, wo Sie eben den Streit wegen der Znfallibilität in Ihrer eignen Kirche haben. (S. g.! S. w.!) Kann irgend ein Staat, wenn Sie diesen Grundsatz festhalten, Vertrauen haben zu einem friedlichen Beisammenleben, wenn Ihnen von einem Haupte ohne Ihr Zuthun, ohne Ihre Kritik, ohne daß Sie einen Widerspruch erheben dürfen, ein Gesetz gegeben wird, das Sie von pen Gesetzen des bürgerlichen Lebens wie des Staates emanzipirt. Wenn wir nun aber eine Gesetzgebung machen, so müssen wir gegenseitig mit dem vollen Vertrauen einander gegenüber stehen, daß nicht der Eine einen Gedanken, eine Bestimmung im Hintergründe hat, die der Andere nicht theilt und nicht kennt; gerade wenn wir friedlich miteinander

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leben wollen, wenn wir eine friedliche Entwicklung auf dem gemeinsamen Boden, den wir erkämpft haben, haben wollen, dann müssen wir ohne alle Hintergedanken allerseits auf diesen Boden treten. Wir haben bereits schöne Entwickelungen in der Gesetzgebung auf dem freiheitlichen Gebiete im norddeutschen Bunde gemacht. Wodurch, m. H.? daß auf beiden Seiten das Mißtrauen gegen die Intentionen verschwunden war; wir haben sie gemacht, weil wir uns gegenseitig sagten, hier ist keine Herrschastsfrage des Staates oder der Parteien vorhanden, weil diesen gegenseitigen Erklärungen geglaubt wurde, deshalb konnten wir Gesetze geben, die unter anderen Umständen bei gegenseitigem Mißtrauen niemals zu Stande gekommen sein würden. Lassen Sie uns den großen Vortheil festhalten, den dieses gegenseitige Vertrauen gewährt, so daß wir mit dem Abg. von Treitschke sagen können: Einführung der Censur, eine solche Reaktion ist eine Unmöglichkeit, daran kann Niemand denken. Wenn wir, getragen von diesem Ver­ trauen, unsere Arbeiten führen, so können wir, trotz aller Meinungsverschiedenheit, die unter uns besteht, doch hoffen, das alte preußische Wort wahr zu machen: die Früchte der Revolution zu ernten auf dem Wege der regelmäßigen Reformarbeit, ohne daß wir zu einer Revolution zu greifen nöthig haben. Wenn wir mit dieser Arbeit rüstig vor­ gehen, so können wir hoffen, daß wir die Epoche der europäischen Revolutionen ab­ geschlossen haben. Das können wir aber nur, wenn wir gegenseitig unsere Freiheit achten, aber auch nur, wenn wir gegenseitig das Vertrauen haben können, daß keine Hintergedanken da sind, daß keine Befehle, keine Herrschaftsansprüche geltend gemacht werden von einer Seite, die nicht von uns kontrolirt werden kann. Wenn Sie Ihre Kirchenangelegenheiten ganz ausschließlich selbst verwalten wollen, dann müssen wir das ganze Gebiet, auf dem Staat und Kirche mit einander in Beziehung stehen, uno actu lösen, und nicht, daß Sie erst Ihren Theil bekommen, daß wir die Schule Ihnen über­ lassen und daß wir das Individuum Ihnen überlassen, wie das bisher in Preußen der Fall gewesen ist, und daß Sie mit den verschiedenen Parteien dann paktiren über die Civilehe. — Nein, m. H., das geht nicht; wenn wir ein solches Gesetz geben, wollen wir es ganz geben, nicht halb. (Br.! l.) — M. H., das ist der Standpunkt, den wir gegen Ihre Forderungen einnehmen. Deshalb sagen wir in unserer Tagesordnung: was Sie verlangen, ist unvollkommen, garantirt nicht den Frieden, den auch Sie im Reiche verlangen, sondern was Sie verlangen, führt zur Herrschaft einer Partei über die andere. M. H., was Sie in Bezug auf die Presse verlangen, darüber haben Sie Alle eigentlich kein Wort mehr verloren, das ist wohl nur Alles Einleitung gewesen, um zu Ihrem weiteren Verlangen zu kommen. (H.) Jedenfalls sind die Punkte, die Sie dort feststellen, von der Zeit vollständig überholt. Wir fürchten uns in der That nicht mehr, daß wir die Censur wieder bekommen. Was wir verlangen bei einer Preßgesetz­ gebung, die ja hier in diesem Hause wahrscheinlich vorgenommen werden wird, ist das, daß wir die Reste der Censur, die in der vorläufigen Beschlagnahme noch vorhanden sind, los werden, daß wir die letzten Reste der Vermögenskonfiskation aus der Gesetz­ gebung los werden, die darin liegen, daß ein Blatt, das mehrere Male verurtheilt ist, aufhören muß zu existiren, daß also das Kapital, das hineingesteckt' ist, vernichtet, wird; daß wir ferner ein Verfahren verlangen, wonach die Meinung der Mitbürger über ein solches Vergehen ihren Ausdruck finden kann: nämlich das Geschworenenverfahren. Wenn sich die Herren an die Grundrechte der Frankfurter Reichsverfassung gewendei hätten, so hätten Sie wenigstens einen Theil dieser Verlangen gestellt. Wir werden uns bei der späteren Berathung auf diesem Boden wiederfinden; denn wenn Sie auch nicht diesen freiheitlichen Ausbau unserer Verfassung verlangen sollten — und ick glaube, nach Ihrer Stellung werden Sie wenigstens für die Kirche immer wieder dar auf zurückkommen —, wir werden immer bereit sein, an dem Ausbau der Freiheit tr unserer Verfassung Theil zu nehmen. Ich zweifle auch nicht daran, daß es eine gan falsche Interpretation ist, die man den Worten des verehrten Abg. Lasker gegeben hat als er eine kurze Zeit Ruhe verlangt hat, als ob er sagen wollte, er und seine Freund seien jetzt befriedigt und nicht mehr mitbereit, jeden Augenblick in die Arbeit für die

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freiheitliche Entwickelung der Verfassung einzutreten. Wir zweifeln nicht daran, daß sie mit uns Hand anlegen werden. M. H., wie mein Freund Schulze Ihnen im Eingang der Debatte gesagt hat, wir wollen in diesem Augenblick erst das Verfassungswerk formell zum Abschluß bringen, ein Werk, das nicht unsere Zustimmung in allen Beziehungen gehabt hat, das wir vielfach anders gewünscht hatten. Es ist aber beschlossen, und nun wollen wir den Rechtsboden erst unter den Füßen haben. Damit wollen wir aber nicht unsere Arbeiten aufgeben, denn wir sind überzeugt, daß wir das neue Reich erst wahrhaft begründen können, wenn wir die Freiheit unseres Volkes festhalten und erweitern, und zwar vor allen Dingen die persönliche Freiheit der Bürger, und nicht blos in großen Verfassungs­ fragen, so wichtig auch eine weitere Ausbildung der Verfassung ist. Was nun unsere Tagesordnung betrifft, so glauben Sie uns wohl, daß wir nicht nöthig haben, sie aus Rücksicht für unsere Wähler zu stellen — denn in der That, Sie glauben es uns als einer alten Partei wohl Alle, daß wir mit unsern Wählern, wenn es sich um die freiheitliche Entwickelung der Verfassung, um die Grundrechte handelt, nicht fürchten müssen, ihnen in einem falschen Lichte zu erscheinen. Wir haben in der That unsere motivirte Tagesordnung nicht vorgeschlagen, nur um den Interessen unserer Partei zu dienen, sondern wir haben sie vorgeschlagen im Zntereffe des ganzen Hauses, weil wir voraussahen, daß peinliche, verwirrende Debatten hier bei dieser Gelegenheit stattsinden werden. Wir wünschen, daß das Haus sich darüber ausspreche und damit jede Ver­ dächtigung von vornherein zurückweise, daß es die Freiheit des Volkes nicht blos zu schützen, so weit sie besteht, sondern daß es auch die Entwickelung einer freiheitlichen Gesetzgebung zu fördern bereit ist. Zch rathe Ihnen umsomehr, das zu thun, m. H., als der Antrag von einer äußerst einflußreichen Stelle gekommen ist, von einer Stelle, deren Mitglieder viele Mittel in Händen haben, die öffentliche Meinung zu bestimmen, und die auch auf die Bildungsstätten unseres Volkes einen großen Einfluß ausüben. M. H., also nicht in unserem Parteiintereffe, sondern im Zntereffe des ganzen Hauses, um jede Verdächtigung unmöglich zu machen, bitte ich Sie, für unsere motivirte Tages­ ordnung zu stimmen. Abg. Dr. Windthorst: M. H., die Angelegenheit, welche uns hier beschäftigt — das zeigt wohl der Verlauf der Diskussion — ist von großer, eminenter Bedeutung, und deshalb ist es, daß ich, obwohl ich nicht im Stande sein werde, viel Neues zu sagen, doch Einiges rekapitulirend besprechen muß. Der Herr Abg. Graf Renard hat zunächst gewissermaßen unsere Legitimation bestritten. Zch erwidere dem Herrn Grafen, daß, wenn wir die volle Religionsfreiheit für Alle verlangen, wir sie auch für die verlangen, welche etwa nach den Grundsätzen, die er aufgestellt hat, eine neue Kirche zu gründen beabsichtigen sollten. Was dann den Vorwurf betrifft, daß wir in gewisser Weise unseren Antrag zu sehr eingeengt hätten — so hebe ich hier sehr bestimmt hervor, daß die Anträge, die von uns gestellt worden sind in Beziehung auf die freiheitliche Entwicklung, genau haben beschränkt werden müssen auf den Nahmen, den wir mit Rücksicht auf die bestehende Verfasiung gezogen haben. Zch für meine Person würde sonst sehr bereit gewesen sein, viel weitergehende freiheitliche Sätze in der Verfassung aufzustellen. Aber wir mußten, wie gesagt, uns beschränken auf den Rahmen, der in der Bundes­ verfassung gegeben ist. Dieser Rahmen bezieht sich nur auf das Preß- und Vereins­ wesen, und nur insoweit, als diese Gegenstände in Frage, könnten wir in den Fall kommen, an die Annahme von Grundrechten für die Legislative in diesen Materien zu denken. Wenn wir dabei die Redaktion der preußischen Verfaffung der Redaktion der Frankfurter Verfassung vorzogen, so liegt das einfach darin, daß die Redaktion der preußischen Verfassung aktuelles Recht ist in dem größten deutschen Staate, und dort sich nach meinem Ermessen die betreffenden Bestimmungen, soweit es die kirchlichen Fragen betrifft, im wesentlichen bewährt haben, rücksichtlich der andern Punkte, Preßund Vereinswesen, aber bewähren würden, wenn die Ausführungsgesetze richtig gemacht wären. Meine politischen Freunde und ich, wir müssen einen sehr großen Werth darauf legen, daß unter allen Umständen die Preßfreiheit gesichert sei und die Vereinsfreiheit. Reichstags-Repertorium. I.

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Wir müssen gesichert sein gegen die Wiederkehr von Zuständen, wie wir sie in den fraglichen Beziehungen in Hannover nun bereits mehr als zwei Jahre gehabt haben. Zudem, m. H., bedenken Sie, daß der 8 4 Nr. 16 auf diese Preß- und Vereinsgesetz­ gebung hinweist, dieselben zur Kompetenz des Reichs zieht, ohne die Grundsätze aufzu­ stellen, auf welchen diese Gesetzgebung beruhen soll. Sie werden vielleicht sagen, es seien die Paragraphen über die kirchliche Freiheit mit den Bestimmungen über Preßund Vereinsfreiheit nicht im Zusammenhänge. Aber schon die schriftliche Motivirung unseres Antrages hat Ihnen gesagt, daß diese Bestimmungen unzertrennlich seien von der Ordnung des Vereinswesens. Wir betrachten — das erwidere ich dem Herrn Abg. von Treitschke — die Kirche selbst nicht als einen Verein, aber wir betrachten die Kirche als eine Korporation, welche Vereine schafft, und alle Gesetzgebungen in Deutschland, welche mit dem Vereinswesen sich beschäftigt haben, haben sich auch mit den Vereinen beschäftigt, welche die Kirche schafft, und insofern war es allein schon wegen des Vereinswesens nothwendig, auch den Grundsatz der Selbstständig­ keit der Kirche auszusprechen, weil wir sonst in der Hinsicht der Grundlagen für die Vereinsgesetzgebung entbehren würden. Ferner war dieses nothwendig mit Rück­ sicht darauf, daß den von der Kirche geschlossenen Vereinen ihr Vermögen und ihre Fonds verbleiben müssen. Alles das ist bei der Vereinsgesetzgebung absolut noth­ wendig zu berücksichtigen, und deshalb mußte der Artikel 15 der preußischen Verfassung jetzt, nachdem die Bestimmung des § 4 Nr. 16 ausgenommen, unter den in der Ver­ fassung auszusprechenden Landrechten aufgezählt werden. Es ist das keine Willkür, es war eine dringende Nothwendigkeit. Wollten Sie diese Angelegenheit nicht vor den Reichstag bringen, wollten Sie diese Verhandlung vermeiden, dann hätten Sie gefälligst den § 4 Nr. 16 nicht schaffen sollen. Damit, daß Sie ihn schaffen, haben Sie uns in die Nothwendigkeit versetzt, das zu beantragen, was jetzt zu Ihrer Beschlußnahme vorgelegt ist. Damit erledigt sich auch der Einwand des Herrn Abg. Dr. Löwe, wir hätten nichts von der Schule gesagt, wir hätten nichts von der Civilehe gesagt, wir hätten, was auch der Abg. Herr von Treitschke rügte, nichts von dem Satze gesagt: „Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei". Ich kann darauf nur erwidern: meinestheils werde ich, wenn die Kompetenz des Bundes das erheischt, wenn diese Kompetenz darauf ausgedehnt ist, gar nichts zu erinnern finden, die meisten dieser Sätze auf­ zunehmen. Auch für mich ist die Wissenschaft und ihre Lehre frei. Auch ich habe kein Bedenken, wenn es darauf ankommt, die Schulfrage auch hier zu erörtern und trage kein Bedenken, zu erklären: die Schulfrage ist nur zu lösen auf dem Boden der Freiheit — wie denn alle Gesetze nur gelöst werden können auf dem Boden der Frei­ heit. Geben Sie uns die volle Unterrichtsfreiheit, und wir werden über die Schul­ frage einig sein. (U. I.) — Ich gebe aber zu bedenken, daß diese Angelegenheiten, auf welche sich die vermißten Grundrechte bezogen, jetzt noch nicht zur Kompetenz des Reichstages gehören, deshalb konnten auch die darauf bezüglichen Grundrechte nicht ausgenommen werden. Wollen Sie die Ausdehnung der Bundeskompetenz auch auf diese Angelegenheiten, wollen Sie die Genehmigung des Bundesraths in so weit herbeiführen, daß in der Bundesverfassung die Grundsätze festgestellt werden, wo­ nach diese Angelegenheiten zu regeln, dann werden Sie von mir gegen die Aufnahme weiterer Grundrechte keinen Widerspruch finden. Ich habe zu einer anderen Zeit jeder Kompetenzerweiterung mich widersetzt, weil ich der Ansicht war, daß man fest den Boden aufrecht erhallen müsse, auf dem die Dinge in Deutschland damals standen, weil, wenn wir den süddeutschen Staaten mit einem rasirten Norddeutschland kämen, sie in Beziehung auf den Beitritt viel bedenklicher sein mußten, als sie es jetzt ge­ wesen sind. Jetzt sind die süddeutschen Staaten da. Ich will ihnen die Verträge vollständig halten, aber dadurch ist gar nicht ausgeschlossen, daß wir mit Zustimmung des Bundesraths für die Gesetzgebung des Reichs wie für die Gesetzgebung der ein­ zelnen Landtage feste, allgemeine Prinzipien hinstellen, die ein für alle Mal zur Norm dienen und damit zur Beruhigung Aller. Nun ist von dem Herrn Abg. Lasker gesagt, es müsse einstweilen ein Ruhepunkt

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sein, man müsse nicht Dinge'wieder aufrühren, die augenblicklich unangenehm berühren, weil man nach den erreichten Erfolgen eine Siesta halten wolle. (U. l.) Er hat uns gesagt, daß das Geschäft, welches er mit Herrn Miquel im norddeutschen Reichstage gemeinsam verrichtet, nämlich das Geschäft, die einzelnen Staaten allmählich wegzunivelliren, (SB. u. M. l. Abg. Lasker: Das habe ich nicht gesagt.) für jetzt ruhen solle, und daß er deshalb auch in diese Debatte sich nicht mischen wolle. Ich begreife meines Theils vollkommen, daß diejenigen Herren, welche ihre speciellen Wünsche erreicht haben, nunmehr gern sich auf das Ruhekissen niederlegen möchten. Aber wir, meine Freunde und ich, finden nicht, daß das, was erreicht ist, den berechtigten Erwartungen und Wünschen in Beziehung auf diejenigen Gegenstände, die uns besonders interessiren, entspräche. Sie müssen deshalb es sich schon gefallen lassen, daß wir sofort und immebmt, ganz nach dem Beispiel der Politik, die anderweit befolgt ist, rasch zu nehmen suchen, was wir für nothwendig erachten. Das ist auch durchaus allem Gebrauche ent­ sprechend, und wir können dabei keine Rücksicht darauf nehmen, ob unser Vorgehen gerade Ihrem Ruhebedürfnisse entspricht. Die Veranlassung zu diesem Antrag ist uns ausgezwungen, indem man — nach meiner Ansicht ohne Noth und wider alle Zweckmäßigkeit — den § 4 Nr. 16 geschaffen hat. Darin lag die Nothwendigkeit, für diese neue Kompetenz des Bundes die nöthigen grundsätzlichen Unterlagen zu schaffen. Dann ist, was die kirchlichen Fragen betrifft, allerdings für die grundsätzliche Erledigung auch sonst eine Nothwendigkeit vorhanden. Denn wenn es unzweifelhaft ist, daß die richtige und verständige Handhabung der in §§ 12 und 15 der preußischen Verfassung enthaltenen Bestimmung in Preußen große Befriedigung herbeigeführt hat, so ist doch nicht zu veickennen, daß in neuester Zeit in Preußen und in den Köpfen preußischer Staatsmänner sich eine Reaktion gegen diese Bestimmung geltend macht. Wir haben bei der Vorlage in der hessischen Kirchensache, wir haben in den Erörterungen des Herrn Kultusministers und seiner Räthe Grundsätze entwickeln gehört, welche den Artikel 15 geradezu annulliren. Wir haben außerdem in der Wissen­ schaft und auf den Tribünen der Wahlagitation'Gründe und Sätze gehört, welche sagten, der Artikel 15 könne nicht aufrecht erhalten werden. Ein Mann, der von seinen Partei­ genossen der berühmteste Kanonist des protestantischen Deutschlands genannt worden ist, hat auf der Tribüne, wo es sich um seine Wahl handelte, ausdrücklich erklärt, daß es nothwendig sei, in Beziehung auf die katholische Kirche Beschränkungen vis-ä-vis der Bestimmungen des Artikel 15 herbeizuführen. Wir haben aus den Reden, die wir heute und vorgestern vernommen, dieselben Akkorde klingen gehört. M. H., der Herr Abg. von Treitschke hat Ihnen zwar gesagt, wie er selbst zugiebt, abweichend von vielen seiner politischen Freunde — und das erfenne ich an dem Herrn Abg. von Treitschke an, daß er wirklich zuweilen den Muth hat, von seinen Freunden abweichende Meinun­ gen öffentlich auszusprechen —, daß es in verschiedenen deutschen Gesetzgebungen Be­ stimmungen gebe, die nicht mit der Freiheit, die man der Kirche gewähren müsse, übereinstimmen. Er hat aber leider eben so deutlich den Kardinalpunkt angegeben, auf den es bei Lösung der vorliegenden Fragen ankommt; er hat gesagt — und darin ist eben der diametrale Gegensatz zwischen ihm und mir belegen —: „der Staat soll die einschlagenden Verhältnisse ordnen, der soll es auch in größerer Billigkeit ordnen, als es jetzt geordnet ist, und als meine politischen Freunde ihrer Mehrzahl nach es ordnen wollen; aber der Staat allein soll es ordnen, der Staat ist die alleinige Quelle alles Rechts, ohne die Emanation des Staats giebt es kein Recht." Das, m. H., ist eine Staatsrechtslehre, die ich ganz entschieden zurückweise. Der Staat ist der Schutz des bestehenden Rechts, er ist nicht der alleinige Schöpfer des Rechts. Diesen Satz müssen wir durchaus festhalten, wenn wir nicht in die unglücklichste Lage kommen wollen, wenn wir nicht dahin kommen wollen, daß der Staat alles absorbirt, das Individuum, alle Bedingungen individueller Bewegung And individueller Freiheit, ja auch das Eigenthum; denn im schließlichen Resultate wurzelt die Lehre des Sozialismus und Kommunismus In dieser behaupteten Omnipotenz des Staates. Ich werde nun und nimmer diesem

Satz beistimmen, am wenigsten auf kirchlichem Gebiet, selbst wenn er geübt werden 12*

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sollte in der freundlichen Weise, in der der Herr Abg. von Treitschke ihn in Beziehung auf die katholische Kirche üben zu wollen erklärt hat. M. H., es ist das, was wir beantragen, nicht neu. Es ist bereits in der preußischen Verfassung gelegen. Der Herr Abg. von Treitschke hat freilich gemeint, man könne diese wichtige Frage in vier Zeilen nicht lösen. Ich werde meinestheils gar nichts dagegen haben, wenn der Herr Abg. von Treitschke es versucht, sie in acht oder mehr Zeilen zu lösen. Das aber muß ich doch bemerklich machen, daß, wenn es auch nicht die Absicht sein kann, in einem gewissen Augenblicke die ganze Arbeit von Jahrhun­ derten durch vier Zeilen zu vollenden, es doch möglich und zutreffend sein kann, nach der Arbeit von Jahrhunderten endlich dahin zu kommen, den richtigen Satz und die richtige Formel für die Resultate der Arbeit von Jahrhunderten zu finden, und dies ist eben in dem Artikel 15 der preußischen Verfassung in Beziehung auf das Verhältniß der Kirche zum Staate geschehen, und darum wollen wir denselben auch in die Reichs­ verfassung übertragen. Wir können uns der Thatsache nicht verschließen, daß es in Deutschland sich um zwei große kirchliche Gemeinschaften handelt, um die protestantische und um die katholische Gemeinschaft. Diese Thatsache kann man beklagen oder nicht beklagen, — sie ist eben vorhanden, und politische Männer müssen mit dieser Thatsache rechnen. Daß man dar­ über schweigt, daß man wie die geehrten Abg. Graf Renard u. Gen., in Uebereinstim­ mung mit dem Fortschritt, die dadurch gegebenen Fragen hinauszuschieben sucht, das löst die Frage nicht und bessert die Lage nicht. Das deutsche Reich ist unzweifelhaft äußerlich wohl begründet. Diese äußerliche Begründung genügt aber nicht, es ist auch eine innere Begründung nöthig, und diese innere Begründung wird nicht eher da sein, als bis man das erreicht hat, daß alle Konfessionen und insbesondere auch die katholische Kirche, ihre befriedigende Situation in diesem Reiche gefunden hat. Wenn sie das nicht haben, so ist innerlich das deutsche Reich nicht von der Kraft, die man für dessen Bestand nothwendig wünschen, muß. Mit Ueberkleisterung kann man die be­ stehenden Gegensätze nicht kuriren. Was war deshalb natürlicher, als daß wir Ihnen vorschlugen, ganz auf dieselbe Weise, wie es im größten deutschen Staat mit Erfolg versucht ist, im deutschen Reiche allgemein die Sache zu ordnen! — Der Herr Abg. von Treitschke hat gemeint, damit würde man die Bischöfe in die Lage bringen können, Rebellen gegen die Gesetze ihres Landes zu werden. Damit hat er zunächst konstatirt, daß es in Deutschland solche Gesetze giebt, welche den von uns proponirten Grundsätzen kirchlicher Freiheit zuwider sind. Wenn es wirklich wahr ist, daß es in Deutschland solche Gesetze giebt — und auch ich glaube das —, dann ist es hohe Zeit, daß sie beseitigt werden. Wenn es wahr ist — und ich behaupte das —, daß in vielen deut­ schen Staaten noch heute nicht das Recht freier Religionsübung existirt, so ist es hohe Zeit, daß einem solchen unerträglichen Zustande endlich ein Ziel gesetzt werde, und zwar durch eine Bestimmung ein Ziel gestellt werde, die aktuell und unmittelbar zur An­ wendung gelangt. Wenn Sie den Grundsatz aussprechen, so müssen und werden die Dinge in den Staaten, wo derartiges existirt, von selbst geordnet werden, dem aus­ gesprochenen Grundsätze entsprechend. Das wird ohne Zweifel auch geschehen, soweit selbst der Grundsatz ohne weitere Aufführung nicht zur Geltung kommen konnte. Daß der Grundsatz aber in vielen, in den meisten und wichtigsten Punkten ohne Weiteres zur Ausführung kommen kann, das hat Preußen uns gezeigt; denn innerhalb des preußischen Staates waren zur Zeit der Erlassung dieses Paragraphen eben so viele verschiedenartig gestaltete kirchenrechtliche Verhältnisse, wie sie in dem gesammten Deutsch­ land sich finden, und doch ist es der preußischen Regierung gelungen, ohne große Schwie­ rigkeiten die Sache durchzuführen und — bis zu der neuerlich eingetretenen Reaktion — zur Zufriedenheit durchzusühren. Abg. von Blanckenburg: M. H., die Stellung meiner politischen Freunde zu der Verfassungsvorlage, die uns die verbündeten Regierungen gemacht haben, ist genau dieselbe, wie sie vorgestern hier von jener Seite (links) bezeichnet worden ist. Auch wir unsrerseits wollen uns auf den Boden stellen, daß wir den Segen, den

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Deutschland von den geschlossenen Verträgen hat, verfassungsmäßig einheimsen wollen. Auch wir, m. H., wollen, daß wir zu einem verfassungsgesetzgeberischen Ruhe­ punkt kommen, und schon allein aus diesem Grunde würden wir die gestellten Anträge ablehnen können. Denn ist es wohl denkbar, m. H., daß es tiefer, materieller ein­ schneidende Kompetenzerweiterungen geben kann, als die, die uns hier von den Herren aus der Mitte geboten werden? Der Herr Abg. Windthorst hat soeben gesagt, er sei gezwungen, die Anträge zu stellen, denn durch den Zusatz im § 4 Nr. 16 sei es ge­ boten, die Gesetzgebung über Presse und Vereine zu ordnen. Nun, m. H., ich denke, er ist ein zu altes und zu gewiegtes parlamentarisches Mitglied, daß er sich nicht selbst sagen wird, daß mit diesen Monologen, die er uns vorgeschlagen hat, nach der Richtung hin eben gar nichts geboten wird. — Der Schwerpunkt der Anträge liegt da­ her nicht in diesem kümmerlichen Angebot von Grundrechten, sondern der Schwerpunkt, m. H., liegt darin, daß Sie auf die Reichsgesetzgebung die Arttkel 12 und 15 der preußischen Verfassung übertragen wollen. Und dazu, m. H., müssen wir, ein Zeder von seinem Parteistandpunkte aus, unsere Stellung nehmen. Wir sind heute mit warmen Worten ermahnt worden, unsere katholischen Mit­ brüder zu achten und ihre Rechte nicht zu kränken; es ist uns zugerufen worden, wir sollten auch unsererseits dafür sorgen, daß die magna Charta des Neligionssriedens auf das politische Gebiet des Reiches übertragen würde; wir sind- ermahnt worden, eine jede Ausnahmsgesetzgebung in kirchlichen Dingen zu bekämpfen, und wir sind daran er­ innert worden, daß die Religionsfreiheit nicht identisch sei mit Gedankenfreiheit. Und aus einem anderen Munde haben wir gehört, daß wir kämpfen sollten gegen die Staatsomnipotenz, wir sollten warnen mit ihnen vor der Staatsallgewalt in Kirchen­ sachen, wir sollten dem Grundsätze die Ehre geben: man muß Gott mehr ge­ horchen als dem Staate. Wir sind dazu bereit. Nun, m. H., der Herr Abg. Windthorst hat uns gesagt, wir, d. h. seine Gegner, wir wollten erklären, daß in dem neuen Reiche die berechtigten Interessen der katholischen Mitbürger unberücksichtigt bleiben sollten. M. H., ich lehne im Namen meiner Partei­ genossen, und ich glaube, im Namen vieler anderen Mitglieder dieses Hauses, diesen Vorwurf auf das Allerentschiedenste ab; (S. g.! S. w.!) ich beklage mit sehr vielen die unglückliche Art und Weise, wie man diese Anträge schon bei den Wah­ len gleichsam als Parteiprogramm aufgestellt hat. (L. Z.) — Wir sind also von jener Seite aufgefordert, die religiösen Kämpfe vom politischen Gebiete aus­ zuschließen. Wir sind bereit! (Zu den Mitgliedern des Centrums gewandt): Sie sitzen mir hier nicht zum ersten Male gegenüber; Viele von Ihnen habe ich schon die Ehre gehabt 1854 zu sehen. Auch damals, m. H., führte das Interesse der katholischen Kirche, welches Sie gefährdet glaubten, Sie in starker Anzahl in diese selben Räume; auch damals wurde von Ihnen meines Erachtens bei dem Wahlprogramm und in den Wahlumtrieben gegen den Grundsatz verstoßen, die religiösen Kämpfe aus­ zuschließen vom politischen Boden. Ich habe jetzt nicht gehört, daß bei den jetzigen Wahlkämpfen den protestantischen Geistlichen diese Vorwürfe gemacht worden sind; ich habe nur das Umgekehrte gehört. M. H., gehen Sie uns darin mit gutem Beispiele voran! Schon damals haben unsere Freunde Sie dringend gebeten, m. H., sich hier in dem Hause zu gruppiren nach Ihren Parteieigenschaften und nicht nach diesem einen katholischen Programm, mit dem Sie die religiösen Kämpfe auf die politische Arena bringen. Vermeiden Sie den bösen Schein, als sollten gerade erst recht in diesem ersten deutschen Reichstage die alten religiösen Kämpfe wieder hervorgesucht werden (L. B.), die so lange den Konfessionsfrieden gestört haben. (S. r.!) — Ich bedaure, daß Sie auf diese Weise sich wieder organisirt haben, und, m. H., es wird Ihnen nichts helfen, daß Sie sich Centrumpartei nennen: Sie werden genannt, wie die Welt Sie nennt: (Br.) Sie werden nicht Centrum heißen, sondern Klerikale. Ich bin nun aber der Meinung, daß ich die Pflicht habe, Ihnen darüber keinen Zweifel zu lassen und auch nicht im Lande, daß wir nicht zu denjenigen gehören, die den meisten Grundsätzen, die heute von Ihnen ausgesprochen sind, überall widersprechen!

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M. H., Sie haben uns aufgefordert gegen die Omnipotenz des Staates, wir antworten Ihnen: wir hassen nichts so sehr als die büreaukratische, unbefugte Ein­ mischung des Staates in die kirchlichen Dinge! Wir werden stets dafür eintreten, wenn es darauf ankommt, die Gesetze und die Rechte der Kirchengenossen­ schaften zu schützen gegen Willkür von jeder Seite, von wo sie auch kommen mag, wir werden niemals in das wüsteGeschrei einstimmen, das erhoben wird gegen Rechte der Kirche und Schule und gegen die Bekenntnisses Nicht von dieser Seite her, m. H., machen wir Ihnen Opposition. Aber wie liegen die Sachen, was wollen Sie mit Ihren Anträgen erreichen? Die geehrten Mitglieder haben heute ununterbrochen plaidirt, als wenn es sich darum handle, daß wir eine Rückwärtsbewegung machen wollten, als wenn wir der Meinung wären, daß die Freiheiten, die die Kirche hat, aufgehoben werden sollen; sie haben heute plaidirt, als wenn es sich in diesem Augenblick darum handelte, den Artikel 15 der preußischen Verfassung aufzuheben. M. H., wo ist denn davon irgendwie die Rede? Wer will denn den Artikel 15 in Preußen aufheben? Ihre Anträge gehen ja nur dahin, daß Sie ohne weitere Prüfung, ohne alle weiteren Voraussetzungen und Vorbedingungen diesen AMel übertragen wollen in das neue deutsche Reich. Ein Mitglied aus Bayern hat uns heute auseinandergesetzt, daß er nie die Anträge unter­ schrieben haben würde, wenn er darin hätte eine Kompetenzerweiterung erkennen können, und daß die Verhältnisse zwischen Staat und Kirche in seinem Vaterlande Bayern vertragsmäßig zu seiner Zufriedenheit — wie ich verstand — regulirt wären. Nun, m. H., wozu dann die Anträge? darin sollte keine Kompetenz­ erweiterung sein, darin sollte für die Herren selbst keine Gefahr liegen, den AMel 15 so ohne Weiteres der Gesetzgebung des Bundes anheimzugeben? Sollte es vielleicht darin liegen, m. H., daß ich heute in der Zeitung gelesen habe, daß Seine Majestät der König von Bayern das Placet verweigert hat zu der Verkündigung des Unfehlbarkeitsbeschlusses? (H.! H.!) — sollte es vielleicht die Absicht sein, daß man ohne Weiteres, ohne Verträge und Garantien die Rechte, die die Kirche in Preußen hat — und ich will sie ihr gewiß nicht nehmen — hat übertragen wollen auf den ganzen Süden? M. H., ich bin nicht dagegen, aber ohne Regulirung der Verhältnisse zwischen Staat und Kirche verlangen Sie nicht von uns, daß wir unser Votum so ohne Weiteres dafür geben sollen, daß ohne diese schwerwiegenden politischen Interessen, die zwischen Kirche und Staat getheilt sind und getheilt bleiben werden, so lange die Welt steht, unbesehens übertragen werden aus die ganze deutsche Gesetzgebung und ohne vorher die nöthigen Verhandlungen und Verträge zu schließen! — ^eu^e3 Er­ achtens liegt nun aber in dieser Erweiterung, die Sie beantragen, ein Widerspruch mit Demjenigen und denjenigen Zielen und Plänen, die sie sonst ver­ folgt haben, der ganz erstaunlich ist! (S. w.!) Ich glaube auf einen Widerspruch aufmerksam machen zu sollen. Was Sie mit diesem Ihrem Anträge verfolgen, das hat in der Adreßdebatte auf das Allerdeutlichste wenigstens das verehrte Mitglied, welches soeben gesprochen hat, beansprucht, nämlich, daß das Reich in Italien für die weltliche Herrschaft des Papstes interveniren solle. Heute, m. H., stellen Sie den Grundsatz auf, den ich ja gar nicht bestreite, daß die Kirche vollständig frei sein solle in ihren inneren Angelegenheiten; daß dem Staat auch in anderen Bundesstaaten, als wie es schon in Preußen geschehen ist, keine Handhaben bleiben sollen, seine Rechte zu wahren, — daß die Kirche in inneren Angelegenheiten völlig frei sein soll. — Nun frage ich Sie, m. H., ist der Papst keine innere Angelegenheit Ihrer Kirche? Ich denke, er ist es im eminentesten Sinne; und wären Sie nicht der Meinung, hielten Sie ihn für eine auswärtige Macht, nun, wie kommt denn die katholische Fraktion dazu, bei uns den Antrag zu stellen, den wir befürworten sollten, daß die verbündeten Regierungen für diese auswärtige Macht interveniren sollen? Abg. Kiefer: M. H., der Herr Abg. für Tauberbischofsheim hat uns zu Beginn seines Vortrages aufgefordert, von einem hohen Standpunkte diese Dinge zu betrach-

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ten. Ich stimme darin vollständig mit ihm überein, daß es unsere? unwürdig wäre, nach den großen Ereignissen, welche dieses Reich neu geschaffen haben und welche uns die Aussicht auf eine große Zukunft eröffneten, in eine kleinliche, ängstliche oder furcht­ same rund scheue innere Politik zu verfallen. M. H., ich gehöre auch nicht zu denen, welche glauben, daß es an sich ein Bedürfniß der deutschen Staaten sei, die Beziehungen des Staates zur Kirche forthin oder auch nur auf längere Zeit ausschließlich als einen Vorbehalt der Partikular-Gesetzgebung zu behandeln. Ich bin vielmehr der Ueber­ zeugung, daß der Tag kommen wird — und ich wünsche, daß er bald komme — an dem die deutsche Reichsgewalt der Nation eine fundamentale Gesetzgebung über diese Dinge und diese Verhältnisse verleihen wird. Die deutsche Reichsgewalt allein wird die Macht besitzen, nach allen Richtungen hin das Gefühl der Rechtssicherheit zu ver­ leihen und jenen starken Willen zur Geltung zu bringen, der gegenüber den Erinnerungen an die Kämpfe früherer Jahrhunderte, welche ihre Wirkungen noch bis in unsere Zeit hinein erstrecken, nothwendig ist. Allein, m. H., wenn wir mit einem vollen Herzen und von einem hohen Standpunkte diese Dinge betrachten, dann dürfen wir uns hier in keiner Weise entgehen lassen jenen nüchternen Sinn der Thatkraft und des politischen Verstandes, welcher allein Deutschland wieder geschaffen hat in dieser Zeit. M. H., ich bin auch darin vollständig mit dem Herrn Abg. für Tauberbischofsheim der Ansicht, daß das tiefe Gefühl der Achtung vor der Religion, jene Herzenswärme und Ehrfurcht vor dem Hohen und Heiligen, welche unserer Nation in ihrem innersten Wesen eigen ist, daß das ein wichtiges und tief bedeutsames Unterpfand sei für unsere politische Zu­ kunft. Allein, m. H., das kann uns nicht dazu veranlassen, daß wir die neue deutsche Reichsgewalt damit inauguriren, eine Gesetzgebung zu schaffen, welche gefährlicher wäre, als alle Konkordate, welche die römische Kirche in den letzten Decennien irgend einer europäischen Regierung angeboten hat. Man hat uns hier gesagt, die Kirche sei nur eine bürgerliche Gesellschaft, sie trete hier in dieser einfachen Vereinsgestalt vor den Staat und seine Rechtsordnung. Es hat zwar der Herr Abg. Dr. Windthorst vor­ sichtig hierzu bemerkt, so ganz wahr und richtig sei das eigentlich nicht; das Fundament dieser Begründung ist aber doch auch unangefochten geblieben, wie es uns von den Vertretern des Reichenspergerschen Antrages hier vorgetragen wurde. * Nun, m. H., die Kirche ist kein Verein, sie ist eine mächtige Corporation, eine Großmacht, welche dem Staate in seinem wichtigsten und tiefsten Lebensgebiete auch heute noch Konkurrenz machen will. Wir dürfen und werden nicht vergessen, daß jene Bullen und funda­ mentalen Auslassungen der römischen Politik, welche diese Großmacht schufen, auch in der heutigen Zeit noch ihre volle nicht nur formelle, sondern auch materielle Be­ deutung besitzen, von der aus man entschlossen ist, bis zu den letzten Folgesätzen die Dinge dem Staat gegenüber zu regeln, wenn man die Macht dazu hat. Es ist eine seltsame Erscheinung, daß uns heute die preußische Partikular-Gesetzgebung, der Artikel 15 der preußischen Verfassung, als das Höchste gepriesen wird, was die ganze moderne Zeit in dieser Beziehung geschaffen hat. Ich habe nie wahrgenommen, daß diejenigen, welche, geleitet von ihren ultramontanen Instinkten, bis jetzt aufs Aeußerste Preußen und seinen Reformbestrebungen in Deutschland den Krieg gemacht haben, sich hierin irgendwie beirren ließen durch ihre Bewunderung für den Artikel 15. M. H., ich habe vielmehr stets im Süden wahrgenommen, daß die agitatorische Gewalt in der Volksmafse, namentlich jene agitatorische Gewalt, welche der nationalen Idee seit den Entscheidungen des Jahres 1866 den Krieg machte, bis in unsere Tage, bis zum Aus­ bruch des letzten Krieges und theilweise bis zu dem ersten Eindrücke der deutschen Er­ folge, von der ultramontanen Partei getheilt, gebilligt und mit der Wucht ihres Ein­ flusses auf die Masse ausgestattet worden ist. Nun, m. H., so wenig man mit Italien und der nationalen Einheit Italiens Frieden gemacht hat, nachdem der Graf Cavour entschlossen war, die freie Kirche im freien Staate zu gewähren, ebenso wenig würde man mit Preußen Frieden gemacht haben lediglich auf Grund der Thatsache, daß wir geneigt wären, den Artikel 15 der preußischen Verfassung in die Reichsgesetzgebung zu übertragen. Wenn die Herren uns heute im allgemeinen billigere Bedingungen machen

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als nach 1866, so ist hiervon die einzige Ursache, daß die Kraft und Größe, die mäch­ tige und deutsche Gestalt Preußens, seine Geschichte, daß der die besten Kräfte zusam­ menfassende Trieb, welcher in dem preußischen Volke lebte und waltete, in den jüngsten Tagen endlich den entschlossenen Willen und die Thatkraft fand, ganz Deutschland mit sich fortzureißen und eine so starke Centralgewalt zu schaffen, wie sie Deutschland nie besaß, und bei deren Anblick die Herren uns nun ein freundlicheres Gesicht entgegen­ bringen, als dies der Fall sein würde, wenn diese Macht und diese Kraft der That für die Sache Deutschlands nicht bestünde. (Z.) Ich wiederhole, die Herren haben die nationale Idee, ungeachtet des preußischen Verfassungsartikels 15 bekämpft bis auf den heutigen Tag und mit allen ihren Mitteln, und sie würden dies heute noch thun, wenn ihnen nicht durch den Gang der Dinge eine andere Zdee ausgedrungen worden wäre. (Gr. U. im C., lebh. Br. l. u. r.) M. H., ich habe vorhin den Ausdruck gebraucht, es werde uns hier ein Ding als Verfassungsgesetz angeboten, was ich für schlechter halte als ein Konkordat. Wenn man ein Konkordat abschließt, so hat man doch einen Ver­ trag mit einer Macht, welche sich verpflichtet diesen Vertrag zu erfüllen; hier aber wür­ den wir in Wahrheit einen demüthigen Vertrag zu Gunsten der römischen Kirche ab­ schließen, als deren Unterhändler sich der Abg. Windthorst und seine Freunde dar­ stellen. Der Herr Abg. Windthorst hat uns eine große Reihe freisinniger Dinge als die Grundlage und Grundrichtung seiner Anerbietungen ausgeführt, aber werden denn seine Sätze auch von seinen angeblichen Mandatgebern, den Inhabern der Autorität des römischen Stuhles anerkannt? Der Herr Abg. Barth hat es schon ausgesprochen, und es bedarf das keiner Versicherung, diese Theorie wird nicht anerkannt werden, sie steht im Widerspruch mit der Grundrichtung grade der neuesten Bestrebungen der römischen Kirche. Jenes absolutistische Regiment, welches eine neue verfassungsmäßige Weihe empfangen hat durch das neueste Konzil, würde sich, und zwar mit Recht, sehr wenig bekümmern um das, was der Herr Abg. Windthorst uns hier mit so großer Freigebigkeit verspricht. (H.) Herr von Ketteler hat als die höchste humane Errungen­ schaft dieser staatskirchenrechtlichen Bestrebungen die rechtliche Parität der Konfessionen bezeichnet. — M. H., diese Ansicht lobe ich, aber ich frage zugleich, wer hat uns die Parität als ein modernes Staatsprincip erfochten? Zch antworte: der Geburtstag des neuen Deutschlands ist nicht die Zeit, in der das Schwert der Hohenstaufen über Deutschland waltete und noch viel weniger die Tage, in denen die Habsburger mit der Kirche spanisch-romantische Politik in Deutschland trieben und sich dadurch zu Grunde richteten; die Geburtsstunde des neuen Deutschlands ist die Zeit, in der Friedrich der Große mit seiner neuen Politik und mit seinem Degen eintrat für das moderne Staats­ bewußtsein, indem er aus der Erbschaft seiner Väter und mit den.Mitteln ihrer Politik eine neue Großmacht schuf, welche entschlossen war, sich dadurch den Weg zu einer glänzenden Zukunft zu eröffnen, daß sie sich an die Spitze aller großen, sich von dem Mittelalter und seinen Traditionen abwendenden und dem Fortschritte der Neuzeit hul­ digenden Staatsideen setzte. M. H., Friedrich der Große und seine Politik und das, was von ihr fortwirkt in unsere Tage hinein, hat allein den Grundsatz der Parität in den Beziehungen der Konfessionen unter sich und zur Staatsgewalt geschaffen, und die römische Kirchengewalt, von der man uns sagt, daß sie nur einen einfachen Verein repräsentire, hat diesen Grundsatz nie anerkannt, hat vielmehr in feierlichen Kund­ gebungen, in Syllabus und Encyklika, ausdrücklich den Grundsatz der Parität ver­ dammt! (Oho! im C., Lebh. Z. l.) — Also in Allem, was uns der Herr Abg. Windt­ horst seinerseits, gleichsam als eine große Errungenschaft der Zeit, anpreist, und was der Herr Abg. für Tauberbischofsheim hier gleichsam segnet, würden wir gar nichts er­ langen, wenn wir in gutem Glauben zugriffen, als eine grobe Täuschung, die allerdings Jedermann in die Lage setzen würde, uns vorzuwerfen: „Ihr habt hier nicht wie politische Männer, nicht wie reife und erfahrene Volksvertreter gehandelt, sondern'wie Kinder; ihr habt euch etwas vormachen lassen, ihr habt kurzsichtig etwas hingenommen, was das nicht ist, wofür man es ausgiebt." (Lebh. Z. l. M. im C.) M. H., ich meinerseits verabscheue jede kleinlich büreaukratische Einmischung in das Wesen der

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Kirche. Der Herr Abg. für Tauberbischofsheim hat wohl, nach einem ultramontanen Blatte, hier über einen Berliner Vorgang berichtet, über die Aeußerung eines Ab­ wesenden, des Herrn Professors Bluntschli in Heidelberg. Ich weiß nicht, ob die An­ sichten dieses Mannes in der hier fraglichen Sache mit den meinigen ganz übereinstim­ men; wenn er wörtlich das gesagt hätte, was ihm von Herrn von Ketteler nach einem Zeitungsberichte in den Mund gelegt wird, dann stimmen Sie nicht mit den meinigen überein. Nach meinen Anschauungen — ich bin Protestant — beruht gerade die Natur, das tiefste Wesen dieser kirchlichen Gemeinschaft in der Lebenskraft der Gemeinde, in dem innerlichen religiösen Wesen der Mitglieder der Gemeinde. Ich habe nie das Staats-Kirchenregiment des fürstlichen Bischofs, das landesherrliche Episkopat, wenn es auch historisch nothwendig war, als eine hohe Zierde, noch weniger als eine unentbehr­ liche Lebensquelle des Protestantismus erachtet. Zch stimme dem Herrn Abg. für Tauberbischofsheim also völlig zu, wenn er sagt, wir dürfen die Kirche nicht erniedrigen, wir dürfen sie nicht herabsetzen unter die büreaukratische Bevormundung des Staates, das wäre nut Recht geeignet, das gesunde Selbstgefühl jedes Angehörigen der Kirche zu verletzen. Allein ich rufe Ihnen zu, den Vertretern des deutschen Volkes, sehen wir auf die Geschichte der Kirche, auf ihre Stellung zum Staat, und fragen wir uns, ob nicht unser deutsches Selbstgefühl noch tiefer verwundet würde, wenn wir den Tag er­ leben müßten, an welchem sich der Staat unserer Nation unter die Bevormundung der Könige und ihrer mittelalterlichen Politik niederbeugen müßte. Lassen Sie uns diese Zukunft nicht künstlich herbeiführen, lassen Sie uns ihr Erscheinen nicht künstlich er­ leichtern. Ich scheue mich nicht, zu behaupten, daß man in den ultramontanen Lagern, in denen man bis jetzt den Krieg. geführt hat gegen die nationale Politik Preußens, nur eine äußerliche Aenderung vollzog, indem man erklärte: „Wir gehen zum Kaiser", — innerlich aber behielt man sich vor, den Geist und die Grundanschauungen. dieser antinationalen Partei hineinzutragen in die Gesetzgebung und das innere Leben des Reichs. Diese meine Behauptung ist identisch mit dem, was alle ultramontanen Kan­ didaten des Südens als ihr Wahlprogramm für den Eintritt in dieses Haus der Ge­ setzgebung Deutschlands verkündet haben. (S. r.) Wenn Herr Windthorst uns versichert, der Staat sei nicht die einzige Quelle der Gesetzgebung, er sei nur zum Schutz der Produkte der Gesetzgebung,- zum Schutze des positiven Rechts berufen, so ist das eine Argumentation aus dem Geiste einer mittel­ alterlich-feudalen Zeit, in welcher der Staat sein Leben theilte mit der Kirche. Dieser Satz ist nach den Ideen der modernen Zeit durch und durch unwahr. Der Staat ist die einzige Macht, welcher das Recht der Gesetzgebung und damit die Regelung der öffentlichen Rechtsordnung zukommt. Aber damit ist nicht gesagt, daß der Staat das Gesetzgebungsrecht dazu mißbrauchen dürfe, um die Individuen seiner Bürger unter Be­ vormundung zu versetzen, noch viel weniger berechtigte Korporationen, denen eine tiefgehende Wirksamkeit zukommt. Allein, m. H., wenn man Ihnen von Seiten der An­ tragsteller versichert, daß diese Wahrheit des modernen Staatsrechts nicht begründet sei, so versteht man darunter einfach, daß der Staat auch heute noch seinen Beruf zur Ge­ setzgebung zu theilen habe mit der Kirche. Die Kirche ihrerseits — das wissen Sie Alle — hat jederzeit das ausschließliche Recht in Anspruch genommen, Gesetze zu schaffen über die Ehe; sie hat auch bis auf diesen Tag nie das Recht aufgegeben, die Ordnung des Schulwesens und des Volksunterrichtes, eine der mächtigsten Quellen der Kraft des deutschen Staates, ihrerseits zu beherrschen und nicht blos die Oberaufsicht zu führen, sondern auch die Gesetzgebung des Staates in einer Weise materiell zu influiren, wie sie ihrem und ausschließlich nur ihrem geistlichen Interesse entsprechen würde. Nun, m. H., wäre ein solcher Zustand noch eine Staatsordnung, kann man hier noch von einem Gegensatz zur Staatsomnipotenz sprechen? Nein, das wäre das Chaos, das wäre ein Rückfall in diejenigen Zeiten, in denen der erste Repräsentant der deutschen Nation gezwungen war, sich zu theilen in der Herrschaft mit dem Papst. Das wäre ja gerade der Rückfall in den Geist jener mittelalterlich-feudalen Zustände, welche seit den Tagen Friedrichs des Großen nichts mehr sind als trübe Erinnerungen

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an Zeiten des Verfalles, dem uns in unseren Tagen die Kraft seines Staates ent­ rissen hat. M. H., wir Süddeutschen haben in dem französischen Kriege eine alte Schuld aus­ getilgt — gerade, weil ich ein Süddeutscher bin, will ich dies hier öffentlich aussprechen. Wir machen keinen Anspruch auf Lohn dafür, daß wir Alle bis aufs Aeußerste ein­ gestanden sind für die Unabhängigkeit der Nation. Wir haben in den tapfern Kämpfen der süddeutschen Krieger jene schmerzliche Erinnerung an die Schmach der RheinbundsEpisode ausgetilgt bis auf den Grund, getilgt in französischem Blute! Wir haben für die einheitliche Fahne gekämpft, um welche unter der Führung Preußens die Nation geschaart war, für unsere Selbstständigkeit und Sicherheit, welche begründet ist in der Unabhängigkeit Deutschlands. Allein einen gerechten Anspruch an unsere norddeutschen Freunde haben wir zu erheben: lassen Sie uns nicht einen partikularistischen Satz, der nicht allen Interessen genügt, den Artikel 15 der preußischen Verfassung, jetzt in der ersten Stunde des neuen Reiches als eine unvollkommene Gabe auf den Tisch dieses Hauses niederlegen. Auch ich bin der Meinung, die neulich hier aus­ gesprochen wurde, daß dieser Satz nicht ein Produkt hoher Staatsweisheit sei, sondern das Produkt eines Kompromisses zwischen der von der Revolution eingeschüchterten preußischen Regierung und einem doktrinären Radikalismus. — Es ist also in Wahr­ heit begründet, wenn man Ihnen zuruft, wir wollen unsere Geschäfte machen, wir wollen übergehen zu den Aufgaben deutscher Gesetzgebung, in der Weise praktischer Geschäftsmänner, welche genau erwägen und wissen, was sie zu thun haben, welche sich nicht den unklaren Allgemeinheiten überliefern, aus welchen unsere Gegner etwas ganz Anderes schöpfen als das von uns Gewollte und Beschlossene. Wir wollen uns hüten, einer Macht Rechte zu verleihen, welche ihrerseits gar nicht gewillt ist, diese Herren hier als ihre Vertrauensmänner anzuerkennen, welche auch über alle diese Herren ohne Rücksicht zur Tagesordnung übergehen würde, denn sie müßte nach ihrer Natur diese Rechte in dem Sinne interpretiren, in dem sie der Ultramontanismus zu allen Zeiten interpretirt hat, und in dem wir sie ihm nicht einzuräumen gedenken. Wir sind in diesen Tagen einen großen Schritt vorwärts gekommen. Die partikularistische Gewalt ist in ihre Schranken zurückgewiesen, die Reichsgewalt und das Reichsoberhaupt be­ deuten vor dem ganzen deutschen Volke die Stärke und die Macht. Das ist der höchste Segen unserer Zeit — er birgt in sich das Gefühl, daß Deutschland ein Staat ge­ worden ist. Lassen Sie uns aber unter dem Jubel dieser Siegestage nicht vergessen, daß die Niederlagen Preußens im siebenjährigen Kriege, die Tage von Collin und Kunersdorf einst wie hohe Freuden- und Festtage am römischen Hose gefeiert wurden, und daß, wenn es heute anders gekommen, diese Erscheinung nur darin begründet ist, daß man nun die Früchte erntet von dem Heldenmuth, der Energie und der staats­ männischen Größe, in welcher damals Preußen — im Gegensatze zu mancher späteren Epoche — gelenkt worden ist. M. H., ein geistvoller Parteigänger welfisch-ultramontaner Richtung, Herr Onno Klopp, hat gesagt, Graf Bismarck habe die Politik Friedrichs des Großen wieder her­ ausgegraben. Das wollen wir ihm glauben und wir wollen diesen Glauben dadurch bewähren, daß wir nie mehr zurückkehren in die Tage der Zeit, in der Deutschland sich vor dem Ultramontanismus fürchten und die innere Politik mit ihm theilen mußte! Lasten Sie uns im Geiste der neuen Zeit unsere Aufgabe erfüllen; dann allein werden wir würdig sein, die Erben derer zu heißen, welche in den Tagen der Schlachten und Entscheidungen gegen den auswärtigen Feind das Größte geleistet haben, dann werden wir die Wohlthaten eines mächtigen und freien Staatswesens in die Zukunft über­ liefern, wofür unsere Krieger und mit ihnen das ganze deutsche Volk so gewaltige Opfer gebracht haben. (L. Br.) Abg. Bebel: M. H.! Ich muß zunächst das Geständniß ablegen, daß mir die Debatte einen ganz eigenthümlichen Eindruck gemacht hat. Ich habe geglaubt, es würde sich um eine prinzipielle Erötterung, ob Grundrechte oder nicht Grundrechte, handeln; statt dessen bekommen wir zwei lange Sitzungen hindurch nichts weiter als Streitig-

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feiten über religiöse Dinge zu hören. Es scheint mir überhaupt, als wenn die Reli­ gionsinteressen im neuen deutschen Reich alles Andere ausmerzen sollten; denn in zwei Sitzungen, die ich die Ehre habe hier anwesend zu sein, habe ich außer Religiösem kaum etwas Anderes zu hören bekommen, so daß einem Manne, der mit den religiösen Dogmen vollständig gebrochen hat, es eine gewisse Selbstüberwindung kostet, einer solchen Verhandlung länger zuzuhören! (H.) — M. H., es ist von einer Seite in der Sonn­ abendsitzung behauptet worden, daß Grundrechte in einer Verfassung zu verlangen eigent­ lich ein längst überwundener Standpunkt sei, ein Standpunkt, der der Kinderzeit unseres politischen Lebens angehöre. Ich werde auf diesen Einwand noch später aus­ führlich zurückkommen. (U.) Ich will hier zunächst nur bemerken, daß, als vor circa 8 Monaten der König von Preußen Berlin verließ und nach dem Kriegsschauplätze ab­ reiste, er in einer Proklamation ausdrücklich aussprach, daß aus diesem Kriege die freiheitliche und einheitliche Entwickelung Deutschlands hervorgehen solle. Nun, m. H., ich hätte denn doch geglaubt, daß, wenn man von höchster Stelle dieses Versprechen nicht erfüllt hat, nach meiner Ueberzeugung es wenigstens Aufgabe und Pflicht des Reichstages gewesen sei, an dieses Versprechen zu erinnern und Alles aufzubieten, um dieses Versprechen zur Verwirklichung zu bringen. Statt dessen aber höre und sehe ich aus den ganzen Verhandlungen, daß nicht nur diejenige Partei, die Herren von der Rechten, die von jeher von freiheitlichen Rechten gar nichts haben wissen wollen — das bringt ja ihre Natur mit sich — (Gr. H.), sondern daß auch die Herren hier von der Linken, die seit 3, 4, 5 Jahren uns beständig damit vertröstet haben: Haben wir erst die Ein­ heit, dann bekommen wir auch die Freiheit. (Anh. U.) Also die Herren haben uns seit dieser Zeit beständig damit vertröstet, die Freiheit würde kommen, und jetzt, wo mit der Freiheit nach ihren früheren eigenen Aeußerungen der Anfang soll gemacht werden, sagen sie, es ist inopportun, und zu meinem größten Erstaunen tritt diejenige Partei (die Fort­ schrittspartei), die in dem vergangenen Jahre, wo diese Herren (auf die Nationalliberalen weisend) die Parole der Inopportunität ausgaben, diese Parole bekämpft hat, jetzt auf und erklärt ebenfalls, es ist inopportun, die Grundrechte in die Verfassung aufzunehmen. Sie erklärt das angesichts der Thatsache, daß selbst die verbündeten Regierungen sich um die Inopportunität einer Verfassungsänderung gar nicht scheren, sondern beantragen, daß der Artikel 8 der Verfassung geändert werde, insoweit als der Ausschuß für die auswär­ tigen Angelegenheiten außer den Mitgliedern von Bayern, Sachsen und Württemberg auch noch zwei vom Bundesrath gewählte Mitglieder in seiner Mitte zähle. M. H., wenn die Herren von der Negierung keine Veranlassung genommen haben, sich an das, was sie vor einigen Monaten beschlossen haben, zu kehren, sondern hier selbst eine Aen­ derung der Verfassung beantragen, dann, sollte ich meinen, dürfte eine Partei, die bis­ her vorgab, den entschiedenen Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben zu haben, doch wahrhaftig nicht hinter der Regierung zurückbleiben. Indeß diese eigenthümliche Er­ scheinung läßt sich sehr wohl erklären, und hier komme ich auf das Wort zurück, was der Abg. Treitschke am Sonnabend ausgesprochen hat, nämlich, daß es in die Zeit der politischen Kinderjahre gehöre, wo man Grundrechte und dergleichen Dinge in eine Ver­ fassung ausgenommen hat. Ich gebe diesem Satze allerdings eine andere Interpretation, wie er sie gegeben hat. Der Abg. von Treitschke hat vollständig Recht, von politischer Kindheit zu reden, wenn er die Zeit von 1848 erwähnt. Denn, m. H., politische Kinder können es allerdings nur gewesen sein, die in einer Neichsverfassung, an deren Spitze der König von Preußen als deutscher Kaiser stehen soll, absolute Preßfreiheit, absolutes Vereins- und Versammlungsrecht, Trennung der Schule von der Kirche, der Kirche vom Staat, die Gewährleistung der persönlichen Freiheit und noch eine Menge anderer Dinge verlangen. Das von dem König von Preußen, überhaupt von einem Fürsten zu verlangen, ist allerdings kindisch. (H.) Denn, m. H., wir dürfen nie ver­ gessen, daß die Interessen des Volkes und die Interessen der Fürsten entgegengesetzte sind (W. u. Gel.), daß der Fürst das Interesse hat, möglichst absolut zu regieren, und daß er dieses Interesse nur in soweit wird fahren lassen, als er durch die öffentliche Meinung und nöthigenfalls durch die physische Gewalt des Volkes dazu gezwungen

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wird. Aber in einer Zeit, wo die preußische Staatsmacht und die gesammte deutsche Macht dem König von Preußen als Kaiser von Deutschland zur Verfügung steht, wo er über eine Million Bajonette zu verfügen hat, im Parlament darüber zu debattiren, ob man absolute Vereinsfreiheit u. s. w. vom Könige von Preußen verlangen könne, ja, m. H., das können allerdings ernsthafte politische Männer nicht thun, die da wissen, daß alle politischen Fragen, alle Rechtsfragen zugleich Machtfragen sind. Wenn Sie ein Recht fordern, m. H., dann haben Sie zwar die theoretische Begründung, das theoretische Recht jedenfalls auf Zhrer Seite, aber die Gewalt, das Recht in der Praxis durchzuführen, die haben Sie nicht. Und, m. H., eine Regierung, und namentlich eine starke Regierung — und um so mehr, je stärker sie ist — wird an ihrem Rechte, am Rechte der Krone festhalten, sie hat gar keine Lust, theoretische Gelüste, die ihre Macht­ vollkommenheit beschränken, ohne Weiteres in die Verfassung aufzunehmen. Und ich bin deshalb auch der Meinung, daß es hier allerdings im Großen und Ganzen nach Lage der Dinge ziemlich überflüssig ist, über die Grundrechte zu diskutiren, so lange man nicht entschlossen ist, nötigenfalls die Grundrechte um jeden Preis auch mit Ge­ walt durchzuführen. (Gel.) — M. H., stellen Sie an die Krone Preußen hundert und tausend Mal das Verlangen, und halten Sie in jeder Session achtzig und neunzig Ellen lange Reden über die Nothwendigkeit und Nützlichkeit der Grundrechte, Sie wer­ den-nicht eher die Grundrechte erlangen, bis Sie klar und deutlich aussprechen: Wenn das, was wir für unser Recht, für das Recht des Volkes halten, uns nicht bewilligt wird, so werden wir es gegen euren Willen uns nehmen. Also diesen Standpunkt muß meines Erachtens eine politische Partei, wenn Sie eine vernünftige Partei sein will, festhalten. Auf der andern Seite mag sie verzichten, freiheitliche Forderungen, namentlich radikale Forderungen irgendwie zu stellen. Es kommt aber noch ein an­ derer Grund hinzu, der namentlich in der gegenwärtigen Zeitperiode wesentlich dazu beiträgt, die Herren von der liberalen Partei davon fernzuhalten, auf Durchführung politischer Freiheiten einzugehen. Das läßt sich nicht leugnen, daß wir in einer bewegungsschwangeren Zeit uns befinden, und einer meiner Vorredner, der Herr Abg. von Mallinckrodt, hat ja darauf angespielt, indem er sagte: „die europäische revolutio­ näre Partei mache fich in diesem Augenblick eben etwas sehr mausig." Ich habe keine Ursache, diese Bezeichnung hier zurückzuweifen, ich selbst gehöre zu dieser Partei. (Gr. U. u. Gel.) — M. H., der Liberalismus muß sich eingestehen, daß er, wenn er mit freiheitliche^ Forderungen kommt und wenn er diese freiheitlichen Forderungen ernsthaft verficht, auf alle Fälle auf unsere Unterstützung rechnen kann. Er weiß aber auch, daß die Durchsetzung der freiheitlichen Forderungen wesentlich uns, der revolutionären Partei, zu Gute kommt, und weil er das eben weiß, darum werden wir in Deutschland, im neuen deutschen Reiche genau das erleben, was wir in Frankreich und in anderen Ländern, wo die revolutionäre Partei in gewisser Stärke vorhanden war, stets erlebt haben, daß nämlich diese Herren sich lieber in die Arme der reaktionärsten Re­ gierung werfen, als sich in eine noch so schwache Verbindung mit der Revolutions­ partei einzulassen. (Von allen Seiten: S. r.!) — Ja, gewiß, sehr richtig, täj sage es ja auch. M. H., als zu Anfang der sechziger Jahre der Konflikt in Preußeu aus­ gebrochen war und zu der höchsten Blüthe sich entwickelt hatte, so hat, wie mir erz ählt worden ist, irgend Jemand damals den Herrn von Bismarck gefragt, ob er denn nicht fürchte, daß dieser Konflitt zu gefährlichen Kollisionen, ja womöglich zu einer Revolrution führen könne. Darauf soll Herr von Bismarck — gewiß sehr treffend — geantwortet haben: „Ah bah, weit mehr, wie der Fortschritt mich haßt, fürchtet er die Revolution." Sehr richtig, m. H., es ist das eben nur die Illustration zu dem, was ich kurz vorher sagte. Wir werden in den heutigen Verhältnissen bei der Stellung, die unsere liberale Partei seit Jahren eingenommen hat, wo sie ein Freiheitsrecht nach dem anderen preis­ gegeben in schmählichster Weise, in Deutschland darauf ganz verzichten müssen, die Frei­ heit des Volks auf parlamentarischem Wege zu erreichen, und insofern werde ich und wird meine Partei sich allerdings keine große Mühe geben, einen so vergeblichen Kampf zu führen. Wir hoffen, daß, ehe das neunzehnte Jahrhundert zu Ende gegangen ist.

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die Zeit herbeigekommen sein wird, wo wir auf die eine oder auf die andere Weise nicht nur die Grundrechte, sondern alle unsere Forderungen werden verwirklichen können. (Gr. U.) Abg. Miquel: M. H., erwarten Sie nicht, daß ich auf die Deduktionen des Vorredners Herrn Bebel eingehe! Zn den Köpfen dieser Herren giebt es nur einen Gegensatz, nämlich: Bonapartismus oder Kommunalismus, der heute in Paris herrscht. Irgend etwas Drittes können die Herren sich nicht denken, und daher kommen die sozialen und politischen Verwirrungen, die wir auf der Tribüne von ihnen schon so oft haben vertheidigen hören. Da vorerst diese Herren noch wenig gefährlich sind, wenig­ stens in Deutschland, da es also noch Zeit hat, später sich mit ihnen zu beschäftigen, so komme ich auf die Herren da vor mir zurück (auf die katholische Fraktion deutend), indem ich allerdings glaube, daß sie zur Zeit bedeutungsvoller sind für unsere politische Entwickelung. M. H., die Herren vor mir haben sich auf das Allerbitterste beklagt, daß man kein Vettrauen in ihre gute, und namentlich deutsche Gesinnung setzen wolle, und sie finden anscheinend, daß man damit ihnen und ihrer Partei das größte Unrecht thue. Ich möchte nun die Herren einladen, mal an sich selber zu denken und zu fragen, ob sie zu diesem Mißtrauen doch nicht einige Veranlassung gegeben haben, (Stimme aus dem C.: Nein, nicht im Mindesten!) ob es wohl so ganz zufällig ist, daß alle Par­ teien im Hause — die Rechte, die Linke, alle Parteien, gleich weit heute von ihnen entfernt sind. — M. H., wir können wohl sagen — und ich glaube, ich darf auf die Zustimmung der öffentlichen Meinung in Deutschland und der großen Mehrheit hier im Hause rechnen, wenn ich das sage: das Deutschland von heute ist gegen Sie zu Stande gebracht, Sie haben es verhindert mit allen Mitteln, Sie sind heute die Ge­ schlagenen. (Lebh. Z. von beiden Seiten.) M. H., haben wir denn je von Ihnen und Ihrer Pattei in diesem großen Kampfe, in diesem Ringen der deutschen Nation ein zustimmendes Wort gehört?! Sehen wir Ihre Presse, Zhre Reden durch, — nirgendwo ein sympathisches Wort für den großen Kampf und das Ringen der deutschen Nation! (S. r.!) Ueberall hingegen, wo es möglich war, in allen Formen, der ent­ schiedenste Kampf gegen uns und gegen die deutsche Entwicklung; nirgendwo Hilfe und Beistand! Za, m. H., diejenigen unter Zhnen, welche aus Bayern hierher gekommen sind — und ich wende mich vorzugsweise an den Herrn Abg. Greil, der wird mir zugeben, daß die Pattei, mit der er und seine Anschauungen mindestens sehr nahe ver­ wandt sind, wenigstens noch in den letzten Tagen vor dem Ausbruch des deutschen Krieges den Verrath an Deutschland offen gepredigt hat. (Gr. U. H.! H.!) — M. H., vor mir liegt hier eine Sammlung von bayerischen Organen der katholischen Kirche, der „Volksbote", das „Vaterland", die „Postzeitung" und die „Süddeutsche Presse". Die Nummern, die ich hier habe, datiren vom 11. und 12. Zuli, von einer Zeit, wo der Kampf schon an unsere Thüren klopfte, wo Zeder wußte, es gelte für ganz Deutsch­ land, sich zusammen zu schaaren, um uns gegen diesen so frivolen Ueberfall des Zmperialismus und des Franzosenthums zu schützen. Nun, was sagen denn damals diese Blätter einstimmig? „Wir gehen nicht mit Preußen; wenn wir gezwungen werden durch unsere eigene Narrheit, mit den Preußen zu gehen, so wird es nur sein bis zur ersten Niederlage, dann wenden wir uns um und schlagen mit den Franzosen auf die Preußen; dann wird endlich die Zeit kommen, wo der gottverfluchte Staat der Hohenzollern zu Grunde geht." (H.! H.!) M. H., damit ich nicht zu viel behaupte, gestatten Sie mir, eine Stelle aus dem mir vorliegenden „Vaterland" vorzulesen; ich werde nachher im Hause das Konvolut zirkuliren lassen, damit die Herren Gelegenheit haben, auch die anderen Blätter an­ zusehen. Es heißt da also in der Nummer vom 12. Zuli: „Sei es drum! Mag der entscheidende Streit, der schon so oft aufgeschoben worden, endlich ausgefochten werden; anders kommen wir zu keinem wahren Frieden. Auf wessen Seite aber wir uns stellen? Ei ja! Natürlich auf die Seite der Verspielenden. Preußen muß endlich seine wohlverdienten Prügel haben: das Blut der Opfer von 1866, das

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zertretene Recht, die beleidigte Gerechtigkeit, das empörte Europa will es; da gehen wir natürlich mit den „deutschen Brüdern" im Norden, wenigstens bis zur ersten verlorenen Schlacht. Dann kommen wir vermuthlich zu Verstand und dann schlagen wir mit den Andern auf die Preußen, je kräftiger, desto besser. Zn Europa wird sichs nur wieder leben lassen, wenn der preußische Raubstaat gedemüthigt und für den Frieden Europas unschädlich gemacht sein wird." (Gr. U. H.! H.! Pfui, pfui!) M. H., wenn wir in Norddeutschland diesen Dingen gegenüber, die wir im Süden erlebt haben, eine deutschgesinnte katholische Partei sähen, wenn wir von dieser Seite die kräftigste Unterstützung unserer Angelegenheiten und die entschiedenste Ver­ werfung jener Grundsätze ihrer Parteigenossen im Süden gesehen hätten, dann aller­ dings würde ich dies hier nicht erwähnen! aber ich habe das Verfahren dieser Partei seit Zähren genau beobachtet, ich erinnere mich aber auch nicht eines einzigen solchen Zeugnisses der klerikalen Partei aus dem Norden, welches diese Dinge verwürfe und verdammte. (H.!) M. H., solchen Dingen gegenüber werden Sie es uns doch nicht verargen, wenn wir ein wenig Mißtrauen gegen Sie haben. M. H., Sie kommen hierher mit großen Forderungen; vorgestern wollten Sie die auswärtige Politik des deutschen Reiches im klerikalen Interesse bestimmen, heute wollen Sie für die katho­ lische Kirche Rechte und Privilegien — ich werde das noch näher ausführen — welche sich in Preußen nicht bewährt haben und welche Ihnen in Süddeutschland nach meiner Ueberzeugung nie zugestanden werden können. M. H., das allerdings muß einige Ver­ wunderung erregen. Wenn Sie mitgewirkt hätten an der Herstellung dieses deutschen Kaiserreichs, wenn Ihre Kräfte und Ihre Intelligenz mitgewirkt hätten, die Verfassung zu begründen, dann allerdings würde es natürlicher sein, daß Sie heute schon mit solchen Forderungen an uns herantreten. So aber werden Sie es natürlich finden, daß wir diese Forderungen zurückweisen, bis Sie durch Thatsachen bewiesen haben, und nicht durch Worte, daß Sie fich ehrlich auf dem Boden des heutigen deutschen Reiches stellen. (Z. l.) Aber auch auf der andern Seite —- ich habe mir vorgenommen, heute mit vollster Offenheit zu reden — aber auch auf der anderen Seite müssen wir mißtrauisch sein. M. H., wenn wir hier von Glaubensfreiheit und Freiheit pre­ digen hören, und wenn die katholische Kirche, die doch eine ecclesia una et universalis ist, deren Grundsätze überall gleich sind, in Tirol die Glaubenseinheit predigt, wenn wir noch bis vor Kurzem in Spanien die Protestanten wegen ihres Glaubensbekennt­ nisses eingekerkert sahen, und wenn in dem Musterstaat der katholischen Kirche, im Kirchenstaate selber, bis heute noch keine Glaubensfreiheit existirt, wenn die katholische Kirche überall ein verschiedenes Gesicht zeigt, dann ist es an uns, mißtrauisch zu sein. (S. w.! l.) — Zch will kein Vertrauen haben, ehe ich nicht Beweise habe; die Ge­ schichte flößt mir kein Vertrauen ein. — Nun will ich zurückgehen auf die meiner Meinung nach die eigentliche Grundlage dieser ganzen Diskussion bildenden Ausfüh­ rungen des Herrn Freiherrn von Ketteler. Er hat allerdings hier einen Gegensatz in die Debatte gebracht, der mit der größten Offenheit aufgeklärt und beantwortet werden muß; er hat gesagt, wir wollen nur Freiheit, keine Ausnahmestellung, wir wollen die­ jenigen Rechte, die die Andern haben, wir wollen keine Vorzüge, keine Privilegien, weder privilegia odiosa noch beneficia. Gut! Diesen Standpunkt werde ich auch acceptiren, und von diesem Standpunkte werde ich ein wenig näher auf die Bedeutung des Artikel 15 der preußischen Verfassung eingehen. M. H., die meisten Dinge in der Geschichte versteht man nur dann, wenn man auf ihren Ursprung zurückgeht, und es ist von mehreren Seiten hier im Hause und in dieser Diskussion bereits geschehen. Es hat der Herr Abg. von Treitschke darauf hin­ gewiesen, daß dieser Artikel entstanden sei in der Kindheit des Liberalismus, und es ist diese Aeußerung ihm von den verschiedensten Seiten sehr unangenehm gedeutet worden. Nun, ich glaube allerdings, mit dem einen Worte ist die Sache nicht ab­ gethan. Wir müssen uns erinnern an die Zustände in Preußen von 1848 ; wir müssen uns erinnern an die Konflikte des Polizei- und absolutistischen Staats mit der katho-

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lischen Kirche in der Kölner Erzbischofsfrage; wir müssen uns erinnern, daß damals alle liberalen und wohldenkenden Männer die größte Scheu davor hatten, daß solche Dinge zurückkehren könnten. Der Polizeistaat, der Staat der Willkür, der absoluti­ stische Staat war der katholischen Kirche gegenüber, der öffentlichen Meinung in Deutsch­ land gegenüber unterlegen. Nun kam das Jahr 1848, und ich glaube allerdings, es ist kein Verrath an der liberalen Sache, wenn ich offen bekenne, daß die damals aller­ dings noch sehr unerfahrene liberale Partei glaubte, den Fortschritt darin zu erblicken, wenn sie die Rechte des Staates verminderte; sie sah im Staate vorzugsweise den absolutisti­ schen Polizeistaat, und jede Verringerung der Rechte des Staats hielt die liberale Partei in viel zu hohem Maße damals für eine Vermehrung der bürgerlichen Freiheiten. Diese beiden Anschauungen und die Wirksamkeit des politischen Schlagworts: „Tren­ nung der Kirche vom Staat", sowie die Hoffnung — im Sinne der liberalen Partei rede ich heute —, daß dann auch die Trennung der Schule von der Kirche und die übrigen Freiheiten, die Garantierechte des Einzelnen der Kirche gegenüber von selbst folgen würde, — diese Dinge brachten damals, geführt und geleitet von den ganz kaltblütigen Vertretern der katholischen Kirche, den Artikel 15 der preußischen Ver­ fassung hervor. Wer die damaligen Debatten genau lieft, wer die inhaltreichen Worte des Herrn Abg. Reichensperger in diesen Debatten mit den unklaren und ich möchte sagen idealen und ideologischen Auseinandersetzungen der liberalen Partei vergleicht, der allerdings wird den Schlüssel für Artikel 15 unserer Verfassung gefunden haben. — M. H., nun haben wir glücklicherweise die Erfahrung, die Geschichte der Wirksamkeit dieses Artikels 15 gesehen, — was ist nun aus diesem Artikel 15 der Verfassung hervorgegangen? Nicht ein einfaches Recht der katholischen Kirche, nicht die Gleichheit der Rechte der anderen Konfessionen, sondern eine privilegirte Ausnahmestellung der katholischen Kirche in Preußen, wie sie gradezu unerhört ist, und von der man aller­ dings sagen kann mit dem Herrn Abgeordneten aus Baden: dieser Artikel giebt der katholischen Kirche im Verhältniß zu den übrigen Konfessionen Rechte, wie sie niemals von der katholischen Kirche bei Gelegenheit von Konkordatsverhandlungen gefordert sind. — M. H., hat denn die evangelische Kirche aus diesem Artikel irgend einen Nutzen ziehen können, ist sie nicht noch heute in derselben Lage wie 1848? haben denn die übrigen Konfessionen oder religiösen Anschauungen und Gemeinschaften daraus irgend einen Nutzen ziehen können? ist denn heute die Civilehe, die nothwendige Ergänzung, um die wahre konfessionelle und menschliche Freiheit herzustellen, in Preußen eingeführt? ist in Bezug auf das Schulwesen irgend eine Veränderung eingetreten? Wer allein hat aus dem Artikel 15 die volle Unabhängigkeit herleiten können, als die katholische Kirche? Ist das Gleichheit der Rechte, ist das der Satz „volle Glaubensfreiheit", oder ist das vielmehr nichts weiter, als unter dem Scheine der Freiheit eine Privilegirung und Eximirung der katholischen Kirche? M. H., diejenigen Gesetze sind im wahren Sinne Gesetze der Gleichheit, welche gleichmäßig wirken, nicht die, die gleiche Worte sprechen, sondern die, die eine gleiche thatsächliche Wirkung haben. — M. H., fern liegt es mir, irgendwie in dogmatische und theologische Streitigkeiten hinein zu gerathen, fern sei es von mir, das religiöse Gefühl der deutschen Katholiken irgendwie unangenehm berühren zu wollen, aber Sie werden mir zugestehen, daß die Organisation einer Weltkirche von vorn herein natur­ gemäß zu einer andern Behandlung aufsordert als eine nationale Kirche. Daß die evangelische Kirche eine nationale Kirche sei, wird Niemand bestreiten, ebensowenig, daß die katholische Kirche mit ihrer Geschichte und inneren Wesenheit eine antinationale, eine universelle Kirche sei. M. H., der Grundirrthum, der immer verbreitet wird durch die unrichtige Frage­ stellung, ist der, daß, wenn man von einer Behandlung der katholischen Kirche spricht, man glaubt, eine konfessionelle Genossenschaft zu behandeln, — nein, die katholische Kirche ist auch eine große politische Macht, und kein Staat kann die Bedeutung dieser politischen Biacht ignoriren, es wäre dies geradezu selbstmörderisch. Sollten Sie dies leugnen, dann weise ich hin auf die Worte des Herrn Abg. Windihorst. Er sagt:

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die weltliche Macht des Papstes ist das nothwendige Fundament der katholischen Kirche; wer nicht für die weltliche Herrschaft des Papstes interveniren will, der verletzt und verräth die Lebensinteressen der deutschen Katholiken. — M. H., hat denn die katho­ lische Kirche in den letzten Jahren einen andern Kampf in Deutschland geführt als einen politischen? was war denn ihre Stellung, die Stellung, die die Kirche als solche in den deutschen Verfassungskämpfen eingenommen hat, anderes als eine politische? Wollen Sie denn heute Jemand glauben machen, daß es sich in Deutschland, in irgend einem deutschen Staat um die Frage, ob Glaubens- und Gewissensfreiheit, handle? wird denn irgend Jemand diese längst in Deutschland entschiedenen Dinge wieder in Frage stellen können und wollen? und wenn es sich um die Stellung der Kirche zum Staat handelt, handelt es sich dann um katholische Glaubens- und Gewissensfreiheit? Nicht im Allerentferntesten! M. H., wenn wir diese Erfahrungen des 23 jährigen Wirkens des Art. 15 der Verfassung vor uns haben, so kommt nun allerdings auch innerhalb der katholischen Kirche eine sehr erhebliche Veränderung seit dem Jahre 1848 hinzu. M. H., ich rechte nicht darüber, habe keine Meinung darüber, tadele die Meinung Niemandes, wenn ich von dem Glaubenssatz der Unfehlbarkeit spreche; daß aber doch nach der Meinung großer katholischer Gelehrten die Verfassung der Kirche in ihren Grundfesten verwan­ delt, das Auftreten der Kirche, ihr Verhältniß zum Staat wesentlich ein anderes ge­ worden ist durch dieses Prinzip, dafür kann ich mich berufen auf die täglich hervor­ tretenden Differenzen und Streitigkeiten, "ich kann mich berufen auch neuerdings auf einen der größten katholischen Theologen, auf den Professor Döllinger, der dies Dogma verwirft als Christ, als Bürger, als Gelehrter, der sagt, dies Dogma müsse in das neue Reich den gefährlichen Keim des Unfriedens werfen. M. H., wenn große ka­ tholische Theologen so sprechen, wenn die Herrschaft dieses Dogmas erst neuerdings zur Herrschaft in der katholischen Kirche gelangt ist, so, sage ich, sind wir berechtigt, auch aus diesem Grunde heute anders zu entscheiden als im Jahre 1848. Sie sehen also, m. H., ich mache Ihnen keine dilatorischen Einreden, ich freue mich darüber, daß Sie die Kompetenz des Reiches, in diesen Dingen zu entscheiden, anerkannt haben, ich freue mich darüber, daß Sie, indem Sie das Verhältniß von Kirche und Staat hineintragen in das deutsche Reich, indem Sie behaupten, es könne das Verhältniß von Kirche und Staat — denn darum handelt es sich doch hier allein — durch die einfache Gesetz­ gebung hier geregelt werden, damit anerkennen: wenn das Reich an die Erledigung dieser Sache im Wege der organischen Gesetzgebung geht, so handelt es innerhalb seiner Kompetenz. Mit vollem Herzen bin ich mit dem Abg. aus Baden, Herrn Kiefer, ein­ verstanden, wenn er sagt, lediglich im deutschen Reiche können diese Fragen voll er­ ledigt werden. Wie die Zersplitterung des deutschen Reiches die traurigen Zustände hervorgehoben hat, von denen der Abg. von Mallinckrodt mit Recht gesprochen hat, so kann die wiederhergestellte deutsche Einheit auch nur diese Frage lösen, die gesammte Kraft der gesammten Nation gehört dazu; allerdings müssen sie aus dem engen und engherzigen Rahmen der Einzelstaaten heraus. Die Zeit wird kommen, wo wir sie vor unser Forum ziehen, aber nicht durch allgemeine Sätze, sondern durch gründliche organische Gesetze. Dann wird sich zeigen, daß es ein anderes heißt, dem Polizeistaat gegenüberstehen, als dem parlamentarischen Staat der Gesetze, dann wird es sich zeigen, daß die Differenzen und Streitigkeiten und Gegensätze, welche nothwendig die Willkür des Staates hervorrufen mußte, verschwinden unter der Alle gleichtreffenden und alle Gegensätze gleichmäßig niederhaltenden Autorität der von dem deutschen Parlament in Uebereinstimmung mit den deutschen Regierungen votirten Gesetze. M. H., wir scheuen also nicht die materielle Behandlung der Sache, der Fragen, die hier angeregt sind; wir bestreiten — wenigstens ich — auch nicht die Kompetenz des Reichs; wir sind bereit, die Fragen gründlich zu erörtern und in organische Ge­ setze zu votiren, welche Sie hier angeregt haben; wir danken Ihnen sogar, daß Sie sie angeregt haben, daß Sie sich damit auf einen Boden gesetzgeberischer Kompetenz mit uns gestellt haben. Was uns allein trennt, ist die einseitige Forderung, die Sie stellen

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zu Gunsten der katholischen Kirche einseitig, nicht dem Scheine nach, sondern dem Wesen nach; was uns trennt, ist die Unmöglichkeit einer solchen Gesetzgebung kopfüber, möchte ich sagen — einer Gesetzgebung, die die bestehenden Thatsachen und rechtlichen Zustände nicht berücksichtigt; einer Gesetzgebung, die sogar nach den Ausführungen des Herrn Abg. Greil dahin führt, daß, während ein Satz proklamirt wird, der jeder Möglichkeit des Konkordats entgegensteht, die katholischen Abgeordneten aus Bayern doch glauben, daß sie mit diesem Satze die Konkordaisrechte und das Konkordat selbst erhallen können;

einer Gesetzgebung, sage ich, von der Niemand von uns die Wirkungen im Einzelnen auf die süddeutschen Staaten ermessen kann; einer Gesetzgebung, bezüglich welcher wir nicht einmal einig sein würden in Beziehung auf ihre Grundlage; denn während ich in dem, was die Herren Abg. Reichensperger und Genossen fordern, die Forderung der Lösung der Frage wegen des Verhältnisses von Staat und Kirche erblicke, be­ schränkt möglicherweise der Abg. Windthorst die ganze Frage auf die Regelung der­ jenigen Vereine, welche von der katholischen Kirche geschaffen sind; während in einem Athemzuge die völlige Unabhängigkeit der katholischen Kirche gefordert wird, sagt er auf der andern Seite: die katholische Kirche ist kein Verein, sie selbst füllt nicht unter den Kompetenzartikel, sondern nur diejenigen Vereine, die aus ihr-hervorgehen. Da sieht man also, über die Grundlagen, über die Folgen sind wir im Dunkeln und Unklaren. Mit einer solchen Gesetzgebung wollen wir das deutsche Reich und seine parlamentarische Wirksamkeit nicht einleiten; es wird die Zeit kommen, wo wir mit mehr Ruhe und mit mehr Gründlichkeit, hoffentlich dann zur Befriedigung, wenn auch nicht Aller, so doch wenigstens der Protestanten und der deutschen Katholiken, diese Fragen erledigen. Fortsetzung am 4. April 1871.

Abg. Dr. Probst: M. H., ich habe in früherer Zeit in meinem Heimatlande Veranlassung gehabt, mich mit dem Verhältnisse der Kirche zum Staate zu beschäftigen. Zch habe die Ueberzeugung ausgesprochen und geltend zu machen gesucht, daß die Un­ abhängigkeit und Selbstständigkeit der kirchlichen Genossenschaften auf Grundlage der Grundrechte, wie sie in Frankfurt gegeben worden sind, uns ein Bedürfniß sei. M. H., ich stehe heute auf demselben Standpunkt, nämlich auf dem Standpunkt der Anerken­ nung der Selbstständigkeit der Kirche, wie sie schon in den Bewegungsjahren aus­ gesprochen worden ist. Man hat hier davon gesagt, daß die Grundrechte in der frag­ lichen Beziehung auf Kompromiß beruhen. — Das mag immerhin begründet sein. Allein ich erlaube mir Sie daran zu erinnern — und die Herren, die dem Frankfurter Parlamente angehört haben, werden sich wohl selbst darauf besinnen können —, daß damals im Wesentlichen die Grundrechte, soweit sie sich mit dem Verhältnisse der Kirche zum Staate beschäftigten, vertheidigt worden sind auch von der protestantischen Kirche aus. Das geschah insbesondere von dem damaligen Parlamentsabgeordneten Zittel aus Baden, der ausführte, daß nicht blos die persönliche Freiheit an sich als ein Grundrecht aufgestellt werden müsse, sondern insbesondere die Freiheit des Indi­ viduums, sich in den religiösen Genossenschaften zu bewegen, und das Recht dieser Genossenschaften, selbstständig alle ihre Verhältnisse zu ordnen, ein wesentlicher und integrirender Theil der persönlichen Freiheit sein müsse. Er hat insbesondere heraus­ gehoben, daß der Glauben und die Glaubensfreiheit nicht gedacht werden können, ohne daß man neben der Freiheit des Individuums zu gleicher Zeit die Freiheit der Ge­ nossenschaften anerkenne. Auf dieser Grundlage habe ich schon früher mich mit der Sache beschäftigt und die Selbstständigkeit der kirchlichen Genossenschaften zu vertheidigen gesucht. Ich habe aber damals schon die Erfahrung gemacht, m. H., daß ich bei meinen freisinnigen Freunden eine Anerkennung für diese Gesichtspunkte nur schwer erlangen konnte; ich habe gefunden, daß das Gebiet der Freiheit nur eben bis zu der Grenze vertheidigt wurde, wo es sich von der Freiheit der kirchlichen Genossenschaften handelte. Nun, m. H., als diese Frage hier wieder an mich herantrat, so mußte ich leider dieselben Erfahrungen auch hier machen. Zch bin der Ansicht, daß es sich hier um eine der

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wichtigsten Fragen der Gegenwart, um eine der wichtigsten Fragen für das neue deutsche Reich, um die Einheit und um den Frieden des neuen deutschen Reichs handelt. Ich habe mich gefragt, wo ich für meine Ideen Anklang fände, und wenn Sie mich auf dieser Seite des Hauses (im Centrum) sehen, so mögen Sie sich aus dem Gesagten die Antwort entnehmen. M. H., es ist eigenthümlich, daß alle Fraktionen dieses Hauses der einen Fraktion des Centrums entgegenstehen, wenn im jetzigen Augenblicke die Grundrechte zur Sprache gebracht werden; ich glaube, m. H., daß das einen eigenthümlichen Eindruck auch im deutschen Volke machen wird. Wir im Süden, m. H., sind gewohnt, an den Frank­ furter Grundrechten (H.! H.! l.) als an etwas fest Bestehendem, das sich immer wieder geltend machen wird, zu hängm; in unseren Bauernstuben können Sie diese Grundrechte aus Frankfurt noch heute an den Thüren angeschlagen finden; noch heute denken die Leute daran und warten darauf, daß wieder von denselben die Rede werde, und nicht nur in der einen oder der anderen Beziehung, sondern in allen Beziehungen, die da­ mals für wesentlich angesehen worden sind. M. H., alle Fraktionen dieses Hauses treten der einen Fraktion entgegen, aber aus verschiedenen Gründen, und auch das wird im deutschen Volke gefühlt werden. Diese Gründe heben sich gegenseitig auf und begründen unseren Antrag mit. Da sagt man von der einen Seite, diese große staat­ liche und nationale Bedeutung der Grundrechte müßte ganz gewiß anerkannt werden, nur möchte man eine Zeit abwarten, die eine bessere Gelegenheit dazu biete. Von der andern Seite sagt man, die Grundrechte, wie wir sie vorschlagen, seien eine Unvoll­ ständigkeit, die zu nichts dienen könne; wir müssen sie vollständig und ganz haben und sie in einer größeren Gesetzgebung niederlegen. Von einer anderen Seite aber — und das ist von einzelnen Rednern geltend gemacht worden — wird von den Grundrechten überhaupt, soweit sie wenigstens die Stellung der kirchlichen Genossenschaften betreffen, ganz abzusehen gerathen; diese Grundrechte gerade nach dieser Richtung glauben sie überhaupt nicht brauchen zu können. Damals, sagt man, als man sich in Frankfurt befand, befand man sich in einem gewissen Dilettantismus der Politik; jetzt brauchen wir etwas ganz Anderes; die Stellung der Kirche muß eine ganz andere Gestaltung erhalten, als man sie ihr damals zu geben versuchte. M. H., wenn ich die Gründe, welche von den ersten zwei Parteien angeführt worden sind, näher erwäge, so kann ich zu keiner andern Anschauung gelangen, als daß im Grunde genommen die eigentliche und wahre Ursache, warum unserer An­ schauung entgegengetreten wird, nichts Anderes ist, als daß man der katholischen Kirche die Grundrechte, wie sie bis jetzt ihr gegeben worden sind, zu geben sich weigert; und eben weil dies geschieht, und weil ich das von so großer Wichtigkeit halte, daß sie ihr gegeben werden, weil ich das für die Zukunft des deutschen Reichs für überaus wichtig halte, darum habe ich mir erlaubt, heute um das Wort zu bitten. Lassen Sie mich nun zunächst, m. H., auf einige spezielle Gründe, die uns vor­ getragen sind, eingehen. Ich kann nicht umhin, mich gegen den Herrn Abg. Miquel zu wenden, der uns da zunächst mit dem „Vaterland" aus Bayern entgegergetreten ist. Es ist schon darüber gesprochen worden, und ich bedaure, 'noch einmal davon sprechen zu müssen. Ich war selbst Zeuge, und Herr Miquel muß es auch gewesen sein, als im Zollparlament der Zusammenhang, den man schon damals zwiscken dem „Vaterland" und der süddeutschen Fraktion finden wollte, geradezu und auÄnücklich desavouirt worden ist; und das wieder hervorzuheben, in diesem Augenblicke Srtze her­ vorzuheben, die keinem Einzigen nicht einmal zu denken, viel weniger auszusprehen, in den Sinn gekommen ist, diese Sätze jetzt wieder hervorzuheben, wozu soll das führen? Was ist für eine Absicht darin, unserer Fraktion eine solche Gesinnung vorzahalten, als würden wir daran betheiligt sein? M. H., wenn man von solchen Mitteln Ge­ brauch machen will, was würde uns hindern, Journalartikel aus der Tasche zu ziehen, mit denen man uns bei unseren Wahlen im Süden entgegentreten ist? Ick könnte Ihnen nachweisen, daß man Vaterlandslosigkeit, Heimatlosigkeit, Zelotenthum, daß man alle möglichen Dinge und Persönlichkeiten gegen uns gebraucht hat; sollte ich eroa Sie

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dafür verantwortlich machen? Und in anderen Artikeln ist, das wissen Sie wohl, ausführlich hervorgehoben worden, daß dieses neue deutsche Kaiserreich der §ort des Protestantismus sein werde, das sei nun einmal das Reich, das den Katholizismus in seine Schranken zurückführen würde, und der Katholizismus selbst müsse zu einer nationalen Kirche werden, losgetrennt von seinem Oberhaupte, denn anders würde Deutschland nie ein einiges Reich werden. Hat das nicht in solchen Artikeln gestanden? und wenn ich Ihnen das vorhielte und sagte, dafür sind Sie verantwortlich, würde das ein richtiges Verfahren sein? M. H., derselbe Herr Redner hat uns gesagt, die Grund­ rechte -an sich wären schon gut, aber daß man die katholische Kirche als eine Weltkirche gleichstellte der protestantischen und ihr diese Rechte gebe, das sei nicht in der Ordnung, denn die katholische Kirche werde einen ganz anderen Gebrauch vermöge ihrer festen Organisation davon machen, als es andere Kirchen vermögen. Das ist richtig, das ist ganz gut denkbar. Ich möchte aber fragen, warum Sie, wenn es sich darum handelt, ein Recht zu geben, dies demjenigen vorenthalten wollen, der nicht dafür kann, daß ein Anderer einen Gebrauch nicht davon machen kann. Sind wir denn dafür verantwortlch, daß der Protestantismus davon den Gebrauch nicht machen kann, wie der Katholizismus? (S. g.! r.) M. H., man hat von derselben Seite von der weltlichen Herrschaft des Papstes gesprochen; ich will Ihnen darüber meine Ansicht ganz offen mittheilen und ich bitte Sie, uns auf dieser Seite des Hauses zuzugestehen, daß wir mit vollster Offenheit über alle diese Fragen sprechen. Was die weltliche Herrschaft des Papstes betrifft, so halte ich sie auch für eine politische Nothwendigkeit, aber für eine Wesentlichkeit der katholischen Kirche halte ich sie nicht: ich stehe, wenn ich so sagen darf, auf dem Standpunkt Dantes, das Innere dieser Kirche, das Wesen dieser Kirche muß bestehen bleiben, aber die welt­ liche Herrschaft an sich gehört nicht zu diesen Wesenheiten. Dagegen, m. H., bitte ich Sie zu bedenken, ob denn das ein blos katholisches Interesse ist, daß die Millionen von Katholiken möglicherweise unter einem Papst stehen, der einem anderen Landesherrn untergeben ist; ist das wohl ein blos katholisches Interesse, wenn diese zwei Fünftheile der Bewohner Deutschlands einem Papst untergeben sind, der dem König von Italien als Unterthan unterworfen ist? — Sie sagen ja immer, daß die Katholiken selbst vom Papste beeinflußt werden; und wenn nun ein solcher Einfluß geübt ist, und der Papst steht unter einer andern Herrschaft, glauben Sie, daß das im Interesse des Friedens dieses Reiches sein könnte? M. H., Herr von Blanckenburg hat uns gesagt, wir suchen die alten kirchlichen und religiösen Kämpfe wieder hervor. Zch werde dagegen nur das sagen: wenn man etwas aus der Welt schaffen will, so muß man es in die Hand nehmen, und ich glaube, die religiösen Kämpfe, die wollen wir aus der Welt schaffen, und darum muß man auch in diesem Augenblick die religiösen Fragen in die Hand nehmen. Das ist überhaupt die Grundlage, auf der wir uns in dieser Sache bewegen. M. H., es geht ein tiefer Zwiespalt durch die Welt, insbesondere aber durch unsere Nation. Es ist der Zwiespalt des Glaubens und des Widerspruchs gegen den Glauben. Unter den Gebildeten, m. H., ist die Erfahrung nur gar zu oft zu machen, ja beinahe an der Mehrheit zu machen, daß, nachdem man zu den Unterscheidungsjahren gekommen ist, das, was von Religion aus der Jugendzeit hängen geblieben war, von sich wirft und sich auf den Standpunkt stellt, wonach Glauben und Kirche ein überwundener Stand­ punkt sind. M. H., diese Erfahrung mache ich an meinen eigenen Freunden, die ich im Uebrigen achte und liebe wie mich selbst, aber ich mache die Erfahrung, daß selt­ samerweise man wohl den Kindern sagt, daß sie der Religion bedürfen, daß man ihnen gestattet, sich bis zur Konfirmation als Christen zu betrachten und zu bewegen, dann aber, nachdem dieser Zeitpunkt herangekommen ist, Religion und Konfession aus ihrer Gesinnung zu tilgen und ihnen das Bewußtsein beizubringen sucht, die Konfession sei ein überwundener Standpunkt. Was folgt daraus, m. H.? Glauben Sie nicht, daß ich von irgend Jemand verlange, er solle zum Glauben zurückkehren. Das kommt mir nicht in den Sinn; ich erkenne an, daß auch der Charakter ganz gut bestehen kann, 13*

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ohne von einer bestimmten Glaubensrichtung abzuhängen. Aber Eines folgt daraus, m. H., und das ist es eben, was wir niemals genug beherzigen können, das man nämlich den Glauben Anderer zu achten hat, daß auch der Konfessionslose, es achten muß, wenn ein Anderer sich zu einem bestimmten Glauben, zu einer bestimmter Kon­ fession bekennt. Das sind wir nicht blos uns, das sind wir vor Allem unserem Volke schuldig. Unser Volk, m. H., — das ist schon oft gesagt worden — ist ein gläubiges, ist ein gottesfürchtiges Volk. Ich habe die Sache immer so aufgefaßt, daß ein Ver­ treter des Volkes, ein Volksmann im eigentlichen Sinne, seinem Volke auch in seiner Religion nahe stehen und es in seinen religiösen Bedürfnissen vertheidigen müsft, daß aber jeder Andere, der im Gegensatz zu seinem eigenen Volke steht, sich doppelt in Acht nehmen müsse, den Glaubensbedürfnissen des Volkes entgegenzutreten. Aber, m. H., es ist ungeheuer schwer, auf dem Standpunkte der Glaubenslosigkeit den Gläu­ bigen gerecht zu werden. Schon das Glauben daran, daß ein Anderer mit voller Ueberzeugung einer Konfession anhänge, wird ungemein schwer: — dieser Gegensatz geht durch unser Volk, und diesen Gegensatz dürfen wir nicht hegen und pflegen, sondern dieser Gegensatz muß aus der Welt geschafft werden durch die Gleichberechtigung jedes Glaubens. Ein zweiter Gegensatz, m. H., liegt bei uns ganz besonders darin, daß hier zwei beinahe gleich große Konfessionen sich gegenüber stehen, — es wird oft gesagt in dem Verhältniß von % zu 3/5. Noch schwerer beinahe ist es, daß die sich so entgegen­ stehenden Konfessionen in ihrem Rechte und in ihrer Befugniß, sich selbstständig zu ge­ stalten und zu verwalten, sich ertragen lernen, daß sie sich nicht gegenseitig Hindernisse bereiten, sondern sich gegenseitig berücksichtigen und von aller Anfechtung ausschließen, was den Glauben angeht. M. H., dieser Gegensatz besteht; ich brauche es ja nicht weiter auszuführen. Es ist etwas Allbekanntes, wo vom Glauben die Rede ist, da treten die Konfessionen einander gegenüber, und die heftigsten Kämpfe haben auf dem Gebiete des Glaubens stattgefunden; sie gehen aber auch bei uns bis ins Detail, bis ins Innerste und Einzelnste hinein. Ich will ein kleines Beispiel anführen, das wohl auf diesen Boden gehört; einzelnen der Herren wird es vielleicht schon bekannt sein. Es war im Beginn der neuen Aera in Preußen. Waldeck war in Berlin zum Ab­ geordneten vorgeschlagen; als er als Kandidat auftrat, schien auch Alles für ihn zu sein; er hatte damals seine Märtyrerperiode schon lange hinter sich. In dem Augen­ blicke aber, wo es sich darum handelte, die Mehrheit für ihn zu gewinnen, da trat ein Berliner Kind auf und sagte: Den Waldeck können wir nicht wählen; er geht jeden Sonntag in die Messe. M. H., ich habe einige Jahre nachher Waldeck aufgesucht und da hat er mir diese Thatsache bestätigt; er ist nicht gewählt worden. (Stimmen l.: er ist gewählt worden.) — Ja, viel später, damals nicht; Sie werden mir das Bei­ spiel gelten lassen müssen. (W. l.) — M. H. (nach links), es steht Ihnen frei, mich später zu widerlegen. Ich kann Ihnen nur wiederholen: ich weiß diese Thatsache be­ stimmt, sie ist mir von Waldeck selbst bestätigt worden. M. H., in dieser Weise ist der Gegensatz zwischen Katholiken und Protestanten in unserem Vaterlande speziell vor­ handen, und zwar in unserem Lande mit viel größerer Bedeutung als in irgend einem anderen Lande, eben darum, weil sich die großen Massen des ganzen Reiches hier in verschiedenen Konfessionen gegenüber stehen. M. H., es ist das nun die Grundlage, von der aus ich meine Konklusionen ziehe. In einer solchen Lage befindet sich kein Staat; für uns aber ist diese Frage der Konfessions- und der Glaubensfreiheit eine Frage der inneren Einheit und eine Frage des Friedens innerhalb des Reiches, um auf Grund derselben den möglichst voll­ kommenen Ausbau zu vollziehen. Für meine Gesinnungsgenossen und mich ist es eine Frage von erster Bedeutung, weil wir die Absicht haben, mit Ihnen Hand in Hand dieses Reich zu einer gedeihlichen Entwickelung zu bringen, weil wir die Absicht haben, mit Ihnen dieses Reich, wie es nach außen das mächtigste ist, so auch nach innen zu einem Muster der Staaten Europas zu machen. Das kann aber nicht geschehen, so lange der Friede im Innern nicht gesichert ist, so lange wir durch eine Grenzlinie ge-

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trennt sind, welche das Gebiet der Konfessionen scheidet. Der Streit über die Kon­ fessionen, ich sage es nochmals, muß aus der Welt geschafft werden! Sie meinen, es könnte dies damit geschehen, daß man vom Staate aus Gesetze giebt, welche die Einen zwingen das anzunehmen, was den Andern recht ist; wozu führt das aber? Der Zweck kann nur dadurch erreicht werden, daß Sie die Grundrechte annehmen. Wenn Sie uns gerecht werden wollen, so giebt es kein anderes Mittel, als die volle Freiheit für jede Kcnsession, sich selbst ihre Gesetze zu geben und nur den allgemeinen Gesetzen des Staates unterworfen zu sein. — Ich kann Ihnen die Versicherung geben, m. H., daß es Niemand unter uns eingefallen wäre, diese Frage hier zur Sprache zu bringen, hätten wir sie nicht von diesem Standpunkt als eine fundamentale Frage für das Ge­ deihen des deutschen Reiches betrachtet. Bei dem einmal bestehenden Verhältnisse fühle ich mich in meinem Gewissen gedrungen, dahin mitzuwirken, daß kein Hinderniß be­ stehen bleibe, welches dem Gedeihen des Reiches entgegentreten könnte. Ich habe das Verlangen, mit Ihnen Hand in Hand dieses Reich zu einem großen, herrlichen zu machen, aber dazu gehört und darauf beruht unser Antrag, und darum habe ich mich dafür erklärt, daß wir die volle Freiheit der Kirchengesellschaften beschließen. — Ich bitte Sie, m. H., wenn Sie mit meinen Grundsätzen einverstanden sind, sich meinem Anträge arzuschließen, die Grundrechte in die deutsche Reichsverfassung als eine der ersten Bestimmungen derselben aufzunehmen. Abg. Freiherr Schenck von Stauffenberg: M. H., in dem, was der Herr Vorredner eben gesagt hat, und in einer Reihe von Reden, ist gewissermaßen der Grund­ gedanke durchgegangen, als ob mit Ablehnung der Anträge, welche die Fraktion des Centrums cestellt hat, eine Unterdrückung, eine Vergewaltigung der katholischen Kirche beabsichtigt würde. Ich glaube, m. H., am Eingänge dessen, was ich Ihnen zu sagen habe, bestimmt aussprechen zu dürfen, und ich glaube, es ist dies die Meinung der weitaus überwiegenden Mehrheit dieses Hauses: wir werden gegen diese Anträge stim­ men aus dem einfachen Grunde, weil wir die Ordnung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche nicht in diesem Augenblick und nicht in dieser Form wollen, nie Sie uns vorgeschlagen haben. Die Frage, in welcher Weise dies geordnet werden solle, kann unser heutiges oder morgiges Votum in keiner Weise präjudiziren. Der Herr Vorredner hat dann weiter einen Gedanken, der auch von mehreren Rednern und besonders von dem Herrn Abg. Freiherrn von Ketteler ausgesprochen worden ist, wiederholt, nämlich seine feste Ueberzeugung, daß mit der Annahme dieses Antrages d:e konfessionelle Frage aufhören würde, ein Streitpunkt unter uns zu sein, daß sie „ars der Welt geschafft würde", wie er sich ausdrückt. — Nun, m. H., wir sind in dieser Beziehung der entgegengesetzten Meinung, daß, wenn sie einen so all­ gemein gefaßten und so vielen Mißverständnissen ausgesetzten Satz jetzt in die Ver­ fassung des deutschen Reiches hineintragen, damit die konfessionelle Frage und der kon­ fessionelle Streit nicht aus der Welt geschafft würde, sondern daß dadurch in eine Reihe der Starter, in denen bis jetzt Friede geherrscht, die Keime der Zwietracht erst hinein­ getragen wurden, und aus diesem Grunde werden ganz gewiß eine große Anzahl von Mitgliedern gegen die Vorschläge der Centrumsfraktion stimmen. Erlauben Sie mir, m. H., das ich Ihnen ganz kurz jene Bedenken vortrage, welche in dem Staate, der mich hierher gesandt hat, dagegen auftauchen, welche bezüglich unserer heimischen Rechts­ verhältnisse entstehen. Wenn ich die Auslegungen, die die Herren ihren Vorschlägen gegeben haben, mit einander vergleiche, so komme ich in eine gewisse Verlegenheit. Ich bin nicht vollständig sicher darüber, ob sie der Meinung sind, daß die Artikel 6 und 7, welche sie uns als Grundrente des deutschen Volkes vorschlagen, sogleich in Wirksamkeit treten sollen, d. h., daß sie sogleich Wirkung auf die Landesverfassungen haben sollen und jene Bestimmungen, welche nach ihrer Meinung oder nach der Meinung Anderer, die später an diese Vorschläge anknüpfen könnten, damit in Widerspruch stehen, abrogiren. Einige der Herrrn Redner haben dies allerdings mit einiger Bestimmtheit ausgesprochen; andere schienen au' dem entgegengesetzten Standpunkte zu stehen. Insbesondere habe ich be-

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züglich Bayerns die Meinung äußern hören, daß damit an den faktischen Rechtszuständen unserer Heimat nichts geändert werden solle. Nun, m. H., wie würden sich dann die Verhältnisse bei uns gestalten? Wir haben z. B. in Bayern eine Unterscheidung zwischen rein geistlichen Gegenständen, zwischen weltlichen und zwischen ge­ mischten Gegenständen, und das Gesetzgebungs- und Aufsichtsrecht des Staates ist nach dieser Unterscheidung abgestuft. Nun sagen Sie in Ihrem Artikel 7: Die Kirche ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig. Was, m. H., sind diese Angelegenheiten? Darüber entsteht die erste Unklarheit, und keiner von Ihnen kann mir heute mit voller Bestimmtheit den Kreis dieser Angelegenheiten beschreiben. Man hat das, als man die bayerische Verfassung machte, sehr wohl gefühlt und des­ halb die ganz ausdrückliche Ausscheidung je nach den einzelnen Gegenständen in der Verfassungsurkunde getroffen, und meines Wissens ist in dieser Beziehung bis jetzt ein wesentlicher Streitpunkt nicht hervorgetreten; Sie würden aber den Streit in unsere heimischen Verfassungsverhältnisse sogleich hineintragen, sobald wir diesen Artikel als Grundgesetz des deutschen Reiches auch in Bayern zur Geltung gebracht haben würden. Wie stehen z. B. die Verhältnisse bezüglich der Klöster? Zn der bayerischen Ver­ fassung heißt es im § 76 der Beilage II: „Unter Gegenständen gemischter Natur werden diejenigen verstanden, welche zwar geistlich sind, aber die Religion nicht wesentlich be­ treffen und zugleich irgend eine Beziehung auf den Staat und das weltliche Wohl der Einwohner haben"; und da heißt es unter Lit. d: „Die Errichtung geistlicher Gesell­ schaften und sonstiger Institute und Bestimmungen ihrer Gelübde." Auf Grund dieses § 76 im Zusammenhänge mit den einschlägigen Bestimmungen des Konkordats hat man in Bayern bis jetzt darauf bestimmt gehalten, daß die Errichtung geistlicher Genossen­ schaften und Klöster der landesherrlichen Zustimmung bedürfe. Soll das, m. H., anders sein oder nicht? Gehört das zu den Angelegenheiten, welche die Kirche selbstständig verwaltet, oder gehört das nicht dazu? Ein weiterer Punkt. Es ist schon wiederholt darauf hingewiesen und von einem Herrn Redner angeführt worden, daß jener Artikel der preußischen Verfassung, der die Aufhebung des placetum regium ausspricht, von Ihnen nicht in die Grundrechte mit ausgenommen worden ist. Ich weiß nicht, aus welchem Grunde das nicht geschehen ist; aber zugleich entsteht für uns die Zweifelsfrage: soll das in Bayern gegenwärtig be­ stehende placetum regium aufgehoben werden oder nicht? Es ist sehr leicht, diese Frage jetzt mit Ja oder Nein zu beantworten; aber Sie werden nicht verhüten können, daß über diese Gegenstände die weitgreifendsten Streitigkeiten entstehen. Es ist das placetum regium zum Beispiel einer jener Punkte, über die man verschiedener Meinung sein kann. Man kann der Meinung sein, daß jetzt, wo allgemeine Preßfreiheit herrscht, dieses Recht ein vollständig veraltetes sei. Es giebt aber noch einen anderen Gesichtspunkt. Es ist vielleicht gerade in der jetzigen Zeit nicht ganz unwichtig, durch das placetum regium einem Theil, und zwar einem sehr großen Bruchtheil der katholischen Kirche die Mög­ lichkeit des rechtlichen Bestehens weiter zu gewähren. Es ist durch das placstum regium jetzt die Möglichkeit, denjenigen, welche ihr Gewissen nicht vergewaltigen lassen wollen, einen rechtlichen Boden, auf welchem sie stehen können, zu gewähren. (W. u. $r.) — Sind jene Bestimmungen, m. H., welche die bayerische Verfassungsurkunde bezüglich der Religion der Kinder aus gemischten Ehen trifft, durch diesen Artikel der Grundrechte ausgehoben oder sind sie nicht aufgehoben? Ist der Rekurs ab abusu, den die bayerische Verfassung zuläßt, ausgehoben oder nicht? Jene Bestimmungen über den Gebrauch voa Simultan­ kirchen, sind sie aufgehoben oder nicht? Sind jene Bestimmungen, welche die bayerische Verfassungsurkunde über den Gebrauch der katholischen Friedhöfe durch akatholische Religionstheile trifft, aufgehoben oder nicht? Sie sind nicht aufgehoben, sagen Sie. Nun, m. H., Sie werden sich wohl daran erinnern, daß es noch nicht zar so lange - her ist, daß, als die österreichischen Staatsgrundgesetze erlassen wurden, als dir Artikel 12 des Gesetzes vom 25. Mai 1868 über die interkonfessionellen Verhältnisse der Staats­ bürger erlassen wurde, welcher bestimmt, daß keine Religionsgemeinde der Leiche eines ihr nicht Angehörigen die anständige Bestattung auf ihrem Friedhofe verweigern kann,

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wenn es sich um die Bestattung in einem Familiengrabe handelt, oder wenn da, wo der Todesfall eintrat, oder wo die Leiche gefunden wurde, für die Religionsgenossenschast des Verstorbenen ein Friedhof sich nicht befindet — also ich sage, daß gerade bezüglich dieses Artikels der päpstliche Nuntius Falcinelli in einem Protest, welchen er der öster­ reichischen Regierung einreichte, denselben als einen solchen bezeichnete, welcher jedes katholische Gefühl beleidigen müßte, (H.! H.!) und daß die päpstliche Allokution, welche über dieses Gesetz vom 25. Mai 1868 erlassen wurde, gerade diesen Artikel 12 als einen verwerflichen bezeichnete, weil er gestattet, daß die Ketzer auf den katholischen Friedhöfen beerdigt werden. (Aeußerungen des Unwillens.) — Das, m. H., sind sehr ernsthafte Dinge, die mit einem Kopfschütteln nicht beseitigt werden können. (S. r.!) — Sie können die bestimmtesten Versicherungen geben, wir wissen aber nicht, in welcher Weise eine solche allgemeine Redensart — nehmen Sie mir das nicht übel, denn der Artikel enthält im Ganzen nichts weiter als eine allgemeine Redensart — ausgelegt werden kann. Nun, m. H., wie soll es denn mit dem Vollzug dieser Bestimmungen weiter ge­ halten werden, wer soll kompetent sein, die Ausführungsgesetze, welche ganz absolut nothwendig sind, zu erlassen? soll die Reichsgewalt dazu kompetent sein oder die ein­ zelnen Landesgesetzgebungen? Auch darüber, m. H., habe ich eine befriedigende Auf­ klärung durchaus nicht vernommen; Sie haben in dem Artikel 4 der deutschen Bundes­ verfassung bis jetzt eine Aenderung nicht beantragt. Sie haben nicht beantragt, das Beaussichtigungsrecht und das Gesetzgebungsrecht der Reichsgewalt auch über diese Dinge zu erstrecken, sondern Sie haben sich begnügt, diesen Punkt in die Grundrechte mit auf­ zunehmen. Wir haben keine Behörde, welche es überwacht, daß die zum Vollzug noth­ wendigen Gesetze erlassen werden, wir haben keine Reichsbehörde, welche dafür sorgt, daß die nothwendige Konformität in den einzelnen Ländern herrscht, und noch weniger, daß die diese Konformität herbeiführenden Gesetze erlassen werden. Es ist von dem Herrn Abg. Dr. Windthorst gesagt worden, Sie seien zu diesen Grundrechten genöthigt worden durch die Kompetenzerweiterungen, welche mit den Ver­ fassungsverträgen verbunden wären, in specie durch die Nummer 16 des Artikels 4. Nun spricht diese Nummer 16 des Artikels 4 von dem Preß- und Vereinswesen, und ich will dem Herrn Redner vollständig Recht geben, daß er hierdurch zu den Grund­ rechten Veranlassung hatte, welche das Preß- und Vereinswesen betreffen; aber wie er dazu kommt, in diese Nummer 16 des Artikels 4 die gesammte Kultusgesetz­ gebung hineinzuziehen? das ist mir vollständig unfaßlich. — Mit demselben Rechte, mit welchem Sie daraus, daß die Vereins- und Preßgesetzgebung der Reichsgewalt unterliegt, die gesammte Kultusgesetzgebung hineinziehen wollen, mit demselben Rechte können Sie auch die Gemeindegesetzgebung hineinziehen; denn man kann noch mit mehr Recht die Gemeinden als Vereine bezeichnen, welche unter die Herrschaft dieses Artikels fallen können. (S. w.!) M. H., wir würden, das ist meine bestimmte Ueberzeugung, mit der- Annahme dieses Artikels der Grundrechte in einer Reihe von Staaten in ein förmliches Chaos der Gesetzgebung hineinkommen, wir würden, wie schon erwähnt, das, was Sie in Zhrer Absicht beseitigen wollen, erst Hervorrufen. Nun sagt man, und besonders der Herr Abg. Probst, der diesem Einwande zu begegnen suchte, — es ist der Einwand gemacht worden, gerade im jetzigen Augenblick wären diese Gesetze nicht zeitgemäß; allein, m. H., mir ist es schwer erklärlich, wie man diesem Einwande entgegen treten kann. Der Herr Abg. Probst hat in beredten Worten gesagt, es gehe jetzt ein Zwiespalt durch die Welt, der Zwiespalt des Glaubens und b?r des Unglaubens, — das, m. H., mag in einer gewissen Richtung wahr sein, es ist noch wahrer, wenn wir es auf eine jüngst vergangene Zeit anwenden; aber, m. H., es geht ein weiterer Zwiespalt durch die Welt, und der läßt sich nicht vertuschen und schlägt durch Alles, was Sie um ihn legen, durch, und das ist nicht der Zwiespalt zwischen Glauben und Unglauben, sondern der Zwiespalt im Glauben. — Die belgischen Verhältnisse, m. H., welche man uns so oft als Muster vorstellt, wollen wir in Deutsch-

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land nicht haben, wir wollen jenen Gegensatz, wie ihn die unrichtige Anwendung des Prinzips der Freiheit dort auf die Kirche mit Nothwendigkeit hervorgerufen hat, in Deutschland nicht haben. Der Kampf zwischen Kirche und Staat ist jetzt aus der Theorie in die Wirk­ lichkeit herausgetreten, er ist es durch die jüngsten Vorkommnisse in erneuter Heftigkeit; wir können das nicht leugnen, Ihre Anträge selbst sind ein Symptom dieses Kampfes. Im gegenwärtigen Augenblick vollzieht sich in der katholischen Kirche ein Scheidungs­ prozeß; wir wissen, m. H., nicht, wie er verlaufen wird, wir stehen erst an dem An­ fänge einer Bewegung, welche nach meiner vollen Ueberzeugung eine eben so welt­ geschichtliche sein kann, wie es die Revolution gewesen ist. (Br.!) Der richtige Mann ist noch nicht aufgestanden, allein, m. H., die Vorsehung wird ihn schicken, und der Voraussetzungen seines Kommens sind übergenug vorhanden. Darf ich mich auf eine Erklärung berufen, welche einer der größten katholischen Theologen der Jetztzeit in den jüngsten Tagen veröffentlichte — sie ist zu Ihrer Aller Kenntniß gekommen, und ich berufe mich nur in der Richtung darauf, daß er in derselben ausdrücklich sagt, daß seine Meinung und Ueberzeugung von einen: großen Theile, von Hunderttausenden von katholischen Laien und von vielen Priestern getheilt wird, welche es nur im gegenwär­ tigen Augenblicke nicht wagen, mit ihrer vollen Ueberzeugung hervorzutreten. (H.! H.!) Dieser Zwiespalt, m. H., ist ein so großer, daß es nicht unmöglich ist, daß über kurz oder lang die Frage herantritt: welches ist die katholische Kirche, für welche diese Grundrechte gemacht sind? Wollen Sie nun, m. H., einen kleinen Beweis dieses Zwiespalts, so liefern Sie ihn selbst; Sie stellen uns Anträge, gegen welche in ihrem ersten Theile ganz gewiß nichts zu erinnern ist, und welchen, wenn man sie blos vom theoretischen Standpunkt betrachtet, jedermann ganz gern zustimmt. Sie sagen in Ihrem Artikel 6, daß die Freiheit des religiösen Bekenntnisses, die Vereinigung zu Religionsgesellschaften und zu gemeinsamen häuslichen und öffent­ lichen Religionsübungen gewährleistet wird, Sie verlangen Preßfreiheit und alle diese Dinge in Ihren Grundrechten. Nun, m. H., haben wir — es ist noch nicht sehr lange her — in einem Nachbarstaate ein Beispiel gehabt, daß alle diese Dinge nicht blos verlangt worden, sondern der Gesetzgebung wirklich einverleibt worden sind; ich spreche von Oesterreich. Das Staats-Grundgesetz vom 21. Dezember 1867 führt die Preßfreiheit, führt die Vereinsfreiheit in einem vielleicht beschränkteren Um­ fange ein, als Sie es hier gethan haben. Es sagt in seinem Artikel 15: „Jede ge­ setzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffent­ lichen Religionsübung." Es setzt also voraus, daß die Anerkennung einer Religions­ gesellschaft durch das Gesetz eigens erfolgen müsse, während Sie jeder Religionsgesell­ schaft 60 ipso schon das Recht der öffentlichen Religionsübung einräumen wollen. Und nun, m. H., ist es in unserer Aller Gedächtniß, daß dieser österreichischen Gesetzgebung gegenüber der Papst in seiner Allokution vom 22. Juni 1868 sich vollständig verur­ teilend verhalten hat. (H.! H.!) Er sagt wörtlich: „Am 21. Dezember verflossenen Jahres ist von der österreichischen Regierung ein unerhörtes Gesetz (infanda lex) als Staats-Grundgesetz erlassen worden, welches in allen, auch den einzig der katholischen Religion zugehörigen Neichstheilen gelten und bestehen soll. Durch dieses Gesetz wird die volle Meinungsfreiheit, die Preßfreiheit, die volle Glaubens-, Gewissens- und Frei­ heit der Wissenschaft, allen Staatsbürgern das Recht gegeben, Erziehungs- und Unter­ richtsanstalten zu gründen, werden alle Religionsgesellschaften einander gleichgestellt und vom Staate anerkannt." (H.! H.!) Und nun, m. H., heißt es zum Schluß: „Des­ halb, vermöge der uns von Christo dem Herrn selbst über alle Kirchen anvertrauten Obsorge, erheben wir die apostolische Stimme in dieser Eurer hochansehnlichen Ver­ sammlung nnb verwerfen, verdammen kraft unserer apostolischen Autorität die erwähnten Gesetze und jedes Einzelne, was entweder in diesen oder in anderen sich auf das Recht der Kirche beziehenden Dingen von der österreichischen Regierung oder von welchen untergeordneten Behörden immer verfügt, gethan oder irgendwie versucht ist, erklären kraft derselben unserer Autorität, daß diese Dekrete mit allen Folgen gänzlich nichtig,

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— (H.! H.!) — ohne jegliche Kraft gewesen sind und sein werden." — Und schließ­ lich werden alle diejenigen, „die sich Katholiken zu sein rühmen, welche solche Gesetze und Akte proponirt, geschaffen oder gebilligt haben," beschworen „sich der Kirchenstrafen und der geistlichen Strafen zu erinnern." (H.! H.! Gel. Gr. A.) Nun, m.. H., erlauben Sie mir, diese Dinge sind mir außerordentlich etnft, und ich habe sie durchaus nicht vorgebracht, um die Heiterkeit der hohen Versammlung zu erregen. Diese Dinge, m. H., sind eben ein Symptom des tiefen Risses, der durch die ganze Kirche geht, des Risses, unter dem wir alle miteinander leiden. Zch kenne Alles, m. H., was man gesagt hat, um den Standpunkt, den Sie einnehmen, mit dem, was hier gesagt ist, zu versöhnen; ich kenne sogar — ich glaube es sagen zu können — im voraus jede Einwendung, welche Sie dagegen machen werden; allein, m. H., es ist mir absolut unmöglich, diesen Einwendungen zu folgen. Zch bin der Meinung, m. H., daß Sie eher die Quadratur des Zirkels finden, als daß Sie die Gesinnungen, die dort herrschen, mit dem, was Sie fordern und was Sie mit so beredten Worten im Geiste der Freiheit vertreten haben, miteinander vereinigen können. (Leb. B.) Ich halte das für so unmöglich und für einen so unvereinbaren Standpunkt, daß eigentlich über diese Dinge nicht mehr gesprochen werden kann. Zch werde, m. H., im Interesse des Friedens unter den Konfessionen in Süddeutschland, im Zntereffe des Friedens zwischen Kirche und Staat gegen Zhre Anträge stimmen. (Leb. B.) Abg. Sonnemann: Was die Presse und das Vereinswesen angeht, so glauben wir allerdings, daß es gut sein würde, wenn, so lange wir in den bestehenden Ge­ setzen der einzelnen Staaten noch gewisse, wenn auch zum Theil (worauf ich gleich kommen werde) sehr beschränkte Rechte haben, wenn wir diese nicht ohne Weiteres in die Reichsverfassung aufnehmen, ohne wenigstens die Grundlagen zu kennen, welche der neuen Gesetzgebung zu Grunde liegen müssen. Ich bin in dieser Beziehung nicht so vertrauensvoll als wie der Herr Abg. Dr. von Treitschke, dem es ganz unzweifelhaft scheint, daß wir hier ein entschieden freisinniges Preßgesetz bekommen werden. Sehen Sie sich um in den Staaten, die uns umgeben! Mit Ausnahme von Rußland weiß ich keinen, in welchem die Presse rechtlich in solchem unfreien Zustande wäre wie in Preußen. Sehen Sie sich um in ganz Deutschland: Sie finden keinen andern Staat. (Stimmen rechts: „Frankfurter Zeitung"!) — Ich werde gleich davon sprechen, da ich in dieser Beziehung Gelegenheit hatte, einige Erfahrungen zu sammeln. Wir haben in Preußen Kautionen und zwar sehr bedeutende Kautionen. Wir haben Beschlagnahmen durch die Verwaltung, die nichts anderes sind als — wie es gestern bereits ausgesprochen worden ist — partielle Vermögenskonfiskationen, die so bedeutend zum Theil sind, daß sie meinem Blatte selbst im Laufe dieses Winters einen Verlust von etwa 2000 Thalern zugefügt haben. Bei einer einzigen Nummer der „Vossischen Zeitung", welche konfiszirt worden ist, betrug der Verlust 1000 Thaler. Diese Summen sind stets ganz verloren, wenn auch die Blätter als Makulatur 4—6 Wochen nachher wieder hereingebracht werden. Und in welcher Weise verfahren die Verwaltungsbehörden bei dieser Konfiskation? Von den 12 Konfiskationen, die mein Blatt im Laufe des Krieges erfuhr, konnte von dem Staatsanwalt auch nicht in einem einzigen Falle Anklage erhoben werden, nicht in einem einzigen Falle, der auf den Krieg Bezug hat. Und wie geht es bei solchen Konfiskationen her? Ein untergeordneter Polizeibeamter, der oft nicht einmal versteht, was er liest, nimmt das Blatt zur Hand und läuft zum Polizeipräsidenten: das muß konfiszirt werden! und in 5 Minuten ist es konfiszirt. Wie es dabei hergeht, dafür will ich Ihnen ein Beispiel erzählen. Wegen einer kleinen Notiz aus einem belgischen Blatte wurde die „Frankfurter Zeitung" im Laufe des letzten Herbstes plötzlich konfiszirt. Es stand darin, es habe ein Vorpostengefecht stattgefunden zwischen 30 Franzosen und 10 Preußen, bei welchem die Franzosen die Oberhand behalten hätten. Das war der ganze Inhalt der Notiz. Das wurde ausgelegt als Verbreitung ungünstiger Kriegs­ nachrichten und das Blatt wurde konfiszirt. Zch begab mich darauf anderen Tages zum Polizeipräsidenten mit der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" und der „Kreuz­ zeitung", welche beide dieselbe Notiz hatten, und zeigte dieselben vor: — „Za, das ist

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ein Irrthum". (H.! H.! l.) Za, m. H., aber der Irrthum wurde nicht wieder gut gemacht durch die sofortige Freigebung des Blattes, sondern erst nach Wochen erhielten wir dies Blatt wieder zurück. (H.! H.!) — So, m. H., geht es mit den Beschlag­ nahmen in Bezug auf die Presse. Wie es hier in Berlin hergegangen ist, wissen Sie. Bekanntlich ist einem hiesigen Blatte gedroht worden, allerdings hat man kein Aktenstück darüber ausgefertigt, daß, wenn nicht ein anderer Ton in dem betreffenden Blatte angeschlagen werden würde, man es vierzehn Tage lang jeden anderen Tag konfisziren würde. (H.!) Es ist das eine bekannte Thatsache und sie ist auch bis jetzt nicht in Abrede gestellt worden. Unter solchen Umständen muß man sich doch fragen: ist es nicht Zeit, dafür zu sorgen, daß die Presse in einen sicheren Hafen gebracht wird? Ich habe jetzt von den Kautionen gesprochen, gestatten Sie mir noch ein Wort über den Zeitungsstempel hinzuzufügen. Der Zeitungsstempel ist außer in Preußen in den Ländern, die uns umgeben, nur noch in Oesterreich; in Ungarn ist er schon auf­ gehoben, in den übrigen Theilen Oesterreichs soll er demnächst aufgehoben werden. Hier denkt man bis jetzt, wie es scheint, nicht an die Aufhebung; und wie trifft dieser Stempel die Presse? In Bayern, auch einem Lande, das zu dem neuen deutschen Reiche gehört, existirt ein Blatt, das verbreitetste Blatt in diesem Lande, die „Neuesten Nachrichten" in München. Dieses Blatt hat nächst der hiesigen „Volkszeitung" die meisten Leser unter den täglich erscheinenden Blättern. Dieses Blatt kostet im Abonne­ ment für das ganze Zahr nicht halb so viel, als ein großes preußisches Blatt an Stempel bezahlt. Das sind die Gesetze, auf deren Grund man für die Bildung und Aufklärung der Nation wirken soll. Der Herr Abg. von Treitschke hat in seiner Ver­ trauensseligkeit gestern gesagt: Ja, man hat sogar in den Anträgen den Satz stehen lassen, daß die Censur nicht wieder eingeführt werden dürfe, etwas, was. so abgethan sei, als die Folter. Der Herr Abg. von Treitschke hat wahrscheinlich nicht oder seit langer Zeit nicht in der Tapespresse gewirkt; würde es ihm, ich sehe hier von jedem Parteistandpunkte ab, einmal begegnen, darin thätig wirken zu müssen, so, glaube ich, würde seine Ansicht über unsere Preßzustände sich doch bald etwas ändern. Wir haben zwar auch in unserem Anträge das Wort „Censur" stehen lassen aus Pietät gegen dieses Denkmal deutscher Kultur und deutschen Geistes, gegen die Frankfurter Grund­ rechte. Wir haben gewiß nicht daran gedacht, daß man die Censur gesetzlich wieder einführen wird, aber sind denn die fortwährenden Beschlagnahmen nicht eine eben so große Gefahr für die Freiheit der Presse, als die Censur? Uebrigens kann ich Ihnen einen Fall anführen, aus dem Sie ersehen werden, daß die Censur noch, nicht ganz aufgehött hat, zu existiren. Man hat mir persönlich zugemuthet, als ich mich über die vielen Konfiskationen beschwerte, unsere Artikel vor dem Druck der Polizei oorzulegen. Zch bin bereit, das zu beweisen, sobald es verlangt wird. Nun, m. H., ich glaube, daß diese Thatsachen, die ich Ihnen vorgesührt habe, im Allgemeinen wohl berechtigen, nicht darauf zu warten, bis der Reichstag ein Preß­ gesetz beschließt; nachdem diese Angelegenheit seiner Kompetenz überwiesen worden ist, m. H-, — Sie werden einräumen, wenigstens werden Sie den Standpunkt als berechtigt anerkennen, daß es gut wäre, wenn wir den Regierungen gleich einen Fingerzeig geben würden, wie wir uns das neue Preßgesetz denken. Sie werden zwar einwerden, was wir vorgeschlagen, gehöre nicht hierher: es handle sich jetzt blos um eine fcrmelle Re­ daktion. Nun, wenn dem so ist, m. H., dann gehört es erst recht hierher. Ich gehöre zum ersten Mal dem Reichstage an, hatte also im Winter, als die Verträge berathen wurden, keine Gelegenheit, Anträge zu stellen; aber wenn damals ein derartger Antrag gekommen wäre, hätte man mit Recht gesagt: die Verträge sind angenommer, die ver­ schiedenen Volksvertretungen sollen sie annehmen, und wenn ihr jetzt etwas Neues hin­ einbringt, dann haltet ihr die Sache nur auf. Jetzt aber steht Alles fest, md es muß sogar, wie der Herr Abg. Lasker ausgeführt hat, bei der Beurtheilung, einzelrer Fragen auf die Originalverträge rekurrirt werden. Durch eine etwaige Annahme mseres) Anttages kann also nichts in Frage gestellt werden; er ist einfach ein Amendemett, welches wir den Regierungen vorlegen. Wenn Sie die Sätze der Frankfurter Grundrechte über

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die Pressse und das Vereinswesen annehmen, so wird dadurch den Regierungen nur eine Direktive gegeben, wie wir uns das Preßgesetz denken, das dem Reichstage vorgelegt werden soll. Es ist darin auch gesagt, daß Schwurgerichte über die Presse urtheilen sollen. Diese Einrichtung besteht bereits in Bayern, und sie besteht zum Segen des Landes. Sie wird vielleicht in Frage gestellt sein, wenn Sie ohne Weiteres, ohne Grundrechte in die Verfassung ausgenommen zu haben, die Presse und das Vereinsrecht der Reüchsverfassung überweisen, wenn Sie keine Geschworenengerichte festsetzen, die ja selbst im Oesterreich für Preßvergehen eingeführt sind; dabei ist gewiß keine Gefahr für den Stcaat. Es hat sich in Bayern gezeigt, daß, obwohl solche Preßerzeugnisse, wie sie uns gestern von Herrn Miquel vorgelesen sind, dort gedruckt und verbreitet worden sind, man dort doch während des Krieges wie jeder andere Volksstamm seine volle Schuldigkeit gethan hat. Es ist nicht nöthig gewesen zu verfahren, wie man in Han­ nover verfahren ist, wo man zu den kleineren Eigenthumsbeschädigungen noch die größere hinzugefiügt hat, die Zeitungen zu unterdrücken und die Redakteure zu interniren, wo­ von der Eine, den so Viele hier gekannt, geehrt und geachtet haben, in Folge dieser Znternwung den Tod gefunden hat. Um aber auch die bayerischen Zustände nicht allzu rosig erscheinen zu lassen, füge ich bei, daß es noch besser gewesen wäre, wenn man dort auch nicht konfiszirt hätte, wie es nach den Grundrechten nicht möglich ge­ wesen wäre. Ich glaube, die Folge würde nur die gewesen sein, daß einige Patrioten weniger hier sitzen würden, wenn man gar keine Zeitungen konfiszirt hätte. Abg. Schulze: M. H., meine und meiner politischen Freunde Stellung ist ja bereits bei Gelegenheit der Berathung der gegenwärtigen Vorlage gekennzeichnet; sie ist aber von eini­ gen Serien Mißdeutungen unterworfen, und es werden wenige Worte genügen, uns da­ gegen zu. schützen. Wir haben den Vorwurf über uns ergehen lassen müssen, wir gesellten uns jetzt im Gegensatz zu unserer früheren Stellung im norddeutschen Reichstage zu denen, welche über die Sachen hinweggehen wollten unter dem Vorwande, sie seien nicht opportun. M. H., wir sind nur der Ansicht und haben dies sehr deutlich ausgesprochen, sowohl bei der Erklärung im Beginne der Berathung, als auch in der gegenwärtig von uns beantragten Tagesordnung*), es sei nicht nützlich, es sei sogar absolut schädlich und. verwerflich, wenn man bei der Berathung der gegenwärtigen Vorlage Amendements so tiefgreifender Bedeutung vorbringt. Die Aufgabe liegt klar vor uns. Es handelt sich in dieser Vorlage ja gar nicht darum und kann sich nicht darum handeln, die Ver­ fassung zu revidiren, sie materiell zu verbessern, so sehr dies auch noth thut, sondern wir haben in diesem Augenblick nur dasjenige zu redigiren, welches früher durch Beschlüsse und Verträge der kompetenten Organe bereits festgestellt worden ist; wir geben unser Votum nur darüber, ob die Redaktion, die die Regierung uns vorlegt, richtig ist und mit den früheren Beschlüffen und Verträgen stimmt, und ob die Fassung, in welche sie gebracht sind, etwa zu ändern wäre, ob sie recht gewählt ist oder nicht. Aber diese Reserve beschränkt sich auf diese Vorlage. Zn anderer Hinsicht, im weiteren Verlaufe der Session sind wir weit davon entfernt, den Zusammentritt des ersten deutschen Reichstages vor­ übergehen zu lassen, ohne unsere Stellung durch ganz bestimmte positive Anträge nach der Richtung der Verfassungsverbesserung hin klar zu bezeichnen. Zch würde bedauern, m. H., wenn das nicht geschähe, wenn der erste deutsche Reichstag, auch wenn die Dinge nicht gleich zu erledigen sind, dem Volke die Ziele seiner nationalen Entwickelung nicht wenigstens in einigen Hauptpunkten zum Bewußtsein bringen wollte. Man er­ wartet das und mit Recht. Denken Sie, welch ein gewaltiger Zug durch unser Volk geht, was es nicht Alles erwartet von einem deutschen Parlament! Daß diese Erwar*) Dieselbe lautet: „Der Reichstag wolle beschließen: Zn Erwägung, daß es erst nach redaktioneller Feststellung des geltenden Verfassungsrechtes Aufgabe des Reichstages sein kann, aber auch sein wird, den Ausbau der Reichsverfassung in freiheitlicher Richtung m Angriff zu nehmen; — daß die in dem bezeichneten Verbesserungsantrage aufgestellten Grundrechte in ihrer Unvollständigkeit weder dem Rechtsbewußtsein noch den Bedürfnissen des deutschen Volkes entsprechen, über den Verbesserungs­ antrag von Reichensperger u. Gen. zur Tagesordnung überzugehen.

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tungen nicht alle erfüllt werden können, ist gewiß; es wird Manches zurücktreten nnüsen vor den nächsten dringendsten Aufgaben. Aber, ob auch Vieles sich nicht gleich erledigen lassen wird, ist es doch die Pflicht der liberalen Partei, ihre Zielpunkte hinzustellm; und daß das gerade bei den Grundrechten der deutschen Reichsverfassung von 1849, die damals so gewaltig gewirkt haben, geschehen kann, das ist die Ueberzeugung mener politischen Freunde und meine eigene. Was man auch gegen die Bedeutung von Grund­ rechten im Allgemeinen gesprochen hat, so ist dies ein Standpunkt, welchen wir nüemrls theilen. Einmal denken Sie doch, daß wir nicht mit einem Einheits-, sondern mit einem Föderativstaate zu thun haben. Ich dächte, die Frage hätte uns manchmal be­ schäftigt, was in diesem oder jenem der einzelnen Bundesländer noch in diesem Augen­ blicke für Zustände bestehen, wo die Feststellung deutscher Grundrechte zur Abhülfe sehr noth thäte. Zch gehe darauf nicht näher ein, und füge nur hinzu, es giebt leinen trefflicheren Weg, als solche Grundrechte, um ein allgemeines deutsches Bürger- und Nationalbewußtsein zu erwecken in den Angehörigen der einzelnen Bundesstaaten, des­ halb werden wir an gehöriger Stelle darauf zurückkommen. Nun, m. H., den jetzigen Antragstellern gegenüber, Herrn Sonnemann u. Gen., habe ich eins zu bemerken. Eine parlamentarische Minorität hat gewiß die Aufgcbe, selbst wenn sie keine Aussicht hat, durchzudringen, dennoch mit ihren Anträgen herrorzutreten, dennoch ihre Ansichten geltend zu machen, um sie in das Volk hineinzuwerfen und zu versuchen, aus der Minorität in die Majorität hineinzuwachsen. Aber die Ver­ pflichtung hat eine solche Minorität mehr als jede andere Partei, die nämlich: nicht an ungeeigneter Stelle ihre Anträge einzubringen; und es gehört sehr wenig politische Er­ fahrung dazu, daß sich der Antragsteller, der, wenn auch nicht in Parlamenten, doch in manchen politischen Agitationen mit uns zusammengestanden hat, hätte sagen müßen, daß er hiergegen gefehlt habe. Der Grund davon liegt nahe. — M. H., für die Grundrechte hat sich Mancher in seinem parlamentarischen Leben engagirt, der vielleicht jetzt anderer Ansicht geworden ist, und gern los möchte. Wer wird denn nun dieselben bei einer solchen Gelegenheit, wo wir blos mit einer redaktionellen Aufgabe beschäftigt sind, hier bringen? heißt denn das nicht solchen Gegnern die Verwerfung leicht machen? Das ist unklug, das ist ganz gewiß parlamentarisch taktwidrig, so muß man nicht ver­ fahren, und eine Minorität wird in dem Augenblicke phrasenhaft erscheinen, wenn sie nicht den rechten Zeitpunkt wahrzunehmen versteht, wo sie vorgehen muß. — Ein zweiter Nachtheil, der davon herkommt, ist, sind die Anträge einmal, wenn auch nur aus formalen Gründen, verworfen, so liegt darin ein sehr nachtheiliges Präjudiz für ihre Wiedereinbringung auch an geeigneter Stelle; das hätten die Herren auch bedenken sollen, ehe sie vorgingen. Da wir vielleicht in dieser Debatte nicht wieder das Wort ergreifen, so bemerke ich im Allgemeinen noch, daß von den übrigen Amendements dasselbe gilt, was ich entwickelt habe bei diesem ersten der Sonnemann'schen Anträge. Zch komme nun zu dem Angriffe eines andern Redners in der gestrigen Sitzung. Der Vertreter der europäischen Revolutionspartei, wie er sich selbst genannt hat, hat von der Furchtbarkeit derselben gesprochen, wie ich ihn verstanden habe. Zch will dar­ über, ob und wie weit dies wahr sei, kein Wort reden, und mache nur auf eine andere Partei im Hause aufmerksam — die klerikale — die sich im Gegensatz dazu für absolut harmlos ausgiebt. Ob sich dies mit beiden Parteien nicht gerade umgekehrt verhält, darüber will ich hier in keiner Weise absprechen. Aber eine kleine Bemerkung will ich doch machen: furchtbar sind die Herren von der Revolutionspartei hauptsächlich immer gewesen für die Dinge, die sie vertreten, die sie in die Hände nahmen. (H.) Das haben wir aus vielfachen Erfahrungen in der Geschichte dieser Tage und jetzt wieder in Frankreich erlebt. Auf diese Weise, wie es dort geschieht, die Zdee des Republika­ nismus provoziren, der man sehr wohl die Zukunft des Welttheils vindiziren kann, — auf die Weise diese Dinge anfaffen, und in Bestrebungen, um die es Jemandem ernst­ lich zu thun ist, eintreten, damit glaube ich, kommt man zu Allem eher, als zur Ver­ wirklichung dieser Idee. Ueberhaupt eine Partei, die sich offen — es ist ja das sehr anerkennenswerth — als revolutionär bekennt, also mit der Tendenz, Revolutionen her-

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beizuführen, die verkennt, nach meiner Ansicht, den ganzen großartigen geschichtlichen Begriff, ja, die geschichtliche Berechtigung, welche einer Revolution unter Umständen bei­ wohnt. Was ist denn eine Revolution, eine solche Krisis im Völkerleben, wie wir ihr nicht selten große weltgeschichtliche Erfolge verdanken? Das ist ein Durchbruch des Volksgeistes gegen äußerlich aufgedrungene Hemmungen, das ist ein elementares Ereigniß, eine allgemeine Geisterbewegung, die alle Schranken durchbricht, die man ihr künst­ lich zu ziehen gedenkt. Nun, m. H., sich als Partei die Tendenz stellen, so Etwas zu machen, das ist ein Unternehmen, welches den geschichtlichen Gesetzen zuwiderläust. Mag sein, daß eine Partei die Revolution benutzt, wenn sie da ist, daß sie Gestaltungen, wie sie ihren Ansichten entsprechen, daraus hervorzurufen sucht, das ist etwas vollkommen Berechtigtes und Mögliches. Aber sich einbilden, m. H., mittelst eines solchen Partei­ getriebes Revolutionen zu machen, das ist für den, der nur einen Blick in die Ge­ schichte gethan hat, eine Lächerlichkeit. Auf diese Weise macht man wohl Emeuten und Putsche, aber wahrhastig keine Revolutionen in dem großen geschichtlichen Sinne mit einer neuen Aera für ein ganzes Volksleben. (Br. l.) Wenn denn aber ja eine Partei und mit einigem Recht sich so nennen wollte, dann müßte sie doch wenigstens den ge­ summten Volksgeist repräsentiren. Nun, m. H., ich glaube zum Heil unseres Vater­ landes, die Herren Bebel u. Gen. repräsentiren den deutschen Volksgeist nicht! (Lebh. B.) Nachdem die motivirten Tagesordnungen verworfen, werden die Anträge Reichen­ sperger (Olpe) u. Gen. mit 223 gegen 59 Stimmen abgelehnt. Zu Artikel 8 der Verfassung konstatirt Greil im Namen seiner Partei, daß, nach­ dem das Haus durch Ablehnung ihres Antrages auf ^Grundrechte den Willen aus­

gesprochen habe, die Vorlage nur vom redaktionellen Standpunkte aus zu beurtheilen, sie konsequenterweise diesen Artikel, der eine materielle Aenderung — die Vermehrung des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten um zwei Bevollmächtigte — statuire, ablehnen müsse. Artikel 8 wird darauf gegen die Stimmen der klerikalen Fraktion genehmigt. Zu Artikel 11 (Präsidium) haben die Abgg. Sonnemann, Fischer (Göttingen) und Gravenhorst zwei Amendements gestellt, welche zur Kriegserklärung die Genehmigung des Reichstags und zur Perfektion der Friedensverträge die Zustimmung des Bundes­ raths und Reichstags verlangen. Die Amendements werden gegen die Stimmen der 3 Antragsteller abgelehnt. Auf den Artikel 32 bezieht sich der Antrag des Abg. Sonnemann u. Gen.: Dem Artikel 32 folgende Fassung zu geben: „Die Mitglieder des Reichstages beziehen aus der Neichskaffe ein gleichmäßiges Tagegeld, auch Entschädigung für ihre Reisekosten. Ein Verzicht hierauf ist unzulässig."*) Der Antrag des Abg. Sonnemann wird abgelehnt. Die Artikel 33 bis 52 werden angenommen. Auf Artikel 53 bezieht sich der Antrag des Abg. Wiggers, im vierten Alinea statt „kaiserlichen" (nämlich Marine) zu lesen „Reichs- (Marine)". Der Antrag Wiggers wird abgelehnt. Artikel 53 bis 59 in jetziger Fassung angewmmen. Auf Artikel 59 bezieht sich der Antrag des Abg. Sonnemann: Zn dem ersten Aliner den Zwischensatz „und zwar die ersten drei Jahre bei den Fahnen, die letzten vier Zahre in der Reserve" zu streichen. — Er wird abgelehnt. Artikel 60 und 61 werden in zweiter Berathung angenommen. Auf Artikel 62 bezieht sich der Antrag des Abg. Sonnemann: die Alineas 2, 3 und 4 zu streichen und an deren Stelle folgende Bestimmungen zu setzen: „die Höhe der 2'usgaben für das gesammte Kriegswesen des Reichs wird für die Zeit vom 1. Ja­ nuar 1872 ab jährlich durch das Reichs-Etatsgesetz festgestellt." — Er wird abgelehnt.

*) Da in der dritten Berathung die Frage der Diäten ausführlich und selbstständig zum Gegentand der Verhandlung gemacht wurde, so können hier die kurzen Aeußerungen über diesen Gegentand ganz ausfallen. Anm. d. Herausg.

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Artikel 63 bis 77 werden in zweiter Lesung angenommen. Auf Artikel 78 und zwar auf das zweite Alinea desselben bezieht sich der Antrag des Abg. Dr. Hänel*). Abg. Dr. Hänel! M. H., der Artikel 78 hat in der Fassung, wie er in der norddeutschen Bundesverfassung stand, zu mancherlei Bedenken Anlaß gegeben. Er war der Sitz jener Lehre, wonach der norddeutsche Bund nicht kompetent gewesen sein soll, seine eigene Kompetenz durch Verfassungsänderung zu erweitern. — Auch ich halte dafür, daß der Einheitsstaat in Deutschland nicht nur zur Zeit ausgeschlossen ist durch die Kämpfe des Jahres 1870 und durch diejenigen Verträge, die wir eben vor uns haben; der Einheitsstaat ist für mich auch kein Zdeal in der Zukunft. Allein, m. H., den Föderalismus habe ich nie in dem Sinne verstanden, daß er dem Centralstaate gerade die Lebensader unterbinden soll, daß er allein die Entwickelungs­ fähigkeit für die einzelnen Staaten verlangt und sie dem Centralstaate verweigert. Das würde es aber sein, wenn ich jede Verfassungsänderung, die etwa an einer Kompetenzbestimmung rührt, abhängig machen wollte von dem liberum veto des einzelnen Staates. M. H., diese Theorie ist beseitigt. Selbst einer ihrer Vertreter, hat anerkannt, daß, nachdem diese Bestimmung aus der norddeutschen Verfassung in die Reichsverfassung übergegangen ist, nachdem sie es ist auf Grund einer Praxis im norddeutschen Bunde, welche sich an jene Lehre, nicht angelehnt hat, daß, sage ich, in Folge dessen dieses Alinea 1 des Artikels 78 jene Auslegung, die man versucht hat, nicht mehr zuläßt. M. H., das gereicht mir zur Befriedigung. Freilich wird diese Befriedigung da noch etwas geschmälert, daß wir im ersten Alinea des Artikels 78 ein Veto von 14 Stimmen haben, welches gegenüber dem starken Verbesserungsbedürfniß der Reichsverfassung mir nicht angenehm ist. Es wird aber auch diese Befriedigung hauptsächlich geschmälert durch Alinea 2 des Arükels. Ich fürchte, daß das Alinea 2 dieses Arükels zu ähn­ lichen Theorien Anlaß geben kann, wie es in Bezug auf das Alinea 1, insoweit es korrespondirt mit der. norddeutschen Verfassung, Anlaß gegeben hat. Ich. wende Ihre Aufmerksamkeit, m. H., dem Umstande zu, daß dieses Alinea 2 nicht in den Ver­ fassungsurkunden steht, wie dieselben vereinbart worden sind mit Württemberg, mit Hessen, mit Baden, daß es auch nicht steht in jener endgültigen Redaktion oder wenigstens in jener letzten Redaküon der deutschen Verfassung, wie sie in dem bayerischen Vertrag unter Nr. 2 und 3 ausgenommen worden ist. Vielmehr, dieses Alinea 2 findet, sich nur als Bestandtheil besonderer Verträge und Protokolle, die bei Gelegenheit der Feststellung unserer deutschen Neichsverfassung mit den einzelnen Staaten sind ausgenommen worden. Dieses Alinea 2 also ist aus denjenigen Ver­ tragsbestimmungen, die eigentlich nur getroffen werden sollen durch den § 3 des Ein­ führungsgesetzes, ausnahmsweise herübergenommen worden in den Text dieser Ver­ fassung. Indem man sich dazu entschloß, indem der Bundesrath uns dies vorschlug, hat er diejenige Linie der Redaktion der Verfassung überschritten, die er sonst in allen übrigen Punkten eingehalten hat. M. H., ich habe mich natürlich fragen müssen, warum der Bundesrath gerade an diesen Punkten die sonst eingehaltene Linie der Redaktion der Verfassung überschritten hat, welche Gründe ihm wohl dazu bewogen haben können. Ich glaube, es ist nicht schwer, dieselben zu erkennen. Wenn wir nämlich alle jene übrigen Bestimmungen ins Auge fassen, welche sonst in den Verträgen und in den Protokollen neben der gegenwärtigen Redaktion der Verfassung Gültigkeit haben werden, so werden Sie leicht sehen, daß alle diese Bestimmungen, welche theils Zusagen von Vorrechten und Ehrenrechten sind, theils authentische Interpretationen enthalten, sich be­ ziehen auf ganz bestimmte berechtigte Subjekte — nirgend kann hier ein Zweifel sein. *) Derselbe lautet: Die Bestimmungen der Neichsverfassung, nämlich des Art. 4 Nr. 1, des Art. 35 Alinea 2, des Art.-46 Alinea 2, des Art. 52, der Schlußbestimmung zum XI. Abschnitt und der Schlußbe­ stimmung zum XII. Abschnitt, durch welche bestimmte Rechte Bayerns und beziehentlich Württem­ bergs und Badens in deren Verhältniß zur Gesammtheit festgcstellt sind, können nur mit Zustim­ mung des berechtigten Einzelstaates abgeändert werden.

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wer hierzu berechtigt ist —, daß sie sich beziehen auf ganz bestimmte Artikel der Ver­ fassung. M. H., dächten wir uns, daß in Bezug auf diese vertragsmäßige Festsetzung, Versprechung, authentische Interpretation irgendwie Zweifel entstünden, so würde sich die Zweifelhaftigkeit immer nur auf einen kleinen Raum beschränken, der für die son­ stige Geltung der Verfassung ziemlich untergeordnet sein dürfte. Ganz anders die gegen­ wärtige Verfassungsbestimmung. Diese Bestimmung hier bezieht sich nicht auf einzelne bestimmte Bundesstaaten, und sie bezieht sich nicht auf einzelne bestimmte Artikel der Verfassung, auf einzelne bestimmte Rechtsverhältnisse, es ist eine allgemeine Klausel. Es enthält also diese Vertragsbestimmung ganz richtig eine allgemeine Limitation der Vorschrift des Artikels 78, wenigstens dem Wortlaute nach. Und das ist es offen­ bar gewesen, was den Bundesrath veranlaßt hat, aus den sonstigen Vertragsbestim­ mungen gerade diese herüberzunehmen in die Verfassung. Ich möchte sagen, es ist dies mit einer gewissen Loyalität geschehen. M. H., ich habe mich gefragt, ob es nicht vielleicht das Richtigste sein würde, dieses zweite Alinea hier wiederum einfach zu streichen. Es wird dies keine andere Folge haben, als daß das Alinea 2 bei den betreffenden Verträgen und Protokollen sich wiederfinden würde. Es würde also höchstens in den § 3 unseres Einführungs­ gesetzes einer Verweisung auch auf die Nr. 5 des bayerischen Vertrages bedürfen. Ich muß hier aber sagen, daß die Znterpretationsfähigkeit dieser Bestimmung lediglich dazu führen würde, die Sachen unklarer zu erhalten. Es scheint mir gefährlicher zu sein, die Sachen im Unklaren zu erhalten, als zu versuchen, die Vertragsbestimmung an dieser Stelle richtig zu deuten, also auch dem jetzigen zweiten Alinea des Artikels 78 seine richtige Bedeutung zu gewähren. Ich ersuche Sie, m. H., den Wortlaut dieses Alinea 2 ins Auge zu fassen. Es heißt darin: „Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit festgestellt sind". M. H., solche bestimmten Rechte einzelner Bundesstaaten im Verhältniß zur Gesammtheit kannte be­ reits die norddeutsche Verfassung. Ich erinnere Sie an Artikel 34. Hier ist den beiden Hansestädten eine Freihafensstellung eingeräumt; nur auf ihren Antrag soll sie verändert werden. Man kann darauf beziehen jene Bestimmung, welche die Postüberschüsse in bestimmter Weise auf die Matrikularbeiträge der einzelnen Staaten innerhalb einer be­ stimmten Uebergangsperiode angerechnet sehen will. Wenn ich dies zugegeben habe, daß zu solcher bestimmten Rechten einzelner Bundesstaaten im Verhältniß zur Gesammtheit diese Postüberschüsse gehören, so ist nicht der mindeste Grund vorhanden, um nicht unter den närrlichen Begriff zu beziehen jene 15 Prozent, welche die einzelnen Staaten zur Zeit ein Recht haben von dem Ertrage der indirekten Steuern abzuziehen. Zch will einen ardern Ausgangspunkt nehmen. Durch die ganze norddeutsche Verfassung hin­ durch gngen die Rechte des Bundespräsidiums, der Krone Preußen. Sie verzweigen sich bürg alle Bestimmungen derselben. M. H., fallen diese Rechte des Präsidiums nicht alle unter den Begriff bestimmter Rechte einzelner Bundesstaaten in deren Ver­ hältniß zar Gesammtheit? Wollen Sie mir diese Voraussetzung nur einen Augenblick zugeben — dann, m. H., würde es nur eines sehr leichten Schritts bedürfen, um zu sagen, ias Stimmengewicht, welches jedem einzelnen Staate in besonderer Weise im Bundesnthe gegeben ist, ist ein bestimmtes Recht des einzelnen Staates im Verhältniß zur Gesommtheit. Und wäre man soweit gekommen, dann wäre mir vor einer weitem Ausdehnmg nicht bange. M H., eine derartige erweiternde Interpretation, wie ich sie hier vorgeführt habe, als möglich angenommen, wäre unter der Herrschaft der norddeutschen Verfassung Hleichgültg gewesen. Denn alle bestimmten Rechte einzelner Staaten im Verhältniß zur Gesanmtheit standen lediglich unter dem Schutze von Verfassung und Gesetz, wie denn am letzten Ende selbst die privatsten Rechte Einzelner im Einzelstaat unter dem Schutze wn Verfassung und Gesetz stehen und derjenigen Formen, welche über die Veränderungm von Verfassung und Gesetz geltend sind. Jetzt aber wird diesen Rechten ein ganz besonderer Schutz verliehen; sie werden gestellt unter

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das liberum veto des betreffenden Staates. M. H., ich behaupte^ wenn es gegenüber der Bestimmung der norddeutschen Verfassung eine Interpretation; geben könnte, welche auf Grund des vorliegenden Alinea 1 dahin gelangte, die Kompetenz des norddeutschen Bundes bei Verfassungsveränderungen auszuschließen, welche Kompetenz­ erweiterungen betreffen, dann, m. H., würde die nämliche Interpretation oder die näm­ liche Methode sehr leicht dahin kommen, das liberum veto in allen Fragen der gegen­ wärtigen Verfassung zu treiben. Zn diesem Augenblicke, m. H., besteht keine Neigung, nicht dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist. Wir sind aber doch keineswegs versichert, daß unter allen poli­ tischen Kombinationen, unter allen Möglichkeiten, die uns die Zukunft geben wird, stets und immer der nämliche gute Wille herrschen wird. Darum scheint es mir auf jeden Fall nothmendig, daß wir volle Klarheit über das Alinea 2 des Artikel 78 schaffen. Die Bestimmung, wie sie hier im Alinea 2 niedergelegt ist, ist lediglich in denjenigen Verträgen sestgestellt worden, die mit den süddeutschen Staaten festgesetzt worden sind. Es ist also ganz offenbar, daß sich auf dies Alinea 2 nur diejenigen Staaten berufen können, mit welchen die betreffenden Verträge abgeschlossen sind, daß sich also nur darauf berufen kann Bayern, Württemberg, Baden; Hessen kann es wegen des zweiten Ge­ sichtspunktes nicht. Mir scheint nämlich, m. H., an zweiter Stelle klar zu sein, daß dieses Alinea 2 nur bezogen werden kann auf diejenigen Gegenstände, welche im Tenor der norddeutschen Verfassung nicht enthalten sind. Kein durch die norddeutsche Ver­ fassung geregeltes Verhältniß kann jemals versucht werden bezogen zu werden unter dieses Alinea 2. Gerade diejenigen Verhältnisse und diejenigen bestimmten Rechte, welche gegen den Tenor der norddeutschen Verfassung unter den hier formulirten Begriff fallen können, sind es, die ich in dem vorliegenden von mir gestellten Anträge festgestellt habe. Ich schlage Ihnen also vor, die Personen bestimmt zu nennen, welche sich auf dieses Alinea 2 berufen dürfen, die Gegenstände bestimmt zu bezeichnen, welche nach der Abweichung der gegenwärtigen Verfassung von dem Tenor der nord­ deutschen Verfassung überhaupt unter den in diesem Alinea formulirten Begriff gezogen werden können. Nach dem Allen empfehle ich Ihnen die Annahme meines Antrages. Königlicher bayerischer Bundesbevollmächtigter Staatsminister von Lutz: M. H., ich werde zu Ihnen nicht sprechen über den Werth der Bestimmung, mit welcher sich der Herr Vorredner befaßt hat, nicht die Gründe auseinandersetzen, welche zur Aufnahme der betreffenden Bestimmung in die Verträge geführt haben; ich will nur bemerken, daß von allen Seiten, welche beim Abschluß der Verträge mitgewirkt haben, die hier in Frage stehende Bestimmung als eine selbstverständliche betrachtet worden ist, als eine Bestimmung, welche bei richtigem Verständniß der Verträge auch auf dem Wege der Interpretation hätte hergestellt werden können. Ich glaube auch beifügen zu können, daß allseitig ein Einverstündniß darüber feststeht, daß diese Bestimmung dermalen gel­ tendes Recht enthält und daß sie auch nach der neuen Redaktion der Verfassung gel­ tendes Recht bleiben wird, einerlei, ob dieselbe in dem eigentlichen Vertragsinstrument oder in dem nebenhergehenden Schlußprotokoll enthalten ist; denn nach dem Promulga­ tionsgesetz, welches Sie zu votiren im Begriff stehen, sollen ja auch die in den Schluß­ protokollen enthaltenen Bestimmungen aufrecht erhalten werden, selbst wenn sie in den Text der Verfassung nicht ausgenommen werden. Der Herr Vorredner hat nun eine Kontroverse darüber erhoben, ob nach den Prinzipien, welche für den Bundesrath bei Aufstellung des Redaktionsentwurfes maßgebend gewesen sind, diese Bestimmung sich zur Aufnahme eigne, oder ob sie unter diejenigen hätte gerechnet werden müssen, welche als dem Schlußprotokoll angehörig nicht ausdrücklich zu erwähnen sind. Mir scheint aber, wenn ich den Herr Vorredner richtig verstanden habe, daß er sich über die maßgebenden Thatsachen im Irrthum befindet; es ist nämlich nicht an dem, wie der Herr Vorredner behauptet hat, daß die betreffende Bestimmung sich lediglich in den Schlußprotokollen befindet. Zn dem bayerischen Vertrage ist diese Bestimmung in dem eigentlichen Ver­ tragsinstrument sub Ziffer 5 enthalten, und gerade dieser Umstand war die Veranlassung dafür, daß in den Berathungen des Bundesrathes diese Bestimmung, dem ursprüng-

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lichen Entwürfe entgegen, in die Ihnen nunmehr vorliegende Redaktion der Verfassnng ausgenommen ist. Ich hoffe also, m. H., Sie werden sich mit Rücksicht hierauf für die Beibehaltung der fraglichen Bestimmung entscheiden; ich glaube aber, den Satz bei­ fügen zu müssen, daß, wenn Sie etwas ändern wollen, ein einfaches Streichen der Be­ stimmung in der That erträglicher ist, als die Redaktion, welche der Herr Vorredner vorgeschlagen hat. Das einfache Streichen der Bestimmung würde sie unter allen Um­ ständen in Geltung belassen auf Grund des letzten Artikels des Promulgationsgesetzes. Die Fassung, die der Herr Vorredner vorschlägt, enthält aber entschieden eine sachliche Aenderung, welche, wenn ich das Haus richtig verstanden habe, was Ihre Initiative betrifft, eigentlich für keinen Artikel der Verfassung beabsichtigt gewesen ist; eine sach­ liche Aenderung sage ich; der Herr Vorredner hat für die Richtigkeit dieser Behauptung meines Erachtens den schlagendsten Beweis geführt. Die Fassung, wie sie jetzt vorliegt, läßt die ganze Frage offen; die Fassung, die der Herr Vorredner vorschlägt, entscheidet, daß nur die von ihm hervorgehobenen Personen durch die erwähnte Bestimmung betroffen werden sollen. Nun scheint mir aber, m. H., indem ich noch beifüge, daß ich der Aus­ legung des Herrn Vorredners beizustimmen in keiner Weise berechtigt bin, daß auch die jetzige Diskussion nicht geeignet ist, um die Frage, ob der Herr Vorredner wirklich nach allen Richtungen erschöpfend redigirt hat, zu approfondiren und in entsprechender Weise zur Erledigung zu bringen. Ich habe das größte Vertrauen, daß bei den Absichten, die bisher zu wiederholten Malen dokumentirt worden sind, dem Hause die Ablehnung des Antrages am meisten entspricht. Abg. Lasker: M. H.! Aus der Auseinandersetzung des Herrn Vertreters des Bundesraths ist mir das Wichtigste seine Erklärung, daß durch die jetzige Aufnahme des Satzes in die Verfassungs-Urkunde nichts Anderes ausgedrückt werden soll, als was wir seit jeher für norddeutsches Bundesrecht gehalten haben. Die Geschichte des zweiten Absatzes im Artikel 78 besteht darin, daß ursprünglich in den Verhandlungen, welche den bayerischen Verhandlungen vorausgegangen sind, protokollarisch festgestellt war, es sei selbstverständlich, daß solche Bestimmungen, welche zu Gunsten eines einzelnen Staates stipulirt werden, nur mit Zustimmung dieses Staates wieder abgeändert werden können. Es handelte sich um eine logische Interpretation, und aus dieser logischen Interpretation haben nun die Unterhändler des bayerischen Vertrages, die überall sehr vorsichtig zu Werke gegangen sind und lieber verbrieftes Recht als Logik haben wollten, den Satz in Vertrazsstil umgestaltet und darin als Beispiel aufgeführt, daß zum Beispiel auch das Militar-Budgetrecht Bayerns nicht abgeändert werden könne, außer unter Zustimmung dieses Staats. Die generelle Bestimmung lautet allgemein, und es ist blos der Auf­ klärung wegen dem bayerischen Vertragsrecht ein Beispiel zugefügt worden. Nun ist, wie wie alle wissen, der jetzige Vertreter des Bundesraths bei dem Abschluß der baye­ rischen Verträge erheblich betheiligt gewesen, und ich finde durch die heutige Erklärung bestattet, was ich immer angenommen habe, daß auch der bayerische Vertrag kein neues Recht chaffen sollte, sondern blos in logischer Interpretation das, was vorher schon bestimnt war, umgearbeitet hat in eine solche Fassung, wie sie zu einem Paragraphen sich ge­ stalten Aßt. Ich Habeden Herrn Vertreter des Bundesraths richtig verstanden, als er sofort damit iegann, der zweite Absatz des Artikels 78 sei der selbstverständliche Inhalt der früherer Bundesverfassung. Daraus folgt, daß durch die Annahme der jetzigen Vertragsbqtimmung keinerlei Veränderung erfolgt, daß wir in alle Zukunft einig sein wer­ den ükr die Bedeutung dieses Paragraphen, daß das, was logisch bereits aus der norddertschen Bundesverfassung herzuleiten war, in Zukunft auch für die neue Ver­ fassung gelten soll, neues Recht aber nicht geschaffen wird. Es ist dies einer der Fälle, in Bet-eff deren ich Eingangs der Debatte gesagt habe, daß, wenn Zweifel entständen, die Entstehungsgeschichte das geeignete Material sein wird, den Zweifel zu beseitigen. Ich bir dankbar dafür, daß der Herr Abg. Hänel diese Debatte angeregt hat, denn ich bin bei Ueberzeugung, daß schon durch diese Diskussion der größte Theil desjenigen, was er durch seinen Antrag anstrebte, erfüllt ist. — Aus den Verhandlungen im Hause und mt der Regierung ist bereits festgestellt, daß neues Recht nicht geschaffen werden ReichtagS-Repertorium. I.

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soll. Es steht also fest, daß sowohl in den Vorverhandlungen nichts andres ausgedrückt werden soll, als was der Herr Vertreter des Bundesraths zutreffem erörtert hat, und damit glaube ich, daß die meisten Bedenken, welche der Herr Abg. Hänel in seiner Rede auseinander gesetzt hat, wegfallen; ich danke ihm aber, daß er de Erörte­ rung dieser Frage in so klarer, unzweideutiger Weise herbeigeführt hat. Königlich bayerischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister von Lutz: Nur eine ganz kurze Erklärung. Das Verlangen nach verbrieftem Recht und die Ungerügsamkeit mit der Logik hat in dem hier vorliegenden Falle nicht blos den Vertreter drr bayeri­ schen Regierung geleitet, sondern mit ihm die sämmtlichen Unterhändler von Württem­ berg, Baden und Hessen, denn auch in den Verträgen mit diesen Staaten inbet sich die beanstandete Bestimmung, bei jenen nur im Schlußprotokoll, statt im Haustvertrage. Der erste Antrag des Dr. Hänel wird ab gelehnt. Der eventuelle Antrag desselben auf Streichung des 2. Almen „Die­ jenigen Vorschriften der Reichsverfassung, durch welche bestimmte Rechte einzelner Bundes­ staaten in deren Verhältniß zur Gesammtheit festgestellt sind, können nur mit Zustim­ mung des berechtigten Bundesstaates abgeändert werden." — wird angenonmen. Es werden endlich die drei Paragraphen des Promulgationsgesetzes angenommen. Dritte Berathung am 14. April 1871.

Abg. Dr. Ewald: Zuerst ist hier der Name und Begriff Kaiser und Reich, welcher in der sehr eiligen Berathung am letzten Tage des norddeutschen Reichstages, gleichsam nur versuchsweise in zwei Stellen der Verfassung vom Jahre 1866 und 1867 ausgenommen war, jetzt durch das ganze Werk hindurchgeführt, an jeder Stelle, wo es irgend möglich schien, ausgenommen. Aber daneben findet sich in dieser Verfassung auch der Name des Bundes; es ist hier noch die Rede vom Bundesrathe, von Bundes­ staaten, insbesondere von Bundespflichten. Damit nun scheint sich mir der innere Wider­ spruch, welcher schon dem Werke vom Jahre 1866 und 1867 nach meiner Meimna bis in die tiefsten Wurzeln hinein anhastete, jetzt noch viel offener dargelegt zu haben. Ter deutsche Bund vom Jahre 1815 war wirklich ein Bund; er hat der Zahl nach wenige:, aber zu der Bedeutung und zu dem Wesen eines Bundes vollkommen passende Grundsätze; und diese Grundsätze sind so, daß sie jeden weiteren Ausbau gestatten, welcher rur dm Grundgedanken des Bundes nicht aufhebt. Die jetzt uns vorgelegte Verfassung ft zwar in einigen Stücken bis in das Einzelnste hinein ausgeführt, in anderen Stücken dagegen, verglichen mit der magna Charta jenes Jahres, auffallend mangelhaft, so mangelhaft, daß schon in dieser Versammlung bei der vorigen Berathung Versuche gemacht vurden, sie zu ergänzen, aber umsonst. Die Hauptsache aber ist, daß der Widerspruch nun hervorgetreten ist, den ich schon bezeichnete, und den ich am kürzesten und klarste viel­ leicht so ausdrücken möchte, daß auf der einen, auf der rechten Seite Kaiser uni Reich, offenbar übermächtig, auf der anderen, auf der linken Seite wie zum Andenken an den Bund von 1815 her der Name Bund steht. Nun läßt sich zwar denken, 4aß ein Bund auch ein Reich genannt werde, obgleich das nicht grade nothwendig ist; cber der Begriff eines Kaisers hebt den Bund auf, da ein Bund zwar nicht in allen den Dingen von Zahl, aber in allen den Dingen von Recht vollkommene Gleichheit affei seiner Glieder fordert, der Kaiser aber dagegen so tief einschneidende, so höchst entsckeidende Vorrechte hat, daß damit der Begriff eines Bundes mir aufgehoben scheint. Wenn nun die Einheit und die Gleichheit auf diese Art mir nicht da zu sein scheint, so ist sie noch von einer anderen Seite her in dieser Verfassung nicht zu er­ kennen, sondern vielmehr, wie mir scheint, schwer verletzt. Es sind ja auch besondere Vorrechte, außer dem Kaiser, Bayern und Württemberg zuerkannt, Vorrechte, welche, wenn man auf den Ursprung sieht, vielleicht schon bezeugen können, daß dieses Kaiser­ tum, welches jetzt, wie so Viele meinen, schon in dem Zenith seiner Größe ste)t, doch vielleicht nicht so stark ist, wie es zu sein scheint. Denn wenn Fürst Bismarck sich zu jener Zeit, wo er den süddeutschen Ländern Bayern und Wüttemberg solche Torrechte zu bewilligen sich veranlaßt sah, stark genug gefühlt hätte, so muß ich wenigstes mei-

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nerseitts bezweifeln, ob er wirklich solche Vorrechte ihnen bewilligt hätte; aber er wünschte damalls aus gewissen Ursachen den Eintritt jener Länder in den schon gestifteten Staat des nwrddeutschen Reiches; und da nun jene Länder unter anderen Bedingungen nicht eintretten wollten, wie es scheint, nun so bewilligte er ihnen diese Vorrechte. Das, m. H., ist mein erstes Bedenken. Mein zweites Bedenken geht von dem Namem aus, den sich diese Stiftung giebt, „das deutsche Reich". Daß diese Stiftung, welche durch Ihre Zustimmung, m. H., nun gesetzlich werden soll, nicht einerlei sein will mit dem alten heiligen römischen Reiche deutscher Nation, das ist zwar durch den ver­ schiedenen Namen schon etwas angezeigt. Das deutsche Reich will nicht einerlei sein mit demjenigen Reiche, welches sich nicht ohne Recht das römische Reich nennen konnte, weil es no>ch an die glorreichen Urzeiten des Eintritts aller Stämme des deutschen Volkes in die gwoße Weltgeschichte erinnerte, und welches sich daneben auch sehr wohl ein heiliges Reich nennen konnte, weil es sowohl nach seiner Entstehung als nach seinem offenen Bekenntnisse nur von denjenigen unsichtbaren, aber wirklichen und wahren, ewigen und heiligen Mächten getragen und gefördert werden wollte, welche allein ein menschliches Reich tragen und fördern können. Nun, das ist also zwar gewiß: mit jenem Reiche will dieses Reich, das sich schlechthin blos nennt das deutsche Reich und welches freilich neben sich kein anderes deutsches Reich dulden will, wie es scheint, (H.) nicht einerlei sein, und dennoch — haben wir nicht gesehen, daß man an jenes Reich anzuknüpfen sucht?'! Was sind das für Widersprüche, die sich da aufs Neue erheben?! Betrachte ich nun endlich drittens weiter das Kaiserthum selbst nicht blos seinem Namen nach, sondern vielmehr nun auch seinem Wesen nach, das Kaiserthum, wie es hier nach dem uns vorgelegten Gesetzesentwurfe gegründet werden soll, so scheint mir ein umgemein weiter, ja ein unausfüllbarer Abstand zwischen diesem Kaiserthum und dem alten deutschen Kaiserthum da zu sein. Das alte deutsche Kaiserthum war nicht zunächst die allgewaltige Macht, welche das ganze deutsche Volk, wo möglich, als Kriegs­ volk mit allen Kriegswaffen und Kriegsmitteln und Kriegsschätzen in ihre Hand zusam­ mendrängte; das alte deutsche Kaiserthum war vor Allem die erhabene, milde, versöh­ nende Macht höherer Gerechtigkeit, welche gleichmäßig über allen Gliedern des Reiches waltet, welche vorzüglich auch den Unterdrückten gegen die Gewaltthätigkeiten der Mäch­ tigeren hilft. Jenes Kaiserthum war schon danach so sehr nicht sowohl von sinnlicher als von geistiger Bedeutung, daß es von den Zufälligkeiten einer menschlichen Herrschaft oder eines fürstlichen Geschlechtes, eines vorherrschenden Stammes, einer Hauptstadt voll­ kommen unabhängig war, und daß es sogar nicht, wie irgend ein anderes sinnliches Ding als ein Erbstück betrachtet wurde, welches nothwendig vom Vater auf den Sohn übergehen müßte. Daher herrschte denn auch in jenem alten Reiche so viele Gleich­ mäßigkeit der Bildung, ein so weit verbreiteter Wohlstand, ein solcher wahrer Wetteifer aller einzelnen Stämme und Reiche und Völker in Allem, was den Wetteifer hervorrufen kann, in Handel und Wandel, in Künsten und Wissenschaften, in Schulen und Univer­ sitäten. Wenn nun jenes alte Reich (in welchem der Kaiser keinen Augenblick denken konnte, die höchste Macht über alle deutschen Völker und Fürsten klebe ihm und seinem Hause etwa wie ein Erbstück an, so daß er sie nothwendig haben müsse, ein Glaube, eine Meinung, woraus nach dem Zeugniß aller Geschichte in allen Jahrhunderten Nichts am Ende entsprossen ist als Einbildung, Willkür und Despotie) — wenn, sage ich, das alte deutsche Reich allmählig im Laufe der Zeit in den deutschen Bund wie von selbst überging, so verfeinerte und verklärte sich dadurch nur alles das Beste, was in jenem alten Reiche gewesen war. Zst nun für ein großes, allgemein verbreitetes, sehr gleichmäßig gebildetes Volk die beste Verfassung, die sich für es ziemt, wie ich immer gemeint habe, allein die wohldurchgebildete, echte, freie Bundesverfassung, so ziemt sie sich ganz besonders auch für das deutsche Volk und für das deutsche Reich. Nun aber soll diese Bundesverfassung zwar nicht augenblicklich, aber allmählich, wie es scheint, aufgelöst werden. Es wird also, so viel ich voraussehen kann, etwa ebenso werden wie in dem norddeutschen Bunde, wo ich auch in dem Reichstage von manchen Mitgliedern wohl hörte, die kleineren Staaten müßten von selbst aufhören. Warum soll denn nun dieser

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ganze Streit nicht wieder emporkommen? Za, innere unversöhnliche Widersprüche werden wohl so lange unschädlich bleiben, als sie blos auf dem Papiere oder in den flüsfgen Hin- und Herreden bestehen, aber aller Geschichte nach führen sie am Ende nothwendig zu den härtesten Zusammenstößen, zu den starresten Streitigkeiten, zu den blutigsten Kämpfen. Darum schließe ich denn, indem ich noch die Frage aufwerfe: wollen Sie, m. H., wirklich das, was allem deutschen Wesen bis jetzt zuwider war, was aller deutscher Geschichte widerspricht, das erbliche Kaiserthum einführen? So möchte ich Sie doch weiter fragen: wo ist denn in aller Geschichte das erbliche Kaiserthum gewesen? wo ist es zuerst aufgekommen? Es ist.zuerst aufgekommen im byzantinischen Reiche, und erst in den späteren Jahrhunderten desselben. Nun, viel Byzantinerthum habe ich auch schon in früheren Zeiten hier in Berlin bemerkt; (H.) jetzt aber, wenn dieses byzantinische erbliche Kaiserthum noch Hinzutritt, fürchte ich, wird das Byzantinerthum noch viel hoher werden, noch viel mehr Alles überschatten und überwuchern. Sodann, ohne aus den neuesten auf die amerikanischen und afrikanischen Kaiserthümer hinzublicken, die' auch erblich sind — denn von ihnen will ich nicht viel reden, die Herren werden es durch­ aus nicht wünschen — (Z.) aber in unseren Zeiten ist allerdings das erbliche Kaiser­ thum auch sonst versucht; es ist aber nur zunächst versucht von den beiden Bonaprrte. Wenn also, das ist mein Schluß, dasjenige Reich, welches durch diese Verfassung gegründet und heute durch unsere Abstimmung gesetzlich werden soll, wenn dieses Reich sich weiter ausbildet auf dieser seiner Grundlage, was kann es dann am Ende werden nach allem diesen, was wir voraussehen können, was die Geschichte schon lehrt, und das innere Wesen der Sache uns zeigt? Was kann es da werden? Ich sage, höchstens kann es eine Wiederkehr des Reiches von Louis XIV. werden! oder, was mir noch viel mehr der Fall zu sein scheint, es kann und muß ein drittes bonapartisches Cäsarenthum werden. Wie ich das sagte am 6. Dezember im vorigen Reichstage, so darf ich es wiederholen hier an dieser Stelle. Finden sich denn nicht die größten Aehnlichkeiten zwischen den beiden bonapartischen Kaiserthümern und dem Kaiserthum, welches jetzt hier gegründet werden soll? Wie das erste bonapartische Kaiserthum aus einem Staatsstreich im Jahre 1799, und wie das zweite nicht blos aus einem Staatsstreiche, sondern auch aus einer der blutigsten Revolutionen hervorging, die von oben herab gemacht wurden, im Jahre 1851: können wir leugnen, daß dieses Reich, wie es jetzt hier gesetzlich wer­ den soll, im Jahre 1866 auch nur durch eine Revolution emporgekommen ist? Femer, wie das erste bonapartische Cäsarenthum durch kriegerisches Glück bald so hcch empor­ stieg, daß es die Bewunderung der ganzen Welt erregte und ein ewiges Reih zu sein schien, und wie dann auch das zweite bonapartische Kaiserthum durch las uner­ wartete Glück des Krimkrieges einen schönen Schimmer von Glanz und Herrlichkeit um sich verbreitete, so daß man meinte, kein Reich in diesem ganzen Jahrhunder sei doch glücklicher als dieses Reich, so, m. H., kommt es mir vor, daß auch der glückliche Krieg, den dieses Reich im vorigen Jahre und bis in dieses Jahr hinein geführt hat, aller­ dings einen großen Glanz um dieses Reich verbreitet hat, aber nur so, wü dort bei den beiden bonapartischen Reichen, daß er die inneren Mängel und Gebrechen, an denen dieses Reich von Anfang an schon krankt, nur überdeckt und. verhüllt hat. —Das sind einige Aehnlichkeiten; aber lassen Sie mich zum Schluß (H.) noch eine grose Unähn­ lichkeit hervorheben. Die große Unähnlichkeit — warum Sie lachen, weiß ich eigentlich nicht — (Ruf: Ueber den „letzten" Schluß!) ich rede ernst, (H.) und die Srchen, die ich sage, sind auch ernst. (H.) Ich habe das Recht, hier zu reden! (Ruf: §a wohl!) Ich habe das Recht, ernst zureden — (Ruf: Gewiß! H.) wie die Sache sebst es er­ fordert, wie es mir hier der Fall zu sein scheint. — DieUngleichheit ist liefe. In Frankreich, in Italien, in Spanien sind die Revolutionen eine Art Landesserche, und das können wir gar nicht so sehr auffallend finden. Soll ich heut an diq'er Stelle sagen, was Frankreich noth thue, damit es endlich von dieser Landesseuhe befreit werde? (Ruf: Ja, ja!) Nun, das thut ihm noth, daß es um wenigstens irei Jahr­ hunderte bis hinter die Bartholomäusnacht zurückgehe, und auf dem Boden, irr damals

Vertrag mit dem Freistaat Salvador.

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war, einen neuen, besseren Anfang zu gründen suche! — So steht es mit jenen Län­ dern. Aber in Deutschland war bis jetzt die Revolution nicht von oben her erlaubt und gesetzlich. Doch was ist nun geschehen seit dem Zahre 1866 und in jenem Jahre? Vor allem anderen eins ist es, was da geschehen ist, was ich mit einem Worte bezeich­ nen kann, worin alles zusammen liegt: im Jahre 1866 ist gegen die Majestät GesammtDeutschlands, gegen die Majestät der deutschen Völker und Fürsten ein Verbrechen be­ gangen worden (oh! oh!), ein Majestätsverbrechen im anderen Sinne, als dessen An­ dere angeklagt werden, aber doch, ich halte es dafür; denn wenn ich den Fürsten Ma­ jestät gebe, — nun auch die Völker haben sie, weil, nur durch die Herrlichkeit eines Volkes doch auch die ganze Herrlichkeit eines Königs und Fürsten entsteht, wie ich sie verehre, wie ich in meinem ganzen Leben gegen alle Revolutionen gewesen bin und auch noch jetzt dagegen rede wie früher in allen meinen Zeiten. Darum lassen Sie mich zum Schluß das Eine wünschen: möge das vitium originis des Reiches, welches heute hier gegründet werden soll, gründlich aufgehoben werden, möge das geschehen, was alle wahren Deutschen wünschen, solche Deutsche, denen Sie nicht das geringste Böse vorwersen können, möge das geschehen: dann werde ich herzlich gern diese Verfassung billi­ gen; wenn nicht, — nicht!

Nachdem die Artikel, resp. Paragraphen einzeln angenommen sind, wird das Gesetz, betreffend die Verfassung des deutschen Reiches zur Gesammtabstimmung gebracht und gegen 7 (oder 8) Stimmen angenommen.

Nr. 2.

«kremr-schafts-, Handels- und SchiffahrtSvrrtrag zwischen Sr. Majestät -em Könige non Preußen im Namen -es Norddeutschen Lundes und des Zollvereins und dem Freistaate Salvador. Art. I. Es soll Friede und immerwährende Freundschaft sein zwischen den Staaten des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Zollvereins einerseits und dem Freistaate Salvador anderersei:s, sowie zwischen den beiderseitigen Angehörigen, ohne Unterschied der Personen und der Orte. Art. II. Es soll gegenseitig vollständige Freiheit des Handels bestehen zwischen allen Ge­ bieten der Deutschen Staaten und allen Gebieten des Freistaates Salvador. Die Angehörigen der beiden hohen vertragenden Theile können frei und in voller Sicherheit mit ihren Schiffen und Ladungen in alle diejenigen Plätze, Häfen und Flüsse Salvadors und Deutschlards einlaufen, welche für die Schiffahrt und den Handel irgend einer anderen Nation oder eines anderen Staates jetzt geöffnet sind oder in Zukunft geöffnet sein werden. .Dir Salvadorener in Deutschland und die Deutschen in Salvador werden in dieser Bezie­ hung die nämliche Freiheit und Sicherheit genießen, wie die eigenen Angehörigen. Bezüglich des Küstenhandels und der Kabotage werden sie behandelt werden wie die Angehörigen der meistbegün­ stigten Nation.

Art. III. Die Angehörigen eines jeden der beiden hohen vertragenden Theile können gegen­ seitig mit voller Freiheit jeden Theil der betreffenden Gebiete betreten, daselbst chren Wohnsitz neh­ men, reisen, Groß- und Kleinhandel betreiben, Magazine und Läden, deren sie bedürfen möchten, miethen und inne haben, Waaren rind edle Metalle verführen, Konsignationen aus dem Jnlande

214

Gesetzentwürfe.

wie aus fremden Ländern annehmen. ohne daß sie in irgend einem Falle anderen allgemeinen oder

lokalen Beiträgen, Auflagen oder Verpflichtungen, welcher Art auch diese sein mögen, unterworfen werden können, als solchen, die den eigenen Angehörigen auferlegt sind oder auferlegt werden.

Es soll ihnen vollkommen freistehen, ihre Geschäfte selbst zu führen,

bei den Zollbehörden

ihre eigenen Deklarationen einzureichen, oder sich hierbei nach Belieben von Anderen unterstützen

oder vertreten zu lassen, sei es unter dem Namen von Bevollmächtigten, Faktoren, Agenten, Kon­ signatären, Dolmetschern u. s. w.; dasselbe gilt beim Kauf und Verkauf von Gutem, Effekten und

Waaren, beim Laden, Löschen und Abfertigen ihrer Schiffe. Sie sind ferner berechtigt, Aufträge auszuführen, welche ihnen von Landsleuten oder von Fremden oder Inländern anvertraut werden, sei es als Bevollmächtigte, Faktoren, Agenten, Kon­

signatäre oder Dolmetscher u. s. w., und in keinem Falle unterliegen sie dafür anderen Beiträgen oder Auflagen als solchen, welchen die eigenen Angehörigen oder die Angehörigen der meistbegün­

stigten Nation unterworfen sind. Gleiche Freiheit genießen sie bei allen ihren Käufen und Verkäufen hinsichtlich der Feststel­

lung des Preises jeder Art von Effekten, Waaren oder Gegenständen, mögen sie dieselben eingeführt oder für die Ausfuhr bestimmt haben.

Es versteht sich jedoch, daß sie in allen diesen Fällen sich nach den Gesetzen und Verordnun­ gen des Landes zu richten haben.

Art. IV.

Den Angehörigen des

einen und des andern der vertragenden Theile soll in

beiden Ländem der vollständigste und immerwährende Schutz ihrer Personen und ihres Eigenthums zu Theil werden.

Sie werden freien Zutritt zu den Gerichtshöfen behufs Verfolgung und Ver­

theidigung ihrer Rechte haben. Zu diesem Zwecke können sie unter allen Umständen Advokaten, Sachwalter und Agenten jeder Art verwenden, welche sie nach ihrem Ermessen dazu bestimmen. Auch sollen sie die Befugniß haben, bei den Beschlüssen und Urtheilssprüchen der Gerichts­

höfe in den Sachen, bei denen sie betheiligt sind, zugegen zu sein, sowie bei den Zeugen - Verneh­

mungen und Aussagen, welche stattfinden könnten bei Gelegenheit des Prozeßverfahrens, so oft die Gesetze des betreffenden Landes die Oeffentlichkeit dieser Handlungen gestatten.

Endlich werden sie in dieser Beziehung die nämlichen Rechte und Vortheile genießen, als die

eigenen Angehörigen und denselben Bedingungen unterworfen sein, die den letzteren auferlegt sind. Art. V.

Die Salvadorener in Deutschland und die Deutschen in Salvador fo'len befreit

sein sowohl von allen persönlichen Diensten im Heere und in der Marine, in der Landwehr, Bürger­

wehr oder Miliz, als auch von der Verpflichtung, politische, administrative und richterlihe Aemter und dergleichen dienstliche Verrichtungen zu übernehmen; sowie von allen außerordentlichen Kriegs­

kontributionen, gezwungenen Anleihen, militärischen Requisitionen oder Dienstleistungen, Art sie auch sein mögen.

welcher

Ueberdies können sie in allen Fällen rücksichtlich ihres beweglichen und

unbeweglichen Vermögens keinen anderen Lasten, Abgaben und Auflagen unterworfen nerd-en, als denen, welche von den eigenen Angehörigen oder von den Angehörigen der meistbegünstigten Nation

verlangt werden. Art. VI.

Die Angehörigen des einen und des andern Landes können gegenseitig weder

einer Beschlagnahme unterworfen, noch mit ihren Schiffen, Ladungen, Waaren und Effekten zum

Zwecke irgend welcher militärischen Expedition oder irgend welcher öffentlichen Verwendrng, zurück­ gehalten werden,

ohne daß vorher durch die Betheiligten selbst, oder durch von ihnen ernannte

Sachverständige, eine Vergütung nach Landesgebrauch festgestellt worden ist, welche in jedem Falle hinreicht zur Deckung aller Nachtheile, Verluste, Verzögerungen und Schäden, welche duerch den

Dienst, dem sie unterworfen wurden, entstanden sind oder entstehen könnten.

Art. VII.

Die Salvadorener, welche sich in Deutschland, und die Deutschen, welche sich in

Salvador aufhalten, genießen die vollständigste Gewissensfreiheit, und es werden die ^etr-effenden Regierungen nicht zugeben, daß sie belästigt, beunruhigt oder gestört werden wegen ihreZ religiösen Glaubens oder wegen der Ausübung ihres Gottesdienstes, welchen sie in Privathäuserr, Kapellen

oder sonstigen für gottesdienstliche Zwecke bestimmten Orten, unter Beobachtung der kiirchlichen Schicklichkeit und angemessenen Achtung der Landesgesetze, Sitten und Gebräuche ausüben. - Auch sollen die Salvadorener und die Deutschen die Befugniß haben, ihre Landslmtee, welche

in Deutschland und in Salvador mit Tode abgehen, an passenden und angemessenen Ortern, welche

sie selbst unter Vorwissen der Ortsobrigkeit dazu bestimmen und einrichten, oder an den von den

Vertrag mit dem Freistaat Salvador.

215

Verwandten und Freunden des Verstorbenen gewählten Begräbnißorten zu bestatten, und sollen

die Vegrabnißfeierlichkeiten in keiner Art gestört, noch die Gräber aus irgend welchem Grunde be­ schädigt oder zerstört werden.

Die Angehörigen eines jeden der vertragenden Theile sollen das Recht haben,

Art. VIII.

in den betreffenden Gebieten des anderen jede Art beweglichen und unbeweglichen Vermögens zu erwerben und zu besitzen, dasselbe mit aller Freiheit auszubeuten und darüber nach ihrem Belieben

durch Verkauf,

Schenkung,

Tausch, Testament oder auf irgend welche andere Weise zu verfügen.

Desgleichen können die Angehörigen des einen Landes, welche Güter, die in dem anderen Lande

liegen, erben, unbehindert in diejenigen Theile der gedachten Güter, die ihnen ab intestato oder durch Testament zufallen, succediren und darüber nach Belieben verfügen, vorbehaltlich der Bezah­

lung der Abgaben vom Verkauf, von der Erbschaft oder anderer Art, wie sie die Angehörigen des

Landes in gleichen Fällen zu erlegen haben. Die Ehe eines Salvadoreners soll in Deutschland und die Ehe eines Deutschen soll in Sal­ vador für gültig angesehen werden, wenn diese Ehe geschlossen ist gemäß den Gesetzen seines Hei-

mathlandes. Von dem Vermögen, welches

unter irgend einem Rschtstitel von einem Salvadorener in

Deutschland oder von einem Deutschen in Salvador erworben ist und aus dem Lande geführt wird,

darf weder in dem einen noch in dem anderen Lande die unter dem Namen jus detractus, gabella hereditaria, census emigrationis bekannte, noch irgend eine andere Abgabe erhoben werden,

welcher die Angehörigen des Landes nicht unterworfen sind. Art. IX.

Wenn (was Gott verhüten wolle) der Friede zwischen den beiden hohen vertra­

genden Theilen gestört werden sollte, so wird von dem einen und von dem andern Theile ein Ter­ min von wenigstens sechs Monaten den Handeltreibenden, welche an der Küste wohnen, und von

einem Fahre denen, die sich im Innern des Landes niedergelassen haben, gewährt werden, damit sie ihre Geschäfte ordnen und über ihr Eigenthum verfügen können.

Außerdem wird ihnen ein

Geleitsbrief ertheilt werden, um sich in einem Hafen, den sie nach ihrer Wahl selbst bezeichnen wer­

den, einzuschiffen, vorausgesetzt, daß derselbe vom Feinde weder besetzt, noch blokirt sei, noch ihre

eigene Sicherheit oder die des Staates die Abreise über diesen Hafen verbietet, in welchem Falle

dieselbe stattfinden wird, wie und wo es geschehen kann. Alle anderen Angehörigen, welche einen festen und dauernden Wohnsitz in den betreffenden

Staaten haben zum Zwecke der Ausübung eines Berufes oder eines Gewerbes, können ihren Wohn­ sitz beibehelten und den Betrieb ihres Berufes oder ihres Gewerbes fortsetzen, ohne auf irgend welche Art beunruhigt zu werden, und der volle Besitz ihrer Freiheit und ihrer Güter wird ihnen

gelassen werden, so lange sie sich keiner Verletzung der Landesgesetze schuldig machen. Art. X.

In keinem Falle eines Krieges oder eines Zerwürfnisses zwischen beiden Ländern

werden des Eigenthum oder die Güter der betreffenden Staatsangehörigen, welcher Art sie auch seien, einer Beschlagnahme oder Sequestration oder anderen Lasten oder Auflagen unterworfen

sein, als denjenigen, welche von den Angehörigen des eigenen Landes erhoben werden.

Ebenso

wenig dürfen die Beträge, welche Privatpersonen ihnen schulden, die Staatspapiere, Bankantheile

oder Aktiea, welche denselben gleich stehen, zum Schaden der gedachten Angehörigen mit Beschlag

belegt, sequestrirt oder eingezogen werden. Art. XI.

Die Salvadorener Kaufleute in Deutschland und die Deutschen Kaufleute in

Salvador werden bei ihrem Handel alle Rechte, Freiheiten und Zollbefreiungen genießen, welche den Angehörigen der meistbegünstigten Nation gewährt sind oder in Zukunft gewährt werden.

In

Folge dessin können in Deutschland auf die Erzeugnisse des Bodens und des Gewerbfleihes von

Salvador und in Salvador auf die Erzeugnisse des Deutschen Bodens und Gewerbfleihes keine anderen o^er höheren Eingangsabgaben gelegt werden, als diejenigen, denen die Erzeugnisse der

meistbegüMgten Nation unterworfen sind oder unterliegen werden.

Derselbe Grundsatz soll für

die Ausfulr gelten.

Keir Verbot und keine Beschränkung der Einfuhr oder Ausfuhr irgend eines Artikels soll in dem gegenseitigen Handel der beiden Länder Anwendung finden, wenn dieselben sich nicht gleich­

mäßig auf alle anderen Nationen erstrecken und die Förmlichkeiten, welche zum Beweise des Ur­ sprungs md der Herkunft der Waaren, die in das eine der beiden Länder eingeführt werden, beziehungsveise verlangt werden möchten, werden gemeinsam sein für alle anderen Nationen.

Gesetzentwürfe.

216 Art. XII.

Die Salvadorener Schiffe, bei ihrem Einlaufen oder Auslaufen in Deutschland

und die Deutschen Schiffe, die in Salvadorener Häfen ankommen oder aus solchen ausgehen, wer­

den keinen anderen oder höheren Abgaben an Tonnen-, Leucht-, Hafen-, Lootsen-,, Quarantaineund anderen den Schiffskörper treffenden Gebühren unterworfen sein, als denjenigen, welchen be­

ziehentlich die Schiffe des eigenen Landes unterworfen sind.

Die Tonnengelder und andere Abgaben, welche im Verhältniß der Tragfähigkeit der Schiffe erhoben werden, werden in Salvador von Deutschen Schiffen nach Maßgabe des Deutschen Schiffs­ registers berechnet und umgekehrt.

Gegenstände aller Art, welche in die Häfen des einen der beiden Länder unter

Art. XIII.

der Flagge des andern eingeführt werden, sollen, welches auch ihr Ursprung sein und aus welchem Lande auch die Einfuhr erfolgen möge, keine anderen oder höheren Eingangsabgaben entrichten und

keinen anderen Lasten unterworfen sein, als wenn sie unter der Nationalflagge eingeführt würden. Desgleichen sollen Gegenstände aller Art, welche aus einen: der beiden Länder unter der

Flagge des anderen, nach welchem Lande es auch sein möge,

ausgeführt werden, keinen anderen

Abgaben oder Förmlichkeiten unterworfen sein, als wenn sie unter der Nationalflagge ausgeführt

würden. Art. XIV.

Die Salvadorener Schiffe in Deutschland und die Deutschen Schiffe in Sal­

vador können einen Theil ihrer Ladung in dem ersten Ankunftshafen löschen und sich sodann mit dem Reste der Ladung nach anderen Häfen desselben Landes begeben, sei es, um das Entlöschen

ihrer Ladung zu vollenden, oder um ihre Rückfracht zu vervollständigen, ohne in jedem Hafen an­ dere oder höhere Abgaben zu entrichten, als diejenigen, welche unter ähnlichen Umständen die

Schiffe des eigenen Landes zu entrichten haben. Art. XV.

Schiffe im Besitze von Angehörigen des einen der beiden hohen vertragenden

Theile, welche an den Küsten des anderen Schiffbruch leiden oder stranden sollten, oder welche in Folge von Seenoth oder erlittener Havarie in die Häfen des anderen Theiles einlaufen oder dessen Küsten berühren, sind keinerlei Schiffahrtsabgaben, welcher Art oder welches Namens unterrvorfen, mit Ausnahme derjenigen, welchen in ähnlichen Umständen die Nationalschiffe unterliegen. Dessen ungeachtet ist es ihnen gestattet,

auf andere Schiffe überzuladen

oder ihre ganze

Ladung oder einen Theil derselben am Lande und in Magazinen, um das Verderben der Waaren

zu verhüten, unterzubringen, ohne dafür andere Gebühren zu entrichten als solche, welche sich auf

den Schiffslohn, die Lagermiethe und den Gebrauch der Schiffswerften zum Zwecke der Unter­

bringung der Waaren und Ausbesserung des Schiffes beziehen.

Außerdem soll ihnen zu diesem

Zwecke jede Erleichterung und Schutz gewährt werden, ebenso, wie um sich mit Lebensmitteln zu versehen und sich in den Stand zu bringen, ihre Reise ohne Hinderniß fortzusetzen.

Art. XVI.

Als Salvadorener Schiffe werden in Deutschland und als Deutsche Schiffe

werden in Salvador alle diejenigen erachtet werden, welche unter der betreffenden Flagge fahren und mit solchen Schiffspapieren und Urkunde:: versehen sind, wie sie die Gesetze der beiden Länder

erfordern, um die Nationalität der Handelsschiffe nachzuweisen. Art. XVII.

Schiffe, Waaren und andere den betreffenden Staatsangehörigen eigenthüm­

lichen Gegenstände, welche innerhalb der Gerichtsbarkeit des einen der beiden vertragenden Theile, oder auf hoher See von Piraten geraubt und nach den Häfen, Flüssen, Rheden oder Buchten im

Gebiete des anderen Theils gebracht oder daselbst angetroffen werden, sollen ihren Eigenthümern

gegen Erstattung der Kosten der Wiedererlangung, wenn solche entstanden und von den kompetenten Behörden zuvor festgestellt sind, zurückgegeben werden, sobald das Eigenthumsrecht vor diesen Be­

hörden nachgewiesen sein wird, und auf eine Reklamation hin, welche innerhalb einer Freist von einem Zahre, von den Betheiligten oder deren Bevollmächtigten, oder von den Vertretern der be­

treffenden Regierung angebracht werden muß. Art. XVIII.

Die Kriegsschiffe des einen der beiden vertragenden Theile können in alle

Häfen des anderen, welche der meistbegünstigten Nation geöffnet sind, einlaufen, daselbst verweilen,

Bedarf einnehmen und Ausbesserung vornehmen.

Sie sind daselbst den nämlichen Vorschriften

unterworfen und genießen dieselben Vortheile, als die Kriegsschiffe der meistbegünstigten Niation.

Art. XIX.

Wenn der Fall eintreten sollte, daß der eine der beiden vertragendem Theile

mit einer dritten Macht im Kriege sich befände, so darf der andere unter keinen Umständen seinen

Angehörigen gestatten, Kaperbriefe zu nehmen oder anzunehmen, um gegen den ersteren feindlich zu verfahren oder den Handel und das Eigenthum seiner Angehörigen zu beunruhigen.

217

Vertrag mit dem Freistaat Salvador.

Art. XX.

Die beiden hohen vertragenden Theile nehmen für ihre gegenseiügen Beziehungen

nachstehende Grundsätze an:

1. Die Kaperei ist und bleibt abgeschafft;

2. Die neutrale Flagge deckt das feindliche Gut, mit Ausnahme der Kriegs-Konterbande; 3. Neutrales Gut unter feindlicher Flagge, mit Ausnahme der Kriegs-Konterbande, darf

nicht mit Beschlag belegt werden; 4. Die Blokaden müssen, um rechtsverbindlich zu sein, wirksam sein, das heißt durch eine Streitmacht aufrecht erhalten werden, welche hinreicht, um den Zugang zur Küste des

Feindes wirklich zu verhindern. Ebenso kommen dieselben dahin überein, daß die Freiheit der Flagge diejenige der Personen

sichert, und daß die Angehörigen einer feindlichen Macht, welche an Bord eines neutralen Schiffes angetroffen werden, nicht zu Gefangenen gemacht werden dürfen,

ausgenommen, wenn sie dem

Soldatenstande angehören und sich zur Zeit im Dienste des Feindes befinden. Die beiden hohen vertragenden Theile werden jedoch diese Grundsätze auf andere Mächte nur

insoweit anwenden, als letztere dieselben gleichfalls anerkennen. Art. XXI.

Für den Fall, daß der eine der vertragenden Theile sich im Kriege befände

und seine Schiffe auf der See das Durchsuchungsrecht auszuüben haben sollten, ist man einver­

standen, daß, wenn diese einem Schiffe des andern neutral gebliebenen Theils begegnen, sich außer Kanonenschußweite halten sollen und lediglich ein Boot mit zwei Offizieren an Bord des neu­

tralen Schiffes senden dürfen mit dem Auftrage, zur Prüfung der auf die Nationalität des letzteren

und dessen Ladung bezüglichen Papiere zu schreiten.

Die Befehlshaber der Schiffe sind verantwortlich für jede Bedrückung oder gewalttätige Handlung, welche sie bei dieser Gelegenheit begehen oder begehen lassen sollten.

Man ist gleichfalls einverstanden, daß in keinem Falle der neutrale Theil genöthigt werden könne, an Bord des durchsuchenden Schiffes zu gehen, weder um seine Papiere vorzuzeigen, noch zu irgend einem anderen Zwecke.

Die Durchsuchung wird nicht gestattet sein außer an Bord von Schiffen, die ohne Geleit

fahren.

Wenn sie mit Geleit reisen, so genügt es, daß der Befehlshaber des letzteren mündlich

und auf sein Ehrenwort versichert, daß die unter seinen Schutz und seine bewaffnete Bedeckung ge­

stellten Schiffe dem Lande angehören, dessen Flagge sie führen, und daß er, wenn diese Schiffe nach einem feindlichen Hafen bestimmt sind, ferner erklärt, daß sie keine Kriegs-Konterbande an Bord haben.

Art. XXII.

Im Falle das eine der beiden Länder mit einer dritten Macht im Kriege sich

befände, sollen die Angehörigen des anderen Landes ihren Handel und rhre Schifffahrt mit dieser Macht fortsetzen können, außer mit solchen Städten oder Häfen, welche in Wirklichkeit belagert oder

blokirt sind; diese Freiheit des Handels und der Schifffahrt darf sich jedoch in keinem Falle auf

Gegenstände, welche als Kriegs-Konterbande gelten,

erstrecken, nämlich auf Feuer- und blanke

Waffen, Geschosse, Pulver, Salpeter, militairische Ausrüstungsgegenstände und Geräthschaften aller Art, welche für den Gebrauch im Kriege besümmt sind.

In keinem Falle darf ein, einem Angehörigen des einen der beiden Länder gehöriges Han­

delsschiff, welches nach einem von der betreffenden Macht des andern blokirten Hafen besümmt ist, mit Beschlag belegt, weggenommen und kondemnirt werden, wenn ihm nicht vorher durch ein Schiff des blokirenden Geschwaders oder Abtheilung von dem Bestehen der Blokade eine Anzeige oder

Verständigung gemacht worden ist, und damit es nicht eine angebliche Unkenntmß der Thatsachen

für sich anführm könne, sowie damit ein regelrecht benachrichtiges Schiff in den Fall kommen könne, aufgebracht zu werden, wenn es sich während der Dauer der Blokade nochmals vor demselben

Hafen zeigen sollte, so soll der Befehlshaber des Kriegsschiffes bei der ersten Begegnung sein Visa auf die Payierr des Schiffes setzen mit Angabe des Tages, des Ortes und der Höhe, wo der

Besuch gemacht wurde und die vorerwähnte Benachrichtigung mit den erforderlichen Förmlichkeiten

stattgefunden hot.

Art. XIIII.

Jeder der beiden hohen vertragenden Theile kann in den Gebieten des andern

zum Schutze des Handels Konsuln ernennen; diese Agenten werden jedoch nicht eher in die Aus­

übung ihrer Verrichtung eintreten, noch der mit ihrem Amte verbundenen Rechte, Vorrechte und

Freiheiten theillaftig werden, bis sie das „Exequatur" der Territorial-Regierung erhalten haben, Reichstags-Repertorium I.

15

218

Gesetzentwürfe.

welche letztere sich vorbehält, die Aufenthaltsorte zu bestimmen, an denen sie Konsuln zulassen will. Es versteht sich, daß in dieser Beziehung die Regierungen sich gegenseitig keine anderen Beschränkungen auferlegen werden, als diejenigen, die in ihrem Lande allen Nationen gemeinsam sind. Art. XXIV. Die General-Konsuln, Konsuln, Vize-Konsuln und Konsular-Agenten, sowie die ihrer Mission beigegebenen Konsular-Eleven, Kanzler und Sekretaire werden in beiden Ländern alle Vorrechte, Befreiungen und Freiheiten genießen, welche an dem Orte ihres Aufenthaltes den Agenten desselben Ranges der meistbegünstigten Nation bewilligt werden möchten. Die Berufskonsuln (Consules missi) sollen, sofern sie Angehörige desjenigen vertragenden Theiles sind, welcher sie ernannt hat, von Militair-Einquartierung befreit sein, sowie von direkten Personal-, Mobiliar- und Luxussteuern, mögen solche vom Staate oder der Kommune auferlegt seinSollten jedoch die genannten Beamten Kaufleute sein oder ein Gewerbe betreiben oder unbewegliches Eigenthum besitzen, so werden sie in Beziehung auf die Lasten und Abgaben im Allgemeinen wie

die Angehörigen ihres Landes angesehen. Die Berufskonsuln (Consules missi) sollen, sofern sie Angehörige desjenigen vertragenden Theils sind, welcher sie ernannt hat, der persönlichen Immunität genießen und nur wegen schwerer strafbarer Handlungen festgenommen oder verhaftet werden. Was die Konsuln anlangt, welche Angehörige des Landes sind, in dem sie ihren Sitz haben oder welche Handel treiben, so versteht sich die persönliche Immunität nur von Schulden und anderen Verbindlichkeiten, welche nicht her­ rühren aus den Handelsgeschäften, die sie selbst oder durch ihre Untergebenen betreiben. Die gedachten Agenten können über dem äußeren Eingänge ihrer Wohnung ein Schild mit dem Wappen ihres Landes und der Inschrift: Konsulat von anbringen und ebenso können sie an öffentlichen oder nationalen Festtagen die Flagge ihres Landes an dem KonsulatSgebäude aufziehen.- Diese äußeren Abzeichen werden jedoch niemals angesehen werden als ein Recht gebend auf Gewährung des Asyls. Im Falle des Todes, der Behinderung oder der Abwesenheit der General-Konsuln, Konsuln, Vize-Konsuln und Konsular-Agenten werden die Konsular-Eleven, Kanzler und Sekretaire von Rechtswegen zur einstweiligen Besorgung der Konsulatsgeschäfte zugelassen werden. Art. XXV. Die Archive und im Allgemeinen alle Papiere der betreffenden Konsulats­ kanzleien sind unverletzlich und können unter keinem Vorwande und in keinem Falle von Seiten der Landesbehörden weggenommen noch durchsucht werden. Art. XXVI. Die betreffenden General-Konsuln und Konsuln haben die Besugniß, VizeKonsuln und Konsular-Agenten in den verschiedenen Städten, Häfen oder Orten ihres Konsular­ bezirks einzusetzen, wenn das Interesse des ihnen anvertrauten Amtes dies erheischt; es versteht sich jedoch mit dem Vorbehalte der Genehmigung und der Ertheilung des „Exequatur" Seitens der Regierung des Landes. Solche Agenten können sowohl aus der Zahl der beiderseitigen An­ gehörigen, als der fremden ernannt werden. Art. XXVII. Die betreffenden General-Konsuln, Konsuln, Vize-Konsuln oder KonsularAgenten können bei Todesfällen ihrer Landsleute, wenn solche ohne Hinterlassung eines Testaments oder ohne Namhaftmachung von Testamentsvollstreckern verstorben sind, 1) von Amtswegen oder auf Antrag der betheiligten Parteien das bewegliche Vermögen und die Papiere des Verstorbenen unter Siegel legen, indem sie von der bevorstehenden Handlung der zuständigen Ortsbehörde Nachricht geben, welche derselben beiwohnen und, wenn sie es für paffend hält, ihre Siegel mit den von dem Konsul angelegten kreuzen darf, und von da an werden diese doppelten Siegel nur im beiderseitigen Einverständniß abgenommen werden; 2) ein Verzeichniß des Nachlasses aufnehmen, und zwar in Gegenwart der zuständigen Be­ hörde, wenn diese glaubt, zugegen sein zu sollen; 3) zunr Verkauf der zum Nachlaß gehörigen beweglichen Gegenstände nach der Gewohnheit des Landes vorschreiten, sobald dieselben mit der Zeit sich verschlechtern würden oder der Konsul den Verkauf im Interesse der Erben des Verstorbenen für nützlich erachtet; 4) persönlich den Nachlaß verwalten oder liquidiren, oder unter ihrer eigenen Verantwort­ lichkeit einen Bevollmächtigten ernennen für die Verwaltung und Liquidirung des Nach­ lasses, beides, ohne daß die Ortsbehörde ihrerseits bei diesen neuen Handlungen mitzu­ wirken haben soll.

Vertrag mit dem Freistaat Salvador.

219

Die gedachten Konsuln sind jedoch verpflichtet, den Tod ihrer Landsleute in einer der Zei­ tungen anzukündigen, welche innerhalb ihres Distriktes erscheinen« und sie dürfen den Nachlaß oder

den Erlös für denselben, den gesetzlichen Erben oder deren Bevollmächtigten nicht früher ausant­ worten, als bis allen Verbindlichkeiten, welche der Verstorbene im Lande eingegangen sein könnte,

Genüge geschehen oder ein Zahr seit dem Tage der Bekanntmachung des Todesfalles verflossen ist, ohne daß ein Anspruch an den Nachlaß geltend gemacht wurde.

Wenn an dem Wohnorte des Verstorbenen kein Konsul vorhanden ist, so sollen die zustän­ digen Behörden selbst diejenigen geeigneten Maßregeln treffen, welche in gleichem Falle hinsichtlich des Vermögens der Angehörigen des Landes getroffen werden würden, doch haben sie dem nächsten

Konsuln oder Konsular-Agenten sobald als möglich von dem Todesfälle Nachricht zu geben. Die General-Konsuln, Konsuln, Vize-Konsuln und Konsular-Agenten werden als Vormünder der Waisen und Minderjährigen ihres Landes angesehen werden und auf Grund dessen können sie

alle Sicherungsmaßregeln ergreifen, welche deren persönliches Wohl und die Sorge für deren Ver­ mögen erheischt; sie können letzteres verwalten und allen Obliegenheiten eines Vormundes sich unterziehen unter der Verantwortlichkeit, welche die Gesetze ihres Landes bestimmen.

Art. XXVIII.

Den betreffenden General-Konsuln, Konsuln und Vize-Konsuln oder Konsular-

Agenten steht die ausschließliche innere Polizei über die Handelsschiffe ihres Landes zu und die

Ortsbehörden dürfen nicht auf denselben einschreiten, so lange nicht die ausgebrochenen Unordnungen

eine Gestalt annehmen, welche die öffentliche Ruhe, sei es am Lande oder an Bord der Schiffe stören würde.

In Allem aber, was die Hafenpolizei, das Laden und Ausladen der Schiffe, die-Sicherheit der Waaren, Güter und Effekten betrifft, sind die Angehörigen der beiden Länder den Gesetzen und

Einrichtungen des betreffenden Gebietes gegenseitig unterworfen. Art. XXIX.

Die betreffenden General-Konsuln, Konsuln und Vize-Konsuln oder Konsular-

Agenten können solche Seeleute, die von Schiffen ihres Landes entwichen sind, verhaften und an Bord oder in ihre Heimath zurücksenden lassen.

Zu diesem Zwecke haben sie sich schriftlich an die

zuständige Ortsbehörde zu wenden und durch Vorlegung des Schiffsregisters oder der Musterrolle

oder, wenn das Schiff schon abgegangen sein sollte,

durch beglaubigte Abschrift dieser Urkunden

nachzuweisen, daß die reklarnirten Leute wirklich zur Schiffsmannschaft gehört haben.

Auf einen

in dieser Art begründeten Antrag darf die Auslieferung nicht verweigert werden; auch soll jede

Hülfe und jeder Beistand zur Aufsuchung, Ergreifung und Verhaftung solcher Entwichenen gewährt und sollen dieselben auf den Antrag und auf Kosten der gedachten Agenten in die Gefängnisse ab­

geführt und daselbst in Gewahrsam gehalten werden, bis diese Agenten eine Gelegenheit zur Wieder­ einlieferung oder Heimsendung finden.

Wenn sich jedoch eine solche Gelegenheit innerhalb dreier

Monate, vom Tage der Festnahme an gerechnet, nicht bietet, so werden die Verhafteten in Frecheit

gesetzt und können aus demselben Grunde nicht wieder verhaftet werden.

Die hohen vertragenden Theile sind darüber einverstanden, daß Seeleute und andere Per­

sonen der Schiffsmannschaft, welche Angehörige des Landes sind, in welchem die Entweichung statt­ findet, von den Bestimmungen dieses Artikels ausgenommen sein sollen. Art. XXX.

Sofern keine Verabredungen zwischen den Nhedern, Befrachtern und Versiche­

rern entgegenstehen, werden die Havereien, welche Schiffe der beiden Länder auf hoher See oder

auf der Fahrt nach den betreffenden Häfen erlitten haben, t)on den General-Konsuln, Konsuln und

Vize-Konsuln oder Konsular-Ageyten ihres Landes geregelt, es sei denn, daß Angehörige des Landes, in dem die gedachten Agenten ihren Sitz haben, an den Havereien betheiligt sind, in welchem Falle diese durch die Ortsbehörden geregelt werden sollen, dafern kein gütliches Abkommen zwischen den

Parteien zu Stande kommt.

Art. XXXI.

Wenn ein Regierungsschiff oder das Schiff eines Angehörigen eines der hohen

vertragenden Theile an den Küsten des anderen Theils Schiffbruch leidet oder strandet, so sollen die Ortsbehörden den General-Konsul, Konsul, Vize-Konsul oder Konsular-Agenten des Bezirks,

oder, in dessen Ermangelung, den dem Orte des Unfalls nächsten General-Konsul, Konsul, VizeKonsul oder Konsular-Agenten davon benachrichtigen.

Alle Rettungsmaßregeln bezüglich Salvadorener, in den Norddeutschen Territorialgewässern gescheiteter oder gestrandeter Schiffe sollen nach Maßgabe der Landesgesetze erfolgen und umgekehrt

sollen alle Rettungsmaßregeln in Bezug auf Deutsche, in den Territorialgewässern von Salvador

gescheiterte oder gestrandete Schiffe in Gemäßheit der Gesetze des Landes erfolgen.

220

Gesetzentwürfe.

Die Konsularbehörden haben in beiden Ländern nur einzuschreiten, um die auf die Ausbesse­ rung und Neu-Verproviantirung oder, eintretenden Falles, auf den Verkauf des an der Küste ge­ strandeten oder beschädigten Schiffes bezüglichen Maßregeln zu überwachen. Die Intervention der Ortsbehörden soll in allen diesen Fällen keinerlei Kosten veranlassen, außer denjenigen, welchen in ähnlichen Fällen die Nationalschiffe unterworfen sind, und außer der Erstattung der durch die Rettungsmaßregeln und durch die Erhaltung der geborgenen Gegenstände

veranlaßten Ausgaben. Die hohen vertragenden Theile sind außerdem darüber einverstanden, daß die geborgenen Waaren der Entrichtung einer Zollabgabe nicht unterworfen werden sollen, es sei denn, daß sie zum inneren Verbrauch zugelassen werden. Art. XXXII. Im Falle, daß einer der vertragenden Theile der Meinung sein sollte, es sei eine der Bestimmungen des gegenwärtigen Vertrages zu seinem Nachtheile verletzt worden, soll er alsbald eine Auseinandersetzung der Thatsachen mit dem Verlangen der Abhülfe und mit den nöthigen Urkunden und Belegen zur Begründung seiner Beschwerde versehen, dem andern Theile zugehen lassen, und er darf zu keinem Akte der Wiedervergeltung die Ermächtigung ertheilen oder Feindseligkeiten begehen, so lange nicht die verlangte Genugthuung verweigert oder willkürlich ver­

zögert wurde. Art. XXXIII. Der gegenwärtige Vertrag wird von dem Tage des Austauschs der Rati­ fikationen an bis zum 31. Dezember 1877 Gültigkeit haben, und wenn weder der eine noch der andere der beiden Theile zwölf Monate vor Ablauf dieser Frist durch eine amtliche Erklärung seine Absicht ankündigt, die Wirksamkeit dieses Vertrages aufhören zu lassen, so wird derselbe für ein weiteres Jahr in Kraft bleiben und so fort bis zum Ablauf eines Jahres, nachdem die erwähnte amtliche Ankündigung stattgefunden haben wird. Art. XXXIV. Der gegenwärtige Vertrag, aus vier und dreißig Artikeln bestehend, soll ratifizirt und es sollen die Ratifikationen in Berlin ausgetauscht werden innerhalb einer Frist von zwölf Monaten oder früher, wenn dies möglich ist. Zur Urkund dessen haben die Bevollmächtigten den gegenwärtigen Vertrag unterzeichnet und

beziehentlich mit ihren Siegeln untersiegelt. So geschehen in der Hauptstadt Berlin, in zwei Originalen, den 3. Juni 1870.

Sn der Sitzung vom 27. März 1871 wird dieser Vertrag in erster und zweiter Lesung angenommen; ebenso in dritter am 29. März 1871. Die in dieser Sitzung von dem Abg. Augspurg beantragte Resolution: Der Reichstag wolle nach Annahme des Freundschafts-, Handels- und Schifffahrtsvertrages mit dem Freistaate Salvador beschließen: Der Bundeskanzler ist zu ersuchen, in geeigneter Weise dafür Sorge zu tragen, daß vor Ratifikation desselben folgende Interpretation des Art. IX. fest­ gestellt werde: Art. IX. des Vertrages ist, wie folgt, zu verstehen: „Im unglücklichen Falle eines Krieges zwischen beiden hohen vertragenden Theilen sollen ohne Ausnahme sowohl die Kaufleute wie sämmtliche übrigen Angehörigen des einen, welche im Gebiete des anderen ihren Wohnsitz haben, denselben beibehalten und ihre Geschäfte ungestört fortsetzen können, so lange sie sich keiner Ver­ letzung der Landesgesetze schuldig machen."

wird ebenfalls angenommen, nachdem der Präsident des Bundeskanzler-Amtes Staats­ minister Delbrück erklärt hat, daß diese Erläuterung durchaus der Auffassung ent­ spreche, von der man deutscherseits bei Unterhandlung des Vertrags ausgegangen sei und daß danach werde verfahren werden.

Matrikularbeiträge für das Zahr 1869.

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Nr. 3.

Gesetz-Entwurf betreffend eine anderweitige Feststellung der MatriKularbriträgr zur Deckung der Gefammtausgabrn für das Jahr 1869. Wir Wilhelm rc. rc. §. 1. Die Matrikularbeiträge zu den Ausgaben des Norddeutschen Bundes für das Zahr 1869 werden an Stelle der im Kapitel 6 der Einnahmen des durch das Gesetz vom 29. Juni 1868 (B. (I. Bl. von 1868 S. 437) festgestellten Bundes-Haushaltsetats für das Zahr 1869 aufgeführten Beträge, unter Berücksichtigung der Bestimmungen des Gesetzes vom 18. März 1869 (B. G. Bl. von 1869 S. 51), auf den Gesammtbetrag von 23,548,205 Thlrn. festgestellt und nach Anleitung der dem gegenwärtigen Gesetze als Anlage beigefügten Tabelle auf die Staaten des Norddeutschen

Bundes vertheilt, wie folgt:

1) 2) 3) 4) 5) 6) 7) 8) 9) 10) 11) 12) 13) 14) 15)

18,558 „ 13,655 „ 26,863 „ 9,709 „ 36,398 „ 13,169 „ 69,818 „ . . 194,510 „ Summe 23,548,205 Thlr. Die Rechnungslegung über die Verwendung des int § 1 bezeichneten Betrages in Ge­ 16) 17) 18) 19) 20) 21) 22) 23)

§ 2.

Preußen . . . : 19,819,419 Thlr. Lauenburg 39,546 „ Sachsen 1,922,693 „ Hessen 207,249 „ Mecklenburg-Schwerin 455,481 „ Sachsen-Weimar 88,653 „ Mecklenburg-Strelitz 78,794 „ Oldenburg 121,441 „ Braunschweig 228,367 „ Sachsen-Meiningen 56,842 „ Sachsen-Altenburg 43,823 „ Sachsen-Coburg-Gotha — „ Anhalt 58,512 „ Schwarzburg-Rudolstadt 23,589 „ Schwarzburg-Sondershausen. . . 21,216 „

Waldeck Reuß ä. L Reuß j. L Schaumburg-Lippe Lippe Lübeck Bremen Hamburg

mäßheit des Art. 72 der Verfassungs-Urkunde wird vorbehalten.

Motive. Im Jahre 1869 ist nach erfolgtem Finalabschluß der Kassen der dem Etat des Norddeutschen Bundes angehörigen Verwaltungszweige eine anderweitige Feststellung der Matrikularbeiträge der Bundesstaaten für 1868 im Wege der Gesetzgebung vorgenommen — Gesetz vom 9. Juni 1869 B. G. Bl. S. 165. Auch in Betreff des Bundeshaushalts vom Jahre 1869 ist int Wege der Gesetzgebung vor­ zugehen. Der zu diesem Zwecke aufgestellte Entwurf schließt sich in seiner Fassung genau dem Gesetze vom 9. Juni 1869 an. Die int § 1 des Entwurfes auf 23,548,205 Thlr. festgestellte Summe der Matri­ kularbeiträge gründet sich auf die Uebersicht der Ausgaben und Einnahmen des Norddeutschen Bundes für 1869, welcher in den Anlagen I. und II. eine Motivirung der in derselben nachgöwiesenen Überschreitungen des durch die Gesetze vom 29. Juni 1868 und 18. März 1869 festgestellten Bun­ deshaushalts - Etats für 1869 und der int Etat nicht vorgesehenen extraordinären Ausgaben für 1869, ferner eine Erläuterung der nachgewiesenen Mindereinnahmen beigefügt ist. In derselben ist die Ausgabesumme des Militair-Etats bereits mit dem berichtigten Betrage aufgesührt; von der Verwendung des Mehrbetrages von 214,645 Thlrn. ist in der Anlage I. unter Nr. 5 Kenntniß gegeben.

222

Gesetzentwürfe.

Die hauptsächlichste Abweichung von dem Etat findet sich bei der Telegraphenverwaltung, bei welcher statt des erwarteten Ueberschusses von 324,945 Thlrn. in Folge des geringen Depeschen­ verkehrs ein Zuschußbedarf von 258,034 Thlrn. eingetreten ist. Letzterer Betrag hat demnach als eine außerordentliche Ausgabe der Bundeskasse angesehen werden müssen. — Zur Deckung der einmaligen und außerordentlichen Ausgaben der Telegraphenverwaltung war etatsmähig der Ueberschuß dieser Verwaltung angewiesen. Da die Aussichten in Betreff dieses Ueberschusses sich un­ günstig stellten, so sind jene außerordentlichen Ausgaben auf das nothdürstigste Maaß eingeschränkt worden, indem man dieselben auf die Zuendeführung einmal begonnener Neuanlagen und auf die Erfüllung vertragsmäßiger Verpflichtungen einschränkte. Der Betrag dieser Ausgaben von im Ganzen 81,382 Thlrn. hat, da ein Ueberschuß sich nicht ergab, als Vorschuß auf das Jahr 1870 übertragen werden müssen. Da die aus dem Jahre 1868 aus gleicher Veranlassung als Vorschuß auf das Jahr 1869 übertragenen 224,571 Thlr. im Jahre 1869 ebenfalls Deckung nicht fanden, so beläuft sich der auf 1870 übertragene Vorschuß auf zusammen 305,953 Thlr. Im Ganzen sind nach den Anlagen bei den Ausgaben für 1869, welche etatsmäßig zu 77,810,935 Thlr. veranschlagt waren, Etats-Ueberschreitungen und extraordinaire im Etat nicht vor­ gesehene Verausgabungen im Betrage von 489,911 Thlr. vorgekommen. Unter Hinzurechnung der Erhöhung des Militairetats um 214,645 Thlr., ist Mehrausgabe 704,556 Thlr. Davon werden gedeckt: durch Ersparnisse, Mehrerträge und Ueberschuß aus der Vorzeit, zusammen 607,057 Thlr. Demnach sind durch Matrikularbeiträge mehr aufzubringen, als im Etat (einschließlich des Nach­ trags-Etats) angenommen war 97,499 Thlr. Die in der Anlage zum Gesetz-Entwurf aufgestellte Berechnung der anderweit festgestellten Matrikularbeiträge beruht auf folgenden Grundlagen: Die Gesammtausgabe des Bundes beträgt im wirklichen Soll für 1869 78,008,655 Thlr. Darauf kommen als gemeinschaftliche Einnahmen in Anrechnung: 1) die Zölle und Verbrauchssteuern mit 48,843,142 Thlr. 2) die verschiedenen Ein­ nahmen, Kapitel 4, mit 173,052 Thlr. 3) der Ueberschuß der Postverwaltung zur Deckung der extraordinairen Ausgaben mit 11,704 Thlr. 4) aus Anleihemitteln 5,148,900 Thlr. 5) der Ueber­ schuß aus der Vorzeit 32,978 Thlr., sind 54,209,776 Thlr., bleiben 23,798,879 Thlr. Cs trete« dagegen hinzu: die einzelnen Bundesstaaten gewährten Nachlässe an den Militair - Ausgaben. Es würden nämlich die Ausgaben für 299,704 Mann ä 225 Thlr. mit 67,4334,00 Thlr. in Ansatz zu bringen sein, es sind aber für die Militair-Verwaltung nur in Ausgabe gestellt 66,550,939 Thlr. Die Differenz tritt obiger Summe hinzu mit 882,461 Thlr. Danach sind überhaupt 24,681,340 Thlr. gemäß der Bestimmung im Artikel 70 der BundesVerfassung von den einzelnen Staaten nach der Zahl ihrer Bevölkerung aufzubringen, mit der Maaßgabe, daß denselben auf die sich ergebenden Beiträge ihre Antheile an den Post - Ueberschüffen und die Nachlässe an den Militair-Ausgaben zu gute gerechnet werden. Der in der Anlage zum Gesetz-Entwurf enthaltenen Vertheilung dieses Gesammtbetrages ist die ortsanwesende staatsangehörige Bevölkerung zu Grunde gelegt, wodurch der im Bundeshaushalts-Etat für das Jahr 1869 zum Kapitel 6 der Einnahme gemachte Vorbehalt wegen Berichtigung der Matikularbeiträge nach Maaß­

gabe der wirklichen Bevölkerungszahl seine Erledigung findet. Die gegenwärtige Vorlage ist die Wiederholung einer im vorigen Jahre dem Reichstage des Norddeutschen Bundes gemachte Vorlage (Nr. 205 der Drucksachen), welche damals wegen Schlusses der Session nicht mehr zur Berathung gelangte. Bei der Beschlußfassung des jetzt sammelten Deutschen Reichstages über diesen Entwurf wird die Bestimmung im 2. Absätze

des des ver­ des

Artikels 28 der Reichsverfassung Anwendung zu finden haben. *)

Erste Berathung am 28. März 1871.

Bundeskommissar Geh. Reg.-Rath. Dr. Michaelis: M. H. Die Vorlage bringt die Matrikularbeiträge in Uebereinstimmung mit den konstatirten Gesammtausgaben und giebt somit die Grundlage für die Schlußabrechnung über das Jahr 1869, welche leider schon sehr lange verzögert worden ist. Auf eine Anfrage des Abg. Lasker erklärt Präsident Dr. Simson, daß seines *) Wonach nur die Abgeordneten aus den bei der Sache interesstrten Bundesstaaten mit­ stimmen, wenn dieselbe nicht eine dem ganzen Reiche gemeinschaftliche ist.

MaLrikularbeiträge für das Zahr 1869.

223

Erachtens der Art. 28 der Verfassung auf vorliegenden Fall nicht zur Anwendung komme, und verfährt unter Zustimmung des Hauses mit der Vorlage, wie mit jeder andern. Abg. v. Benda: M. H. Nach den früher von mir und meinen politischen Freunden befolgten Grundsätzen würden wir den Entwurf dieses Gesetzes unzweifelhaft einer Kom­ mission überweisen, weil es sich nur um eine Rechnungssache handelt und es für Viele von uns unmöglich ist, diese Gegenstände, die uns hier als Motive für den Gesetzent­ wurf vorgelegt worden sind, ohne Weiteres ihrem Inhalte nach zu prüfen, aber, m. H., wir wollen aus besonderen Gründen (wenigstens ein großer Theil meiner politischen Freunde) hiervon Abstand nehmen, einestheils deswegen, weil es sich hier mehr um eine vorübergehende Angelegenheit, um einen Rest der alten Verwaltung des nord­ deutschen Bundes handelt, und dann, weil die nähere Prüfung und Dechargirung nach ein paar Jahren, im Jahre 1872 bei der Rechnungslegung doch erfolgt, und weil wir in diesem Augenblick aus bewegenden Gründen in die Behandlung unserer Geschäfte keine größere Weitläufigkeit und Schwierigkeit legen wollen, als irgend nöthig ist. Aber, m. H., wir entschließen uns dazu nur unter der Voraussetzung, daß die Bundesregie­ rung uns heute versichert, daß sie für die Zukunft bereit ist, uns ganz in derselben Weise, wie es bei dem preußischen Rechnungswesen geschieht, die Etatsüberschreitungen des vorigen Jahres in der Form, wie es in Preußen geschieht, zur verfassungsmäßigen Beschlußnahme, nicht als Motiv einer Kreditbewilligung vorzulegen; und wir thun dies zweitens in der Voraussetzung, daß die Bundesregierung auch bereit sein werde, zu er­ klären, daß fie den unmittelbar mit dieser parlamentarischen Kontrole zusammenhängen­ den Gegenstand, nämlich die endliche Einbringung und Vorlegung eines Gesetzes über den Rechnungshof des Bundes, uns in der nächsten Session bestimmt vorlegen werde. Wenn die Regierung diese beiden Erklärungen abzugeben bereit sein wird, dann werden wir unsererseits gerne geneigt sein, in diesem Falle über den weitläufigen Weg der Kommissionsberathung hinwegzusehen, und uns bereit erklären , es nach wie vor im Plenum des Reichstages zu erledigen. Präsident des Bundeskanzler-Amtes Staatsminister Delbrück: M. H.! Ich er­ laube mir auf die von dem Herrn Vorredner zuletzt ausgesprochenen zwei Voraussetzun­ gen Folgendes zu bemerken: Die erste seiner Voraussetzungen, daß nämlich in Zukunft dem Reichstage in Form einer besonderen Vorlage die Etatsüberschreitungen mit dem Anträge zugehen sollen, die verfassungsmäßige Genehmigung zu ertheilen, nehme ich keinen Anstand als zutreffend anzuerkennen. Es wird das geschehen, und zwar so früh, wie es irgend möglich ist. In Beziehung auf die zweite Frage bin ich im Augenblick und für mein Theil nicht in der Lage, mit gleicher Bestimmtheit zu antworten. Den hier anwesenden Herren, welche zum Reichstage des norddeutschen Bundes gehörten, wird erinnerlich sein der Zusammenhang, in welchem ein Gesetz über den Rechnungshof des Bundes mit dem Gesetz über die preußische Ober-Rechnungskammer steht. Es ist von Seiten der verbündeten Regierungen und nicht ohne Zustimmung des Reichstages die Ansicht vertreten worden, daß es sich empfehlen würde, zunächst mit einem Gesetz über die Ober-Rechnungskammer voranzugehen, und diesem Gesetz das Gesetz über den Rechnungshof des Bundes folgen zu lassen. Den hier anwesenden Herren, welche zu­ gleich dem preußischen Landtage angehören oder von dessen Verhandlungen Notiz ge­ nommen haben, wird es erinnerlich sein, daß der königlich preußische Herr Finanz­ minister die bestimmte Zusage ertheilt hat, ein solches Gesetz dem preußischen Landtage vorzulegen, eine Zusage, welche in der letztverflossenen Session erfüllt worden wäre, wenn nicht allgemein bekannte Ereignisse dazwischen getreten wären. Es handelt sich also bä dieser Frage für mich um eine Aeußerung darüber, ob ein bisher von den Bundesregierungen für nützlich erkannter Weg verlassen werden soll, und Sie werden nicht von mir erwarten, daß ich darüber mit gleicher Bestimmtheit, wie das in Bezug auf die erste Voraussetzung geschah, mich hier jetzt ausspreche. Abg. Richter begründet in näherer Ausführung seinen Antrag: die Vorlage an eine Kommission zu verweisen. Diesem Anträge gemäß wird die Vorlage einer aus 21 Mitgliedern bestehenden, zu diesem Behufe zu ernennenden Kommission zur Vorberathmg überwiesen.

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Gesetzentwürfe.

Zweite Berathung am 27. April 1871. Abg. Richter: M. H., wenn Sie sich die Uebersicht der Ausgaben für das Zahr 1869 ansehen, so finden Sie, daß von diesen Ausgaben im Betrage von 78 Millionen 11V2 Millionen durch mehr als 60 Positionen specificirt sind; dagegen ist uns für die übrigen 66 */2 Millionen für die Militärverwaltung nur eine einzige Ziffer gegeben. Diese eine Position ist dunkel, und die Dunkelheit hat in der Kommission nicht voll­ ständig aufgeklärt werden können. Es befremdet, daß diese Ausgabeziffer genau bis auf die Thaler übereinstimmt mit dem Etatssoll für die Militairverwaltung einschließlich des Nachtragetats, der sich aus der Korrektur der Bevölkerungsstatistik ergiebt. Man hat uns gesagt, diese Ausgabeziffer ist entstanden durch das Zusammenrechnen der Aus­ gaben bei den einzelnen 60 Titeln der Militärverwaltungen. Dort bei den einzelnen Titeln sind allerdings bald Ersparnisse, bald Mehrausgaben vorgekommen. Wenn das der Fall gewesen ist, so erscheint es noch wunderbarer, daß an der Gesammtheit der Aufrechnung die Ersparnisse bei einzelnen Titeln und die Mehrausgaben bei anderen Titeln sich bis aus den Thaler ausgeglichen haben. Das wird noch wunderbarer da­ durch, daß auch im Jahre 1868 die Summe der Ausgaben der Militärverwaltung genau bis auf den Thaler übereingestimmt hat mit dem Etatssoll. Man hat uns nun gesagt, wartet mit der näheren Aufklärung bis auf die Rechnungslegung, die wird speciell er­ folgen. Za, m. H., nach der Einrichtung unserer Rechnungsbehörden werden uns die Rechnungen über das Zahr 1869 nicht vor dem Frühjahr 1873 vorgelegt werden. Dann aber liegt das Zahr 1869 mit seinen Interessen weit hinter uns. Man hat des­ halb in der preußischen Landesvertretung seit dem Jahre 1862 großen Werth darauf gelegt, daß neben den Rechnungen auch schon unmittelbar nach Jahresschluß eine solche Uebersicht der Ausgaben und Einnahmen vorgelegt wird, damit man wenigstens im Großen und Ganzen sich überzeugen kann, daß die Finanzverwaltung in Uebereinstim­ mung mit der Verfassung und mit den Beschlüssen der Landesvertretung geführt werde. Es ist auch noch zuletzt über das erste Semester des Zahres 1867 in dem preußischen Landtage eine nach Titeln spezialisirte Nachweisung der Militärausgaben vorgelegt worden, dann hat das aufgehört. Es ist nun nicht einzusehen, warum dies jetzt schwieriger sein sollte, wie früher, und warum es schwieriger sein sollte, über die 60 Titel der Militärverwaltung einen Nachweis vorzulegen, als über die 23 Titel der Marinever­ waltung. Aus dem verfassungsmäßig festgestellten Pauschquantum kann die Bundes­ verwaltung kein Recht herleiten, diese Nachweisung vorzuenthalten, denn dieses Pausch­ quantum stellt doch kein Militärabonnement dar. Ebensowenig hat man, wie dies da­ mals im konstituirenden Reichstage ausdrücklich hervorgehoben wurde, dem Kriegsminister den Militärhaushalt gewissermaßen in Entreprise geben wollen. Das Pauschquantum hat doch nur die Bedeutung: der Reichstag verzichtet auf eine Spezialisirung des Mili­ täretats, diese Spezialisirung wird vorgenommen durch eine kaiserliche Verordnung, welche den speziellen Militäretat feststellt, und die dann in der Gesetzsammlung publizirt wird. Nachdem dies geschehen ist, erwächst dem Reichstage dasselbe Recht der Kontrole über den Militärhaushalt für das betreffende Jahr, als wenn der Etat unter seiner Mit­ wirkung festgestellt worden wäre. Es erwächst ihm aber auch noch die besondere Pflicht der Kontrole aus dem Artikel 70 der Verfassung, welcher feststellt, daß Ersparnisse in dem Militärhaushalt in die Bundeskasse fließen sollen. Wenn nun solche Ersparnisse vorgekommen sind, so könnten ebenso gut wie dies bei der Marineverwaltung hinsicht­ lich der Ersparnisse beim Militärpersonal der Fall ist, auch diese Ersparnisse zur Deckung anderweitiger Mehrausgaben verwendet werden, dadurch würde sich dann die Summe der neu erforderlichen Matrikularbeiträge entsprechend vermindern. Nun hat man uns allerdings gesagt, es seien keine solche Ersparnisse im Jahre 1869 vorgekommen. Das ist möglich, ja sogar wahrscheinlich; aber der Begriff der „Ersparniß" ist in unserer Finanzverwaltung ein sehr vieldeutiger. Als Ersparniß werden überflüssige Bestände am Jahresschluß nicht angesehen, die bei übertragbaren Fonds sich ergeben, wo also die Fonds des einen Jahres dem anderen Jahre zuwachsen. Bei der ersten Berathung des Militäretats im Jahre 1867 hat Herr von Forckenbeck im Reichstage in sehr beachtenswerther Weise darauf hingewiesen, daß Angesichts des Artikels 70 der Verfassung,

MaLrikularbeiträge für das Jahr 1869.

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wonach Ersparnisse der Militairverwaltung in die Bundeskasse fließen, übertragbare Titel bei der Militärverwaltung eigentlich gar nicht vorkommen dürften. Man sieht auch dann Kassenbestände nicht als erspart an, wenn sie der Restverwaltung zugewiesen werden; über das aber, was nun der Restverwaltung zugewiesen ist, bestehen ganz ver­ schiedene Grundsätze, verschieden je nach der Natur der Ausgaben. Diese verschiedene Natur der Ausgaben ist verschieden nach den verschiedenen Titeln. Eben deshalb ist es unmöglich, sich zu vergewissern, ob die Militärverwaltnng unter dem Begriff der Ersparniß dasselbe begreift, was man verfassungsmäßig darunter begreifen muß, wenn nicht eine nach Titeln spezialisirte Vorlage über die Ausgabe der Militärverwaltung vor­ gelegt wird. Zch lege auf diese Vorlage einen Werth, nicht blos in Bezug auf die Kontrole für die Vergangenheit, sondern auch für die Etatsberathung in der Zukunft. Wir werden in diesem Herbste zum ersten Male wieder einen Spezialetat für die Mili­ tärverwaltung des Bundes vorgelegen haben. Wie wollen wir einen solchen Spezialetat sachgemäß aufstellen können, wenn uns bis dahin noch keine Spezialrechnungen über die Militärverwaltung mit festzustellen haben. Wie wollen wir einen Spezialetat sach­ gemäß aufstellen können, wenn uns bis dahin noch keine Spezialrechnungen über die Militärverwaltung des Bundes vorgelegen haben. Zch sehe auch gar keinen Grund ein, warum die Bundesregierungen zwischen der zweiten und dritten Lesung uns eine solche spezielle Nachweisung vorenthalten sollten. Bis dahin, daß eine solche Nach­ weisung vorgelegt ist, muß ich meinerseits diese Ziffer als unklar und diese Position als einen dunklen Punkt bezeichnen. Abg. Dr. May er: M. H., mehrere bayerische Mitglieder der Centrumsfraktion geben hiermit die Erklärung ab, daß sie sich bei der Abstimmung über diesen Gesetz­ entwurf nicht betheiligen werden; sie halten sich weder für berechtigt noch für verpflich­ tet, an der Abstimmung Theil zu nehmen. Der Artikel 28 Alinea 2 der Reichsver­ fassung unterscheidet zwischen Angelegenheiten, welche dem ganzen Reiche gemeinschaftlich sind, und anderen, welche nur einzelnen Bundesstaaten gemeinschaftlich find. Dieser Gesetzentwurf betrifft eine Angelegenheit, welche nicht für das ganze Reich gemeinschaft­ lich ist, insbesondere für Bayern nicht gemeinschaftlich ist, denn der Bandes-Gesetzent­ wurf spricht im § 1 von den Ausgaben des norddeutschen Bundes: Bayern war nicht Mitglied des norddeutschen Bundes. Der § 1 spricht vom Jahre 1869, also von einem Jahre, in welchem Bayern nicht Mitglied eines deutschen Bundes war; folgemäßig ist auch bei der Vertheilung der Matrikularbeiträge Bayern nicht angeführt. Es kommt nicht darauf an, welche praktischen Folgen dieser Gesetzentwurf für Bayern haben wird, sondern es handelt sich nur um einen Rechtsstandpunkt, welchen ich glaube, wahren zu müssen, damit nicht aus einer Abstimmung über diesen Gesetzentwurf ein Präjudiz ge­ zogen werde. Abg. Höld er: Herr Präsident! Ich meinerseits nehme als Abgeordneter, der in Württemberg gewählt ist, keinen Anstand, an der Abstimmung über den vorliegenden Gegenstand Theil zu nehmen. Der Artikel der Verfassung, welcher uns soeben citirt wurde, sagt ausdrücklich nur so viel, daß bei denjenigen Gegenständen, welche nach der Verfassung für einzelne Staaten keine Geltung haben, daß nur bei diesen Gegen­ ständen die Abgeordneten der betreffenden Staaten nicht Theil nehmen sollen. Ich glaube nicht, daß es im Interesse des Reichs wäre, wenn diese singuläre Bestimmung der Reichsverfassung noch weiter ausgedehnt würde. (S. g.!) Abg. Dr. v. Schauß: M. H., die Deklaration, es liege die Sache so, daß die partikularistisch gesinnten Mitglieder nicht abstimmen dürften, hat allmälich ein Kolorit bekommen, das eine Entgegnung nothwendig gemacht hat. Wir haben bis jetzt auf diese Manifestation unserer Landsleute nicht rekurrirt, weil wir gedacht haben, daß das Korrektiv ihrer Anschauung in der entschiedenen Heiterkeit des Hauses liege, welche im­ mer eintritt, wenn sie sich auf diesen Standpunkt gestellt haben. Allein endlich ist es an der Zeit gewesen, daß auch diejenigen, welche nicht auf diesem Standpunkt stehen, dem ihrigen Ausdruck geben. Es scheint mir — und ich sage das den Herrm ganz unverhohlen und unverblümt — als ob man in jenem traurigen Artikel der Verfassung, in welchem die itio in partes für gewisse Fragen vorgesehen ist, eine Oeffnung erblickt,

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Gesetzentwürfe.

durch welche weitere centrifugale Bestrebungen gegenüber der Verfassung zur Geltung kommen könnten, und deshalb ist es an der Zeit, daß die national gesinnten Bayern erklären, daß sie mit Ihnen allen solchen Bestrebungen, aber mit der ganzen Ent­ schiedenheit ihres Charakters, entgegentreten werden. (Br.) Abg. Greil: M. H., der Herr Vorredner hat gemeint, die Sache nicht mehr wie der Antragsteller vom Standpunkte des Rechts auffassen zu müssen, sondern Zweck­ mäßigkeits-, Schicklichkeitsgründe ins Feld führen zu sollen. Es wäre besser genesen, glaube ich, wenn der Rechtsstandpunkt allein als maßgebend erachtet worden wäre, (eine Stimme: s. r.l) denn dieser Rechtsstandpunkt ist keineswegs von der Art, daß unsere Erklärungen in der Luft schweben. Daß der Rechtsstandpunkt nicht von der Art ist, das wird wohl schon daraus zur Genüge erhellen, daß man im Bundesrathe selbst der Ansicht sich zugeneigt hat, daß der § 28 Alinea 2 hier Anwendung findet. Es stünde also, m. H. — ich will auf die Sache nicht weiter eingehen — es stünde mindestens Autorität gegen Autorität, und so lange Autorität gegen Autorität steht, sind wir be­ rechtigt, uns derjenigen Seite anzuschließen, die uns die Sache am richtigsten getroffen zu haben scheint. Aber, m. H., wenn wir das thun, so thun wir keineswegs, was der Herr Vorredner uns in die Schuhe schiebt. Wir setzen keine itio in partes ins Werk. Wir wollen keine centrifugalen Kräfte ins Feld führen, und etwa die Verfassung mit­ telst dieser Kräfte durchlöchern. Wir bleiben bei der Verfassung, aber wir wollen auch auf Grund der Verfassung unsere Rechte wahren, so weit sie zu wahren auf Grund der Verfassung möglich ist. — Ich, m. H., sehe etwas Anderes, eine andere Gefahr, als die ist, welche der Herr Vorredner angedeutet hat; es ist jene Gefahr, daß näm­ lich auf Grund der Reichsverfassung, wie sie als Vertrag vorgelegen hat, ein Zerreibungsprozeß eintreten werde, an welchem der Bestand der Einzelstaaten zu Grunde gehen werde. Weil diese Gefahr näher liegt, m. H., sind wir nicht blos auf einer richtigen Fährte, sondern wir sind verpflichtet, von unserer Seite Alles zu thun, um einer solchen Gefahr, soweit die Kräfte von unserer Seite reichen, entgegen zu wirken. Und m. H., wenn wir das thun, thun wir nicht blos nichts Ungesetzliches, nichts Verfaffungswidriges, sondern wir thun etwas echt Deutsches; (11.) denn, m. H., Deutsch­ land, so lange es besteht, ja die germanischen Stämme, so lange man sie in der Ge­ schichte kennt, haben den eigenthümlichen Zug gehabt, daß sie immer ein Einzelleben führen wollten, (oh! oh! l.) ein Einzelleben auch dann, wenn sie in einer höchsten Spitze geeinigt waren, auch dann wollten sie doch ein bestimmtes Einzelleben führen. Das ist echt germanisch, das ist echt deutsch, das dauert seit zwei Jahrtausenden — und m. H., diesen Bestrebungen wollen wir nicht auf irgend einem Gebiete von unserer Seite Abbruch thun lassen, und deswegen geschieht eS, daß wir in diesem Falle, wo wir uns berechtigt glauben, erklären, wir wollen eine Kompetenz uns nicht anmaßen, die nach unserem Dafürhalten uns nicht zusteht. Abg. Lasker: Für Wahrung von Rechten habe ich auch Sinn; wenn der Ge­ kränkte sein Recht nicht verloren gehen lassen will, so verdient er Anerkennung: aber ich frage die Herren: ist das in der That ein so großes Recht, was sie aus der Ver­ fassung herleiten, daß sie über bestimmte Vorlagen nicht mitzustimmen brauchen? Ist dies ein Recht, für welches die Sympathie angerufen werden kann, und für welches eine so lange und erregte Debatte geführt werden soll über die Eigenthümlichkeit der Deutschen, ihr gutes Recht zu wahren und ein Sonderleben zu führen? Ich glaube, der Herr Abg. von Schauß hat den Standpunkt ganz richtig bezeichnet: wenn die Her­ ren wirklich der Ueberzeugung sind, daß nach der Verfassung die süddeutschen Mitglie­ der nicht abstimmen dürfen, so ist es nicht ihre Stellung, sich der Abstimmung zu ent­ halten, sondern sie müssen darauf bestehen, daß alle süddeutschen Mitglieder sich der Abstimmung enthalten, und müssen einen Beschluß des Hauses darüber herbeisühren. (S. r.!) Daß sie sagen: das Recht wollen wir zwar nicht bestreiten, wir sind aber die übermäßig Tugendhaften, wir wandeln nicht den Weg des Unrechts mit den übrigen Süddeutschen zusammen, scheint mir nicht der richtige Standpunkt. (S. g.!) — Sodann, m. H., habe ich zwar viele Worte gehört, sowohl von dem Herrn Abg. Greil, wie auch

Matrikularbeiträge für das Jahr 1869.

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von dem Herrn Abg. Mayer, aber ich habe noch gar keinen Grund gehört, welcher die Rechtsansicht dieser Herren unterstützt hätte. Es ist schon bei einer früheren Gelegenheit, ebenso bei der ersten Lesung dieses Gesetzes, ausdrücklich darauf hingewiesen worden, daß nur bei denjenigen Punkten, für welche die Verfassung einem bestimmten Staate keine Kompetenz giebt, die Mitglieder dieses Staates sich nicht an der Abstimmung be­ theiligen dürfen. Nun wünsche ich, daß der Herr Abg. Mayer oder die anderen mit ihm gleich gewissenhaften Herren mir nur diese eine Thatsache auseinandergesetzt hätten, warum das Reich in Beziehung auf solche Gesetzesgegenstände keine Kompetenz für Bayern haben sollte. Herr Abg. M. hat hinzugefügt, besonders für Bayern müsse der § 28 der Verfassung maßgebend sein. Ich weiß nicht, warum der Staat Bayern eine an­ dere Stellung einnehmen soll, als ein anderer süddeutscher Staat. Nun bedauere ich allerdings aufrichtig, daß — vermuthlich in Folge eines Schreibefehlers — in die Mo­ tive der Regierung hineingekommen ist, es würde der § 28 für die Abstimmung maßgebend sein. In den gedruckten Motiven des Bundesrathes sind mir mehrere Male schon derartige Fehler vorgekommen; (H.) ich weiß nicht, ob dies beim Umarbeiten der Gesetze in den Ministerien und im Bundesrathe stattfindet, aber wir haben schon thatsächliche Rechnungsfehler in den Motiven zu Vorlagen des Bundesrathes gefunden, welche ich mir nicht zu erklären wußte, und es wäre mir sehr lieb, wenn die Oeffentlichkeit der Verhandlungen im Bundesrathe in Zukunft Gelegenheit geben möchte, dergleichen Irrthümer zu kontroliren. Aber immer halte ich es für ein sehr gutes Zeichen, wenn die Mitglieder des Bundesrathes, nachdem einmal ein solcher Irrthum sich eingeschlichen hat, nichts thun, um denselben hier im Hause zu vertheidigen oder auch nur zu entschuldigen. Jeder Jurist im Hause wird sich sagen, man kann zwar jeder Zeit eine politische Rede einflechten über den § 28, aber die Jurisprudenz wird sich fern halten, denn für sie ist kein Anhalt im § 28 zu finden, wir haben diese Frage thatsächlich bereits entschieden bei der ersten Lesung; es haben Mitglieder aus Süddeutschlrnd, um die Ansicht dieser beiden Herren zurückzuweisen, Theil genommen an den Kommissionsverhandlungen. Ich bitte die Herren, daß sie das Haus zur Abstim­ mung veranlassen, sofern sie meinen, daß ihre Ansicht die richtige sei, es wird sich dann herausstellen, daß die anonymen „mehreren Mitglieder" immer die drei oder vier Ab­ geordneten aus Bayern sind, welche eine besondere Freude daran haben, diese Angelegen­ heit sott und fort zur Sprache zu bringen. Abg. Dr. Windthorst: M. H., ich laufe Gefahr, von dem Herrn Abg. Lasker beschuldigt zu werden, daß mir die Jurisprudenz abhanden gekommen, aber ich muß dieses Risiko übernehmen. Mir ist nach dem § 28 entfernt nicht zweifelhaft — und zwar allein vom juristischen Standpunkte aus — daß in diesem Falle die süddeutschen Abgeordneten nicht mitstimmen können — ob sie wollen, bleibt ihrem Gefühl überlasstn. Es heißt in dem § 28 ausdrücklich: Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenkeit, welche nach den Bestimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Reich gemeinschaftlich ist, werden die Stimmen nur derjenigen Mitglieder gezählt, welche in Burdesstaaten gewählt sind, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist." Es kommt Alles darauf an, ob der Gegenstand, über welchen abgestimmt werden soll, nach Maßgake der Verfassung eine gemeinschaftliche sei. Ich frage die Herren, was liegt in dieser Vorlage Gemeinschaftliches für alle Staaten des Bundes? Es ist eine nur dein norddeutschen Bunde zugehörige Sache, und man könnte gar zweifeln, ob es Lerhaupt, nachdem der norddeutsche Bund gestorben ist, noch eine Volksvertre­ tung gilbt, welche diese Sache ordnen könnte. — Herr Lasker hat gesagt, man möchte durch eben Antrag eine Entscheidung herbeiführen. Ich denke, die Herren aus Bayern werden die Entscheidung dann herbeiführen, wenn es ihnen paßt. Wenn Herr Lasker wünscht, diese Entscheidung heute zu haben, so steht es ihm frei, Anträge zu machen; dann wird die Abstimmung erfolgen. — Die Sache hat ohne Zweifel einen tiefen Hintergmnd, darüber dürfen wir uns nicht täuschen. Sie hat eben den Hintergrund, daß die Einen die jetzt für die Einzelstaaten noch bestehenden Schutzmittel wegnivelliren, dir Anderen aber dieselben aufrecht erhalten wollen. Die Einen werden Parti-

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Gesetzentwürfe.

kularisten genannt, die Anderen sind nivellirende Centralisten. Zch rechne mich unbedingt zu den Ersten auf Grund der Verfassung und nach meiner Meinung im echt deutschen Sinne. Abg. Lasker: Zunächst muß ich gerechter Weise außer den Bayern noch den Herrn Abg. Windihorst unter denen nennen, welche Freude an dem Widerspruch aus § 28 der Verfassung haben. Der Herr Abg. Windthorst sagt: es sei ihm als Jurist unzweifelhaft, daß die Kompetenz der Süddeutschen hier nicht obwalte. Ich lehaupte dann, wenn dies richtig wäre, so müßten die Abgeordneten aus Bayern ein Votum des Hauses darüber herbeiführen und der Herr Abg. Windthorst gleichfalls; nicht mir fällt die Aufgabe zu, ein Votum herbeizuführen, während das gesammte Haus mir bei­ stimmt und nach meiner Ansicht auch verfährt. Der Verfassung nach ist kein Zweifel darüber. Die Frage wird entschieden werden durch Ja und Nein über eine Thatsache. Ich bitte den Herrn Abg. Windthorst, die Frage mir zu beantworten, ob die Feststellung von Ausgaben für einen Theil des Reiches nach seiner Meinung zur Kompetenz der Reichs-Gesetzgebung gehört oder nicht. Wenn er die Frage so beantwortet, daß dies zur Kompetenz des Reiches gehört, so hat er sich selbst widerlegt; wenn er aber den Satz aufstellen will, daß das Reich nicht berechtigt ist, Ausgaben für einen Theil des deutschen Reiches festzustellen, sofern die übrigen Theile nicht von den Folgen betroffen werden, so spricht er einen Satz gegen klares Verfassungsrecht aus. Wenn er solche Eigenthümlichkeiten wahren will, so soll er sich wenigstens nicht auf deutsche Sitte be­ rufen; denn deutsche Sitte ist es, Verfassung, Gesetz und, geschloffene Verträge treu zu halten und nicht an ihnen hin und her zu mäkeln. Von unserer Seite wird freilich auch angestrebt, die Verfassung im Sinne ihrer Vollendung zu reformiren, aber wir streben, dies auf verfassungsmäßigem Wege in Zukunft zu thun, nicht aber auf dem Wege von Deutungen; und will der Herr Abg. Windthorst die Verfassung rückwärts reformiren, daß das Reich nicht kompetent sei für viele Dinge, für die es jetzt kompe­ tent ist, so mag er dies durch Anträge thun und nicht durch Interpretationen, die nach und nach in den Sinn der Verfassung hineingelegt werden, damit die Frage zweifel­ haft erscheine. Nach dem Wortlaut und der Geschichte ist der Sinn des Artikels 28 völlig unzweifelhaft, und deshalb wird mit Recht von dieser Seite darauf aufmerksam gemacht, daß keinem Interesse gedient ist, wenn immer Zweifel angeregt werben, welche einen klaren Wortlaut in einen unklaren verwandeln wollen. Abg. Dr. Windthorst: M. H., die Entscheidung der Frage werde ich beim Hause beantragen, wenn es sich einmal zeigen sollte, daß durch die Abstimmung einzelrer süddeut­ scher Mitglieder die Majorität gemacht worden. Das wird in diesem Fall: nicht der Fall sein. Wenn aber in irgend einem Falle die Majorität durch das Nitstimmen der süddeutschen Abgeordneten gemacht werden sollte, dann würde eine solche Abstim­ mung nichtig sein. (W.) Za, m. H., ich weiß es wohl, wir sind souverän rnd werden uns darüber hinwegsetzen. Aber juristisch nichtig bliebe eine solche Abstimnung; das hat gar keinen Zweifel. Bis zu dem bezeichneten Zeitpunkte also werde ich mit Anträgen warten, und kann ich dem Herrn Abg. Lasker nur wiederholen, daß wen: er heute eine Entscheidung wünscht, er Anträge stellen möge. — Was dann die fernere Frage des Herrn Abg. Lasker betrifft, ob ich glaube, daß der deutsche Reichstag nicht über alle Rechtsverhältnisse entscheiden könnte, die innerhalb des deutschen Reichs ber Lösung bedürfen, so antworte ich: über alle die Rechtsverhältnisse innerhalb des deutschen Reiches, die nach Maßgabe der Verfassung zu seiner Kompetenz gehören, hat der Reichs­ tag in Deutschland zu entscheiden, über andere Rechtsverhältnisse aber nicht, und bei allen Entscheidungen wird stets die Vorfrage bleiben, ob der Reichstag zu dir in Rede kommenden Entscheidung kompetent ist oder nicht. Wenn der Herr Abg. Lasker glaubt, man solle die Verfassung nicht interpretiren, so würde das nach weiter Ansicht, wenn es überhaupt einen Sinn hat, nur den Sinn haben: die Reichsverfcssung muß aufgefaßt werden, wie sie Herr Lasker auffaßt. Eine andere Interpretation bmmt nicht in Frage. Zch muß dagegen aber glauben, daß man kein Gesetz anwenden kann ohne Auslegung, und selbst wenn man die Verfassung nur anwenden wollte im Sinne Las-

Matrikularbeiträge für das Zahr 1869.

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kers, würde man sie auslegen müssen, und so werden wir uns wohl bescheiden müssen, zu jeden Zeit zu untersuchen, welches der rechte Sinn einer zur Anwendung stehenden Verfassmngsbestimmung ist. Daß im vorliegenden Falle eine gemeinsame Angelegenheit im Sinme des § 28 der Verfassung nicht vorliegt, ist mir vollkommen klar, und des­ halb bin ich der Ansicht, daß die Abgeordneten aus den süddeutschen Staaten nicht mit­ stimmen können. Präsident des Bundeskanzler-Amts Staatsminister Delbrück: Zch theile das von dem Herrn Abgeordneten für Meiningen ausgesprochene Bedauern, daß eine an sich schwierige Frage hier bei einer Gelegenheit diskutirt wird, wo absolut jedes praktische Interesse dafür fehlt. Ich würde deshalb das Wort nicht ergriffen haben, wenn ich nicht nach den ersten Bemerkungen des Herrn Abgeordneten für Meppen den Bundes­ rath und mich persönlich dagegen verwahren müßte, daß aus der Bemerkung, die am Schluß der Motive steht, ein Einverständniß mit der von ihm vertretenen Ansicht ge­ folgert werden könnte. (H. h.) — Ich habe bei den Verhandlungen über die Verträge, die im norddeutschen Reichstage im vorigen Jahre stattfanden, Gelegenheit gehabt, mich über die Bedeutung der sogenannten itio in partes zu äußern. Ich habe das damals dahin gethan, daß in allen Angelegenheiten, in welchen nach der Verfassung des Reichs die Institution gemeinschaftlich ist, es ganz gleichgültig ist, ob ein Gesetz, welches auf Grund einer solchen Verfassungsbestimmung ergeht, im ganzen Reich, in einem großen Theil des Reichs oder auch nur in einem ganz kleinen Theil des Reichs Anwendung findet. (S. w.) Zch erkenne an, daß man mit vollem Recht sagen kann, das Budget ist eine gemeinschaftliche Institution des Reichs — das ist an sich völlig zweifellos — und weil das Budget eine gemeinschaftliche Institution des Reichs ist, so folgt daraus lo­ gisch, daß auch die vorliegende Vorlage nicht unter den Artikel 28 fällt. — Die Frage, um die es sich bei dieser, wie gesagt, faktisch für die Entscheidung sehr wenig erheb­ lichen Sache nur handeln kann, ist die, ob bei Dingen, welche sich ausschließlich beziehen auf eine Zeit, in welcher das Reich noch nicht bestand, die also der Natur der Sache nach, wenn ich so sagen soll, einen transitorischen Charakter haben, der von mir eben bezeichnete und nach meiner Ueberzeugung unzweifelhaft richtige Grundsatz nothwendig zur Anwendung gebracht werden muß. Präsident: Ich habe meine Auffassung von der Sache, eben weil sie auch eine Geschäftsordnungs-Frage ist, schon bei der ersten Lesung ausgesprochen. Nach meiner Meinung paßt der Artikel 28 auf den vorliegenden Fall nicht. Eine An­ wendbarkeit desselben wird auch dadurch nicht herbeigeführt, daß am Schluffe der Mo­ tive der Regierungs-Vorlage eine solche Anwendbarkeit angenommen worden ist. Ich habe also abzuwarten gehabt, ob in dem Hause ein Antrag erhoben wird und die Ma­ jorität findet, daß mit der Abstimmung im Sinne des Artikels 8 vorzugehen sei. Da ein solcher Antrag auch heute nicht erhoben ist, und ich weder die Macht habe, Jeman­ den zu zwingen, Anträge zu stellen, noch andererseits die Macht, Jemanden zu der Abstimmung zu zwingen, so bleibt mir nichts übrig, als mit der Abstimmung so vor­ zugehen, als wenn die eben vernommenen Bemerkungen des Abg. Dr. Mayer u. s. w. überall nicht gefallen wären. (Br.!) Der Gesetzentwurf wird gegen sehr wenige Stimmen unverändert angenommen und außerdem folgende von der Kommission vorgeschlagene Resolutionen: 1) die Erwartung auszusprechen, daß künftig die Dispositions-Fonds für unvorhergesehene Ausgaben nicht überschritten, sondern etwaige, den Etatsbetrag überschreitende unver­ meidliche Ausgaben als außerordentliche Ausgaben behandelt werden; 2) den Bundes­ kanzler aufzufordern, daß künftig bei Aufstellung des Bundeshaushalts-Etats hinsichtlich der übertragenen Titel derselben jedesmal erkennbar gemacht werde, wie viel von den übertragenen Fonds in dem Vorjahre wirklich verwandt und wie viel daher von den­ selben für das laufende Zahr noch disponibel ist. Auch in dritter Lesung am 28. April 1871 wird der Gesetzentwurf nebst obi­ gen Resolutionen angenommen.

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Gesetzentwürfe.

Nr. 4.

Gesetz, betreffend die Einführung Norddeutscher Knndesgesetze in Sayern. 2öir Wilhelm re. rc.

§. 1.

Die in den nachfolgenden Paragraphen aufgeführten Gesetze des Norddeutschen Bundes

werden nach Maßgabe der in diesen Paragraphen enthaltenen näheren Bestimmungen als Reichs­ gesetze im Königreiche Bayern eingeführt.

§. 2.

I.

Vom Tage der Wirksamkeit des gegenwärtigen Gesetzes an treten in Kraft:

1) das Gesetz über das Paßwesen vom 12. Oktober 1867, 2) das Gesetz, betreffend die Nationalität der Kauffahrteischiffe und ihre Befugniß zur Füh­ rung der Bundesflagge, vom 25. Oktober 1867,

3) das Gesetz über die Freizügigkeit vom 1. November 1867, 4) das Gesetz, betreffend die Aufhebung der Schuldhaft, vom 29. Mai 1868,

5) das Gesetz, betreffend die Bewilligung von lebenslänglichen Pensionen und Unterstützungen

an Offiziere und obere Militairbeamte der vormaligen Schleswig-Holsteinischen Armee, sowie an deren Wittwen und Waisen, vom 14. Juni 1868, 6) das Gesetz, betreffend die Schließung und Beschränkung der öffentlichen Spielbanken, vom

1. Juli 1868, 7) das Gesetz, betreffend die Kautionen der Bundesbeamten, vom 2. Juni 1869, 8) das Gesetz, betreffend die Einführung der Allgemeinen Deutschen Wechselordnung, der

Nürnberger Wechselnovellen und des Allgemeinen Deutschen Handelsgesetzbuches als Bun­ desgesetze, vom 5. Juni 1869,

9) das Gesetz, betreffend die Beschlagnahme des Arbeits- oder Dienstlohnes, vom 21. Juni 1869.

10) das Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staats­ bürgerlicher Beziehung, vom 3. Juli 1869,

11) das Gesetz, betreffend die Bewilligung von lebenslänglichen Pensionen und Unterstützungen an Militairpersonen der Unterklassen der vormaligen Schleswig-Holsteinischen Armee, so­

wie an deren Wittwen und Waisen, vom 3. März 1870,

12) das Gesetz, betreffend die Eheschließung und die Beurkundung des Personenstandes von Bundesangehörigen im Auslande, vom 4. Mai 1870;

ferner:

II. am 1. Juli 1871:

das Gesetz wegen der Beseitigung der Doppelbesteuerung vom 13. Mai 1870; III. am 1. Januar 1872:

1) das Gesetz über die Ausgabe von Banknoten vom 27. März 1870, 2) das Gesetz über die Ausgabe von Papiergeld vom 16. Juni 1870.

§. 3.

Das Gesetz vom 8. November 1867, betreffend die Organisation der Bundes-Kon­

sulate, sowie die Amtsrechte und Pflichten der Bundes-Konsuln, tritt mit dem Tage der Wirksam­ keit des gegenwärtigen Gesetzes in Kraft.

Der §. 24 erhält jedoch folgenden Zusatz:

Die durch den ersten Absatz begründete Zuständigkeit des Preußischen Obertribunals geht

vom 1. Juli 1871 an auf das Bundes-Oberhandelsgericht über.

Wird in den an dasselbe

gelangenden Sachen eine Mitwirkung der Staatsanwaltschaft erforderlich, so ist zu deren Vertretung von dem Präsidenten des Bundes-Oberhandelsgerichts ein Mitglied des letz­

teren, ein in Leipzig angestellter Staatsanwalt oder ein dort wohnender Advokat zu er­

nennen. §. 4. Das Gesetz, betreffend die Wechselstempelsteuer, vom 10. Juni 1869 tritt am 1. Juli 1871 in Kraft. Der Königlich Bayerischen Staatsregierung bleibt überlassen, diejenigen anderen Behörden zu bezeichnen, welche bei Anwendung der im §. 18 dieses Gesetzes erwähnten Vorschriften an die

Stelle der Zollbehörden pr treten haben. §. 5.

Die Wirksamkeit des Gesetzes, betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofes

für Handelssachen, vom 12. Juni 1869 beginnt am 1. Juli 1871.

Einführung nordd. Bundesgesetze in Bayern.

*

231

In den nach dem Bayerischen Prozeßrechte zu verhandelnden Sachen treten an Stelle des

letzten Satzes des §. 18 dieses Gesetzes folgende Bestimmungen: Handelt es sich um eine zur Zuständigkeit des Bundes-Oberhandelsgerichts gehörige Nich­

tigkeitsbeschwerde, so hat der oberste Landesgerichtshof, sobald die vorgeschriebene Hinter­ legung der Akten erfolgt ist oder eine Frist hiefür nicht mehr läuft, nach Vernehmung

des Staatsanwalts mittelst eines in geheimer Sitzung zu fassenden Beschlusses die Ab­ gabe der Akten an das Bundes-Oberhandelsgericht zu verfügen.

Den abzugebenden Akten ist in allen Fällen ein schriftliches Requisitorium des Staatsanwalts

beizulegen. §. 6.

Das Gesetz vom 21. Zuni 1869, die Gewährung der Rechtshülfe betreffend, wird von:

1. Juli 1870 an mit nachstehendem Zusatz zu §. 39 eingeführt: Für die Anwendung derjenigen Vorschriften der Bayerischen Civil-Prozeßordnung, welche den Gerichtsstand oder die Personalhaft betreffen, oder überhaupt auf der Annahme be­

ruhen, daß die Rechtsverfolgung im Auslande die Geltendmachung eines Anspruches er­

schwere, ist gleichfalls das gesammte Gebiet des deutschen Reiches als Inland zu be­ trachten. §. 7. Das Strafgesetzbuch vom 31. Mai 1870 und das Einführungsgesetz zu demselben treten am 1. Januar 1872 in Geltung.

An Stelle der Vorschriften des §. 4 des gedachten Einführungsgesetzes hat es für Bayern bis auf Weiteres bei den einschlägigen Bestimmungen des Militairstrafrechts, sowie bei den sonstigen

gesetzlichen Vorschriften über das Standrecht sein Bewenden. §. 8.

Das Gesetz über die Abgaben von der Flößerei vom 1. Juni 1870 wird mit den:

Tage der Wirksamkeit des gegenwärtigen Gesetzes eingeführt.

Die nach §. 2 desselben zu leistende Entschädigung besteht in dem achtzehnfachen Betrage des

durchschnittlichen Reinertrages der Abgabe aus den letzten drei Kalenderjahren vor dem Aufhören der Erhebung.

Der Antrag auf Entschädigung ist bei Vermeidung der Präklusion innerhalb sechs Monaten nach dem Tage, mit welchem die Erhebung der Abgabe aufgehört hat, an das Reichskanzler-Amt

zu richten. §. 9.

Das Gesetz über die Erhebung und den Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit

vom 1. Juni 1870 tritt mit dem Tage der Wirksamkeit des gegenwärtigen Gesetzes in Kraft, jedoch

mit Ausnahme der Bestimmungen in §. 1 Absatz 2, §. 8 Absatz 3 und §. 16. §. 10.

Das Gesetz vom 11. Juni 1870, betreffend die Kommanditgesellschaften auf Aktien

und die Aktiengesellschaften, erlangt vom Tage der Wirksamkeit des gegenwärtigen Gesetzes an mit nachstehenden Vorschriften Geltung:

Die bis zu dem bezeichneten Tage vollzogenen Eintragungen in dem von den Bayerischen

Bezirksgerichten geführten besonderen Register für Aktiengesellschaften, bei welchen der

Gegenstand des Unternehmens nicht in Handelsgeschäften besteht, gelten als Eintragungen im Handelsregister, und bleiben in Wirksamkeit, auch wenn die Voraussetzungen nicht

vorhanden sind, welche nach dem Gesetze vom 11. Juni 1870 für die Errichtung der Ge­

sellschaft erforderlich sein würden. §.11.

Das Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen

Kompositionen und dramatischen Werken vom 11. Juni 1870 tritt am 1. Januar 1872 in Wirk­ samkeit, unbeschadet der fortdauernden Geltung des Art. 68 des Bayerischen Gesetzes über den Schutz der Urheberrechte an literarischen Erzeugnissen und Werken der Kunst vom 28. Juni 1865.

§. 12.

Die in den §§. 3, 8 und 9 getroffenen Abänderungen der dort bezeichneten Gesetze

finden im ganzen Reiche Anwendung, die Bestimmungen im letzten Absätze des §. 8 auch in den­ jenigen Fällen, in welchen vor Erlaß dieses Gesetzes unzulässige Abgaben von der Flößerei durch Kaiserliche Verordnung außer Hebung gesetzt worden sind.

Erste Berathung am 31. März 1871.

Abg. vr. Hölder: M. H.! Es ist gewiß dankenswerth, daß die bayerische Regierung selbst so rasch die Initiative ergriffen hat, um eine Reihe von Gesetzen, welche für den norddeutschen Bund erlassen worden sind, zu Reichsgesetzen zu erheben

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Gesetzentwürfe.

und ihre Geltung auch für Bayern zu sichern. Es wird dadurch eine Lücke ausgefüllt, welche die Bundesverträge mit Bayern aufgewiesen haben. Gewiß wird auch der Reichs­ tag die Ansicht theilen, welche der Bundesrath in seinen Motiven ausgesprochen hat, daß es von größter Wichtigkeit ist, so rasch als möglich diesen Gesetz-Entwurf und da­ durch die Gesetze des norddeutschen Bundes, welche in demselben vorgesehen sind, zum Gesetze für das Reich zu erheben; denn Zeder wird die Wichtigkeit und Nothwendigkeit erkennen, die Einheit der Gesetzgebung und des Rechts für das ganze deutsche Reich, so weit es vertragsmäßig möglich ist, so rasch als möglich herzustellen. Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, auf einige wesentliche Gesetze, welche hier in Frage kommen, hin­ zuweisen, um zu zeigen, wie dringend hier die Herstellung der Einheit ist. Für Bayern gilt bis jetzt das Gesetz über die privatrechtliche Stellung der Erwerbs- und Wirthschafts­ Genossenschaften noch nicht, und dies Gesetz ist auch in den vorgelegten Entwurf nicht ausgenommen. Von der Maß- und Gewichts-Ordnung, welche nach den Verträgen in den süddeutschen Staaten mit Ausnahme von Bayern eingeführt werden soll, finden wir ebenfalls in dem uns vorliegenden Gesetz-Entwurf nichts. Dazu kommen auch einige kleinere und weniger bedeutende Gesetze, die bisher für Bayern nicht gegolten haben, und die auch hier nicht mit ausgenommen sind. Es sind das die Gesetze über die ver­ tragsmäßigen Zinsen und das Gesetz betreffend die Maßregeln bei der Rinderpest. Für sämmtliche süddeutsche Staaten mit Ausnahme von Südhessen fehlt noch die GewerbeOrdnung und das Gesetz betreffend den Unterstützungswohnsitz, auch das Gesetz über die Gründung der Darlehnskassen. M. H., es sind das für das volkswirthschaftliche Leben höchst wichtige Gesetze, und die Einheit der Gesetzgebung für diese wirthschaftlichen Beziehungen ist ganz gewiß vom höchsten Werth. Zu Dank aber werden mich die Herren Vertreter des Bundesraths verpflichten, wenn sie nähere Auskunft, als in den Motiven geschehen ist, darüber geben wollten, ob wir bald Vorlagen entgegensehen dürfen, durch welche diese Lücken ausgefüllt werden, und welches etwa die Schwierig­ keiten sind, die der sofortigen Ausfüllung dieser Lücken zur Zeit entgegenstehen. Königlich bayerischer Bundesbevollmächtigter Staatsminister v. Lutz: M. H.! Es kommt nicht unerwartet, daß in dem Gesetz-Entwurf, welcher heute Ihrer Berathung unterstellt ist, die Aufzählung einiger Bundesgesetze vermißt wird. Der Grund hiervon liegt in dem Bestreben der bayerischen Regierung, die Einführung der bisherigen Bun­ desgesetze in Bayern so sehr als immer thunlich zu beschleunigen. Das führt noth­ wendig zu einer Ausscheidung der verschiedenen Materien. Diejenigen Gesetze, welche Bayern ohne alle Schwierigkeiten und Modifikationen zu übernehmen im Stande ist, finden Sie in dem vorliegenden Entwurf aufgezählt; bezüglich anderer Gesetze war es bis jetzt nicht möglich — Sie werden gütigst erwägen, daß der bayerischen Regierung seit Annahme der Verträge nur eine sehr kurze Frist vergönnt war, — darüber sich schlüssig zu machen, ob die einzelnen Gesetze ohne alle weiteren Modifikationen über­ nommen werden können, oder ob und welcher Modifikationen und Einführungs-Bestim­ mungen es für uns bedarf. Zu diesen Gesetzen, bezüglich deren ich allerdings der Meinung bin, daß in verhältnißmäßig kurzer Zeit die Angelegenheit auch in Ihrem Sinne wird geordnet werden können, zähle ich das Wehrgesetz, wie wir es in Bayern zu nennen pflegen; ich glaube, Sie heißen es das Kriegsdienstgesetz. Dahin gehört, wie ich an­ nehmen darf, das Gesetz über die Maß- und Gewichts-Ordnung; es gehört dahin das Gesetz über die Rinderpest. (Br.) Aber es war nur bis zu diesem Augenblick nicht möglich, die entsprechenden Verhandlungen zum Abschluß zu bringen, namentlich da, was das letzte Gesetz betrifft, Bayern nicht allein über die Angelegenheit zu disponiren hat, sondern vertragsmäßige Beziehungen mit anderen Staaten bestehen, die geordnet werden müssen und bezüglich deren bereits die entsprechenden Einleitungen getroffen worden sind. Andere Gesetze sind eben genannt worden, bezüglich deren die Stellung der bayerischen Regierung allerdings eine andere ist. Hier meine ich vorzugsweise das Gesetz über die Erwerbs-Genossenschaften und das Gesetz über die vertragsmäßigen Zinsen. Was das Gesetz über die Genossenschaften betrifft, so ist ihnen wohl nicht unbekannt, daß das Gesetz des norddeutschen Bundes über diese Materie bei uns in Bayern bereits ein-

Einführung nordd. Bundesgesetze in Bayern.

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geführt ist und, ich darf beifügen, fast wörtlich eingeführt ist. Die Modifikationen, welche das bayerische Gesetz enthält, betreffen lediglich untergeordnete Redaktionsfragen, ich behaupte nicht zu viel, wenn ich sage, Verbesserungen von Redaktionsversehen, und außerdem einen untergeordneten Punkt, insofern bei uns die Erwerbs-Genossenschaften in ein eigenes, hierfür bestimmtes Register eingetragen werden, während, so viel ich weiß, im norddeutschen Bunde die Eintragung in das Handels-Register erfolgt — es kann sein, daß ich mich hierin irre. Neben diesem Gesetze haben wir in Bayern eine Mehrzahl von Bestimmungen über Erwerbs-Genossenschaften mit beschränkter Haftbarkeit. (S. r.) Wenn Sie durch Einführung des norddeutschen Bundesgesetzes die Statthaftigkeit dieser Erwerbs-Genossenschaften leugnen und die betreffenden Bestimmungen beseitigen, so würde hierin ein sehr großer Eingriff in unsere Rechtsverhältnisse liegen. M. H., für uns hat die Praxis bewiesen, daß ein Bedürfniß für rechtliche Anerkennung der ErwerbsGenossenschaften mit beschränkter Haftbarkeit besteht. Zn dieser Beziehung scheint mir, m. H., ein Gleichmachen um jeden Preis um so bedenklicher, als, wenn ich recht be­ richtet bin, selbst im norddeutschen Bund die Zurisprudenz angefangen hat zu schwanken, und sich bereits erhebliche technische Stimmen für die Zulassung von Genossenschaften mit beschränkter Haftbarkeit ausgesprochen haben. — Was das andere Gesetz, die Be­ stimmungen über die vertragsmäßigen Zinsen, angeht, so hat das Gesetz vom 5. De­ zember 1867 in Bayern fast gleichzeitig mit der Gesetzgebung des norddeutschen Bundes sich mit der Materie der Beseitigung althergebrachter Zinsbeschränkungen befaßt. Beide Gesetze kommen im Wesentlichen auf dasselbe hinaus; sie begründen über die Frage der Zulässigkeit freier Vereinbarung über die Zinshöhe im Wesentlichen in ganz Deutschland, uns eingerechnet, Rechtsgleichheit. Die Bestimmungen des bayerischen Gesetzes betreffen ganz in gleicher Weise die Normen über die vertragsmäßigen, wie über die gesetzlichen Zinsen. Was ich hiermit meine, wird alsobald klar, wenn ich Sie daran erinnere, daß das bayerische Gesetz den Anatocismus, das heißt das Verbot der Zinseszinsen beseiügt und zugleich das Verbot aufhebt, Zinsen über die Summe hinaus zu verlangen, welche das Kapital ausmacht, von welchem die Zinsen zu reichen sind. Die Abschaffung des Anatocismus läßt das norddeutsche Bundesgesetz offen; es beläßt es wegen dieses Punktes bei den Bestimmungen der Landesgesetze, welche den Anatocismus beseiügt haben, eben so gut wie bei denjenigen, die ihn aufrecht erhalten. Was das Verbot der Zinsen über das alterum tantum betrifft, so hat das Bundesgesetz mit dieser Vorschrift entweder gar nichts zu thun, oder der Satz, daß es dieses Verbot beseitige, muß durch Schlußfolge­ rungen und — ich glaube, ich behaupte nichts unrichtiges — auf dem Wege der Ent­ scheidung einer Kontroverse hergestellt werden. Ich weiß sehr wohl, daß einer der be­ deutendsten Kommentatoren dieses Gesetzes den Artikel dahin versteht, daß er sich auch auf die Beseitigung des Verbotes von Zinsen über den Betrag des Kapitals erstrecke; aber der Wortlaut spricht nicht entschieden dafür, und es bedarf, wie gesagt, erst juristi­ scher Kcnklusionen. — Also, m. H., die Einführung des Bundesgesetzes über die ver­ tragsmäßigen Zinsen hat gar nichts anderes zur Folge, als daß die ohnehin schon be­ stehende Rechtsgleichheit mit Kontroversen bereichert wird, und daß die Rechtsuchenden außerdem in die Nothwendigkeit versetzt werden, das Recht aus zerrissenen Quellen zusarnrnen^usuchen. Und wenn Sie alle diese Nachtheile in den Kauf genommen haben, dann, rc. H., haben wir doch kein gemeines Recht, denn Sie haben es immer noch be­ lassen, wie ich bereits erwähnt habe, bei den Bestimmungen des Anatocismus, wo er in den einzelnen Staaten gilt, und Sie lassen die Differenz bestehen, die sich ergiebt, jenachden es den Landesgesetzen gefällt, über das Kündigungsrecht anders zu disponiren. Unter diesen Umständen sollte es mir scheinen, daß man es einfach bei der Nichtein­ führung des betreffenden Gesetzes in Bayern belassen könnte, und — rechnen Sie es mir nicht zur Unbescheidenheit, wenn ich das sage — daß, wenn man in der That formelle Rechtsgleichheit will, man lieber sich dazu entschließen sollte, das bayerische Gesetz zr übernehmen und also einen Schritt weiter zu thun. (Br.) A)g. Lasker: M. £>., ich kann auch nicht umhin, meine volle Anerkennung darüber auszusprechen, daß die bayerische Regierung reichlich das Wort gehalten hat, MerchSügs-Repertorium I.

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Gesetzentwürfe.

welches sie in den Verträgen gegeben hat; abgesehen von der Erwägung, welche einzelne Gesetze noch hätten eingeführt werden können, giebt mir immer der Geist, welcher aus der Vorlage hervorgeht, volle Bürgschaft dafür, daß es die Absicht auf Seiten der bayerischen Regierung gewesen ist, das beim Abschluß der Verträge gegebene Versprechen gut zu machen und daß damals nur Kürze der Zeit die Uebernahme der Bundesgesetze nicht gestattet hat. Gegen einen Vorwurf möchte ich aber doch alle Theile des Hauses wahren, der allerdings nicht direkt ausgesprochen worden ist, aber gewissermaßen in einer Klammer angedeutet, als ob es einen erheblichen Abschnitt des Hauses gäbe, wel­ cher aus Liebe zur formalen Einheit die sachlich besseren Einrichtungen aller Gesetze ein­ zelner Staaten kassiren möchte. Das Gegentheil ist richtig. Zn Bezug auf das Zins­ gesetz finde ich es ganz angemessen, daß Bayern es vorzieht, seine in unserm Sinne mehr vorgeschrittenen Bestimmungen nicht dem Reichsgesetz zu Liebe zu opfern. Za, ich habe schon bei mehreren Gelegenheiten hervorgehoben, daß ich zu den großen Vorzügen unserer gemeinsamen deutschen Arbeit früher im norddeutschen Reichstage, jetzt im deut­ schen Reichstage, zu allererst den Vortheil zähle, daß wir die fortgeschrittenen Gedanken und Verbesserungen, welche enthalten sind in den Gesetzen der einzelnen Staaten, hier erfahren und benutzen können. (S. g.!) — Ein Fanatismus der Einheit in dem Sinne, daß wir das Schlechtere zum Gemeinsamen erheben, nur um Einheitliches zu besitzen, existirt, wie ich glaube, auf keiner Seite des Hauses, aber ich bitte Sie, ebenso den Fanatismus der partikularen Gesetzgebung zurückzuweisen, daß Niemand selbstzufrieden sagt: wir haben das Gute im eigenen Lande, und deshalb verzichten wir gern auf die Thätigkeit der Reichsgesetzgebung. — Zn Beziehung auf das Gesetz über die ErwerbsGenossenschaften freut es mich sagen zu können, daß, soweit ich den Gang der damaligen Gesetzgebung in Bayern verfolgt habe, der Geist unseres sehr verehrten Kollegen Schulze auch der bayerischen Gesetzgebung nicht fern gestanden hat, und daß gerade nur in einem hervorgehobenen Hauptpunkt, nämlich über das zulässige Maß der Beschränkung der Haftpflicht, eine Differenz zwischen dem bayerischen und norddeutschen Gesetze besteht, und ich habe nicht viel dagegen einzuwenden, wenn noch weitere Erfahrungen abgewartet werden, ob das in Bayern geltende Prinzip oder das Prinzip des norddeutschen Bun­ desgesetzes vorzuziehen sei, um später eine Gleichmäßigkeit herbeizuführen. — Die GewerbeOrdnung ist von dem Herrn Bevollmächtigten zum Bundesrath vergessen worden, oder wenigstens die Begründung dafür, weshalb das norddeutsche Gesetz nicht in Bayern ein­ geführt wird. Ich will gern anerkennen, daß die bayerische Gesetzgebung gerade in der Materie, welche man dort die soziale nennt, auch in Beziehung auf die Gewerbe-Ord­ nung während der jüngsten Jahre höchst Verdienstliches geleistet hat; uns selbst hat die bayerische Gewerbe-Ordnung bei den Arbeiten des norddeutschen Bundes erhebliche Hülfe geleistet. Beide Gewerbegesetze lassen den gemeinschaftlichen Ursprung moderner An­ schauungen über den Verkehr erkennen, während ich zürn Nachtheil des norddeutschen Bundesgesetzes die Wahrheit zugestehe, daß manche Tradition des früheren Gesetzes wenigstens in der Form sich mit-eingeschlichen hat, daß die Form des norddeutschen Gesetzes keine ganz gelungene geworden ist, weil wir uns halb und halb mit alten Traditionen abzufinden hatten, und weil wir uns bestrebten, diese in der Form zu be­ friedigen, um dafür modernen Inhalt einzutauschen. Aber auch mancher Fortschritt ist in dem norddeutschen Gewerbegesetz enthalten, namentlich das in seinen Anfängen gut geregelte Verfahren, wenn es sich um Versagung oder Entziehung von Konzessionen handelt. Auch den Umfang der behandelten Zweige des gewerblichen Verkehrs rechne ich unserem Gesetze als Verzug an, daß z. B. das wichtige Gewerbe des Hausirens bei uns gesetzlich, während dasselbe in Bayern nur durch Reglements geregelt ist. M. H., wenn es irgend ein Gesetz giebt, welches, selbst mit einigen Fehlern, durchaus und noth­ wendiger Weise für das ganze Reich gelten und so schnell wie möglich seine Herrschaft über das ganze Reich erhalten muß, so ist es die Gewerbe-Ordnung. Die Ncthwendigkeit der wirtschaftlichen Gemeinschaft durch das ganze Reich wird von Niemand be­ stritten, und wenn das Leben selbst sich Bahn bricht, sollen die Verschiedenheiten der Gesetze nicht im Wege stehen. Ich hege deshalb die Hoffnung, daß der Wille auf allen

Abänderung des Bundeshaushalts - Etats für 1871.

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Seiten herrscht, auf die eine oder die andere Weise dem Reiche zu einer gemeinsamen Gewerbe-Ordnung in möglichst kurzer Zeit zu verhelfen. (Br.!) Königlich württembergischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister v. Mittnacht erklärt, daß behufs Einführung des Gesetzes über die Rinderpest Unterhandlungen zwischen der königlich bayerischen und der königlich württembergischen Regierung ein­ geleitet sind, welche beide Regierungen zu Folge vertragsmäßigen Uebereinkommens gemeinsames Recht in dieser Materie vor nicht langer Zeit hergestellt haben. Die Gewerbeordnung und das Gesetz über den Unterstützungswohnsitz würden mit etwa nöthigen Modificationen ebenfalls eingeführt werden. Abg. Freiherr von Stauffenberg constatirt betreffs der Einführung der 24 Gesetze, daß dieselbe im Großen und Ganzen mit großer Befriedigung ausgenommen werden wird und frägt, ob die Bewilligung von lebenslänglichen Pensionen und Unter­ stützungen an Offiziere oder Militärbeamte der vormaligen schleswig - holsteinischen Armee, auch auf Süddeutsche, frühere Angehörige dieser Armee, dahin Anwendung finden solle, daß auch ihnen die Pensionen vom 1. Juli 1867 ab nachgezahlt würden. Königlich bayerischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister von Pfretzschner bejaht dies. Zweite Berathung am 12. April 1871. Abg. Kastner macht auf diejenigen besonderen Bestimmungen in dem Einführungs­ gesetze der Wechselordnung für Bayern aufmerksam, welche durchaus im Sinne derselben und als Ergänzungen ihrer Zeit beschlossen wurden und Anrecht auf fernere Wirksamkeit besitzen. Er eonstatirt, daß Niemand im Hause der Voraussetzung widerspricht, daß jene besonderen Bestimmungen auch in Zukunft für Bayern ihre Gültigkeit behalten. Im Anschlüsse hieran erinnert Abg. Lesse an die Resolution des Norddeutschen Reichs­ tages, daß die verschiedenen Einführungsgesetze und namentlich die Gesetzbücher (des Handels- und Wechselrechts) einer Revision unterworfen werden sollen. Abg. Dr. Prosch hält die Einführung einzelner Gesetze des Norddeutschen Bundes in Bayern für einen unangemessenen Modus der Amendirung bestehender Gesetze, wenn zugleich allgemeine Aenderungen für das ganze Reich einfließen und empfiehlt für letzteren Behuf den Weg der Novellengesetzgebung, den jedoch der Bundeskommissar Dr. Falk als im gegebenen Fall unpraktisch bezeichnet. Der ganze Entwurf wird unverändert angenommen. Ebenso in dritter Lesung am 14. April 1871.

Nr. 5.

Gesetzentwurf, betreffend die Abänderung des Kundrshaushatts - (Etats für das Jahr 1871. Wir Wilhelm rc. re. 1. Dem durch das Gesetz vom 15. Mai 1870 (Bundes-Gesetzblatt Seite 387) festgestell­ ten Äundeshaushalis-Etat tritt unter Kapitel 4 der einmaligen und außerordentlichen Ausgaben

folgender neuer Titel hinzu: Titel 2. Zur Herstellung eines Dienstgebäudes für das General-Postamt (erste Rate) 161,375 Rthlr. §. 2. Diese Mehrausgabe von 161,375 Rthlr. wird aus dem Ueberschusse der Post-Verwaltun§ für das Jahr 1871 bestritten.

Erste

und

zweite Berathung

am

1. April

1871.

Bevollmächtigter zum Bundesrath, General-Postdirektor Stephan begründet die Vorlage und weist auf die Vortheilhastigkeit des Kaufs des betr. Grundstücks hin. 16*

236

Gesetzentwürfe.

Abg. Dr. Reichensperger (Crefeld): Zunächst möchte ich dem Wunscke Aus­ druck geben, daß die hier projektirte Aufwendung der materiellen Aufbesserrng der mittleren und niederen Schichten der Postbeamten, namentlich in, gewissen großen Städten, von welcher Aufbesserung schon so lange und so viel die Rede war, keinen Eintrag thun möchte. Was die Sache selbst anbelangt, so habe ich mich ülerzeugt, daß das Unternehmen ein zweckmäßiges, wenn auch vielleicht kein absolut notwendiges ist. Ich habe meines Theils nur eine Lücke in dieser Vorlage bemerkt, urd zwar eine Lücke, die mir eine nicht unwesentliche zu sein scheint. Die Lücke besteht darin, daß uns keine Pläne vorgelegt worden sind. Vielleicht ist das Bundeskanzler-Amt von der Ansicht ausgegangen, daß in diesem Hause keine Fachmänner säßen, rnd daß demnach das Haus durchaus inkompetent sei, irgend welches Urtheil über des Wie der Ausführung des Postgebäudes zu fällen, daß'es eben unsere Sache nur sei, für die Errichtung eines großen Gebäudes in abstracto zu stimmen, die Ausführung in concreto aber schlechthin der Staatsregierung zu überlassen. Dieser Ansicht bin ich nun meinerseits nicht. Ich glaube, daß man nicht nothwendig die baulichen Staats­ examina gemacht haben muß, um einigermaßen, zunächst wenigstens über die Zweck­ mäßigkeit der inneren Einrichtung eines solchen Gebäudes, ganz zutreffende Urtheile fällen zu können, wenigstens in Bezug auf Einzelnes. Es scheint indeß, daß das Bundeskanzler-Amt ein unbedingtes Vertrauen in die Ober-Baubehörde gesetzt hat. Zu meinem Bedauern bin ich nicht in der Lage, ein solches unbedingtes Lertrcuen der gedachten Behörde entgegenzubringen, und zwar stützt sich mein Mißtrauen in dieser Beziehung auf sehr triftige, praktische Erfahrungen. Ich will, um nicht zu weitläufig zu werden, nur einige Beispiele anführen (folgen einige Beispiele ars der Rhein­ provinz). Abgesehen von der Zweckmäßigkeit kommt noch etwas Anderes in Betracht, nämlich dasjenige, worauf ich soeben schon mit ein paar Worten hingedeUet habe, die äußere Erscheinung, die stilistische Physiognomie des Gebäudes. In dicser Beziehung scheint das Bundeskanzler-Amt zu glauben, es sei etwas durchaus Unerhebliches, so unerheblich, daß wir davon gar keine Notiz zu nehmen hätten. M. H, wir stehen (im Gegensatz zu dem vorausgehend citirten Parlamentsbau) vor einer sofort zu ver­ wirklichenden Aufgabe, und ich glaube, hier verlohnt es sich wohl, bog etwas näher darauf einzugehen, in welcher Art denn dasjenige Bauwerk sich darsüllen soll, für welches die halbe Million von unserer Seite gefordert wird. Ich kam nur dabei bleiben, daß es in unserem vaterländischen Style erbaut werden soll. Neulich hat der Herr Abg. von Unruh, wie es mir wenigstens schien, es als etwas Gleichbedeutendes oder Gleichgültiges betrachtet, ob wir das Parlamentsgebäude in heidnsch-griechischen oder im christlich-germanischen Style erbauten. Nach dem zuvor von mir Gesagten scheint mir denn das doch so ganz gleichgültig nicht zu sein, es schein: mir ein sehr starker Anachronismus zu werden, wenn wir den heidnisch-griechischen Styl wählen sollten. Zum ersten sind wir keine Griechen, darüber, glaube ich, dnn doch kein Zweifel obwalten. Sodann werde ich mich auch wohl hüten, zu sagen, daß es unter uns Heiden giebt. Wenigstens im Großen und Ganzen sind wir noch nicht Heiden. Sie erinnern sich, m. H. . . . (Unr. Ruf: zur Sache!) — Ich bedaure daß ich nicht antworten kann, ich habe die Frage eines Herrn von dieser Seite (der l.) nicht ver­ standen. — Sie erinnern sich, m. H., wie der Herr Graf Bethusy-Hrc mit größter, vielleicht nur scheinbarer Indignation — das lasse ich dahingestellt - den leisesten Zweifel an unserer Gottesfurcht neulich zurückwies. (Lebh. U. Ruf: zrr Sache.) Präsident: M. H., Sie können doch den Redner nicht hindert, wenn er es in seinem Gedankengang konsequent findet, den Styl, in dem das Postgbäude errichtet werden soll, als den christlich-germanischen zu bezeichnen, auf dessen Deail einzugehen. (Gr. H.) Abg. Reichensperger (Crefeld): Ich weiß wirklich nicht, wie ch diese Heiter­ keit mir deuten soll. (H.) Sonst pflegt solche Heiterkeit doch irgend ein Motiv zu haben. Wie man aber über die Worte „christlich-germanisch" in einer dutschen Reichs­ versammlung lachen kann, das ist mir unerfindlich. (U. Ruf: zur Sach!)

Abänderung des Bundeshaushalts - Etats für 1871.

237

Präsident: Ich bitte den Herrn Redner, seine Rede zu verfolgen, und bin ganz überzeugt, daß dann dem entsprechend auch die Unterbrechungen unterbleiben würden. Abg. Reichensperger (Crefeld): Ich will das auch hoffen. — Also, m. H., ich bin der Ansicht, daß wir mit allen Kräften dahin wirken sollen, daß das neue Bauwerk, zu welchem wir die Mittel bewilligen sollen, im deutschen Styl oder, wenn Sie etwa so wollen, im gothischen Styl aufgesührt wird. Erschrecken Sie vor dem Worte nicht. Die barbarischen Gothen haben mit dem fraglichen Styl gar nichts gemein, und ich glaube, daß wir in dieser Hinsicht eben an England uns ein Muster zu nehmen haben. Letzthin, als es sich eben nur um einen Hoffnungsbau, wie gesagt, handelte, haben Sie eine längere Ausführung seitens des Herrn von Unruh und sei­ tens des Herrn Braun ganz ruhig angehört. Zch glaube, jetzt, wo es sich um eine ganz bestimmte Ausgabe für einen ganz bestimmten Bau handelt, sind wir doch wahr­ haftig doppelt veranlaßt, solche Fragen einigermaßen ins Auge zu ziehen. Der Abg. Braun, den ich eben genannt habe, hat, wie es mir schien, um den germanischen oder christlich-ger­ manischen Styl zu diskreditiert, damals angeführt, das englische Parlamentshaus sei das Muster eines Parlamentshauses, wie es nicht sein sollte. Ich bin nun der Ansicht, daß der Herr Abgeordnete da trotz der Blaubücher, in deren Besitz er sich befindet, im Irrthum wandelt. Zch meinerseits habe auch das Parlamentshaus angesehen, wiederholt ange­ sehen; ich habe es nicht blos äußerlich, sondern auch innerlich in seinen meisten Details gesehen, und zwar unter der Führung eines Mannes, der zu den ersten Kunstnotabili-. täten Englands zählt. Zch trage gar kein Bedenken, seinen Namen zu nennen, es ist das Mitglied für Cambridge, Mr. Beresford Hope, der zugleich Präsident des könig­ lichen Architekteninstituts und Präsident der Archeological Society ist. Zch glaube, daß die Kompetenz eines solchen Mannes nicht bestritten werden kann. Der hat mir gesagt — auch hat er es drucken lassen —, daß das Parlamentshaus im Großen und Ganzen nicht blos schön, sondern auch zweckmäßig, daß blos der Sitzungssaal in Folge späterer Vermehrung der Parlamentsmitglieder zu klein sei, sowie dasjenige, was mit dem Sitzungssaal zusammenhängt. Jedenfalls aber, m. H., haben die Engländer den Beweis gegeben, daß die Erfahrungen, welche sie am Parlamentshause gemacht haben, keineswegs derartig sind, um sie davon abzuhalten, im christlich-germanischen Style weiter zu bauen. Zn diesem Augenblick wird in London ein Zustizpalast gebaut, der fast den Umfang haben wird wie das Parlamentshaus. Es wurde eine Konkurrenz ausgeschrieben, und zwar eine engere Konkurrenz zwischen zwölf der ausgezeichnetsten Architekten Englands. Zch habe in London diese Pläne sämmtlich gesehen, und ich kann sagen, Niemand wird es bestreiten, daß sie fast sämmtlich in gothischem Style entworfen waren, und ich kann weiter sagen, daß der Architekt Street eben begonnen hat, einen gothischen Justizpalast mitten in London aufzuführen. Zch glaube, damit werden wenigstens einige der allerschroffsten Vorurtheile gegen diesen Styl etwas gemil­ dert werden. M. H., alle deutschen Länder geben bedeutende Summen für Kunstwerke her, und es ist dagegen an und für sich gewiß nichts zu erinnern; auch in Preußen geschieht es bekanntlich in namhafter Weise. Bis jetzt aber hat man durchweg geglaubt, man diene der Kunst schon dadurch allein, daß auf den Kunstmärkten herumwandernde Oelbilder in möglichst großer Zahl producirt werden. Zch glaube, m. H., wenn wir die Kunst wahrhaft unterstützen wollen, dann müssen wir vor Allem die monumen­ tale Kunst unterstützen; die monumentale Kunst aber tritt hauptsächlich in den öffent­ lichen Baudenkmälern hervor, welche von großen Städten oder gar von großen Reichen erbaut werden. Ich bin also der Ansicht, daß dieser Punkt sehr ernstlich vom Hause ins Auge zu fassen sein würde, und ich bin weiter der Ansicht, daß wir, dem Bei­ spiele der dl^h gewiß sehr praktischen Engländer — sie sind bekanntlich keine Phan­ tasten — dch wir, diesem Beispiele folgend, eine engere Konkurrenz unter den her­ vorragendsten deutschen Baumeistern zu solchem Zwecke ausschreiben sollten — wie ge­ sagt, eine beschränkte Konkurrenz unter anerkannten Meistern, nicht eine allge­ meine Konkurrenz, wie solche so oft vorkommen, und von welchen die großen Meister

238

Gesetzentwürfe.

in der Regel, aus sehr nahe liegenden Gründen, fern bleiben. Ich bin danrv aber auch weiter der Ansicht, daß, wenn eine solche Konkurrenz ausgeschrieben wird, man dann auch denjenigen Plan wirklich ausführt, welcher von den Kennern als der- beste erachtet wird, und daß nicht das von der Stadt Berlin gegebene Beispiel befolgt rverde, welche einen prachtvollen, für den Rathhausbau entworfenen Plan mit dem ersten Preise bedachte, dann aber diesen Plan selbst in den Katakomben der Bauakademie beisetzte. Dieses Beispiel sollen wir nicht befolgen! Abg. Miquel: M. H., ich glaube, der Herr Vorredner hat am besten darr gethan, wohin es führen würde, wenn wir hier im Parlamente den Bauplan für jedes Gebäude, für welches wir Geld bewilligen, selbst kritisiren und darüber uns einigen sollten. Ich glaube, die Vertretung der deutschen Nation hat wirklich Wichtigeres zu thun, als damit sich die Zeit zu verderben. Wir haben bereits, m. H., Einnahmen bewilligt, welche nicht in den Bundeshaushalts-Etat für Norddeutschland gehören, wir bewilligen hier Ausgaben als Nachtrag zum Etat des norddeutschen Bundes für 1871. Ich fasse nun doch die Sache recht auf und würde im anderen Falle mindestens einen klaren Widerspruch seitens der Vertreter der Reichsregierung erwarten, daß damit der Frage nicht präjudicirt wird, wem schließlich die hier in Rede stehende Bewilligung zur Last kommt, welche Staaten daran rechnungsmäßig werden zu participiren haben, sondern daß diese Fragen demnächst zur Entscheidung kommen werden, wenn, wie ich erwarte, uns der Etat für das deutsche Reich für das Jahr 1871 vorgelegt wird. Wenn diese Frage klar und bestimmt beantwortet wird, so fällt jedes Bedenken für uns hinweg. Abg. von Unruh (Magdeburg): M. H., ich nehme nur deshalb das Wort, weil eine Aeußerung, die ich neulich gethan habe, von dem Herrn Reichensperger in einer Weise ausgelegt worden ist, gegen die ich doch Verwahrung einlegen muß. Ich war, als von dem neuen Parlamentshause die Rede war, der Meinung, daß wir noch nicht zu streiten hätten über den Styl des Gebäudes, sondern daß -damals nur die Frage vorläge, ob ein großes bedeutendes Gebäude aufgeführt werden solle oder nicht. Wenn ich mich in meinem Ausdruck des Gegensatzes bediente, es sei jetzt noch nicht der Augenblick, darüber zu entscheiden, ob dies Gebäude im christlich-germanischen oder im heidnisch-griechischen Styl ausgeführt werden solle, so habe ich damit nicht sagen wollen, daß unser Volk nicht christlich, und noch weniger, daß es nicht germanisch sei. Ich bin gewohnt, über die Thatsachen, die Jedermann klar vor Augen liegen, nicht hinwegzusehen; ich erinnere aber Herrn Abg. Reichensperger daran, daß ich unter dem, was ich heidnisch-griechisch nannte, das Monumental-Antike verstehe, und namentlich daran, daß eine Menge christlicher Kirchen in diesem Styl gebaut sind. Ich weise hier nur auf die Basiliken in Rom hin, auch darauf, daß St. Peter nicht im gothischen Styl aufgeführt ist, (S. g.! l.) sondern daß er eine Architektur hat, die aus antiken Elementen komponirt ist, und daß es daher keineswegs unchristlich ist, bei Gebäuden, die nicht Kirchen sind, in einem Styl zu bauen, der seine Elemente aus der Antike nimmt. — Ich will mich heute natürlich nicht auf eine Vorlesung über Style einlassen, sondern nur kurz erwähnen, daß sich der gothische Styl spaltet in einen Styl, der zum Theil an das Orientalische erinnert, und in einen, der mit dem Normännischen ver­ wandt ist und der normännische Styl ist keineswegs der eigentliche deutsche Styl. Ich will ferner noch anführen, m. H., daß ich die Vorzüge oder vielmehr das außerordentlich Großartige und Bedeutende der deutschen Baukunst, der sogenannten gothischen, gar nicht verkenne und ganz außerordentlichen Werth darauf lege; aber daran muß ich erinnern, daß in neuerer Zeit in diesem Styl — das Normännisch-Englische rechne ich nicht dazu — außerordentlich wenig geleistet ist, und wo Etwas geleistet ist,, da sind es Kirchen; die Versuche, den Styl auf andere profane Gebäude zu übertragen, sind meistens mißglückt. (H.! H.! l.) Ich könnte Ihnen eine ganze Reihe solcher Gebäude nennen. Ich will ferner erivähnen, daß dieser Styl den Vorzug hat, daß die Ornamente sich aus der Konstruktion entwickeln, daß er aber der Malerei und bildenden Kunst außerordentliche Fesseln anlegt, da diese sich diesem Styl streng anschliießen müssen, was sehr schwer durchzuführen ist. Endlich will ich noch ein für ale Mal

Abänderung des Bundeshaushalts - Etats für 1871.

239

bemerkten, daß, wenn man in diesem Styl baut, man ebenso wie unsere Altvordern vortreffliches Material nehmen und außerordentlich gute Arbeit machen muß; sonst ist dieser Styl der schlechteste, den es giebt. Sie wissen, welche Zeit zu den alten gothischen Gebäuden gebraucht worden ist, und wir haben dazu in der Regel weder Zeit noch Geld. Denn daß dieser Styl theurer ist wie jeder andere, liegt klar auf der Hand. — Ich ha!be mich nur gegen die Auslegung einer Aeußerung verwahren wollen, die ich gemacht habe, und die nicht den Sinn gehabt hat, den ihr der Herr Abg. Reichens­ perger beilegt. Königlich sächsischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister Freiherr v. Friesen erklärt,, daß durch §. 2 des Gesetzes ausgesprochen werden soll, daß nur diejenigen Staaten zum Bau beizutragen haben, welche die Post gemeinschaftlich haben, also Bayern und Württemberg nicht. Ueber die Frage, in welcher Weise diese Kosten unter die übrigen Staaten zu vertheilen sind, wird eine Vorlage über die Verkeilung der Matrikularbeiträge für das Jahr 1871 an den Reichstag gelangen. Abg. Dr. Braun (Gera): M. H.! Der Herr Abg. Reichensperger hat behauptet, ich habe gegen den gothischen Styl polemisirt und das englische Parlamentshaus deshalb getadelt, weil es im gothischen Styl gebaut sei. Wenn der Herr Abgeordnete meine Rede gehört oder gelesen hätte, so würde er gefunden haben, daß ich von dem Styl des Parlamentsgebäudes gar nicht gesprochen habe, und daß er mich daher, um mich bildlich auszudrücken, gleichsam meuchlings in das verwickelt hat, was er seinen christlich­ germanischen Styl nennt, von dem aber gründliche Kunsthistoriker behaupten, daß er französischen Ursprungs sei. Ich will mich auf dergleichen gelehrte Angelegenheiten nicht einlassen, wir sind ja hier nicht eine academia delle belle arti, sondern ein ganz profanes Parlament. Nur wenn er uns das englische Parlamentshaus als Muster hinstellt, so muß ich darauf einige Bemerkungen machen, nicht über den Styl, denn den betrachte ich als Monopol des verehrten Herrn Vorredners, ich maße mir nicht an, darüber ein solches apodiktisches Urtheil zu fällen, sondern über die praktische Frage der inneren Einrichtung; und da giebt ja der Herr Vorredner selbst zu, daß der Sitzungssaal nichts tauge, im Uebrigen aber sei das Haus vortrefflich. Das kommt mir vor, als wenn ich sage, diese oder jene Speise schmecke abscheulich schlecht, im Uebrigen aber sei sie ganz vortrefflich. (Folgt eine Besprechung der Unzweckmäßigkeit des englischen Parlamentsgebäudes rc. rc.) Das Haus geht sofort zur zweiten Berathung über, bei welcher Abg. v. Mallinck­ rodt zu 2 fragt, wie es nach der Erklärung des Bundeskommissars v. Friesen bei der Abstimmung mit den 65 Mitgliedern aus Bayern und Württemberg gehalten werden solle. Präsident Dr. Simson verschiebt die Entscheidung dieser Frage auf die dritte Lesung. Der Gesetzentwurf wird auch in zweiter Lesung angenommen. Dritte Berathung am 5. April 1871.

Abg. v. Mallinckrodt kommt nochmals auf die itio in partes zurück und glaubt, man müsse die generelle Frage der zweckmäßigen Durchführung in die Geschäfts­ ordnungs-Kommission verweisen, dagegen den heut auf der Tagesordnung stehenden Specialgegenstand weiter diskutiren und darüber Beschluß fassen. Die Abg. Freiherr v. Hoverbeck, Lasker und Dr. Schwarze treten der Verweisung an die Geschäftsordnungs-Kommission entgegen. Die Vorlage passirt sodann auch die dritte Lesung.

240

Gesetzentwürfe.

Nr. 6.

Gesetzentwurf, betreffend die Verbindlichkeit znm Schadenersatz für die bei dem Getriebe von Eisenbahnen, Gergwerke» u. s. w. herbeigefiihrten Tödtungen und Versetzungen. Wir Wilhelm rc. rc.

§. 1.

Wenn bei dem Betriebe einer Eisenbahn ein Mensch getödtet oder körperlich verletzt

wird, so haftet der Betriebs-Unternehmer für den dadurch entstandenen Schaden, sofern er nicht

beweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder durch eigenes Verschulden des Getödteten oder

Verletzten verursacht ist.

§. 2.

Wer ein Bergwerk, einen Steinbruch, eine Gräberei (Grube) oder eine Fabrik betreibt,

haftet, wenn ein Bevollmächtigter oder ein Repräsentant oder eine zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommene Person durch ein Verschulden in Ausführung der

Dienstverrichtungen den Tod oder die Körperverletzung eines Menschen herbeigeführt hat, für den dadurch entstandenen Schaden.

§. 3.

Der Schadensersatz (§§. 1 und 2) ist zu leisten:

1) im Falle der Tödtung durch

Erstattung der Kosten einer versuchten Heilung und der Beerdigung, durch Erstattung des gesammten

Vermögensnachtheils, welchen der Getödtete während der Krankheit durch Erwerbsunfähigkeit oder

Verminderung der Erwerbsfähigkeit erlitten hat, und, sofern der Getödtete zur Zeit seines Todes einem Anderen zur Gewährung des Unterhaltes vermöge Gesetzes verpflichtet war, durch Ersatz des gesammten Vermögensnachtheils, welchen der letztere in Folge des Todesfalls erleidet; — 2) im Fall einer Körperverletzung durch Erstattung der Heilungskosten und durch Ersatz des gesammten

Vermögensnachtheils, welchen der Verletzte durch eine in Folge der Verletzung eingetretene zeitweise oder dauernde Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erleidet.

§. 4.

Die in den §§. 1 und 2 bezeichneten Unternehmer sind nicht befugt, die Anwendung

der in den §§. 1 bis 3 enthaltenenen Bestimmungen zu ihrem Vortheil durch Verträge (mittelst

Reglements oder durch besondere Uebereinkunft) im Voraus auszuschließen oder zu beschränken. Vertragsbestimmungen, welche dieser Vorschrift entgegenstehen, haben keine rechtliche Wirkung.

§. 5.

Das Gericht hat, unter Berücksichtigung des gesammten Inhalts der Verhandlungen,

sowie des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Ueberzeugung über die Wahrheit

oder Unwahrheit der thatsächlichen Behauptungen zu entscheiden und insbesondere auch über die Höhe des Schadens unter Würdigung aller Umstände zu erkennen. Die Vorschriften der Landesgesetze über den Beweis durch Eid, sowie über die Beweiskraft

öffentlicher Urkunden und der gerichtlichen Geständnisse bleiben unberührt. Ob einer oder der andern Partei über die Wahrheit oder Unwahrheit einer thatsächlichen Behauptung noch ein Eid aufzulegen, sowie ob und inwieweit über die Höhe des Schadens eine

beantragte Beweisaufnahme anzuordnen oder Sachverständige mit ihrem Gutachten zu hören, bleibt

dem Ermessen des Gerichts überlassen. Auch unterliegt es dem richterlichen Ermessen, ob ein Schadensersatz in einer Rente oder in

Kapital zuzubilligen ist.

§. 6.

Die Forderungen auf Schadensersatz (§§. 1 bis 3) verjähren in einem Fahre.

Die

Verjährung beginnt mit der Entstehung der Forderung, und läuft von diesem Zeitpunkte an auch

gegen Minderjährige und diesen gleichgestellte Personen. §. 7. Die Bestimmungen der Landesgesetze, nach welchen außer den in diesem Gesetz vor­ gesehenen Fällen der Unternehmer einer in den §§. 1 und 2 bezeichneten Anlage oder eine andere

Person, insbesondere wegen eines eigenen Verschuldens für den bei dem Betriebe der Anlage durch Tödtung oder Körperletzung eines Menschen entstandenen Schaden haftet, bleiben unberührt. Die Vorschriften der §§. 3 bis 6 finden auch in dresen Fällen Anwendung, jedoch un­

beschadet derjenigen Bestimmungen der Landesgesetze, welche dem Beschädigten einen höheren Ersatz-

Anspruch gewähren.

Motive. Der Reichstag des Norddeutschen Bundes hat am 24. April 1868 eine Petition aus Leipzig,

in welcher auf eine Revision der gesetzlichen Bestimmungen über die Schadens-Ansprüche von Privat-

Verbindlichkeit zum Schadenersatz für Tödtungen u. Verletzungen auf Eisenbahnen rc.

Personen bei nicht von ihnen

verschuldeten

Unglücksfällen

auf

Eisenbahnen,

in

241

Bergwerken,

Fabriken u. s. w. angetragen wird, dem Bundeskanzler zur thunlichsten Berücksichtigung übergeben. Die Mängel der bestehenden Gesetzgebung sind in prozessualer Beziehung vornehmlich

in der zu großen Beschränkung des richterlichen Ermessens bei Ermittelung des Thatbestandes und Abschätzung des Schadens, soweit es das materielle Recht betrifft, aber auch darin gefunden, daß die Klage auf Ersatz nur gegen den unmittelbaren, in der Regel unvermögenden Urheber

gegeben wird, daß der Kreis der zur Entschädigungsklage berechtigten Personen zu sehr beschränkt,

sowie daß das Maaß der Entschädigung in der Regel unzulänglich sei und fast niemals einen

ausreichenden Ersatz für die Einbuße gewähre, welche dem Beschädigten aus seiner temporären oder dauernden Arbeitsunfähigkeit, beziehungsweise

den Hinterbliebenen durch den Verlust ihres Er­

nährers erwachse.

Eine eingehende Erwägung hat zu der Ueberzeugung führen müssen, daß die Fortschritte der Industrie allerdings Verhältnisse geschaffen haben, denen gegenüber die allgemeinen Grundsätze

über die Verpflichtung zum Schadensersätze in den gedachten Fällen nicht mehr für ausreichend erachtet werden können. Das gemeine Civilrecht und die von diesem beherrschten deutschen Partikularrechte gehen im Allgenreinen von dem Prinzip aus, daß für den durch Vorsatz oder Nachlässigkeit verursachten

Ist der Schadensstifter Ver­

Schaden nur der unmittelbare Urheber verantwortlich zu machen sei.

treter einer dritten Person, so hat der Auftraggeber,

sofern nicht seine Ersatzpflicht durch die

Widerrechtlichkeit, des Auftrages oder durch dessen kontraktswidrige Ausführung begründet wird,

nur für erweisliche Versehen bei der Auswahl seines Beauftragten (culpa in eligendo) zu haften. Die letztere Verbindlichkeit hat das Preußische Landrecht (Th. I. Tit. 6. §. 53) noch weiter dahin

beschränkt, daß derselbe nur subsidiär für den durch einen untauglichen Bevollmächtigten verursachten

Schaden einzustehen habe. Daß eine in so enge Grenzen eingeschlossene Verantwortlichkeit den bei industriellen Unter:

nehmungen durch widerrechtliche Handlungen Beschädigten nur in sehr seltenen Fällen Aussicht auf Schadloshaltung gewährt, liegt auf der Hand. In der That haben Doctrin und Praxis den durch

das Römische Recht überkommenen Normen eine weitere Ausbildung zu geben sich bemüht, ohne

daß es ihnen jedoch gelungen wäre, zu übereinstimmenden Ansichten in diesem Punkte zu gelangen. Anders verhält es sich in dem Gebiete des Rheinischen Rechts.

Dem allgemeinen Prinzip,

daß Jeder den durch seine Schuld einem Andern zugefügten Schaden zu ersetzen verbunden sei, ist im Artikel 1381 des Französischen Civilgesetzbuches die weitere Anwendung gegeben, daß die Ver­

antwortlichkeit für den Schaden nicht nur dem obliegt, der den Schaden durch eigenes Handeln verursachte, sondern auch dem, der für den Schadensstifter einzustehen hatte.

Verantwortlich in

solchem Maaße sind sowohl diejenigen, welche ein Aufsichtsrecht zu üben haben, als auch jeder

Prinzipal und Auftraggeber für seine Bediensteten und Angestellten bei den Verrichtungen, zu welchen sie gebraucht werden.

Man hat wohl behauptet, daß das Rheinische Recht in der hier fraglichen Beziehung von dem gemeinen Deutschen Rechte nicht so sehr abweiche, der Unterschied vielmehr lediglich in der

Anwendung beruhe, in der dem Französischen Verfahren eigenthümlichen Leichtigkeit des Beweises und in der freieren Bewegung des Richters, der, weniger an die strenge Verhandlungsmaxime ge­

bunden, dem Beschädigten einen wirksamen Schutz gewähren könne.

Ohne zu verkennen, daß ein

theoretischer Rechtssatz je nach der Art seiner Handhabung im Prozesse sehr verschieden wirken kann,

wird man doch einen tiefgreifenden Unterschied darin finden müssen, daß das Französische Recht den

Beauftragten während der Ausführung der ihm übertragenen Dienstleistung mit dem Auftraggeber vollständig identifizirt und für solidarisch verbunden erklärt, während das Deutsche Recht an dem

Dualismus

beider Rechtssubjekte festhält und die Einheit nur bei einzelnen Willensakten und

innerhalb mehr oder weniger eng gezogener Grenzen gelten läßt. Dieses Unterschiedes ist sich die Kommission, welche 1865 bis 1866 in Dresden mit der Ausarbeitung eines den Deutschen Bundesstaaten gemeinsamen Obligationenrechtes sich beschäftigte, auch vollständig bewußt gewesen.

Sie hat den Versuch gemacht, sich dem Rheinischen Rechte zu

nähern, ist aber in dem Artikel 216 ihres Entwurfes nicht über den Satz hinausgegangen, daß derjenige, welcher rechtlich verpflichtet ist, die Aufsicht über einen andern zu führen, für wider­ rechtliche Handlungen des Letzteren insoweit aufzukommen hat, als er jener Verpflichtung aus Ver-

242

Gesetzentwürfe.

schuldung nicht nachkommt.

Die für die Fälle der freien Stellvertretung vom Französischen Rechte

angenommene Solidarität zwischen denn Prinzipal und Beauftragten hat jene Kommission sich

Augenscheinlich hat sie es für bedenklich erachtet, in d.esem

bezüglich der Delikte nicht angeeignet.

Punkte das Prinzip des bei uns eingebürgerten Rechtes zu verlassen. Wenn es im Hinblick auf die in gleicher Proportion mit der Entwicklung industrieller An­

lagen sich mehrenden Unglücksfälle die Aufgabe der Reichsgesetzgebung ist, der körperlichen Integrität einen erhöhten Rechtsschutz zu verleihen, so muß davon abgesehen werden, eine generelle Reform

der Grundsätze über die Verpflichtung zum Schadensersatz herbeizuführen.

Ein so weit gestecktes

Ziel würde nur im Zusammenhänge mit dem ganzen System des Obligationenrechtes sich erreichen lassen.

Zur Zeit wird es sich allein darum handeln können, im Wege eines Spezialgesetzes Be­

stimmungen zu treffen, um denjenigen/ welche bei mit ungewöhnlicher Gefahr verbundenen Unter­ nehmungen an Leib oder Leben beschädigt werden, beziehungsweise ihren Hinterbliebenen einen Ersatz des erlittenen Schadens zu sichern.

Hierbei werden vorzugsweise die Eisenbahnen, Bergwerke und Fabriken in Betracht zu ziehen sein.

Zwar hat die Eingangs erwähnte Petition auch die Transport-Anstalten zur See (Segelund Dampfschiffe) als Unternehmungen bezeichnet, bezüglich deren eine strengere Haftungsverbind-

lichkeit einzuführen wäre. Es ist jedoch hierbei übersehen, daß das, nunmehr als Reichsgesetz geltende Handelsgesetzbuch in diesem Punkte vollkommen ausreichende Bestimmungen enthält. Nach Vorschrift

des Art. 451 dieses Gesetzbuches ist der Rheder für den Schaden verantwortlich, welchen eine Person der Schiffsbesatzung einem Dritten durch ihr Verschulden in Ausführung ihrer Dienstverrichtungen

zufügt.

Ebenso hastet der Schiffer nach Art. 478 für jeden durch sein Verschulden entstandenen

Schaden, und ist durch Art. 479 noch besonders ausgesprochen, daß diese Haftung auch den Keifenden

gegenüber bestehe.

Wenn also, wie Petenten behaupten, in Folge der neuerlich auf Deutschen

Auswandererschiffen vorgekommenen Unfälle keine Entschädigungsansprüche erhoben sind, so wird die Ursache dieser Erscheinung jedenfalls nicht darin zu finden sein, daß es an den rechtlichen Be­

stimmungen gemangelt hätte, um den Beschädigten den Ersatz ihres Schadens zu ermöglichen. I. Was zunächst die Eisenbahnen anbelangt, so hat das Handelsgesetzbuch dieselben bezüglich

der ihnen zur Beförderung übergebenen Güter für allen Schaden verantwortlich gemaät, sofern sie nicht die höhere Gewalt oder die natürliche Beschaffenheit des Gutes als die Ursache des Ver­

lustes oder der Beschädigung nachzuweisen vermögen (oft. Art. 421, in Verbindung mit Art. 395,

400 und 401).

Die naheliegende Anwendung dieser Grundsätze auf den Personenverkehr ist im

Handelsgesetzbuche nicht gemacht, sie würde auch, da der Grund der Haftungspflicht im Fracktvertrage ruht, nur zu Gunsten der Reisenden sprechen, nicht aber den Angestellten der Bahn, und noch

weniger dritten Personen, welche'durch Schuld des Eisenbahnbetriebes beschädigt werden, )en Ersatz gewähren.

hat dagegen die Preußische diesem Glgenstande

Unter den Partikulargesetzgebungen

schon früher ihre Aufmerksamkeit zugewendet.

Zn der richtigen Erkenntniß, daß der Größe der

mit dem Eisenbahnbetrieb verbundenen Gefahr und dem Vertrauen, mit dem das Pubikum auf

die Einrichtungen und Anordnungen der Eisenbahnverwaltung sich zu verlassen genöthigt ist, das höchste Maß der Verantwortlichkeit

auf Seiten

des Unternehmers

entsprechen müsse, hat das

Preußische Gesetz über die Eisenbahn-Unternehmungen vom 3. November 1838 im §. 25 bestimmt: „die Gesellschaft ist zum Ersatz verpflichtet für allen Schaden, welcher bei der Beförderung auf der

Bahn an den auf derselben beförderten Personen oder Gütern oder auch anderen Perfinen und deren Sachen entsteht, und sie kann sich von dieser Verpflichtung nur durch den Beweij befreien,

daß der Schaden entweder durch die eigene Schuld des Beschädigten oder durch einen unabvendbaren

äußeren Zufall bewirkt worden ist.

Die gefährliche Natur der Unternehmung selbst st als ein

solcher, von dem Schadenersatz befreiender Zufall nicht zu betrachten."

Der Schwerpunkt dieser Bestimmung,

welche

auch in mehreren anderen Burdesstaaten

gesetzliche Geltung erlangt hat, liegt darin, daß im Schadensfälle ein Verschulden der Betriebs

präsumirt wird, die Eisenbahn mithin als ersatzpflichtig gilt, wenn sie nicht den Beweis h?v eigenen Verschuldung des Beschädigten, oder der höheren Gewalt zu führen vermag. Diese Rechtsauffaffung entspricht ebensowohl der Analogie des Art. 395 des Handelsgesetz­

buches, als dem Sachverhältnisse selbst.

Sie ist dem am 5. März 1869 in Oesterreich erlassenen

Gesetz über die Haftung der Eisenbahn-Unternehmungen wesentlich zum Grunde gelegt und kann

auch als Anhalt für die Reichsgesetzgebung benutzt werden.

Verbindlichkeit zum Schadenersatz für Tödtungen u. Verletzungen auf Eisenbahnen rc.

243

II. Die Unglücksfälle im Bergbau sind, soweit eine Verschuldung dabei in Betracht kommen kann, meistens durch Explosionen (schlagende Wetter), Bruch, oder Zusammensturz des Gruben­

gebäudes, Wasserdurchbrüche, Sprengarbeiten und Maschinen verursacht worden.

Zm Hinblick hierauf muß sich zunächst die Frage aufdrängen, ob es zulässig ist, den für die Haftungspflicht der Unternehmer von Eisenbahnen aufgestellten Grundsatz in gleichem Maße

auf den Bergbau anzuwenden.

Diese Frage läßt sich nicht unbedingt bejahen, weil zugegeben werden muß, daß zwischen dem Betrieb der Eisenbahnen und dem des Bergbaues in der hier fraglichen Beziehung sehr wesent­ liche faktische Verschiedenheiten bestehen.

Man wird nicht zu weit gehen, wenn man annimmt, daß bei dem dermaligen Stande der Technik und der großen Menge von Hülfsmitteln und Erfahrungen ernste Unfälle im Eisenbahn­

verkehr sich durch Sorgfalt im Betriebe in der Regel vermeiden lassen.

Die Unfälle im Bergbau

dagegen sind oftmals die Folge des Einwirkens von Elementen und Naturkräften, welche sich auch der sorgfältigen Controls entziehen.

Ferner hat im Bergbau die selbstständige Thätigkeit des

Arbeiters einen viel größeren Antheil am Betriebe, als bei den Eisenbahnen, wo es vornehmlich darauf ankommen wird, daß die-dienstlichen Reglements und Anweisungen von den Angestellten

pünktlich befolgt werden.

Beim Bergbau handelt es sich nicht um den Schutz des Publikums,

sondern -um den Schutz des Arbeiters gegen Bergwerksgenosscn, und

die Verschuldungen des Unternehmers sowie der

namentlich gegen die der eigenen Mitarbeiter selbst.

Die Ver­

antwortlichkeit des Werkbesitzers kann nicht füglich weiter ausgedehnt werden, als die Möglichkeit seiner Controls bei der Auswahl des zu verwendenden Personals reicht, und diese wird bei der großen Zahl der im Bergbau beschäftigten Arbeiter über letztere kaum zu führen fein. Der Haupt­

gesichtspunkt aber, welcher einer strengeren Haftungspflicht der Werkbesitzer entgegentritt und in den Abhandlungen des vr. H. Achenbach über diesen Gegenstand mit Recht betont wird, ist der, daß jeder Bergmann in die Arbeit mit dem vollen Bewußtsein der Gefahren eintritt, welche aus der

Mitarbeit zahlreicher Genossen ihm erwachsen können.

Er weiß, daß ein einziger Mitarbeiter durch

unzeitiges Oeffnen der Sicherheitslampe, durch Unvorsichtigkeit bei den Sprengarbeiten oder bei der

Anwendung der Maschinen u. s. w. die Verstümmelung oder den Tod vieler Gefährten herbeiführen kann. Für die daraus entspringenden Schäden kann der Werkbesitzer nach Billigkeit nicht in Anspruch

genommen werden, seine Haftung wird sich auf das eigene Verschulden und dasjenige seiner Tech­ niker und Offizianten beschränken müssen.

Die französische Praxis ist, trotz der weitgehenden Be­

stimmungen des Code, in diesem Punkte schwankend gewesen, in England dagegen haben Theorie und Praxis die Haftbarkeit des Werkbesitzers für die, einem Arbeiter durch die Schuld eines Mit­

arbeiters verursachten Schäden entschieden verneint. An diese Auffassung von der Verantwortlichkeit

des Werkbesitzers wird sich die weitere Folgerung anknüpfen, daß im Schadensfälle nicht, wie bei den Eisenbahnen, eine Verschuldung des Unternehmens ohne Weiteres präsumirt werden kann, der

Beweis der Verschuldung vielmehr von demjenigen zu erbringen ist, der sich auf dieselbe als den Grund srines Anspruches beruft.

III.

Mehrfache Bedenken werden der Gesetzgebung entgegentreten, wenn es sich darum han­

delt, bezüglich der Haftung für Körperbeschädigungen im Fabrikbetriebe besondere, von dem all­

gemeinen Rechte abweichende Grundsätze aufzustellen.

Schon die Frage, welche industrielle Anlagen

als Fabriken zu bezeichnen sind und worin das Kriterium ju finden ist, das sie von anderen ge­ werblicher Unternehmungen, insbesondere von dem Handwerk unterscheidet, wird Zweifel hervor­

rufen.

bs giebt zudem Fabriken, deren Betrieb mit keiner oder geringer Gefahr für die körper­

liche Znügrität verbunden ist, während eine solche Gefahr bei anderen Unternehmungen unleugbar

vorhander ist, die nicht den Fabriken zugerechnet werden. Dieser naheliegenden Bedenken ungeachtet wird man doch in der alljährlich wachsenden Zahl

von Ungucksfällen im Fabrikbetriebe eine dringende Mahnung erkennen müssen, durch Einführung einer strmgeren Haftbarkeit der Unternehmer dem Leben und der Gesundheit der Fabrikarbeiter einen größeren Schutz zu verleihen.

Der legislative Grund, welcher darauf hinführt, abweichend

von dem gemeinen Rechte die Verantwortlichkeit der Eisenbahn- und Bergwerks-Unternehmer zu er­ höhen, trfft jedenfalls bei denjenigen Fabriken zu, welche Naturkräfte in ihren Dienst nehmen, die

nur zu lacht eine von dem Arbeiter nicht vorherzusehende oder abzuwendende zerstörende Wirkung

ausüben.

Angesichts der Ausdehnung, welche die Anwendung der Dampfkraft im industriellen Be-

244

Gesetzentwürfe.

triebe erlangt hat, wird man nicht einwenden können, daß es in der Hand des Arbeiters liege, in minder gefährlichen Unternehmungen Beschäftigung zu suchen, noch auch wird sich im Allgemeinen

behaupten lassen, daß schon der Arbeitslohn eine Prämie für die Uebernahme der Gefahren ent­ halte.

Da der Arbeiter in Fabriken bezüglich der Sicherheit seiner Person den Einrichtungen und

Vorkehrungen des Unternehmers vertrauen und denselben oftmals willenlos sich überlassen muß, so wird die Forderung nicht abzuweisen sein, daß auch hier der Größe der Gefahr die Verantwort -

lichkeit des Unternehmers entsprechen müsse.

Eine Ersatzpflicht des letzteren wird jedenfalls dann

anzunehmen sein, wenn die für den Fabrikbetrieb erlassenen polizeilichen Vorschriften nicht ein­

gehalten wurden und die vorgekommene Körperverletzung damit in kausalem Zusammenhänge Netzen

Dagegen wird die Verschärfung der Haftbarkeit des Unternehmers nur so weit reichen

konnte.

dürfen, daß er die Verschuldung seiner Angestellten zu vertreten hat, nicht aber wird er für die

widerrechtlichen Handlungen seiner Lohnarbeiter verantwortlich zu machen sein.

Die Gründe, welche

diese Beschränkung beim Bergbau rechtfertigen, treffen mehrentheils beim Fabrikbetriebe zu.

Dem

entsprechend wird es hinsichtlich der Beweislast im Wesentlichen bei den Regeln des gemeinen Rechts

zu bewenden haben. Vorstehende Gesichtspunkte sind für die Aufstellung des Entwurfes maßgebend gewesen. Zur

Erläuterung seiner einzelnen Bestimmungen ist Folgendes hinzuzufügen. §. 1.

Bei Redactton dieses Paragraphen hätte es angemessen erscheinen können, die Fassung des §. 25 des Preußischen Eisenbahngesetzes vom 3. November 1838 nach Möglichkeit in das neue Gesetz zu übernehmen, da einestheils die letztere gesetzliche Bestimmuug bereits durch die Jurisprudenz eine feste Auslegung erhalten hat, andererseits auch mehrere andere Bundesstaaten jene Vorschrift bei

sich eingeführt haben.

Indeß schon aus rein sprachlichen Gesichtspunkten war es grboten, eine

Fassung aufzugeben, welche den Anforderungen nicht mehr genügt, die in neuerer Zät an gesetz­ geberische Arbeiten gestellt zu werden pflegen.

Bei der vorgeschlagenen Formulirung ist angenommen, daß sie keine irgend erhebliche Aus­ dehnung der Haftpflicht der Eisenbahnen über diejenigen Grenzen hinaus herbeiführt, welche bisher

in dieser Beziehung die Preußische Rechtsprechung und namentlich das Königliche Ober-Tttbunal fest­ gestellt hat, indem keineswegs zu besorgen ist, daß bei der Anwendung des Ausdrucks ,„Betrieb"

die Haftpflicht aus §. 1 auf Unfälle bei Bauten, bei dem Betriebe von Maschinen-Werkstätten und ähnlichen Anlagen übertragen werden könne. Der allgemeine Ausdruck Eisenbahnen soll auch die mit Pferden betriebenen Lahnen um­

fassen.

Wenn letztere in Rücksicht auf die angewendete Triebkraft minder gefährlich er'cheiinen, als

die mit Lokomotiven befahrenen Bahnen, so sind sie doch, wie die Erfahrung vielfach gekehrt hat,

in dem Betracht mit größeren Gefahren verbunden, daß sie die öffentlichen Straßen zu chrem Trans­ porten benutzen.

Daß die Pferdebahnen in der Regel von Aktiengesellschaften erbaut md betrieben

werden, dürfte ein Grund mehr sein, sie in dem hier fraglichen Punkte den Lokomotivlahnren gleich zu behandeln.

Die Worte „durch einen unabwendbaren äußern Zufall" in §. 25 des Preußischen Eisen­ bahngesetzes vom 3. November 1838 sind mit dem Ausdrucke „durch höhere Gewalt" m Anschlüsse an das Deutsche Handelsgesetzbuch (Art. 395) vertauscht, wogegen der Schlußsatz des §.. 25 „die

gefährliche Natur der Unternehmung selbst ist als ein solcher von dem Schadenersatz beßeiemder Zu­ fall nicht zu betrachten" als nunmehr entbehrlich weggelassen ist.

§. 2.

1.

Die Haftbarkeit der Bergwerksbetreiber kann nicht auf solche Bergwerke beschrinktt werden,

welche kraft des Bergregales oder des Berghoheitsrechts beliehen sind.

Dieselbe Haflbarrkeit muß

vielmehr bei denjenigen Bergwerken eintreten, bei welchen das Recht zum Betriebe ich aus dem Grundeigenthum ableitet. Dies ist z. B. rücksichtlich der Stein- und Braunkohlenbergwerke im

Königreich Sachsen nach dem Königlich Sächsischen Allgemeinen Berggesetze vom 16. Jun 11868 §. 4 und in den vormals Kursächsischen Landestheilen der Preußischen Provinzen Sachsen, Srcundenburg und Schlesien nach dem Preußischen Gesetze vom 22. Februar 1869 der Fall.

Das Dorrt „Berg­

werk" bezeichnet hiernach die Anwendbarkeit der Grundsätze des Gesetzes auf alle Bergwerke ohne Ausnahme.

Verbindlichkeit zum Schadenersatz für Todtungen u. Verletzungen auf Eisenbahnen rc.

2.

245

Neben den Bergwerken sind die Steinbrüche noch besonders aufgeführt, da die durch­

schnittliche Gefährlichkeit derselben die Anwendung des Gesetzes auf dieselben erheischt und anderer­

seits es zweifelhaft sein konnte, ob ein Steinbruch unter die Bezeichnung „Bergwerk" zu subsumiren sein würde.

Dasselbe trifft rücksichtlich der Mergel-, Kies-, Sand-, Thon-, Lehm- und ähnlicher

Gruben zu, welche in Uebereinstimmung mit der Terminologie neuerer Berggesetze unter dem Aus­

druck „Gräberei" zusammengefaßt sind.

Die Anwendbarkeit des Gesetzes nach Analogie des §. 154

der Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund auf unterirdisch betriebene Brüche oder Gruben

zu beschränken, dürfte sich nicht rechtfertigen lassen.

3.

Die Frage, welche industrielle Anlagen als Fabriken zu bezeichnen sind, und worin das

Kriterium zu finden ist, das sie von anderen gewerblichen Unternehmungen, insbesondere von dem

Handwerk unterscheidet, kann, wie schon oben bemerkt worden, mannigfache Zweifel hervorrufen. Die sonst üblichen Unterscheidungen, wonach im Handwerk die Handarbeit, in der Fabrik das mecha­

nische Element vorherrsche, wonach beim Handwerk regelmäßig eine vollständige Herstellung der

Erzeugnisse durch ein und dieselbe Hand, bei der Fabrik Theilung der Arbeit unter verschiedenen

Arbeiterklassen stattfinde, wonach ferner der Handwerker auf Bestellung im Kleinen, die Fabrik auf Vorrath im Großen arbeite, oder wonach endlich als Ausdruck des socialen Unterschiedes beim

Handwerk der Meister mitarbeite, während in der Fabrik der Fabrikherr dirigire, sind heut zu Tage

nicht mehr als maßgebend und zutreffend anzusehen.

Gleichwohl hat selbst die neueste Gesetzgebung

an der Scheidung des Fabrikbetriebes von anderen gewerblichen Unternehmungen festgehalten, ohne

dazu überzugehen, zur näheren Feststellung des Begriffs der Fabrik eine Definition derselben zu geben oder einzelne Unternehmungen speciell aufzuzühlen, welche als Fabrikbetrieb angesehen werden

sollen.

So enthält die Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund in den §§. 127 ff. ins­

besondere Bestimmungen über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in Fabriken.

Man wird daher

auch bei dem vorliegenden Gesetze es in Zweifelfällen dem Richter überlassen müssen,

eine Ent­

scheidung darüber zu treffen, ob es sich um ein Fabrikunternehmen handelt oder nicht, und von dem vergeblichen Versuche abzustehen haben, im Gesetze eine Feststellung des Begriffs einer Fabrik

vorzunehmen.

Eben so wenig kann es sich empfehlen, nach dem Vorgänge englischer Gesetze die­

jenigen Etablissements speciell aufzuzählen, auf welche das vorliegende Gesetz Anwendung finden

soll.

Denn, abgesehen von der hierdurch eintretenden Kasuistik, kann eine solche Aufzählung nie­

mals vollzählig sein und wird bei der rapiden Entwickelung der modernen Industrie, welche in rascher Folge alljährlich neue Arten von Fabriken hervorruft, mit dem wirklichen Bedürfnisse nicht im Einklänge stehen.

Aus diesem Grunde verbietet es sich auch, den Umfang des Begriffs der Fabrik durch eine Hinweisung auf §.16 der Gewerbe-Ordnung für den Norddeutschen Bund zu begrenzen, zumal die

daselbst aufgezählten konzessionspflichtigen Anlagen nicht unter dem Gesichtspunkte der Gefährlichkeit in die Gewerbe-Ordnung ausgenommen sind, da der Norddeutschen Gewerbe-Gesetzgebung die Schei­

dung der gewerblichen Anlagen in etablissements dangereux, incommodes et insalubres fremd ist. Es kann sich daher nur noch fragen, ob eine Unterscheidung der Fabriken mit Rücksicht auf

ihre Gefährlichkeit unter dem Gesichtspunkte, wonach die Anwendung der Dampfkraft in den Fabriken eine besondere Gefährlichkeit bedingt, durchführbar erscheint.

Auch dies war zu verneinen.

Ab­

gesehen vor. Wind und Wasser, bewegen gegenwärtig in Fabriken auch Wärme und Gas die vor­

handenen Triebwerke, und es ist kein Grund ersichtlich, weshalb bei den durch Gas, Wärme, Wasser oder Wind bewegten Triebwerken oder denjenigen Fabriken, in welchen sich solche Triebwerke be­

finden, andere Prinzipien maßgebend sein sollen,

als bei den durch Dampf betriebenen Werken.

Hierzu kommt, daß in einer Anzahl der gefährlichsten Fabriken, wie z. B. in derjenigen, in welchen

Zündwaarm oder explodirende Stoffe zubereitet werden, in vielen chemischen Fabriken sich über­

haupt keine durch Naturkräfte bewegte Triebwerke befinden. Hiemach mußte es sich empfehlen, das Gesetz auf alle Fabriken ohne Ausnahme für an­

wendbar 5u erklären.

Wenn auf diesem Wege ersteres sich auch auf eine Anzahl von weniger ge­

fährlichen Unternehmungen beziehen wird, so ist dies beim Mangel der bei letzteren eintretenden Unglücksfälen ohne praktische Bedeutung, wogegen andererseits das erstrebte Ziel, alle gefährlichen Anlagen der Wirksamkeit des Gesetzes zu unterwerfen, mit Sicherheit erreicht ist.

Eirn Unterscheidung der Fabriken nach der Zahl der in denselben beschäftigten Arbeiter, wie dies z. B. in der Englischen Akte 30 und 31. Vict. c. 103 (15. August 1867.

An Act for the

Gesetzentwürfe.

246

extension of the Factory Acts) 3. Nr. 7 geschehen ist, erscheint für den hier angestrebten Zweck nicht ausführbar. 4. Im Uebrigen findet sich zu diesem Paragraph noch zu bemerken, daß die Worte „eine

zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes angenommene Person" dem §. 74 des Preußischen

Allgemeinen Berggesetzes entnommen sind.

Diese Worte werden im weitesten Sinne aufzufassen

sein, und namentlich auch diejenigen Bergleute umfassen, welche mit Dienstleistungen betraut werden, die für die Sicherheit des ganzen Betriebs von Wichtigkeit sind, wie z. B. die Prüfung, welche dem Einfahren in den Schacht vorauszugehen pflegt, die Herrichtung und Austheilung der Sicherheits­

lampen u. dgl. m. §. 3.

Bei der Formulirung dieses Paragraphen ist abweichend von dem Dresdener Entwurf eines Obligationenrechts Art. 1007 ff. und dem bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen

§§. 1489 ff. jede Kasuistik um so mehr vermieden, als die im §. 5 des Entwurfs dem Richter zu­

gewiesene freiere Stellung in Beurtheilung der Thatsachen und Feststellung der Höhe des Schadens mit einer solchen Spezialisirung im Widerspruch stehen würde. Als berechtigt zur Erhebung eines Anspruchs auf Ersatz des gesummten Vermögensverlustes sind nur diejenigen Personen bezeichnet, welchen von dem durch einen Unfall Getödteten Kraft des

Gesetzes Unterhalt zu gewähren war.

In Uebereinstimmung mit bem Dresdener Entwürfe kann

eine Veranlassung, über diese Grenzen hinauszugehen, nicht anerkannt werden. §. 4. Wenn das Gesetz seinen Zweck erreichen soll, so darf den Inhabern der fraglichen Anlagen

nicht gestattet sein, die Anwendung der in den §§. 1 — 3 enthaltenen Vorschriften durch Vertrag, namentlich auch nicht in den Dienstverträgen mit ihren Beamten, Arbeitern u. s. w. aus^uschließen

oder zu beschränken.

Zm Gebiet des Rheinischen Rechts versagt die Rechtsprechung vertragsmäßigen

Einschränkungen einer derartigen gesetzlichen Haftpflicht, als gegen das öffentliche Interesse und die

gute Sitte verstoßend, auf Grund des Art. 6 des Rheinischen bürgerlichen Gesetzbuchs die Geltung. Eine dem entsprechende ausdrückliche Vorschrift ist, abgesehen von dem den Transport von Gütern auf Eisenbahnen betreffenden Art. 423 Handelsgesetzbuchs, hinsichtlich der Haftung der Eisenbahnen für Beschädigungen von Personen bereits in dem Preußischen Gesetze vom 3. Mai 1869 und in dem Österreichischen Gesetze vom 5. März desselben Jahres enthalten.

sich die Bestimmung des §. 4 des Entwurfs an.

Diesen VorgÜngm schließt

Es sagt sich von selbst, daß durch diese Be­

stimmung dem Unternehmer nicht die Befugniß entzogen werden soll, sich seine Regresansprüche gegen jeden seiner Angestellten im Vertragswege, für den Fall zu sichern, daß der Unternchmer aus dem Verschulden des Angestellten in Anspruch genommen werden sollte.

§. 5. In dem überwiegend größeren Theile des Bundesgebiets bestehen für den bürgerlicken Prozeß noch positive Regeln über die Wirkung der Beweise.

Die Anwendung dieser Regeln arf die hier

in Rede stehenden Rechtsstreitigkeiten würde bei der Schwierigkeit eines formell ausreichenden Ve­ rweises, insbesondere hinsichtlich der Verschuldung (§. 2 des Entwurfs) und für die Höhe des Schadens,

die Wirksamkeit des Gesetzes beeinträchtigen und vielfach gänzlich lähmen.

Die Ueberzeugung, daß

auch in Civilprozeffen dem Richter eine freie Würdigung der Thatsache zustehen müsse, ist gegen­ wärtig fast ausnahmslos zur Herrschaft gelangt, und in den bedeutenden, in den letzten Jahren in

Deutschland zur Umgestaltung des bürgerlichen Verfahrens unternommenen gesetzgeberischer Arbeiten

überall zum Austrag gebracht (vergl. §. 421 Preuß. Entw. v. 1864, §§. 306, 307. Hanwv. Entw.,

§§.455, 457. Nordd. Entw., Art. 345., 330 der Civil-Prozeß-Ordn, für Bayern u. a.m.).

Un­

geachtet der hinsichtlich des Vortrags des thatsächlichen Materials und des Beweisverfairens, fast ausschließlich schriftlichen Natur des Preußischen Civilprozesses, hat die in einzelnen preußischen

Spezialgesetzen dem Richter anheimgegebene freie Würdigung der Thatsachen in der Anwendung

sich ebenfalls überall bewährt (vergl. §§. 111, 375 ff. der Konkurs-Ordnung vom 8. Nai 1855, §. 17 des Gesetzes vom 9. Mai 1855).

Aus der überwiegend schriftlichen Natur des in len meisten

Bundesstaaten wenigstens zur Zeit noch geltenden Civilprozesses wird daher kein maßgelender Ein­ wand gegen den Inhalt des Entwurfes hergeleitet werden können.

Die einzelnen, in )en beiden

ersten Absätzen des §. 5 des Entwurfes enthaltenen Bestimmungen fassen im Wesentlichen )en Inhalt

der §§. 455, 457 und 463 des Norddeutschen Civil-Prozeß-Entwurfs zusammen.

Hinschtlich des

Verbindlichkeit zum Schadenersatz für Tödtungen u. Verletzungen auf Eisenbahnen rc.

247

Beweisens durch Eid, sowie der Beweiskraft öffentlicher Urkunden und gerichtlicher Geständnisse war es bei iden Vorschriften der Landesgesetze zu belassen.

Der letzte Absatz des §. 5 soll nur zur Ver­

meidung von Zweifeln dienen (vergl. Seuffert, Arch. Bd. 14 Nr. 235).

Von der Zulassung eines

besonderen Gerichtsstandes etwa in der Weise, wie der §. 64 des Norddeutschen Entwurfs und der

§. 708 des bürgerlichen Gesetzbuchs für das Königreich Sachsen denselben für Forderungen aus un-

erlaubtEN Handlungen bestimmt, ist Abstand genommen.

Als selbstverständlich darf vorausgesetzt

werden,, daß der Richter bei Abschätzung des Schadens auch darauf werde Rücksicht zu nehmen haben, ob etroia dem Verletzten oder den Hinterbliebenen des Getödteten, insbesondere auf Grund von

Leistungen des Ersatzpflichtigen, Pensions- oder sonstige Entschädigungs-Ansprüche zur Seite stehen. Nur diee Schadloshaltung, nicht die Bereicherung des Beschädigten kann das Gesetz im Auge haben. §. 6. Bei Unfällen der in Rede stehenden Art entzieht der thatsächliche Vorgang sich in der Regel

nach Verlauf einiger Zeit jeder sicheren Prüfung und Feststellung. dürfniß

zur Festsetzung einer kurzen Verjährungsfrist.

Hieraus ergiebt sich das Be­

Als Anfang dieser Frist ist in Ueberein-

stimmumg mit den Grundsätzen des gemeinen Rechtes die Entstehung der Forderung angenommen.

§. 7. Der §. 7 des Entwurfs berücksichtigt die Fälle, in welchen, sei es der Inhaber der Anlage,

ein bei derselben beschäftigter Offiziant, Arbeiter u. s. w. oder ein Dritter aus eigenem Ver­

schulden: wegen einer bei dem Betriebe der Anlage herbeigeführten Tödtung oder Körperverletzung in Anspruch genommen wird.

Mit der Anwendung der §§. 3 bis

6 auf die Ersatzansprüche,

welche in den Landesgesetzen ihr Fundament haben, bezweckt der Entwurf die Vermeidung sonst sich

ergebender Ungleichheiten.

Es kann nicht wohl zulässig erscheinen, den Urheber einer Körperbeschä­

digung, der als solcher nach dem Landesrecht zu haften hat, in materieller und formeller Beziehung

günstiger zu behandeln, als den, der auf Grund des gegenwärtigen Gesetzes aus der Schuld eines

Dritten in Anspruch genommen wird.

Das Maaß der Entschädigung, welches der Urheber zu leisten

hat, darf nicht geringer sein, als dasjenige, welches dem auferlegt wird, der fremde Schuld zu ver­

treten hat.

Der Erstere darf auch nicht in der vortheilhaften Lage bleiben, daß ihm gegenüber der

Schade im Wege der strikten Regeln der partikularrechtlichen Beweistheorie erwiesen werden muß, während derjenige, der nach diesem Reichsgesetze für fremde Schuld verantwortlich gemacht wird, dem freien richterlichen Ermessen sowohl hinsichtlich der Ermittelung des Thatbestandes als der Höhe der Entschädigung sich zu unterwerfen hat.

Für die Fälle seiner Anwendung stellt sich sonach der

nach §. 3 des Entwurfs zuzubilligende Schadensersatz als das Minimum dessen dar, was dem Entschädigten zu leisten ist.

Daneben trifft der Schlußsatz Fürsorge, daß dem Berechtigten, sofern

derselbe nach dem Landesgesetz einen höheren Schadensersatz in Anspruch nehmen kann, als der §. 3

des Entwurfs gewährt, dieser Anspruch nicht entzogen wird.

Erste Berathung am 13. April 1871.

Abg. v. Unruh (Magdeburg) glaubt, daß es unmöglich sein wird, das Gesetz im Hause den berechtigten Wünschen gemäß umzuformen, und behält sich einen Antrag auf Verweisung an eine Kommission vor. Königlich preußischer Bundesbevollmächtiger, Geheimer Ober-Zustizrath Dr. Falk: Ob Sie auf Grund der heutigen Verhandlungen beschließen, die Vorlage an eine Kom­ mission zu verweisen oder nicht, in jedem Falle muß Ihr Beschluß dem Bundesrathe ein genehmer sein. Es ist ja nicht zu bezweifeln, daß bei der Wichtigkeit des Gesetzes eine eingehende, ja die eingehendste Erörterung desselben erfolgen muß und hält die hohe Versammlung zu diesem Zwecke es nöthig, die Vorberathung in einer Kommission ein­ treten zu lassen, nun, so kann man darüber streiten, aber Berechtigung wird dieser Be­ schluß jedenfalls haben; ich besorge aber, es werden sehr große sachliche Schwierigkeiten zu überwinden sein, wenn wesentlich aus dem Rahmen, den die Vorlage zieht, herausgetreten wird, und vor allen Dingen, wenn dieser Rahmen sehr ausgedehnt wird. Es ist ein solches Verlangen außerhalb dieses Hauses auch geltend gemacht worden und von nicht ungewichtigen Stimmen. Es ist auch gar nicht zu verkennen, daß manche Gründe sich für eine solche Aus­ dehnung mit vollem Fug geltend machen lassen. Es ist gewiß nicht zu bestreiten: es ist außerordentlich schwierig zu beweisen, daß ein Schaden vorhanden ist, und wie hoch er ist,

248

Gesetzentwürfe.

wenigstens in dem größten Theile des Reichsgebiets. Es lehrt das die tägliche Erfahrung; der Grund ist die positive Beweistheorie, der Ausschluß alles freien Ermessens, aller und jeder freien Bewegung des Richters. Diese Gründe treffen für alle anderen Fälle des Schadenersatzes zu, und die sind es auch gewesen die in den neuen Gesetzgebungswerken und in den Entwürfen neuer Gesetzgebungswerke, die sich mit der Civil-Prozeßordnung befaßt haben, fast ausnahmslos'dahin gedrängt haben, nicht blos das Prinzip der freien Beweiswürdigung, im Allgemeinen auszusprechen, sondern gerade für die Fälle, in denen es sich um Geltendmachung eines Schadens und um den Nachweis seiner Höhe handelt, ein ganz besonderes freies Ermessen des Richters zum Ausdruck zu bringen und vorzu­ schreiben. Der Standpunkt der Vorlage ist der: dem Richter muß, wenn es überhaupt dazu kommen soll, in solchen Fällen Gerechtigkeit herbeizuführen, die Möglichkeit der freien Bewegung und der thatsächlichen Würdigung aller Verhältnisse des einzelnen Falles gewährt werden, er muß sie würdigen, und wenn er sie würdigt, muß er nach freier Entschließung dahin kommen, zu sagen: Rente oder Kapital; zu sagen: auf Dauer gemindert oder in allen Richtungen gemindert oder vollkommen aufgehoben oder nur in einigen Richtungen beschränkt ist die Arbeitsfähigkeit dessen, der entschädigt werden muß. Es ist aber auch das materielle Recht, welches weiter trägt als die Vorlage; die Vertretung derjenigen Personen, die im Interesse eines Anderen gehandelt haben, ist in einer Weise geregelt worden, daß es allerdings ganz richtig ist: in den allermeisten Fällen kommen diejenigen, die beschädigt worden sind, nicht faktisch zum Ersätze des Schadens. Ich darf in dieser Beziehung nur auf die Bemerkungen der Motive Hin­ weisen, ich glaube zur Begründung dieses Satzes reicht es aus. — Nichtsdestoweniger hat sich die Vorlage beschränkt auf die Fälle, die sie eben enthält. Der Vorwurf ist nicht ganz zurückzuweisen, daß damit geschieht ein Vorgriff vor der Gesetzgebung, ein Eingriff und insofern ein Einbruch in das System des Prozeßrechts und in das System des Obligationenrechts. Soweit es sich um prozessualische Dinge handelt, scheint mir die Sache auch nicht gefährlich. Der §. 5 der Vorlage sanktionirt eben nur das Prinzip der freien Beweiswürdigung und zwar auch ganz besonders für den hier vorliegenden konkreten Fall der Forderung des Schadenersatzes; er steht in dieser Beziehung in vollem Einklänge mit den von mir bezogenen neueren Gesetzen und Gesetz-Entwürfen. — Die Erfahrung der Neuzeit hat den Beweis geliefert, daß das, wovon die Vorlage handelt, der brennendste Schaden ist; es handelt sich hier um Vernichtung von Menschenleben und Zerstörung der menschlichen Gesundheit, also um Fragen, die vor anderen mächtiger hervortreten, und ferner um Schäden in unerhörten Massen, weil Naturkräste hierbei thätig sind, die man eben nicht beherrschen kann, und um ein ganz besonders großes Elend als Folge für die Familien der Betroffenen. Es ist ja zweifellos, daß diejenigen, die mit ihrem Leben und ihrer Gesundheit durch Unfälle, auf die das Gesetz sich bezieht, betroffen werden, meist von ihrer Hände Arbeit existirten, und daß, wenn sie dahin­ geschieden sind, die Ihrigen in das bitterste Elend und in die bitterste Noth kommen. Das sind die Gründe, die den Schaden bei diesen Gewerbebetrieben als einen besonders schweren in die Augen fallen lassen, und wenn er besonders schwer ist, dann hat wohl die Gesetzgebung die Pflicht, zuerst an die Reparation dieses Schadens zu gehen. Diese kann nur geschaffen werden durch Ausdehnung der Haft der Unternehmer; eine andere giebt es nicht. M. H., es ist hiervorgeworfen worden, daß die Eisenbahnen und die Berg­ werke — um dabei zunächst stehen zu bleiben — sogar mit ungleichem Maße gemessen werden. Ich kann das nicht bestreiten. Bei den Eisenbahnen ist der Satz klar hingestellt worden: es wird immer beim Schaden vermuthet, daß eine Schuld seitens der Bahnverwaltung vorhanden sei, wenn ich mich so ausdrücken soll, und dafür muß der Eisenbahn-Unternehmer eintreten; er muß sonst erweisen, daß diese Schuld nicht bei ihm war, sondern bei einem Anderen, oder daß höhere Gewalt die Ursache des Schadens war. Anders ist es beim Bergwerksbesitzer; er soll nur haften, wenn Schuld von Untergebenen seiner Person obwaltet. Ich glaube doch, daß die Motive nicht Unrecht haben, wenn sie meinen, diesen Unterschied machen zu sollen. Sie führen aus, daß die

Verbindlichkeit zum Schadenersatz für Tödtungen u. Verletzungen auf Eisenbahnen rc.

249

Entwicklung der Technik, die Entwicklung der Gesichtspunkte, welche vom polizeilichen Standpunkte zu beobachten sind, in Bezug auf die zu Tage liegenden Eisenbahnen eine solche Höhe erreicht haben, daß in der That fast, ich sage fast, in allen Fällen bei strenger Beobachtung dessen, was man kennen gelernt hat und was vorgeschrieben ist, ein Schaden umgangen werden kann; und diese Thatsache ist es, die dem Gesetzgeber das Recht giebt, zu vermuthen, daß, wenn dennoch ein Schaden eingetreten ist, er durch Vernachlässigung herbeigeführt worden sei. Diese Vermuthung können Sie im Großen und Ganzen bei Bergwerken nicht in dem Maße hegen, denn es treten ja hier Faktoren ein, die Niemand beherrschen kann, vor Allem jene heillosen schlagenden Wetter, welche unter Anderem auch die furchtbaren Schäden in Lugau und Iserlohn herbeigeführt haben. — Es ist dann weiter gesagt worden, der Kreis derer, für die gehaftet werden müsse, sei zu beschränkt. Richtig ist es: für Jedermann haftet nach § 1 der EisenbahnUnternehmer; der Bergwerksbesitzer soll nach § 2 nur für seine Angestellten verantwortlich sein — allerdings für die Angestellten im allerweitesten Sinne; es ist in den Motiven zu dem Paragraphen angeführt, daß Jeder, der eine Aufsichtsfunktion irgend welcher Art, sei es vorübergehend oder dauernd, ausübt, zu den angestellten Personen gehört, die der Paragraph namhaft macht. Es ist doch aber die Kontrole der Arbeiter in Bergwerken nicht so genau möglich, wie hinsichtlich der Arbeiter bei den Eisenbahnen. — Es kommt hinzu, daß bei dem Bergwerk in der That nicht sowohl das Interesse des Publikums, wie bei den Eisenbahnen, in Frage kommt, als vielmehr das der einzelnen Arbeiter; und wenn dem so ist, so ist der Punkt kein ganz untergeordneter, daß der Arbeiter die Gefahr weiß, in die er hineintritt, wenn ich auch nicht behaupten will, daß er allein entscheidend ist. Alles dies zusammengehalten, schien, die Haftung der Bergwerksbesitzer über die Grenzen des Entwurfs hinaus auszudehnen, innerlich nicht begründet. Bei einem solchen Mangel innerlicher Begründung aber entstand eine weitere Erwägung. Es ist nicht zweifelhaft, daß eine Ausdehnung oder Auferlegung einer innerlich unbegründeten Pflicht den Bergwerksbetrieb lähmen muß, und zwar mehr als die Eisenbahn-Unternehmungen, weil er ungleich mehr wie diese abhängig ist von Zu­ fälligkeiten und vorübergehenden Umständen, und weil außerdem das Gesetz den Bergwerks-Eigenthümern in den meisten Fällen bereits erhebliche Pflichten auferlegt gegen­ über den Arbeitern. Man durfte auch die Gesetzgebung und die Praxis fremder Länder ansehen und fand, daß in Frankreich schwankende Praxis bestand, eine Praxis, die mit dem Grundsätze des Gesetz-Entwurfs theils zu vereinigen war, theils nicht, und daß in England — in dieser Beziehung jedenfalls ein Land, in dem die Verhältnisse, die in Frage kommen, im höchsten Maße obwalten — Praxis und Gesetz ganz dasselbe sagen, wie der Entwurf. Anders steht es mit den Eisenbahnen. Bei den Eisenbahnen liegt die Gesetz­ gebung anders, und in dieser Lage der Gesetzgebung lag für den Bundesrath ein weiteres greifbares Moment, den Unterschied aufrecht zu erhalten. Ich knüpfe an beim Handels­ gesetzbuch. Das Handelsgesetzbuch sichert für den Schaden der transportirten Sachen unbedingt; nur bei dem Nachweis der vis major oder der Untauglichkeit der Sache selbst tritt eine Ausnahme ein. M. H., was vis major ist im Sinne des Handelsgesetzbuchs, was höhere Gewalt heißt, und was ein unabwendbarer Zufall ist, das wird a priori wohl Niemand genügend darstellen können, das kommt immer auf den konkreten Fall an, und man wird nach den feinsten Nüancen bisweilen die Entscheidung zu treffen haben. Es ist außerdem gesagt worden, das preußische Gesetz hätte sich nicht besonders bewährt, — Gegengründe sind nicht angeführt worden. Man sagt: warum die Eisen­ bahnen so hart mitnehmen? Die Eisenbahnen sorgen ja besser für ihre Angestellten durch Pensionen wie alle anderen industriellen Unternehmungen. Ich will nicht be­ streiten, daß die Sache gegenwärtig so liegt; aber wenn ich mir vorstelle, daß in der That es viele Eisenbahn-Gesellschaften gab, die — ich spreche auf Grund offizieller Aussprüche — keinen Beamten oder Arbeiter eher dauernd anstellten, bis er einen Verzicht auf das Recht des § 25 in bindender Weise ausgestellt hatte, — (H., h.!) wenn ich mir diese beiden Umstände vergegenwärtige, als vor dem preußischen Gesetz vom Reichstags-Repertorium L

yi

250

Gesetzentwürfe.

3. Mai 1869 liegend, und sie vergleiche mit dem Zustande nach diesem Gesetze, so meine ich doch, so unwirksam sind die preußischen Gesetze nicht. Es bleibt mir noch übrig, auf den Punkt mit den Fabriken einzugehen. M. H., man hat sich nicht verhehlen können, daß es außerordentlich schwer ist zu sagen: was ist eine Fabrik. — Die Gesetzgebung hat das verschiedentlich bei uns versucht, sie hat aber die Antwort unumwunden nie geben können. Zuletzt hat der norddeutsche Reichs­ tag das auch bei der Berathung über die Gewerbe-Ordnung anerkennen müssen; denn dort ist der Ausdruck „Fabrik" gebraucht, ohne zu sagen, was darunter zu verstehen. So gut, wie in jenem Falle wird man auch wohl hier vertrauen können, daß der Richter, dem doch ganz anders schwere Fragen zur Lösung obliegen, die richtige Entscheidung zu treffen wissen wird. Es ist eine Parallele hier angedeutet worden, nämlich die: es gebe ja Gewerbe, die gefährlicher seien, als die Thätigkeit in den Fabriken, und es ist na­ mentlich hingedeutet worden auf das Baugewerbe. M. H., wir haben in Berlin einen der allertraurigsten Fälle vor einigen Zähren gehabt, wo durch Einsturz eines Hauses eine Reihe von Menschen getödtet oder beschädigt worden sind. Die preußische StaatsRegierung hat damals auf das Ernstlichste die Frage zur Erörterung gezogen, ob es möglich sei, durch Spezialgesetz in diesem Falle zu helfen, und sie hat die Frage ver­ neint, und zwar verneint, weil das gerade eine solche Stelle ist, wo der Uebergriff in die Gesammtheit des Obligationenrechts ein so naher und so ganz unvermeidlicher ist, daß, wenn man demselben nicht Einhalt thun wollte, ganz das eintreten würde, was ich mir vorhin im Allgemeinen in dieser Beziehung zu entwickeln erlaubte. In noch viel höherem Maße gilt das aber von dem Gebrauch landwirthschaftlicher Maschinen. Kom­ men wir auf diese Fälle zurück, — es werden allerdings viele Fälle sein, in denen der Begriff der Fabrik keine Anwendung findet, — so, glaube ich, wird man in der Lage sein, noch eine große Menge anderer, die ebenso schwer wiegen, zu finden und daneben zu stellen, und man wird mit solcher Thätigkeit auf den Weg gekommen sein, von dem ich fürchte, daß er der allerschlimmste ist gegenüber der Frage: kann dieses Gesetz zu Stande kommen oder nicht? Abg. Dr. Schwarze: M. H.! Ich bin mit dem Herrn Bundeskommissar in­ sofern nicht einverstanden, als er in zu großem Vertrauen, glaube ich, auf die richter­ liche Praxis über alle Bedenken und Schwächen des Entwurfs hinwegsehen zu können meint, weil er glaubt, dieselben würden durch die richterliche Praxis ausgeglichen werden. M. H., in dem vorliegenden Entwürfe werden Rechtsgrundsätze über den Be­ weis ebensowohl wie über das materielle Recht zur Geltung gebracht, die wenigstens noch nicht in allen Theilen in Deutschland ausreichende Anerkennung gefunden haben, und die namentlich in den Entscheidungen unserer Gerichtshöfe durchaus noch nicht so anerkannt sind, wie sie es wohl verdienen und, wie ich glaube, sich auch aus dem ge­ meinen Recht hätte rechtfertigen lassen. M. H., es ist ja der Fall vorgekommen, daß ein Beweis in folgender Weise auferlegt worden ist, daß der Beschädigte nachweisen sollte, daß er wirklich das Paar Hausschuhe, die er sich angeschafft, gebraucht — daß er sie habe nothwendig gehabt, wie die Entscheidung sich ausdrückt — und daß er dafür so und so viel — ich glaube 1 Gulden 30 Kreuzer — bezahlt habe. M. H., aller­ dings, wenn in solchen Minutien die ganze Beweisfrage entwickelt und abgewickelt wird, dann ist das Recht des Beschädigten selbst ziemlich gleich Null. Es ist aber auf der andern Seite nicht zu vecknnen, daß durch die Bestimmungen dieses Entwurfes eine Haftpflicht für die Eisenbahnen und anderen Unternehmungen etablirt wird, die von ungeheuer pekuniärer Bedeutung ist. Zch glaube nicht, daß man sie zu hoch anschlägt, wenn man behauptet, daß diese Sätze des Entwurfs dahin führen können, daß iw ein­ zelnen Fällen der Unternehmer, ja vielleicht die Unternehmung selbst finanziell ruinirt und die letztere aufgelöst wird. Ich erlaube mir Sie darauf zu verweisen, — ich bin ganz in dieser Beziehung mit dem Entwurf einverstanden — daß man im Anschluß an' das Handelsgesetzbuch die Worte gebraucht hat „höhere Gewalt" statt der Worte in dem preußischen Gesetze „unabwendbare äußere Zufälle". Zch erkläre mein Einverständniß mit der Wahl dieser Worte, weil ich nicht wünschen kann, daß in Bezug auf die Be-

Verbindlichkeit zum Schadenersatz für Tödtungen u. Verletzungen auf Eisenbahnen re.

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förderung der Personen wiederum ein anderer Ausdruck gewählt werde betreffs der Haft­ pflicht der Eisenbahnen, als bezüglich der Beförderung der Frachtgüter bereits im Han­ delsgesetzbuch geschehen ist. Nun, m. H., will ich mich nicht auf Autoritäten berufen, aber ich stehe sehr gern zu Diensten, den Nachweis zu führen, daß nicht nur bekannte Kommentatoren des Handelsgesetzbuchs — ich erinnere nur an den Dr. Hahn, — son­ dern daß auch die Praxis verschiedener Gerichte Deutschlands den Satz bereits vollständig und mit Entschiedenheit ausgesprochen hat: die vis major, die höhere Gewalt, ist nicht blos die Negaüon der Fahrlässigkeit, aber sie ist auch andererseits nicht geradezu iden­ tisch mit casus. Es ist ausdrücklich ausgesprochen worden, daß, wenn die Thätigkeit eines Dritten hinzutritt und dazwischen tritt, welche auch bei der strengsten Aufsicht und Vorsicht nicht vermieden werden konnte, eine Haftpflicht der Eisenbahnen für das be­ schädigte Gut nicht eintritt. M. H., da ich einmal bei diesem Punkte stehe, erlaube ich mir noch darauf hinzuweisen, daß die Worte in dem Gesetze „bei dem Betrieb einer Eisenbahn" meines Erachtens viel weiter gehen, und mit Recht weiter gehen, als die Bestimmungen des preußischen Gesetzes, wo es heißt: „bei der Beförderung auf der Bahn". Zch mache Sie ferner darauf aufmerksam, daß die Bestimmungen über die Verträge seitens der Direktoren nach meinem Ermessen allerdings einer Einschränkung bedürfen werden, weil, wie es jetzt zu sein scheint, dem Leben und der Wahrheit geradezu ins Gesicht geschlagen wird, da wir uns doch denken können, daß in einer Weise für die angeführte Sicherheit Sorge getragen werden kann, daß der Schaden nicht so hoch bemessen werden darf, als er un­ mittelbar durch den Unfall selbst sich herausstellen würde. Zch mache darauf aufmerksam, daß die Bestimmungen über die Verjährung bereits, wie Sie gehört haben, eine drei­ fach verschiedene Auslegung gefunden haben. M. H., was die Haftpflicht der Eisen­ bahnen selbst anlangt, so ist die Ausdehnung, welche derselben im vorliegenden Entwurf gegeben worden ist, aus mehrfachen Gründen bestritten worden. Zch sollte glauben, daß die Behauptung, daß wir den Eisenbahnen eine viel weiter gehende Verpflichtung auf­ erlegten, als sie in dem bisherigen Rechte begründet gewesen ist, nicht zutrifft, und daß die alte Ansicht, die als Examenfrage die Runde durch die ganze Welt macht, daß Je­ mand nur hafte für die Wahl und die Aussicht der Gehülfen, bei der Ausführung der von Dritten ihm übertragenen Arbeit eine völlig unrichtige ist, und schon im Gemeinen Recht eine nicht begründete gewesen ist. Ich möchte namentlich glauben, daß wir den römischen Zuristen nicht zumuthen dürfen, daß sie diese seltsame Ansicht aufgestellt haben, wie unsere gelehrten Zuristen aus Liebe zur systematischen Behandlung der Sache sie immer vorgetragen haben bis in die neueste Zeit. Was aber speziell die Eisenbahnen anlangt, so liegt es in der Natur der Sache, daß der-Passagier gar nicht im Stande ist, die Thätigkeit der einzelnen Beamten bei seiner Beförderung irgendwie zu kontroliren oder irgendwie für seine eigene Sicherheit Sorge zu tragen. Zn der Praxis habe ich aus allen Fällen, oder doch den meisten Fällen, die mir mit vorgelegen haben, mich überzeugt, daß es geradezu unmöglich ist, den Beweis des Unfalles so zu führen, daß man beweisen kann, es fällt hierbei der Eisenbahn eine bestimmte, spezielle Schuld zur Last. Die Eisenbahn macht diesen Beweis uns oft geradezu unmöglich dadurch, daß sie mit aller Schnelligkeit in einzelnen Fällen, wie es die ungestörte Fortsetzung des Be­ triebes erfordert, den Plan wieder ebnet und alle Spuren des Unfalles beseitigt. Was die vielfach besprochene Frage der Bergarbeiter anlangt, so muß ich aller­ dings auch bekennen, daß mir die Motive des Entwurfs nicht recht zugesagt haben, und die Ausführungen des Herrn Bundesbevollmächtigten scheinen mir doch auch zu bestätigen, daß man an die Stelle des Bergunternehmers nur braucht den Eisenbahn-Unternehmer zu setzen und dann hat man dieselbe Raison und dasselbe Resultat. Zch möchte geradezu behaupten, daß der Grundsatz, auf dem die Haftpflicht der Eisenbahn etablirt ist, wesent­ lich übereinstimmt mit der Haftpflicht, die wir dem Bergunternehmer auflegen wollen, denn es wird ja auch dem Eisenbahn-Unternehmer nicht die volle Vertretung jedes Zu­ falls angesonnen, sondern es wird ausdrücklich die Veäretung der vis major ausgenom­

men, und es scheint mir dasselbe bei den Bergunternehmern zu sein; und dann tritt noch ein national-ökonomischer Grund hinzu, den ich nicht mißzuverstehen bitte, es tritt 17*

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bei den Eisenbahnen hinzu das Interesse des Publikums, welches sich der Eisenbahn an­ vertraut und in der Eisenbahn fast das ausschließliche Mittel der Beförderung erblickt und gar nicht im Stande ist, in dem Maße über die Benutzung der Eisenbahn zu disponiren wie bei irgend einer andern Fahrgelegenheit. Abg. Dr. Becker: M. H., man begegnet sehr häufig der Erscheinung, daß, wenn ein Gesetz-Entwurf neue Rechts-Grundsätze einzuführen versucht, an diesem ersten Versuche schon von einem idealistischen Standpunkte aus eine Kritik geübt wird, die aber in Wirklichkeit nichts weniger als das Ideale zu erreichen sucht, sondern die nur darauf ausgeht, auch das nicht zu Stande kommen zu lassen, was als Anfang angeboten wird. Diese Empfindung habe ich namentlich gehabt, als ich die Denkschrift zur Hand genommen hatte, die uns der Verein der Privat-Eisenbahnen im deutschen Reiche zugeschickt hat. Es haben die Eisenbahnen selbst in ihrer Denkschrift ein sehr gutes Motiv beigebracht, weshalb wir uns Alle recht sehr vorsehen sollen, wenn wir ihre Pflichten und Rechte bemessen. Sie sagen: „Von den Unglücksfällen auf den Eisenbahnen wird weit mehr gesprochen und in den Zeitungen geschrieben, als von allen anderen, und in der Regel mit großer Uebertreibung, weil es kaum eine Person gibt, die nicht bei der Sicherheit der Eisenbahnen für sich selbst interessirt ist, denn Jeder kommt in die Lage, sich ihrer zu bedienen." Ja, m. H., das ist die Antwort, die ich den Eisenbahnen gebe, wenn sie mich fragen, weshalb ich ihnen ganz besonders auf die Finger sehen möchte. Uebrigens will ich mir dabei eine Bemerkung erlauben. Wenn die Eisenbahn-Direktionen darauf Hinweisen, daß die Zeitungen so viel über die Unglücke, die auf den Bahnen vorkommen, schreiben, so kann ich aus einer sehr langen Erfahrung sagen: es wird noch lange nicht genug von den Zeitungen darüber ge­ schrieben, (S. r.!) denn, m. H., — ich bezeuge das hier in der größten Oeffentlichkeit und an der feierlichsten Stelle, an welcher über diese Dinge gesprochen werden kann — die Eisenbahnen wissen Mittel und Wege, um der Tagespresse den Mund zu ver­ schließen, (S. r., s. g.!) und eines der allergewöhnlichsten, dem die kleine Presse beson­ ders häufig unterliegt, ist, daß die Eisenbahn-Annoncen einem Blatte entzogen werden. Dann entsteht ein Konflikt zwischen dem Unternehmer des Blattes und dem Redakteur, und in diesem Konflikte behält der Verleger des Blattes, welcher sagt: „ich muß von meinem Blatte leben!" Recht, und die Eisenbahnen haben den Vortheil davon. — Ein anderer Grund, der mich veranlaßt, bei Prüfung dieses Gesetzes den § 1 anders zu be­ handeln wie die Uebrigen, ist die glückliche Thatsache, daß unsere Gesetzgebung hinsicht­ lich der Verantwortlichkeit der Eisenbahnen schon recht weit entwickelt ist. — M. der § 1 ist nach meiner Auffassung etwas für sich Stehendes; .man wird also wohl thun, ihn für sich zu behandeln, und wenn die verbündeten Regierungen, um mich so auszudrücken, pfiffig hätten handeln wollen, da konnten sie uns eine Vorlage machen mit dem § 1 allein, und die anderen Sachen uns in einer zweiten Vorlage bringen. Es wäre dies ein Weg gewesen, der rascher zum Ziel geführt und eine Menge von Einreden abgeschnitten hätte. — Der § 2 ist nun allerdings auch nach meiner Auffassung außerordentlich der Verbesserung fähig, würdig und auch bedürftig, (S. g.!) und ich für meinen Theil werde gewiß gern dazu beitragen, die Lücken auszufüllen. Aber — und das sage ich mit Bezug auf die Schlußfrage, die der Herr Präsident ja heute an uns richten wird — soll ich heute sagen ob auf Grundlage des Paragraphen, und so, wie er formulirt ist, die Sache diskutirt und zu einem vorläufigen Beschlusse ge­ führt werden kann, so bin ich der Meinung, daß sie es kann. M. H., wenn es je angemessen ist, zu sagen, das Bessere ist der Feind des Guten, so ist es hier. Die­ jenigen,'welche wünschen, daß die Verantwortlichkeit weiter ausgedehnt werde auf eine Menge anderer Unternehmer, auf eine Reihe von Gebieten, die zu anderen Betriebs­ zweigen gehören, als die in der Vorlage aufgeführten, alle diejenigen, die wünschen, daß das, wenn auch erst künftig geschehe, die müssen uns heute helfen die erste Bresche schießen in die bestehende Gesetzgebung, welche dem Beschädigten nur subsidiär eine Ver­ tretung des Schadens durch den Unternehmer zusichert. Können wir bei diesem Gesetze den § 2 verbessern, so thun wir es ja! ist es aber nicht anders zu machen, als daß

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wir den § 2 für's erste innerhalb der knapp bemessenen Schranken, in denen er an­ geboten wird, lassen, dann nehmen wir ihn an, denke ich; und von diesem Gesichts­ punkte aus, gebe ich mein Votum dahin, daß ich nicht wünsche, daß diese Vorlage in eine Kommission verwiesen werde, sondern, daß sie im Plenum behandelt werde. M. H-, ich will keiner Kommission ein Mißtrauensvotum geben; aber malen Sie Sich aus, wie es gehen würde, wenn eine Kommission gewählt würde, die dieses Gesetz vor­ berathen sollte! Dann entstände vor Allem wieder die böse Frage, wer hier klüger und gescheiter sei, der römische Jurist oder der sogenannte technische Sachverständige? — Der „technische Sachverständige" hat sich bereits gemeldet. (H-) In diesem Falle ist vor einigen Jahren im Zollparlament das Wort gefallen: wenn Sie Vorlagen prüfen, die sich auf die Zollgesetzgebung beziehen, und die Sachverständigen wollen erst gehört werden, so seien Sie versichert: es sind die — Interessenten. (Wiederholte H.) M. H., ich kenne in dieser Frage keine höheren Interessen als diejenigen, die Jeder, sowohl in diesem Hause wie außerhalb desselben, hat. Es sind das wirklich die allge­ meinsten Interessen der Arbeit, der Volkswirthschaft, die gedacht werden können, und über die sind wir befähigt und verpflichtet, auch in der Vorberathung vor Aller Ohren zu reden. Also, m. H., diese Vorlage, ich bitte, an keine Kommission! (Br.!) Abg. vr. Bamberger: M. H., ich glaube, es hat sich aus der bisherigen Dis­ kussion reichlich ergeben, daß nur, wer das Gesetz will zum Scheitern bringen, es an eine Kommission verweisen kann. (Oh! l.) Nicht in Absicht, m. H., — unabsicht­ lich, meine ich. Denn, m. H., es ist ein zu „ungründliches" Gesetz, als daß es einer Untersuchung in einer Kommission widerstehen könnte. Sein Ruhm ist gerade sein Reichthum an Widerspruch, und ich glaube, die Bundesbehörde hat unsern Dank verdient, indem sie das undankbare Geschäft, so zu sagen das Odium, auf sich lud, uns hier ein Gesetz einzubringen, von dem sie wie ich, auch ehe ich das Geständniß von Seiten des Herrn Vertreters des Bundesrathes vernommen hatte, von vorne herein überzeugt war, daß es mit den Waffen der Kritik an jeder Stelle am leichtesten zu durchlöchern wäre. Wenn Sie am Faden der strengen Konsequenz, der Logik, der herkömmlichen Jurisprudenz dieses Gesetz zerklüften und zerspalten wollen, so werden Sie noch viel mehr, als es heute geschehen ist, Schritt vor Schritt zeigen können, daß es nicht Stich hält. Es ist aber von diesem Gesichtspunkte nicht zu behandeln. Sie können sich zum Beispiel nicht auf den Grund stützen, daß sie sagen: das Publi­ kum sei mehr gezwungen, zu reisen, als der Arbeiter, in die Bergwerke zu gehen; das Gegentheil möchte viel leichter zu beweisen sein. Der alte Pascal hat schon mit Recht gesagt: der größte Theil alles Unglücks in der Welt komme daher, daß die Leute nicht ruhig zu Hause bleiben könnten — eine Lehre, die sich seine Landsleute, in dem letzten Jahre namentlich, mit gutem Erfolge hätten merken können. M. H., ebenso verhält es sich mit der Beziehung auf die unbesiegbaren Naturkräfte. Setzen Sie doch einer Eisen­ bahn und den von ihr angewendeten gefährlichen Naturkräften eine Pulverfabrik, eine Fabrik von Dynamit oder Nitroglycerin entgegen, und Sie werden sagen müssen, es sind für diese Fabriken noch viel schärfere Verhütungsmaßregeln und Abschreckungsmittel nothwendig als für Eisenbahnen. Nehmen Sie die Zahl der Arbeiter, die als Grund angegeben ist, so hält auch das nicht Stich. Ich leugne entschieden, daß bei einem Bergwerke mehr Arbeiter angestellt und schwerer zu übersehen sind als bei einer großen Eisenbahn. Ich leugne auch, daß es sehr in's Gewicht fällt, was man behauptet, daß die Abschreckungstheorie als Mittel diejenigen, welche mit der Verwal­ tung der Sache betraut sind, zu größerer Sorgfalt anzuhalten, daß das auch vor­ wiegend auf die Eisenbahnen mit größerer Stärke und Konzentration angewendet wer­ den muß. Ich glaube, in der Privatindustrie würde man viel stärker einwirken mit Abschreckungsmitteln als bei den Eisenbahnen, die von großen Gesellschaften administrirt werden. Wer verliert denn, wenn eine Eisenbahn-Verwaltung zum Schadenersatz verurtheilt wird? Es verliert der Aktionär! der Aktionär, eines der geduldigsten Thiere, die die Welt je gesehen hat, (H.) — der Aktionär, bei dem es zu verwundern ist, daß Dank ibm die Republik und der Grundsatz der Selbstverwaltung noch nicht allen Kredit

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verloren Ijat. (H.) Za, m. H., wenn Sie bei den Eisenbahnen den Grundsatz ein­ führen wollten, den unsere Präfekten in den eroberten Provinzen eingeführt haben, daß ein hohes Mitglied des Verwaltungsrathes auf der Lokomotive mitfahren mußte, (H.) dann würde ich vielleicht glauben, daß Maßregeln dieser Art zu einem besseren Betriebe führen möchten. Aber wenn der Aktionär am Ende des Jahres einige Groschen weniger bekommt, weil eine Entschädigungssumme bezahlt werden muß, so führt dies durchaus nicht zur Verhütung von Unglücksfällen, und die Beispiele sind sehr selten, daß beim Eintreten eines Unglücksfalles die Aktien der betreffenden Gesellschaft nur erheblich ge­ fallen wären. Alle diese Gründe sind nicht stichhaltig, noch viel weniger die, welche Sie aus den Grundsätzen der culpa, der Haftbarkeit, der Verantwortlichkeit, ableiten können. Wenn Sie sich auf den richtigen Standpunkt der Sache stellen wollen, so müssen Sie ehrlich und unumwunden ein Geständniß machen und sagen: wir haben rein aus den faktischen Verhältnissen geschöpft, wir haben ein Gesetz gemacht, wie es die Entwickelung der Zeit gegeben hat, und wie wir es nicht heute zum ersten Male machen. M. H., man hat sich ganz vergeblich, meiner Ansicht nach, gequält, das geistige Eigentumsrecht auf altrömisches Recht oder auf französisches Recht oder auf ein alther­ kömmliches Konglomerat, auf einen herkömmlichen Kodex zu stützen; das ist aber Alles nicht ausreichend, wir müssen einsehen, daß neue-'Verhältnisse, eine ganze neue Welt­ gestaltung, auch ganz neue Rechtsmaximen nöthig machen, und wir werden stets besser thun, wenn wir auf dieser selbstgeschaffenen Rechtsbasis jetzt gesetzliche Bestimmungen bauen, als wenn wir unter dem Vorwande, auf alten überlieferten Rechtsgrundsätzen, Pandekten oder anderen Maximen zu fußen, etwas in die Luft bauen, was von dem ersten besten Zuristen wieder herabgerissen werden kann. M. H., das Schwergewicht der ganzen Sache liegt nicht einmal in der Frage, ob eine Unternehmung für ihre Arbeiter verantwortlich sein soll oder nicht, sie liegt eigentlich ganz allein in der Last des Beweises. Der große Unterschied zwischen einer Eisenbahn und den anderen hier ins Auge gefaßten Unternehmungen ist der, daß die Eisenbahn ihre Schuldlosigkeit beweisen muß, und Sie werden wohl nicht daran zweifeln, daß in diesem ganzen Gesetz mit wenigen Ausnahmen derjenige zum Schaden verurtheilt ist, der den Nachweis leisten muß. Man hätte mit einer ganz kleinen Ab­ weichung sagen können: die Eisenbahn muß überhaupt bezahlen, der andere Unter­ nehmer muß eben nur in denjenigen Ausnahmsfällen bezahlen, bei denen man den Schaden nachweisen kann. Die französische Gesetzgebung hat einen ganz allgemeinen Grundsatz, dessen Anwendung auf die gegenwärtigen Fälle rein der Jurisprudenz zu verdanken ist, und es ist im höchsten Grade interessant, zu sehen, wie das Gesetz, das wir jetzt machen, aus dem Geist der Zeit hervorgegangen ist, wenn man die Schwan­ kungen verfolgt, welche die französische Jurisprudenz bis in die vierziger Jahre hinein beobachtet hat. Bis Ende der vierziger Jahre war die Interpretation des Artikels 1382 des Code Napoleon, welcher Jeden für sein Thun und Lassen verantwortlich macht, im höchsten Grade streng begrenzt; wenn nicht nachgewiesen wurde, daß er schuldig war, wurde selten Jemand verurtheilt, einen Arbeiter, Dienstmann oder dritten Beschädigten schadlos zu halten; ja es ist sogar der Grundsatz, daß, wenn ein Arbeiter den anderen in derselben Fabrik in Schaden gebracht hatte, der Fabrikherr nicht zum Schadenersatz verpflichtet sei, von dem französischen Appellhofe bis in die vierziger Jahre hinein mehr­ fach ausgesprochen worden. In der neuesten Zeit, namentlich in der Zeit des Kaiser­ tums, wo eine Art socialistischer, socialdemokratischer Strömung unter der despotischen Strömung des Kaisertums durchging, hat sich die Rechtsprechung entschieden gewendet, und hat eine ganz andere Auslegung des Artikels 1382 gegeben, eine viel extravagantere, als sie vorher war. Um einige Beispiele ganz prägnanter Art zu zeigen, erinnere ich nur an den Fall, wo in einem Eisenbahnhof ein großer Ofen war, der zum Schmelzen von Metallen oder Aehnlichem benutzt wurde. Dieser Ofen war in Winternächten noch sehr heiß, und es kam in einer sehr kalten Winternacht vor, daß Arbeiter, um ihren Frost zu bekämpfen, sich auf die Oberfläche dieses Ofens zum Schlafen niederlegten. Zwei von den Arbeitern starben eines langsamen Verbrennungstodes auf diesem Ofen,

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und das Gericht verurtheilte die Eisenbahn-Verwaltung, die hinterlassenen Familien dieser beiden Arbeiter zu entschädigen, weil es sagte, es läge hier die Verführung, sich auf den warmen Ofen zu legen, so nahe, daß die Eisenbahn-Verwaltung hätte Vor­ sichtsmaßregeln ergreifen sollen gegen diese natürliche Versuchung, welche diese Arbeiter erfaßte. (H.) Za, m. H., ein viel weiter gehendes Beispiel ist folgendes. Zn einem Hause kam es vor, daß im dritten Stock ein bescheidener Bürgersmann wohnte, der eine junge Tochter hatte. Unten im Hause war ein Portier, der keine sehr tugend­ haften Grundsätze hatte, und dieser Portier brachte es durch Gesellschaft, die er in das Haus führte, dahin, daß das junge Mädchen verführt wurde und in diejenige Lage kam, welche die gewöhnliche Folge der Verführung zu sein pflegt. Nun, m. H., auf Antrag des Vaters hat ein französischer Appellhof den Eigenthümer des Hauses, zu dem der Thürsteher gehört, verurtheilt, eine Entschädigung zu zahlen. (Gr. anhaltende H.) — M. H., wenn ich eine Sammlung der Gazette des tribunaux oder des Droit vor­ nehme, so mache ich mich anheischig, in jedem Zahrgange eine Menge von Fällen zu citiren, die zwar nicht ganz so extravagant sind, aber sich doch ganz gut mit diesem hier vergleichen lassen. Es ist etwas ganz Gewöhnliches, daß, wenn ein Pferdevermiether einem Manne, der nicht gut reiten kaun, ein Pferd giebt, das etwas kräf­ tiges Blut hat und den Reiter abwirft, der Pferdevermiether verurtheilt wird, weil man sagt: du hättest dich erkundigen sollen, ob der Mann reiten kann oder nicht. Nach dieser Richtung wurde lange Zeit in Frankreich judicirt; es hat sich aber in der letzten Zeit gerade in Folge der Reaktion, welche diese Ertravaganz hervorgerufen hatte, eine andere Richtung wieder in Frankreich Bahn gebrochen, und man ist mehr in die Grundsätze richtiger Verantwortlichkeit zurückgegangen. — Dies, m. H., möge Zhnen beweisen, daß es für uns nicht gut wäre, wenn wir die Grundsätze des Arti­ kels 1382, vervollkommnet durch den Artikel 1384, des Code Napoleon bei uns geradezu einführen wollten, und der Herr Vertreter der Bundesbehörden hat meiner Ansicht nach auf das Schlagendste nachgewiesen, daß wir uns in Irrthümer verlaufen würden, wenn wir heute allgemeine Grundsätze des Obligationenrechts in die besondere Aufgabe hinein­ ziehen wollten. Was wir thun müssen, ist, das Beweisverfahren in diesem Gesetz zu vereinfachen. Das österreichische Gesetz vom Zahre 1869, welches sich mit dieser Ma­ terie besaßt, glaubte noch einen Schritt weiter thun zu müssen, indem es diese Fälle an die Handelsgerichte verwies, und das würde sich bei uns speziell um so mehr empfehlen, als wir ein gemeinsam deutsches Ober-Handelsgericht jetzt schon haben; ich trage aber doch Bedenken wegen zahlreicher civilrechtlicher Grundsätze, die hier zur An­ wendung kommen, diesen Weg anzurathen. Abg. Graf von Beth usy-Huc: M. H., ich möchte die Ungleichartigkeit indem Maße, in welchem das Gesetz uns dieselbe vorschlägt, nicht erhalten, ich möchte aber nicht den §. 1 zu Gunsten des §. 2, sondern ich möchte den §. 2 zu Gunsten des §. 1 modifieirt haben mit dem Herrn Abgeordneten für Dortmund. Mir scheint für eine strengere Haftbarkeit der Bergwerksbesitzer und anderer Besitzer von gewerblichen Institutionen der Umstand zu sprechen, daß sie allein die Gewinnchancen haben, und es ihnen folglich auch obliegt, die Verlustchancen allein zu tragen, das ganze Risiko nach oben und unten auf ihr Haupt zu nehmen und die Arbeiter, so viel möglich, davon frei zu machen. — Nun sagt man, das Fallen des Risikos auf die Unternehmer würde die Unternehmer in vielen Fällen über ihr Vermögen belasten, würde den Zudrang zur Gründung industrieller Etablissements verringern und dadurch indirekt weniger die Unternehmer als wiederum rückwärts wirkend die Arbeiter selbst dadurch schädigen, daß eben weniger Etablissements ins Leben treten. Diese Deduktion hat einen Schein der Berechtigung. Aber, m. H., in der Praxis bilden die dem Unternehmer über seine Kräfte fallenden Schäden die Ausnahme, während jeder Schaden, von dem in solchen Fällen ein Arbeiter und seine hinterlassene Familie betroffen wird, in der Regel, ja fast immer, seine Kräfte übersteigt und ein wirkliches Elend zur unmittelbaren Folge hat. Ferner wird es dem Kapitalisten leicht sein, in Verbindung mit anderen Kapitalisten, mit Unternehmern gleicher Anstalten sich auf einem großen Gebiete gegen das Eintreten

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solcher Unglücksfälle durch Bildung von Assekuranzgesellschaften zu versichern; eire solche Assekuranzgesellschast unter den Arbeitern zu gründen, wird erheblich mehr Schwierig­ keiten haben. — M. H., ich fürchte mich in der That sehr wenig vor dem oft ms hier drohend vor Augen geführten Gespenst der sozialen Bewegung; ich habe in dieser Be­ ziehung zu unserem deutschen Volke sehr gutes Vertrauen: der Unsinn wirkt in dem­ selben nur sporadisch, nur vorübergehend, auf die Dauer wird der Widersinn in unserem Vaterlande, so Gott will, noch lange keine Wurzel fassen. Ich erlaube mir aber darauf aufmerksam zu machen, daß das beste Vorbeugungsmittel gegen das Einbrechm einer solchen Krankheit das ist, den berechtigten Klagen des Arbeiterstandes da von vornherein abzuhelfen, wo sie eine in ihrem Eintreten unbillige und unerträgliche Härte imolviren. Mir scheint in der That dieses Gesetz auf sozialem Gebiet eine hervorragende Bedeutung zu haben, welche ich Ihrer Beachtung dringend empfehle. Ich meine aber, daß die von früheren Rednern gründlich hervorgehobenen Gegensätze sich besser klären und rascher vereinen lassen werden in einer Behandlung durch eine Kommission als hier im Hause. Abg. Duncker: M. H.! Ich kann mich nicht dafür entscheiden, gerade diesen Gesetzentwurf an eine Kommission zu verweisen, wie ich das sonst allerdings bei verwickelteren Gesetzen gern gethan habe. ®enn das Wesentlichste bei diesem Gesetzentwurf oder in der Verbesserung dieses Gesetzentwurfs wird ja eben die Entscheidung über bestimmte Principienfragen sein, die Entscheidung darüber, ob eben alle industriellen Unternehmungen in der gleichen Weise behandelt werden sollen. Nun, m. H., wenn ich mich frage, was ist bisher zur Entkräftung der hervorgehobenen ungleichen Behandlung der verschiedenen industriellen Unternehmungen in 1 und 2 vorgebracht worden, so muß ich sagen, daß mich die sämmtlichen Ausführungen und auch die sonst so ganz vor­ zügliche Darlegung des Herrn Bundeskommissars, der ich sonst in den meisten Dingen zustimmen kann, nicht dahin gebracht haben, daß ich anerkennen könnte, der Beweis sei geführt. M. H., der Herr Bundeskommiffar seinerseits hat vorzugsweise den Unterschied dadurch zu motiviren gesucht, daß er ausgeführt hat, ja in Bezug auf die Eisenbahnen sei die Technik allerdings soweit vorgeschritten, daß man mit Fug und Recht die Ver­ waltung der Bahnen für alle Unfälle, die auf denselben vorkommen, verantwortlich machen könnte, während in Beziehung auf die Bergwerke er nicht zugeben wollte, daß dort die Fortschritte der Technik derartig seien, daß man mit einer gleichen Zuversicht jeden Unfall, jedes Hervordrängen der Naturgewalten verhindern könnte. Zch glaube, daß man in dieser rein technischen Beziehung einen Unterschied zwischen Eisenbahnen einerseits und Fabriken und Bergwerken anderseits nicht machen kann. Wenn ich dem Herrn Bundeskommissar auch ganz darin beipflichte, daß wir uns, um eben diesem richtigen Princip eine Bahn zu brechen, beschränken sollen gerade auf das dringendste Bedürfniß, auf die brennendsten Schäden, so meine ich das Gesetz, wie es hier vorliegt, würde grade dieses dringendste Bedürfniß und die brennendsten Schäden nicht treffen. Denn, m. H., theils ist durch die preußische Eisenbahn-Gesetzgebung wenigstens der Grundsatz, der hier im §. 1 aufgestellt ist, schon eingeführt, theils aber, und das ist für mich das Ueberzeugende, sind die Unfälle, die bei den Eisenbahnen vorkommen, in der Minderzahl gegen die Unfälle, die grade in Bergwerkm und bei industriellen Unternehmungen vorkommen. Wenn ich mich erinnere, was eizentlich den Anlaß zu den Petitionen und zu der damaligen Resolution des Reichstages gegeben hat, so waren es grade jene großen beklagenswerthen Unglücksfälle in den Bergwerken zu Lugau, Iserlohn und dem Plauenschen Grunde. M. H., wenn ich mich nun frage, ob durch den Erlaß dieses Gesetzes, wie es jetzt vorliegt, bei einem solcher Unglücks­ falle irgend eine Aenderung gegen den jetzigen Zustand eintreten würde, w muß ich diese Frage verneinen. Denn, m. H., wenn solche Unglücksfälle eintreten, wenn eine solche Explosion in einem Bergwerke stattgefunden hat, durch welche alle dort unten befindlichen Arbeiter getödtet, die Maschinen vernichtet, die Bauten verschüttet worden sind, wie sollen da die Hinterbliebenen der Arbeiter hernach dem Gruberbesitzer den Nachweis führen, daß dies Unglück durch ein Verschulden seiner Angestelten herbei­ geführt ist? Zch glaube also, wenn man seine Argumentation auch nur aus dem drin-

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gendem Bedürfniß hernimmt, so wird man niemals zugeben können, daß der §. 2 von einem andern Grundsatz ausgehen darf als der tz. 1. — Ich meine, der einzig richtige Grundsatz, den wir versuchen sollten auf jede Weise in die Gesetzgebung zu bringen, knüpft, sich an den einen Satz, den der Herr Bundeskommissar ausgesprochen hat, und' der umgeführ so lautete: wenn es Jemand unternimmt, Naturkräfte in seinen Dienst zunehnnen, die — darf ich wohl hinzufügen — geneigt sind, jeden Augenblick gegen die beherrschende Hand des Menschen wieder zu rebelliren, dann muß derjenige, der sie in seinen Dienst nimmt und aus ihrer Benutzung Gewinn zieht, an erster Stelle haften für a!lle Unglücksfälle, die bei dem Betriebe dieses Unternehmens entstehen, meiner Ansichtt nach ganz ohne Unterschied, ob hier ein Verschulden nachzuweisen ist oder nicht. In bert weitaus meisten Fällen wird nur der Arbeiter von den Gefahren betroffen, währemd der Unternehmer sich kaum denselben aussetzt; und wenn wir es, m. H., in der jümgsten Kriegs ar beit als ein Glück und einen Vorzug unseres Landes und unseren- Heeresorganisation gepriesen haben, daß derjenige, der berufen ist, die Truppen zu führen, auch mit ihnen in gleicher Weise die Gefahren theilt, mit gleicher Chance und gleichem Muthe dem Tode entgegengeht, so meine'ich, daß wir diesen Grundsatz auch amf das Gebiet der friedlichen Arbeit übertragen sollten und an diejenigen, die die Führer sind der großen Arbeiterbevölkerung, die Zumuthung mit vollem Rechte stellen dürfen, daß sie wenigstens die materiellen Folgen der Gefahren mit ihnen solidarisch tragen! (Br.!) Abg. Lasker: M. H.! Wir berathen das gegenwärtige Gesetz allerdings unter einem Strome der öffentlichen Meinung. Ich halte dies für einen Vortheil, wünsche aber, Laß der Strom uns nicht zu weit vom Ziele abtreibe. Ich bin gegen eine Ver­ weisung an die Kommission, weil die Einleitung des Gesetzes eine derartige ist, daß wir uns jetzt bereits darüber schlüssig machen können, diesen Theil des Gesetzes ohne Weiteres anzunehmen, und weil die Schwierigkeiten erst bei §. 2 beginnen, wo es mir viel besser scheinen würde, aus dem Hause zunächst die verschiedenen Ansichten in bestimmten Anträgen hervorzulocken und dann zu überlegen, ob Grund vorhanden ist, diese verschiedenen Vorschläge einer Kommission zu überweisen. — Wenn ich frage warum sind die Eisenbahnen für Alles verantwortlich bis auf den nachgewiesenen höheren Zufall, so finde ich dafür die ganz natürliche Erklärung entnommen aus der Natur der Eisenbahnen, welche bis jetzt noch keine gesetzliche Formel gesunden haben. Der ganze Eisenbahn-Verkehr paßt noch nicht in unsere alte Jurisprudenz hinein. Ich habe Einige fragen hören: wenn man die Eisenbahnen mit der vollen Verantwortlichkeit belastet, warum nicht auch andere Beförderer, wie etwa einen Omnibus-Fuhrmann? Ich gebe gern zu, daß der äußere Wortklang diese Beiden verbindet, sie betreiben Beide das Fracht- und Fuhr-Handwerk, das Handwerk der Personen-Beförderung. Das aber wird mir alle Welt gestehen, daß die Mittel, die diesen beiden Personen zu Gebote stehen, um Unglück abzuwenden und für Schaden aufzukommen, und unsere Beziehungen zu diesen Personen durchaus nicht dieselben sind. Die Eisenbahnen müssen vermöge ihres Geschäftes nothwendiger Weise die Sorgfalt der Beaufsichtigung so weit ausdehnen, wie kein Privatmann es für sich thun kann. Eigentlich müßten die Eisenbahnen nicht allein von 10 zu 10 Minuten Häuser haben, in denen die Beaufsichtigenden wohnen, sondern sie müßten Patrouillen halten, die stets die Bahn entlang gehen, um in jedem Augenblicke nachsehen zu können, ob nicht Hindernisse sich noch entfernen lassen. Dies würde natürlich zu theuer kommen, und in Folge dessen richten es sich die Eisenbahnen so ein, daß sie nur in der Entfernung von 10 zu 10 Minuten solche Häuser haben, und statt der fortlaufenden Patrouillen gehen die Leute jede halbe Stunde oder jede Stunde einmal und beaufsichtigen ihre Strecke. Aber, wenn wir den Eisenbahnen die fortlaufenden Patrouillen erlassen, so ist die natürliche Folge, daß sie den Zufall tragen müssen, der in der Zwischenzeit einen Schaden hervorgebracht hat. Daraus, m. H., werden Sie ersehen, daß zwischen den Eisenbahnen und allen übrigen Unternehmungen thatsächlich ein großer Unterschied obwaltet, daß bei den übrigen Unternehmungen die gleiche Möglichkeit, in jedem Augenblicke zu kontroliren, die gleiche Möglichkeit einer

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Fürsorge, wie sie bei der Eisenbahn thatsächlich walten muß, nicht vorhanden ist, und es wird unsere Aufgabe sein, zu untersuchen, wo die Verschiedenheit anfängt, um der Verschiedenheit gemäß zu handeln. — Gegen den §. 2 habe ich Anstände verschiedener Art, von denen ich jedoch, nur einen hervorheben will; ich meine die Abgrenzung in Bezug auf Fabriken. Einer Special-Gesetzgebung widerstrebe ich nicht. Man nennt sie ein Gelegenheitsgesetz; darauf erwidere ich, wie Göthe selbst bezeugt hat, die Gelegenheits­ Gedichte seien die besten und einzigen. Gerade so verhält es sich mit den Gelegenheits­ Gesetzen; es sind die besten. Ich habe also nichts dagegen, daß wir anticipiren in Beziehung auf einen einzelnen Punkt, der in unserer Gesetzgebung sehr schlecht geregelt ist. Aber ob wir vorschreiben dürfen, daß der „Fabrikbetrieb" der Grund einer be­ stimmten andersartigen Entschädigungsart sein soll, darüber bin ich sehr in Zweifel. Ich habe acht Jahre lang mit der Frage, was ein Fabrikbetrieb sei, zu thun gehabt als Konkursrichter am hiesigen Stadtgericht und war selbst oft in der Lage, entscheiden zu müssen, ob der kaufmännische oder gemeine Konkurs zu eröffnen, und ich habe ge­ funden, daß eine logische Definition für die „Fabrik" sich gar nicht finden läßt, sondern daß der industrielle Betrieb und der Fabrikbetrieb so sehr durcheinander laufen, daß es immer wie eine Art Willkür ist, zu entscheiden: hier fängt der Fabrikbetrieb an und hier hört der Handwerksbetrieb auf. Nun kann man zwar dem Ermessen des Richters einen weiten Spielraum lassen; aber eine bestimmte Voraussetzung muß vorhanden sein: das Gesetz, nach welchem der Richter entscheiden soll, muß selbst wissen, was es gewollt hat. Ich darf nicht an Stelle des Gesetzes den Richter setzen und sagen: ich als Gesetz­ geber verstehe nicht, was eine Fabrik ist, aber der Richter mag sich damit befassen, er mag in dem einzelnen Falle entscheiden, ob er die Anstalt wie eine Fabrik behandeln will oder nicht; aus solche Weise machen Sie den Richter zum Gesetzgeber in jedem einzelnen Falle. Ich glaube daher, daß wir darüber nachzudenken haben, ob nicht durch eine glückliche Ausdehnung alle analogen Fälle in dieses Gesetz hineingezogen werden können. — Und nun will ich noch in Beziehung auf den dritten Punkt, mit dem wir uns beschäftigen, in Beziehung auf das Verfahren ein Wort sprechen. Nach meiner Meinung sind alle Prozesse dieser Art allein richtig durch Geschworene zu entscheiden, allein richtig dann, wenn zwölf unbefangene Männer auf Grund des Beweis-Resultates ihre Entscheidung abgeben, welche Entschädigung für den hier zugefügten Schaden zu gewähren sei und ich wünsche, daß Geschworene unter bestimmtem Namen, man möge sie Schöffen oder anders nennen, die Fragen zu entscheiden haben, welche in dem gegen­ wärtigen Gesetz behandelt werden. Aber ich begrüße es jetzt schon als eine vorläufige und gute Abschlagszahlung, wenn die Richter von den Schranken, die ihnen die positiven Gesetze auferlegen, befreit werden und in der Zwischenzeit das Amt des Geschworenen wahrnehmen. — Indem ich dies Alles zusammenstelle, sage ich: Unbedingt stimme ich mit dem Satze überein, daß die Eisenbahnen für alle Beschädigungen aufkommen müssen, gleichviel, ob sie Passagiere betroffen haben oder Personen, welche von ihnen engagirt sind oder dritte Personen. Ich erkenne ferner den Satz an im Gegensatz zu den vielen partikularen Rechten innerhalb des Reichs, daß Jeder, welcher ein größeres Industrie­ unternehmen betreibt, nicht blos für sich selbst, sondern auch für seine Angestellten auf­ kommen muß. Ich erkenne den Satz an, daß schon jetzt die Beweistheorie und Ent­ schädigungswürdigung viel freier gestellt werden muß, als dies in den meisten. LandesGesetzgebungen der Fall ist. Wenn ich nun alle diese drei Grundsätze in der Re­ gierungsvorlage verwerthet finde, die ja immer noch der Abänderung im Reichstage zugänglich ist, so halte ich den Entwurf der ernsten Berathung werth. Ich will das Gesetz zu Stande bringen, und die beste Methode scheint mir zu sein, daß wir bei §. 1 sofort signalisiren: wir sind mit dem Jdeengange des Gesetzes einverstanden — das kann das Plenum thun — und daß wir bei §. 2 abwarten, ob solche Vorschläge in das Haus kommen, die werth sind, an eine Kommission verwiesen zu werden; und wird das der Fall sein, dann haben wir immer noch Zeit, das Gesetz an eine Kom­ mission zu verweisen. Aber machen wir im Plenum den ersten Anfang. Die Ueberweisung an eine Kommission wird abgelehnt.

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Zweite Berathung am 28. April 1 871.

Berichterstatter Abg. Eckhard beantragt im Namen der Petitionskommission 6 eingegangene Petitionen nebst Denkschrift von 554 Interessenten durch Beschluß des Hauses über den vorliegenden Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Geschieht. Es liegen folgende Abänderungs-Anträge vor: 1) Vom Abg. Lasker u. Gen. 1) Zum § 1. a. in Zeile 2 und 3 die Worte „dadurch entstandenen" zu streichen, b. in Zeile 3 bis zu Ende des Paragraphen statt der Worte „durch höhere Gewalt u. s. w. bis verursacht ist" zu setzen: „durch eigenes Verschulden des Getödteten oder Verletzten oder durch unabwendbaren äußeren Zufall verursacht ist. Die gefährliche Natur des Unternehmens ist als ein vom Schadenersatz befreiender Zufall nicht zu betrachten." 2) Zu § 2. a. hinter „Fabrik" zu setzen: „oder eine andere gewerbliche Anlage betreibt, einen Dampfkessel oder Triebwerk an­ wendet"; b. in Zeile 2 hinter „wenn" zu setzen: „ein Beamter oder"; c. dem § 2 folgende Fassung zu geben: „Wenn bei dem Betriebe eines Bergwerks, eines Stein­ bruchs, einer Gräberei (Grube), einer Fabrik oder einer anderen gewerblichen Anlage, bei der Anwendung eines Dampfkessels oder Triebwerkes ein Mensch getödtet oder körper­ lich verletzt wird, so haftet der Betriebsunternehmer für den Schaden, sofern der Tod oder die Körperverletzung durch das Verschulden eines Beamten, Bevollmächtigten, Re­ präsentanten oder einer zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebes oder der Arbeiter angenommenen Person verursacht ist"; ä. zu 8 2 folgenden Zusatz zu machen: „Der Betriebsunternehmer haftet ferner, wenn er nicht beweist, daß diejenigen Vorkehrungen getroffen waren, welche bei der Einrichtung und dem Betriebe zur Abwendung eines solchen Unfalls erforderlich sind." 2) Vom Abg. Schulze u. Gen. An die Stelle der §§ 1 und 2 folgenden Paragraphen zu setzen: Wenn beim Betriebe gewerblicher Anlagen, welcher seiner Natur nach mit der Gefahr von Tödtung und Körperverletzung verknüpft ist, ein Mensch ge­ tödtet jober körperlich verletzt wird, so haftet der Betriebsunternehmer für den Schaden, sofern er nicht beweist, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder eigenes Verschulden des Getödteten oder Verletzten verursacht ist. Zu diesen Anlagen gehören namentlich Eisenbahnen, Bergwerke, Steinbrüche und Gräbereien (Gruben) und alle Hüttenunter­ nehmungen, in welchen der Dampf als Triebkraft benutzt wird, oder explodirende Stoffe hergestellt oder verarbeitet werden. 3) Von den Abgg. Dr. Schaffrath und Klotz (Berlin). Dem § 2 folgende Fassung zu geben: „Wenn bei der Anwendung eines Dampfkessels oder Triebwerkes, bei dem Betriebe eines Bergwerks, eines Steinbruchs, einer Gräberei (Grube), einer Fabrik oder einer anderen gewerblichen Anlage ein Mensch getödtet oder verletzt worden, so haftet der Unternehmer für den Schaden, wenn er nicht beweist, daß bei der Ein­ richtung und dem Betriebe die nach bestehenden Verordnungen oder nach Wissenschaft und Erfahrung zur Sicherheit des Lebens und der Gesundheit erforderlichen Vorkehrungen getroffen waren. Der Unternehmer haftet ferner, wenn der Tod oder die Körperver­ letzung durch Verschulden eines Beamten, Bevollmächtigten, Repräsentanten oder einer zur Leitung oder Beaufsichtigung des Betriebs oder der Arbeiter angenommenen Person verursacht ist." 4) Von dem Abg. Dr. Biedermann. Zu § 2. „Wenn bei dem Betriebe eines Bergwerks, eines Steinbruchs, einer Gräberei oder einer Fabrik ein Mensch ge­ tödtet oder körperlich verletzt wird, so haftet der Betriebsunternehmer für den Schaden, wenn er nicht beweist, entweder, daß der Beschädigte selbst an seiner Beschädigung Schuld war, oder daß von ihm (dem Unternehmer), seinen Beamten, Bevollmächtigten, Repräsentanten und den von ihm zur Leitung und Beaufsichtigung des Betriebes und der Arbeiter angenommenen Personen, sowohl bei der Anlage als dem Betriebe des Unternehmens, zur Verhütung derartiger Unfälle diejenige Vorsicht aufgewendet war, welche die gesetzlichen und polizeilichen Vorschriften, sowie Wissenschaft und Erfahrung ihm zur Pflicht machten."

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Gesetzentwürfe.

5) Vom Abg. Reichensperger (Olpe) Zusatz zu § 1: „Der Betriebsunter­ nehmer haftet insbesondere auch für die durch seine Angestellten und Arbeiter bei Ge­ legenheit ihrer Dienstverrichtungen verursachten Beschädigungen eines Menschen. 6) Als Amendements zu den Lasker'schen Anträgen vom Abg. Ackermann: Zu Nr. 2 (§ 2) Lit. c. die Worte „einer Gräberei (Grube) oder einer Fabrik oder einer anderen gewerblichen Anlage — Triebwerkes" mit folgenden Worten: „oder einer Gräberei (Grube)" zu vertauschen. Lit. c. nach den Worten: „der Arbeiter angenom­ menen Person" einzuschalten: „in Ausführung der Dienstverrichtungen." Lit. d. zu streichen. Zu Nr. 3: Lit. c. statt „gesetzliche zu setzen: „vermöge Gesetzes." Zu Nr. 5 (neuer Paragraph). Alinea 1 zu streichen. Alinea 2 folgendermaßen zu fassen: „War der Getödtete oder Verletzte bei einer Versicherungsanstalt, Knappschafts-, Unterstützungs-, Kranken- oder ähnlichen Kasse versichert, so ist die Leistung der Letzteren auf die Gesammtentschädigung einzurechnen, wenn und insoweit die Versicherung unter Mitleistung von Prämien oder anderen Beiträgen durch den Haftpflichtigen erfolgt ist." Eventuell, wenn Alinea 1 des neuen Paragraph angenommen wird, zu sagen: — so kann der Versicherer Ersatz der von ihm gezahlten Versicherungssumme insoweit selbstständig von dem Verpflichteten fordern, als dieser durch die Versicherung von der Leistung der Ent­ schädigung frei wird. Außerdem wird eine große Anzahl von Anträgen während der Verhandlungen schriftlich eingebracht und zum Druck befördert: 7) Vom Abg. v. Unruh (Magdeburg), im § I Zeile 1 statt der Worte: „Wenn bei dem Betriebe einer Eisenbahn" zu setzen: „Wenn bei der Beförderung auf einer Eisenbahn, oder durch deren Locomotiven und Wagen auf den Fahrgeleisen der Bahn." 8) Vom Abg. Dernburg: 1) Zu § 2 hinter den Worten „angenommene Person" einzuschalten: „oder ein Maschinist, oder Heizer", eventuell dem Abänderungsantrag von Lasker u. Gen. 2 c. hinter den Worten „angenommene Person" einzuschalten: „oder eines Maschinisten oder Heizers." 2) Dem Abänderungsvorschläge von Lasker u. Gen. 2 d. folgenden Zusatz zu geben: „Die Bestimmung des vorstehenden Satzes findet jedoch keine Anwendung auf Betriebsunternehmer, deren Gewerbe nicht über den Umfang des Handwerksbetriebes hinausgeht." 9) Vom Abg. Ulrich: 1) Zm § 1 des Gesetzes hinter dem Worte „Eisenbahn" die Worte einzuschalten: „oder eines Bergwerks." 2) Im K 2 des Gesetzes die Worte „ein Bergwerk" und die Worte „oder ein Repräsentant" zu streichen. 10) Von den Abgg. Willmanns und v. Minnigerode: 1) dem § 2 folgen­ den Zusatz beizufügen: „Die Schadenersatzverbindlichkeit ist ausgeschlossen, wenn der Betriebsunternehmer nachweist, daß der Unfall durch das eigene Verschulden oder Mit­ verschulden des Getödteten oder Verletzten herbeigeführt ist. 2) Zn dem unter 2 c. von Lasker vorgeschlagenen Satze die Worte: „einer anderen gewerblichen Anlage" zu streichen. 11) Vom Abg. Lesse Zusatz zu § 2 des Gesetzentwurfes: „Der Beschädigte so­ wie der Betriebsunternehmer kann sofort nach geschehenem Unfälle die Ursachen desselben durch Einnahme des Augenscheins, sowie durch Vernehmung von Zeugen und Sachver­ ständigen feststellen lassen." Der hierauf gerichtete Antrag ist innerhalb acht Tagen nach dem Unfälle beim Richter des Ortes anzubringen. Ueber diesen Antrag wird die Gegenpartei, wenn sie am Orte anwesend ist, gehört. 12) Vom Abg. Dr. Friedenthal Zusatz zu § 2: „War der beschädigende Unfall durch solche Vorkehrungen abzuwenden, welche bei der Einrichtung und dem Betriebe zur Sicherheit der Gesundheit und des Lebens erforderlich sind, so haftet der Betriebs­ unternehmer ferner, wenn er nicht beweist, daß diese Vorkehrungen getroffen waren, oder daß der fragliche Unfall unabhängig von dem Mangel jener Vorkehrungen ein­ getreten ist." Abg. Lasker: M. H., es wird Ihnen Allen bekannt sein, daß mehrere Mit­ glieder des Hauses sich zusammengethan haben, um über den Gesetz-Entwurf selbst sich vorzubereiten und diejenigen Abänderungen in Berathung zu ziehen, welche in ihrer

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Mitte von der einen oder der anderen Seite angeregt werden möchten. Zn dieser freien Vereinigung waren die Juristen verschiedener Rechtsgebiete, Vertreter verschiedener Lebensberufe und verschiedener Interessen zusammen, und die Summe derjenigen An­ träge, welche Zhnen mit meinem Namen an der Spitze und von mehreren anderen Namen aus allen Partei-Fraktionen unterschrieben vorgelegt werden, ist das Resultat jener Berathungen, wie es durch Verständigung und vielfach durch Mehrheitsbeschlüsse zu Stande gekommen ist, und ich muß am Eingänge der Debatte erklären, damit nicht das Verhalten einzelner Mitglieder einem Mißverständniß ausgesetzt sei, daß jedes dieser einzelnen Mitglieder sich vorbehalten hat, indem es zwar mit dem Gesammtanblick der Anträge zufrieden ist, bei den einzelnen Bestimmungen doch in dieses Haus Anträge einzubringen, welche ihren besonderen Standpunkt besser vertreten, und zu sehen, ob dafür die Mehrheit zu gewinnen sein möchte. Ich glaube auch als erster Redner an dieser Stelle die großen Schwierigkeiten, denen die Behandlung dieses Gesetz-Entwurfs unterworfen ist, hervorheben zu müssen aus dem Grunde, damit nicht gar zu viele An­ sprüche von den Einzelnen gestellt werden, damit jedes einzelne Mitglied im Hause bei der Behandlung dieser Frage nachsichtig zu Werke gehe, weil, wenn der individuelle Standpunkt hervorgedrängt wird, es gar nicht ersichtlich ist, wie wir zu einer kongruenten Gesetzesfassung kommen sollen.' Die Schwierigkeiten liegen besonders darin: Es wird ein Gesetz gemacht für einen speziellen Fall; aber es ist der Wunsch sehr vieler Mit­ glieder und der Wunsch der Antragsteller gewesen, soweit es möglich ist, ein leitendes Moment hervorzugreifen, aus welchem der Gesetz-Entwurf entspringt, und dieses leitende Moment ganz und gar zur Verhandlung zu bringen. Es tritt hinzu die zweite Schwie­ rigkeit, daß mit den Zuristen in diesem Falle ein gleich großes Interesse haben die juristischen Laien, daß in erster Linie Vertreter bestimmter Interessen außerordentlich lebhaft empfinden für die größere Milde oder für die größere Strenge des Gesetzes, und daß, weil die Frage alle Kreise der Gesellschaft begreift, das Interesse nicht einmal beschränkt ist auf bestimmte Berufskreise, sondern jeder Einzelne ein lebhaftes Interesse hat an dem, was wir hier beschließen werden. Zch wünsche, daß Sie an dieses Gesetz im Allgemeinen einen größeren Maßstab anlegen und vor Allem das volle Vertrauen zu dem Richter haben, daß er im Geiste dieses Gesetzes das Gesetz handhaben wird; denn die allermeisten Fragen, die Sie werden aufwerfen hören, entspringen aus einem gewissen Mißtrauen, daß der Richter mit dem betreffenden Ausdruck sich nicht gut zu helfen wissen werde, daß er einmal den Ausdruck nicht verstehen werde, weil er ein technischer sei, und das andere Mal den juristischen Ausdruck nur zu gut verstehen und daran herumdüfteln und zu einem schlechten Resultat kommen werde, daß er, wenn wir ihm dir freie Beweistheorie an die Hand geben, dennoch nach den Grundsätzen, die er sonst zu handhaben hat, nicht zu einem richtigen Resultat kommen werde, und mit diesem Mißtrauen werden wir eine große Anzahl von Fragen und, irre ich nicht, auch von Aiträgen zu entscheiden haben. Aber ich muß von vorn herein bekennen, daß wenn Sie nicht volles Vertrauen zu einer lebhaft und tüchtig sich entwickelnden Jurisprudenz haben, so' können Sie überall Gesetze dieser Art gar nicht erlassen, (S. r.l) sondern mit dem Mißtrauen gegen den Richter müssen Sie zurückkehren zur Methode des preußischen Landrechts und der preußischen Gerichts-Ordnung, zu einer Kasuistik, ohne Gleichen. Sowie Sie das erste Beispiel in das Gesetz aufnehmen, um einen fraglichen Fall zu entscheiden, so wird Ihnen sofort das zweite Beispiel nachrücken, und es fallen eine Unmass von Fragen über Sie her, so daß Sie zu dem einen Paragraphen ein er­ läuterndes Dutzend hinzufügen müssen, (S. w.!) gerade so wie es das preußische Land­ recht gethan hat, und Sie werden bei diesem Gesetze, wie noch bei vielen anderen, mit denen sich das deutsche Reich noch zu beschäftigen haben wird, von vorn herein ent­ scheiden müssen, ob Sie einen solchen Richter vor Augen haben, der aus der Anleitung, aus der Idee, die ihm das Gesetz gibt, nun das Recht aus dem Leben herausbildet, oder oi Sie einen Richter vor Augen haben, der wie das Landrecht und die GerichtsOrdnmg ihn sich gedacht haben, maschinenmäßig das anwendet, was das Gesetz mit vollster Deutlichkeit sowohl mit Bezug auf den Prozeß wie auf das materielle Recht vorschräbt.

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Und nun, m. H., komme ich speziell zu dem Gegenstände, der uns hier beschäftigt; zu der großen Frage: soll das Prinzip der Entschädigung für gewisse gewerbliche Kate­ gorien allgemein ausgedrückt, oder soll ein Unterschied gemacht werden zwischen Eisen­ bahnen und denjenigen Industrien, die im 8 2 behandelt werden. Der Geist des Schulze'schen Antrages besteht darin, daß er die Eisenbahnen und die übrigen gefähr­ lichen Gewerbe ganz und gar mit demselben Maßstabe messen will. Er kommt so we­ sentlich zu dem gemeinsamen Ausdruck für alle Gewerbe und spezialisirt blos des Bei­ spiels wegen in seinem zweiten Absätze. — Nun bin ich nicht gesonnen, m. H., die Frage ob die Eisenbahnen und die übrigen Gewerbe auf dieselbe Linie gestellt werden sollen, hier noch einmal ausführlich zu behandeln, thatsächlich will ich nur mittheilen, daß unter denjenigen, die sich mit den Gesammt-Anträgen beschäftigt haben, die Frage auf das Reiflichste erwogen worden ist, und daß sie einen großen Theil ihrer häufigen Zusammenkünfte in lebhaften Debatten darauf verwendet haben, und daß sich schließlich nur wenige Stimmen für ein Zusammenfassen anderer Gewerbe mit den Eisenbahnen entschieden haben. Der zweite Antrag, der Ihnen unterbreitet wird, ist gleichfalls nicht von großer Erheblichkeit, obschon er von Einigen in der Generaldebatte als sehr erheblich betont worden ist. Zch erinnere Sie, daß das Handels-Gesetzbuch an entsprechender Stelle den Ausdruck „durch höhere Gewalt", während das ältere preußische Gesetz, welches die Eisenbahnen haftpflichtig macht, den Ausdruck anwendet, durch „unabwendbaren äußern Zufall". Es hat nun der Mehrheit der Antragsteller geschienen, daß es besser sei, den objektiven Ausdruck „äußerlich unabwendbaren Zufall" zu nehmen als den Ausdruck „durch höhere Gewalt", der ihr nicht bestimmt genug zu sein schien. Nach meiner juristischen Meinung kann ich den Unterschied zwischen den beiden Ausdrücken gar nicht oder wenigstees nicht in erheblichem Maße erkennen, und ich habe deshalb keinen Grund, da die Mehrheit gegen meine sich Ansicht entschieden hat, den Ausdruck „äußerlich unabwendbarer Zufall" zu setzen, warum ich nicht auch diesem Ausdruck sollte zustimmen können. Anstand hat vielfach erregt der Ausdruck „bei dem Betriebe", und es ist der Versuch gemacht worden, diesen Ausdruck zu ersetzen durch andere Aus­ drücke, wie z. B. „bei der Personalbeförderung" oder „bei dem Fährbetriebe". Es hat jedoch Einstimmigkeit aller Mitglieder, welche unter dem Antrag unterzeichnet find, be­ standen, und irre ich nicht, so sind auch die Vertreter der Regierungen unzweifelhaft der Meinung, daß unter dem Ausdruck „bei dem Betriebe" nur zu verstehen ist der wirkliche Betrieb der Eisenbahnen nach ihrer Hauptfunktion, d. h. nach der Beförderung von Menschen und Gütern mit allen Vorbereitungen, die dazu gehören, also mit dem Rangiren der Wagen, mit dem Stellen der Weichen und mit dem Aufenthalt der Passagiere auf dem Eisenbahnperron zur Abreise; kurz und gut: alle diejenigen Be­ triebszweige, welche in Verbindung zu bringen sind mit der Hauptaufgabe der Eisen­ bahnen, sollen ausgedrückt werden durch das Wort „bei dem Betriebe". Dagegen ist Einverständniß auch darüber, daß man darunter nicht versteht die Betriebsarten, welche nicht zu dieser Hauptthätigkeit der Eisenbahnen gehören und selbst sogar regelmäßig mit den Eisenbahnen verbunden zu sein pflegen. So hat z. B. jede Eisenbahn an ge­ wissen Stationen gewisse Fabrikanlagen, deren Thätigkeiten selbstverständlich nicht zu­ sammenfallen dürfen mit dem Betriebe der Eisenbahn, sondern deren Ersatzpflicht regulirt werden wird nach § 2. Bei allen Versuchen, welche gemacht worden sind, diesem Gedanken einen besseren Ausdruck zu geben, haben wir uns doch überzeugt, daß der Ausdruck „bei dem Betriebe" unzweifelhaft das feststellt, was von mir erläutert worden ist und vermuthlich von keinem Redner in Abrede gestellt, wahrscheinlich auch von den Vertretern der Regierung bestätigt werden wird, daß der Ausdruck Alles vollkommen niederlegt, was zur Interpretation und Handhabung des Gesetzes nothwendig sein wird. Ebenso hat auch darüber Einverständniß geherrscht, daß der Ausdruck „äußerer un­ abwendbarer Zufall" die Bedeutung hat, daß der Zufall in der That von außen ge­ kommen sein muß, und nicht von Materialien, welche nothwendig sind zum Betriebe. Wenn also durch das Platzen irgend eines Theiles an einer Maschine oder an den

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Wagen ein Unglück sich ereignet, so kann dieses Unglück zwar entstanden sein durch den Zufall, daß, obzwar gute Betriebsmaterialien genommen waren, dennoch irgend ein Fehler vorhanden war, so daß diese Betriebsmaterialien ohne Verschulden irgend einer beteiligten Person das Unglück herbeigeführt haben, aber dies ist kein äußerer Zufall,

sondern der Zufall, der auch sonst anderweitig bekannt ist als ein der Sache anhaften­ der, und dieser muß auch dann vertreten werden. Ebenso steht dieser äußere Zufall im Gegensatze zu dem Unfall, den ein betheiligter Arbeiter herbeiführt, obschon er nicht unmittelbar beim Betriebe betheiligt war. Der Antrag des Herrn Abg. Reichensperger ist, soweit die Ansicht der Antrag­ steller darüber in Betracht kommt, enthalten in dem Vorschläge der Regierung und in dem Vorschläge, den ich Ihnen unterbreite. Abg. Reichensperger (Olpe): M. H.! Ich bin im Allgemeinen der Meinung, daß die Vorlage, wie sie uns gemacht ist, mit Rücksicht auf die Zwecke, die dadurch erreicht werden sollen, der Zustimmung des Reichstages wohl empfänglich ist. Ich muß aber meinerseits zu meinem Bedauern die Befürchtung ausdrücken, daß dasjenige, was die Regierungen nach Maßgabe ihrer Motive durch den § 1 erreichen wollen, was sie namentlich durch das Verhältniß, in welchem dieser § 1 zu dem eine mindere Belastung begründenden § 2 steht, als ihre Intention und Absicht dargelegt haben, und was end­ lich nach den Aeußerungen des Herrn Abg. Lasker auch die einstimmige Ansicht der freien Kommission gewesen ist, nicht erreicht werden wird, wenn die Regierungsvorlage lediglich zur Annahme gelangt. Es wird sich fragen, m. H., was ist denn unter dem Beweise der höheren Gewalt zu verstehen? wo findet man denn eine eigentliche Defi­ nition des Begriffes „höhere Gewalt" nach allen Richtungen und Seiten hin, die er thatsächlich berührt und umfaßt? Juristisch ist das allerdings nicht möglich. Im All­ gemeinen aber ist deren Begriff unzweifelhaft durch Gesetzgebung, durch Doktrin und Jurisprudenz dahin fixirt, daß er alle diejenigen Einwirkungen durch Naturkräfte, durch Menschenkräfte und durch Thierkräfte in sich schließt, die nicht vorhergesehen und nicht abgewandt werden konnten. Der hierdurch herbeigeführte Schaden ist als unter den Be­ griff der höheren Gewalt subsumirt zu betrachten. .Wenn das nun der allgemeine Begriff der höheren Gewalt ist, dann ist es doch klar,-daß diese höhere Gewalt wirk­ lich vorliegt, wenn durch eine gewaltsame Aktion dritter Personen der Eisenbahnbetrieb gestört, die Schienen aufgerissen oder ein Tunnel in die Luft gesprengt worden ist in einer Weise, die nicht durch den Eisenbahn-Unternehmer vorhergesehen und abgewendet werden konnte. Es ist aber auch ein Fall höherer Gewalt, wenn dritte Personen durch gewaltsame Aktion den normalen regelmäßigen Betrieb stören, und wenn diese Aktion nicht nach normaler wirthschaftlicher und dem Sachverhältniß entsprechender Vorsicht ab­ gewendet werden konnte. Nun, m. H., wie steht es denn aber, wenn dieser Unfall nicht durch Dritte, sondern durch die Arbeiter des Unternehmens selbst herbeigeführt wird? Kann es denn bezweifelt werden, daß auch durch eine Meuterei der Arbeiter oder Angestellten des Eisenbahn-Betriebes eine solche gewaltsame Einwirkung auf den Betrieb herbeigeführt wird? Objektiv ist eine solche Meuterei aber nach meinem ju­ ristischen Verständniß unzweifelhaft auch als eine höhere Gewalt anzusehen, und nichts­ destoweniger will Niemand — weder die Regierung noch die Kommission, noch, glaube ich, in diesem Hause Jemand in einem derartigen Akt eine Diskulpation für den Eisenbahn-Unternehmer anerkennen. Der § 2 sagt ja auch mit dürren Worten in den Fällen, wo eine mindere Haftbarkeit statuirt werden soll, daß der Unternehmer für alle Ver­ schuldungen seiner Untergebenen eintreten soll. Also bei den strenger zu behandelnden Eisenbahn-Unternehmungen scheint mir ein argumentum e contrario vorzuliegen und beabsichtigt zu sein. Wie kommt man nun aber zu der Feststellung der Schadens­ verbindlichkeit in einem solchen Falle? In demjenigen Rechtsgebiete, dessen praktische Konsequenzen hier gezogen werden sollen, also in dem Gebiete des rheinisch-französischen Rechts, ist es geschehen durch die Aufstellung des allgemeinen, das ganze Obligationen­ recht beherrschenden Princips, daß jeder Arbeitgeber für die durch Handlungen und Unterlassungen seiner Angestellten und seiner Arbeiter herbeigeführten Schäden aufzu-

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kommen habe. Dieses allgemeine Prinzip schließt also die Anwendbarkeit, beziehentlich die Einrede der höheren Gewalt auf den von mir eben bezeichneten Fall aus, wenn nämlich der eigene Arbeiter den Schaden herbeigeführt hat. Will man also diesen Zweck erreichen, dann muß man für diesen Fall die juristische Vertretungspflicht eben­ falls aussprechen. Dies Princip des französischen Rechts ist ja nach der eben bezeich­ neten Seite hin durch eine langjährige Praxis im Allgemeinen als ein gesundes und mit dem materiellen Interesse aller Betheiligten verträgliches anerkannt und bezeichnet worden; auch die Regierungsmotive erkennen es an. Im Allgemeinen ist aber un­ zweifelhaft, daß das Princip der juristischen Vertretungspflicht des Arbeitgebers für die Handlungen der Arbeiter, welches die ganze Materie trägt, ausreichend die allgemeinen Interessen vertritt. Dieses Princip der juristischen Vertretung der Arbeiter durch den Arbeitgeber fehlt aber sowohl im preußischen Recht, als im gemeinen Recht und fehlt auch in dem vorliegenden Gesetzentwurf. Ich meine, es müßte demselben ausdrücklich hinzugefügt werden, wie ich es in meinem Zusatzamendement formulirt habe. Es ist richtig, daß namentlich die preußischen Gerichte und auch das Obertribunal in einzelnen Urtheilen die Haftpflicht für die Fehler, Versäumnisse und Nachlässigkeiten der Arbeiter und Angestellten in umfassender Weise zur Geltung gebracht haben, und es scheint, daß dabei die Ausdrucksweise des preußischen Eisenbahn-Gesetzes vom Jahr 1838 mit maß­ gebend gewesen ist. Denn in diesem Eisenbahn-Gesetz von 1838 ist die Dekulpation der Eisenbahn-Unternehmer für angerichteten Schaden dahin formulirt, daß er sich be­ freien könne durch den Beweis eines „unabwendbaren äußeren Zufalls". Man kann mit einem gewissen Scheine von Recht, aber doch ohne rechte innere juristische Begrün­ dung sagen, dieser „äußere" Zufall schließe denjenigen aus, der gewissermaßen durch das innere Getriebe des Unternehmens, also durch die eigenen Arbeiter und An­ gestellten eingetreten ist. Man kann also sagen, es ist dort kein Beweis eines unab­ wendbaren äußeren Zufalls geführt, wenn die schädliche Handlung durch die Arbeiter selbst bewirkt worden ist. Wenn man dagegen festhält an der Regierungsvorlage, die ja nur den Beweis der höheren Gewalt dem Eisenbahn-Unternehmer auflegt, dann, m. H., treten meine Bedenken in noch stärkerem Maße hervor. Ich spreche daher meine Ueberzeugung dahin aus, daß es nicht wohlgethan sei, die Worte des Regierungs-Ent­ wurfs „höhere Gewalt" zu beseitigen und an deren Stelle die Worte „unabwendbaren äußeren Zufall" zu setzen — ich würde das als einen Rückschritt in der Gesetzgebung ansehen. Ich bin der Meinung, daß es das Beste sei, die Regierungs-Vorlage mit meinem Amendement anzunehmen. Abg. Dr. Schwarze: M. H., in Bezug auf die Frage, ob wir dem Prinzip des Gesetzes in § 1 und § 2 zustimmen können und sollen, befinde ich mich auf dem Standpunkt, den Herr Kollege Lasker Ihnen bereits gekennzeichnet hat. Ich bin gegen den Antrag des Abg. Schulze, so wenig ich im Stande bin, den Motiven dieses An­ trages meine volle Anerkennung zu versagen. Aber, m. H., es liegt hier ein sogenann­ tes Nothgesetz, ein Spezialgesetz vor. Ich glaube, dadurch ist uns auch die Grenze ge­ steckt, innerhalb deren wir dieses Gesetz im Verein mit dem Bundesrath schaffen können und schaffen dürfen. Ich glaube, jeder Hinaustritt über diese enggesteckte Grenze des Bedürfnisses ist ein gesetzgeberischer Fehler, der sich in der Praxis rächen wird. Dazu kommt, m. H., daß es sich ja vorzugsweise in § 2 um Lösung eines großen sozialen Problems handelt, um die Znteressen der Arbeiter, die ja uns Allen ebenso am Herzen liegen, wie die Interessen anderer Bevölkerungsklassen. Dazu kommt noch ein Mo­ ment, ^das mich bestimmt, gegen die Ausdehnung des Gesetzentwurfs mich zu erklären. Das ist nämlich die Frage der Verjährung. Wenn wir sie aus zwei Jahre ausdehnen, womit ich im Allgemeinen einverstanden wäre, so erlaube ich mir andererseits darauf hin­ zuweisen, daß wir dadurch die Znteressen der Verpflichteten einigermaßen gefährden, weil die Beweislast durch das Gesetz in der Hauptsache auf den Verpflichteten gewälzt wird, und weil, wenn der Verpflichtete erst bei dem Ablaufe der Verjährungsfrist den Be­ weis antreten soll, den wir ihm auferlegen, er sehr oft gar nicht mehr in der Lage sein wird, diesen Beweis in einer Weise führen zu können, die den Richter vollständig

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überzeugt. Es wird kein Betriebs-Unternehmer mehr im Stande sein, nach einem län­ geren Zeitraume darüber Gewißheit zu verschaffen, daß alle Einrichtungen seines Unter­ nehmens den Anforderungen, die Gesetz und Wissenschaft an dasselbe stellen, damals zur Zeit des Unfalls entsprochen haben. — Was nun speziell den § 1 anlangt, so sind die Worte „bei dem Betriebe" mehrfach angefochten worden. Zn dem gegenwärtigen Entwurf ist das Wort „Betrieb" gewählt, und lediglich in den Motiven gesagt worden, es sei nicht zu besorgen, daß bei der Anwendung des Ausdrucks „Betrieb" die Haftpflicht des § 1 auf Unfälle bei Bauten, bei dem Betriebe von Maschinenwerkstätten und ähn­ lichen Anlagen übertragen werden könnte. Man muß aber davon ausgehen, daß das Wort „Betrieb" hier eine umfassende Bedeutung hat. Die Eisenbahn übernimmt, indem sie zu dem Transport von Personen sich dem Publikum darbietet, die Haftung nicht für einzelne Betriebshandlungen, sondern überhaupt für den Transport der Personen im Allgemeinen. Es ist ja, wie ich bereits früher auszuführen mir erlaubte, der Paffa­ gier gar nicht im Stande, die einzelnen Betriebs- und Transporthandlungen zu über­ wachen. Er ist gar nicht im Stande zu untersuchen, ob eine Nachlässigkeit in Bezug auf den Bahnkörper oder in Bezug auf das Betriebsmaterial oder in Bezug auf den Dienst der Beamten der Eisenbahn obgewaltet hat. Die Eisenbahn übernimmt im All­ gemeinen die Verpflichtung, den Passagier richtig an Ort und Stelle zu bringen. Wenngleich dies nicht eine Versicherung ist, denn dazu würde das Fahrgeld als Prämie viel zu niedrig gegriffen sein, so hat das Gesetz auf der anderen Seite dafür gesorgt, daß die Eisenbahn nicht über die vernünftigen Grenzen hinaus obligirt werde, indem der Zufall und die eigene Verschuldung ausgenommen worden sind. Es haftet also nach meiner Ansicht die Eisenbahn für jeden Zufall, der mit Ausführungshandlungen des Betriebs in unmittelbarem Zusammenhänge steht. Das gilt auch von Delikten der Eisenbahn-Beamten, soweit sie sich auf den Betrieb selber beziehen. Ich möchte auch warnen davor, die Sache so aufzufassen, als ob man von der Vermuthung der Schuld der Eisenbahnen ausginge. Das ist eine Ansicht, gegen die sich die Eisenbahn-Direktionen fortwährend in Denkschriften und in der Presse wenden. Ich halte das für einen ganz falschen Satz, es liegt nur eine Normirung der Beweislast vor, welche der Natur der Sache angemessen ist. Ob Verschulden vorhanden ist, läßt das Gesetz dahingestellt sein, das wird der Beweis in der einzelnen Sache von selbst ergeben. Nur, glaube ich, ist der Gesichtspunkt an die Spitze zu stellen: die Eisenbahn haftet für den Trans­ port des Passagiers ebenso, wie für den Transport der Fracht; und so wenig wie der, welcher das Frachtgut aufgiebt, ebenso wenig kümmert sich der Passagier um die ein­ zelnen Transport- und Betriebshandlungen. Es hat das Gesetz, glaube ich, auch sehr richtig nicht den Ausdruck gebraucht „durch" den Betrieb, sondern hat gesagt: wenn „bei" dem Betriebe Jemand verletzt worden ist. Und auch das halte ich für eine ganz glückliche Wortfassung; es wird nicht verlangt, daß eine Betriebshandlung selbst unmittelbar in diesem Augenblick vorgenommen worden ist — denn dann würden wir wieder auf die eigenthümliche Idee zurückkommen, daß wenn auf dem Perron eine Lokomotive explodirt, die ganz ruhig gestanden hat, nicht durch eine Betriebshandlung der Mensch getödtet worden sei, wohl aber ist er getödtet worden bei dem Betriebe. Die ursächliche Verbindung zwischen dem Unfall und der Beschädigung des Menschen ist, wie mir scheint, vollkommen ausgedrückt durch das Wort „Ursache", welches in der Regierungsvorlage sich findet. Ich erlaube mir blos an den bekannten Fall zu erin­ nern, daß auf dem Eisenbahnhof mehrere stillstehende Wagen, die schlecht gekoppelt waren, in Folge eines plötzlichen Windstoßes sich losrissen, das Geleis herabrollten und dabei einen Menschen gefährlich verletzten. Ich glaube, in diesem Falle haftet die Eisenbahn. Es war keine Betriebshandlung, durch welche der Schaden verursacht worden ist, wohl aber war es ein Unfall bei dem Betriebe, der in einer Verschuldung der Eisenbahn-Beamterr selbst wieder seine erste Entstehung hatte. — Ich komme auf die Frage der höheren Gewalt. Hier befinde ich mich vollkommen auf dem Standpunkt des Herrn Abg. Reichensperger. Ich glaube, es ist mit dem Ausdruck „höhere Ge­ walt" mancherlei Mißverständniß verbunden, sofern als immer geglaubt wird, unter Reichstags-Repertorium I.

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der höheren Gewalt sei die Gewalt zu verstehen, welche gleichsam von oben aus der Höhe herabkomme, die göttliche Gewalt, Naturereignisse und dergleichen mehr. Das ist aber weder sprachlich noch juristisch richtig. „Höher" bezeichnet hier nur das Verhält­ niß zu der dem Ereigniß entgegenzustellenden Widerstandskraft oder genauer: das Ver­ hältniß zu der Thätigkeit, welche zur Vermeidung des Ereignisses und seiner schädlichen Wirkung vorzunehmen ist. Wenn heute ein Erdrutsch stattfindet, in einer Zeit, wo es möglich war, dieses Ereigniß zu entdecken und die schädlichen Folgen desselben abzuwenden, dann wird kein Jurist sagen, daß dieses Ereigniß noch höhere Gewalt gewesen sei, weil ja dann die Folgen dieses Ereignisses noch rechtzeitig abgewendet werden konnten. — Dabei erlaube ich mir noch zum Schluß darauf aufmerksam zu machen, daß das preußische Gesetz älter ist wie das Handelsgesetzbuch, und das Handelsgesetzbuch doch auch diese Bestimmung des preußischen Rechtes vor Augen hatte, dessenungeachtet aber glaubte, im Anschluß an die Doktrin und die Praxis anderer Länder den Ausdruck „höhere Gewalt" vorzuziehen, und ich möchte Ihnen empfehlen, daß wir nicht eine Differenz in die Terminologie der Reichs-Gesetzgebung hineinbringen, die nothwendigerweise Zweifel in der Rechtsprechung verursachen muß. Abg. Schulze (Berlin): Erwägen Sie die Verhandlungen, die wir bisher ge­ pflogen haben, sowohl in der Generaldebatte wie in der heutigen Debatte. Blicken Sie besonders die drei Hauptkategorien an, die der Gesetz-Entwurf nennt und auf die sich wesentlich die Amendements beschränken! Da haben Sie zuerst die Eisen­ bahnen. Nun, daß hier die Rücksicht auf den Schutz des Publikums sehr wesentlich einfließt, das habe ich bereits erwähnt. Daß aber auch bei den Bergwerken, wo diese Rücksicht nicht in der Weise in den Vordergrund tritt, aber wegen der ungeheueren Tragweite der Unglücksfälle in Bezug auf Menschenleben der Schutz ebenso berechtigt ist und herbeigeführt werden muß als wie bei den Eisenbahnen, das scheint aus den statistischen Nachweisungen doch unwiderleglich hervorzugehen. Man hat bei den Berg­ werken, um diese von den übrigen Unternehmungen zu trennen und eine weniger strenge Haftpflicht für die Unternehmer zur Geltung zu bringen, besonders angeführt: die Kontrole der Unternehmer bei den Bergwerks-Unternehmungen sei unendlich schwieriger; bei den Eisenbahnen liege Alles zu Tage und der Beweis, daß eine Ver­ schuldung von der einen oder von der anderen Seite bei einem Unfälle eingetreten sei, sei hier weit weniger schwierig. — Za, m. H., aus diesen Momenten muß man aber gerade zu einem ganz anderen Schluffe kommen, als zu demjenigen, der hier gezogen ist. Gerade weil die Kontrole schwierig ist, muß sie bei der großen Gefahr desto schärfer und sorgsamer geführt werden; das ist keine Frage. Und was den Beweis der Verschuldung anbelangt, so ist der allerdings bei den Bergwerks-Unfällen sehr schwierig zu führen, fast ganz unmöglich aber für den Verunglückten selbst oder dessen Hinterlassene. Nun, was folgern Sie daraus, m. H.? Wollen Sie etwa folgern': weil der Beweis außerordentlich schwer sei, so müsse er den Verunglückten oder deren Nachgelassenen aufgebürdet werden? Ich folgere gerade das Gegentheil; denn die erste Folgerung scheint mir gar nicht möglich. Wenn Sie das thun, so werden Sie in den meisten Fällen dazu kommen, überhaupt die Verfolgung einer Entschädigungs-Forde­ rung gar nicht eintreten zu lassen. Nein, Sie müssen gerade wegen der Schwierigkeit des Beweises prinzipiell durchgreisen, und Sie müssen dem Unternehmer sagen: „du hast dein Unternehmen mit dem Bewußtsein seiner großen Gefährlichkeit begonnen; du mußtest dich darauf gefaßt machen, daß solche Dinge eintreten können, beweise du deinerseits, wo das Verschulden liegt, dem anderen Theile ist es schwer zuzumuthen." M. H., Sie erkennen im Allgemeinen einen Nothstand an; dieser Nothstand ist in einigen Kategorien gefährlicher Gewerbe besonders schreiend durch Massenunglück hervor­ getreten; Sie ziehen aber in den Entwurf auch andere Unternehmungen mit hinein, wo das Massenunglück zurücktritt. Wenn man ein Nothstands-Gesetz macht, dann muß man auch den Nothstand in seinem vollen Umfange treffen; dieses Gesetz thut dies aber nicht. Wenn daher in anderen Kategorien, die nicht im Gesetz enthalten sind, solche Fälle später hervortreten, was doch immerhin möglich ist, dann können Sie wieder in den

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Fall kommen, ein zweites solches Nothstands-Gesetz machen zu müssen. Ich meine aber, m. H., wenn wir einmal, so lange das Obligationenrecht nicht erscheint, die Ver­ pflichtung fühlen, in dieser Richtung etwas zu thun, dann sollen wir es so thun, daß es die Möglichkeit dieser Fälle auch deckt. Das, wovon Alle überzeugt sind und was Jeder zugiebt, ist, daß diese Gefahren in vielen nicht benannten Gewerben nicht blos herbeigesührt werden können, sondern wie durch die Statistik nachgewiesen ist, — daß sie in eklatanter Weise bei uns vorgekommen sind. Darum wollen wir auch an diese Fälle denken. Sehen Sie die Zahlen der statistischen Nachweisung nach, m. H., und Sie werden bedeutende Massen von Unfällen bei gewerblichen Anlagen finden, die nicht im Gesetz erwähnt sind. Wie stehen wir dazu? Wir müssen doch die Statistik, die uns so bereitwillig von der Regierung selbst als eine Unterlage des Gesetzes gegeben wird, berücksichtigen. Das ist aber in dem Entwurf gar nicht geschehen. Vergleichen Sie doch die Kategorien der Gewerbsbranchen und die Unfallszahlen innerhalb derselben. Da kommen Sie zu ganz anderen Resultaten, da sehen Sie, daß sehr gefährliche Dinge, sehr erhebliche Nothstände gar nicht durch das Nothstands-Gesetz gedeckt, gar nicht darin erwähnt sind, in denen es also bei dem Nothstand belassen wird. Ein sehr wichtiges Moment, dem wir unser Augenmerk zuwenden müssen, ist weiter die Schädigung der Unternehmungen durch' eine zu große Belastung der Unternehmer in Bezug auf die fragliche Haftpflicht. Dieser Punkt ist aber bisher außerordentlich flüchtig behandelt worden, und ich glaube wiederum, das ganze statistische Material, das uns vorliegt, und alle wirtschaftlichen Grundsätze und Erscheinungen werden bei ruhiger Erwägung darthun, daß es mit dieser Ueberlastung wirklich nicht so arg steht. Ich würde mich vor einer solchen auch außerordentlich scheuen. Auch ich stehe auf dem Standpunkte, daß wir sicher das Wohl der Arbeiter am wenigsten wahrnehmen, wenn wir die Un­ ternehmungen, bei denen sie beschäftigt sind, etwa mit zu gering messendem Auge be­ trachten, sie in ihrem Bestehen gefährden wollen. Aber, m. H., das ist nicht der Fall. Daß die Frage nicht anders zu lösen ist, als durch Assekuranzen, ist beinahe von allen Seiten betont. Für die Aufwendungen solcher Assekuranzen ist uns ein sehr bedeuten­ des statistisches Material unterbreitet. Aber, auch abgesehen hiervon, wie stellen sich die Dinge, wenn der Unternehmer überhaupt irgendwie mit Prämien für die Assekuranzen belastet wird? In welcher Weise auch eine solche Mehrbelastung einträte, so würde der Unternehmer die Mehrkosten natürlich unter den Unkosten des Unternehmensmit ver­ anschlagen müssen, und das würde nur dahin führen, daß die Produkte, die erzeugt werden, etwas theurer würden. Sie finden auch darüber eine statistische Berechnung in der Arbeit unseres Statistikers, des Herrn Dr. Engel, welche nachweist, wie wenig das auf den Gesammtpreis der Produkte ausmachen würde, auch bei einer großen Zahl der Unglücksfälle, die hier zu entschädigen sein würden. Ja, m. H., wen trifft also schließlich der Schaden? — die Konsumenten, das ganze Publikum, und das ist nicht mehr wie recht und billig. Es ist der Bedarf der ganzen Gesellschaft, der durch die in Rede stehenden Unternehmungen befriedigt wird; geschieht das nun mit Gefahr an Gesundheit und Leben der Arbeiter — ei, m. H., dann müssen Diejenigen, denen die Arbeit zu gute kommt, auch die Kosten und das Risiko tragen. Anders kommen Sie nicht darüber hinweg, und mit der entsetzlichen Belastung der Unternehmer ist es, ehrlich gesagt, von meinem Standpunkte aus gar nicht so weit her. M. H., wir stehen an der Beendigung eines glorreichen Krieges, wir Alle sind bereit, den Opfern, sowohl den Hinterlassenen der Männer, die ihr Leben geopfert haben, als denen, die in ihrem Nahrungsstande zurückgekommen sind, in Anerkenntniß einer Pflicht der Nation, so weit die Mittel reichen, eine Entschädigung zu geben. M. H., eine Aehnlichkeit mit unseren Soldaten haben die Arbeiter in den gefährlichen Gewerben, mag auch die Gefahr bei Weitem nicht so groß bei ihnen sein, als sie den Krieger in der Schlacht trifft. Gut, dafür haben wir aber auch alle Antheil daran durch die allge­ meine Wehrpflicht. Die Gefahren des Krieges sind vertheilt unter alle Klassen des Volkes, alle waffenfähigen Männer sind berufen, dieser größten aller Gefahren zu be­ gegnen. Aber für die gefährlichen Gewerbe treten nur bestimmte Arbeiterklassen ein,

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und hier ist es auch ebenso gut die Pflicht der Gesellschaft, auf geordnetem, der Willkür milder Gaben entrücktem Wege für jene Soldaten der Arbeit, für jene Männer, welche, um die nothwendigsten Bedürfnisse für die Gesellschaft herbeizuschaffen, Leben und Ge­ sundheit riskiren, einzutreten. Dem entgegen, was der Herr Abg. Schwarze bemerkte, sage ich schließlich: das ist keine bloße Sorge für einseitige Arbeiter-Interessen, das ist eine Sorge für die höchsten Interessen der ganzen Gesellschaft. Und wenn er glauben sollte, wie ich aus einigen seiner Worte schließe, daß man solche Dinge abzuweisen habe als zu weit gehend, so sage ich aus guter praktischer Erfahrung: gerade diese Sorge, die wir hier bei der Gesetzgebung eintreten lassen für jene so schwer bedrohten und doch so berechtigten Interessen der Arbeiter, wird am besten geeignet sein, die soziale Frage, die Niemand mehr von sich abweisen kann, in gesunden Bahnen zu erhalten und so der ungesunden und wüsten Agitation auf diesem Felde praktisch entgegenzutreten. (Lebh. Br.) Bundes-Kommissar Geheimer Ober-Bergrath vr. Achenbach: M. H., die ver­ bündeten Regierungen sind darüber nicht im Unklaren gewesen, daß eine Vorlage von einer solchen wirtschaftlichen und sozialen Tragweite, wie die gegenwärtige, den ver­ schiedensten Ansichten begegnen werde, sie sind um so mehr sich dessen bewußt gewesen, als aus ganz natürlichen Gründen auf dem hier vorliegenden Gebiete auch ein Znteressenkamps mit Nothwendigkeit sich geltend macht, sie wußten, daß, während man auf der einen Seite vielleicht dasjenige, was der § 2 festgesetzt hat, als ungenügend bezeichnen werde, auf der anderen Seite in den Bestimmungen dieses Paragraphen schwere Bedrohungen der vaterländischen Industrie, der Gewerbe und Kultur gefunden werden konnten. Die verbündeten Regierungen sind indessen von der Auffassung aus­ gegangen, daß beiderlei Ansichten keine Berechtigung haben. Wenn wir ermessen wollen, ob der Inhalt der Regierungs-Vorlage, soweit derselbe in den §§ 1 und 2 niedergelegt ist, in der That den berechtigten Anforderungen entspricht, so mögen wir zunächst auf den geschichtlichen Verlauf dieser Angelegenheit zurückblicken. M. H., der Reichstag beschloß im Jahre 1868, die Regierungen um eine Vorlage zu ersuchen über den hier in Frage stehenden Gegenstand. In den Anlagen des damaligen Kommissionsberichtes, wie im Kontexte selbst, wurde, wie auf ein Musterbild, auf die englische und franzö­ sische Gesetzgebung verwiesen, welcher die spätere Vorlage sich anschließen sollte. Die Negierungen, als sie diesem Beschlusse des Reichstages folgend einen Entwurf auf­ stellen ließen, mußten selbstverständlich ihre Blicke jener angerufenen Gesetzgebung zu­ wenden. Zunächst, was die Eisenbahnen anbetrifft, fand man allerdings in den Be­ stimmungen des preußischen Gesetzes vom 3. November 1838 eine Vorschrift, welche ohne Zweifel allen berechtigten Anforderungen im weitesten Sinne des Wortes voraus­ sichtlich entsprechen konnte. Man war der Ansicht, daß an dieser Vorschrift des Eisenbahn-Gesetzes festgehalten werden müsse, und daß insbesondere es nicht angezeigt erscheine, dem Beschlusse des Reichstages gegenüber eine rückgängige Bewegung eintreten zu lassen. Wenn daher der § 1 in seinem Prinzip von dem § 2 abweicht, so haben wir dies schon daraus zu erklären, daß der 8 1 im Wesentlichen historisches Recht enthält, daß er sich an das Bestehende anschließt und es dem Beschlusse des Reichstages gegenüber nicht möglich erschien, hinter die bereits bestehenden Bestimmungen zurückzugehen. Die Re­ gierungen waren aber auch überzeugt, daß diese Bestimmungen gerechte seien. Sie waren aus dem Grunde hiervon überzeugt, weil es sich bei den Eisenbahnen, abgesehen von dem Schutz des Publikums, um Anlagen handelt, bei denen, was den Betrieb und die Ueberwachung desselben anbetrifft, das Beamten-Element als das vorherrschende erscheint. Dem gegenüber standen nun die Bergwerke und die übrigen industriellen Anlagen, rücksichtlich deren auf England und Frankreich verwiesen war. M. H., wenn die verbündeten Regierungen der englischen Gesetzgebung hätten folgen wollen, so wür­ den Sie sicherlich nicht eine so weitgehende Bestimmung vorgelegt erhalten haben, wie sie § 2 gegenwärtig enthält. Um nicht in das Detail der englischen Gesetzgebung und des englischen Rechts einzugehen, konstatire ich hier nur, daß der Standpunkt der engli­ schen Gesetzgebung folgender ist: der Werks-Eigenthümer haftet, wenn er bei Auswahl

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der von ihm zur Beaufsichtigung bestellten Personen seinerseits ein Versehen begangen, — er haftet, wenn er diese Personen nicht mit dergestalt genügendem Betriebsmaterial ausgestattet hat, daß die polizeilichen Gesichtspunkte seitens der Betriebsbeamten gewahrt werden können. Hätte man diesen Inhalt der englischen Gesetzgebung zum Muster ge­ nommen, so würde das in Preußen bestehende Recht nur darin eine Aenderung er­ fahren haben, daß, während gegenwärtig der Werks - Eigenthümer nur subsidiarisch für die Versehen seiner Offizianten haftet, derselbe nach Maßgabe der englischen Gesetz­ gebung direkt wegen Fehlgriffen in der Auswahl der Beamten würde in Anspruch ge­ nommen werden können. Die Vorlage, welche Sie vor sich haben, geht also weit über das angerufene englische Recht hinaus, dieselbe hat sich dem Standpunkt der französi­ schen Gesetzgebung angeschlossen, auf welche ebenfalls in den früheren Beschlüssen des Reichstages hingewiesen war. Es handelt sich um Art. 1384 des Code civil. — M. H., ich weiß sehr wohl, daß eine Kontroverse über die Frage besteht, inwieweit nach jenem Artikel der Werks-Eigenthümer hastet, wenn ein Arbeiter dem anderen Ar­ beiter Schaden zufügt. Während bei Eisenbahnen der Schade, welcher von einem Ar­ beiter dem anderen Arbeiter zugefügt wird, unter den sonstigen Voraussetzungen des § 1 die Eisenbahn haftpflichtig macht, ist nach der Vorlage, die Ihnen die verbündeten Regierungen unterbreiten, bei Bergwerken und den übrigen industriellen Anlagen der Betriebs-Unternehmer nicht haftbar, wenn der Schaden dem einen Arbeiter von dem anderen zugefügt sein sollte. Die Vorlage beschränkt sich auf das Versehen von An­ gestellten und Offizianten. Die Regierungen glauben aber in dieser Beziehung den Sinn des französischen Rechts vollständig richtig getroffen zu haben. Es ist beispiels­ weise nicht nachzurdeisen gewesen, daß in der belgischen Praxis ein Fall vorgekommen ist, wo ein Betriebs-Unternehmer wegen eines Versehens des Mitarbeiters gegenüber dem Mitarbeiter belangt worden wäre. Wenigstens liegen dahin lautende Privat-Erklärungen von Brüsseler Advokaten vor, daß ihnen Fälle überhaupt nicht bekannt seien, wo auf Grund jenes Artikels eine solche Klage angestrengt worden sei. Was Frank­ reich anbetrifft, so habe ich persönlich mir die größte Mühe gegeben, derartige Fälle zu ermitteln und überhaupt drei Fälle gefunden. In zwei Fällen ist zu Gunsten der Arbeitgeber, in einem Falle, allerdings von der höchsten Autorität auf dem Gebiete der Zusüz, dem Kassationshofe, erkannt worden, daß der Art. 1384 unterschiedslos auch in dem angedeuteten Falle zur Anwendung zu bringen sei. Seit jener Zeit, seit 1841, wo jenes Kassationsurtheil ergangen ist, schweigt die Jurisprudenz über jene Frage. Mir wenigstens sind weitere gerichtliche Urtheile nicht zur Kenntniß gekommen. Prüft man den Wortlaut des Artikels, so scheint es mir nicht zweifelhaft sein zu können, daß bei einer strikten Interpretation das Wort „prepose“, dessen sich der Artikel be­ dient, nicht auf Arbeiter angewendet werden darf. Die Regierungs-Vorlage ist dem­ gemäß in Folge des früheren Reichstagsbeschlusses so weit gegangen, als irgend eine europäische Gesetzgebung; ja ich muß hervorheben, daß sie weiter gegangen ist. Indem einer der folgenden Artikel der Vorlage die vorherigen Abmachungen zwischen Bergwerks-Eigenthümern und Arbeitern über die etwaigen Entschädigungen bei Strafe der Nichtigkeit verbietet, schärft derselbe in ganz erheblicher Weise die Tragweite der erörterten Bestimmungen. Die Bestimmungen nun, wie sie der § 2 für die betreffenden Gewerbe enthält, sind nach Auffassung der verbündeten Regierungen auch gerecht. Weiter gehen, würde, wie ich eben nachgewiesen habe, einen gesetzlichen Zustand auf dem Gebiete des industriellen Rechts in unserem Vaterlande herbeiführen, der bis jetzt in Europa beispiellos ist. Die Aufnahme jener industriellen Werke in den § 1 würde ein Vorgang sein, welcher in der Gesetzgebung anderer Staaten bis zur Gegenwart keinen Vorgang besitzt. Es würde jenen anderen Industriezweigen eine Unmöglichkeit auferlegt und, abgesehen hiervon, eine unerträgliche Überlastung aufgebürdet werden.

— M. H., der Vorredner hat mit einer Apostrophe an das Haus geschlossen; er Sie darauf hingewiesen, daß hier der Fall vorliege, wo die Gesellschaft als solche den Schaden aufkommen müsse, welchen der Einzelne gewissermaßen im Dienste Gesellschaft erlitten habe. Dieser Gesichtspunkt liegt allerdings, wie ich glaube,

hat für der der

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gegenwärtigen Vorlage fern. Dieselbe will die Gesellschaft nicht anrufen, sondern beabsichtigt im Gegentheil, das einzelne Individuum haftbar -zu machen. Hätte die Tendenz vorgelegen, die Gesellschaft anzurufen oder sozialistische Grundsätze in das Gesetz aufzunehmen, so würde freilich die ganze Vorlage einen anderen Charakter haben müssen. Sie ist nüchtern an die zu lösende Frage herangegangen, und weil dem so ist, mußte meine Apostrophe an das Haus eine andere sein. Indem Sie auf der einen Seite den Beschädigten große Vortheile zuwenden wollen, werden Sie auf der anderen Seite Tausende von Arbeitern erheblich schädigen. Nur dann, m. H., werden Sie die konkurrirenden Interessen wahren können, wenn Sie des Spruches gedenken, daß in allen Dingen mit Maß vorzugehen ist. Sehen Sie doch auf die englische Gesetzgebung, mit welcher Vorsicht schreitet dieselbe auf diesem so sehr difficilen Gebiete vor. Meiner­ seits muß ich zum Schlüsse betonen, daß wir auch bei den hier in Rede stehenden Fragen, welche wir ordnen sollen, den Arbeiter und Arbeitgeber nicht von einander trennen dürfen. Wir müssen annehmen, daß auch hier Beider Interessen gemeinsam sind. Wollen Sie diese Gemeinsamkeit erhalten, so dürfen Sie den Bogen nicht zu straff spannen; anderenfalls werden Sie Vielen Leid zufügen, während Sie Einzelnen wohlthun wollen. — M. H., ich glaube, es ist gerade im Interesse der Arbeiter noth­ wendig, mit Maß und Ruhe vorzugehen. Die Bundes-Regierungen sind sich bewußt, daß, falls der § 2 von Ihnen angenommen werden sollte, eine außerordentlich ver­ schärfte Haftpflicht der Betriebs-Unternehmer eintreten werde und damit auch neue Lasten von der Industrie übernommen werden müssen; die Regierungen haben aber auch die Ansicht, daß diese neuen Lasten ertragen werden können, daß dieselben den ferneren Frieden zwischen Arbeitern und Arbeitgebern ermöglichen, ja ein gemeinsames Zusammen­ gehen erleichtern und fördern können. Ich bitte Sie deshalb, lehnen Sie den Schulze­ schen Vorschlag ab, und halten Sie fest an dem Prinzip der Vorlage, die Eisenbahnen von den übrigen industriellen Etablissements zu trennen. (B.) Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Geheimer Ober-Justizrath Dr. Falk: Ich bin zuerst gefragt worden, in welchem Sinne die Bundesregierungen die Worte „bei dem Betriebe einer Eisenbahn" verstanden hätten, und ich kann bestätigen, daß in der That diejenige Auffassung dabei bestanden hat, die von den Herren Abg. Lasker und Dr. Schwarze vorhin entwickelt worden ist. Man denke — ich bitte das festzu­ halten —, daß das Gesetz nicht sagt: der Eisenbahn-Unternehmer haftet für den be­ treffenden Schaden, der bei seiner Unternehmung entsteht, sondern es ist gesagt: der Unternehmer haftet für den Schaden beim Betriebe der Eisenbahn, und das Wort Eisenbahn hat hier den engeren Sinn, daß darunter verstanden ist der Bahnkörper mit seinen Schienen, aus dem eben das eigentliche Eisenbahngewerbe betrieben wird, daß also von denjenigen Unfällen im 8 1 die Rede ist, die entstehen bei der Vorbereitung der Durchführung, dem Abschlüsse dieses erwähnten Betriebes. Ein weiterer Punkt ist die höhere Gewalt. M. H., ich habe mir erlaubt, beim Ein­ gänge in die Generaldebatte neulich hervorzuheben, es sei meine Ansicht, daß die höhere Gewalt im Sinne des Entwurfs und der unabwendbar äußere Zufall ganz dasselbe bedeuten, und ich bin verpflichtet, hierfür doch noch aus der Entstehungsgeschichte und der Anwendung des preußischen Gesetzes einiges zu sagen. Nicht will ich Sie be­ helligen etwa mit Vorzeigung von Urtheilen, die über das Handels-Gesetzbuch und dessen Bestimmung hinsichtlich „höherer Gewalt" in Artikel 395 ergangen sind, obwohl ich im Stande wäre, die Urtheile so zu lesen, daß ich statt „höhere Gewalt" immer „unab­ wendbarer äußerer Zufall" läse und dennoch der Sinn immer ganz derselbe sein würde; aber ich will Folgendes anführen. Es ist die Fassung des preußischen Gesetzes im Staatsrath entstanden, und zwar unter hauptsächlicher Verweisung auf den § 1734, 8 II, Allgemeines Landrecht und der lautet: „Den ausgemittelten Schaden muß der Schiffer ersetzen, wenn er nicht nachweisen kaun, daß selbiger durch inneren Verderb der Waaren oder durch einen äußeren Zufall entstanden ist, dessen Abwendung er nicht in seiner Gewalt hatte," und wenn man gegenüber diesem Muster nicht den letzten Ausdruck „Gewalt" gewählt, sondern den ersten „äußerer Zufall" genommen hat, so

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liegt das entfach darin, daß der „äußere Zufall" noch an verschiedenen anderen Stellen des Landrechts vorkommt. Was aber die Praxis betrifft, sv werde ich mir erlauben, aus einem Erkenntniß des Obertribunals aus dem Jahre 1863 eine Stelle vorzuführen, und zwar nur die Stelle, die hier speziell interessirt. Es heißt dort: „Als ein unab­ wendbarer äußerer Zufall, worunter die Entstehung des Schadens durch ein Ereigniß höherer Gewalt verstanden werden muß." (H.) M. H., ein sehr verdienstvoller Schriftsteller auf diesem Gebiete, Herr Lehmann, hat die Frage auf das Allergenaueste erwogen und hat in dem schließlichen Resumo auf Seite 34 seiner Schrift, die wohl Viele von Ihnen in Händen haben werden, gesagt: „Der Richter wird den rechten Weg gehen, wenn er den Begriff „vis major“ (also die höhere Gewalt) eng auffaßt und von der Bahn den Nachweis „eines von außen kommenden seiner Natur nach oder nach Lage der Sache unabwendbaren Ereignisses verlangt." — Ich glaube, ich stehe mit meiner Meinung, daß die Sache dieselbe ist, nicht allein. Nun könnten Sie freilich sagen: wenn dem so ist, warum wünschen die Bundesregierungen, daß der Ausdruck den Sie vorgeschlagen haben, amendirt wird. M. H., das hat einen sehr einfachen Grund, und zwar einen Grund, der eigentlich aus der Stellung als eines Faktors der Gesetzgebung des deutschen Reichs herzuleiten ist. Es giebt ein deutsches Reichsgesetz — das Handels-Gesetzbuch, und das braucht für ganz analoge Fälle denselben Ausdruck: „höhere Gewalt." Es konnten die verbündeten Regierungen es nicht für geeignet halten, für die Reichs-Gesetzgebung von deren eigenem Sprach­ gebrauche auf die Ausdrucksweise eines Landrechts zurückzugehen. Allerdings habe ich von einem anderen, auf diesem Gebiete sehr thätigen juristischen Schriftsteller, von Koch, den Satz gelesen: die Kommission, welche das Handels-Gesetz­ buch ausgearbeitet habe, habe einen wahren Erisapfel mit dem Begriffe der „höheren Gewalt" unter die Juristen geworfen. Allein, m. H., davor fürchte ich mich nicht; denn etwas zum Erisapfel unter den Juristen zu machen, würde vielleicht als etwas zu Schweres nicht angesehen werden können. (H.) In der That — ich gebe das zu — ist ein großer Streit in der Theorie entstanden, und die Herren haben sich abgemüht, die „höhere Gewalt" zu definiren; zahlreiche Definitionen wäre ich im Stande Ihnen vorzutragen, ich möchte aber von keiner behaupten, daß sie alles erschöpft. Es ist das eben einer der Begriffe, die ihren wahren Inhalt nur empfangen können im einzelnen Falle; sie lassen sich nicht abstrakt definiren. Daher ist es gekommen, daß obschon der Erisapfel in der Theorie vorhanden ist, in der Praxis die Sache sich doch gemacht hat. Und sollte nun gar § 10 des Amendements angenommen werden, wo­ nach das Bundes-Oberhandelsgericht in letzter Instanz zuständig sein würde, nun, m. H., dann können Sie sich bei diesem Ausdruck „höhere Gewalt" um so mehr beruhigen, als dieser Begriff bei diesem Gesetze alsdann ebenso ausgelegt werden würde, wie über ihn bei jedem anderen Paragraphen des Handels-Gesetzbuchs von demselben hohen Ge­ richtshöfe erkannt werden muß und erkannt werden wird. — Ich glaube, es bleibt nur noch übrig, auf das Amendement des Herrn Abg. Reichensperger einzugehen. Ich möchte meinen, daß namentlich in dieser Fassung es unannehmbar sei. Es ist gesagt worden: bleibt der Ausdruck „unabwendbarer Zufall" bestehen, so ist es zwei­ felhaft, ob wenn etwa die Eisenbahn-Arbeiter eine Meuterei ausführen, sich zusam­ menrotten und mit vereinter Kraft die Bahn zerstören, dieser Fall unter die im § 1 ins Auge gefaßten fällt; es ist das aber nicht zweifelhaft, sondern allem Ver­ muthen nach muß man annehmen, er fällt nicht darunter, wenn der Ausbruck „höhere Gewalt" stehen bleibt. — Ich habe aber noch ein anderes Bedenken: nur um der „höheren Gewalt" willen ist nach den eigenen Ausführungen des Herrn Abgeordneten das Amendement vorgeschlagen, und der Richter wird sich sagen, wenn er es in seiner allgemeinen Fassung liest: die Thätigkeit der Bahnbeamten und Wärter kann häufig unter den Begriff der höheren Gewalt fallen, — denn daß die Bestimmung sich nur auf den singulären Fall beziehe, geht aus dem Amendement nicht hervor, das könnte man nur erfahren aus der speziellen Durchsicht der stenographischen Berichte. Wenn aber der Richter diesen Satz etwas allgemeiner ausfaßt, so wird er, wie ich be-

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sorge, über den Begriff „höhere Gewalt" in Unklarheit kommen, er wird Momente, die ihm an für sich nicht als zur höheren Gewalt gehörend erscheinen, und die er sonst nicht darunter rechnen würde, leicht um der aus dein Zusatze sich ergebenden allgemeinen Parallele willen darunter rechnen, — und das ist eine Besorgniß, die mich zwingt, dem Amendement, wenn es unverändert bleibt, nicht zuzustimmen. Abg. von Unruh (Magdeburg): M. H.! Ich habe hier ausgesprochen und wieder­ hole es auch, ich wünschte dringend, daß die Arbeiter in den Bergwerken, Fabriken u. s. w. mit den Eisenbahn-Arbeitern gleich, d. h. gleich gut gestellt werden könnten, aber die Besorgniß liegt außerordentlich nahe, daß die Vortheile und die Erleichterung in Er­ tragung der Entschädigung, welche jetzt bereits den Bergwerken u. s. w. durch das Gesetz gewährt werden sollen, verloren gehen könnten, wenn man weiter geht und die Berg­ werke den Eisenbahnen durch diesen Gesetzentwurf gleich stellt. Ich glaube, daß mein verehrter Freund Schulze in Bezug auf die Bergwerke sich irrt. Ich bemerke hierbei, daß allerdings das mir vorliegende statistische Material mangelhaft ist, aber soweit es mir vorliegt, ist die Zahl der Unglücksfälle in den Distrikten der größeren Bergwerke absolut schon größer als auf den Eisenbahnen. Mir scheint dies auch ganz natürlich, weil ja glücklicher Weise bei den Eisenbahnen es selten oder nie vorckommt, daß 60, 70, 80, 100, 200, 300, ja 400 Personen zusammen verunglücken. Wenn man aber die Personen mit berechnet, welche an den Eisenbahnen betheiligt sind, theils als Reisende, theils als Arbeiter, Bahnpersonal u. s. w., und ebenso die Personen, welche bei den Bergwerken beschäftigt sind, und die Zahl der Unglücksfälle nach Prozenten vertheilt, so stellt sich die Sache für die Bergwerke noch weit ungünstiger. Zch wünschte, daß wir dahin kommen und ich acceptire das Prinzip, das von jener Seite (r.) aufgestellt worden ist, Abschlagszahlungen anzunehmen. Wir befinden uns in der Lage, Abschlags­ zahlungen nehmen zu müssen. Nun ist aber eine wesentliche Verbefferung für das Personal bei Bergwerken, Hütten, Fabriken u. s. w. in dem Gesetz enthalten, namentlich durch die Vorschläge, die von Seiten des Herrn Abg. Lasker und seiner Freunde, zu denen ich mich ja auch zähle, eingebracht worden sind. Die Eisenbahnen haben von je an gefürchtet, daß der § 25 des Gesetzes vom 3. November 1838 ganz außerordent­ liche Entschädigungen herbeisühren könne, daß die Bahnen dadurch Bankerott machen würden. Wir haben aber gesehen durch mehr als ein Menschenalter, daß dies nicht der Fall ist: die Bahnen haben bestanden. Es sind zwar Entschädigungen gegeben, aber innerhalb bestimmter Grenzen; neue Unternehmungen sind durch diesen Paragraphen nicht gehindert worden. Es liegt also in der That kein Grund vor — ich stimme darin dem Herrn Vertreter des Bundesraths vollständig bei —, den Eisenbahnen in Deutsch­ land von dem, was ihnen bis jetzt ausgebürdet war, irgend etwas wegzunehmen. Allein, m. H., ich bin auch der Meinung, es ist eben so wenig Grund vorhanden, das Gesetz von 1838 den Eisenbahnen gegenüber zu verschärfen, denselben noch mehr zuzumuthen, als jetzt die Gesetze bereits thun, und deshalb hätte ich gewünscht, daß da, wo eine Verschärfung eingetreten ist oder eingetreten zu sein scheint, dieselbe beseitigt werde. Zch komme zum zweiten Punkt des § 1, das ist der Ausdruck „Betrieb." M. H., was man unter „Betrieb der Eisenbahn" versteht, darüber sind nicht allein die Zuristen, sondern auch die Laien und Techniker, auch die Eisenbahn-Techniker, ganz verschiedener Meinung. Zch bin vollkommen einverstanden und sehe ein, daß man die Kasuistik in der Gesetzgebung vermeiden muß, ich erkenne an, daß die preußische Gesetzgebung da­ durch lange lahm gelegen hat; aber, m. H., von Kasuistik kann man eigentlich nicht sprechen, wenn man sich bemüht, durch einen bestimmten Ausdruck diejenigen Theile zu treffen, die getroffen werden sollen, und wenn man nicht einen Ausdruck anwendet, der einer mehrfachen Auslegung fähig ist und der von Vielen auch wirklich so ganz ver­ schieden ausgelegt wird, daß Theile getroffen werden, die man nicht hat treffen wollen. Aus diesem Grunde, m. H., weil ich die Erklärung, die hier abgegeben ist, und die Diskussion, die hier stattfindet, nicht für unbedingt verbindlich für den Richter halte, aus diesem Grunde wünsche ich, daß ein Ausdruck gefunden werde, der nur das be­ zeichnet, was wir bezeichnet wissen wollen, d. h. diejenigen Funktionen, diejenigen Ver-

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richtungen, die der Eisenbahn als solcher eigenthümlich sind. Deswegen habe ich mir erlaubt, in meinem Amendement zunächst den Ausdruck beizubehalten, den das Gesetz vom 3.. November 1838 enthält; ich wünsche, daß statt der Worte der Vorlage: „Wenn bei dem Betriebe einer Eisenbahn" gesagt werde: „Wenn bei der Beförderung auf einer Eisenbachn", dann aber wünsche ich noch die Worte hinzugesetzt: „oder durch deren Lokomotivem und Wagen auf den Fahrgeleisen der Bahn." Das ist gegen das Gesetz vom Zahre 11838 allerdings eine Erweiterung, aber diese Erweiterung ist in Preußen wenig­ stens diurch richterliche Erkenntnisse bereits vorhanden. So lange, m. H., mir nicht nach­ gewiesen ist, daß der sehr weite, unbestimmte Ausdruck „Betrieb" einer präzisen Aus­ legung fähig ist, daß nichts Anderes darunter verstanden werden kann, als was nach der Erklärung des Herrn Vertreters des Bundesraths darunter verstanden werden soll, so lange werde ich genöthigt sein, an meinem Vorschläge festzuhalten, und bitte das Haus, meinem Amendement zuzustimmen. Abg. Dr. Braun (Gera): M. H., ich bin für den Entwurf, insbesondere auch für den §. 1 des Entwurfs und gegen alle Amendements. Ich habe dafür zunächst einen praktischen Grund. Der vorliegende Gesetzentwurf erschöpft das Gebiet des­ jenigen, was wir im Augenblick thun können und er beschränkt sich auf das Gebiet desjenigen, was wir im Augenblick thun können. Man ist vielfach bemüht gewesen, ihn darzustellen als einen Akt der Feindseligkeit gegen die Unternehmer, namentlich auch gegen die Eisenbahnen. Es ist das deshalb geschehen, weil man den Gesetzentwurf mißverstanden hat in einer Weise, daß man eine Kasuistik hineingetragen hat, die ihm von Haus aus fremd ist. Wenn man diesen Gesetzentwurf so auffaßt, wie er sich giebt und wie er in der That zu verstehen ist, so ist er nichts weniger als ein Akt der Feind­ seligkeit gegen die Unternehmer, sondern ein einfaches Korrektiv derjenigen Schäden des gemeinen Rechts, welche nothwendig im Interesse der modernen Entwickelung der Dinge eine Aenderung erfahren müssen. Der Gesetzentwurf ist ja gar nichts als eine ein­ heitliche Kodifikation derjenigen Grundsätze, welche in den verschiedensten deutschen Staaten mittelst der modernen Gesetzgebung bereits festgestellt sind. Um so unbedenk­ licher kann man sich daher dem Gesetzentwurf anschließen. — Was die Anträge meines verehrten Freundes Lasker u. Gen. anlangt, so glaube ich, sind sie im Wesentlichen nur redaktioneller Natur. Stünde in dem Entwurf die Fassung, die der Herr Abg. Lasker vorschlägt, so würde ich auch für die stimmen, da nun aber in dem Entwurf die andere steht, so stimme ich dafür, um zunächst zu konstatiren, daß gar kein sachlicher Unter­ schied zwischen den beiden ist. Was das Amendement des Herrn Abg. Reichensperger (Olpe) anlangt, so fragt er: haftet der Eisenbahn-Unternehmer, der Betriebs-Unternehmer, auch für die Arbeiter? Daraus habe ich die Antwort „Za" und „Nein". Man muß unterscheiden: wenn die Arbeiter den Unglücksfall in Ausübung derjenigen Funk­ tionen, welche ihnen der Unternehmer übertragen hat, veranlassen, dann haftet er für sie; wenn sie aber den Unfall nicht in Ausübung ihrer Funktionen herbeiführen, wie z. B. wenn sie eine Meuterei machen und eine Räuberbande bilden, so haftet der Unternehmer nicht für sie; dann erscheint ihre Handlung als äußere oder höhere Gewalt. Es stimmt dies genau überein mit unserer Rechtsprechung, wie sie auch be­ züglich des Artikels 1384 be£ Code Napoleon besteht; und so sehr ich auch im Uebrigen die Ausführungen des Herrn Abg. Reichensperger als sachliche und vollkommen be­ gründete ansehen muß, so wenig glaube ich, haben wir Veranlassung diesen Fall in Form eines Amendements dem Gesetze beizufügen. Zn Summa, m. H., bitte ich Sie, den §. 1 so, wie er geschrieben steht, anzunehmen. (B.) Abg. Lasker: M. H., ich habe im Eingänge der Verhandlungen bereits be­ merkt, daß der Antrag zu §. 1, der unter meinem Namen gestellt ist und von der Mehrheit der Antragsteller beschlossen war, kein wesentlicher ist. Es ist den Herren, welche diesen Antrag gestellt haben, darum zu thun gewesen, bei der Verhandlung dieses Hauses die Stellung der beiden Ausdrücke zu einander zu vermitteln. Ich bin deshalb ermächtigt, diesen Antrag zurückzuziehen. Abg. von Unruh (Magdeburg^: M. H., nachdem der Herr Vertreter der

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Bundesregierungen ausdrücklich erklärt hat, daß unter dem Ausdruck „Betrieb" nichts anderes gemeint sein soll, als was ich durch mein Amendement treffen will, ziehe ich mein Amendement nunmehr zurück. (Br.!) Beider Abstimmung werden die Amendements Schulze, Ulrich und Reich ensperger mit großer Majorität ab gelehnt und §. 1 unverändert angenommen. Abg. Lasker: M. H., wir kommen zu einem wichtigen Theil des Gesetzes, bei welchem der Antrag, der Ihnen vorgeschlagen wird, von der Regierungsvorlage abweicht, jedoch aus den Gründen, welche die Regierung selbst zu dem Specialgesetz veranlaßt haben. Ich bedaure sehr, daß nach der Ermüdung der heutigen Debatte das Haus nicht beschlossen hat, heute die Debatte zu vertagen. (S. r.!) Zch springe als Noth­ redner in die Lücke und melde an, daß ich bei der Wichtigkeit des Antrages, den ich zu vertreten habe, und zwar für alle Seiten dieses Hauses, mir morgen werde erlauben müssen, noch einmal materiell auf die Begründung dieses Antrages zurückzukommen. (H.) — Für jetzt will ich blos erklären, daß ich morgen von den unter meinem Namen erschienenen Abänderungsanträgen zu §. 2 nur den ersten Theil des Absatzes vertreten werde, den Sie unter a., b. und c. finden, während ich, wie ich ausdrücklich ankündige, den Antrag unter Nr. d., d. h. den Zusatz, nicht vertreten werde. Ich sage dies jetzt schon, damit ein anderer Antragsteller, auf dessen Veranlassung dieser Zusatzantrag hinzu gefügt ist, besser als bei §. 1 zu> Worte kommen kann, um diesen Zusatzantrag zu vertreten, und dieser nicht darunter leidet, daß der nominelle Antragsteller diesen Theil des Antrages nicht vertritt. Nachdem ich also dem formellen Beschluß des Hauses, die Verhandlungen noch weiter fortzusetzen, die formelle Ehre gegeben habe, (H.) erlaube ich mir die Bitte an das hohe Haus, mir nun auch materiell nachzugeben und diesen wichtigen Theil des Gesetzes nicht unter der heutigen Ermüdung, sondern erst morgen fortzusetzen. (Lebh. Z.) (Geschieht.) Fortsetzung am 29. April 1871.

Abg. Ulrich schlägt vor: hinter dem Anträge Nr. 2d. der Lasker'schen Ab­ änderungsanträge noch folgenden Zusatz zu machen: „Bei Bergwerken haftet der Betriebsunternehmer auch dann, wenn er nicht beweist, daß zur Zeit des Unfalls eine zur ordnungsmäßigen Leitung und Beaufsichtigung des Betriebes ausreichende Anzahl von dazu befähigten Personen auf dem Bergwerk vorhanden gewesen ist. Es wird bei Bergwerks-Unfällen ein zum Schadenersatz verpflichtendes Verschulden vermuthet, wenn bei dem betreffenden Bergwerk in den letzten zwei Zähren wegen Uebertretung einer Polizeivorschrift, welche die Sicherheit der Arbeiter bezweckt, eine Bestrafung vorge­ kommen ist." Ein Abänderungsantrag des Abg. Wichmann zu der Nr. 5 des vorgeschlagenen neuen Paragraphen geht dahin: Alinea 2 von den Worten an „wenn und insoweit" folgendermaßen zu fassen: „der Haftpflichtige die Prämien ganz oder zum Theil bezahlt oder andere Beiträge geleistet hat." Abg. Lasker: Wir befinden uns jetzt bei dem §. 2, an einem wesentlichen Theil des Gesetzes, bei welchem ein leitendes Princip entschieden werden soll, wie wir es gestern gethan haben mit der Ablehnung des Schulzeschen Amendements. Zch will nun, m. H., den Versuch machen, die ihrer Zahl nach anscheinend ver­ wirrenden Anträge zu §. 2 zu ordnen und zeigen, daß nur zwei große Gesichtspunkte hervortreten. Diese beiden Gesichtspunkte beziehen sich auf diejenigen Betriebsgattungen, welche durch dieses Gesetz verantwortlich gemacht werden sollen; dies ist die erste Gruppe der Anträge, und die zweite bezieht sich auf die Weite der Verantwortlichkeit, welcher entweder alle Betriebsgattungen unterworfen werden sollen oder ein Theil derselben, wie in dem handschriftlich eingegangenen Anträge des Herrn Abg. Ulrich, der gestern schon den Versuch gemacht hat, die Bergwerke viel schlechter zu stellen in Bezug auf die Betriebsart als andere Unternehmungen, und der heute diesen Versuch im Hause wiederholt. Zch beschränke mich zunächst auf die Frage: welche Betriebsgattungen sollen zur Verantwortung durch das gegenwärtige Gesetz gezogen werden? und wenn ich in

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dieser Bezeichnung eine gute Regelung durch den Beschluß des Hauses herbeigeführt habe — eine in meinem Sinne gute Regelung — so bin ich vollständig zufrieden gestellt, und es wird deshalb der Schwerpunkt meiner Vertheidigung fallen auf die Buchstaben a. und c. des Antrages zu §. 2. Am meisten aber fällt der Schwerpunkt auf den Buchstaben a., welcher nämlich den Umfang der Gewerbegattungen weiter aus­ dehnen will, als die Regierungsvorlage. In dieser Beziehung lassen sich nun alle An­ träge in folgender Weise gruppiren. Drei Hauptgruppen werden Ihnen vorgeschlagen: der Regierungsentwurf, welcher nur verantwortlich machen will die Bergwerke mit Einschluß der Gräbereien und Gruben und außerdem die Fabriken; bei den Fabriken aber will er abschneiden. Diesem gegen­ über stehen nun zwei Anträge: der von mir und meinen Mitantragstellern unter­ schriebene will die Betriebsgattungen ausdehnen auf andere gewerbliche Anlagen, außerdem auf Anwendung von Dampfkesseln und Triebwerken. Auf der andern Seite steht der Antrag der Herren Abg. Ackermann u. Gen., welcher die Regierungsvorlage einschränken, indem er auch die Fabriken wegstreichen und nur für Bergwerke, Gruben und Gräbereien die Haftpflicht eintreten lassen will. An diese Anträge schließen sich noch einige Anträge, die nur als kleine Modifikationen zu bezeichnen sind, der Antrag nämlich des Abg. Dernburg, welcher für die gewerblichen Anlagen zwar die Haftpflicht gelten lassen, sie aber ausschließen will für das kleine Handwerk, ferner der Antrag Wilmanns, der die Haftpflicht überhaupt für alle gewerblichen Anlagen ausschließen, also von der von uns vorgeschlagenen Erweiterung nur bestehen lassen will die Dampf­ kessel und das Triebwerk. Die Anträge der Abg. Schaffrath u. Klotz und des Abg. Biedermann scheinen zwar auch diesen Punkt zu behandeln, aber keiner von ihnen will eine selbstständige Abänderung, sondern die Herren Schaffrath u. Klotz wollen sich in Beziehung auf die Ausdehnung der Gewerbe anschließen den Anträgen, wie sie von mir und meinen Mitunterschriebenen gestellt sind, und der Antrag Biedermann schließt sich der Regierungsvorlage an. Da ich nun in diesem Theile meines Vortrages der Deut­ lichkeit wegen Alles ausschließe, was sich auf den Umfang der Verantwortlichkeit bezieht, so glaube ich, daß das Haus mit voller Klarheit übersehen kann, daß in Beziehung auf die Ausdehnung nur sehr wenige Anträge vorliegen, daß das Haus nur sich zu ent­ scheiden hat über die Fragen: ist das Regierungsprincip richtig, oder soll darüber hinaus in analogen Fällen eine Ausdehnung gemacht werden, oder sollen gegen das Regierungsprincip auch die Fabriken ausscheiden; daneben zu entscheiden sind nur noch die beiden kleinen Modifikationen Wilmanns u. Dernburg. Ueber diese Frage sich zu entscheiden, wird das Plenum in der Lage sein, und der Vorwurf trifft nicht zu, daß die vorliegenden Anträge zu verwirrend seien, um sich zurecht zu finden. — Ist nun dieser formale Einwand beseitigt, so darf ich Ihnen unsern Antrag empfehlen, der in dem Umfange der haftpflichtigen Betriebsarten eine Ausdehnung anstrebt, zu der wir gezwungen worden sind durch die innere Natur der Regierungsvorlage, und bei welchem wir schon mit der äußersten Mäßigung mit Rücksicht auf dasjenige, was als äußerster Standpunkt der Regierung dargethan ist, uns enthalten haben, weitergehende Anträge zu stellen, wo wir geglaubt haben, es könnte das Gesetz selbst ernstlich dadurch gefährdet werden. Wenn Jemand uns in diesem Punkte den Vorwurf der nichtlogischen Durch­ führung macht, so nehmen wir diesen Vorwurf hin, weil wir vor Allem das Gesetz zu Stande bringen und nicht scheitern lassen wollen an der logischen Durchführung, welche die Negierung vermuthlich an der Annahme verhindern würde. Aus dieser Rücksicht unterlassen wir, Ihnen vorzuschlagen, auch die Baugewerbe in dieses Gesetz zu ziehen. Aus demselben Grunde, m. H., haben wir in Mehrheit angenommen — und ich bin nicht der Absicht, meine ursprüngliche Meinung hier zum Vortrage zu bringen — daß wir „gewerbliche Anlage" gelten lassen wollen statt „gewerbliches Unternehmen". Richtiger wäre gewerbliches Unternehmen, die innere ratio würde uns soweit führen, aber die unglückliche Nachbarschaft dieses Wortes mit den Bauunternehmungen, bringt gegen das Wort „gewerbliches Unternehmen" dasselbe Bedenken hervor, welches gegen „Bauunternehmungen" besteht, und der bereits entwickelte Grund bestimmt mich

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auch hier, vor der Konsequenz stehen zu bleiben und Ihnen vorzuschlagen „gewerbliche Anlage", welche einen objektiven Begriff bildet und nicht in subjektiver Thätigkeit ihre Definition findet, wie das „Unternehmen". Mit diesen einleitenden Worten habe ich darthun wollen, daß wir die Schwierig­ keiten des Gesetzes sehr streng erwogen und wegen derselben selbst inmitten der logischen Folgerungen Halt gemacht haben; Sie haben es also mit Freunden des Gesetzes zu thun und nicht mit solchen, die Schwierigkeiten bereiten wollen. Sind Sie gesonnen, den Ausdruck „Fabrik" stehen zu lassen, so werden wir durch das Leben und durch die völlige Gleichheit des inneren Grundes gezwungen, andere gewerbliche Anlagen, Dampfkeffel und Triebwerke aufzunehmen. — Die „gewerblichen Anlagen" find eine noth­ wendige Ergänzung, die Dampfkessel und Triebwerke sind die nächstliegende Analogie der Fabriken, gemeinschaftlich ist allen die große Gefahr. Wir wollen wegen der Größe der Gefahr auch die Haftpflicht dieser Gefahr entsprechend regeln, um zu dem Zwecke dieses Gesetzes zu kommen. Ich verstehe nämlich als Zweck dieses Gesetzes, daß als eigentliche Kosten des Unternehmens diejenige Zahl von Unfällen auf den Unternehmer geworfen werden, welche mit der Natur eines bestimmten Unternehmens, selbst bei der größten Sorgfalt, verbunden zu sein pflegen. Dieses Gesetz hat dreierlei Folgen, wie ich mir vorstelle, in Aussicht. Es würde erstens die Sorgfalt des Unternehmers in einem hohen Grade heben; aber bei dem größten Grade der Sorgfalt wird immer noch eine Zahl von Unglücksfällen übrig bleiben, die man im Leben „verschuldet" nennt, die aber im statistischen Sinne unvermeidlich sind, wie wir ja statistisch solche Zahlen auch anderweitig ermittelt wissen. Für diese zweite Gattung unvermeidlicher Unfälle soll der Betriebsunternehmer zwar die Verantwortlichkeit und damit eine große Last übernehmen; aber eine richtige Wirthschaft wird ihn dahin treiben, daß er sich mit anderen Genossen oder selbstständigen Unternehmern zum Zwecke der Versicherung in Verbindung setzt und eine jährliche Durchschnittssumme zahlt und so sich vor der Ge­ fahr schützt, in dem einen Jahr vielleicht gar nichts, in einem nächsten Jahr über seine Kräfte Entschädigung leisten zu müssen. Endlich bleibt noch eine Summe von Unglücks­ fällen übrig, die nicht getroffen werden durch die Ersatzpflicht des Unternehmers und gegen diese soll der Arbeiter selbst für seine Zukunft Sorge tragen, und um diese Fürsorge treffen zu können, wird er seinen Arbeitslohn bis zu der Höhe verbessern lassen müssen, bis er in der Lage sein wird, ohne Beeinträchtigung des sonst nothwendigen Unterhalts sein Leben zu versichern. Auf diesem rationellen Wege der Ordnung der Dinge macht dieser Gesetzentwurf einen erheblichen und erfreulichen Anfang, und das ist seine Berechtigung, weshalb er als Spezialgesetz auftritt. Nur lade ich Sie ein, den angefangenen Schritt ganz zu thun. Zch sage: überall, wo ein gleicher Grad der Gefährlichkeit oder die gleiche Nothwendigkeit für den Unternehmer, sich durch Andere vertreten zu lassen, wo eine dieser beiden maßgebenden Erscheinungen zu Tage tritt, müssen die Grundsätze dieses Gesetzes gelten, sofern nicht bedeutende Hindernisse entgegenstehen, wie z. B. bei den Bauunternehmungen. Solche Hindernisse stehen nicht entgegen bei gewerblichen Anlagen, nicht bei Dampfkesseln und nicht bei Triebwerken, und deswegen schlage ich vor, so weit das Gesetz auszudehnen. Wenn Sie vor der „gewerblichen.Anlage" stehen bleiben und nur die Fabriken einschließen, so würde dies meiner Meinung nach die Zdee des Gesetzes gerade in der Mitte durchschneiden. Auf der einen Seite steht eine Anzahl von Fabriken mit verstärkter Haftpflicht, weil sie zufällige Merkmale der Fabrik an sich tragen, selbst wenn die Darstellung des Produktes und die gesammte Thätigkeit nicht mit erheblichen Gefahren verbunden ist; auf der anderen Seite stehen gewerbliche Anlagen und Thätigkeiten, welche durch Dampfkessel und Triebwerke ver­ mittelt werden, von der ihrer Beschaffenheit gemäßen Haftpflicht befreit, nur weil sie nicht unter die Definition von „Fabriken", fallen, obschon sie gefährlicher sein mögen als Fabriken. Wo so die innere Natur des Gesetzes durchschnitten wird, da dürfen wir nicht Halt machen, sondern müssen ergänzen, soweit der gegenwärtige Zustand der Gesetzgebung diese Ergänzung verträgt. Industrielle haben sofort als Gegenforderung gestellt — und das formale Recht ist unbedingt auf ihrer Seite — daß doch auch die

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Landwirthschaft in dem ganzen Umfange gleichartiger Thätigkeit in dieses Gesetz hinein­ gezogen werde. Man hat auf die Gefahren bei den landwirthschaftlichen Gewerben aufmerksam gemacht, insbesondere auf die sehr bedeutende Ziffer, die ich deswegen auch als Beispiel anführe, der Tödtung durch Pferde beim Fahren. Die Frage ist auf­ geworfen worden: weshalb blos der eine Theil gewerblicher Thätigkeit, warum nicht die gefährlichen Theile der Landwirthschaft? Aber auch die „anderen gewerblichen Anlagen" dürfen säon um deswillen nicht weggelassen werden, weil ihre Merkmale bis auf einige hier nicht entscheidende Zufallspunkte ganz mit denen der Fabrik zusammenfallen. Und wenn es auch richtig ist, daß unter den gewerblichen Anlagen auch kleinere Ge­ werbe getroffen werden können, so bitte ich zu erwägen, daß der Umfang und die Art der Gewerbe ja die Regulirung der Haftpflicht in sich selber trägt. Wenn Sie dem Anträge zustimmen, den wir unter den Buchstaben a gestellt und unter dem Buchstaben c redaktionell formulirt haben, so würde ich meinerseits mit den Beschlüssen dieses Hauses befriedigt sein, selbst wenn Sie an dem Umfange der Verantwortlichkeit nichts ändern. Dies bezieht sich auch auf den Antrag, der unter den Buchstaben d gestellt ist. Ihn selbst, sowie die mehreren sich um ihn gruppirenden Anträge wird ein besserer Liebhaber vertheidigen müssen, als ich es bin. Aber die an­ gebliche Verwirrung durch viele Anträge darf auch hier nicht Grund der Abweisung sein, sondern es liegt mir ob, darzuthun, daß auch hier die verschiedenen Grade der angestrebten Ausdehnung sehr leicht erkennbar sind. Während der Regierungsentwurf und wir in unserem Anträge c die Verantwortlichkeit nur auf die Verschuldung von Personen ausdehnen, dagegen diejenigen Verschuldungen, welche in den Betriebsmalerialien und Vorrichtungen liegen, dem gemeinen Recht überlassen, wo, wenn eine Verschuldung vorhanden gewesen ist durch Verstoß gegen polizeiliche Vorschriften oder durch Nach­ lässigkeit anderer Art, ohnehin die Verantwortlichkeit eintritt, wollen zwei verschiedene Gruppen von Anträgen eine Erweiterung eintreten lassen, zu denen als eine besondere Er­ weiterung für Bergwerke der Antrag Ulrich Hinzutritt. Die Einen wollen nämlich materiell aussprechen, daß der Unternehmer verantwortlich sei für das Fehlen der nothwendigen Einrichtungen; die Anderen wollen einen Schritt darüber hinausgehen und zu dieser materiellen Verantwortlichkeit noch hinzufügen, daß dem Unternehmer die Beweislast auferlegt werde, daß er nach jedem Unfall bereit sein müsse, den Beweis zu führen, daß diejenigen Vorrichtungen getroffen waren, die zur Abwendung eines „solchen" Unfalles, d. h. eines Unfalles von der Beschaffenheit des eingetretenen, oder zur Ab­ wendung von Unfällen im Allgemeinen nothwendig sind. Zn dieser letzt angedeuteten Verschiedenheit liegt gleichfalls eine abweichende Schattirung. — Ich selbst, m. H., bin der Meinung, daß zur materiellen Ordnung der Verantwortlichkeit für die nothwendigen Einrichtungen ein Bedürfniß nicht vorliegt, weil das gemeine Recht genügend bereits gesorgt hat. Ich bin ferner kein Freund davon, die Verantwortlichkeit zu vermehren, durch eine künstlich geschaffene Beweislast, weil ich die Furcht hege, daß man mit der veränderten Beweislast oft nur Geringfügiges an dem materiellen Recht zu ändern glaubt, aber unter dieser Form eine Erschwerung einführt, welche der Gesetzgeber gar nicht übersehen kann, weil ich ferner fürchte, daß der Gesetzgeber unter dieser Form die Verantwortlichkeit von Zufällen abhängig macht, die mit einer solchen Wirkung nicht in das System des Rechtes eingeführt zu werden verdienen. — Dies ist der Grund, weshalb ich der Ausdehnung der Verantwortlichkeit in dem einen oder dem anderen Sinne nicht das Wort reden kann und es überlassen muß, daß dieser Theil des An­ trages anderweitig besser vertreten werde, als ich es vermag. Abg. vr. Biedermann: M. H.! Ich nehme gern Gelegenheit, in meinem Namen und im Namen meiner damaligen Mitpetenten dem Bundesrathe Dank zu sa­ gen sowohl für die Wärme, womit er dieser Sache sich angenommen, als für den hohen und freien Geist, worin er die Materie behandelt hat. Zch hoffe indeß, es wird dieser Dankbarkeit keinen Abbruch thun, und es wird auch nicht etwa mir den Vor­ wurf zuziehen des alten Sprichwortes, daß, wenn man Jemanden den Finger gebe, er die Hand nehme, wenn ich dennoch nach einer Seite hin eine Erweiterung des Ge-

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setzes wünsche. M. H., ich wünsche keine Erweiterung in Bezug auf die Zahl der Ge­ werbe, so beredt auch mein Herr Vorgänger diese Erweiterung befürwortet hat; ich will sie deshalb, nicht, um das Gesetz auf das nothwendigste Bedürfniß zu beschränken und seine Annehmbarkeit dadurch zu sichern, ich will durch mein Amendement durchaus nicht einen so strikten Beweis der mangelnden Schuld, wie bei den Eisenbahnen der Nach­ weis der höheren Gewalt ist; ich will also die Haftpflicht materiell nicht ausdehnen über das, was im § 2 der Regierungsvorlage bereits steht. Aber ich will eine Bürg­ schaft, daß diese Haftpflicht, die im Gesetze steht, auch wirklich geltend gemacht werden könne; ich will eine Bürgschaft dafür, daß die wohlthätige Bestimmung des Gesetzes nicht ein Buchstabe bleibe und nicht statt Hoffnungen, die sie erweckt, späterhin nur Täuschungen bringe. — M. H., wir haben neulich von einem sehr sachkundigen juristischen Mitgliede, dem Herrn Abg. Schwarze, gehört, daß es den Arbeitern in den meisten Fällen beinahe unmöglich sein würde, den Beweis der Verschuldung des Unternehmers oder seiner Bevollmächtigten zu führen, namentlich deswegen, weil die Spuren des Unglücks sich leicht verwischen ließen. Wir lesen in der Denkschrift eines anderen Mit­ gliedes dieses Hauses, des Abg. von Swaine, daß es bedenklich sei, ein Gesetz zu ge­ ben, welches den unbemittelten Arbeiter zu einem sehr schwierigen Prozesse zwingen werde. M. H., das Gesetz selbst giebt mir einen sehr triftigen Grund, diese Bürgschaft zu verlangen, indem es den Eisenbahn-Arbeiter in dieser Hinsicht ungleich besser stellt, als den Bergwerks- und Fabrikarbeiter. M. H., ich glaube, dieses niederdrückende Ge­ fühl wäre doch ungleich stärker und berechtigter, wenn die Arbeiter derselben Kategorien von Gewerben, die in dem Gesetze vorgesehen sind, sich so verschieden behandelt sehen, wenn der Bergwerks- und Fabrikarbeiter sich sagen müßte, dein Kollege auf der Eisen­ bahn ist geschützt, der muß für Alles entschädigt werden, wenn die Eisenbahn nicht nachweist, daß er selbst schuld war, oder daß eine höhere Gewalt eintrat, du aber mußt einen schwierigen, vielleicht unmöglichen Prozeß führen. M. H., was verlangt nun mein Amendement von den Bergwerks-Besitzern und Fabrikbesitzern? Es verlangt im Ganzen nicht Anderes, als was jetzt schon auf einem anderen Wege geschieht. Wir haben namentlich bei Bergwerken allgemein, sobald ein Unglücksfall eintritt, die sofortige umfassende amtliche Ermittelung. Bei dieser amt­ lichen Ermittelung wird Alles herbeigezogen, was irgend wie mit dem Unglücksfall Zu­ sammenhängen könnte; der Besitzer muß Alles nachweisen, was er gethan hat, um einen solchen Unglücksfall abzuwenden. Ich will nun, daß das, was hier lediglich in außer­ gerichtlichen, administrativem Wege geschieht, auf gerichtlichem Wege geschehe; ich will dies darum,weil allerdings diese amtlichen Ermittelungen im administrativen Wege nicht immer, wie mir scheint, so streng genommen worden sind, wie sie es wohl sein sollten. M. H., es hat sich — ich muß gestehen, zu meiner Ueberraschung — gegen den Gesetzentwurf ein Sturm der Erregung, weniger noch in diesem Saal als außerhalb des Reichstages erhoben. Und, wohl gemerkt, dieser Sturm richtet sich nicht gegen die Verschürfungsanträge des Gesetzes, sondern gegen das Gesetz in seiner ursprünglichen Gestalt! M. H., darin scheint mir schon ein Grund zu der Vermuthung zu liegen, daß größtentheils diese Befürchtungen auf Uebertreibung beruhen. Zch finde auch, daß manche der Kundgebungen dieser Erregung sich selbst durch die Form, in der sie auf­ treten, richten, so z. B., wenn die Petition, die sich als eine Petition der Interessenten giebt, unter 554 Unterzeichnern nur einige 40 Unternehmer und über 500 Arbeiter aufzählt. M. H., wen will man glauben machen, daß einfache Arbeiter, denen die Sache recht vorgestellt wird, dieses zu ihrem Schutz zu erlassende Gesetz als ein Unglück für sich betrachten werden? (S. g.! s. w.!) — Es ist ferner in derselben Petition an­ gegeben, auf 900 Arbeiter fielen mehr als sechs Unglücksfälle, und es sind daraus ge­ wisse Folgerungen gezogen. Wir ersehen aber aus den Mittheilungen von Geheimrath Engel, daß auf 1000 Arbeiter im Durchschnitt nur etwa drei Unglücksfälle bei Berg­ werken fallen. — Es ist ferner in dieser und anderen Petitionen davon die Rede, daß die Durchführung dieses Gesetzes — auch in seiner ursprünglichen Gestalt — den finan-

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ziellen Ruin dieser ganzen Gewerbe und namentlich der Bergwerke herbeiführen müßte; Geheimrath Engel zeigt uns dagegen, daß die Unglücksfälle in den Kohlen-Bergwerken und die dafür nöthigen Entschädigungen gedeckt werden können, wenn auf jeden Centner Steinkohlen nur um 75 Pfennige aufgeschlagen wird. Wenn die Gewerbe wirklich durch dergleichen Gesetze ruinirt würden, so müßten sie in Frankreich, England, Belgien und Amerika längst ruinirt sein, denn dort bestehen solche Gesetze. — Ich komme hier bei­ läufig noch auf einen anderen Entwurf. Es ist wohl gesagt worden: der Arbeiter in diesen gefährlichen Gewerben erhalte ja in dem höheren Lohn eine Risikoprämie für diese Gefahr. Ich will hier nicht untersuchen, ob der höhere Lohn in diesen Gewerben lediglich dadurch, ob er nicht häufiger veranlaßt und bedingt ist durch die ganze Natur der Produktion und Konsumtion, z. B. durch den Werth und die Wichtigkeit jenes fossilen Produktes, der Steinkohle. Aber wenn ich auch den höhern Lohn als eine Risikoprämie gelten lasse, so tritt doch der Arbeiter in diesen höheren Lohn lediglich mit dem Be­ wußtsein ein, daß er sich einem gefährlichen Gewerbe widme, daß er eine Risikoprämie habe für die Gefahr, welche das Spiel gewaltiger Naturkräfte über ihn verhängt. Aber daß er auch dem größeren oder geringeren Leichtsinn der Unternehmer oder ihrer Organe bei solchen Gewerben sich preisgebe, das ist damit nicht gesagt. Zm Gegentheil ist die Präsumtion doch wohl natürlich, daß der Unternehmer Alles thun werde, diese Gefahren von dem Arbeiter abzuwenden. Ich mache noch auf eine soziale Seite dieser Frage aufmerksam. Wir Alle wünschen gewiß, daß der Arbeiterstand in Deutschland auf jenem ruhigen, sicheren und allein praktischen Wege seiner Verbesserung entgegengehe, die eines unserer verehrten Mitglieder, der Abg. Schulze, ihm vorgezeichnet und auf so verdienstvolle Weise angebahnt hat: auf dem Wege der Selbsthülfe und der Selbstverantwortlichkeit. Aber wenn der Arbeiter diesen Weg betreten soll, wenn er diesen Weg mit Beharrlichkeit betreten soll, so muß er auch sicher sein, daß er von diesem seinem Bestreben Früchte habe. Wenn der Arbeiter durch Fleiß und Sparsamkeit sich so viel sammelt, um in den Tagen des Alters davon leben und seine Familie ernähren zu können, so darf er nicht jeden Augenblick in Gefahr stehen, durch eine Verschuldung des Arbeitgebers um die Früchte seiner Spar­ samkeit zu kommen. Wenn dies der Fall ist, dann, fürchte ich, wird der Arbeiter ent­ weder in eine gewisse fatalistische Gleichgültigkeit verfallen und denken: was Hilst dir alle Sparsamkeit, wenn du täglich der Gefahr ausgesetzt bist, um diese Früchte zu kommen; oder er wird sich jenen sozialistischen Theorien ergeben, zu welchen ihn die sogenannten Freunde des Arbeiterstandes verführen wollen. Abg. Klotz: M. H., das Amendement, welches ich gestellt habe, beabsichtigt, daß für den Fall eines Unfalls, welcher Beschädigungen von Arbeitern herbeiführt, der Unter­ nehmer so lange für haftbar erklärt wird, bis er den Beweis geführt hat, daß er die­ jenigen Sicherheitsmaßregeln bei der Einrichtung und dem Betriebe seines Werkes beob­ achtet hat, welche durch bestehende Verordnungen oder durch Wissenschaft und Erfahrung geboten waren. M. H.; ist denn diese Präsumtion, die von uns aufgestellt wird, eine künstlich geschaffene? Liegt denn das nicht im Rechtsbewußtsein des Volkes tief be­ gründet, daß Jeder verlangen muß und auch verlangen kann, daß der Unternehmer die­ jenigen Anordnungen trifft zur Sicherheit der Arbeiter, die ihm die Gesetze oder Ver­ ordnungen vorschreiben, oder die für jeden gewissenhaften Menschen durch Wissenschaft und Erfahrung geboten sind? Von der Präsumtion, daß den Unternehmer ein Ver­ schulden trifft, falls er den Beweis, den wir von ihm verlangen, nicht führen kann, meine ich, wird doch Niemand behaupten können, daß sie ein Eingriff und eine Ver­ letzung des Rechtsbewußtseins des Volkes ist. Deshalb habe ich aber auch, abweichend von der Fassung, die in dem Anträge des Herrn Abg. Lasker gewählt ist, es für noth­ wendig gehalten, daß der dieser Präsumtion gegenüber zu führende Gegenbeweis nicht blos durch die allgemeine Bezeichnung, die erforderlichen Sicherheitsmaßregeln ge­ troffen zu haben, definirt, sondern in die Grenzen eingeschränkt wird, die es dem soliden Unternehmer möglich machen, seine Nichtschuld zu erweisen, den Beweis nämlich, daß er bei der Einrichtung und dem Betriebe seines Unternehmens der bestehenden Verord-

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nung nachgekommen ist und die durch die Erfahrung und Wissenschaft gebotenen Sicher­ heits-Maßregeln getroffen hat. Deshalb liegt eine Erweiterung der Haftpflicht für den Unternehmer in unserem Amendement keineswegs. Ich möchte mich aber auch — und das bezweckt unser Amendement — gegen den Kausalnexus zwischen dem Unfall und den vorgeschriebenen Sicherungs-Maßregeln verwahren, der in dem Anträge Lasker zum § 2 sub d hervorgehoben ist, abweichend von meinem ursprünglich in der freien Kom­ mission gestellten Anträge. Es wird da von dem Unternehmer verlangt, er soll den Beweis führen, daß er diejenigen Anordnungen beobachtet hat, die erforderlich waren, um den in Rede stehenden Unfall abzuwenden. Ich würde mich sehr gerne damit ein­ verstanden erklären, das anzunehmen, wenn ich nicht mit Bestimmtheit voraussähe, daß dadurch dem Beschädigten in den meisten Fällen wieder die Möglichkeit genommen wird, sein Recht durchzuführen. Hat der Beschädigte eine bloße Körperverletzung erhalten, ist er am Leben erhalten worden, so ist es ihm ja möglich, den Unfall in seinen Einzel­ heiten genau zu definiren und dem Richter darzustellen; denken Sie aber, daß der Unfall den Tod des Beschädigten herbeigeführt hat, denken Sie, daß die Stelle, wo die Tödtung stattgefunden hat, durch eine Explosion, durch Verschüttung, überhaupt in einer Weise vernichtet worden ist, daß es nicht mehr möglich ist, am allerwenigsten den Erben des Getödteten, auch nur ein annähernd richtiges Bild von dem eigentlichen Hergänge dar­ zustellen, so würde der Anspruch der Erben des Getödteten unter keinen Umständen vor dem Richter durchgeführt werden können, weil es eben unmöglich ist, den Hergang des Unfalles selbst darzustellen, und deshalb ist es nothwendig, daß der Gegenbeweis, den der Unternehmer zu führen hat, nicht beschränkt wird auf den bestimmten Unfall, sondern daß er überhaupt nachzuweisen hat, daß er seinen Pflichten nachgekommen ist,- freilich nur für den Fall, wo es unmöglich ist, den Unfall in seinen Einzelheiten zu charakterisiren. Zst es möglich, diesen Unfall genau festzustellen, so wird ja der Unternehmer viel eher in der Lage sein, die Einzelheiten des Unfalles dem Richter darzustellen und zur Anschauung zu bringen, als es dem Beschädigten oder seinen Erben möglich ist; und dann wird jeder verständige Richter vom Unternehmer doch nur den Gegenbeweis verlangen, daß diejenigen Einrichtungen getroffen waren, die den speziell und konkret eingetretenen Unfall hätten verhindern müssen. Ich halte die Annahme des von uns gestellten Amendements für durchaus nothwendig. Abg. Ulrich: Zunächst erlaube ich mir mit Bezug auf eine Bemerkung, die in der General-Diskussion von dem Herrn Abg. Becker über die technischen Sach­ verständigen*) gefallen ist, zu erwähnen, daß ich auch zu diesen gehöre. Ich werde mich aber möglichst bemühen in der objektivsten Weise die Sache zu behandeln. — DerUchtigste Unterschied zwischen der Haftpflicht in dem § 1 und in dem § 2 des Gesetz-Entwurfs besteht darin, daß nach dem § 2 der Beschädigte keine Entschädigung erhält, wenn der Unfall durch Verschulden eines Mitarbeiters herbeigeführt wurde, und daß zweitens der Nachweis des Verschuldens überhaupt dem Beschädigten aufgebürdet ist. — Was den ersten Punkt anbetrifft, so führen die Motive als einzigen Grund dafür an, daß die Bergleute mit dem vollen Bewußtsein der Gefahr in ihre Arbeit eintreten, die ihnen aus einem Verschulden ihrer Mitarbeiter droht, und daß man des­ halb dem Bergwerks - Eigenthümer nicht eine solche große Haftpflicht aufbürden könne. M. H., ich muß das für unrichtig halten. Es können doch nur zwei Fälle eintreten. Entweder ist der Arbeiter erst im Begriff, diesen Berus zu wählen, und dann, glaube ich, kann wohl nicht davon die Rede sein, daß ihm die Gefahr dabei bekannt sein sollte, namentlich wenn in der Nähe des Bergwerkes, bei welchem er in Arbeit treten will, noch kein erheblicher Unfall passirt ist. Hat er aber seinen Beruf bereits erwählt, und gehört er diesem schon seit längerer Zeit an, nun, m. H., dann heißt ein solches Argument, den Arbeiter ganz einfach vor die Alternative stellen, wie Herr v. Unruh es schon bei der General-Diskussion hervorgehoben hat, ob er trotz der Gefahr arbeiten oder verhungern will. Ich kann also ein solches Argument dieser Frage gegenüber *) H. Ulrich ist Ober-Bergrath in Clausthal unb gilt in seinem Fach für eine bedeutende Autorität (ultramontan).

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unmöglich gelten lassen. — Nun ist in den Motiven gesagt, die Verantwortlichkeit der Besitzer könne doch nicht weiter ausgedehnt werden, als die Möglichkeit der Aufsicht beim Bergwerks-Betriebe reiche, und sie fei in sehr vielen Fällen nicht zu führen. M. H., ich muß Zhnen offen bekennen, daß mich dies in einem offiziellen Aktenstück etwas befremdet hat, und das wird es uns in der Praxis nicht erleichtern, die beim Bergwerks-Betriebe nothwendige Aufsicht dem Eigenthümer gegenüber zu erzwingen. Zch behaupte, der Bergwerks-Besitzer muß unter allen Umständen diejenige Aufsicht beim Betriebe eintreten lassen, bei der, nach menschlichem Ermessen wenigstens, Unglücksfälle verhütet werden; er muß dafür sorgen, daß seine Leute, die mit der Aufsicht betraut sind, zuverlässig sind. Wenn er das nicht thut, würde ich als Bergbeamter ihm ohne Weiteres den Betrieb einstellen. — M. H., es wird ungefähr ein Drittheil der Un­ fälle, die beim Bergbau vorkommen, durch sogenannten Steinfall herbeigeführt. Zch weiß nicht, ob die Herren die statistischen Mittheilungen vom Herrn Geheimrath Engel näher angesehen haben: Sie werden auch daraus entnommen haben, daß das ein sehr bedeutendes Kontingent ist; ich glaube, es war über ein Drittheil im Jahre 1869, auf welches Jahr sich die letzte statistische Ausstellung bezieht, die über diese Angelegenheiten gemacht ist. Unter diesem sogenannten Steinfall versteht man das plötzliche Herein­ gehen von größeren Gesteinsmassen oder sonstigen Gebirgsmassen, Kohlen und dergleichen; das kann selbstverständlich nur dadurch verhindert werden, wenn mit der größten Sorg­ falt bei dem Ausbau der Gruben verfahren wird. Damit das aber geschieht, ist vor allen Dingen erforderlich, daß die unteren Aussichtsbeamten möglichst regelmäßig die Arbeit kontroliren, daß sie die Arbeiter auf das Sorgfältigste instruiren und sich über­ zeugen, ob sie die Instruktionen bezüglich der Sicherung der Arbeiten begriffen haben; daß sie aber vor allen Dingen nicht, wie es leider oft geschieht, in solchen Arbeiten vollkommen unerfahrene Leute auf gefährlichePunkte stellen. Es ist mir während meiner Funktion als Berg-Revierbeamter mehrfach vorgekommen, daß ich Arbeiter in Gruben angetroffen habe, über die ich feststellte, daß sie kaum einige Monate oder Wochen Bergarbeit betrieben hatten, und daß sie sich bei ziemlich schwierigen Arbeiten selbst überlassen waren. Wenn das vorkommt, m. H., so darf es Einen nicht Wunder nehmen, daß vielfache Unglücksfälle passiren. Man sagt nun sehr häufig: ja, das muß die Bergpolizei verhindern. M. H., ich bin der Letzte, der etwa die Vortrefflichkeit unserer Bergpolizei angreifen wollte; in dieser Beziehung geschieht wirklich Alles, was möglich ist: es sind unsere Bergpolizei-Beamten außerordentlich gewissenhaft mnd thätig in ihrem Berus, und was an ihnen liegt, werden sie gewiß nichts versäumen, um Un­ glücksfällen beim Bergbau vorzubeugen. Aber wenn man sich die Sache näher ansieht, so kann man sich der Ueberzeugung nicht verschließen, daß durch die Bergpolizei un­ mittelbar in allen den Fällen, die ich angedeutet habe, ein Unglücksfall nur sehr selten verhindert werden kann. Ich will die Herren nicht damit ermüden, die allgemeinen bergpolizeilichen Vor­ schriften anzugeben, aber wenigstens möchte ich Eines hervorheben, was öfter als eine Sicherheits-Maßregel angeführt wird, das ist die Feststellung des Betriebsplanes durch die Behörde. M. H., die Feststellung des Betriebsplanes erstreckt sich auf nichts weiter, als daß die allgemeinen Dispositionen, die der Bergwerks-Betreiber bei dem Abbau des ihm zur Gewinnung von Mineralien verliehenen Feldes beobachten will, im Wesentlichen festgestellt werden; von einer unmittelbaren Anordnung, die auf die Sicher­ heit der Arbeiter im Einzelnen sich bezieht, ist dabei gar nicht die Rede; es kann also darin meiner Ansicht nach kein erheblicher Grund gefunden werden, um weniger streng zu sein. — Ich bemerke bezüglich des Amendements der Herren Lasker u. Gen., zu dem mein Unteramendement gestellt worden ist, daß dies Amendement allein, welches sich hauptsächlich darauf erstreckt, daß der Bergwerks-Eigenthümer im Fall eines Unglücks den Nachweis führen soll, daß die nöthigen Vorkehruugen und Einrichtungen getroffen worden seien, um einen solchen Unfall zu verhindern, nach meiner festen Ueberzeugung nur eine sehr geringe Garantie für die Erlangung einer Entschädigung im Falle, daß etwas vernachlässigt worden ist, darbieten würde; es liegt auf der Hand, Reichstags-Repertorium I.

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daß das Vorhandensein durchaus zweckentsprechender und angemessener Einrichtungen beim Bergbau an und für sich noch keine Garantie für die Vermeidung des Unfalls bietet, sondern das tritt erst ein, wenn diese Einrichtungen gehörig funktioniren und beaufsich­ tigt werden; sonst treten dieselben Umstände ein, wie ich sie schon angeführt habe. — Es ist nun gesagt worden, auch gestern noch von dem Herrn Bundes-Kommissar an­ gedeutet worden, daß der Bergbau die gesteigerte Haftpflicht, die aus einer solchen Ver­ mehrung der Anforderungen entstehen könne, nicht tragen könne. M. H., ich muß Ihnen miltheilen, daß eine ganz gewaltige Unterschätzung der Bedeutung unseres Bergbaues darin liegt, wenn man das sagen wollte. Ich habe hier die statistischen Nachrichten, die vom königlichen Handels-Ministerium herausgegeben werden, vom Jahre 1869. Es ist das die letzte Uebersicht, die amtlich herausgekommen ist. Danach hat der Werth der Bergwerks-Produkte (nicht der Hütten- und anderen Produkte, sondern nur der­ jenigen, welche aus den Gruben zu Tage gefördert werden), im Jahre 1869 67,637,682 Thaler betragen. Nun haben wir im Jahre 1869 ein verhältnißmäßig ziemlich starkes Kontingent von Unglücksfällen gehabt; im Jahre 1868 war es allerdings noch etwas größer, aber es repräsentirt doch eine ziemlich reichliche Mittelzahl. Wir haben damals im Ganzen 450 tödtliche Unglücksfälle gehabt und annähernd 110, die nicht tödtlich gewesen sind. Wenn Sie nun von diesen sämmtlichen Unglücksfällen diejenigen aus­ scheiden, wie ich es nach einer sorgfältigen Ermittelung gethan habe, wo das Verschul­ den des Beschädigten resp. Getödteten außer allem Zweifel steht — das habe ich bei 74 tödtlichen und 26 nicht tödtlichen Verunglückungen als außer Zweifel nach den be­ treffenden Berichten konstatirt; außerdem sind noch mindestens 26 Fälle, wo es gar nicht in Zweifel gezogen werden kann, daß das Vorhandensein einer vis major an­ erkannt werden würde, wo also auch selbst bei der äußersten Ausdehnung eine Ent­ schädigung nicht in Betracht käme, — dann bleiben 435 Fälle wo eine Entschädigung überhaupt möglich gewesen wäre; in den anderen Fällen wäre sie von vornherein aus­ geschlossen gewesen. M. H., um nun das allerdenkbarste oder eigentlich undenkbarste Maximum dessen, was der zur Entschädigung Verpflichtete zu leisten gehabt haben würde, Ihnen einigermaßen klar zu machen, will ich, damit Niemand mir den Einwand der Schönfärberei machen kann, allerschlimmsten Falls einmal annehmen, erstens, daß die sämmtlichen nicht getödteten, sondern schwer verletzten Arbeiter dauernd arbeits­ unfähig geworden seien, daß zweitens Alle eine mehr oder minder große Zahl von Angehörigen zu unterhalten gehabt hätten und drittens, daß sie sich sämmtlich noch in einem relativ geringen Durchschnittsalter, 32 oder 33 Jahre, befunden hätten; endlich will ich auch annehmen, daß der Richter bei Prüfung der Entschädigungspflicht in allen Fällen ohne Ausnahme auf die größtdenkbare Entschädigungspflicht erkannt hätte, näm­ lich, daß er den Hinterbliebenen, gleichviel ob Descendenten oder Ascendenten in größerer oder geringerer Zahl vorhanden seien, den ganzen jährlichen Arbeitsverdienst des betreffenden Arbeiters in Kapital, auf 25 Jahre kapitalisirt, zuerkannt hätte. Das würde nach der gewöhnlichen Rentenrechnung bei 5 pCt. Zinsen für jeden Einzelnen ein Kapital von 2400 Thalern gewesen sein. Wenn Jemand der Herren das kontroliren will — ich glaube, es wird richtig sein, — dann ergiebt sich aus sämmtlichen Unglücks­ fällen ein Kapital von einer Million rund, vielleicht eine Kleinigkeit mehr. Von dieser Million Thalern will ich nicht im entferntesten behaupten, daß das nicht eine unange­ nehme Belastung für den Bergbau sein würde. Nichts weniger als das, wenn sie überhaupt jemals eintreten könnte. Aber daß auch selbst eine Belastung von einer Million Thalern den Bergbau nicht ruiniren kann, das, glaube ich, läßt sich unbedenklich behaupten. — Ich will nur noch Eines hinzufügen. Die Engelsche Denkschrift giebt auch darüber Auskunft, daß die sämmtlichen beim Bergbau- und Hüttenwesen 660 Ver­ unglückten nur 929 Angehörige im Ganzen gehabt haben, und wenn ich nun den ge­ wöhnlichen Durchschnitt der Familien - Mitglieder unter den Bergwerks-Arbeitern bei wirklich Verheirateten annehme, so geht schon daraus hervor, daß noch nicht einmal die Hälfte der Verunglückten mehrere Familienglieder gehabt haben. M. H., wenn man also nun behauptet, daß in Folge einer solchen verstärkten Haftpflicht für den Bergbau

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dadurch ein großer Nachtheil herbeigeführt werde, daß sich das Kapital wegen des größeren Risikos von ihm zurückziehen würde, so ist das also auch nach dem Angeführten durchaus nicht haltbar. Das Risiko beim Bergbau steckt ganz wo anders, das steckt darin, was der Bergmann nennt: „hinter der Keilhaue ist es finster", d. h. daß man nicht weiß, ob man überall auch die vermutheten Mineralien finden werde, um die man Anlagen gemacht und große Kapitalien aufgewendet hat, daß man einen Bergbau an­ gefangen hat, den man später einstellen muß, oder daß er durchaus nicht geeignet ist, eine größere Rentabilität zu erlangen, ferner in dem Schwindel, der sich leider des Bergbaues bemächtigt hat, und endlich vorzugsweise in dem mangelhaften Betriebe und der mangelhaften Verwaltung. Darin liegen ganz andere Gründe für einen ungünstigen Verlauf bei Bergwerks-Unternehmungen, als wie sie durch diese Haftpflicht möglicher­ weise herbeigeführt werden könnten. Es ist nun unter Anderem darauf hingewiesen worden, daß der Bergbau ein so — ich möchte sagen — erschreckliches Unternehmen sei, daß dabei so sehr schlimme Zu­ stände obwalteten, und daß man wegen der schlimmen Naturkräfte, mit denen der Bergbau hauptsächlich zu thun habe, doch dem Bergwerksbesitzer nicht eine solche kolossale Verantwortung aufbürden könne. M. H., so schlimm siehL's denn, Gott sei Dank, beim Bergbau durchaus nicht aus. Ich behaupte, daß diejenigen, die solche Schreckbilder von dem Bergbau entwerfen und daraus die Folgerung ziehen wollen, als könnte man den Bergbau-Unternehmer bei seinem Betriebe nicht verantwortlich dafür machen, daß er die nöthige Vorsicht zum Schutze seiner Arbeiter anwendet, dem Bergbau hundert Mal mehr schaden, als die größte Haftpflicht es jemals vermöchte. Es ist ganz richtig, wir haben ja auch beim Bergbau, und zwar vorzugsweise, mit den Naturkräften zu thun, mit Wasser und Feuer, Luft und Erde, wie man die Elemente so zu nennen pflegt, und die thun uns auch natürlich bisweilen Schaden, aber doch' keineswegs in dem Maße, daß wir sie nicht beherrschen könnten. Im Gegentheil, Gott sei Dank, die ganz enormen Fortschritte, welche die Bergwerks-Technik in neuerer Zeit gemacht hat, sind der Art, daß wir kühn behaupten können, daß wir beim Bergbau die Elemente beherrschen. Wenn ein als tüchtig bekannter Bergwerks-Techniker an die Spitze eines größeren Un­ ternehmens gestellt, seinen Mandatgebern sagen wollte: ich will das Alles wohl machen, aber wenn später aus irgend einer Ecke eine Naturkraft hervorbricht und mir das Kon­ zept verdirbt, dann kann ich nicht dafür — das giebt's gar nicht beim Bergbaue. Ich berufe mich auf das Zeugniß unseres verehrten Chefs der preußischen Bergverwal­ tung, der in unserer Mitte ist, daß ein königlicher Berg-Direktor, der ihm mit solchen Redensarten käme, am längsten auf seinem Posten gewesen wäre. Das ist nicht der Fall. — Daß trotz aller Vorsicht und Strenge noch einzelne Unglücksfälle passiren, die auch Einen, der Alles zur Verhinderung aufgeboten hat, treffen können, das wollen Sie doch nicht als Grund dafür anführen, das Prinzip aufzugeben. Mir ist wenigstens nicht bekannt, daß auf irgend einem privatrechtlichen Gebiete man ein Prinzip deswegen fallen läßt, weil möglicherweise dessen strenge Durchführung einen einzelnen Menschen zahlungsunfähig machen kann. Uebrigens ist der Bergbau bekanntlich vorzugsweise in Händen des Staats oder großer Gesellschaften oder potenter Magnaten — wir haben einige von den Herren hier im Hause; — denen wird es keinen Schaden thun, wenn sie wirklich einmal einem Paar Dutzend Menschen eine Entschädigung zahlen müssen. Ich möchte zum Schluß nur noch ein paar Worte über die sociale Seite der Frage sagen. Es ist von dem Herrn Abg. Grafen Bethusy-Huc in der Generaldiskussion unter Anderem das für sehr unbedenklich gehalten worden, was in dieser Beziehung möglicherweise aus einer ungünstigen Lösung dieser Frage hergeleitet werden könnte, und er hat namentlich geglaubt, daß der sogenannte socialdemokratische Unsinn bei unseren Arbeitern überhaupt niemals Boden finden würde. Der Ansicht bin ich nicht. Leider habe ich dafür aus der neueren Zeit in meinem jetzigen Wohnorte doch recht schlagende Gegenbeweise. Ich muß sagen, daß ich gerade den deutschen Arbeiter für diesen socialdemokratischen Unsinn, den ich allerdings auch so ansehe, für merkwürdig empfänglich halte. Die deutschen Arbeiter haben ein so außerordentliches Rechtsgefühl 19*

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und eine so zähe Anhänglichkeit sowohl an wirkliche als auch vermeintliche Rechte, daß gerade diese ganz besonders leicht zu solchen Anschauungen verführt werden können; und, m. H., wenn wirklich diese socialdemokratische Ideen auch künftig möglicherweise den Arbeitern selbst als Unsinn einleuchten sollten, was ich sehr wünsche, so wird es jedenfalls erst dann geschehen, wenn der praktische Beweis dafür geliefert worden ist, und den möchten wir nicht gern herbeigeführt sehen. Ich glaube im Gegentheil, daß der Wunsch gerechtfertigt ist, daß Alles geschehe, um zur rechten Zeit sowohl seitens der Gesetzgebung als der Verwaltung überhaupt berechtigten Klagen der Arbeiter vorzubeugen. M. H., ich muß als letztes Wort Ihnen sagen, daß nach meiner festen Ueber­ zeugung die Annahme des Regierungsentwurfs in Bezug auf die Bergwerke eine be­ rechtigte Klage der betheiligten Arbeiter herbeiführen würde; denn aus den von mir angeführten Gründen, namentlich in Betreff der Beweisführung, wird es nur in den seltensten Fällen, wo unzweifelhaft ein Verschulden obwaltet, möglich sein, ein solches zu beweisen. Die Leute werden meistens leer ausgehen; das Arbitrium des Richters kann da unmöglich abhelfen, denn welcher Richter wird Jemanden verurtheilen, bei dem selbst der Sachverständige das größte Bedenken hatte, überhaupt auszusprechen, daß nach seiner festen Ueberzeugung Jemand ein Verschulden trifft. Also es ist nicht möglich, das abzuweisen, daß in Bezug auf die Bergleute der Absicht, Abhülfe zu schaffen, durch das Gesetz nicht entsprochen werde. Da nun mein gestriges Amendement leider nicht angenommen ist, so betrachte ich das heute gestellte Amendement nur als einen Noth­ behelf, um wenigstens in allen Fällen, wo es nach meiner Ansicht unter diesen Um­ ständen noch möglich ist, diesem durch die mangelhafte Fassung des Gesetzes herbei­ geführten Nachtheil für die Arbeiter vorzubeugen. • Bundeskommissar, Geheimer Ober-Bergrath Dr. Achenbach: M. H.! Nach der Ansicht der Negierung ist die Mehrzahl der Amendements in der Hauptsache durch den gestrigen Beschluß zur Erledigung gekommen. Das hohe Haus hat gestern darüber sich schlüssig gemacht, ob den Eisenbahnen die anderen gewerblichen Etablissements gleich­ zustellen seien oder nicht; es hat einen Unterschied gezogen; gegenwärtig soll aber mit Hülfe dieser verschiedenen Amendements die gestern abgelehnte Gleichstellung jener anderen Etablissements mit den Eisenbahnen bald abgeschwächt, bald nicht wiederhergestellt werden. Das ist, der Ansicht der verbündeten Regierungen nach, das Ziel der verschiedenen Amendements, welche hier eingebracht worden sind. Aus diesem Grunde müssen aber die Regierungen, gerade so wie gestern gegen die Gleichstellung der Eisenbahnen mit den anderen Etablissements, sich so heute gegen diese drei Amendements mit ihrem Unteramendement erklären; sie thun es aus dem Grunde, weil durch die sämmtlichen Amendements die Haftung des Betriebsunternehmers über diejenige Grenze ausgedehnt wird, welche in irgend einem europäischen Staate bisher zur Anwendung gekommen ist, (h.! h.!) sie thun es auch deshalb, weil insbesondere durch jedes dieser Amen­ dements, wenn eines derselben angenommen werden sollte, die Grenzen überschritten werden, welche die französische Gesetzgebung gezogen hat. Zweitens sind aber auch die Regierungen der Ansicht, daß es ein nicht angemessener Weg sei, materielle Fragen von dieser außerordentlichen Tragweite lediglich durch die Regelung der Beweislast zu erledigen; (h.! h.!) sie sind der Meinung, daß, wenn diese Fragen entschieden werden sollen, sie durch anderweitige materielle Normen festgestellt werden müssen. Aus diesen Gesichtspunkten also, erkläre ich mich gegen die sämmtlichen Amendements. M. H., man hat diejenigen Ausführungen bestritten, welche ich bezüglich einer möglichen Ueberlastung des Bergbaues, und nicht blos des Bergbaues, sondern unserer Industrie überhaupt gemacht habe, und diese Worte zugleich mit einem Kommentar be­ gleitet. M. H., ich habe nicht direkt behauptet, daß die eine oder die andere Maßregel Zustände der Ueberlastung mit Sicherheit herbeiführen würde, sondern meinerseits nur die Möglichkeit der Ueberlastung in Aussicht gestellt und deshalb gerathen, ruhig und besonnen aus dem hier vorliegenden Gebiete vorzugehen. Dies vorausgeschickt, muß ich auf der anderen Seite indeß bemerken, daß mit statistischen Zahlen über die riesenhafte

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Entwickelung unserer Industrie, über den außerordentlichen Werth, welchen die preußische und deutsche Produktion gegenwärtig besitzt — sie beträgt in Deutschland nach dem mir vorliegenden Material aus den Bergwerken allein rund 79 Millionen Thaler, und wenn Sie die Hütten noch dazu nehmen wollen, so ist in Deutschland der Werth der Hüttenproduktion allein 168 Millionen jährlich — absolut gar nichts zu machen ist. Es ist eine ganz notorische Thatsache, und sie liegt mir aus einer bestimmten Reihe von Zähren aktenmäßig vor, wonach in Westfalen gerade zu der Zeit, in welcher die Entwicklung eine sehr große war, wo riesige Werthe producirt worden sind, doch das Kapital nicht über 2 bis 3 Prozent verzinst worden ist. (H.! h.!) Das ist die Lage, wie sie sich nach amtlichen Ermittelungen vergangener Zahre ergeben hat, und ich glaube kaum, daß sie wesentlich besser geworden ist. Es giebt eine Reihe von BergbauUnternehmungen, die in der That, wie der Bergmann sagt, mit dem bergmännischen A, d. h. mit dem Z, der Zubuße anfangen, um bei derselben zu bleiben, und doch kann man nicht sagen, daß solche Unternehmungen besser überhaupt unterblieben. In der That, derartige Unternehmungen haben ebenfalls ihre Bedeutung und tragen zur Ver­ mehrung des Nationalwohlstandes ebenfalls bei. Aus dem Produktionswerth aber auf die mögliche Belastung oder Nichtbelastung des ganzen Bergbaues, auf die Fährlichkeiten, die demselben in dieser Richtung bevorstehen, Schlüsse zu ziehen, halte ich für unthunlich. Ich selbst habe mich nicht dazu hergegeben, hier zu prophezeien; ich habe nur auf einen Gesichtspunkt aufmerksam gemacht, den jeder der Herren zur eigenen Erwägung stellen konnte: Zeder ist und war in der Lage, sich mit sich selbst zu einigen, ob er meiner Auffassung Werth beilegen durfte oder nicht. Ich kann nach dieser Aus­ führung, m. H., Zhnen nur anheimstellen, das zweite Alinea abzulehnen und bei der Regierungsvorlage zu beharren. Nachdem der Bundeskommissar Geheimer Ober-Bergrath Dr. Achenbach die ver­ schiedenen Amendements bekämpft und der Abg. Ackermann sein Amendement, ein Redner den Lasker'schen Antrag befürwortet, erklärt Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Geheimer Ober-Justizrath Dr. Falk: M. H., es war vollkommen richtig, was der Herr Abg. Lasker im Laufe seiner heutigen Rede hervorgehoben hat, daß sich die an den §. 2 anlehnenden Fragen in etwa zwei oder drei Gruppen zusammenfassen lassen. Die erste Gruppe betrifft die Frage: ist die Haftpflicht, wie sie der §. 2 hinstellt, auszudehnen auf andere Unter­ nehmungen oder Etablissements als diejenigen, welche die Regierungsvorlage hervorhebt. Zn dem Amendement des Herrn Abg. Lasker, über welches ein anderes nicht hinausgegangen ist, wird nach drei Richtungen hin im Einzelnen, vielleicht nach zwei Richtungen hin, wenn man von Grundsätzen spricht, eine Ausdehnung vorge­ schlagen. Präsident: Darf ich eine Modifikation, welche der Abg. Lasker zu seinen beiden Amendements vorgeschlagen hat, jetzt zur Kenntniß des Hauses und des Herrn Bundesbevollmächtigten bringen? — Der Herr Abgeordnete schlägt vor, in seinem Amendement zu §. 2 sub a statt des Wortes „Triebwerk" zu setzen: „ein durch Wasser, Wind oder Thiere bewegtes Triebwerk", und sub c statt des Wortes „Triebwerkes" zu setzen: „eines durch Wasser, Wind oder Thiere bewegten Triebwerkes." Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Geheimer Ober-Justizrath Dr. Falk: Der erste Gesichtspunkt betrifft die Ausdehnung auf „andere gewerbliche An­ lagen". Ich kann nicht umhin, meine schwersten Bedenken gegen diese Ausdehnung auszusprechen. Dieselben beruhen namentlich auf der Unbestimmtheit des Aus­ drucks. Zch muß besorgen, daß der Ausdruck, weil er eben unbestimmt ist, eine ganz ungemessene Ausdehnung gestattet und eine Reihe von Etablissements darunter fassen läßt, die vielleicht gar nicht dem Sinne der Herren Antragsteller entsprechen. Es ist von dem Herrn Abg. Lasker hervorgehoben worden, daß der Ausdruck „gewerbliche Unternehmungen" diese Besorgniß im höchsten Grade hervorrufen dürste. Zch habe, da die geehrten Mitglieder der freien Kommission mir gestattet haben, an ihren Berathungen Theil zu nehmen, bereits Gelegenheit genommen, mich mit möglichster Be-

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stimmtheit gegen den Ausdruck „gewerbliche Unternehmungen" auszusprechen, weil dabei die Tragweite des Gesetzes eine ganz andere würde, als sie beabsichtigt ist. Ich will wohl anerkennen, daß „gewerbliche Anlagen" etwas Milderes ist, aber immerhin ist es etwas sehr schwer zu Bestimmendes. Was heißt: gewerbliche Anlagen? Dürfen wir immer zur Bestimmung des Begriffs zurückkehren auf die norddeutsche Gewerbeordnung? Ich möchte das bezweifeln, denn diese ist in diesem Augenblick noch nicht Reichsgesetz. Der Ausdruck wird also auch aus anderen Faktoren erklärt werden müssen als gerade daraus, und außerdem ist der Ausdruck „Anlage" in der GewerbeOrdnung in der That gar kein absolut bestimmter. Ich mag erinnern an zwei Kate­ gorien, die unter dem Ausdruck „gewerbliche Anlage" leicht verstanden werden können, die doch gewiß Bedenken Hervorrufen. Ich denke zunächst an die Apotheker. Man mag mir wohl sagen: das Apothekergewerbe sei gefährlich, und es sei recht angezeigt, daß der Apotheker hafte für seinen Gehülfen. Aber hierbei spielen Momente des öffentlichen Rechts mit, die in der That den verschiedenen Staaten nicht gemeinsam sind, und es frägt sich sehr wohl, ob gegenüber diesen Bestimmungen es gerathen ist, einen Ausdruck zu gebrauchen, der in der That diese Etablissements mit befaßt. Und wenn ich auch praktisch kein großes Gewicht darauf lege, so möchte ich doch, um aus­ zuführen, daß in der That der Ausdruck unbestimmt ist, auf 8 30 der Gewerbeordnung Bezug nehmen, wo die Privat-Krankenanstalten, Privatkliniken ebenfalls als gewerbliche Anlagen hingestellt werden, und ich lege mir die Frage vor: ist es wohl richtig, wenn ein hervorragender Arzt, der einen vielleicht ebenso hervorragenden Arzt zu seinem Assistenten hat, für dessen persönliches Verschulden in diesem Falle haften soll? das sind die Bedenken, welche die Unbestimmtheit des Ausdrucks verursachen; und ich dächte, die hohe Versammlnng thäte gut, diesem so unbestimmten Ausdruck zu ent­ gehen. Das Zweite sind die Triebwerke. Es ist allerdings jetzt ein Amendement eingebracht, was die Sache mildert, aber der Begriff Triebwerk im Allgemeinen würde nach der Auffassung der verbündeten Regierungen ein solcher sein, der in der That in diesem Gesetz keine Stätte finden könnte, und zwar aus technischen Gründen. Nicht Techniker, war ich der Meinung, man könne unter Triebwerk wohl verstehen eine selbst­ ständige, durch irgend welche Kraft getriebene Maschine, die eine andere Maschine in Bewegung setze, und deswegen fand ich anfangs den Ausdruck so sehr bedenklich nicht. Ich habe demnächst aber technische Lexika zur Hand genommen, und da finde ich in einem unter dem Begriff „Triebwerk" ganz speciell genannt: „die die Bewegung erzeugenden Theile der Maschine". Wenn das aber richtig ist, dann fällt wirklich beinahe Alles, was Maschine heißt, unter den Begriff von Triebwerk, ja selbst das Trittbrett einer Nähmaschine. Ich glaube, m. H., der Ausdruck ist ein unmöglicher; ob der Ausdruck, der jetzt vorgeschlagen ist, die Sache ausreichend trifft — das wollen Sie erwägen. Das zweite Moment ist die Ausdehnung der Haftpflicht auf ein größeres Personal, und ich bemerke hier zu dem Antrag des Herrn Abg. Dernburg, der die Worte eingeschaltet wünscht „Maschinist und Heizer", und ferner zu dem An­ träge des Herrn Abg. Lasker und den Mitgliedern der freien Kommission auf Ein­ schaltung des Wortes „Beamten" Folgendes. Ich würde das Wort „Beamter" über­ flüssig halten, weil ich meine, daß derjenige, der zur Leitung und Beaufsichtigung be­ rufen ist, Beamter ist. Legt man aber Gewicht darauf, so ist im Wesentlichen nichts zu erinnern. Aber ich möchte nicht, daß die Ausdrücke „Maschinist und Heizer" ihre specielle Aufführung in dem Gesetze fänden; ich glaube, man kann sich beruhigen mit den Ausdrücken, die das Gesetz selbst bezeichnet hat; sie sind genereller Natur und ge­ statten eine Subsumtion der einzelnen Fälle. Es ist mir weiter die Frage gestellt worden: wie weit haften denn die ver­ schiedenen Persönlichkeiten? Es sei doch wünschenswerth, die Haftung zu beschränken auf ein Eintreten mit der Anlage, sich genügen zu lassen mit einer Sühnung durch dasjenige Objekt, durch das der Schade entstanden ist. Ich glaube, das ist ein Stand­ punkt, der nicht festgehalten werden kann. Bei den Maschinen ist das klar. Bei den

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Bergwerken ist gesagt worden: hasten denn die Gewerke hinaus über das Gewerkschafts­ Vermögen? Ich glaube, es ist klar, Niemand haftet weiter, als er Vermögen hat, und die Gewerkschaften haben eben nur Gewerkschastsvermögen, es kann also nicht zweifelhaft sein, daß die Gewerkschaften auch nur mit ihrem Vermögen in Anspruch genommen werden können. Die Bedenken, die in dieser Richtung vorgetragen worden, sind in der That nicht zutreffend. (Redner erklärt sich sodann gegen das Amendement des Abg. Wilmanns, weil dasselbe für die Auslegung Schwierigkeiten bereiten und zu großer Kasuistik führen würde; auch gegen das des Abg. Lesse, da die gesetzlichen Bestim­ mungen über die Beweisaufnahme zum ewigen Gedächtnisse ausreichten.) Abg. Dernburg zieht sein Amendement, die Haftung für den Maschinisten und Heizer betreffend einstweilen, das andere definitiv zurück. Abg. Wilmanns hält sein Amendement: „Die Schadensersatz-Verbindlichleit ist ausgeschlossen, wenn der Betriebsunternehmer nachweist, daß der Unfall durch das eigene Verschulden oder Mitverschulden des Getödteten oder Verletzten herbeigeführt ist," — für erledigt und zieht es zurück. Abg. Ulrich zieht sein zu § 2 gestelltes Amendement von den Worten ab „es wird bei Bergwerksunfällen" bis zu Ende zurück. Bei der eventuellen Abstimmung über den Antrag Lasker werden die Anträge des Abg. Ackermann, der Antrag der Abg. Wilmanns und Baron von Win­ ni gerode, das Sousamendement des Abg. Dr. Tellkampf, ferner die Anträge des Abg. Lasker in § 2 hinter „wenn" zu setzen „ein Beamter oder" — und andererseits hinter „Fabrik" zu setzen: „oder eine gewerbliche Anlage be­ treibt, einen Dampfkessel oder ein durch Wasser, Wind oder Thiere bewegtes Triebwerk anwendet" — abgelehnt. Hierauf werden die Anträge des Abg. Dr. Biedermann, der Abg. Dr. Schaffrath u. Gen., sowie der Abg. Lasker u. Gen. (betr. die neue Fassung des § 2) ebenfalls abgelehnt. Dagegen § 2 der Regierungsvorlage mit großer Majorität angenommen. Die Zusatzanträge der Abg. Ulrich, Dr. Bähr, Lasker, Lesse abgelehnt. Zu 8 3 liegen vor: 1) die Abänderungsanträge des Abg. Lasker: a. Zeile 1 statt der Worte: „Erstattung" zu setzen: „Ersatz"; d. in Zeile 2 das Wort „gesammten" zu streichen; c. in Zeile 5 bis zu Ende der Nummer statt der Worte: „und, sofern u. s. w. bis erleidet" zu setzen: „War der Getödte zur Zeit seines Todes gesetzlich ver­ pflichtet, einem Andern Unterhalt zu gewähren, so kann dieser insoweit Ersatz fordern, als ihm in Folge des Todesfalles der Unterhalt entzogen worden ist. — Zum § 3 Nr. 2 statt der Worte: „durch Erstattung der Heilungskosten und durch Ersatz des ge­ sammten Vermögensnachtheils" zu setzen: „durch Ersatz der Heilungskosten und des Vermögensnachtheils"; 2) der Vorschlag des Abg. Dr. Banks, welcher den Ausdruck „vermöge Gesetzes" gestrichen haben will; 3) der Vorschlag des Abg. Ackermann: statt „gesetzlich" zu setzen: „vermöge Gesetzes". Abg. Kastner erklärt, daß „vermöge Gesetzes" die Auslegung verhindern solle, es könnten auch vertragsmäßige Alimentations-Verbindlichkeiten als gesetzliche angesehen werden. Abg. Dr. Bähr frägt, ob unter denjenigen, denen im Falle einer Tödtung Unter­ halt zu gewähren sei, auch die unehelichen Kinder begriffen seien, worauf Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Geheimer Ober-Zustizrath Dr. Falk erwiedert, daß wo das Gesetz den außerehelichen Vater verpflichtet, auch außereheliche Kinder zu alimentiren, der Fall unter diese Bestimmung treffe. Gehe die Verpflichtung nach seinem Tode auf seine Erben über und haben die Erben Geld, um diese Ver­ pflichtung zu lösen, so sei dem Alimentations-Berechtigten kein Schaden erwachsen; er könne also den Ersatz eines solchen nicht verlangen. Abg. Dr. Banks befürwortet auch Entschädigungsansprüche aus Verträgen zu ersetzen und beantragt hinter dem Worte „verpflichtet war" einzuschalten: „oder doch faktifch dauernd zu demselben beitrug".

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Abg. Lasker nimmt das Wort „vermöge Gesetzes" als einen Theil seines An­ trages auf. Bei der Abstimmung wird der Vorschlag des Abg. Dr. Banks abgelehnt, dagegen werden die Laskerschen Anträge sämmtlich angenommen.

Fortsetzung am 1. Mai 1871.

Es liegen vor die Abänderungsanträge der Abgg. Lasker u. Genossen:

I.

Hinter § 3 der Vorlage folgenden neuen Paragraph einzuschalten: „War der Getödtete oder Verletzte gegen den Unfall ohne Mitwirkung des Haft­ pflichtigen und unter der Bedingung versichert, daß der Versicherer ge­ gen den Haftpflichtigen sich erholen dürfe, so wird die gezahlte Ver­ sicherungssumme auf die Beschädigungssumme abgerechnet und der Versicherer kann den Ersatz derselben bis zur Höhe der Entschädigung selbst­ ständig von dem Verpflichteten fordern. War der Getödtete oder Verletzte unter Mitleistung von Prämien oder anderen Beiträgen durch den Haftpflichtigen bei einer Versicherungs-Anstalt, Knappschafts-, Unter­ stützungs-, Kranken- oder ähnlichen Kasse versichert, so ist die Leistung der Letzteren auf die Gesammt-Entschädigung einzurechnen, jedoch nur dann, wenn die Mit­ leistung desselben nicht unter einem Drittel der Gesammtleistung beträgt." Diesen § beantragt Abg. Winter (Wiesbaden) so zu fassen: War der Getödtete oder Verletzte gegen den Unfall versichert, so findet eine Einrechnung der versicherten Leistung auf die Entschädigungssumme nur in dem Verhältniß statt, in welchem der Haftpflichtige bei den Gegenleistungen für die Versicherung betheiligt war.

Abg. Ackermann u. Genossen: Alinea 1 zu streichen. Alinea 2 folgendermaßen zu fassen: „War der Getödtete oder Verletzte bei einer Versiche-, rungs-Anstalt, Knappschafts-, Unterstützungs-, Kranken- oder ähnlichen Kasse versichert, so ist die Leistung der Letzteren auf die Gesammtentschädigung einzurechnen, wenn und insoweit die Ver­ sicherung unter Mitleistung von Prämien oder anderen Beiträgen durch den Haftpflichtigen erfolgt ist." Eventuell, wenn Alinea 1 des neuen Paragraph angenommen wird, zu sagen: so kann der Versicherer Ersatz der von ihm gezahlten Versicherungssumme insoweit selbstständig von dem Verpflichteten fordern, als dieser durch die Versicherung von der Leistung der Entschädigung frei wird."

Dagegen Abg. Biedermann: Am Schluffe des Lasker'sehen Paragraphen zu sagen: „vorausgesetzt, daß jene Mitleistung der Entschädigungsverpflichteten mindestens 50 Prozent der Gesammtbeiträge erreicht."

Zu § 5 der Vorlage. a) den Absatz 1 wie folgt zu fassen: „Das Gericht hat über die Wahrheit der that­ sächlichen Behauptungen unter Berücksichtigung des gesammten Inhalts der Verhand­ lungen nach freier Ueberzeugung zu entscheiden; b) im Absatz 3 die Worte „ oder der andern" zu streichen; c) den Absatz 4 zu streichen." II.

Hinter § 5 der Vorlage folgenden neuen Paragraph einzuschalten: „Das Gericht hat unter Würdigung aller Umstände über die Höhe des Schadens sowie darüber, ob, in welcher Art und in welcher Höhe Sicherheit zu bestellen ist, frei zu erkennen. Als Ersatz für den zukünftigen Unterhalt oder Erwerb ist, wenn 'nicht beide Theile über die Abfindung in Kapital einverstanden sind, in der Regel eine Rente zuzubilligen. Der Verpflichtete kann jeder Zeit die Aufhebung oder Minderung der Rente for­ dern, wenn diejenigen Verhältnisse, welche die Zuerkennung oder Höhe der Rente be­ dingt hatten, inzwischen wesentlich verändert sind. Der Berechtigte kann auch nachträg­ lich die Bestellung einer Sicherheit oder Erhöhung derselben fordern, wenn die Ver­ mögensverhältnisse des Verpflichteten inzwischen sich verschlechtert haben."

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Abg. Eysoldt beantragt zwischen: „inzwischen wesentlich verändert sind" und den Worten: „der Berechtigte kann auch nachträglich rc." einzuschalten: „Ebenso kann der Verletzte, dafern er den Anspruch auf Schadensersatz innerhalb der Ver­ jährungsfrist geltend gemacht hat, jederzeit die Erhöhung oder Wiedergewährung der Rente fordern, wenn die Verhältnisse, welche für die Feststellung, Minderung oder Aufhebung der Rente maß­ gebend waren, wesentlich verändert sind."

Ferner Abg. Ackermann u. Gen.: Alinea 1 statt „frei zu erkennen" zu setzen: „nach freiem Ermessen"

und Abg. Biedermann: Zu Antrag Lasker u. Gen.: Zn Alinea 2 des dort vorgeschlagenen neuen Paragraphen hinter den Worten: „inzwischen wesentlich ver­ ändert sind" einzuschallen: „Wenn umgekehrt eine Körperverletzung, wegen deren bereits innerhalb der Verjährungsfrist (s. §) Klage erhoben und eine Entschädigung vom Gericht zuerkannt war, später, ohne Hinzutritt anderer Ursachen, eine erhöhte Erwerbsunfähigkeit oder den Tod zur Folge hat, so kann der Be­ schädigte, beziehungsweise im letzteren Falle der nach § 3. 1. zur Klage Berechtigte, auch nach Ab­ lauf der Verjährungsfrist auf eine neue Feststellung der Entschädigung (gemäß § 3) antragen."

III. Zu K 6 der Vorlage, a) statt der Worte: „einem Jahre" zu setzen: „zwei Jahren"; b) dem ganzen Paragraphen folgende Fassung zu geben: „Die Forderungen auf Schadensersatz (§§ 1 bis 3) verjähren in zwei Jahren vom Tage des Unfalls an. Gegen denjenigen, welchem der Getödtete Unterhalt zu gewähren hatte (§ 3 Nr. 1), beginnt die Verjährung mit dem Todestage. Die Verjährung läuft auch gegen Minder­ jährige und diesen gleichgestellte Personen von denselben Zeitpunkten an, mit Ausschluß der Wiedereinsetzung.

IV. Zu § 7 der Vorlage, a) in Absatz 2 statt der „§§ 3 bis 6" zu setzen: „§§ 3, 4, 6 bis 8"; b) folgende zwei neue Absätze an den Schluß des Paragraphen hinzu­ zufügen: „Die Vorschriften der §§ 3, 5 bis 8, finden auch Anwendung auf die Ver­ folgung des Anspruches, welchen der Versicherer (§ 4) gegen den Haftpflichtigen geltend macht. Auf die Verhältnisse der Seeschifffahrt findet dieses Gesetz keine An­ wendung." Hinter § 7 der Vorlage folgenden neuen Paragraphen zu setzen: „Die Bestimmun­ gen des Gesetzes, betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für Handelssachen vom 12. Juni 1869 (Bundesgesetzblatt S. 201) über die Zuständigkeit des Bundes-OberHandels-Gerichts zu Leipzig und das Verfahren werden auf alle diejenigen Rechts­ streitigkeiten ausgedehnt, in welchen durch Klagen auf Grund des gegenwärtigen Gesetzes ein Anspruch geltend gemacht wird."

Berichterstatter Abg. Eckhard beantragt eine Petition des Vereins für die berg­ baulichen Interessen in Zwickau vom 24. April d. I. durch den Beschluß des Hauses über, den vorliegenden Gesetzentwurf für erledigt zu erklären. Abg. Lasker: M. H.! Sie haben dem Unternehmer, soweit das Gesetz reicht, eine große Haftpflicht auferlegt, die nach Berechnungen Sachkundiger ungefähr die Hälfte aller Unglücksfälle treffen möchte, während die andere Hälfte noch zu denjenigen Unfällen gehören würde, die nach dem Wortlaute, wie Sie ihn beschlossen haben, nicht unter die Haftpflicht des Unternehmers fallen würden. Nun ist aber die Absicht des gegenwärtigen Gesetzes, einerseits die Haftpflicht, welche dem Unternehmer auferlegt ist, wirthschaftlich zu vertheilen, auf der anderen Seite den der Beschädigung ausgesetzten Menschen soviel wie möglich durch seine eigene Thätigkeit anderweitig schützen zu lassen gegen diejenige Hälfte der Unfälle, welche durch das gegenwärtige Gesetz noch nicht ge­ troffen wird. Ich habe mir bereits wiederholt erlaubt darauf hinzudeuten, daß der ganze Zweck des Gesetzes nur durch die Selbstthätigkeit wird gelöst werden können, durch die Selbstthätigkeit der Unternehmer und der Arbeitnehmer, daß das Gesetz allein nicht im Stande sein wird, wirthschaftlich bedenkliche Folgen abzuwenden, wenn die Personen sich nicht zusammenthun. Und zwar muß dieses vorbeugende Zu-

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Gesetzentwürfe.

sammenlhun erfolgen in der Form von Versicherungen im weitesten Sinne, nicht blos bei Gesellschaften, wie sie gegenwärtig vorhanden sind, sondern bei Kassen der ver­ schiedensten Art und bei Versicherungsgesellschaften, welche speziell geschaffen werden ge­ gen Unfälle. Bis jetzt ist es noch nicht gelungen, in erheblichem Maße solche Ver­ sicherungsgesellschaften herzustellen, weil die Haftpflicht noch nicht gehörig geregelt ist, und noch andere Grundlagen für derartige Gesellschaften fehlen. Ein Theil dieser Ver­ sicherungen mag wohl ab und zu an die gewöhnlichen Versicherungsgesellschaften gehen, jedoch in keiner Weise erschöpfend. Die Vorbereitung dieses Gesetzes und die Anregun­ gen, welche außerhalb der parlamentarischen Verhandlungen in Beziehung auf die Regelung der Haftpflicht gegeben wurden, haben in neuerer Zeit die Bewegung unter­ stützt zur Errichtung solcher Versicherungsgesellschaften, welche sich wesentlich mit Un­ fällen beschäftigen. Die beiden Vorschläge, welche Ihnen in dem neuen Paragraphen unterbreitet werden, zielen darauf hin, Unternehmer und Arbeiter anzuregen, daß sie sich allgemein durch Versicherung schützen auch für diejenige Zahl der Unfälle, die durch das gegenwärtige Gesetz nicht getroffen werden. Ich komme nun zu dem zweiten Theile des Antrages, und soweit ich Einwände gegen denselben voraussehen kann, will ich die Vorsicht üben, von meinem Standpunkte aus, diese zu beleuchten. Mit dem zweiten Theile meines -Antrages also strebe ich an, daß Kassen errichtet werden, aus denen durch gemeinschaftliches Zusammenwirken die Entschädigungen für alle Unfälle geleistet werden, zum Vortheil des Arbeitnehmers und des Arbeitgebers. Zum Vortheil des Arbeitnehmers um deswillen, weil die Höhe der Entschädigung frei durch das Statut festgestellt wird und auch über das Maß hinaus festgestellt werden kann, welches das gegenwärtige Gesetz den Beschädigten sichert, denn viel mehr als der knappe Lohn eines freien Arbeiters wird doch durch dieses Gesetz nicht gewährt werden und kann auch nicht gewährt werden. Ferner gewährt eine solche gemeinschaftliche Versicherung dem Arbeitnehmer den Vortheil, daß er auf die Ungewißheiten des Processes und die Ungewißheiten des Beweises sich nicht einzulassen braucht. Endlich empfängt er dieselbe Entschädigung für diejenige Hälfte der Fälle, in denen sonst dem Unternehmer die Haftpflicht nicht obliegt. Dies sind die Vortheile, welche der Arbeitnehmer erhält durch gemeinschaftliche Operation mit dem Arbeitgeber. Dem.Arbeitgeber aber soll durch meinen Vorschlag gleichfalls der Anreiz gegeben wer­ den, in loyaler Weise zur Stiftung solcher Kassen mitzuwirken. Wenn Sie, m. H., dem Gedankengang, welcher ausgedrückt ist in den Anträgen des Herrn Abg. Winter und des Herrn Abg. Ackermann, Folge geben, so bitte ich zu erwägen, daß Sie den besten Theil der Ideen nicht erfüllen, welche mein Antrag Ihnen unterbreitet. Denn der Arbeitgeber hat kein Interesse, in Gemeinschaft mit dem Arbeit­ nehmer die Versicherung zu fördern, wenn er durch die gemeinschaftliche Versicherung nur schlechter gestellt wird. Dies wäre aber nach den Anträgen Ackermann oder Winter der Fall. Angerechnet wird dem Arbeitgeber, wenn er verpflichtet ist, nur derjenige Antheil, den er selbst durch eigene Beiträge versichert hat, was er unabhängig von dem Arbeiter bei jeder Versicherungsgesellschaft hätte thun können, während auf der anderen Seite die volle Versicherungssumme mit Einschluß des durch die Beiträge des Arbeit­ gebers versicherten Antheils an den Arbeiter auch dann ausgezahlt wird, wenn der Arbeitgeber nach diesem Gesetz gar nicht verpflichtet war, Ersatz zu leisten. Ich glaube deshalb, m. H., daß der wesentlichste Theil dessen, was der zweite Absatz beabsichtigt, gänzlich wegfällt, wenn Sie dem Haftpflichtigen wollen anrechnen lassen, was er selbst zur Versicherungssumme beigetragen hat; hierfür brauchen Sie keine Bestimmung in diesem Gesetz, sondern Sie überlassen dem Haftpflichtigen, daß er gegen die Gefahr sich selbst versichert, nach dem Unfall die versicherte Summe erhebt und sie statt seiner eigenen Verpflichtung an den Ersatzberechtigten auszahlt. Ich bitte aber auf der andern Seite nicht zu glauben, daß nach dem Vorschläge, den ich Ihnen unterbreite, dem Er­ satzberechtigten, also dem Arbeitnehmer, irgend ein Nachtheil geschieht. Man wird Ihnen vielleicht sagen: nach diesem Gesetz wäre also gestattet, daß, wenn der Arbeitnehmer zwei Drittel und der Arbeitgeber nur ein Drittel der Beiträge bezahlt hat, dennoch die

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ganze versicherte Summe materiell dem Arbeitgeber zu gute komme. Aber, m. H., vergessen Sie nicht, daß dieses Gesetz dem freien Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer überlassen ist, zu einer Zeit, wo der Arbeitnehmer sich noch nicht in der Noth befindet, gegen welche Sie ihn durch den § 4 mit Recht unter die Fürsorge des Staates stellen. Präsident: Ehe ich den Herrn Bundeskommissarius bitte, das Wort zu nehmen, möchte ich diejenigen Herrn Antragsteller, die ihre Amendements ursprünglich auf die Nr. 65 gerichtet haben, bitten, sich darüber zu erklären, was daran jetzt noch auf­ recht erhalten wird. Abg. Dr. Biedermann: Zch halte meinen Antrag aufrecht. Abg. Ackermann: Zch nehme den eventuell gestellten Antrag zum ersten Alinea zurück, halte aber im Uebrigen den prinzipaliter gestellten Antrag auf Streichung des Alinea 1 aufrecht, bleibe auch bei dem Anträge auf eine andere Fassung des Alinea 2, als die von dem Abg. Lasker vorgeschlagene, stehen. Bundeskommissar Geheimer Ober-Bergrath Dr. Achenbach: M. H., der Vor­ schlag des Herrn Abg. Lasker ist aus der Initiative einzelner Mitglieder des Hauses hervorgegangen. Die verbündeten Regierungen können diesem Anträge gegenüber sich dahin aussprechen, daß sie dem Gedanken des Antrages in keiner Weise entgegen sind, daß sie vielmehr in diesem Gedanken eine Verbesserung des vorgelegten Gesetzes finden würden, vorbehaltlich jedoch einer anderweitigen Formulirung einzelner Sätze des An­ trages. Zch will kurz andeuten, daß unsere deutsche Gesetzgebung, unsere deutschen sozialen Einrichtungen in der That auf diesem Gebiete derartige sind, daß sie uns keineswegs im Vergleich mit anderen Völkern zur Unehre gereichen. Unter den in dem Alinea 2 benannten Instituten sind insbesondere, was die angestrebten Zwecke an­ betrifft, die Knappschaftskassen von der allergrößten Bedeutung. Es sind dies bekannt­ lich Institute, welche beim Bergbau bestehen. Zch darf wohl anführen, daß diese Jnstitute,. welche noch heute sortblühen, bereits im fünfzehnten Jahrhundert erweislich vor­ kommen. Ja, m. H., es ist gewiß nicht uninteressant, daß vor mehr als 300 Jahren die versammelten Knappen des Rammelsberges im Jahre 1532 auf dem Kirchhofe der Marktkirche sich genau mit demselben Gegenstand beschäftigten, welcher heute die Auf­ merksamkeit dieses hohen Hauses tu Anspruch nimmt. Ich darf mir vielleicht gestatten, den Gegenstand hier in hochdeutscher Sprache anzuführen, über welchen damals die Knappen berathschlagten. Es wurde berathschlagt zu Goslar: „wie und unter welcher Gestalt sie wiederum aufs Neue eine Ordnung möchten aufrichten und zu Wege bringen, daß denjenigen, so bei und in vorbenannter Arbeit in oder auf dem Rammelsberge vom Berge geschlagen, gelähmt oder sonst, das geschehe, zu Schaden kämen und dadurch verarmten, nothdürftig, als sich auch nach christlicher und brüderlicher Liebe nicht anders geziemen noch gehören wollte, zu Hülse kommen und dieselben in soviel möglich gerettet und ihres Unvermögens halber in Ungedeihen nicht kommen, sondern vielmehr davor verhütet und bewahrt werden mögen." — Diese Aufgaben haben die Knappschaftsver­ eine bis zur Gegenwart festgehalten und ich kann hinzufügen, sie sind namentlich im laufenden Jahrhundert zur größeren Vollkommenheit gelangt. — Das Vermögen der preußischen Knappschaftsvereine betrug, wenn ich runde Zahlen annehme, ungefähr 4,000,000 Thaler im Jahre 1869. Die jährlichen Einnahmen dieser Kassen — ich nehme etwas höhere Zahlen an, um abzurunden — betrugen 1,900,000 bis 2,000,000 Thaler; die Ausgaben 1,800,745 Thaler. Unter diesen Einnahmen betrugen die Bei­ träge der Werkseigenthümer jährlich 964,965 Thaler — ich muß mich verbessern: die Beiträge der Mitglieder, der Bergleute betrugen 964,965 Thaler oder 50 Prozent, die Beiträge der Werksbesitzer 744/440 Thaler oder 39 Prozent, und es kommen außerdem ungefähr 10 Prozent aus Zinsen von Kapitalien, Strafen und sonstigen Einnahmen noch hinzu. Die Ausgaben, m. H., betrugen in Betreff der Gesundheitspflege, der Aerzte, Apotheker, der Krankenlöhnungen u. s. w. 676,597 Thaler, an jährlichen Pen­ sionen für Ganzinvalide 405,899 Thaler, für Halbinvalide 2834 Thaler, für Wittwen 306,604 Thaler, für Waisen 140,767 Thaler, an Begräbnißkosten 28,060 Thaler, an außerordentlichen Unterstützungen 29,066 Thaler, an die Schulen 72,767 Thaler,

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an sonstigen Ausgaben 50,992 Thaler. — Diese Zahlen, m. H., obschon anerkannt werden muß, daß die Knappschaftsvereine nach allen Richtungen hin nicht den Bedürf­ nissen entsprechen, — beweisen zur Genüge, daß wir es hier mit einer sozialen Ein­ richtung zu thun haben, welche in der That das Interesse des Reichstags bei der vor­ liegenden Frage in hohem Grade in Anspruch nehmen muß. Füge ich noch hinzu, daß im Anschluß an diese bei den Bergwerken bestehenden Einrichtungen in neuerer Zeit auch auf anderen Etablissements ähnliche, wenn auch meist nicht so vollkommene Kassen, entstanden sind, so begreife ich und verstehe ich das hohe Interesse des Antragstellers, nur für derartige Anstalten einen neuen und kräftigen Boden der Entwickelung zu finden, und dies, m. H., um so mehr, als in der That jene Kassen zu den Ehren unseres Vaterlandes gehören. Vergleichen Sie namentlich die Entwickelung in anderen Ländern, so ist dort meist erst in den dreißiger Jahren dasjenige versucht, was das deutsche Volk auf diesem Gebiete zum Theil schon vor mehreren hundert Jahren nicht blos angestrebt, son­ dern, wenigstens den damaligen Verhältnissen entsprechend, erreicht hatte. Es ist also gewiß richtig, daß wir das, was wir während der Vergangenheit erreicht, was sich weiter ent­ wickelt, was noch heute zu unseren Ehren gehört, durch dieses Gesetz nicht gefährden und seiner Grundlage berauben wollen. Aus diesem Gesichtspunkte, m. H., ich wieder­ hole es, sprechen sich die Regierungen namentlich für denjenigen Gedanken aus, welcher dem zweiten Alinea zu Grunde liegt. Nun sind allerdings verschiedene Meinungen im hohen Hause bereits hervorgetreten, welche sich in den einzelnen Anträgen aussprechen. Ich trete dem Herrn Antragsteller dahin bei, daß, wenn auf die Amendements der Herren Abgg. Ackermann u. Gen. und auf das Amendement des Herrn Abg. Winter eingegangen werden sollte, die vorliegende Bestimmung ihre Tragweite verlieren und eigentlich nur dasjenige noch in derselben enthalten sein würde, was in den Motiven der Vorlage als selbstverständlich bezeichnet wird. Dem Gedanken des Herrn Antrag­ stellers entspricht wohl vollständig der Antrag des Abg. Biedermann; die Differenz zwischen den Anträgen der Herren Abgg. Lasker und Biedermann beruht nur darin, daß der Herr Abg. Biedermann einen höheren Beitrag der Werkseigenthümer verlangt, nämlich 50 Prozent der Gesammtbeiträge, um diese Bestimmung zur Anwendung zu bringen, während nach dem Anträge des Herrn Lasker schon V3 der Gesammtbeiträge genügen soll, um die Anwendung des Gesetzes dem Betriebsunternehmer zu sichern. . M. H., es läßt sich über die Zweckmäßigkeit des einen oder anderen Amende­ ments vielleicht streiten. Was für den Laskerschen Antrag spricht, ist das, daß er sich an die bestehende Gesetzgebung anlehnt. Was das erste Alinea des Amendements des Herrn Abg. Lasker betrifft, so ist allerdings zuzugestehen, daß durch die Aenderung, welche der Herr Antragsteller nunmehr vorgenommen, der ursprüngliche Sinn dieses Antrages eine sehr wesentliche Abschwächung erhalten hat. Nach den > mir bekannten Statuten der Unfall-Versicherungsgesellschaften anderer Länder glaube ich kaum, daß irgend wo eine Unfall-Versicherungsgesellschaft besteht, in deren Statuten sich nicht die Bestimmung findet, daß der Beschädigte verpflichtet sei, falls er die Versicherungsgesell­ schaft in Anspruch nimmt, seinen Anspruch gegen den Beschädiger zu cediren oder eine Konventionalstrafe dafür zu sichern, daß seine Rechtsnachfolger im Falle des Todes ebenfalls verbunden sind, diese Übertragung anzuerkennen oder vorzunehmen. In dem angegebenen Sinne dürfte also bei jeder Unfall-Versicherungsgesellschaft eine Bestimmung bereits vorhanden sein, und die Bedeutung des Antrages kann nur dahin gehen, die prozessualische Verfolgung zu erleichtern und, wie der Herr Antragsteller meint, denjenigen, die sich versichern wollen, eine niedrigere Prämie zu erwirken. Gerade dieser ersten Bestimmung gegenüber, m. H., möchte ich aber noch einmal auf die Bedeutung des zweiten Alinea verweisen. Wenn feststeht, daß stets die Versicherungsgesellschaften bei Unfallsversicherungen sich vollauf an den Beschädiger halten können und werden, so glaube ich, daß gerade aus diesem Grunde Unfallsversicherungen und ähnliche An­ stalten für Arbeiter nur sehr schwer ins Leben treten werden. Sie würden vielmehr nur dann sich baldigst entwickeln, wenn, was das zweite Alinea andeutet, den Werk­ eigenthümern der Weg offen gehalten wäre, sich vor Regreßansprüchen der Versicherungs-

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gesellschaften im Allgemeinen zu schützen.. Zn den Entwürfen der Statuten von deut­ schen Unfalls-Versicherungsgesellschaften ist dagegen die Bestimmung ausgenommen, daß die Gesellschaften den Anspruch der Beschädigten gegen den Beschädiger übernehmen und geltend machen können, und doch werden daneben die Werkseigenthümer aufgefor­ dert, ihren Arbeitern die Wohlthat der Versicherung zu verschaffen. Würde aber der Werkeigenthümer wohl ein Interesse haben, seine Arbeiter zu versichern, um trotzdem nachher der Fatalität ausgesetzt zu sein, daß die Versicherungsgesellschaften sich an ihn halten? Dies scheint jene Institution nicht besonders fördern zu können. — Ich meines Theils wiederhole: die verbündeten Regierungen haben gegen den hier niedergelegten Gedanken nichts zu erinnern, sie betrachten denselben als eine gute Ergänzung der gegenwärtigen Vorlage, vorbehaltlich aber einer anderweitigen Redaktion der angedeuteten Gedanken. Nach Ablehnung aller sonstigen Amendements wird der Laskersche Antrag in seinen beiden Theilen angenommen. Ebenso § 4 der Vorlage; ferner § 5 mit den Laskerschen Amendements. Präsident: Wir kommen jetzt zu dem Vorschläge, zwischen §§ 5 und 6 den neuen Paragraphen zu inseriren, den die Abgg. Lasker u. Gen. vorgeschlagen haben, und aus den sich die Amendements Ackermann, Biedermann, Eysoldt, sowie die Frage bezieht, ob das Alinea 4 des § 5 angenommen werden soll oder nicht. Abg. Eysoldt: Wenn Sie, m. H., im Interesse des Verpflichteten, falls sich die Verhältnisse ändern, gegen die Rechtskraft der Entscheidung eine nochmalige Revision des früheren Urtheils zulassen wollen, dann entspricht es auch der Billigkeit, daß Sie diese Revision auch zulassen im Interesse der Verletzten und dieselbe nicht durch Ver­ jährung abschneiden, welche Gefahr eintritt, wenn Sie das Amendement Lasker u. Gen. annehmen. Ich behaupte auch, daß es nicht nur billig, sondern auch eine Forderung der Gerechtigkeit ist, daß, wenn Sie diesen ersten Satz annehmen, Sie auch meinen Antrag annehmen, weil sonst der Fall eintreten könnte, daß ein Verletzter, dem ur­ sprünglich eine Entschädigung zuerkannt ist, dieselbe verliert und nicht wieder erhält, trotzdem daß die Verletzung fortdauert. Präsident: Der Abg. Dr. Biedermann hat seinen Antrag zu Gunsten des Eysoldt'schen Antrages zurückgezogen. Abg. Lasker: M. H., der Antrag hat die Bedeutung erstens einer formellen Umstellung der Paragraphen insofern, als die Entschädigungsverpflichtung aus dem früheren § 5 herausgehoben ist, und der § 5 nur allein das Beweisverfahren und das Erkenntniß regelt, während der jetzige Paragraph materiell mit der Entschädigungspflicht sich beschäftigen soll. Dies ist seine formelle Bedeutung. Im Inhalte weicht er namentlich dadurch von der Regierungsvorlage ab, daß nach dem Willen Vieler dem Richter eine Anweisung dahin gegeben wird, wenn die Parteien sich nicht einigen, in der Regel aus Rente zu erkennen und nur im Ausnahmefalle auf Kapital. Viele in der Kommission sind der Meinung gewesen, daß auch ohne diese Anweisung der Richter vermuthlich im einzelnen Falle werde nach diesem Grundsätze erkennen müssen. Indessen es hat Anderen doch geschienen, daß es besser sei, die Regel ausdrücklich in das Gesetz hineinzusetzen, daneben aber dem Richter freies Ermessen zu lassen für die we­ nigen Fälle, in denen es aus besonderen Gründen besser sein möchte, auf Kapital zu erkennen — besser das eine Mal für den Verpflichteten, das andere Mal für den Be­ rechtigten, — von der Regel abzuweichen. Ferner schlägt der neue § 5 vor, daß der Richter nach seinem freien Ermessen darüber soll erkennen können, ob und in welcher Höhe und in welcher Art eine Sicherheit zu bestellen sei. Durch das Erkennen auf Rente ist diese Frage sehr in den Vordergrund getreten, und es hat deshalb auch darüber Ihnen ein ausdrücklicher Wortlaut vorgeschlagen werden sollen. — Der Absatz 2 schlägt Ihnen vor, daß das Erkenntniß des Richters über die Entschädigung, wenn ich es materiell dem Inhalte nach mit einem Worte ausdrücken soll, nur ein Interimistikum sein soll, d. h. es stellt die Entschädigung fest, bis wieder der Richter angerufen und Thatsachen nachgewiesen werden, weshalb die erkannte Entschädigung nicht mehr geleistet

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zu werden. braucht. Es wird also dem Verpflichteten jederzeit gestattet, wenn auf Grund neuer Thatsachen eine wesentliche Veränderung inzwischen eingetreten ist, eine solche Veränderung, welche den Richter früher bestimmt hatte, die Rente zuzusprechen, den Richter anzurufen, daß er die Rente nunmehr den neueren Verhältnissen gemäß herabsetze oder gänzlich ausfallen lasse. Der Herr Abg. Eysoldt kommt mit der Kon­ sequenz, daß auch der Berechtigte eine Erhöhung der erkannten Rente soll fordern können; auch wenn der Richter gegen sein erstes Erkenntniß in seinem zweiten Erkennt­ niß die Rente entweder herabgesetzt oder aufgehoben hat, soll der Berechtigte später wieder den Richter anrufen dürfen, damit er zum dritten Mal darüber erkenne, ob die Rente etwa zu erhöhen sei. Gegen diese weitergehende Konsequenz scheint also die Mehrheit der Kommission sich gescheut zu haben, weil dann die Dinge nie zu einem Ende kommen. Es ist nicht abzusehen, wie endlich einmal die Rechtsverhältnisse über­ haupt zur Ruhe kommen, während wir die Verjährung um deswillen eingeführt haben, weil es bei allen Verpflichtungen eine Nothwendigkeit ist, eine Zeitgrenze zu haben, innerhalb deren die Rechte und Pflichten geschlichtet werden. Gestatten wir jetzt ab­ weichend von den Regeln der res judicata neue Prozesse, so wird der Zeitpunkt, wenn die Angelegenheit zur Ruhe gebracht wird, ins Unbestimmte hinausgeschoben. Dieser Einwand ist in hohem Grade gegen den Antrag des Herrn Abg. Eysoldt zu machen; er ist aber auch gegen das von Ihnen vorgeschlagene Prinzip der Kommission im zweiten Absatz zu machen und es ist die Frage, ob man die Grenze gegen den Berechtigten, welcher aufs Neue, vielleicht zum dritten Mal eine Entscheidung herbeiführen will, ab­ schneiden, oder ob man die Konsequenz anerkennen und die res judicata, fast ganz außer Kraft setzen will. Der Lasker'sche neue Paragraph mit der Eysoldt'schen Einschaltung wird nach kurzer Debatte, an deren Schlüsse Abg. Lasker in seinem Antrag anstatt „frei": „nach freiem Ermessen" zu setzen erklärt hat, angenommen. Präsident: Wir kommen zu § 6, zu welchem Anträge der Abg. Lasker und Ackermann vorliegen. Abg. Kastner (zur Begründung des Amendements Ackermann u. Gen.): Die Ge­ setzesvorlage selbst stipulirt, ohne Ausscheidung zwischen dem persönlich Verletzten und denjenigen, welchen der Getödtete vermöge des Gesetzes Alimentation zu gewähren hat, eine einjährige Verjährungsfrist und will dieselbe mit der Entstehung der Forde­ rung beginnen lassen. Der Lasker'sche Antrag will, ebenfalls ohne diese von mir an­ gedeutete Ausscheidung, eine zweijährige Verjährungsfrist, jedoch mit dem Unter­ schiede von der Regierungsvorlage, daß nach seinem Vorschläge die Verjährung mit dem Tage des Unfalls beginnen soll. Zwischen diesen beiden Anträgen kann ich den von uns formulirten Antrag, welcher sich gedruckt in Zhren Händen befindet, als einen Vermittelungs-Antrag bezeichnen, denn wir wollen einerseits, daß auf eine zweijährige Verjährungsfrist hinaufgegangen werde, wo es sich um eine Ersatzpflicht handelt gegenüber den von dem Unfall persönlich Betroffenen; andererseits wollen wir aber, daß nach der Intention des Regierungs-Entwurfs es bei der einjährigen Ver­ jährung sein Bewenden haben soll allen Denjenigen gegenüber, welchen der Getödtete Unterhalt zu gewähren hatte. Die freie Kommission, aus deren Berathung der Lasker'sche Antrag hervorgegangen ist, hat bezüglich des einen Falles, daß nämlich der persönlich von dem Unfall Betroffene als Ersatzberechtigter auftritt, eine zweijährige Frist, ein Hinaufgehen also um ein weiteres Jahr beantragt. Es mag dieser Antrag hauptsächlich wohl seine Begründung darin finden, daß der Beginn der Verjühmng in diesem Falle von einer anderen Voraussetzung ausgeht, als die Regierungsvorlage, die von der Entstehung der Forderung und nicht vom Tage des Unfalls an den Beginn der Verjährung rechnet. Es lassen sich Fälle denken, in welchen nicht sofort die Wir­ kungen des Unfalls sich äußern, sondern in welchen diese Folgen erst viel später erkenn­ bar und wahrnehmbar werden. In solchen Fällen wäre es nach unserer Meinung un­ billig, die Verjährungsfrist zu eng zu greifen, und es wird — will ich einen solchen Fall im Auge behalten — nicht zu weit gegriffen sein, wenn man hier eine zweijährige

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Verjährungsfrist annimmt. Diese Voraussetzung aber, auf welche sich die erweiterte Verjährungsfrist gründet, schlägt dann nicht an, wenn es sich um einen eingetretenen Todesfall handelt, und wenn mit dem Todestag selbst der Beginn der Verjährung ein­ treten soll, was allen denjenigen gegenüber zutrifft, welchen der Getödtete vermöge Ge­ setzes alimentationspflichtig war. Zn diesem Falle, m. H-, wird es keine Schwierigkeit bereiten, den Kausalnexus des eingetretenen Todes mit dem Unfall selbst in leicht er­ weisbarer Weise klar zu stellen. — Ich möchte noch darauf aufmerksam machen, daß schon die drängende Natur der Alimente — wenn ich mich so ausdrücken darf — die Berechtigten zur baldigen Klagestellung, zur Geltendmachung ihres Rechtes zwingt. Schon aus der Natur der Sache ergiebt sich demnach, daß eine längere Verjährungs­ frist nicht nothwendig ist. Ein nicht unwichtiges Moment gegen die Verlängerung der Verjährungsfrist möchte ich aber auch noch in dem Umstande erkennen, daß dem Ver­ pflichteten, thatsächlichem allen denjenigen Fällen ohnehin eine längere Frist läuft, wenn der Tod nicht sofortige Folge des Unfalles ist; denn da kommt dem Verpflichteten gegenüber immerhin thatsächlich jenes Spatium der Zeit noch in Betracht, welches zwischen dem Unfall und zwischen, dem Todestag liegt, weil ja nach unserer Intention die Verjährungsfrist erst mit dem Todestage zu beginnen har. Abg. Graf v. Rittberg: M. H., ich bin auch der Meinung, daß die Ver­ jährungsfrist auf eine kurze Zeit festgesetzt werden muß; ob ein oder zwei Zahre, ist nicht von großer Erheblichkeit, denn der Verpflichtete wird gleich nach dem Unfall Be­ dacht nehmen, den Thatbestand feststellen zu lassen, weil er sonst nicht in der Lage ist, sich vertheidigen zu können; ich glaube also: es läßt sich darüber streiten, ob eine ein­ jährige oder eine zweijährige Frist zweckmäßiger ist. Indessen mache ich doch darauf aufmerksam, daß die Bundesvorlage schwerlich wird aufrecht erhalten werden können, weil sie den Anfangspunkt der Verjährung ungewiß läßt, sie sagt, von der Ent­ stehung der Forderung an solle diese Verjährung eintreten; heißt das von dem Tage an, wo der Unfall sich zugetragen hat, oder heißt es, von der Wissenschaft des Berechtigten oder seiner Erben an? Dieser Zweifel muß auf jeden Fall gehoben werden, mögen Sie nun auf die einjährige oder zweijährige Frist eingehen. Ich überzeuge mich, daß der Vorschlag der Abg. Ackermann u. Gen. sehr viel für sich hat, und werde für diesen Antrag stimmen; er will nämlich die Forderung auf Schadenersatz rücksichtlich derjenigen, welchen der Getödtete Unterhalt zu gewähren hatte, in einem Jahre verjähren lassen; er will also die kurze Frist, die von einigen Rednern gefordert wird, von dem Todestage an rechnen, und dagegen soll sonst die zweijährige Frist innegehalten werden. Ich werde für diesen Antrag stimmen und gebe es Ihrer Prüfung anheim, ob Sie es auch wollen, aber in der Regierungsvorlage muß der Anfangspunkt der Verjährung näher erläutert werden. Abg. Ulrich: M. H., es ist, wie mir scheint, ein Moment bei der jetzigen Be­ rathung noch nicht ins Auge gefaßt worden, und das ist der Umstand, daß sich in sehr vielen Fällen bei den Beschädigungen die Arbeitsunfähigkeit überhaupt nicht von vorn­ herein herausstellt, sondern daß die Leute sehr häufig nach kurzem Unwohlsein, nach kurzer Krankheit scheinbar wieder vollkommen arbeitsfähig sind; sie arbeiten ein halbes Jahr bis ein ganzes Jahr, und nach längerer Zeit stellt sich heraus, daß sie doch in Folge des Unfalls dauernd arbeitsunfähig geworden sind. Das ist ein Fall, der die Mehrzahl bildet. Wenn Sie ferner berücksichtigen, daß faktisch wohl Keiner, der durch einen Unfall in die Lage versetzt worden ist, seinen Erwerb nicht mehr finden zu können, blos deswegen, weil das Gesetz eine längere Verjährungsfrist vorschreibt, die Geltend­ machung seiner Ansprüche hinausschieben wird, so bin ich der Ansicht, daß für die Fälle, wo die Arbeitsunfähigkeit sich erst später herausstellt, den Arbeitern die Möglichkeit gesichert werden muß, auch nach längerer Zeit ihre Ansprüche geltend zu machen. Ich betrachte dafür eine Verjährungsfrist von 2 Jahren als das mindeste; ich würde sogar aus dieser Rücksicht eine noch längere für nöthig halten, ich sehe aber ein, daß eine weitere Ausdehnung aus anderen Gründen nicht zulässig ist, und ich bitte Sie deshalb, die zweijährige Frist anzunehmen.

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§ 6 wird in der Lasker'scheu Fassung angenommen. Abg. Dr. Banks beantragt hinter § 6 als neuen Paragraphen einzuschalten: „§ - . Für die Aburtheilung der auf dieses Gesetz sich gründenden Schadensansprüche ist neben den Gerichten, welche nach den jedesmaligen Landesgesetzen zuständig sind, immer auch das Gericht des Ortes, an welchem der Unfall stattgefunden hat, zuständig." Dieser Antrag wird abgelehnt, nachdem der'Geh. Ober - Zustizrath Dr. Falk es nicht für wünschenswerth erklärt, derartige prozessualische Bestimmungen aufzunehmen. § 7 wird in der Laskerschen Fassung unter Weglassung des zweiten Zusatzes angenommen. Nun folgt der Vorschlag des Abg. Lasker, hinter § 7 der Vorlage einen neuen Schlußparagraphen hinzuzufügen. Abg. Lasker: Bl. H., der Inhalt des Antrages rechtfertigt sich durch die Natur der Sache. Wir machen ein gemeinschaftliches Recht für Deutschland, in welchem wir wünschen, daß die Rechtsgrundsätze, soweit diese in Betracht kommen, in höchster Instanz gemeinschaftlich geregelt werden sollen. Es. spricht überdies für diesen Antrag, daß in Verbindung mit Beschädigungen, welche nach diesem Gesetze beurtheilt werden, andere vorkommen können, die schon jetzt vor den obersten Handels-Gerichtshof verwiesen werden müssen, weil sie aus dem Handelsrecht entspringen. Auch sind analoge Grund­ sätze anzuwenden über die Beschädigung von Personen und über die Beschädigung von Sachen. Sie haben im § 1 den Ausdruck „höhere Gewalt" den Worten „unabwend­ baren äußeren Zufall" vorgezogen, womit die Principien, die in dieselbe Art^on Rechts­ verhältnissen einschlagen, durch gleiche Ausdrücke und nach gleichen Grundsätzen geregelt werden. Es scheint mir dieselbe Nothwendigkeit dafür vorzuliegen, daß die Rechts­ grundsätze für beide Arten der Beschädigung von Personen und Sachen in letzter Instanz von demselben höchsten Gerichtshöfe geregelt werden sollen. Außerdem rechne ich darauf, daß der Antrag an sich schon Ihre volle Sympathie finden wird, weil wir Alle gern die Richtung anstreben, den obersten Gerichtshof für Handelssachen von der Einseitigkeit seines Berufes zu befreien und ihm mannigfaltige Entscheidungsgegenstände zu überliefern. Die Regierung ist in dieser Beziehung mit gutem Beispiele vorgegangen in dem Gesetz über das Urheberrecht der Schriftsteller und in dem Gesetz betreffend die Flößereien, und diesem guten Beispiele sollten wir folgen. Mit Recht ist hervorgehoben worden, daß der einseitige Beruf des obersten Gerichtshofes als Handelsgericht seiner Wirksamkeit nicht besonders zuträglich ist, und wir Alle streben dahin, dem Gerichtshöfe einen höhern Wirkungskreis zu geben. Sowohl wegen der Schwierigkeit, welche in dem besondern Gegenstände dieses Gesetzes liegt, wie auch um die Zwecke einer einheitlichen Justiz zu fördern, wird der Inhalt des Antrages Ihnen empfohlen. Sie fügen ein gutes Theil zu unserer Reichs-Zustizorganisation hinzu, wenn Sie ein so wichtiges Gesetz demjenigen Gerichtshöfe überweisen, dem es von Reichs wegen gebührt. Diese Fassung wird angenommen. Präsident: Eine Abstimmung über das ganze Gesetz hat heute nicht statt­ zufinden, da am Schluffe der zweiten Lesung der Präsident mit Zuziehung der Schrift­ führer die gefaßten Beschlüsse zusammenstellt und damit die Grundlage der dritten Berathung bildet. — Wir kommen jetzt auf die vier Resolutionen, die zu dem Gesetze vorgeschlagen sind. Ich glaube, wir müssen sie einzeln behandeln, zuvörderst den Antrag des Abg. Lasker: „den Reichskanzler aufzufordern, darauf Bedacht zu nehmen, daß die deutsche Civilprozeß-Ordnung für Streitigkeiten, welche nach den Prozeßgrundsätzen dieses Gesetzes zu entscheiden sind, die Mitwirkung von Laien (Geschworenen, Schöffen) anordne, namentlich so weit die Feststellung der Entschädigungspflicht, die Höhe und die Art des Schadenersatzes in Betracht kommen." Königlich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Staatsminister Dr. Leonhardt: M. H., der Herr Antragsteller — ich irre doch nicht, wenn ich annehme, daß es sich um die Resolution, betreffend die Zuziehung von Laien, handelt (wird be­ stätigt) — scheint mir hier auf dem Wege zu sein, singuläres Recht zu schaffen,

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Privilegien, bei denen es allerdings zweifelhaft sein kann, wem denn diese Privilegien zum Vortheil gereichen und wem zum Nachtheil. Ich sehe für das singuläre Recht, welches hier geschaffen werden soll, keinen Grund. Die Frage, ob im CivilprozeßVerfahren Laien zuzuziehen seien, ist eine ganz allgemeine. Wenn man sie bejaht, so wird man viel weiter gehen müssen, als der Antrag will; man kann möglicherweise auch bestimmte Kategorien von Rechtsverhältnissen unterscheiden, man kann möglicher­ weise auch sagen, Laien mögen zugezogen werden zur Erledigung von Schadensansprüchen überhaupt, aber warum gerade diese Sorte von Schadensansprüchen unter Zuziehung von Laien erledigt werden sollen, das vermag ich nicht abzusehen. — Uebrigens, m. H., will ich mich auf die Sache hier nicht weiter einlassen. Die Zuziehung von Laien in der Civil-Rechtspflege ist eine große legislative Kontroverse, die noch gar nicht reif ist, wissenschaftlich noch nicht reif. Jedenfalls dürfte es doch wohl nicht gerathen sein, daß dieses hohe Haus ganz gelegentlich nur bei Wege lang über eine so wichtige legislative Kontroverse sich schlüssig macht und bei dieser Gelegenheit rasch dem Reichskanzler anheimgiebt, die Civilprozeß-Kommission anzuweisen, derartige Bestimmungen in die CivilprozeßOrdnung aufzunehmen. Die Frage bedarf einer sehr gründlichen Erwägung. M. H., die Frage der Zuziehung von Laien in der Strafrechts-Pflege wird voraussichtlich für Sie Gegenstand sorgfältigster, gründlichster Prüfung sein; wenn dieser Zeitpunkt - ge­ kommen sein wird, mögen Sie auch darüber Beschluß fassen, ob Laien auch in der Civilrechts-Pflege zuzuziehen seien. Ich glaube, wenn man die Laien im Strafverfahren zuzieht — und dahin geht der legislative Trieb in Deutschland — so wird inan wohl zu prüfen haben, ob die Zuziehung von Laien im Civilprozeß- Verfahren nicht eine Ueberbürdung der Laien herbeiführt, welche gar nicht erträglich ist. Deshalb, m. H., möchte ich Ihnen dringend anheimgeben, diese Frage hier nicht zu erörtern, sie vielmehr aufzunehmen, wenn Ihnen der Entwurf einer Prozeßordnung vorgelegt wird. Dann werden Sie Ruhe haben, die Sache zu erörtern, insbesondere diese Frage in ihrem größeren Zusammenhänge prüfen. Jetzt wird Ihnen in dieser Beziehung gar nichts vorgelegt; wenn Sie nicht wissen, welche Grundlagen die Prozeßordnung haben wird, wie es sich verhalten mag mit der freien Beweisführung, mit den Rechtsmitteln über die Thatfrage, so lange haben Sie meiner Ueberzeugung nach nicht die Grundlagen für ein richtiges Urtheil. (Br.!) Abg. Lasker stellt den betreffenden Antrag bis auf die dritte Lesung zurück. — Die anderen Resolutionen werden ebenfalls zurückgestellt.

Die Beschlüsse der zweiten Berathung lauten zusammengefaßt:

Gesetz, betreffend dir Verbindlichkeit zum Schadenersatz für die bei dem üetriebe non EisenbahnenBergwerken n. s. m. herbeigeführten Tödtungen nnd Körperverletzungen. 28ir Wilhelm rc. rc.

1. Unverändert. 2. Unverändert. 3. Der Schadenersatz (§§. 1 und 2) ist zu leisten: im Falle der Tödtung durch Ersatz der Kosten einer versuchten Heilung und der Beer­ digung, durch Erstattung des Vermögensnachtheils, welchen der Getödtete während der Krankheit durch Erwerbsunfähigkeit oder Vermmderung der Erwerbsfähigkeit erlitten hat. War der Getödtete zur Zeit seines Todes vermöge Gesetzes verpflichtet, einem Andern Unterhalt zu gewähren, so kann dieser insoweit Ersatz fordern, als ihm in Folge des Todesfalles der Unterhalt entzogen worden ist; 2) im Fall einer Körperverletzung durch Ersatz der Heilungskofien und des Vermögensnach§. §. §. 1)

NeichstagS-Nepertorium I.

oq

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Gesetzentwürfe. theils, welchen der Verletzte durch eine in Folge der Verletzung eingetretene zeitweise

oder dauernde Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erleidet. §. 4.

War der Getödtete oder Verletzte gegen den Unfall ohne Mitwirkung des Haftpflich­

tigen und unter der Bedingung verpflichtet, daß der Versicherer gegen den Haftpflichtigen sich er­

holen dürfe, so wird die gezahlte Versicherungssumme auf die Entschädigungssumme abgerechnet

und der Versicherer kann den Ersatz derselben bis zur Höhe der Entschädigung selbstständig von dem Verpflichteten fordern.

War der Getödtete oder Verletzte unter Mitleistung von Prämien oder anderen Beiträgen

durch den Haftpflichtigen bei einer Versicherungs-Anstalt, Knappschafts-, Unterstützungs-, Kranken­ oder ähnlichen Kasse versichert, so ist die Leistung der Letzteren auf die Gesammt-Entschädigung ein­ zurechnen, jedoch nur dann, wenn die Mitleistung desselben nicht unter einem Drittel der Gesammtleistung beträgt.

§. 5.

Unverändert wie §. 4 der Vorlage.

§. 6.

Das Gericht hat über die Wahrheit der thatsächlichen Behauptungen unter Berück­

sichtigung des gesammten Inhalts der Verhandlungen nach freier Ueberzeugung zu entscheiden. Die Vorschriften der Landesgesetze iiber den Beweis durch Eid, sowie über die Beweiskraft

öffentlicher Urkunden und der gerichtlichen Geständnisse bleiben unberührt. Ob einer Partei über die Wahrheit oder Unwahrheit einer thatsächlichen Behauptung noch ein Eid aufzulegen, sowie ob und inwieweit über die Höhe des Schadens eine beantragte Beweis­ aufnahme anzuordnen oder Sachverständige mit ihrem Gutachten zu hören, bleibt dem Ermessen des

Gerichts überlassen.

§. 7.

Das Gericht hat unter Würdigung aller Umstände über die Höhe des Schadens sowie

darüber, ob, in welcher Art und in welcher Höhe Sicherheit zu bestellen ist, nach freiem Ermessen

zu erkennen.

Als Ersatz für den zukünftigen Unterhalt oder Erwerb ist, wenn nicht beide Theile

über die Abfindung in Kapital einverstanden sind, in der Regel eine Rente zuzubilligen. Der Verpflichtete kann jeder Zeit die Aufhebung oder Minderung der Rente fordern, wenn

diejenigen Verhältnisse, welche die Zuerkennung oder Höhe der Rente bedingt hatten, inzwischen wesentlich verändert sind.

Ebenso kann der Verletzte, dafern er den Anspruch auf Schadenersatz

innerhalb der Verjährungsfrist (§. 8) geltend gemacht hat, jederzeit die Erhöhung oder Wieder­ gewährung der Rente fordern, wenn die Verhältnisse, welche für die Feststellung, Minderung oder

Aufhebung der Rente maaßgebend waren, wesentlich verändert sind. Der Berechtigte kann auch nachträglich die Bestellung einer Sicherheit oder Erhöhung der­

selben fordern, wenn die Vermögensverhältnisse des Verpflichteten inzwischen sich verschlechtert haben. §. 8.

Die Forderungen auf Schadensersatz (§§. 1 bis 3) verjähren in zwei Jahren vom

Tage des Unfalls an.

Gegen denjenigen, welchem der Getödtete Unterhalt zu gewähren hatte (§. 3

Nr. 1), beginnt die Verjährung mit dem Todestage.

Die Verjährung läuft auch

gegen Minder­

jährige und diesen gleichgestellte Personen von denselben Zeitpunkten an, mit Ausschluß der Wieder­

einsetzung.

§. 9.

Die Bestimmungen der Landesgesetze, nach welchen außer den in diesem Gesetz vor­

gesehenen Fällen der Unternehmer einer in den §§. 1 und 2 bezeichneten Anlage oder eine andere

Person, insbesondere wegen eines eigenen Verschuldens für den bei dem Betriebe der Anlage durch Tödtung oder Körperletzung eines Menschen entstandenen Schaden haftet, bleiben unberührt. Die Vorschriften der §§. 3, 4, 6 bis 8 finden auch in diesen Fällen Anwendung, jedoch un­

beschadet derjenigen Bestimmungen der Landesgesetze, welche dem Beschädigten einen höheren ErsatzAnspruch gewähren. Die Vorschriften der §§. 3, 5 bis 8 finden auch Anwendung auf die Verfolgung des An­

spruches, welchen der Versicherer (§. 4) gegen den Haftpflichtigen geltend macht. §. 10.

Die Bestimmungen des Gesetzes, betreffend die Errichtung eines obersten Gerichts­

hofes für Handelssachen vom 12. Juni 1869, sowie die Ergänzungen desselben, werden auf die­

jenigen Rechtsstreitigkeiten ausgedehnt, in welchen durch Klage auf Grund des gegenwärtigen Ge­

setzes ein Anspruch geltend gemacht wird. Urkundlich rc.

Gegeben re.

Verbindlichkeit zum Schadenersatz für Tödtungen u. Verletzungen auf Eisenbahnen re.

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Dritte Berathung am 8. Mai 1871.

Abg. Schulze: M. H. Die früheren Debatten haben zur Genüge ergeben: die Durchführung der strengeren Haftpflicht der Unternehmer in gefährlichen Gewerben wird ohne Hereinziehung der Assekuranz thatsächlich in vielen Fällen schwer zu ermöglichen sein- Man hat in diesen Gewerben, die speciell dazu Veranlassung gegeben haben, die Ausnahmen von der gewöhnlichen eivilrechtlichen Haftbarkeit zu statuiren, speciell solche mit im Auge gehabt, wo Massenunglück nach den Erfahrungen der letzten Jahre in so schwer wiegender Weise eingetreten ist, und eben dieses Massenunglück und die schweren Folgen, die auf Hunderte von Familien der dabei Betheiligten zurück wirkten, sind ja das Motiv der Regierung gewesen, diesen speciellen Punkt zu ordnen und uns recht eigentlich ein Nothstandsgesetz vorzulegen. — Nun, m. H., wenn wir das festhalten und zugeben: die Assekuranz hat hier einzutreten, so muß ich gerade von diesem Stand­ punkt aus auf das Aeußerste bekämpfen das Hereinziehen der gegenwärtig bestehenden Fabrik- und sonstigen Kassen, mit Betheiligung der Arbeiter und der Unternehmer, wie sie speciell in Preußen, also dem größten Theile unseres Reichs, durch Ortsstatute in Folge der früheren Gewerbeordnungs-Bestimmungen, bei denen es ja im Ganzen auch in der Reichsgesetzgebung geblieben ist, sich weit verzweigt über alle Theile unseres Landes erstrecken. M. H., das Hereinziehen dieser Kassen, die unter ganz verschiedenen Voraussetzungen und für ganz andere Schäden als Unfälle in gefährlichen Gewerben organisirt und bestimmt sind, involvirt nicht nur eine Verschiebung der ganzen Frage, die uns hier beschäftigt, sondern bricht geradezu mit dem Prinzip des Gesetzes, mit den Motiven, welche die Regierung selbst zum Erlaß des gegenwärtigen Specialgesetzes be­ wogen haben. Das Gesetz bezweckt, in Bezug auf Haftpflicht aus der Reihe der ge­ wöhnlichen Gewerbe die gefährlichen Gewerbe herauszuheben; ich brauche sie nicht zu charakterisiren, es sind eben die, wo im gewöhnlichen Betriebe wegen Hereinziehung von Kräften, die man so absolut doch noch nicht beherrschen kann, Unfälle in gewissen statistisch nachweisbaren Durchschnittszahlen die Regel bilden. Man weiß, wenn man ein solches Gewerbe unternimmt, im voraus, daß Unfälle vorkommen werden, und die Statistik giebt uns, wie gesagt, gewisse Zahlengesetze, in welcher Art, in welchem Um­ fange, welcher Tragweite sie nach den Erfahrungen von Reihen von Jahren vorgekommen sind. Das Gesetz will also hier den Unternehmern eine strengere Haft auflegen, als bei anderen, bei den nicht gefährlichen Gewerben, das ist der ausgesprochene Zweck des Gesetzes; ohne diesen Zweck hätte das Hineingreifen in diese Materie durch eine solche Specialgesetzgebung gar keinen Sinn und gar keine Berechtigung. Wie steht nun das Hereinziehen der bis jetzt existirenden Kassen zu diesem Zweck des Gesetzes? In den bisherigen Kassen dieser Art, da hatte m.an nichts weniger als die Besonderheit der Unfälle bei den gefährlichen Gewerben durch Körperverletzung und Tödtung im Auge, sondern zugleich alles mögliche Andere, die natürliche Ausnutzung der Arbeitskraft mit der Altersinvalidität, wie sie ja nach Art der Gewerbe früher oder später von selbst eintritt, im Lause der Natur ohne jeden Unfall; man hatte die Erkrankung und, was damit zusammenhängt, den Tod ohne irgend welche Veranlassung eines Unfalls im Auge. Und jetzt, was bewirken Sie durch die Hineinziehung dieser Kassen in die jetzige Frage, deren Lösung uns obliegt? Sie werfen Alles durch einander, Sie hemmen und schädigen die Absicht des Gesetzes selbst, welches den Unternehmern in gefährlichen Gewerben eine andere Last, eine weiter gehende Haftpflicht auflegen will, als denen in nichtgefährlichen; Sie stören, Sie durchkreuzen die Absicht des Gesetzgebers, im H.! Aber Sie thun noch mehr. Ich werde mir erlauben, das näher auszuführen. — Im Ganzen besteht bis jetzt die Verpflichtung der Arbeiter, bestimmte Beiträge zu leisten, und die Unternehmer haben die Hälfte dieser Beiträge zu leisten, die Kassen aber hasten für alle Fälle, ohne Rücksicht auf gefährliche und ungefährliche Gewerbe, welche im Betriebe oder sonst im Laufe der Natur eintreten. Es besteht also ein Zwang zu diesen Kassen, die Arbeiter müssen in diese Kassen treten, wo diese durch Ortsstatute einmal eingeführt sind, und das ist so ziemlich überall der Fall, sie haben nur durch die Reichs-Gewerbeordnung,

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die wir im norddeutschen Bunde erließen, die Wahl, nicht etwa aus den Kassen heraus zu bleiben, nein, nur wenn sie selbstständig solche Kassen gründen, dann sollen sie nicht genöthigt sein, in diese Zwangskassen einzutreten. Der Versicherungszwang für die Arbeiter ist also nicht aufgehoben, sondern nur modificirt durch § 141 der norddeutschen Gewerbeordnung, die jetzt für das deutsche Reich gilt. Nun, m. H., so gewiß Sie in diese Zwangs-Versicherungspflicht der Arbeiter gegen alle denkbaren Unfälle: Erkrankung, Invalidität durch Altersschwäche u. s. w. —, so wie Sie da die Haftpflicht der Unter­ nehmer in den gefährlichen Gewerben hineindrängen, schieben Sie ein Element hinein, an welches Niemand bei Gründung der Kassen gedacht hat, für welches die Versicherungs­ sätze in den Kassen gar nicht normirt sind. Und was bewirken Sie schließlich damit? Eine Erleichterung der Unternehmer nicht nur — nein, m. H., Sie thun mehr! Sie beschreiten einen Weg, auf dem Sie im weiteren Verfolge die erhöhte Haftpflicht der Unternehmer von gefährlichen Gewerben, wie sie durch das Gesetz — sei es auch in ungenügendem Maße nach der Ansicht vieler von uns, aber doch principiell — konstituirt ist, mittelst einer Hinterthür wieder herausbringen. (S. r.! s. w.! r.) Ich bemerke zu dem überaus Bedenklichen dieses Weges: nicht die Arbeiter, sondern die Unternehmer sind es, denen Sie bei den gefährlichen Gewerben den Versicherungszwang auferlegen müßten, um dem Prinzip des Gesetzes gerecht zu werden. Sie wissen, es liegt uns vor und ist uns mitgetheilt, wenn auch nicht zur Diskussion gestellt, der Antrag eines sehr bedeutenden Industriellen in unserer Mitte, der die Zwangspflicht der Unternehmer, sich gegen die Haft für solche Unfälle zu versichern, festgestellt wissen wollte. Ich meine aber, hier ist ein indirekter Zwang unendlich besser, als jeder direkte. Der indirekte Zwang hätte aber darin gelegen und wird darin liegen, wenn Sie sich ent­ schließen, m. H., principiell das auf die Eisenbahnen angewendete Princip der durch­ greifenden Haftbarkeit der Unternehmer auszudehnen auf alle gefährlichen Gewerbe, wie Ihnen mein Amendement vorschlügt, welches jetzt wieder zur Diskussion und Abstimmung Ihnen gestellt werden wird. In dem Augenblicke, m. H., wo Sie dieses Amendement sanktioniren, wird die Versicherung, in dem nothwendigen ausgedehnten Maßstabe, wie sie die Natur der Dinge nach dem Grade der Gefährlichkeit gewisser Unternehmungen erfordert, eintreten; da wird das Interesse die Betheiligten nöthigen, auf diesen Ausweg sich zu begeben, der wahrlich nicht zu große Opfer erheischt. Sehen Sie die statistischen Berechnungen nach, erhöhen Sie selbst die Durchschnitte um 50—100 Procent, da sie ja nur auf der Erhebung weniger Jahre beruhen: und was haben Sie schließlich? Im Gegensatz zu dem unendlichen Unheil eine unendlich nichtige und unbedeutende Leistung, die bei gehöriger Vertheilung den Betheiligten angesonnen wird. Vergleichen Sie damit die Menge von Hilfsbedürftigen, die sich bei einem Massenunglück ergiebt, und die wahrlich auch am letzten Ende nicht blos die Betheiligten, die auch die Gemeinde und die weiteren Kreise der Armenversorgung trifft, da leicht eine Gemeinde bei solchem Massenunglück insolvent werden möchte in ihren Armenleistungen, was schließlich nach unserer Gesetzgebung sogar auf den Staat zurückfallen kann. Gewiß, Sie schützen den Staat und die Gesellschaft, wenn Sie hier durchgreifen und die Familien derer schützen, die sich diesen gefährlichen Gewerben widmen, die, um so große, gewaltige Bedürfnisse der Gesellschaft zu befriedigen, hinuntersteigen in die Tiefen der Erde und sich allen diesen gefährlichen Einflüssen aussetzen. Sie sind ihnen den Schutz gegen die äußerste Noth schuldig, und Sie können dies nicht auf dem jetzigen Wege, wo Sie eigentlich durch die Leistungen der jetzigen Kassen — man mag sagen, was man will — nichts weiter als ein klägliches Almosen gewähren. Sie müssen ausreichend für die Gefahr eintreten, wie ich mir früher erlaubte zu sagen, so gut, wie für die Gefahren des Kriegers einstehen, der das Vaterland vertheidigen muß, und dessen Familie und Existenz wir auch zu vertreten haben. Erst dann, m. H., wenn sie auf diesem Wege durch den indirekten Zwang, durch die konsequente Feststellung der Haftpflicht für die Unternehmer dahin gelangt sind, Assekuranz, wie sie das Bedürfniß erfordert, mit Unterscheidung der gefährlichen und der nicht gefährlichen Gewerbe hervorzurufen, erst dann können Sie darauf rechnen, daß die Kooperation, das gemeinsame Ersassen der Aufgabe, durch das

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Miteintreten der Arbeitgeber und der Arbeiter selbst schließlich die Frage in befriedigender Weise löst. Die jetzigen Verhältnisse sind nicht der Art, den Arbeitern Lust dazu zu machen. — Gegen die Zwangskassen, wie sie jetzt bestehen, obgleich der Beitrag der Arbeitgeber und der Arbeiter in dieselbe Kasse fließt, ist das äußerste Widerstreben in der deutschen Arbeiterrvelt vorhanden. Wir haben darüber bei Erlaß der GewerbeOrdnung weitläufig verhandelt, und das zweite Alinea des § 141 ist der Ausdruck dieser Verhandlung gewesen. Diese Zwangskassen mit ihrem halbofficiellen Charakter, wo den Betheiligten nicht der nothwendige persönliche Einfluß, nicht die Geltendmachung ihrer berechtigten Interessen hinreichend gesichert ist, wo zum Theil die unglaublichste Verschwendung in der Verwaltung mit überaus kläglichen Resultaten in den Leistungen vorliegen, sind kein Anknüpfungspunkt für uns, und die Art, wie man nicht selten dabei umgeht, mit den Beiträgen der Arbeiter, schreckt diese ab. Ich gehe nicht von neuem wieder darauf ein, aber, m. H., ehe Sie nicht das Verhältniß der Beitragspflicht nach den Prinzipien der Gerechtigkeit ordnen, wie sie der Gesetzentwurf andeutet, werden Sie die Arbeiter schwerlich bestimmen, aus eigenem Antriebe in derartige Kassen einzutreten. Ich wünsche mit einigen meiner verehrten Freunde, mit denen ich auf sozialem Gebiete auf demselben Fuße stehe, mit denen ich auch Manches schon durchgesetzt habe, dringend die Kooperation der Arbeitgeber und Arbeiter auf diesem Felde. Wir müssen von allen Seiten darauf hinwirken, daß man die Interessen der Arbeitgeber und Arbeit­ nehmer als solidarisch untrennbar verbunden sich denkt; aber wenn Sie den Weg be­ schreiten, den das Amendement Lasker betritt, so ist das nicht der Weg, um mit Erfolg das Bewußtsein einer solchen Solidarität anzustreben, denn man trifft da die Dinge nicht in dem Punkt, wo sie getroffen werden müssen, und wenn man mir immer damit kommt, die Lösung auf die endliche Erledigung des Obligationenrechtes zu ver­ weisen — nun, m. H., ich bin ja auch Jurist und erwarte sehnlichst die endliche Kodi­ fikation des Obligationenrechts —, so scheint mir das Obligationenrecht fast als ein allgemeiner Rückzugspunkt für unerledigte Fragen und Erleichterung des parlamentari­ schen Gewissens zu dienen. (H. und Z. l.) — Wenn man einmal, und das hat die Negierung gethan, und wir müssen ihr dafür dankbar sein, eine solche Materie heraus­ greift, so thut man es nicht anders, als wenn man es für höchst nothwendig erachtet. Es ist ein Nothstands-Gesetz, aber Sie dämmen mit solchen halben Maßregeln nun und nimmermehr den Nothstand ab und, wenn Sie den vorhandenen Nothstand nicht decken, so ist die darauf bezügliche Spezialgesetzgebung unberechtigt von Hause aus. Ich denke, die Gesellschaft im Ganzen hat ohne das künftige Obligationenrecht die Verpflichtung, hier einzutreten. Die Schäden liegen offenbar vor aller Augen, und nur wenn wir dieser Obligation der ganzen Gesellschaft durch ein durchgreifendes Spezialgesetz Aus­ druck verleihen, dann, m. H., werden wir nicht blos große materielle Uebelstände be­ seitigen, sondern einen Schritt auf dem Wege gethan haben, der die brennendste aller Fragen, die soziale Frage, durch Anerkennung wahlberechtigter Forderungen der ge­ drückten Klassen ihrem endlichen Austrage näher bringt. (Br.) Abg. Bebel: M. H., als vor einiger Zeit die Nachricht durch die Presse ging, daß dem deutschen Reichstage ein derartiges Haftgesetz, wie es später auch wirklich ge­ schah, vorgelegt werden würde, war bei einem nicht geringen Theile der deutschen Arbeiter die Hoffnung vorhanden, daß dieses Gesetz ein in jeder Beziehung ihre Bedürfnisse be­ friedigendes sein werde. Als nun das Gesetz später durch die Verhandlungen des Reichstags sowohl, als durch die Presse, in die Oeffentlichkeit gelangte, da wurde dieser Glaube bereits bedeutend herabgestimmt; aber, m. H., bei denjenigen, bei denen noch etwas Hoffnung auf dieses Gesetz vorhanden war, wurde auch diese Hoffnung vollständig vernichtet durch die Beschlüsse, die Sie bei der zweiten Lesung gefaßt haben (S. w.! I.), und die nach der Stimmung im Hause auch höchst wahrscheinlich bei der dritten Lesung aufrecht erhalten werden. M. H., dem Gesetz liegt die Ansicht und das Prinzip zu Grunde, daß der Unter­ nehmer, der aus der fremden Arbeitskraft Gewinn herausschlägt, auch verpflichtet sei, im Falle daß Ereignisse eintreten, die diese Arbeitskraft ohne ihr Verschulden in Un-

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thätigkeit versetzen oder sie gar todten, mit Entschädigungen einzutreten. M. H., das ist das Grundprinzip, und in § 1 der Regierungsvorlage ist diesem Grundprinzip gegen­ über den Eisenbahnen auf eine ziemlich vollständige Weise Genüge geleistet. Bei § 2 aber ist bei allen übrigen Gewerben und Industrien davon Abstand genommen. Ich kann mir nur einen einzigen Grund denken, der die Herren in der Majorität hier im Reichstag, die absolut von strengerer Haftpflicht nichts wissen wollen, bestimmt, doch für die Eisenbahnen eine strengere Haftpflicht inne zu halten, das ist der, daß sie sich sagen: es kommt bei den Eisenbahnen nicht allein die Möglichkeit vor, daß die betreffenden dabei beschäftigten Arbeiter ruinirt werden können, sondern auch das große Publikum, und vor allen Dingen unsere eigenen ehrenwerthen Persönlichkeiten vielleicht selbst, können Schaden leiden, und da wollen wir uns doch vorsehen. M. H., das scheint mir der wesentlichste Grund zu sein, daß die verehrlichen Gesetzgeber selbst einmal Gefahr laufen könnten, durch Entgleisen eines Eisenbahn-Zuges, durch falsche Weichenstellung u. s. w. um das Leben zu kommen. Aber ich halte diese Ungleichheit der Haftpflicht für un­ recht. Was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig! Das eine Menschenleben ist so viel werth wie das andere, mag es nun das eines gewöhnlichen Arbeiters oder einer hochgestellten Persönlichkeit sein. — M. H., ich gehe von der Ansicht aus, daß die Haft­ pflicht auf alle Unternehmungen ausgedehnt werden muß, nicht allein auf die Eisenbahnen und die Großindustrie, sondern auch auf den Ackerbau (die Agrikultur), so daß in allen Fällen, wo nachweislich durch Vernachlässigung des Unternehmers Jemandem Schaden geschieht, der Unternehmer auch in vollem Umfange Ersatz zu leisten hat. Nun ist der Einwand gemacht worden, daß das nicht immer, beispielsweise beim Bergbau möglich sei; es kämen beim Bergbau elementare Ereignisse in Betracht, die ganz zu beseitigen bei dem heutigen Standpunkt der Technik nicht möglich sei. Es ist nun aber auch in der Bestimmung, wie sie für die Eisenbahnen vorliegt, gesagt, daß in den Fällen, wo klar nachgewiesen wird, daß der Unternehmer alles Menschenmögliche und Denkbare ge­ than hat, was in seinen Kräften liegt, um Unglück zu verhüten, er von der Verantlichkeit fteizusprechen ist, und diese Bestimmung würde selbstverständlich auch für den Bergbau und alle anderen Unternehmungen gelten. Nun ist aber bei der zweiten Lesung des Gesetzes von mehreren Mitgliedern des Hauses und zwar sehr sachverständigen nach­ gewiesen worden, daß die Unglücksfälle, wie sie in letzter Zeit ununterbrochen bei dem Bergbau namentlich vorgekommen sind, auf ein Minimum reducirt werden könnten, wenn der betreffende Grubenbesitzer strengstens angehalten würde, alle Vorrichtungen zu treffen, die nach dem Standpunkt der heutigen Wissenschaft und Technik möglich und nothwendig sind. Ich habe mich in dieser Angelegenheit auch an den Verwaltungsrath der internationalen Bergarbeiterschast in Zwickau gewendet, um von dem einmal zu hören, was der Bergarbeiter, also der dabei am meisten interessirten Kreise, Ansicht über diese Frage sei. Es ist mir da ein Schriftstück zugegangen, was in vieler Beziehung sehr interessant ist und zugleich pikante Streiflichter wirft nicht allein auf die Stellung, welche die Berg­ arbeiter einnehmen gegenüber den Grubenverwaltungen, sondern woraus sich mit großer Leichtigkeit auch deduciren läßt, welche Stellung die Arbeiter überhaupt gegenüber den großen Jndustrieunternehmungen einnehmen. Es geht daraus hervor, wie, wenn nicht das Gesetz in vollständig präziser und klarer Form vorschreibt, daß die Haftpflicht eine möglichst strenge und klar bestimmte sei, die Möglichkeit vorliegt, daß der Arbeitgeber jederzeit sich von dieser Verpflichtung losmachen kann, weil er irgend einen Vorwand dazu findet und in dem Kreise, wo er eben sich Recht sucht, durch bestimmte Einrich­ tungen geschützt wird. (Redner verliest eine Zuschrift des internationalen Knappschafts­ vereins in Zwickau.) Das Schreiben fährt fort: „Ich komme nun zu einem sehr kritischen Punkte in Betreff Ihrer Frage, ob von Seiten der Behörde eine Untersuchung darüber stattfindet, ob die Werksverwaltung oder der Arbeiter selbst an seiner Verunglückung Schuld hat. Sie wissen, daß der Zwickauer Bergbau ein Privatbergbau ist; derselbe wird durch eine königliche Werksinspektion bergpolizeilich überwacht. Wenn ich Ihnen aber nun sage.

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daß der fragliche Werksinspektor bei Knappschaftsfesten als Gast dinirt u. s. w., mit den Werkbesitzern und Werksverwaltungen im freundschaftlichsten Verhältniß lebt, werden Sie leicht den Schluß ziehen, inwieweit ein Unglücksfall nach Thatsache erörtert und beurtheilt wird. Die beiden Gerichtsämter Zwickau, als beurtheilende Behörden, kennen den Bergbau weder theoretisch noch praktisch, sie kennen nicht einmal die Benennung der verschiedenen Werkseinrichtungen, Bau- und Maschinentheile, noch weit weniger den gesetzlich vorgeschriebenen Schacht- und Grubenbau und dessen Ausführung, mit einem Worte, es fehlen nicht mehr als alle Kenntnisse. Bei einem Unglückssall, der ein oder mehrere Menschenleben getödtet oder lebensgefährlich verletzt hat, ist nun der Werks­ inspektor derjenige, welcher die betreffende Grube zu befahren und über den Unglücksfall, respektive dessen Zuträglichkeit ein Gutachten an die Gerichtsbehörde abzugeben hat. Die Befahrung der Grube und des Ortes, an welchem sich der Unglücksfall zugetragen hat, geschieht nun durch den Werksinspektor oder seinen Assistenten erst nach Tagen oder Wochen des erfolgten Unglücksfalles. Innerhalb der Zeit wird nun von der Werksverwaltung alles unregelmäßige und gesetzwidrige Abbauen u. s. w. beseitigt und in guten Zustand gesetzt, so daß die Werksinspektion Alles in gutem Zustande findet und die Umstände, die eigentlich den Unglücksfall herbeigeführt haben, ganz unberührt lassen kann; — folglich fällt die Schuld auf den ver­ unglückten Arbeiter selbst oder wird als unvorhergesehener Fall in dem Gutachten der Werksinspektion hingestellt, worauf die Werksverwaltung trotz ihrer Schuld dennoch schuldfrei gesprochen wird. Sie werden nun sagen, der verunglückte Arbeiter, der noch am Leben ist, kann und muß doch selbst den Sachverhalt angeben, wodurch er zu Schaden gekommen ist. O nein! Da erhält die Familie ein, zwei Karren Kohlen gratis, ein Sack Kartoffeln, ein paar Thaler Geld, weitere Unterstützung wird in Aus­ sicht gestellt, aber erfolgt nicht mehr, sobald der Verunglückte das von der Werksinspektion angegebene Gutachten acceptirt hat. Die Mitarbeiter des Verunglückten können die Wahrheit über die Zustände, welche den Unglücksfall herbei­ geführt haben, noch weit weniger zur Geltung bringen, ihrer eigenen Existenz wegen schon nicht, mindestens würden dieselben auf ein wahrheitsgetreues Bekenntniß so lange mit schlecht lohnender Arbeit bedacht werden, bis dieselben durch fortwährend schlechte Belohnung auf dem betreffenden Werke ihre Arbeitsentlassung zu nehmen gezwungen wären, wenn deren sofortige Entlassung nicht gleich erfolgte. Durch die Arbeitsent­ lassung verliert aber auch der Arbeiter die Mitgliedschaft im Knappschaftsverbande, alle geleisteten Beiträge zu dessenKasse und alle er­ worbenen Rechte in demselben. Dazu kommt aber nun noch für solche ehrliche Arbeiter womöglich die Erschwerung der Arbeitserlangung, so daß solche Arbeiter, die in den Offiziantenvereinen sehr leicht bekannt zu geben sind, oft Monate ohne Arbeit sind." „Anfangs des Jahres 1870 — er erzählt jetzt einen besonders interessanten Fall — wurde ein Häuer in dem Sacherts-Erben-Schacht in Schedewitz während der För­ derung verordnet, in dem Treibeschacht nachzufahren; die Werksverwaltung hatte dies angeordnet, und obgleich dieselbe wußte, daß während der Förderung im Treibeschacht arbeiten zu lassen strengstens verboten ist, hatte sie selbst nicht einmal die nöthigsten Vorsichts-Maßregeln (Bau einer Schutzbühne) in Anwendung gebracht. Zum Unglück zerreißt die Schurzkette, an welcher das Fördergerüst hängt, und letzteres fällt in den Schacht hinunter und beschädigt den fraglichen Häuer der Art, daß derselbe nach fünf­ wöchentlich ausgestandenen schmerzlichen Qualen seinen Geist im Reichs-Krankenstift zu Zwickau aufgeben mußte. Dieser Unglücksfall war als ein solcher zur Anzeige gebracht, „daß ein Arbeiter dabei nur leicht beschädigt sei" (H.! I.), nach erfolgtem Tode des fraglichen Arbeiters wurde erst die Grube, resp, der Ort des Unglückfalls, durch die Werksinspektion befahren, und soweit mir bekannt, hat die Werksinspektion etwas Ungesetzliches nicht gefunden; selbst eine Schutzbühne war angebracht, und daß dieselbe noch, ganz unbeschädigt war, trotzdem der fragliche Häuer unter derselben tödtlich beschädigt worden war, ist der Werksinspektion nicht auffällig gewesen. Wäre

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die Schutzbühne vor dem Unglückssall dagewesen, so hätte der Arbeiter, welcher sich unter der Schutzbühne befand, nicht verletzt werden können, außer, die Schutzbühne wäre durch das Gerüst durchgeschlagen worden. Es ist also ein Wunder, der Mann tödtlich beschädigt, die Bühne zu seinem Schutz unverletzt." Der Schreiber vergleicht diesen Fall mit dem, daß wenn Jemand bei starkem Regen mit aufgespanntem Regenschirm ausgeht, sein Regenschirm trocken bleibt, während er unter demselben vollständig naß wird. (H.) Es heißt in dem Schreiben weiter: „Die Arbeiter, die die Wahrheit anzugeben drohten, wurden unter nichtigen Vor­ wänden entlassen, und ist eine Strafe gegen die Werksverwaltung nicht einmal bean­ tragt, weit weniger vollzogen worden. Die Arbeiter, die die Schutzbühne nach dem Unglücksfall eingebaut haben, sind mir bekannt und haben mir dies selbst mitgetheilt. Derartige Vorkommnisse giebt es noch mehr. Denke ich 15 Jahre zurück, so ist mir trotz der vielen und verschiedenen Unglücksfälle nicht ein einziger Fall bekannt, daß eine Werksverwaltung zu Strafe verurtheilt worden wäre." M. H., so weit das Schreiben der betreffenden Bergarbeiter, die ja tagtäglich in diesen Verhältnissen leben und auf das Allergenaueste selbst diejenigen Nachtheile zu würdigen wissen, die ihnen täglich in ihrem schweren Beruf drohen. Ich bemerke, daß diese Einrichtungen, die hier in Bezug auf den Bergbau und in Bezug auf die Stellung des Unternehmers zu dem Unternehmen selbst angeführt sind, auch, wie gesagt, in den meisten übrigen Fällen, namentlich bei der Großindustrie Geltung erlangen. In unserer Großindustrie und unserem gewerblichen Leben überhaupt macht sich das Bestreben und das natürliche und vernünftige Bestreben geltend, daß mehr und mehr die Ma­ schinen eingeführt werden; es liegt dabei aber nahe, daß die Gefahr für die Beschädi­ gung der Arbeiter an Leib und Leben täglich eine stets größere wird. Zu einer Zeit, wo die gesummte Industrie, die gesammte Arbeit mehr oder weniger auf bloße Handarbeit reducirt war, machte sich natürlich ein Gesetz, wie es heute uns vorliegt, rticht noth­ wendig; erst von dem Augenblick an, wo mehr und mehr die Maschinen eingeführt werden, wo an Stelle des Kleingewerbes die Großindustrie tritt, stellt sich auch heraus, daß die Zahl der Unglücksfälle sich sehr vergrößert, und daß es nothwendig ist, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie hierin Abhülfe geschaffen werden kann. Deshalb, m. H., finde ich es für nothwendig, daß man bei Abfassung dieses Gesetzentwurfs nicht allein sich darauf eingelassen hätte, die Haftpflicht der Unternehmer auszusprechen, son­ dern dieses Gesetz auf einen weiteren Umfang auszudehnen und es zugleich zu einem, ich möchte sagen, Arbeiter-Schutzgesetz umzugestalten, welches zugleich gesetzlich geregelte Bestimmungen darüber enthält, daß und welche Vorkehrungen in den verschiedenen indu­ striellen Etablissements getroffen werden müssen, um Gefahr für Leib und Leben der Arbeiter zu verhüten. Ich sage, die Arbeiter befinden sich heute thatsächlich der Industrie gegen­ über in einem permanenten Nothstände, ihr Leib und ihre Gesundheit ist in tagtäglicher Gefahr, und, m. H., bei der großen Zahl derjenigen, die durch diese Einrichtungen tag­ täglicher Gefahr ausgesetzt sind und tagtäglicher Schädigung an Leib und Leben, hätte ich es denn doch für wünschenswerth und passend und nothwendig gefunden, daß man, wenn es bis jetzt nicht möglich war, sich lieber noch ein halbes Jahr und äußersten Falles auch noch ein Jahr geduldete und dann ein Gesetz vorlegte, was nach allen Seiten hin den Bedürfnissen Rechnung trug. Sie würden dann bei den Arbeitern auf eine bessere Stimmung und mehr Anklang haben rechnen können, als es bei diesem Gesetz der Fall ist. M. H., ich komme nun aber auf einige andere Punkte, die das Gesetz meiner Ansicht nach vollständig unannehmbar machen. Es ist in der zweiten Lesung auf An­ trag des Abg. Lasker der § 4 des Gesetzes ausgenommen worden, und im zweiten Absatz dieses Paragraphen wird gesagt: „War der Getödtete oder Verletzte unter Mitleistung von Prämien oder anderen Beiträgen durch den Haftpflichtigen bei einer Versicherungs­ anstalt, Knappschafts-, Unterstützung-, Kranken- oder ähnlichen Kasse versichert, so ist die Leistung der letzteren auf die Gesammtentschädigung einzurechnen, jedoch nur dann,

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wenn die Mitleistung desselben nicht unter einem Drittel der Gesammtleistung beträgt." Mein Herr Vorredner hat bereits nachgewiesen, in welchem Widerspruch sich dieser Pa­ ragraph mit dem ganzen Gesetz befindet, und ich, m. H., möchte sagen, daß die An­ nahme dieses Paragraphen das ganze Gesetz überhaupt illusorisch macht, daß Sie weit offener, weit ehrlicher verfahren würden, wenn Sie statt diesen Paragraphen anzuneh­ men, einfach erklärt hätten, wir brauchen überhaupt kein Haftgesetz. Denn dieser Pa­ ragraph giebt dem ganzen Gesetz keinen anderen Sinn, als dies Gesetz ist überflüssig. Präsident: Ich bitte den Herrn Redner, seine Ausdrücke zu mäßigen. Er wirft der Majorität Mangel an Ehrlichkeit vor, wenn er sich der Aufforderung bedient, „offener und ehrlicher" zu sprechen! Abg. Bebel: Ich habe allerdings den Ausdruck in diesem beleidigenden Sinne nicht gebrauchen wollen und nehme ihn insoweit zurück. — Es wird doch Niemandem einfallen wollen zu behaupten, daß ein Unternehmer — und da es sich hier wesentlich um große Unternehmungen handelt, also auch bei der Beitragspflicht der Unternehmer um große Summen handelt — den Beitrag, den er zu einer solchen Kasse zahlt, etwa aus seiner Tasche zahle, das heißt von seinem Unternehmergewinn bezahle. Es fällt ihm gar nicht ein. Eine derartige Ausgabe wird unter die Geschäftsspesen gerechnet, resp, vom Arbeitslöhne abgerechnet — es wird dem Betreffenden ein so viel niedrigerer Lohnsatz gezahlt, als der Unternehmer auf andere Weise gezwungen ist für Unterstützung an die Arbeiterkassen zu geben. Ob also der betreffende Unternehmer ein Drittel bezahlt oder soviel wie der Arbeiter, das bleibt sich vollständig gleich — in der Sache ändert das absolut nichts. Der Unternehmer zahlt nichts aus seiner Tasche, er läßt es wieder durch die Arbeiter verdienen, und so kommt die Sache schließlich darauf hinaus, daß er nur giebt, was die Arbeiter erworben haben, so daß er faktisch nichts zu tragen hat. Die weitere Folge wird die sein, daß wenn das Gesetz Gesetzeskraft erlangt, die Unternehmer sich beeilen werden, auf den Wink des § 4 hin, Unterstützungskassen, wo sie noch nicht sind, ins Leben zu rufen, und wo sie bereits bestehen, die Beitragssätze zu erhöhen. Wie gesagt, für den Unternehmer kommt dadurch kein Verlust ins Spiel, er hat, wenn er auch höhere Beiträge formell bezahlt, materiell keine Schmälerung des Gewinnes zu erleiden. Die Sache ist die, daß er nach dem Gesetze formell verpflich­ tet ist, beizutragen, aber faktisch von allen Unterstützungen — und mag in dem Falle seine Verschuldung noch so sehr nachgewiesen sein — vollständig freigesprochen wird. — M. H., allein schon dieser Paragraph würde, wenn mich überhaupt nicht schon die Un­ vollkommenheiten des Gesetzes, wie es schon aus den Negierungskreisen hervorgegangen ist, bestimmten, dagegen zu stimmen, mich veranlassen, dem Gesetze nicht meine Zustimmung zu geben. Aber es kommen auch noch andere Umstände hinzu, um das Gesetz als ein mangelhaftes erscheinen zu lassen. Sie haben aus der Zuschrift, die ich Ihnen von Seiten der Zwickauer Bergwerks-Arbeiter vorgelesen habe, vernommen, wie die Be­ hörden oft nicht in der Lage sind, genügend den Fall aufzuklären, weil ihnen alle und jede technischen Vorkenntnisse abgingen. Das ist gewiß häufig der Fall. Aber ich mache noch auf andere Uebelstände aufmerksam, die vorhanden sind, und die unter den Arbeiterkreisen wenigstens thatsächlich als vorhanden behauptet werden. Namentlich in großen Jndustriebezickn und in kleineren Industriestädten läßt es sich nicht ver­ meiden, daß die Gerichtsbehörden auf dem intimsten Fuße mit den Bergwerks-Behörden resp, der Unternehmerklasse stehen, daß das soziale Verhältniß ein so kordiales zwischen den beiden Klassen ist, daß die Arbeiter allgemein behaupten, es übe auch auf die Rechtsprechung Einfluß, und daß sie der Meinung sind, es müssen andere Formen für die Rechtsprechung eingeführt werden, wenn sie sicher sein sollen, vollständig unparteiische Rechtsprechung zu erlangen. Noch mehr, es würde nicht schwer sein, wenn die nöthigen Untersuchungen angestellt würden, nachzuweisen, daß z. B. in Kohlen - Bergrevieren gar nicht wenige Beamte in der Form von Aktionären an dem Unternehmen betheiligt sind, und daß sie mithin in die Lage kommen können, über ihre eigenen Interessen zu ent­ scheiden. Es sind Menschen, und da ist es ihnen nicht allzusehr zu verargen, wenn sie in diesen Fällen die Sache mehr zu ihren Gunsten auslegen, als dies in anderen Fällen

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geschehen würde. Es kommt noch hinzu, daß die Bergwerks-Besitzer oder Unternehmer in Folge höherer Bildung und in Folge höherer Kenntniß der Gesetze und Verhältnisse besser in der Lage sind, sich vor Gericht wirksam zu vertheidigen, als es einem ein­ fachen Arbeiter möglich ist. Und da der Arbeiter mittellos ist, ist er selbstverständlich, auch wenn er zum Rechtsanwalt geht, in den meisten Fällen nicht besonders freundlich angesehen, wenn er nicht nachweisen kann, daß er, wenn der Prozeß schlimm ausfällt, im Stande ist, die Kosten, die meistens sehr hoch sind, decken zu können. Deshalb, m. H., wäre es meines Erachtens unbedingt nothwendig, daß bei Beurtheilung aller derartiger Fälle darauf gesehen würde, daß in der Form von Geschworenen oder Schöffen aus den betheiligten Kreisen Sachverständige zugezogen würden. Dieses müßte in der Art geschehen, daß die Geschworenen oder Schöffen sich nicht aus den Kreisen rekrutiren, wie es bei den jetzigen Gesetzen der Fall ist, aus den Kreisen der höher Besitzenden, der Unternehmer selbst, sondern zu gleichen Theilen aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzt werden, damit ein wirklich unparteiisches Gerichtsverfahren ermöglicht wird. Das, m. H., sind die Bedenken, die ich gegen das Gesetz habe, und ich bin deshalb außer Stande für die Vorlage, wie sie sich in zweiter Lesung gestaltet hat und in dritter sicher gestalten wird, stimmen zu können. Abg. Dr. Schwarze: M. H., ich kann Ihnen versichern, daß sofort, nachdem der Lugauer Unglücksfall passirt war, die energischste Untersuchung angestrengt worden ist, und daß derjenige Staatsanwalt, welcher, umgeben von Technikern, Polizeibeamten und den übrigen Organen, mit der ersten Erörterung beauftragt worden ist, in der allerentschiedensten und strengsten Weise vorgegangen ist, daß eine Untersuchung statt­ gefunden hat, und daß die Untersuchung eingestellt ist, weil sich die Schuld der Berg­ verwaltung nicht konstatiren ließ. Die Generaldebatte wird geschlossen. In der Spezialdebatte erneuert Abg. Reichensperger (Olpe) seinen Zusatz zu § 1: „Als höhere Gewalt im Sinne dieses Gesetzes ist es nicht zu betrachten, wenn die Beschädigung eines Menschen durch Angestellte oder Arbeiter des Betriebs-Unternehmers in Ausführung ihrer Dienstverrichtungen verursacht worden ist" und Abg. Ulrich sein in zweiter Lesung gestelltes Amendement. Es beantragt Abg. M. B arth, den Eingang des 8 2 zu fassen wie folgt: „Wer ein Bergwerk, einen Steinbruch, eine Gräberei (Grube) oder eine Fabrik betreibt, in welcher durch Dampf, Wasser oder Wind bewegte Triebwerke angewendet oder explodirende Stoffe hergestellt, benutzt oder verarbeitet werden, haftet rc." Abg. Lasker zu § 2: „Wer ein Bergwerk, einen Steinbruch, eine Gräberei (Grube) oder eine Fabrik oder andere gewerbliche Anlage betreibt, desgleichen wer ein durch Dampf, Wasser oder Wind bewegtes Triebwerk anwendet, haftet rc." Abg. Sombart zu § 2: „oder ein Gewerbe unter Anwendung von Elementarkräften oder Göpelwerken rc." Abg. Grumbrecht dem §2 prinzipaliter folgenden Zusatz zu geben: „Der Be­ triebs-Unternehmer haftet ferner, wenn er nicht beweist, daß diejenigen Vorkehrungen getroffen waren, welche bei der Einrichtung und dem Betriebe zur Abwendung eines solchen Unfalls erforderlich sind; eventualiter aber folgenden Zusatz: Kann die Tödtung oder Verletzung durch einen Mangel der Anlage oder der Einrichtung des Be­ triebes veranlaßt sein, so haftet der Unternehmer, sofern er nicht beweist, daß diejenigen Vorkehrungen getroffen waren, welche zur Abwendung eines solchen Unfalls aus irgend einem Grunde getroffen werden mußten." Abg. Reichensperger (Olpe) vertheidigt kurz sein Amendement, welches das Produkt einer eingehenden Berathung zwischen ihm, Schwarze, v. Bernuth und Windthorst sei. Es handle sich nicht um Casuistik, sondern um eine Deklaration des § 1 der Regierungsvorlage, die nothwendig aus dem Wortlaut derselben folge. Abg. Ulrich: M. H., ich habe bei der dritten Lesung dieses Gesetzes das Amendement erneuert, was ich bereits bei der zweiten Lesung gestellt habe, nämlich: die im § 1 des Gesetzes für die Eisenbahnen ausgesprochene Haftpflicht auch auf die Bergwerke auszudehnen. Ich habe das gethan, weil ich immer mehr von der Ueber-

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zeugung durchdrungen werde, daß das Gesetz, wenn es in der jetzigen Fassung zur Geltung kommt, für den Bergbau ein todter Buchstabe bleibt. M. H., es liegt die Ausdehnung der Haftpflicht des § 1 auf die Bergwerke keineswegs ausschließlich im Interesse der Arbeiter. Es liegt nach meiner festen Ueberzeugung diese Ausdehnung gleichfalls im Interesse der Besitzer, und zwar aus dem einfachen Grunde, den der Herr Abg. Dr. Braun bei der zweiten Lesung so treffend vorgeführt hat, daß durch eine derartige Feststellung keineswegs ausschließlich eine strengere Strafe oder eine größere Ersatzpflicht herbeigeführt wird, sondern daß, wie bei allen solchen Maßregeln, die Unfälle überhaupt fern gehalten werden, und daß dadurch selbstverständlich den Besitzern die sehr großen Nachtheile erspart werden, welche außer der Ersatzpflicht bekanntlich in sehr hohem Maße mit allen solchen Unfällen verbunden sind, die mitunter, wie dies bei mehreren Bergwerks-Unternehmungen der Fall gewesen ist, mindestens ebenso hoch sind, wie möglicherweise sich die größte Haftpflicht herausstellen könnte. Außerdem wird, wenn in dieser Weise die Haftpflicht ausgedehnt wird, dies unzweifelhaft vom aus­ gezeichnetesten Erfolge auf die Arbeiterfrage sein. Es liegt, wie Sie sich das selbst sagen können, in einer solchen Sicherheit der Arbeiter eine Art Lebensversicherung, und die Arbeiter wissen sehr wohl, wie hoch sie einen derartigen Vortheil anzuschlagen haben, und werden natürlicherweise bei Unternehmungen, wo ihnen eine Art von Lebens­ versicherung gewährt wird, viel geneigter sein in Arbeit zu treten, und es werden sich überhaupt demnach natürlich auch die Lohnverhältnisse vortheilhafter reguliren. — Ich will nun mich auf einige Hauptsätze beschränken, welche bei den bisherigen Verhandlungen hervorgetreten sind. Und da, m. H., muß ich ganz besonders betonen, daß von allen Seiten des Hauses, von hervorragenden Rednern, auf das Bestimmteste die Behauptung aufgestellt wurde, der auch nicht von dem Bundestische aus widersprochen, wozu auch nicht einmal der Versuch gemacht worden ist, daß der Beweis des Verschuldens in den meisten Fällen unmöglich ist. M. H., ich muß bezüglich des Beweises des Verschuldens bei Bergwerksunfällen einen Appell an Ihre Theilnahme richten. Wenn ich Ihnen gesagt habe, daß es in den meisten Fällen nicht möglich gewesen ist, bei der strengsten amtlichen Untersuchung, den Beweis des Verschuldens zu liefern, so bitte ich Sie, sich sämmtlich zu vergegenwärtigen, wie dann die Hinterbliebenen — in den meisten Fällen handelt es sich um solche, da ungefähr % der Unglücksfälle beim Bergbau den Tod herbeiführen — wie diese armen Hinterbliebenen dann im Stande sein sollen, den Beweis zu liefern? Vergegenwärtigen Sie sich: man bringt einer auf Nichts vor­ bereiteten Bergmanns-Wittwe mit einer Anzahl kleiner Kinder den zerschmetterten Leich­ nam ihres Mannes ins Haus. Ich glaube, Sie werden sich nicht wundern, m. H., daß eine solche Frau in der ersten Zeit unzurechnungsfähig ist; aber selbst wenn sie auch sehr starken Geistes ist, werden Sie mir zugeben, daß es für eine solche Frau unendlich schwierig sein wird, irgend wie, sei es in Bezug auf die Feststellung des Thatbestandes, sei es in Bezug aus das Verfahren vor Gericht oder in Bezug auf alle anderen dabei in Betracht kommenden Gesichtspunkte, sich klar zu sein, welchen Weg sie einzuschlagen hat, um zu einer Entschädigung zu kommen. Im allergünstigsten Fall wird eine lange Zeit darüber vergehen. Und was geschieht unterdessen? Ich bin weit entfernt, das zu unterschreiben, was der Herr Abg. Bebel gesagt hat, aber das muß ich zugeken, daß die Bewachung der Unglücksstätte in den Händen desjenigen sich be­ findet, der, wenn ein Verschulden überhaupt nachgewiesen wird, zum Handkusse kommt, und in dessen Händen fast ganz allein. M. H., wir müßten es gerade mit Engeln zu thun haben und nicht mit Menschen, wenn man annehmen wollte, daß trotzdem diese Leute Alles aufs Allersorgfältigste behandeln wollten, um der späteren Untersuchung, die in Folge der Entschädigungsklage angestellt wird, die Wege zu ebnen und die Fest­ stellung des Verschuldens möglichst zu erleichtern. Nun aber vergegenwärtigen Sie sich einmal, daß wir es zuweilen auch mit nicht sehr gewissenhaften Leuten zu thun haben, daß die Nachtseiten in der menschlichen Natur leider Gottes auch unter dem BergOffizianten-Personal nicht ganz fehlen, und da frage ich Sie, ob Sie da auch glauben, daß es den Hinterbliebenen leicht werden wird, ihre Entschädigungsansprüche geltend zu

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Gesetzentwürfe.

machen. — Namentlich aus den Erwägungen, die wir vom Tische des Bundesraths ge­ hört haben, geht dies hervor, daß man trotz alledem, was man gegen das Gesetz ein­ gewendet hat, an der Ansicht festhält, es werde mit einer verstärkten Haftpflicht den Bergwerksbesitzern zu nahe getreten, es sei nicht der Billigkeit entsprechend, so scharf gegen sie vorzugehen. M. H., wer, wie ich, mitten in der Schwindelperiode in West­ phalen gestanden hat, der weiß genau, daß es gar kein Wunder ist, wenn im Durch­ schnitt die Bergwerke in Westphalen nur einen sehr geringen Zins abwerfen; aber ich bin der Ansicht, daß es durchaus nicht maßgebend sein kann bei der Beantwortung solcher Fragen, ob Unternehmungen, die mit dem größten Leichtsinn und mit den ver­ werflichsten Mitteln ins Leben gerufen worden sind, zu Schaden kommen oder nicht. Ich mache dem Herrn Bundeskommissar bemerklich, daß der Bergbau, der auf solider Grundlage beruht, ganz enormen Gewinn abwirft, daß er das allereinträglichste Geschäft im Lande ist. Die Herren, die dem preußischen Abgeordnetenhause angehören, kennen den Ueberschuß, den der Bergwerks-Etat bringt, und es sind wahrscheinlich viele Herren hier, die sich in ausgezeichneten Verhältnissen befinden, und in deren Einnahmebudget die Bergwerks-Einnahme ganz besonders stark vertreten ist; — ich glaube, ich könnte mich hierbei auf verschiedene der geehrten Herren Kollegen berufen. Ich muß dem Herrn Bundeskommissar erwidern, daß meine Berechnung sich genau anschließt an das, was der Geheimrath Engel vorgelegt hat, wonach die ganze Entschädigung sich auf etwa 7» Pfennig pro Centner Steinkohlen belaufen würde, was fast genau mit meiner Be­ rechnung von V2 Prozent des Verkaufswerthes übereinstimmt, so daß diese Berechnung richtiger ist als die von jener Seite angegebene und insofern glaube ich also, daß auf letztere gar kein Gewicht gelegt werden kann. — Es ist uns gesagt, es sei die Aus­ dehnung der Haft nach dieser Seite beispiellos in Europa! Ja, m. H., daß unsere Eisenbahn-Haftpflicht schon vor 20 Jahren beispiellos in Europa ge­ wesen ist, darüber ist der Herr Bundeskommissar mit der leichten Bemerkung von historischem Rechte hinweggegangen. Sind wir denn überhaupt dazu da, daß wir die ausländischen Gesetzgebungen nachbeten? Warum sollen wir nicht wieder vorbeten? (S. r.!) Es ist die fremde Gesetzgebung überhaupt meiner Ansicht nach kein zutreffendes Argument, und ich berufe mich darauf, daß die Rechtsanschauungen in unserem Volke und namentlich in Bergwerks-Distrikten ganz entschieden der Fassung des Gesetzes aufs Flagranteste entgegenstehen. Es ist ferner darauf hingewiesen worden, daß man wegen der Knappschaftsvereine die Nothwendigkeit der verstärkten Haftpflicht nicht an­ erkennen könnte; ich erkläre, daß die Knappschaftsvereine durchaus nicht hierher gehören, sie sind ein Institut, was mit der Entschädigungspflicht nicht das Allermindeste zu thun hat, sie sind weder dazu da, noch im Stande. — M. H., die Knappschaftsvereine, die unbestreitbar ein ausgezeichnetes Institut sind (und darin stimme ich dem Herrn Bundes­ kommissar bei, daß sie bei uns einzig in ihrer Art ausgebildet sind und uns zur Ehre gereichen), basiren darauf, daß im gewöhnlichen Lauf der Dinge die Leute arbeits­ unfähig werden, nachdem sie eine Reihe von Jahren ihre Schuldigkeit gethan, um dann in späteren Jahren entweder mit Jnvalidenlohn bedacht zu werden oder daß, wenn sie sterben, ihre Hinterbliebenen unterstützt werden. Nun, m. H., 'dabei sind zwei Fälle zu unterscheiden: entweder hat der Arbeiter eine große Familie, dann läßt sich annehmen, daß er in dem Alter, wo er arbeitsunfähig wird, schon Kinder hat, die verdienen und ihn respektive seine Wittwe unterstützen; oder er hat keine starke Familie gehabt, so hat er sich etwas ersparen können. In diesen beiden Fällen sind die Knappschafts­ Unterstützungen, die im Durchschnitt im günstigsten Falle etwa vier oder fünf Thaler monatlich für einen Arbeiter der mittleren Klasse betragen und bei einer Wittwe viel­ leicht die Hälfte, außerdem für Kinder unter vierzehn Jahren noch 15—20 Silbergroschen Erziehungsgeld monatlich, eine ausgezeichnete Beihülfe, um demnächst einen invaliden Arbeiter zu unterhalten. Aber Sie werden mir zugeben, daß für den Fall, wo ein Arbeiter in der Rüstigkeit seiner Jahre, ehe er etwas ersparen gekonnt hat, mit einem Haufen kleiner Kinder im Hause, verunglückt, doch die Wittwen-Unterstützung von zwei Thalern monatlich zum Leben zu wenig und zum Sterben zu viel ist. (S. r.!)

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Bundeskommissar, Geheimer Ober-Bergrath Dr. Achenbach: M. H., es ist mir unangenehm, von meiner eigenen Person zu reden, indessen, da in den Ausführungen des Herrn Vorredners verschiedene Andeutungen dieser Art vorgekommen sind, so glaube ich die Nachsicht des Hauses in Anspruch nehmen zu dürfen, wenn ich im Eingang wenigstens auch einige persönliche Bemerkungen meinerseits mache. Es ist ausgesprochen worden, daß ein flagrantes Bedürfniß innerhalb der bergmännischen Bevölkerung auf Aenderung des gegenwärtigen Zustandes vorhanden sei. Diesem flagranten Bedürfniß ist, dessen sind wir Alle Zeuge, ein lauter Ausdruck hier mit dem Wunsche gegeben worden, daß ich selbst mich von dem ersteren und von der Stellung der bergmännischen Bevölkerung an Ort und Stelle überzeugen möge. M. H., wenn ich bei diesem Aus­ spruche meine Person demjenigen, der ihn hier gethan hat, gegeüberstelle, so darf ich darauf verweisen, daß ich einer der ersten gewesen bin, welcher die gegenwärtige in Deutschland über die vorliegende Materie herrschende Gesetzgebung untersucht und das Ungenügende mit der Aufforderung nachgewiesen habe, eine Besserung eintreten zu lassen; dagegen ist mir niemals zur Kenntniß gekommen, daß in ähnlicher Weise der HerrVorredner die flagranten Zustände, deren Zeuge er nach seiner Angabe gewesen ist, zur Kenntniß, sei es auch nur seiner vorgesetzten Behörde, gebracht hätte. (H.! h.! r.) Zch darf wohl, ohne mich selbst zu überheben, sogar darauf Hinweisen, daß meine Aus­ führungen auf dem vorliegenden Gebiete noch der Petition des Herrn Abg. Biedermann und den Beschlüssen des Reichstags vorausgegangen sind. (Redner weist darauf hin, daß in der preußischen Gesetzgebung und derjenigen Berggesetzgebung, welche sich der preußischen angeschlossen hat, eine Vorschrift besteht, wonach die Bergbehörden ermächtigt sind, eine doppelte Art von Polizei-Verordnungen unter Strafandrohung zu erlassen, einmal allgemeine für den Bezirk und sodann specielle für jedes Bergwerk, auf welchem eine besondere Gefahr droht; daß zweitens das Berggesetz vorschreibe, daß das Personal, welches den Betrieb beaufsichtigt, bis zu den untersten Stufen herunter eine bestimmte, der Bergbehörde nachzuweisende Qualifikation besitzen muß; daß drittens im Berggesetze vorgeschrieben sei, daß kein Bergwerk betrieben werden darf ohne einen der Bergbehörde vorzulegenden Betriebsplan, und viertens speciell bezüglich der Unfälle vorgeschrieben sei, daß, wenn ein Unglücksfall, bei welchem ein Mensch getödtet oder schwer verwundet wird, vorkommt, sofort Anzeige erfolgen soll, und nach den bestehenden reglementarischen Vorschriften der betreffende Vereinsbeamte sich sofort an Ort und Stelle begeben und die betreffenden Verhandlungen aufnehmen muß. Nun sei gesagt worden, es sei unbe­ stritten, daß wenn dieses Gesetz zur Annahme gelange, der Beschädigte oder seine Nach­ kommen in keiner Weise oder doch in den bei weitem wenigsten Fällen den Beweis über das Verschulden führen können; s. E. aber würde unter Berücksichtigung der weiteren Bestimmung, welche der Entwurf enthält, es durchaus nicht so schwierig sein, den wirk­ lichen Schuldbeweis zu führen.) — Zum Schluß meiner Bemerkungen also darf ich nur wiederholen: m. H., beobachten Sie bei der Ihnen vorliegenden Frage Maß, gehen Sie mit Besonnenheit vorwärts, beruhigen Sie durch die Besonnenheit Ihres Vorschreitens nach allen Seiten hin die betheiligten Kreise; und 'sollte es sich in Zukunft erweisen, daß dasjenige, was heute hergestellt ist, nicht genügend erscheint und nicht den wahren Bedürfnissen entspricht, so werden Sie alsdann, wenn man sich in die veränderten Zu­ stände gefunden und an die inzwischen eingeführte Gesetzgebung gewöhnt hat, in der Lage sein, auf dem gegenwärtig eingeschlagenen Wege weiter vorzugehen. Ich glaube, es ist dies ein richtigerer Weg, als wenn Sie das, was heute Ja heißt, am andern Tage in Nein umwandeln. Ich wiederhole, die Industrie ist sehr empfindlich; ich bitte, schonen Sie diese Empfindlichkeit im Interesse Aller. (Br.!) Abg. Dr. Hammacher: Auch ich glaube, m. H-, daß wir bei der Berathung der vorliegenden Gesetzesvorlage nur dann das Nichtige treffen, wenn wir nach allen Richtungen hin mit Maß vorgehen und uns vor solchen Uebertreibungen hüten, wie sie der verehrte Kollege Herr Ulrich vorgebracht hat. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Geheimer Ober-Justizrath Dr. Falk bittet um Ablehnung des Neichenspergerschen Amendements.

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Gesetzentwürfe.

Abg. Dr. Baehr: M. H.! Wenn hier gesagt worden ist, „der Begriff der höheren Gewalt stehe seit Jahrtausenden in Doktrin und Rechtsprechung fest", so muß ich das völlig bestreiten; der Begriff „höhere Gewalt" ist zur Zeit im höchsten Maße streitig, und namentlich ist der Streit lebhaft entbrannt, seitdem dieses unglückliche Wort sich in den Artikel 395 des Handels - Gesetzbuches eingeschlichen hat, wo denn die Fälle seiner Anwendung viel häufiger vorkommen. Der Herr Bundeskommissar hat auch diesen Streit in der Wissenschaft vollkommen anerkannt. Er sagte nur, so etwas fürchte er nicht; das wäre nur ein Erisapfel mehr in die Jurisprudenz geworfen, und da könnte einer mehr oder weniger nicht schaden, — so ungefähr habe ich seine Worte aufgefaßt. Mit solchen Gründen läßt sich freilich jede Unklarheit der Gesetzgebung ver­ theidigen. Auch möchte ich die Herren doch darauf aufmerksam machen: uns Juristen schaden ja diese Erisäpsel nicht; aber Sie, m. H., müssen in diese sauren Aepfel hinein­ beißen, wenn Sie Ihre Prozesse führen. (H.) Die freie Kommission war nun darauf bedacht, eine sicherere Grundlage für das Recht zu schaffen. Wir waren zunächst in überwiegender Mehrzahl der Ansicht, daß die Eisenbahn auch in Fällen der gedachten Art befreit sein müsse. Wir waren der Ansicht, daß das Maß der Sorgfalt auch bei den Eisenbahnen nur innerhalb menschlicher Grenzen sich bewegen könne, und wenn die Bahnverwaltung alle Mittel aufgewendet hat, die man ihr nach gewöhnlichen Ver­ hältnissen zumuthen darf, wenn sie namentlich alle Vorschriften des BahnpolizeiReglements erfüllt hat, daß ihr dann die äußeren Unfälle nicht zur Last gelegt werden können. Um nun diesem Gedanken einen Ausdruck zu geben, wollten wir das Wort „höhere Gewalt" umändern in den Ausdruck, den das preußische Gesetz vom Jahre 1838 enthält, nämlich „unabwendbarer äußerer Zufall". M. H., wenn ich in der dritten Berathung nicht auf diesen Antrag zurückkomme, es überhaupt unterlasse, Anträge zu stellen, so beruht dies auf folgender Erwägung. Es ist richtig, daß auch der Ausdruck „unabwendbarer äußerer Zufall" dasjenige, um was es sich hier handelt, nicht völlig präzis bezeichnet. Dazu kommt, daß uns dieser Ausdruck gewissermaßen unter den Händen weggenommen worden ist dadurch, daß ein Erkenntniß des Ober-Tribunals vorliegt, welches besagt, „unabwendbarer äußerer Zufall" ist „höhere Gewalt", (H.) wogegen wir nichts mehr machen können. Wollten wir einen andern Ausdruck wählen, so wäre ein solcher nicht ganz einfach und leicht zu finden. Der richtige Ausdruck würde vielleicht sein: „ein äußeres Ereigniß, das bei voller Sorgfalt des Betriebes nicht abzuwenden stand". Gleichwohl habe ich auch hierauf einen Antrag zu stellen unterlassen, weil meine juristischen Freunde in diesem Hause, mit denen ich mich darüber besprach, überwiegend der Ansicht waren, man könnte trotz aller Zweifel die Sache wohl den Gerichten überlassen. Ich will hiernach nur erklären, daß ich es als ein ent­ schiedenes legislatives Bedürfniß erachte, daß auch in Fällen der gedachten Art die Eisenbahn von Haftung befreit bleibe, und will den Wunsch und die Hoffnung aus­ sprechen,-daß die Gerichte im Wege der Handhabung des Gesetzes diesem Bedürfnisse gerecht werden. Königlich Preußischer Bundesbevollmächtigter Justizminister Dr. Leonhardt: Die Schwierigkeiten, welche der Begriff der höheren Gewalt mit sich führt, werden der Rechtspflege und Jurisprudenz zu überlassen sein. M. H., Sie werden nothwendig, wenn Sie dem Gesetzentwürfe beitreten, außerordentlich vieles der Jurisprudenz und der Rechtspflege überlassen müssen — das liegt einfach in dem Umstande, daß der Ent­ wurf sich von den allgemeinen juristischen Prinzipien, von dem strictum jus entfernt. Es sind Rücksichten der utilitas, die bestimmend einwirken. Wenn ein solches neues Recht sich bildet, so wird die Anwendung immer schwer sein, und ein größerer Kreis des Ermessens der Rechtspflege überwiesen bleiben. Ich möchte Ihnen deshalb drin­ gend anheimgeben, vermehren Sie die Schwierigkeiten nicht, die das Gesetz schon in sich trägt und nothwendig in sich tragen muß. Wenn Sie die Verhältniffe, welche mit diesem Gesetze Zusammenhängen, in Betracht ziehen, so ist es durchaus natürlich, daß nach den verschiedensten Seiten Bedenken und Schwierigkeiten erwachsen. Sie fühlen das Bedürfniß, in andere allgemeine fremde Materien einzugreifen, in die Lehre von

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der Versicherung, in die Lehre von der Verjährung, in das Prozeßrecht, in die Lehre von der solidarischen Obligation. Das ist ganz erklärlich, weil alle diese Lehren Schwierig­ keiten in sich tragen, aber Sie können sehr leicht großen Schaden anrichten, um mich so auszudrücken, in diesen allgemeinen Materien; ich bitte Sie insonderheit, lehnen Sie den Antrag des Abg. Reichensperger ab. Der Antrag Schulze wird gegen die Stimmen der Fortschrittspartei abgelehnt, desgleichen das Amendement Ulrich, Reichensperger u. s. w. und schließlich wird § 1 der Vorlage unverändert und fast einstimmig angenommen. Die Amendements zu § 2 werden der Reihe nach motivirt: Abg. Sombart motivirt das seinige durch die besondere Rücksicht Ms die Landwirthschast; M. Barth will nicht auf halbem Wege stehen bleiben, sondern den Kreis der Haftpflichtigen so weit ausdehnen, als es rationell möglich ist; Lasker hält die Einwendungen, die man gegen die Aufnahme der Triebwerke in 8 2 gemacht hat, durch ihre nähere Beschreibung, die sein Antrag enthält, für beseitigt und bittet den Präsidenten, über die Worte „oder andere gewerbliche Anlagen" besonders abstimmen zu lassen. Grumbrecht führt aus, daß § 2 ohne seinen Zusatz so gut wie gar keinen Erfolg haben würde, und Schulze schließt sich dem an; v. Patow empfiehlt die Amendements M. Barth und Lasker. Bundesbevollmächtigter Falk bittet, alle Amendements abzulehnen, obwohl das von M. Barth der Vorlage am nächsten steht. Bei der Abstimmung werden alle Amendements abgelehnt und § 2 in der Fassung der Vorlage unverändert angenommen. Auch § 3 wird so genehmigt, wie er in der zweiten Lesung beschlossen wurde, mit einer kleinen redactionellen Aenderung des Abg. Windthorst (Berlin).

Fortsetzung am 9. Mai 1871.

Zu § 4 liegen folgende Amendements vor: 1) vom Abg. Dr. Windthorst (Berlin) und der Fortschrittspartei, den ganzen Paragraphen event, den Absatz 1 zu streichen. 2) Vom Abg. Dr. Bähr (Kassel), Absatz 1 zu streichen und Absatz 2 so zu fassen: „War der Getödtete oder Verletzte unter Mitleistung von Prämien oder anderen Beiträgen durch den Betriebsunternehmer bei einer Versicherungsanstalt, Knappschasts-, Unterstützungs-, Kranken- oder ähnlichen Kasse gegen den Unfall versichert, so ist die Leistung der Letzteren an den Ersatzberechtigten auf die Entschädigung einzurechnen, wenn die Mitleistung des Betriebsunternehmers nicht unter einem Drittel der Gesammtleistung beträgt." 3) Vom Abg. Hausmann, dem § 4 zuzufügen: „Beziehen der Verletzte oder die Erben des Getödteten aus Veranlassung des Unfalls irgend eine Pension, so ist diese von der zu leistenden Gesammtentschädigung abzurechnen." 4) Vom Abg. Dr. Web sky, den Absatz 2 so zu fassen: „War der Getödtete oder Verletzte unter Mitleistung von Prämien oder anderen Beiträgen durch den Haft­ pflichtigen bei einer Versicherungsanstalt, Knappschafts-, Unterstützungs-, Kranken- oder ähnlichen Kasse versichert, und war in den Statuten der Kasse ausdrücklich ausgesprochen, daß die Unfälle, für welche dieses Gesetz den Unternehmer haftpflichtig macht, in der Versicherung mit inbegriffen seien, so ist die Leistung der Letzteren auf die GesammtEntschädigung einzurechnen." 3m Lause der Diskussion wird Antrag Hausmann zurückgezogen; bei der Ab­ stimmung Antrag Websky abgelehnt, dagegen Antrag Dr. Bähr angenommen. § 5 wird ohne Debatte, § 6 mit dem Abänderungs-Antrage des Dr. Marquard-Barth (im Absatz 2 statt „der gerichtlichen Geständnisse" zu setzen „gericht­ licher Geständnisse"); ferner § 7 gegen den Antrag Windthorst (Berlin) (den Absatz 2 zu streichen) in der Fassung der Zusammenstellung angenommen. § 8 wird nach längerer Debatte und Ablehnung von Amendements unverändert angenommen.

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Gesetzentwürfe.

§9,1. und 2. Ainea wird angenommen, 3. Alinea nach Antrag Dr. Bähr abgelehnt. Zwischen § 9 und 10 ist ein Antrag von Dr. Römer zur Ausschließung der Concursklagen oder Theilung eingeschoben. Der Antragsteller motivirt ihn. Der Bundesbevollmächtigte Dr. Falk erklärt ihn für entbehrlich und bittet deshalb das Gesetz nicht damit zu belasten. Er wird abgelehnt. § 10 wird in der vom Abg. Schwarze beantragten Fassung: „Die.Bestimmungen des Gesetzes, betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für Handelssachen vom 12. Juni 1869, sowie die Ergänzungen desselben werden auf diejenigen bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten ausgedehnt, in welchen durch die Klage' oder Widerklage ein Anspruch auf Grund des gegenwärtigen Gesetzes oder der in § 9 erwähnten landesgesetzlichen Bestimmungen geltend gemacht wird," angenommen, nachdem Abg. Reichensperger (Crefeld) sich lebhaft gegen die politische Tendenz dieses Paragraphen ausgesprochen und der Abg. Lasker sich gerade ebenso für diese ausgesprochen hat. Bei der Abstimmung über das Gesetz in seiner Gesammtheit am 12. Mai 1871 wird dasselbe mit großer Majorität angenommen. Von den vier mit dem Gesetzentwürfe in Zusammenhang stehenden Resolutionen wird die erste Laskersche dahin gehend: „Der Reichstag wolle beschließen: Den Reichs­ kanzler aufzufordern darauf Bedacht zu nehmen, daß die Deutsche Civil-Prozeßordnung für Streitigkeiten, welche nach den Prozeßgrundsatzen dieses Gesetzes zu entscheiden sind, die Mitwirkung von Laien (Geschworenen, Schöffen) anordne, namentlich so weit die Feststellung der Entschädigungspflicht, die Höhe und die Art des Schadenersatzes in Betracht kommen" zurückgezogen. — Die zweite Laskersche dahin gehend: „Der Reichstag wolle ferner beschließen: Den Reichskanzler aufzufordern, jedenfalls in der nächsten Session, unter Mittheilung des bis dahin zu beschaffenden statistischen Materials, den Entwurf eines Gesetzes vorzulegen, welches Normativbedingungen für die Errichtung von Kranken-, Hilfs- und Sterbekassen für Gesellen, Gehilfen und Fabrikarbeiter an­ ordnet und die Beitragspflicht der selbstständigen Arbeitsnehmer und der Arbeitsgeber regelt" unter Streichung des letzten Satzes über die Beitragspflicht angenommen; ebenso die des Abg. Dr. Hammacher: „Der Reichstag wolle beschließen: An den Herrn Bundeskanzler die Aufforderung zu richten, Erhebungen zu veranstalten, welche die Grundlagen eines auf gegenseitiger Versicherung der gewerblichen und landwirthschaftlichen Beamten und Arbeiter gegen die wirthschaftlichen Folgen der Körperverletzung und Tödtung in ihrem Berufe beruhenden Gesetzes, — so wie die Bildung von all­ gemeinen Alterversorgungs- und Jnvaliden-Kassen umfassen" — in der von v. Bernuth beantragten Fassung: „daß der Bundeskanzler aufgefordert werde, Erhebungen zu veranstalten, welche die Grundlage für die Gestaltung gegenseitiger Versicherung der gewerblichen und landwirthschaftlichen Beamten und Arbeiter gegen die wirthschaft­ lichen Folgen der Körperverletzung und Tödtung in ihrem Berufe, sowie für die Bil­ dung von allgemeinen Altersversorgungen und Jnvalidenkassen umfaßt." Zn Betreff der Resolution des Abg. Dr. Tellkampf: „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen bei Abfassung der Deutschen Civilprozeßordnung in Erwägung zu nehmen, daß auch bei Entscheidung der dem Deutschen Handelsgesetzbuche zu Grunde liegenden Rechtsstreitigkeiten über den Ersatz des Schadens bei der Personenbeförderung auf Eisen­ bahnen das Gerichtsverfahren nach Analogie der Bestimmungen des § 5 des vorliegenden Gesetzentwurfes geordnet werde" erklärt der Bundesbevollmächtigte Dr. Falk, daß die Kommission, die demnächst mit der Förderung der Civilprozeßord­ nung betraut werden soll, u. A. zwei Entwürfe zur Prüfung erhalten werde: 1) den der sogenannten norddeutschen Prozeßkommission und 2) den im Anschluß daran im preußischen Justizministerium ausgearbeiteten Prozeßentwurf. In beiden Entwürfen ist das, was die Resolution für eine Art von Schadensfällen bezwecke, für alle Arten derselben ganz in der beantragten Weise formulirt. Die Resolution sei damit erledigt und gegenstandslos geworden. — In demselben Sinne äußert sich Abg. Lesse. —- Die Resolution wird fast einstimmig abgelehnt.

Antrag Schulze u. Sen., Gewährung von Diäten betreffend.

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Nr. 7. Die Abgg. Schulze u. Gen. beantragen folgendes

Gesetz, betreffend die Abänderung des Artikels 32 der Nerfaffung des Deutschen Reiches. Wir Wilhelm, rc.

Der Artikel 32 der Verfassung des Deutschen Reiches wird aufgehoben.

An dessen Stelle

tritt der § 2 des gegenwärtigen Gesetzes. § 2. Die Mitglieder des Reichstages erhalten aus der Bundeskasse Reisekosten und Diäten nach

Maßgabe des Gesetzes. Bis zum Erlasse dieses Gesetzes stellt das Bundespräsidium die Höhe derselben fest.

Ein Verzicht auf die Reisekosten und Diäten ist unstatthaft.

Erste Berathung am 19. April 1871.

Abg. Schulze: Der Antrag hat bereits früher den Reichstag des norddeutschen Bundes mehrfach beschäftigt, er ist wiedergekehrt von Sitzung zu Sitzung, er hat eine Geschichte. — Wir haben immer den Gesichtspunkt bei der Vertheidigung dieses An­ trages geltend gemacht, daß dadurch, daß Diäten und Reisekosten nicht gezahlt werden, den Wählern zum Reichstag die Bedeutung des allgemeinen gleichen Stimmrechts, welche die Grundlage dieses Reichstages bildet, nicht blos abgeschwächt, sondern geradezu ver­ kümmert werde. Man beruft auf der einen Seite alle Bürger, man sieht von dem Klaffen-Wahlsystem, von den Standes- und Vermögens-Unterschieden ab, und auf der anderen Seite fügt man durch die Nichtzahlung von Diäten und Reisekosten ein that­ sächliches Hemmniß hinzu, welches die Wählbarkeit in Wahrheit verkümmert. Ich sagte, man verkehrt dadurch in seiner Haupttendenz das ganze gleiche Stimmrecht; denn was ist der Sinn desselben? Es soll Jeder im Stande sein, hinzutreten an die Urne und den Mann seines Vertrauens frei zu bestimmen, der ihn und seine Genossen im Reichs­ tag vertreten soll. Die Wahl eines Mannes seines Vertrauens wird in großen Kreisen nicht möglich, wenn Sie der Annahme eines Mandats Bedingungen hinzufügen, welche es vielen befähigten und sonst geeigneten Männern unmöglich machen, das Mandat anzunehmen. Ich will über diesen Punkt kein Wort weiter verlieren, er spricht ja von selbst; aber eine Haupteinwendung dagegen, die von vielen Seiten gemacht ist, möchte ich hier doch einmal auf ihr wahres Maß zurückführen. Man sagt: „Es ist gut für die Würde einer Volksvertretung, wenn keine Diäten gezahlt werden. Zu den Eigen­ schaften, die ein Abgeordneter haben muß, gehört vor allen Dingen auch die, daß er bereitwillig für die allgemeinen Interessen, die er vertreten will, Opfer bringt, daß ihm die allgemeine Sache so viel werth ist, daß er kein Opfer scheut. Die Opferwilligkeit in pekuniärer Hinsicht ist eine so werthvolle Eigenschaft eines Abgeordneten, daß man durch diese Maßregel sie herbeiführen soll. Es sollen keine Belohnungen für die Ar­ beiten gewährt werden, die Abgeordneten sollen umsonst arbeiten in diesen allgemeinen Landesangelegenheiten." — Ja, m. H., das wollen auch wir Alle, die wir für Diäten und Reisekosten sind; eine Belohnung für die Arbeit zu geben, das fällt uns, we­ nigstens den Antragstellern, ganz gewiß nicht ein. Aber thun Sie denn das, wenn Sie Diäten zahlen? Diese Verschiebung des Begriffs der Diäten hat bei einem großen Theil der Herren, die früher über diese Dinge mitbeschlossen haben, zu solchen Erwä­ gungen und zu solchen Motiven der Ablehnung des Antrags geführt. Ein Opfer müssen wir wahrhaftig Älle bringen, wenn wir hierher gehen, und wir bringen der Opfer genug. Wenn man seine Erwerbsthätigkeit, seine Familie verlassen muß, um Monate lang hier die Landtagsangelegenheiten zu berathen, so sind damit für Alle ReichStags-Repertorium I.

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Gesetzentwürfe.

Opfer verbunden, die sicher gar nicht belohnt werden können, und am wenigsten durch die Diäten. Was sind denn Diäten? Sie sind nichts als eine Vergütung baarer Auslagen, und dahin müssen wir die Frage stellen. Gewiß, die Opferwilligkeit ist nöthig; vor einer Belohnung, einem Gehalte, wie etwa bei den französischen Senatoren, davor behüte uns der Himmel, das wäre ein Verderb für die Landes­ vertretung, das kann ich Ihnen zugeben. Aber außer den von den Landesvertretern ohnehin zu bringenden Opfern uns noch baare Auslagen zuzumuthen, das führt auf der anderen Seite zu einem Uebel, welches Sie wahrhaftig nicht geringer in Anschlag bringen sollten. — Es hat sich bei der allerersten Einbringung des Antrages ein ganz interessantes Stadium der Debatte, wenn ich so sagen darf, herausgestellt. Zch habe den Diätenantrag zuerst gestellt mit meinen Freunden bei der Berathung des Wahl­ gesetzes zum konstituirenden Reichstag im preußischen Abgeordnetenhause im Jahre 1866 im September. Da traten nur drei Gegner auf: die Herren Graf Schwerin, der ver­ storbene Twesten und der Herr Bundeskanzler als preußischer Premier-Minister erklärten sich damals dagegen. Die beiden Herren Graf Schwerin und Twesten haben gleich­ mäßig und wörtlich gesagt: wir seien noch nicht so weit, daß eine Volksvertretung in Deutschland auf die Länge der Diäten entbehren könne; man solle aber aus diesem Wahlgesetz die Sache weglassen, weil es sich damals ja nur um ein Parlamentum ad hoc, nur um eine einmal zusammentretende, konstituirende Versammlung handle. Das waren die einzigen Gründe, die gegen den Antrag vorgebracht wurden; er wurde nur entfernt, er wurde nicht verworfen; im Gegentheil hieß es: künftig, für das deutsche Parlament, welches nur regelmäßig tagt, sind die Diäten nothwendig. Das haben die Gegner damals gesagt, m. H. Auch der Herr Bundeskanzler hat sich nicht absolut gegen die Sache erklärt. (W. r.) Er fand Schwierigkeiten, weil das Wahl­ gesetz vereinbart sei mit einer Menge deutscher Regierungen; wenn man nun hier zu viele Aenderungen anbringe, so sei das eine üble Sache, und die preußische Regierung könne nicht wissen, ob es dann bei den Abmachungen verbleiben würde; man möge also dem wichtigen Werke nicht durch diesen Antrag Schwierigkeiten in den Weg legen. Aber er hat — gestatten Sie mir, diese Worte direkt Ihnen vorzulesen — er hat eine sehr wichtige Erklärung abgegeben: „die Entscheidung dieser Frage gehöre seines Erachtens in das deutsche Parlament; werde sie da bejaht, so glaube er, daß der Wider­ stand schwierig sein werde." (H. h.!) — Dies die im stenographischen Bericht niedergelegte Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, deren große Bedeutung wohl Nie­ mand von Ihnen verkennen wird. Abg. Graf Ritt berg: M. H.! Der Herr Abg. Schulze hat uns bei Berathung der Verfassung gesagt, daß er sich bei Gelegenheit dieser Berathung jedes Veränderungs­ vorschlages enthalten wolle. Wir haben diese Erklärung freudig entgegengenommen, aber ich hätte gewünscht, daß diese Enthaltsamkeit etwas länger gedauert hätte (o nein! l.) denn die Verfassung ist, so viel ich weiß, noch nicht Allerhöchsten Orts vollzogen, sie ist jedenfalls noch- nicht publizirt, und dennoch schon kommt ein Abänderungsvorschlag von Ihnen ein. M. H., fehlt es denn an Kandidaten zum Reichstage? sehen wir nicht aus jeder Wahlakte, daß deren immer zwei vorhanden sind (£.), und würden nicht noch mehrere Kandidaten vorhanden sein, wenn das Volk nicht schon gelernt hätte, sich auf Zwei zu beschränken, um die Wahlstimmen nicht zu zersplittern? Und dann, m. H., stellen Sie nicht durch diesen Antrag dem jetzigen Hause, wie es zusammengesetzt ist, ein testimonium paupertatis aus? (W.); ein testimonium, was ich in keiner Weise unter­ schreiben kann. Denn, m. H., finden Sie nicht den Patriotismus und die Erfahrung und die Intelligenz hier aus allen Schichten des Reiches gut vertreten? Der Herr Abg. Schulze selbst, dessen Verdienste in volkswirthschaftlicher Beziehung ich gerne an­ erkenne, hat ja seinen Platz auch in diesem Hause gefunden. Nun sagt der Abg. Schulze zwar, das ist keine Entschädigung, das sind nur Auslagen, Diäten und Reisekosten; aber, m. H., eines ist wie das andere, Diäten und Reisekosten sind auch eine Entschä­ digung. M. H., streben wir denn nicht Alle dahin, daß die Selbstverwaltung weiter verbreitet werde, die Selbstverwaltung, die wir in den Städten, in den ständischen Kor-

Antrag Schulze u. Gen., Gewährung von Diäten betreffend.

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porationen und auch bei Verwaltung der ländlichen Gemeinden so mustergültig ver­ treten finden? wollen wir nicht noch mehr dahin wirken, daß die Staatsbürger ohne Entschädigung solche Aemter versehen, welche das Wohl der Kommune oder der Kor­ poration betreffen, in welcher sie leben? wollen wir nicht dadurch erwirken', daß sie eine größere Kenntniß dieser Zntitutionen erlangen, daß sie sonach mehr mit dem Vater­ lande selbst verwachsen werden? Das, glaube ich, wollen Sie auf der Seite des Hauses (nach links) ebenso wie wir! Und wenn Sie das wollen, m. H., wie wollen Sie denn als die erste That des ersten deutschen Reichstages das hinstellen, daß Sie sich selber Diäten und Reisekosten zubilligen? Zch finde hierin einen Widerspruch, m. H., den, ich glaube, Sie nicht zu lösen im Stande sind, und ich bitte Sie daher, daß Sie auch auf der Seite des Hauses (nach links) den Antrag, wenn er nicht zu­ rückgezogen wird, ablehnen mögen, so wie wir es thun werden. Abg. Dr. Windthorst: M. H.! So sehr ich gewünscht, daß man in dieser Diät nicht mit dem Anträge gekommen wäre, sondern erst in einer folgenden Session, nach­ dem Alle, die hier sind, Erfahrungen gesammelt über die Verhältnisse, die hier in Betracht kommen, so kann ich doch nicht mein Votum abgeben gegen den Antrag, nachdem er nun einmal gestellt worden ist. Namens eines großen Theiles meiner po­ litischen Freunde erkläre ich deshalb, daß wir für den Antrag stimmen werden. Dabei aber verkennen wir nicht, daß das Korrektiv, welches man gegenüber dem allgemeinen und direkten Wahlrechte in der Diätenlosigkeit hat finden wollen — einzig und allein gefunden werden kann in einem gehörig geordneten Zwei-Kammersystem. (Bew.) M. H., Ich finde nun allerdings, daß diejenigen, welche für Beibehalt der Diätenlosigkeit sind, weil sie dieses Korrektiv gegen das allgemeine Stimmrecht behalten wollen, vielleicht sagen können, ich darf nicht eher für die Diäten stimmen, als bis das auch von mir nöthig erachtete Korrektiv im Zwei-Kammersystem gefunden sei. (S. r.! r.) Nein, m. H-, bas ist nicht richtig! (H.) Wir bringen diesen Antrag auf Diäten, — bevor die Regierungen den Antrag genehmigen, wird er nicht Gesetz. Wenn die Negierungen die Nothwendigkeit einsehen, die Diäten zu bewilligen — und diese Nothwendigkeit liegt auf der Hand; ich komme darauf zurück —: dann werden sie aus ihrer Initiative auch für den Erfolg des darin liegenden Korrektivs sorgen müssen, und sie werden dann, darüber bin ich nicht zweifelhaft, nothwendig auf das Zwei-Kammersystem kom­ men müssen, mögen sie es finden in der weiteren Ausbildung und Stärkung des Bun­ desraths, oder mögen sie es finden in einem Staatenhause, wie in Nordamerika und der Schweiz, oder in einem eigentlichen Oberhause. Nun hat der Herr Abg. Graf Rittberg, sich gegen Herrn. Schulze wendend, gesagt, es fehle auch bei der jetzigen Diätenlosigkeit nicht an Kandidaten, es sei nicht einer, sondern es seien immer mehrere vorhanden. Ja, m. H., es ist unzweifelhaft, daß die Sitze hier im Hause verschiedene Anziehungskraft äußern, aber es ist immer die Frage, ob die Anziehungskraft wirklich die richtigen Personen trifft, und ob bei dem Mangel der Diäten nicht eine große Zahl von Männern außer Stand gesetzt ist, ihre Kräfte und Talente dem Lande zu widmen, die, wenn Diäten gezahlt würden, sicher hier zum großen Nutzen des Landes erscheinen würden. Dann ist auch nicht zu verkennen, daß der Umstand, daß hier keine Diäten gezahlt werden, Auskunftsmittel bringt, welche dafür Ersatz geben, und dieses ist nach den Erläuterungen, die zur Zeit des konstituirenden Reichstages stattfanden, auch gar nicht unzulässig. Es ist eben nur die Sache des Geschmacks der Betreffenden, solche Auskunftsmittel in Anwendung zu bringen; die Zahl der vorhandenen Kandidaten ist also kein Argument gegen die Diäten, wie Herr Graf Rittberg glaubt. Es ist nicht geklagt worden, daß überhaupt keine Kandidaten da wären, ich könnte eine Reihe von Kandidaten stellen, die dieses Haus noch dreimal ausfüllten, — aber daß das nun gerade die richtigen wären, die, welche ich vorzüglich im Auge habe, das kann ich nicht behaupten. — Dann hat der Graf Rittberg gesagt, es würde die Diätenlosigkeit sehr die Selbstverwaltung befördern. Ich weiß nicht, ob die Herren in den preußischen Provinzial - Landtagen etwa Selbstverwaltung üben oder nicht (s. g.), die Herren lassen sich jedenfalls doch die Diäten bezahlen. (S. w.!) Und außerdem glaube ich, daß Selbst-

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Verwaltung und Diätenlosigkeit zwei sehr verschiedene Begriffe sind. Dann sagt der Herr Abgeordnete, es würde kurios aussehen, wenn der Reichstag sich selbst Diäten bewilligt.. Nun, es ist das allerdings ein Gedanke, den man haben kann, und daß er schon früher da war, beweisen die Anträge, welche bereits auf dem Tische des Herrn Präsidenten liegen, und welche dahin gehen, daß man die Diäten erst zahlen möge unseren Nachfolgern, also bei der neuen Legislaturperiode, nicht dem jetzt tagenden Reichstage. Wenn das eine Beruhigung gewährt, so werde ich mit einer derartigen Beschränkung mich gar leicht einverstanden erklären können. Ich finde aber, daß die Beschränkung jedenfalls nicht nöthig ist, denn es wird Niemand glauben, daß aus per­ sönlichem Interesse diese Anträge gestellt sind. Es handelt sich um eine große Prin­ zipienfrage, nicht um persönliche Interessen der jetzigen Abgeordneten. Dann aber ist die in diesen Anträgen sich ausdrückende Sorge für mich überdies nicht vorhanden. Ich habe die feste Ueberzeugung, daß, wenn man für den Antrag stimmt, er so ohne Weiteres nicht konzedirt wird, ja ich sage es — ganz nach meiner früheren Ausführung — ausdrücklich, nicht konzedirt werden kann, weil ich durchaus der Meinung bin, daß bei der Bewilligung von Diäten das Zwei-Kammersystem das ersetzen muß, was man bis jetzt durch die Diätenlosigkeit hat erreichen wollen. Und die Errichtung des Zwei-Kammersystems geht so rasch nicht. Daß das Volkshaus in Deutschland ohne Diäten übrigens nicht sein kann, wenn es wirklich ein Volkshaus sein soll, darüber bin ich nicht zweifelhaft, wenn ich die Vermögensverhältnisse und die Vertheilung des Vermögens in Deutschland mir vergegenwärtige. In Nordamerika, in der Schweiz bekommen auch die Abgeordneten Diäten und nicht allein das Volkshaus, nein, es bekommt auch der Senat seine Entschädigung, und zwar dort aus der allgemeinen Kasse, und in der Schweiz der Nationalrath aus der allgemeinen Kasse, der Stände­ rath aus der Kantonskasse. Wie das in Deutschland zu ordnen, darüber kann man dann streiten, wenn der Senat erst kommt. Zn Nordamerika und in der Schweiz sind die Verhältnisse in Beziehung auf Vermögenstheilung rücksichtlich dieser Frage nicht einmal so ungünstig wie in Deutschland, aber ich erkläre ausdrücklich nur in Beziehung auf diese Frage, denn sonst betrachte ich die VermögeiMMung in Deutschland als eine glücklichere wie in irgend einem anderen Lande, \a mir sehr daran liegt, daß möglichst Viele etwas haben. Das ist besser, als wenn Wenige viel und die Uebrigen gar nichts haben. Zn der Vermögenstheilung liegen nach meiner Ansicht die durchschlagenden Gründe gegen die Diätenlosigkeit. Dabei nuche ich noch auf einen ganz besonderen Umstand aufmerksam. Die Herren aus Süddevtschland, die Herren aus Lothringen und Elsaß, die uns demnächst hoffentlich besuchen werden, haben ganz andere Reisen zu machen, als wir in Norddeutschland. Wir haben es jetzt erlebt, daß unsere Freunde aus Süddeutschland, während wir aus einige Tage an unseren häuslichen Heerd zurücktreten konnten, haben hier bleiben müssen, theilwüse weil die Reise zu weit war, theilweise aber ohne Zweifel, weil sie zu kostspielig var. Zst es denn billig, daß bei dieser Verschiedenartigkeit der Entfernungen gar kän Ausgleich stattfindet? Und wenn ich vorher gesagt habe, wie ich glaube, daß de Frage der Diäten durchaus im Zusammenhänge mit dem Zwei-Kammersysteme entscheden werden müßte, so muß ich doch ausdrücklich betonen, daß es nothwendig ist, in Beziehung auf die Reisekosten schon vorher eine Gleichheit herzustellen. (S. g.!) Und das würde auch, glaube ich, geschehen können, ohne das Princip der Verfassung zu verletzen Abg. Bebel:. M. H.! Der Grund, weshalb ich mich zum Worte gemeldet, ist wesentlich der: hier einmal mit wenigen Worten zu konstatiren, woher es kommt, daß gerade der Reichstag, die höchste Vertretung in Deutschland, im Gegenfrtz zu jeder anderen Vertretung der Einzelstaaten keine Diäten bezieht. Es muß doh da etwas ganz Charakteristisches vorhanden sein. Es ist einfach die Angst sowohl inRegierungskreisen wie auf Seite der Rechten, wie auch zu einem großen Theile cuf Seite der Linken dieses Hauses vor dem Ausfall der radikalen Wahlen, vor den dmokratischen, resp, sozialdemokratischen Wahlen, die die Herren abhält, für die Diäten zu stimmen. (Z. L, W. r.) Das ist allerdings wahr! hier (I.) giebt man mir es zu, mb Sie (r,)

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werden es mir nicht bestreiten können. Zch will es kurz beweisen. Wenn denn die Gründe, die für die Nichtbewilligung der Diäten geltend gemacht sind, wirklich durch­ schlagende 'ind, wenn man sagt, man müsse im Interesse der Selbstverwaltung auf die Diäten verzichten, man müsse von den Abgeordneten verlangen, daß sie beweisen, daß sie ein OpFer für die gemeinsame Sache bringen können, warum thun denn Sie, (auf die Nationrlliberalen zeigend) die Sie zum großen Theil im preußischen Abgeordneten­ haus sitzen, ruhig Ihre 3 Thaler Diäten einstecken? Ich muß das Ihnen eben so gut ins Gedächtniß rufen, wie es der Abg. Windthorst in Bezug auf die Provinzial-Landtage den Herren von der Rechten gesagt hat, die gar 4 Thaler täglich nehmen und sich bis jetzt durchaus nicht geschämt haben, sie anzunehmen. In Sachsen ist der Zehnthaler-Censas direkter Steuer nöthig, um zum Landtage überhaupt gewählt werden zu können; dü Wählbarkeit ist dann natürlich auf einen sehr kleinen Kreis von Leuten reduzirt. $m sächsischen Landtage wurde ebenfalls die Frage angeregt, ob man nicht, da für den Reichstag das allgemeine Wahlrecht existirt, dasselbe auch für den sächsischen Landtag eirführen wollte, und zwar um so mehr, als es schon in der Verfassung von 1849 Geltrng gehabt hat. Im sächsischen Landtage ist man etwas offener mit der Frage Heraasgekommen, als es hier der Fall ist. Im sächsischen Landtage hat ein Ab­ geordneter, wenn ich nicht irre, ist er sogar Mitglied dieses Hauses, ganz offen bekannt: ja, wenn wir das allgemeine Wahlrecht in Sachsen einführen sollen, dann knüpfe ich die Bedingung daran, daß es keine Diäten giebt, denn sonst kriegen wir die Sozial­ demokraten auf den Hals. Das ist offen gesprochen, da wissen wir doch auch wenig­ stens, worm wir sind. Abg. Dr. Bamberger: M. H., wenn ich das Wort zu Gunsten der Diäten ergreife, so geschieht es aus dem sonderbaren Grunde, daß ich durchaus nicht durchdrungen bin von de: Ueberzeugung, daß der Ruf nach Diäten ein außerordentlich gut begrün­ deter sei; ch bin deshalb vielmehr für die Sache, weil ich sie eigentlich für ziemlich indifferent halte. Zch glaube, daß die Gewährung der Diäten weder so schwarz ist, wie die Einen ie ansehen, noch so weiß, oder, wenn Sie wollen, so roth, wie die Anderen sie ansehen. M. H., woher kommt es denn, daß überhaupt der Ruf nach Diäten, wie ich ihn wengstens nach meiner Erfahrung zugeben muß, sich einer sehr großen Popu­ larität erfvut? Zch glaube, es kommt nur von dem Umstande her, daß in dem konstituirendenReichstage aus den Diäten eine Art von Märtyrer gemacht worden ist; daß man damtls einen außerordentlichen Werth darauf legte, die Diäten aus der neuen Verstssung auszumerzen, und daß man ihnen dadurch gewissermaßen das Patent eines ungeheuren Freiheits-Sakramentes gab, was sie meiner Ansicht nach gar nicht sind. Mem ich mich so ausdrücken darf, so sind damals die Diäten in derselben Lage gewesen, ir der während des Krieges auch gewisse Freiheits-Märtyrer waren; man hat sie in die Ostungen gesperrt, weil man sie für ungeheuer gefährlich erklärte. Hätte man sie frigelassen, sie hätten den Zuwachs an Popularität gar nicht bekommen, dessen sie seitdem genießen, und ich möchte die Herren vom Bundesrathe bitten, daß sie den Diäten Uhr Freiheit zurückgeben, die sie allerdings nach der Erfahrung in den meisten parlamemtaischen Verfassungen haben. Ich glaube, wir sollten uns ein für alle Mal Ruhe verscaffen vor diesem Tummelroß der Freiheits-Liebeserklärung, welches die be­ steigen, weche die Unentbehrlichkeit der Diäten voranstellen; ich glaube, der Herr Reichs­ kanzler mnt der Bundesrath könnten ruhig dem Marquis Posa, der hier immer wieder­ kehrt, mm neben der Gedanken- und Redefreiheit auch die Diäten zu begehren, diese bewilligen mb sagen: „sie seien ihm gewährt", und nicht blos das deutsche Volk, son­ dern auch )er Humor der Weltgeschichte werden Bravo dazu sagen. (Br.) Wg. Dr. Völk: Im Allgemeinen bin ich mit den Ausführungen einverstanden, welche rvondem Herrn Abg. Dr. Bamberger gemacht worden sind. Zch glaube in der That, tvaßman die Wirkung der Diäten sowohl nach der einen als nach der anderen Seite hiin n hohem Grade überschätzt. Gehe ich von dem allgemeinen Satze aus: wenn dcasallgemeine Stimmrecht einmal als eine Thatsache gegeben ist, so kann man um s wmiger die Diätenlosigkeit aufrecht erhalten, als man, selbst wenn man

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darin ein Korrektiv des allgemeinen Stimmrechts erkennen will, doch mit der einen Hand wiederzunehmen versucht, was man mit der anderen weggegeben hat. Wer das allgemeine Stimmrecht in der That prinzipiell in der aktiven Wahl anerkannt hat, der, glaube ich, muß es auch in passiver Wahl anerkennen und darf dieses allgemeine Stimm­ recht in seiner Ausdehnung nicht dadurch beschränken, daß er Diäten nicht gestatte. Seien Sie aber vollständig überzeugt, — ich bin es wenigstens: daß die Diäten­ losigkeit ein wirksames Korrektiv des allgemeinen Stimmrechts in der That nicht ist, und daß man die Bedeutung, welche man derselben beilegt, unend­ lich überschätzt. Ich z. B. kann Sie mit vielen meiner Landsleute versichern, daß, wenn Sie heute die Diäten einführen, wir der vollständigen Ueberzeugung sind, daß wir kaum eine oder zwei andere Personen als Abgeordnete aus dem Königreich Bayern bekommen hätten, als Sie jetzt vor sich haben, aber keinen einer anderen Rich­ tung oder Partei, und ich glaube, dasselbe wird auch wohl an vielen anderen Orten ganz entschieden der Fall sein. Betrachten Sie, was liegt denn eigentlich an der Summe der Diäten, um die es sich handelt! (Ich setze voraus, daß man hier nicht eine reichere Besoldung, sondern im Sinne des Herrn Abg. Schulze lediglich eine Entschädigung für die Aus lagen geben will.) Man wird dann nicht höher kommen können, als wohl auf 3 Thaler pro Tag, und wenn Sie eine durchschnittliche Session des Reichstages von 70 bis 80 Tagen annehmen, so werden Sie 240 Thaler bekommen, und wenn Sie dazu noch die Reise-Entschädigung derjenigen, welche die größten Reisen zu machen haben, nehmen, so werden Sie für einen Reichstags-Abgeordneten ungefähr 300 Thaler bekommen. Das würde für die sämmtlichen Reichstags-Abgeordneten allen­ falls 100,000 Thaler ausmachen. Wenn Sie nun die Zahl der Wähler sich ansehen, welche dieser Summe in der Anzahl von, ich sage nur 3,000,000 gegenübersteht, so werden Sie finden, daß, wenn die Wähler einmal daran gingen, diese Diäten zu ersetzen, sie allenfalls mit einem Groschen pro Mann das leisten könnten, was man von der Lösung der Diätensrage erwartet. (Stimme: Geschieht nicht!) — Ich glaube auch, m. H., daß zunächst das allgemein nicht geschehen wird; aber wenn irgend eine Person in einem Wahlkreise ist, bezüglich deren die Mehrzahl der Wähler der Ansicht und des Glaubens ist, daß sie ihr eine besondere Bedeutung im Reichstage beilegen, so wird die Diäten­ losigkeit dessen Wahl gar nicht hindern. Ich glaube, daß man der Diätenfrage eine viel zu hohe prinzipielle Bedeutung gegeben hat, daß, wenn man sich einbildet, man könne damit weiß Gott was alles machen und weiß Gott wen alles abhalten, dies vollständig unrichtig ist, und man damit immer nur Veranlassung giebt, den Leuten zu sagen: „wir sind nicht gleichberechtigt, wir sind ausgeschlossen," und daß man dadurch nur zu Mißverständnissen und fortwährenden Aufreizungen und Anreizungen Gelegenheit giebt. Geben Sie, m. H., die jährlichen 100,000 Thaler, auf die es am Ende hinauskommt, frei, Sie werden dadurch kein anderes Haus bekommen, und wenn Sie wirklich auch einmal statt eines Mitgliedes ein anderes bekommen. Ist dies aber, so werden Sie von solchen auch noch Verschiedenes zu hören bekommen, was vielleicht hier noch ganz wohl gesagt werden kann, und was auch die Berücksichtigung der Regierung verdient. Das, m. H., ist der Grund, warum ich mich für Diäten ausspreche. Bundeskanzler Fürst v. Bismarck: Der Herr Antragsteller hat daran erinnert, daß ich bei einer früheren Erörterung dieser Sache gesagt hätte, wenn das deutsche Parlament sich der Sache bemächtige, und bliebe dabei, so würde der Widerstand schwierig sein. Zch weiß nicht, ob ich das gesagt habe; da es der Herr Antragsteller so angiebt, so wird es wohl richtig sein, und ich kann dann nur sagen, daß ich damals eine ganz richtige Voraussicht bekundet hatte. Es wird schwierig sein; aber wir sind nicht in der Lage, daß wir vor der Schwierigkeit unserer Aufgaben zurückschrecken dürsten, (H.) und ich glaube, es wird auf der anderen Seite ebenso schwierig sein, diese Verfassungsänderung, jetzt in diesem Stadium namentlich, und ich hoffe auch überhaupt, durch den Bundesrath zu bringen. Zch höre heute zum ersten Male, daß von mehreren Seiten und gerade von den lebhaftesten Vertretern derselben behauptet wird, daß die Frage an und für >sich gar nicht so bedeutend wäre, daß sie in ihrer Wichtigkeit erheblich

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überschätzt werde; dann aber weiß ich nicht, warum Sie in jedem Jahre mit einem Eifer, der nach meinem Urtheil einer besseren Sache würdig wäre, darauf zurückkommen und sie jedes Jahr grundsätzlich wieder auf die Tagesordnung stellen, auch dann, wenn wir nach der ganzen Haltung und Temperatur des Hauses glaubten voraussetzen zu dürfen, daß Sie den Moment für einseitige Verfassungsänderungen nicht für gekommen hielten, sondern der Verfassung Zeit lassen wollten, sich festzuwurzeln. Welche Einwir­ kung die Bewilligung oder Nichtbewilligung von Diäten auf die Zusammensetzung dieses Hauses haben würde, in. H., das ist eine, ich will nicht sagen Glaubenssache, aber eine Schätzungssache, eine Vertrauenssache. — Ich will das mit voller Sicherheit nicht ent­ scheiden, daß, wenn Diäten gegeben würden, diese Versammlung sehr viel anders zu­ sammengesetzt sein würde; aber wenn es doch der Fall wäre, — es würde mir zu schmerzlich sein, als daß ich auch nur den Versuch wagen sollte, (gr. H.) es würde schwer wieder gut zu machen sein, man würde sich vergeblich nach der früheren, durch Ge­ wohnheit und ihre Verdienste liebgewonnenen Versammlung zurücksehnen; ich wage den Versuch nicht. — Ich habe soeben in der Hoffnung, das Wort zu finden, welches der Antragsteller von mir anführte, in den früheren Verhandlungen nachgeschlagen, habe da aber aus meinen Aeußerungen ersehen, daß ich mich weniger davor gefürchtet habe, daß die Zusammensetzung der Versammlung eine weniger zuverlässige für Staatszwecke und für Innehaltung desjenigen Maßes im Fortschreiten, welches die Regierungen glauben festhalten zu sollen, sein würde, sondern daß ich hauptsächlich die nützliche Wir­ kung auf kurze Parlamente darin zu erblicken geglaubt habe. Dieser Gesichtspunkt ist, soviel ich mich erinnere, heute gar nicht hervorgehoben, und doch ist er ein ganz außer­ ordentlich wesentlicher. (S. w.!) Wenn die Volksvertretungen wirklich ein lebendiges Bild der Bevölkerung zu geben fortfahren sollen, so müssen wir nothwendig kurze Parla­ mentssitzungen haben, sonst können alle diejenigen Leute, die noch etwas Anderes in der Welt zu thun haben — und Gott sei Dank sind wir Deutsche derart, daß Jeder so ziemlich seinen Beruf hat, dem er sich nicht zu lange entfremdet — ich sage, sonst können diese Leute sich nicht bereitwillig und mit voller Hingabe dazu herbeilassen, als Wahl­ kandidaten aufzutreten. Nur kurze Parlamente machen es möglich, daß alle Berufs­ kreise, und gerade die tüchtigsten und treuesten in ihrem bürgerlichen Beruf, sich die Zeit abmüßigen können, daß sie dem Vaterlande auch hier an dieser Stelle ihre Dienste weihen. — Nun ist das, m. H., eine Erfahrungssache, daß diätenlose Sitzungen immer kürzer sind als diejenigen, bei denen Diäten gegeben werden. Es ist das ganz ohne Frage, wir können im preußischen Landtage den Vergleich ziehen: das Herrenhaus hat immer die Neigung, die Sitzungen abzukürzen, das Abgeordnetenhaus hat die Neigung, seine Thätigkeit noch weiter fortzusetzen. (H-) Ich bin weit entfernt, in den Diäten das allein Wirksame zu sehen, ich glaube vielmehr, daß darin sich schon die Wirkung fühlbar macht, die ich vorher als zu vermeiden charakterisirte. Es giebt im preußischen Abgeordnetenhaus mehr Mitglieder, die es zu ihrem Lebensberufe geradezu gewählt haben, ihrem Vaterlande in dieser Richtung vorzugsweise zu dienen und ihre anderen Geschäfte mehr in den Hintergrund treten zu lassen. Es giebt wenigstens einen Kern von Abgeordneten, die nach der Thätigkeit, die sie ihrem Mandat als Abgeordnete wid­ men, nach den Vorstudien, die sie zu den Sitzungen machen, nach den gründlichen Prü­ fungen der Sachen, die sie vertreten, gar nicht im Stande sind, daneben etwas erheb­ liches Anderes zu thun, auch bei der größten Arbeitskraft. Nun achte ich diese Hin­ gebung für die parlamentarische Thätigkeit sehr hoch und würde es sehr bedauern, wenn dieses Element uns fehlte; daß es aber in den parlamentarischen Versammlungen vor­ herrschend sei, das halte ich nicht für erwünscht, daß der — wenn ich mir den Aus­ druck erlauben darf — aus der Volksvertretung einen Lebensberuf machende Abgeordnete vorherrscht, das halte ich nicht für gut; dann haben Sie keine wirkliche Volksvertretung mehr, dann haben Sie eine Art von berufsmäßiger büreaukratischer Volksvertretung, eine andere Art von Beamten, die für die Arbeiten der Gesetzgebung zwar sehr nützlich sind, aber doch nicht immer im Sinne des Volkes und seiner augenblicklichen Stimmung, nicht immer in lebendiger Vertretung aller Berussklassen wirken, weil diese Berufs-

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klassen nicht immer die Zeit haben, sich ihrem Beruf so lange zu entziehen, wie lang gedehnte Parlamentssitzungen es unentbehrlich machen. Ich brauche die Beispiele nicht zu citiren. Wir haben Herren, die im Abgeordnetenhause 6—8 Monate gesessen haben, nachher ist man bei der Ueberlast der Arbeiten in ungesunder Lust des Lokals in der Nothwendigkeit einer Erholung, einer Kur. Es ist total unmöglich, daß man daneben seine Geschäfte als Kaufmann, als Gutsbesitzer, als Advokat, als Arzt dann noch so treiben kann, daß man behaupten kann, der Abgeordnete sei nicht von diesem seinem ursprünglichen Beruf vollständig gelöst und sei zu dem des Volksvertreters übergegangen. Ich wage bei der vorgerückten Zeit über dieses Thema, über das sich vom psychologischen und politischen Standpunkte aus Bücher schreiben lassen, mich nicht weiter auszulassen, nur so viel versichere ich, daß meine Meinung von der Unannehmbarkeit des Antrages für die Regierung dieselbe geblieben ist. Der Herr Vorredner sagte, er fände eine Inkonsequenz darin, wenn man auf dem Wege des allgemeinen Stimmrechts nur bis zu der diätenlosen Wahl ginge, er hielte den Weg erst vollständig zurückgelegt, wenn man durch die Gewährung der Diäten einen Jeden, auch den Bedürftigsten, in die Lage setzte, an der Volksvertretung Theil zu nehmen. Ich sehe das für keinen schlagenden Grund an. Jede Konsequenz hat ihre Grenzen. Die Regierungen sind eben bisher nicht entschlossen; sagen Sie immerhin, sie wagen es nicht; denn es ist ein trauriger Muth auf die Gefahr des öffentlichen Wohles hin etwas zu wagen — also sagen wir immerhin, sie wagen es nicht in diesem Augenblick so weit zu gehen. Man kann nicht jeden Weg bis ans Ende gehen, man hat seinen Punkt, auf dem man Halt machen will und wo man sagt, hier will ich jetzt nicht weiter vorgehen und abwarten, wie sich die Sache gestaltet. — Ich wollte nur ein Wort noch über das Korrektiv für eine diätenlose Versammlung sagen, welches der Herr Abg. Windthorst und der Herr Abg. Graf Münster in der Gestalt eines Zwei-Kammersystems finden. Ich muß zu meinem Bedauern sagen — und ich gebe damit nicht jetzt, sondern ich habe früher schon Ueber­ zeugungen aufgegeben, die denen verwandt waren, und nicht ohne Bedauern: — die politische Erfahrung hat mich überzeugt, daß solche Versammlungen, wie der Herr Vorredner richtig aussührte, den Zweck, ein Gegengewicht und einen Schutz zu gewähren gegen die Gefahren, die das allgemeine Stimmrecht in seiner vollsten Ausbeutung in sich bergen kann, nicht erfüllen können. Ich gehöre ja selbst einer solchen Versammlung, dem preußischen Herrenhause, an, und Sie werden deshalb nicht von mir verlangen, daß ich contra domum spreche; aber ich habe keinen Glauben an die Stärke dieses Gegengewichts in den jetzigen Zeiten; wenn eine frisch durch Wahlen legitimirte, den Anspruch einer Vertretung des gesummten Volkes in sich tragende Versammlung das Gegentheil votirt, dann brauche ich ein schwereres Gegengewicht. Das haben wir im Bundesrathe. Ich weiß nicht, was die Herren bewegt, den Bundesrath in den gesetz­ gebenden Faktoren nicht mitzuzählen; die Verfassung weist ihm die volle Gleichberechti­ gung an, und wenn ich sage, er wiegt schwerer als ein gewöhnliches erstes Haus, so ist das, weil er zugleich ein Staatenhaus im vollsten Sinne des Wortes ist, in viel berechtigterem Sinne, als was man gewöhnlich Staatenhaus nennt, was zum Beispiel in der Erfurter Verfassung Staatenhaus genannt wurde. Dort stimmte im Staaten­ haus nicht der Staat, sondern das Individuum ab; es war Jemand ernannt worden — ich weiß nicht, ob auf Lebenszeit oder auf limitirte Dauer, — aber ich erinnere mich genau, er stimmte nicht nach Instruktionen, sondern nach seiner Ueberzeugung ab. So leicht wiegen die Stimmen im Bundesrathe nicht; da stimmt nicht der Freiherr von Friesen, sondern das Königreich Sachsen stimmt durch ihn; nach seiner Instruktion giebt er ein Votum ab, was sorgfältig destillirt ist aus all den Kräften, die zum öffent­ lichen Leben in Sachsen mitwirken; in dem Votum ist die Diagonale aller der Kräfte enthalten, die in Sachsen thätig sind, um das Staatswesen zu bilden; es ist das Votum der sächsischen Krone, modifizirt durch die Einflüsse der sächsischen Landesvertre­ tung, vor welcher das sächsische Ministerium für die Vota, welche es im Bundesrathe abgeben läßt, verantwortlich ist. Es ist also recht eigentlich das Votum eines Staates, ein Votum in einem Staatenhaus. Analog ist es — ich habe Ihnen dies Beispiel

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von Sachsen nur genannt — in den Hansestädten, in den republikanischen Gliedern: es ist das ganze Gewicht der Bevölkerung einer reichen, großen, mächtigen intelligenten Handelsstadt, was sich Ihnen in dem Votum der Stadt Hamburg im Bundesrath dar­ stellt, und nicht das Votum eines Hamburgers, der nach seiner persönlichen Ueberzeugung so oder so votiren kann: die Vota im Bundesrath nehmen für sich die Achtung in An­ spruch, die man dem gesammten Staatswesen eines der Bundesglieder schuldig ist. Und das halte ich für außerordentlich schwer wiegend, und diese Bedeutung macht sich un­ bewußt ja in uns längst fühlbar. Einem Votum von fünfundzwanzig einzelnen Herren würden Sie nicht das Ansehen beimessen, dessen der Bundesrath sich glücklicherweise erfreut; aber dem Votum von fünfundzwanzig Staaten, wo Zeder der Herren hier einem derselben angehört, und von lauter Staaten, die sich einer freien parlamentarischen Verfassung erfreuen, — (Ruf: Mecklenburg?) wo die Abstimmungen der Einzelnen recht eigentlich den Ausdruck der Gesammtheit dessen, was man früher sagte, Völker, jetzt will ich nur sagen, Einwohnerschaften für sich haben, dem sind Sie Achtung schuldig in einer anderen Weise, und die zollen Sie ihm auch, und die Bevölkerung zollt sie ihm. — Ich halte deshalb jede Neuerung in unseren Institutionen, durch welche dieser meines Erachtens sehr glücklich gefundene Senat — Staatenhaus, erstes Haus — des deutschen Reiches in seiner Bedeutung abgeschwächt, gewissermaßen mediatisirt wird, für eine sehr bedenkliche Aenderung in der Verfassung. Ich glaube, daß der Bundesrath eine große Zukunft hat, indem er zum ersten Male den Versuch macht der monarchischen Spitze, ohne die Wohlthaten der monarchischen Gewalt — oder der her­ gebrachten republikanischen Obrigkeit — dem Einzelstaat zu nehmen, und in seiner höchsten Spitze als föderatives Kollegium sich einigt, um die Souveränetät des gesammten Reiches zu üben; denn die Souveränetät ruht nicht beim Kaiser, sie ruht bei der Gesammtheit der verbündeten Regierungen. Es ist das zugleich nützlich, indem die — nennen Sie es Weisheit oder Unweisheit von fünfundzwanzig Regierungen unvermittelt in diese Berathungen hineingetragen wird, — eine Mannigfaltigkeit von Anschauungen, wie wir sie im Einzelstaate niemals gehabt haben. Wir haben, so groß Preußen ist, von den kleineren und kleinsten Mitgliedern doch Manches lernen können; sie haben umgekehrt von uns gelernt. Es sind fünfundzwanzig Ministerien und Obrigkeiten, von denen jede unverkümmert in ihrer Sphäre die Intelligenz, die Weisheit, die dort quillt, an sich saugt und im Bundesrath selbstständig von sich zu geben berechtigt ist, ohne irgend eine Beschränkung, während der Einzelstaat sehr viele Hemmnisse hat, die die Quellen auch da, wo sie fließen möchten, stopfen. Es ist nur ein einziger Verschluß, der die ganze Aeußerung der einzelnen Staatsgewalt hemmen oder frei lassen kann, mag er nun in dem Majoritätsvotum eines Ministeriums bestehen oder mag er in dem Willen des Landesherren bestehen. Es ist das ein Verschluß, der der Minorität des Ministeriums, die nicht zur Geltung gekommen ist, oder demjenigen Ministerium, welches sich mit dem Landesherrn für den Augenblick nicht in Einklang zu setzen vermochte, den Mund schließt, während hier fünfundzwanzig Oeffnungen sind, die offen bleiben, wenn sie nicht fünf­ undzwanzigfach verschlossen werden. — Kurz, ich kann Ihnen aus meiner Erfahrung sagen, daß ich glaube, in meiner politischen Bildung durch die Theilnahme an den Sitzungen des Bundesraths, durch die belebende Friktion der fünfundzwanzig deutschen Centren mit einander, erhebliche Fortschritte gemacht zu haben und zugelernt zu haben. Deswegen möchte ich Sie bitten, tasten Sie nicht den Bundesrath an! Ich sehe eine Art von Palladium für unsere Zukunft, eine große Garantie für die Zukunft Deutsch­ lands gerade in dieser Gestaltung — es ist ja möglich (man sieht nicht in die Zukunft), daß ich zu rosig sehe; aber ich hoffe das Gegentheil. (Lebh. Br. r.) Die Sitzung wird geschlossen. Fortsetzung am 20. April 1871.

Abg. vr. Erhard: M. H., meinen Freunden und mir ist die gestrige Erklärung des Herrn Reichskanzlers in dieser Frage nicht unerwartet gekommen. Wir haben den Antrag nicht eingebracht in der Annahme, daß sofort die Zustimmung des Herrn Bundes-

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kanzlers dazu zu erreichen sein werde; wir gaben uns nur und geben uns noch der sicheren Hoffnung hin, und zwar trotz der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, und gerade wegen der Erklärung des Herrn Bundeskanzlers, daß unser Antrag die Annahme in diesem hohen Hause finden werde. — Ich bedaure sehr, daß der Herr Reichskanzler nicht gegenwärtig ist, und daß ich genöthigt bin, ihm in seiner Abwesenheit zu ent­ gegnen; aber es muß den Deduktionen des Herrn Reichskanzlers nach meiner Ueber­ zeugung mit aller Entschiedenheit entgegengetreten werden. Der Herr Reichskanzler hat im Verlauf seiner ganzen Deduktion ausgeführt, daß er kurze Parlamente liebe, und daß, wenn Diäten eingeführt würden, an kurze Parlamente nicht mehr zu denken sei. Ich glaube wohl, daß der Herr Reichskanzler das lange Parlament nicht will, aber, m. H., wir wollen auch kurze Parlamente, wir sind nur der Ueberzeugung, daß die Dauer der Parlamentssitzungen nicht abhängig ist von der Frage der Diätengewährung; wir sind der Ueberzeugung, daß in den Vertretern des deutschen Volkes so viel Pflicht­ gefühl, so viel Ehrenhaftigkeit wohnt und immer wohnen wird, daß sie nicht wegen Diäten die Sitzungen länger ausdehnen, als sie es ohne Diäten thun würden. Wir sind kein reiches Volk, aber wir sind doch nicht so armselig und auch nicht so arm, daß wir wegen drei Thaler Diäten länger im Parlamente sitzen würden, als wir ohne Diäten hier sitzen. M. H., der Herr Reichskanzler hat mit Recht und sehr genau Ihnen dargelegt, daß die Mischung der verschiedenen Gruppen aus den verschiedenen Berufs­ klassen, wie sie hier im Reichstag vertreten sind, ein lebensvolles Bild des ganzen Volkes giebt, und daß er eine solche Vertretung nicht missen werde und auch nicht missen wolle; aber wenn der Herr Reichskanzler eine solche lebensvolle Vertretung auf die Dauer nicht missen will, dann, m. H-, muß er einmal zustimmen, daß Diäten ge­ währt werden. Wenn in dem ersten Jahre des Bestehens dieses Reichstages noch eine größere Anzahl von Männer sich findet, die mit schweren Opfern in das Haus treten, so wird, m. H., fürchte ich, nach und nach das mehr und mehr zurücktreten, und mehr und mehr werden nur die reichen Männer in der Lage sein, diesen Beruf auf sich zu nehmen. M. H., es hätte nicht blos die Achtung vor dem Hause, sondern es hätte auch die politische Erfahrung den Herrn Reichskanzler abhalten sollen, das zu sagen, was er gestern uns gesagt hat (H.! (.); die politische Erfahrung, welche der Herr Reichskanzler gemacht hat im preußischen Abgeordnetenhaus, welches Diäten hat. Ich frage Jedermann, welcher die Arbeiten des preußischen Abgeordnetenhauses verfolgt hat, der diese an­ gestrengten, mühevollen und raschen Arbeiten verfolgt hat, ob man denn von der Thätigkeit des preußischen Abgeordnetenhauses sagen kann, daß dieses mit Diäten be­ gabte Parlament längere Sessionen hält als der Reichstag. Wenn wir den Antrag eingebracht haben, so haben wir ihn nicht eingebracht in dem Wahn, als würden wir eine wesentliche Verschiebung der Mehrheit erreichen, auch nicht in der Befürchtung, die die Hoffnung des Herrn Bebel ist, daß die Vertreter der europäischen Revolution hier in großem Maße ihren Platz einnehmen werden, sondern wir haben den Antrag ein­ gebracht, weil wir uns sagten, es ist ein Postulat der Gerechtigkeit, daß das allgemeine Wahlrecht zur Wahrheit werde, daß nicht durch den hohen Wahlcensus, welcher darin liegt, daß keine Diäten gewährt werden, eine bedeutende Kategorie von minderbegüterten, ehrenwerthen und tüchtigen Männern auf die Dauer ausgeschlossen werde von der Ver­ tretung im Reichstage. Dieses Motiv läßt die Sache weder so unbedeutend erscheinen, wie gestern die Herren Abg. Völk und Bamberger in der wohlgemeinten Absicht, dem Herrn Bundeskanzler das Gericht schmackhafter zu machen, gesagt haben, (H.) noch auch so groß und gewaltig, wie Andere fürchten. M. H., wenn eine Sache ein Postulat der Gerechtigkeit ist, wenn das allgemeine Wahlrecht es erfordert, daß Diäten gewährt werden, so ist die Sache an sich wichtig genug, — und weil die Sache an sich wichtig genug ist, darum glaube ich, können und dürfen Sie unserem Anträge zu­ stimmen. (Br.! l.) Abg. Hölder: M. H., in den politischen Kämpfen der letzten Jahre, welche wir im Süden und insbesondere in Württemberg zu bestehen hatten, spielten immer die schweren Ausstellungen bei unseren Gegnern gegen die Nordbunds-Verfassung eine große

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Rolle, und die Diätenfrage, die Diätenlosigkeit wurde uns neben vielen anderen Ein­ wendungen immer und überall entgegengehalten als ein Hinderniß des Eintritts in den norddeutschen Bund. Nun, m. H., wir von der nationalen Seite haben diese heftigen, leidenschaftlichen und maßlosen Anschuldigungen, die gegen die Nordbunds-Verfassung vorgebracht wurden, stets mit aller Energie zurückgewiesen; aber wir hätten es nicht für richtig erachtet, diejenigen Ausstellungen, welche wirklich begründet waren, in ihrer Be­ deutung zu leugnen und in Abrede zu ziehen: wir haben unsern Mitbürgern stets nur das gesagt: die Einheit, die Einigung gehe über Alles, und nachher, wenn die Einigung erreicht sei, dann sei es an der Zeit, an die Verbesserung der Mängel zu gehen, soweit sie auch unsererseits als begründet erkannt werden müßten. Und, m. H., ich meinerseits halte mich für verpflichtet, jede schickliche Gelegenheit zu ergreifen, um das, was ich in wiederholten Versammlungen und bei vielen anderen Gelegenheiten meinem Mitbürgern versprochen habe, nunmehr auch zur Ausführung zu bringen. Der Herr Reichskanzler hat anerkannt, daß es dem Bundesrath schwierig sein werde, dem Andringen der öffent­ lichen Meinung und dieses Hauses bezüglich der Diäten zu widerstehen; aber er hat uns zugleich gesagt, daß die Reichsregierung gewöhnt sei, vor solchen Schwierigkeiten nicht zurückzutreten. (H.! h.! l.) Die Bedeutung der Frage selbst ist meines Erachtens von den verschiedenen Anhängern theils überschätzt, theils unterschätzt worden. Während somit die Diätenlosigkeit kein sehr erhebliches Schutzmittel gegen die Gefahren ist, welche von der rechten Seite befürchtet werden, während nach meiner vollen Ueberzeugung im großen Ganzen die Parteiengruppirung auch bei der Diätenlosigkeit dieselbe sein wird, so schließen wir doch durch die Diätenlosigkeit tüchtige Kräfte aus; wir berauben die Wähler des Rechtes, diese Männer zu wählen, und wir berauben das Haus der Mit­ wirkung dieser Kräfte! M. H., aus diesen Gründen bin ich für den Antrag und zwar ohne Klausel und ohne Anhang. Abg. vr. Römer: M. H., für mich ist bestimmend ein allgemeines politisches Lebensgesetz. Das oberste Gesetz eines gesunden politischen Lebens ist der Grundsatz, daß man an einer Verfassung, namentlich an den Grund - Bestandtheilen einer Ver­ fassung, so lange nicht ändert, als die Erfahrung nicht ein dringendes Bedürfniß der Aenderung herausgestellt hat. (Br.! r.) Die Erfahrung hat ein solches Bedürfniß nicht herausgestellt. Hat es etwa an Kandidaten für die Wahl zum norddeutschen Reichstage gefehlt? (Ruf l.: Za! r.: Nein!) Hat es an Kandidaten für die Wahl zu diesem ersten Reichstage gefehlt? (Za! — Nein!) M. H., man kann eben so gut sagen, jetzt sei es Nacht, als man hierauf Ja sagen kann. War denn etwa der nord­ deutsche Reichstag nicht eine Versammlung von Männern, die in jeder Beziehung würdig war, den norddeutschen Bund parlamentarisch zu vertreten? Freilich fürchte ich ein Argument, auf das der Herr Reichskanzler gestern großes Gewicht gelegt hat, nämlich die Abkürzung der Sessionen. Dieses Argument werden wir, der erste deutsche Reichstag, wenn wir so gründlich verhandeln wie dieser, nicht sehr stärken. Also die Erfahrung spricht nicht für den Antrag, nicht für eine Abänderung dieses GrundBestandtheils der deutschen Reichsverfassung. Soll ich, m. H., auch noch beweisen, daß es sich hier um einen Grund-Bestandtheil handelt? (Ruf: Nein!) Es genügt an zwei Bemerkungen. Einmal, eine und dieselbe Versammlung hat einen ganz verschiedenen Charakter, je nachdem sie Diäten bezieht oder nicht; die Versammlung, die ganz von denselben Personen gebildet ist, ist eine andere, wenn sie Diäten bezieht, als wenn sie dieselben nicht bezieht. Sodann wissen die Meisten von Ihnen sehr genau, daß die Diätenlosigkeit eine der Bedingungen des Zustandekommens des norddeutschen Bundes war. Und diese Bemerkung veranlaßt mich zu einer weiteren: ich halte es für meine oberste Pflicht, sowie ich das nicht erst jetzt, seit wir gesiegt haben, sondern seit langer Zeit, namentlich schon seit dem Mai 1866, gethan habe, diejenige Politik, die den norddeutschen Bund und die das deutsche Reich geschaffen hat, wenn es irgend mit meiner Ueberzeugung vereinbar ist, zu unterstützen. (Br.!) Dann, m. H., mögen Sie noch Eines erwägen. Die Regierung vor Allem hat die heilige Pflicht, an den Grund­ lagen der Verfassung des Staates nichts zu ändem, so lange ein dringendes Bedürfniß

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sich nicht herausgestellt hat. Ich habe gestern zu meiner Freude vernommen, dch beim Bundesrath Aussicht auf eine Aenderung in dem Punkte, über den wir hier sprechen, nicht vorhanden ist. Nach meiner Ueberzeugung erfüllt der Bundesrath damit mr eine hohe, eine heilige Pflicht. Nun, m. H., glauben Sie, daß es für das Ansehen, daß es für den Einfluß des deutschen Reichstages von Vortheil sein würde, wenn er fort rnd fort Anträge stellt, denen keine Folge gegeben wird? Ich, m. H., kann mich davon nicht überzeugen, ich, der ich dringend wünsche, daß der deutsche Reichstag in Ansehen stehe und an Ansehen sich mehre. — M. H., die Anschauungen, die ich Ihnen hür ent­ wickelt habe, die habe ich, ehe ich in dieses hohe Haus gewählt worden bin, in vielen Wählerversammlungen meinen Wählern entwickelt, und ich habe nicht nur nirgends Widerspruch, sondern überall die lebhafteste Zustimmung gefunden. (H.! h.!) Glauben Sie ja nicht, daß in Süddeutschland das Volk durchaus und überall für Diäten sei, — in meinem Wahlkreis entschieden nicht, und verschiedene meiner Landsleute können von ihren Wahlkreisen Ihnen dasselbe bezeugen. — Gestatten Sie mir noch Eines. Mein Wahlkreis umfaßt Stadt und Land, namentlich eine große Stadt, Ulm, Handel und Gewerbe, Ackerbau, Industrie und besonders eine sehr zahlreiche Fabrikbevölkerung, und ich sage Ihnen, daß namentlich auch bei den Arbeitern das, was ich ausgesprochen habe in Beziehung auf die Frage, die wir hier verhandeln, durchaus keinen Widerspruch gefunden hat. (H.! h.!) Allerdings gehört die württembergische Arbeiterbevölkerung ihrer großen Mehrzahl nach nicht zur europäischen Revolutionspartei, sondern sie zeichnet sich aus durch Bildung, Einsicht und durch Mäßigung. M. H., ich habe, als ich vor meinen Wählern sprach, das Versprechen gegeben, daß ich die Ansicht, die ich hier vor Ihnen ausspreche, auch bei der ersten Gelegenheit im deutschen Reichstag vertreten werde, und deshalb, vornehmlich, m. H., stehe ich hier auf dieser Stelle. Die Grund­ sätze, die ich Ihnen hier entwickelt habe, die werde ich auch in anderen vorkommenden Fällen und alle Zeit festhalten. (Br.!) Abg. Graf von Spee: M. H., der Herr Abg. Dr. Windthorst hat Ihnen gestern gesagt, in welchem Sinne er und ein großer Theil seiner politischen Freunde für die Be­ willigung von Diäten stimmen werde. Zu diesen seinen politischen Freunden rechne ich auch mich. Ich bin nicht, wie der Herr Bundeskanzler, Mitglied des preußischen Herren­ hauses und bin darum vielleicht weniger als andere Mitglieder auch dieses hohen Hauses berufen, für dasselbe einzutreten. Da aber das preußische Herrenhaus als solches hier abwesend ist, so glaube ich dennoch für dasselbe eintreten zu dürfen. Wenn der Herr Bundeskanzler gestern in ziemlich unumwundener Weise seine Geringschätzung der Be­ deutung (oh! oh!) des preußischen Herrenhauses erklärt hat — (SB.) — ich glaube, m. H., das sagen zu dürfen —, so glaube ich dagegen konstatiren zu dürfen, daß Seine Majestät der Kaiser noch kürzlich in Versailles es dem Präsidium jenes Hauses, als es zur Begrüßung Seiner Majestät in Versailles war, ausgesprochen hat, daß er es nicht vergessen werde, was das Herrenhaus geleistet habe, und welchen Dank er i)m schuldig sei. Ich glaube auch in der glücklichen Lage mich zu befinden, es nicht weiter begründen zu dürfen, daß auch Seine Excellenz der Herr Bundeskanzler als preußische: Minister­ präsident in der Zeit eines gewissen ziemlich lange andauernden Konfliktes tem. Herren­ hause zu Dank verpflichtet ist. Ich glaube das nicht beweisen zu dürfen; gmz Europa ist davon Zeuge. Wenn nun das Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Gegenwart mit dem Prinzipe der Zweckmäßigkeit in der Vergangenheit in eine so kontradiktcrische Kolli­ sion gerathen ist, so hoffe ich vielleicht auch nicht mit Unrecht denken zu kinnen, daß auch das Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Zukunft in eine ähnliche Kollsion treten werde mit dem Prinzip der Zweckmäßigkeit in der Gegenwart, und daß der Har Bundes­ kanzler alsdann geneigt sein wird, auf ein Zweikammer-System einzugeher. Darum stimme auch ich für die Bewilligung von Diäten. (H.) — Wer hoch steigt kann auch tief fallen, wenn er nicht den festen Boden des Rechtes unter seinen Füßen lat. Weder ein einzelner noch so hervorragender Mann, noch das Utilitätsprinzip wird jarmls diesen Boden ersetzen können; das Recht halte ich aber für gesicherter durch ein ZveikammerSystem, als durch eine Kammer, selbst dann, wenn auch alle deutschen Fitsten Wirk-

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liche Geheime Räthe mit dem Titel Excellenz in dem Bundesrathe werden sollten. Darum bitte ich Sie, m. H., zu stimmen für die Bewilligung von Diäten. Präsident des Bundeskanzler-Amts Staatsminister Delbrück: M. H., ich würde nicht das Wort ergreifen, wenn nicht der Herr Abgeordnete für Aachen in einer für mich in der That unbegreiflichen Weise die Aeußerung aufgefaßt und eben wiedergegeben hätte (h.!), welche der Herr Reichskanzler gestern hier an dieser Stelle gethan hat. (S. w.I) Ich glaube appelliren zu können an die überwiegende Majorität des Hauses, wenn ich es als vollkommen unrichtig bezeichne, daß der Herr Reichskanzler irgend ein Wort ge­ sagt hat, aus welchem sich eine Herabsetzung des Herrenhauses herleiten ließe. (Nachdem sich das Haus für Schluß erklärt hat, spricht noch der Antragsteller.) Abg. Schulze: M. H., die Gründe seitens der Antragsteller, weshalb sie so oft mit dem Anträge kommen, meine ich, sind allerdings zum größten Theil gewiß schon erschöpft. Aber wenn sie uns daraus einen Vorwurf machen, daß wir wieder und immer wieder kommen, so muß ich den geehrten Herren von unserm Standpunkte aus, die wir von der Richtigkeit unserer Anträge doch überzeugt sind, den Vorwurf machen: warum haben Sie sie früher nicht angenommen? Dann hätten wir nicht nöthig gehabt, sie wieder zu stellen. (H.) M. H., das ist also sehr natürlich; wir kommen mit be­ gründeten Anträgen, wenn wir überhaupt glauben, daß die Zeit dazu ist und die Mög­ lichkeit sie durchzusetzen. Und, m. H., dazu war doch gerade das erste deutsche Par­ lament die geeignete Zeit. Ferner hat man dem Anträge seitens des Herrn Bundes­ kanzlers und anderer Herren die Inopportunität entgegengehalten. Za, m. H., ich denke Zhnen schon durch die früheren Auslassungen des Herrn Bundeskanzlers selbst, die ich Ihnen mittheilte, und durch frühere Auslassungen sehr bedeutender Mitglieder dieses Hauses, die Sie Alle anerkennen werden, wie der Graf Schwerin und der verstorbene Abg. Twesten, dargethan zu haben, daß man mit diesem Einwande sehr bequem alle möglichen Dinge ad Calendas graecas vertagen kann. Nun, m. H., wir von dieser Seite (l.) sind eben nicht so furchtsamer Natur, daß wir entsetzliche Folgen von diesen inopportunen Anträgen, auch wenn sie angenommen werden sollten, befürchten, und dieser Einwurf wird uns deshalb nicht abhalten, mit diesen und anderen Anträgen her­ vorzutreten, wenn sie nach unserem Ermessen zur Entscheidung reif sind. Es sind sehr bedeutende neue Gründe für den Antrag vorgebracht; übrigens m. H., hat Niemand jemals wirksamer für den Antrag gesprochen, als gerade der Herr Bundeskanzler, wie ich seine Ausführungen auffasse, und ich erlaube mir sogleich darauf näher einzugehen. Es war der Punkt von kurzer Dauer der Parlamente, die durch die Diätenlosigkeit zu erzielen sei, und einige der Herren Vorredner haben sich bereits damit beschäftigt. Als Beispiele dafür wurden uns, wie Sie wissen, die Verhandlungen des preußischen Abgeordnetenhauses und die des Herrenhauses vorgeführt. Ja, darin sehe ich nun gerade eine ausdrückliche Empfehlung des ganzen Antrages auf Gewährung von Diäten, nenn Sie die Art und den Charakter der beiderseitigen Verhandlungen dieser Häuser vergleichen, was Niemand von uns hierhergezogen haben würde, wenn nicht von so einflußreicher Stelle dieser Vergleichungspunkt uns aufgedrängt worden wäre. Zu­ nächst liegt eine Verschiebung der Frage darin, und ich muß noch einmal darauf zurück­ kommen, denn sie geht durch die ganze Debatte. Ja, m. H., wenn eine Entschädigung für die parlamentarische Mühwaltung, eine Belohnung dafür irgendwie bei Entscheidung über den Antrag ins Gewicht fallen soll, daß man, von dem sittlichen Standpunkte der Mitglieder solcher Versammlungen absehend, allenfalls dahin kommen könnte, anzunehmen, sie könnten sich dadurch bestimmen lassen, die Session zu verlängern oder zu kürzen, soweit das in ihrer Macht liegt: so müßte diese Entschädigung doch von irgend einem finanziellen Belange sein. Aber den Diäten, wie sie im preußischen Abgeordnetenhause gezahlt werden, wird doch kaum Jemand im Stande sein auch nur exemplifikationsweise eine solche Wirkung beizulegen; das ist noch nicht einmal für den größten Theil der Mitglieder eine wirkliche Erstattung der von ihnen hier nothwendig aufzuwendenden baaren Arslagen für den Unterhalt, für den ganzen Aufenthalt in Berlin, geschweige denn für die großen Opfer, für die Entziehung von ihrer Berufs- und Erwerbsthätigkeit.

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Also, m. H., dieser Vergleich stimmt nicht, er trifft das Verhältniß gar nicht. Wenn Sie aber dennoch uns vor den Vergleich drängen, so können wir, die wir Diäten bean­ tragen, dies bestens acceptiren, und haben die Entscheidung des gesammten deutschen Publikums nicht zu scheuen. Die Frage stellt sich dann, wie sie aus diesen Deduktionen und Exemplifikationen hervorging, an unsere Wähler so: wollt ihr Verhandlungen haben mit Diäten wie im preußischen Abgeordnetenhause oder ohne Diäten wie im Herrenhause? (H.) Ich glaube vorauszusehen, wie die Antwort ausfallen würde. Und erwägen Sie doch weiter, daß es ja von den parlamentarischen Versammlungen in vieler Beziehung gar nicht abhängt, wie lange die Session dauern wird. Wie oft ist das preußische Abgeordnetenhaus in der Lage gewesen, daß, wenn man glaubte, die Session ginge zu Ende, uns noch Gesetze von dem größten Umfange in den Schluß der Session hinein gebracht worden sind, welche dieselbe sehr gegen unsere Wünsche ver­ längerten. Zm Herrenhause ist es nothwendig geworden, die Beschlußfähigkeit mehr und mehr auf eine sehr geringe Zahl von Mitgliedern herabzusetzen, weil die Vollzählig­ keit nicht einmal annähernd zu erreichen war. (H.! l.) Wenn man diese Dinge ein­ mal hier vorbringt und zur Erwägung in der Versammlung stellt, um über einen solchen Antrag sich zu entscheiden, so ist dies doch auch ein Moment, welches darthut, daß es wahrhaftig nicht im Interesse der Wähler des deutschen Parlaments liegt, solchen Chancen sich auszusetzen; daß ich selbst nicht glaube, daß sie eintreten werden — denn wir sind ja Alle vollzählig hier seit Jahren ohne Diäten —, gebe ich zu; dennoch muß man auf solche Konsequenzen Rücksicht nehmen, wenn man durch solche Vergleiche uns Motive für unsere Abstimmung zu geben sucht. Ich gehe weiter, indem ich die Debatte und die in derselben hervorgetretenen Haupt-Gesichtspunkte verfolge. Schon mehrere Abgeordnete haben sich damit beschäftigt und, wie ich glaube, mit Recht, daß die Wirkung der Diätenlosigkeit, die viele der geehrten Herren von ihr erwarten, absolut verfehlt ist, wenn man nämlich glaubt, dadurch so­ genannte gefährliche Parteien aus dem Hause auszuschließen. Die Herren Abg. Hölder u. A. haben schon nachgewiesen, daß dies nicht der Fall ist. Es ist dabei auf solche Parteien hingedeutet worden, die in früherer Zeit stärker im Hause vertreten waren als jetzt, weil man sie eben von gewisser Seite für gefährlich hält. Ich erlaube mir über den letzteren Umstand hier kein Urtheil, m. H., aber sehen Sie die letzten Wahlen ein­ mal an: dieselben Kandidaten jener Parteien sind auch jetzt wieder für die Wahl ausgetreten und haben nicht nach der Diätenlosigkeit gefragt. Sind dieselben demnach wegen ihrer Scheu vor der Diätenlosigkeit nicht im Hause? Nein, sie kandidirten trotz der Diätenlosigkeit, und sie sind doch nicht gewählt worden, und, wie ich glaube, gerade deshalb nicht, weil sie im Hause waren, und durch ihr Auftreten im Hause, durch die Debatte, ihren Wählern ihr ganzer Standpunkt klar geworden ist. So stehen die Dinge in dieser Hinsicht. Und wollen Sie denn, daß bedeutende Par­ teien, die immer die Mittel aufbringen werden, solche Vertreter hierherzusenden, wenn es diesen an eigenen Mitteln zur Durchführung eines solchen Mandats fehlt ~ wollen Sie solche Parteikandidaten mit Parteidiäten schließlich haben? Das wäre von Ihrem Standpunkte aus ganz gewiß gefährlicher, als wenn allgemeine Staatsdiäten be­ zahlt würden. Denn wer in solcher Weise gebunden ist an die Partei hinsichtlich der Existenzfrage, der möchte, wenn Sie einmal Gefährlichkeiten annehmen wollen, eine üblere Wirksamkeit entfalten, als wenn er damit an die Staatskasse gewiesen ist. — Die Gefahren des allgemeinen gleichen Wahlrechts können Sie nur beseitigen, wenn Sie der Voraussetzung des allgemeinen Wahlrechts gerecht werden. Eine möglichst weit gehende allgemeine politische Bildung im Volke ist die Voraussetzung des allgemeinen Wahlrechts. Stellen Sie sich nun in dieser Hinsicht bei Beurtheilung des Bildungs­ grades der hier betheiligten Wähler in allen Schichten auf welchen Standpunkt Sie wollen, wenigstens müssen Sie zugeben, im relativen Verhältniß zu anderen Kultur­ ländern stehen die Massen in Deutschland gewiß nicht auf einem niedrigeren, sondern auf einem höheren Bildungsgrade, und wenn in anderen Kulturländern mehr und mehr die Zuflucht genommen wird zum allgemeinen Wahlrecht als Träger der Volksvertretung,

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um den Ausgang aus sozialen und politischen Wirren aller Art zu finden, dann können Sie wahrlich in Deutschland dieses große Prinzip der Volksmündigkeit absolut nicht ausfchließen wollen, als nothwendiges Komplement der allgemeinen Wehrpflicht. — Eines Korrektivs gegen das allgemeine Wahlrecht, eines Gegengewichts bedarf es also nicht, sondern nur der Herbeiführung seiner Voraussetzung in der allgemeinen Bil­ dung. Wollen Sie aber ein Korrektiv gegen die Mängel in dieser Vorbedingung, wegen des vielleicht nicht in allen Kreisen gleichen und wünschenswerten Grades der politischen Bildung, den wir absolut nicht in Abrede stellen können, so möchte ich mir erlauben denen, die eines solchen zu bedürfen meinen, hier ein solches vorzuschlagen: es liegt recht nahe und hat sich bereits vielfach geltend gemacht in früheren, sowie bei den letzten Wahlen; es liegt in dem humanen Gebrauch des natürlichen und unleugbaren Ein­ flusses höherer Intelligenz und einer bedeutenden sozialen Stellung. Diejenigen, die in einer solchen bevorzugten Lage sind, werden, wenn sie einen humanen Gebrauch davon machen, das beste Korrektiv gegen die etwaigen unvermeidlichen Gefahrendes allgemeinen Wahlrechts gefunden haben. Der große Industrielle, der große Grundbesitzer, der durch Bildung und Ueberzeugungskraft bedeutende Mensch sind in den Wahlen wahrhaftig mit sehr wenigen Ausnahmen bei uns wohl noch immer durchgekommen, wenn sie die rechte Stellung genommen hatten. Aber allerdings das hat ihnen obgelegen: sie mußten thatsächliche Beweise gegeben haben, daß sie diese ihre günstige Lage nicht mißbrauchen, sondern sie im humansten Sinne zur Hebung von Wohlstand und Bildung der Massen gebrauchen. Dann hat es, was ihren Einfluß betrifft, gar nichts zu bedeuten. Die soziale Stellung des großen Grundbesitzers, des Großindustriellen, an deren Existenz sich hunderte und tausende von Existenzen wirthschaftlich anlehnen, wird immer einen be­ deutenden Einfluß haben; und wo nicht ein ganz falscher Gebrauch gemacht wird von den Männern, die diese thatsächlich begünstigte Stellung einnehmen, wo sie sich dem Volke nähern, wo sie persönlich hineintreten in die Kreise des Volkes, sich vertraut machen mit seinen Bedürfnissen, seinen berechtigten Forderungen, da brauchen sie gar nicht ängstlich zu sein, daß sie schließlich durchkommen. Nun aber, m. H., diesen ohnehin vorhandenen großen thatsächlichen Vorzug, der zum Theil — ich sage das sowohl für die höhere Bildung wie für den höheren Besitz — nicht auf eigenem Verdienst, sondern in Vermögen und Erziehung auf ererbten Mitteln beruht, dürfen Sie nicht durch Hemm­ nisse verstärken, welche die weniger günstig gestellten Klassen durch das Gesetz treffen. Sie bedürfen einer solchen gehässigen Maßregel nicht; Sie kommen immer durch, die sich in solcher Lage befinden, wenn Sie eben an der rechten Stelle den Appell an das Volk zu richten wissen, und wenn Sie durch Ihre ganze Haltung und Wirksamkeit dem Volke die Ueberzeugung geben, daß die Volksinteressen niemals mit den Sonderinteressen Ihrer Stellung in Konflikt gebracht werden, sondern daß in Ihrem Bewußtsein in den höchsten Zielen, die Sie sich setzen, das Volksinteresse, das allgemeine Wohl, mit Ihrem Sonderinteresse zusammenstimmt. Das ist allen Kreisen gleich ersprießlich, daß dem so sei; wäre es nicht so, käme unbedingt die Klasse als solche — im Klaffen-Wahlsystem jeder Art, in dem ständischen, in dem Steuerklassen-Wahlsystem — zum Ausdruck, dann würde die schroffe Klassenvertretung, die dann ohne Rücksicht und ohne die Grundlage der Vertretung der gemeinsamen Interessen Aller zum Ausdruck kommen könnte, die öffent­ lichen Verhältnisse in unserem Vaterlande am allerersten zum Bruche drängen. Denn was ich so oft in meiner Stellung und in meiner Wirksamkeit den Arbeitern, den wenigst begünstigten Klassen des Volkes, gesagt habe, das erlaube ich mir auch an dieser Stelle Ihnen, den in jeder Beziehung begünstigtsten Klassen, den durch Erziehung, durch Intelligenz, durch Besitz begünstigtsten Klassen zuzurufen: (mit gehobmer Stimme) eine Klasse der Gesellschaft, die ihre Sonderinteressen den allgemeinen Kulturinteressen entgegensetzt, sie wird von der Wucht dieser großen Interessen zermalmt am letzten Ende! — Nun, m. H., eine solche Ungerechtig­ keit liegt vor in der Diätenlosigkeit. Sagen Sie von der Wirksamkeit dieser Maßregel und halten Sie davon, was Sie wollen: — und wenn es nur der Schein eines Un­ rechts wäre, vermeiden Sie ihn in diesem ersten und letzten Grundrechte aller Bürger

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des Staates! Das einzige Recht, wo der gemeine Mann zur politischen Theilnahme, zu einem Worte in den Staatsangelegenheiten gelangt, die einzige Stelle, wo er heran­ tritt an die großen Interessen des Landes, das ist die Wahlurne, das Votum für seinen Abgeordneten. Vermeiden Sie da auch den Schein eines Unrechts! Zhre Stellung ist so bedeutend, so günstig, wenn Sie den rechten Gebrauch davon zu machen wissen, daß Sie nicht die thatsächlichen Hemmungen für jene Klassen hinzuzufügen brauchen, wodurch Sie ein Mißtrauen nicht blos gegen sich, nein, gegen die Wirksamkeit der ganzen Volks­ vertretung entschieden erwecken. (U. r.) Entsagen Sie dem, Sie bedürfen dessen nicht, m. H.! Wenn Sie sonst auf dem wirklichen Standpunkt einer Aristokratie, wie er in unserer Zeit allein denkbar ist, stehen, die ihren hohen Beruf nicht in höheren Rechten findet, sondern in der Erkenntniß höherer Pflichten gegen die Gesellschaft, die in ihrer bevorzugten Stellung liegen, so räumen Sie diesen Stein des Anstoßes, räumen Sie diesen Keim des Mißtrauens weg und stimmen Sie für Diäten! (Lebh. Br.) Das Haus geht sofort zur zweiten Berathung über. Es liegen drei Ab­ änderungsvorschläge vor: die motivirte Tagesordnung des Abg. Graf Bethusy; demnächst ein Antrag des Abg. Dr. Elben u. Gen.in § 2 des Gesetzvorschlages nach den Worten „die Mitglieder des Reichstages erhalten" einzuschalten: „von der nächsten Legislaturperiode ab"; endlich ein Abänderungsvorschlag des Abg. Schröder (Lippstadt) u. Gen.: hinter § 2 und vor der Schlußformel einzuschalten: „Vorstehendes Gesetz tritt erst in Wirksamkeit nach Ablauf der diesmaligen Legislaturperiode." Abg. Graf Bethusy-Huc: M. H., die principielle Behauptung der Herren Antragsteller, es läge in der Diätenlosigkeit eine Beschränkung des passiven Wahlrechts und dieselbe sei mit der allgemeinen geheimen Abstimmung principiell nicht zu ver­ einbaren, bestreite ich von vornherein. Ich habe Ihnen früher ausgeführt, daß politische Freiheit nur darin bestehen könne, daß nicht ex lege künstliche Schranken da geschaffen werden, wo die Natur- und wirtschaftlichen Gesetze dergleichen nicht errichtet haben. Der Begriff der politischen Freiheit kann aber nimmermehr dahin ausgedehnt werden, daß es die Pflicht der Staatsgesetzgebung sein soll, diejenigen Schranken Hinwegzuräumen, welche Natur- und wirthschaftliche Gesetze gemacht. 9imx ist, wenn wir die Pflicht eines Abgeordneten als die höchste Blüthe des Theilnahme-Rechts jedes Staatsbürgers an der Selbstregierung ansehen, wie ich es thue, der Besitz eines gewissen Grades von innerer intelligenter und wirtschaftlicher Unabhängigkeit eine nothwendig zum Personalstande

gehörige Vorbedingung. Wo dieselbe fehlt, verbietet das Gesetz nicht die Annahme des Mandats, schließt das Gesetz die Bewerber nicht von der Konkurrenz aus, sondern die Natur thut es, und es wird dem Gesetz nimmermehr gelingen, diese Schranke zu be­ seitigen. Der Drang der Staatsbeamten nach diesem hohen Hause ist ein von Natur begründeter. Sie müssen das Interesse haben, mit dem Centralpunkt des deutschen Reichs in Verbindung zu bleiben, sie müssen sich die Gelegenheit einer inneren und äußeren Fortentwickelung — ich betone das Eine neben dem Anderen — nicht ver­ schließen, sie sind meines Erachtens berechtigt zu beiden. Sie haben in ihren Wahl­ kreisen eben durch ihre amtliche Stellung eine größere Chance, gewählt zu werden, als anderen Privatleuten, mit Ausnahme der bevorzugten Stellungen, von denen der Herr Abg. Schulze soeben gesprochen hat, zur Seite steht, und es würde also namentlich bei der gegenwärtigen Bemessung der Höhe der Diäten, welche auch von dem Herrn Abg. Völk seinerseits als eine ausreichende bezeichnet worden ist, aus der Gewährung der Diäten die Gefahr hervorgehen, daß eine größere Anzahl von Beamten als bisher in diesem Hause sitzen. Für diese sind die Diäten ein Privilegium, welches dem Kreise ihre Wahl erleichtert und ihnen die Annahme der Wahl ermöglicht. — Nun frage ich, m. H., kann es wohl von Interesse sein, diejenigen Staatsbürger, deren Intelligenz in ihrem Amte der Gesammtheit schon zugeführt wird, in größerer Zahl hier vertreten zu sehen? Zwei Fälle würden die Folge einer Beamtenkammer sein, gleichviel, ob die Kammer aus Richtern oder aus Landräthen zusammengesetzt ist: entweder würde sie sich der Regierung unterordnen und sie würde — ich will nicht des harten Ausdrucks „servil" mich bedienen — sich der Negierung beugen, sie würde des nothwendigen Grades von

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Unabhängigkeit entbehren; oder diese Unabhängigkeit würde vorhanden sein — dann würde vor dem ganzen Lande ein Kampf zwischen den Beamten und der vorgesetzten Regierung sich abspinnen, eine Reibung sich erzeugen, welcher auch ein geordnetes Staats­ wesen auf die Länge nicht widerstehen kann. Ich halte aus diesem Grunde die Ge­ währung der Diäten in der That nicht für Vortheilhaft. Abg. Dernbürg: M. H.! Ich glaube, daß der Grund, daß es sich zur Zeit nicht empfiehlt, über den Antrag Schulze u. Gen. einen Beschluß zu fassen, nicht an­ gemessen zu erachten ist. Es wird in einem großen Theile unserer Bevölkerung die Verweigerung der Diäten als eine Art von Ausnahmegesetz betrachtet, und das ganze Odium, was auf einer Ausnahme-Gesetzgebung beruht, wirft sich auf diesen einen Punkt. M. H., wenn es jemals eine Zeit gegeben hat, wo man von einer solchen AusnahmeGesetzgebung, wie sie ja vielfach aufgefaßt wird, absehen und dasjenige einführen soll, was in Deutschland in den parlamentarischen Versammlungen bis jetzt gemeines Recht gewesen ist, so glaube ich, ist es gerade der gegenwärtige Zeitpunkt, in dem unser ganzes Volk sich in einer so außerordentlichen Weise bewährt hat, in welchem es mir gerade nicht angemessen zu sein scheint, zu sagen, gerade die jetzige Zeit sei nicht dazu angemessen. Es kommt mir, ich muß wohl sagen, als eine ganz sonderbare Art von Exekution vor, wenn gleichsam dadurch, daß man uns die Diäten entzieht, eine Art Aushungerungsverfahren bezweckt wird. M. H., ich glaube, daß man mit diesem Ver­ fahren — für das ich ein Analogon nur in dem englischen Geschworenengericht finde, wo man die Geschworenen so lange einsperrt, bis sie ein Votum gefunden haben — bei uns doch nicht weit kommt. Lassen wir daher solche Gründe, die auf ein solches Verfahren berechnet sind, bei Seite, denn es wäre offenbar die Spitze der Ungerechtigkeit, wenn Sie denjenigen, die nicht reden, sondern nur die Reden anhören, auch die Diäten entziehen, denn die sind doch wahrhaftig nicht schuld daran, wenn die Sitzungen länger dauern. (H.) Ich glaube, m. H., da von den Sozialdemokraten die Rede war — Viele von uns, und ich auch, wir haben uns bei den Wahlkämpfen Auge gegen Auge gestanden — da waren wir stark, wenn wir das Recht auf unserer Seite hatten, allein in dem Augenblicke sind wir schwach geworden, wenn uns eine soziale Ungerechtigkeit vorgehalten wurde, und als eine soziale Ungerechtigkeit muß es betrachtet werden, daß die Mitglieder dieses Hauses keine Diäten beziehen. Ich bitte Sie daher, auch von diesem Standpunkte dem Anträge der Herren Abg. Schulze u. Gen. beizustimmen. (Br.!) Der Abg. Günther (Sachsen), unterstützt von den Abg. vr. Schwarze u. A., hat folgende motivirte Tagesordnung , eingebracht: „Der Reichstag wolle beschließen: in Erwägung, daß es sich nicht empfiehlt, zur Zeit über eine Abänderung der Verfassung des deutschen Reichs Beschluß zu fassen, geht der Reichstag über den Antrag auf Erlaß eines Gesetzes, betreffend die Abänderung des Artikels 32 der Verfassung, zur Tagesordnung über." Abg. Schulze als Antragsteller bemerkt, daß er den beiden Amendements, die dahin gehen, daß die Ertheilung von Diäten oder die Wirksamkeit des Gesetzes erst vom Beginn der nächsten Legislaturperiode eintreten soll, sich anschließe. Die motivirte Tagesordnung des Grafen Bethusy-Huc wird mit 208 gegen 117 Stimmen, ebenso die des Abg. Günther (Schwarze) mit 175 gegen 152 Stimmen abgelehnt. Der Gesetzentwurf selbst wird mit 185 gegen 138 Stimmen angenommen.

NeichStags-Nepertorium I.

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Gesetzentwürfe.

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Nr. 8.

Gesetzentwurf, betreffend die Beschaffung weiterer Geldmittel zur Bestreitung der durch den Ärieg ueranlaßtrn außerordentlichen Ausgaben. 2Bir Wilhelm rc. rc. §. 1. Der Bundeskanzler wird ermächtigt, zur Bestreitung der durch den Krieg veranlaßten außerordentlichen Ausgaben des Norddeutschen Bundes über die durch die Gesetze vom 21. Zuli und 29. November 1870 (Bundesgesetzblatt S. 491 und 619) festgestellten Beträge von 120 und 100 Millionen Thalern hinaus weitere Geldmittel bis zur Hohe von 120 Millionen Thalern im Wege des Kredits flüssig zu machen und zu diesem Zweck in dem Nominalbeträge, wie er zur Beschaffung von 120 Millionen Thalern erforderlich sein wird, eine verzinsliche, nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 19. Juni 1868 (Bundesgesetzblatt S. 339) zu verwaltende Anleihe aufzunehmen und Schatzanweisungen auszugeben. §. 2. Die Umlaufszeit der Schatzanweisungen kann auf einen längeren Zeitraum als den eines Jahres festgesetzt, auch können denselben nach Anordnung des Bundeskanzlers besondere Zins­ scheine beigegeben werden. Die zur Ausgabe gelangenden Schuldverschreibungen und Schahanweisungen, sowie die zu­ gehörigen Zinskoupons können sämmtlich oder theilweise auf ausländische oder auch nach einem be­ stimmten Werthverhältniß gleichzeitig auf in- und ausländische Währungen, sowie im Auslande zahlbar gestellt werden. Die Festsetzung des Werthverhältnisses, sowie der näheren Modalitäten für Zahlungen im Auslande bleibt dem Bundeskanzler überlassen. Im Uebrigen finden auf die Anleihe und auf die Schatzanweisungen die Besümmungen des angezogenen Gesetzes vom 21. Juli 1870 (Bundesgesetzblatt S. 491) Anwendung.

Zn erster Berathung am 2 0. April 1871 wird die Vorlage ohne Debatte zur zweiten Berathung ins Plenum verwiesen.

Zweite Berathung am 22. April 1871.

Abg. Krüger (Hadersleben) stellt folgendes Amendement: „Der Reichstag wolle beschließen, dem Gesetz folgende Bestimmung beizufügen: Diejenigen Ländergebiete, denen das Recht der freien Willensäußerung über den Zu­ sammenhang mit den Deutschen gebührt, sind von der Verbindlichkeit für diese Anleihe ausgenommen." Nach kurzer Debatte wird der Entwurf in unveränderter Fassung angenom­ men, nachdem für den Antrag Krüger sich keine Stimme erhoben.

Dritte Berathung am 24. April 1871.

Bundeskanzler Fürst von Bismarck: Da ich bei der letzten Verhandlung über diese Frage nicht 'anwesend sein konnte, so erlaube ich mir heute, einige Ergänzungen zu den Motiven nachzuholen. Die verbündeten Regierungen durften bei Abschluß des Versailler Präliminarfriedens sich der Hoffnung hingeben, daß sowohl die Ausführung dieses Vertrages als auch die Ergänzung desselben durch einen definitiven Friedens­ vertrag wesentlichen Schwierigkeiten und Störungen nicht ausgesetzt sein würde. Sie glaubten deshalb, mit neuen finanziellen Forderungen in dieser Session nicht vor den Reichstag treten zu dürfen, indem sie zu hoffen berechtigt waren, daß sowohl die Zah­ lungen der französischen Regierung für die Verpflegung der deutschen Truppen in Frankreich regelmäßig, als auch die ersten Zahlungen auf die Kriegs-Entschädigungen so rechtzeitig erfolgen würden, daß in den deutschen Kassen ein Mangel nicht eintreten würde. — Wie ich äußerlich vernommen habe, waren auch kurz vor Ausbruch der Pariser Bewegung von Seiten der französischen Regierung Veranstaltungen getroffen, die ersten zwei Milliarden der Kriegs-Entschädigung in verhältnißmäßig kurzer Zeit zu zahlen und

Beschaffung weiterer Geldmittel re.

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dadurch die bedeutende Verminderung der Okkupation herbeizuführen, welche von den ersten Zahlungen abhängig gemacht war, wenn auch, wie ich beiläufig bemerke, um einem vielverbreiteten Mißverständniß zu begegnen, die bloße Zahlung einer halben Milliarde von Seiten Frankreichs noch gar keine Räumung, auch nicht die der Forts vor Paris, nach sich ziehen würde; (h.! h.!) es gehört dazu noch eine andere Vorbedingung, nämlich der definitive Friedensschluß, der vorher erfolgt sein muß. Zch erlaube mir, auf den Artikel darüber — da ich auch in öffentlichen Blättern vielfach Mißverständnisse darüber gefunden habe — ausdrücklich aufmerksam zu machen. Es ist im Artikel 3 das zweite Alinea: L’evacuation des departements situes entre la rive droite de la Seine et la frontiere de l’Est par les troupes allemandes s’operera graduellement apres la ratification du traite de paix definitif et le paiement du premier demi-milliard; indessen der Druck, der in dieser Bestimmung auf einen baldigen Abschluß des defini­ tiven Friedens liegen konnte, erweist sich bisher als nicht wesentlich wirksam. Zch kann nicht sagen, daß die Verhandlungen in Brüssel den raschen Fortgang nehmen, den ich von ihnen unter diesen Umständen erwartet hätte; ich kann mich im Gegentheil dem Eindrücke nicht versagen, als ob die französische Regierung sich der Hoffnung hingäbe, zu einer späteren Zeit, wo sie mehr erstarkt sein würde, andere Bedingungen als jetzt zu erlangen. (H., h.!) Auf Versuche, die Bedingungen des Präliminarfriedens abzu­ schwächen, würden wir uns in keiner Weise einlassen, nach welcher Richtung dieselben auch versucht werden möchten, (lebh. Br.) sei es im territorialen, sei es im finanziellen Theile der Abmachungen. Eine andere Gefahr, die der ruhigen Entwickelung der Verhältnisse drohen konnte, bestand in der Entlassung einer so großen Zahl von Gefangenen, wie die es war, welche wir hier versammelt hatten. Als Bürgschaft gegen die Gefahr, die sich aus einer über­ mäßigen Vergrößerung der französischen Armee durch Verbindung der während des Win­ ters zur Armee einberufenen Elemente und der wieder entlassenen Kriegsgefangenen er­ geben konnte, war von unserer Seite zuerst vorgeschlagen worden, die sämmtlichen Kriegs­ gefangenen sollten — die Offiziere auf ihr Ehrenwort, die übrigen auf das Wort der französischen Regierung — verpflichtet sein, bis zum definitiven Friedensschluß, respektive bis zu dessen Ausführung, nicht in der französischen Armee Dienste zu nehmen. Diese Bedingung wurde von den französischen Unterhändlern abgelehnt, indem sie dieselbe einer­ seits verletzend für die Armee fanden und andererseits auch wohl schon damals glaubten, dieser Armee im Innern zu bedürfen und sie deshalb vollzählig erhalten zu müssen. Es wurde deshalb von den französischen Unterhändlern, und namentlich von Herrn Thiers, als Ersatz für unsere Forderungen und als Garantie gegen die Gefahren, die wir be­ sorgten, der Vorschlag gemacht, daß die französische Armee bis zur Ratifikation des definitiven Friedens hinter der Loire internirt bleiben sollte, so daß zwischen der Seine und Loire ein breiter neutraler Strich zwischen beiden Heeren gewesen wäre, der nicht überschritten werden durfte, so daß die Überschreitung der Loire durch einen irgendwie

beträchtlichen französischen Truppentheil sofort das Signal zur Erneuerung des Kriges, das heißt die Ankündigung der Absicht seitens der französischen Regierung, den Krieg zu erneuern, sein würde. Wegen der besonderen Verhältnisse von Paris wurde eine Ausnahme stipulirt dahin, daß 40,000 Mann französische Truppen in Paris zur Auf­ rechterhaltung der Ordnung bleiben konnten. Die Existenz einer französischen Armee zwischen der Seine und Loire, also bei Versailles, ist an sich nach dem Präliminar­ frieden nicht zulässig. Da indessen, nachdem die Unruhen in Paris ausgebrochen waren und die französischen Truppen sich nicht stark und zuverlässig genug erwiesen hatten, sie zu unterdrücken, die Regierung, mit der wir den Präliminarfrieden geschlossen hatten, zur Ausführung desselben nur im Stande blieb, wenn ihr gestattet wurde, sich wieder in den Besitz von Paris zu setzen, und da sie dazu einer Truppenmacht zwischen Seine und Loire bedurfte und ohne Zweifel einer bedeutenderen als 40,000 Mann, so haben wir gegen die Abweichung von den Stipulationen, die in einer Truppenansammlung bei Versailles liegt, keinen Einspruch erhoben. Aber es ist selbstverständlich, daß in Folge des Verzichtes auf die Garantien, auf die Ausführung der Gegenbedingung auch unsere 22*

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Verpflichtung zur Auslieferung der Gefangenen einstweilen erlischt, d. h. das Maß ihrer Erfüllung von unserer Erwägung der Verhältnisse abhängig bleibt, und unsere Ver­ pflichtung voll erst dann wieder eintritt, wenn die französische Regierung ihrerseits in der Lage sein wird, die Gegenstipulation, zwischen der Seine und Loire keine Armee zu halten, zu erfüllen. Wir hatten von Hause aus, wie es unserer Verpflichtung ent­ sprach, mit der Freilassung der Gefangenen im breitesten Maßstabe den Anfang gemacht; ich glaube, daß ungefähr zwischen einem Drittel und der Hälfte derjenigen, welche in unserer Gewalt waren, außer denjenigen, die wir nach Elsaß und Lothringen entlassen haben, bereits sich in Freiheit befinden werden. Diese Umstände machen aber nun leider einen weit erheblicheren finanziellen Aufwand für uns nothwendig, als wir bei Abschluß der Friedenspäliminarien voraussehen konnten. Ich spreche nicht von der länger dauernden Verpflegung von immerhin 2- bis 300,000 Gefangenen, sondern der zwin­ gende Grund für die stärkere Ausgabe liegt in den inneren Verhältnissen von Frankreich. Wir sind durch die dort obwaltenden Verhältnisse genöthigt, eine sehr viel erheblichere Truppenmacht noch für die Dauer der Unruhen dort stehen zu lassen, als es damals bei Abschließung des Präliminarfriedens unsere Absicht sein konnte. Man schätzt die Armee der Regierung bei Versailles auf über 100,000 Mann, ich weiß nicht, zu welchem Prozent aus Linientruppen resp, aus Nationalgarden bestehend. Wenn die Negierung mit dieser Armee die Aufgabe, die sie sich gestellt hat, durchführt, Jo ver­ trauen wir auf ihre Loyalität in Ausführung des Friedens; wenn ihr aber die Auf­ gabe mißlingt, so können wir unmöglich vorher übersehen, welche Agglomerationen von Truppen, und unter welcher Führung, sich in Frankreich aus den dort auf beiden Seiten vorhandenen Bestandtheilen bilden können. Wir müssen also, wenn wir ganz sicher gehen wollen — und nach so großen Opfern ist es Pflicht der Regierung, ganz sicher zu gehen — so stark bleiben, daß wir jeder Eventualität, jeder Kombination von Streitkräften in unserer Stellung gewachsen sind. Das bedingt erhebliche finanzielle Opfer, um so größer, als die französische Regierung sich bisher nicht in der Lage ge­ sehen hat, auch nur die Zahlungen zu leisten, die für die Unterhaltung der Truppen als Ersatz für unseren Verzicht auf Naturalrequisitionen stipulirt wurden, nämlich 36 Millionen und einige Franks im Monat; daneben läuft die Verzinsung eines erheb­ lichen Theils der Kriegskontributionen. Die Fälligkeitstermine im Monat März und April sind nicht eingehalten worden; aber es ist uns die Zusage gegeben, daß am 25. d. Mts., also ich glaube, morgen, alle bisher ausgelaufenen Rückstände bezahlt werden sollten, und daß am 1. Mai der dann fällige Termin regelmäßig gezahlt werden würde. Wir sind überzeugt, daß die französische Negierung es zahlen wird, wenn sie in der Lage ist, (H.) obwohl mir schwer begreiflich ist, wie sie es für diese kleine Summe nicht sein könnte, da wir das Geld meistentheils in Frankreich selbst ausgeben, und daher nicht daraus bestehen, es in Metall zu haben, sondern mit dem Erzeugniß der alle Zeit bereitwilligen Banknoten-Presse vorlieb nehmen. (H.) Aber wenn dennoch die Regierung am 25. nicht im Stande sein sollte, ihre Zusage zu erfüllen, so würde das für uns und für das gegenseitige Verträgniß zwischen Truppen und Einwohnern so sehr bedauerliche Verhältniß wieder eintreten, daß wir zu Requisitionen von Naturalien schreiten müßten, da die Vorschüsse, die wir unserseits zu diesem Behufe der den Franzosen obliegenden Verpflegung leisten können, doch ihre Grenzen haben. — Es wäre ja eine Möglichkeit für uns, die uns von Hause aus nahe getreten ist und die wir sorgfältig erwogen haben, dem jetzigen Zustande in Frankreich durch Eingreifen von unserer Seite ein Ende zu machen; ich habe mich indessen nicht entschließen können. Seiner Majestät zu diesem Mittel zu rathen, (Br.!) ich muß befürchten, daß eine un­ erbetene Einmischung in diese Verhältnisse alle Theile gegen uns, ich will nicht sagen einigen, aber doch einander nähern würde; man würde nach französischer Art rasch bereit sein, alle Uebel der Situation aus die Einmischung des Auslandes zu schieben (s. r.!) und sich gegenseitig mit der Betheuerung: nous sommes Frantjais umarmen, oder, wenn das Wort zu weit geht, sich wesentlich einander näher rücken auf unsere Kosten, und außerdem möchte ich ungerne, daß wir von dem Programm, welches Seine Majestät

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der Kaiser aufgestellt hat und nach dem wir zu handeln gedenken, von dem Programm der Nichteinmischung in die Angelegenheiten anderer Völker uns entfernen, (h.! h.!) selbst in einem Falle, wo die Versuchung dazu uns so nahe gelegt ist, und wo unser eigenes finanzielles Interesse so sehr dazu zu drängen scheint. (Br.!) Ob es wirklich damit gewahrt werden würde, wenn wir uns in die Sache einmischen und uns dadurch der Gefahr aussetzen, daß uns die moralische Verantwortlichkeit für die Regelung der Zukunft Frankreichs zufallen könnte, das lasse ich dahin gestellt sein. Es kann sein, daß es uns gelänge, durch eine solche Einmischung die von uns anerkannte Regierung zu befestigen; es könnte aber auch sein, daß die Regierung entweder, nachdem sie Gegen­ stand fremder Unterstützung geworden ist, ihre Lage unhaltbar oder doch so unangenehm fände, daß sie den willkommenen Vorwand ergriffe, sich zurückzuziehen und sich der Verantwortlichkeit zu entlasten, und dann würde es unsere Aufgabe sein, zunächst wieder eine neue Spitze von Frankreich entweder zu machen oder zu finden. (H.) — Ich bin daher der Meinung und habe bisher gefunden, daß die öffentliche Meinung und, wie ich glaube, die Majorität dieser Versammlung in dieser schwierigen Berechnung einer theils zu­ künftigen, theils auch in ihrer Gegenwart für uns nicht vollkommen durchsichtigen Lage, daß sie in dieser Lage findet, daß die Regierung in ihrer bisherigen Enthaltung das Richtige getroffen hat. (Br.!) Die Zusage einer Enthaltung um jeden Preis zu geben, halte ich aber nicht für indizirt; es würde das unter Umständen eine Aufmunterung, eine Zusage der Straflosigkeit, ein Verzicht sein können, während wir jedenfalls das Recht und die Pflicht haben, uns vorzubehalten, daß wir da, wo wir unsere eigenen Zntereffen und Rechte verletzt oder gefährdet finden, nicht behufs Einmischung in fremde Angelegenheiten, sondern behufs der Vertheidigung der eigenen, eingreisen. (Br.!) Abg. Bebel: M. H., die Erklärung, die wir so eben aus dem Munde des Herrn Reichskanzlers vernommen haben, hat unzweifelhaft Sie auf allen Seiten dieses Hauses im höchsten Grade überrascht, (Ruf: Nein! nein!) — mich allerdings gar nicht, und ich, m. H., habe die feste Ueberzeugung, daß, wenn der Herr Reichskanzler mit seiner Politik nicht in einer großen Verlegenheit wäre, er diese Erklärung hier nicht abgegeben haben würde. (H.) Mir ist durch diese Erklärung mein Standpunkt, den ich allerdings auch ohne diese Erklärung heute Gelegenheit genommen haben würde, gegenüber dieser neuen Anleihe von 120 Millionen darzulegen — mir ist, sage ich, dieser mein Standpunkt außerordentlich erleichtert worden, denn Sie werden finden, indem ich mir erlauben werde in Kurzem die Ereignisse zu rekapituliren und unsere Stellung zu denselben zu charakterisiren, daß wir genau das vorausgesehen und voraus­ gesagt haben, was jetzt wirklich eingetroffen ist. Und, m. H., meines Erachtens ist es gerade keine große Staatsmännischkeit, wie von gegentheiliger Seite behauptet wird, wenn man die Ereignisse nicht vorauszusehen vermocht hat, die jetzt eingetreten sind, die Deutschland allerdings in eine höchst, höchst unangenehme Lage gebracht haben. Ich halte zunächst für nothwendig, hier noch ausdrücklich auf diejenige Stellung aufmerksam zu machen, die wir bei Ausbruch des Krieges gegenüber eben dieser Kriegsfrage ein­ genommen haben, und zwar vorzugsweise um deswillen, weil unzweifelhaft sehr viele Mitglieder in diesem Hause anwesend sind, denen unsere damalige Stellung in Folge der Erörterungen, die in der Presse gegen uns gepflogen sind, nicht ganz klar ist. M. H., als der Krieg im Juli v. I. ausbrach, da war ja bei uns nicht der mindeste Zweifel, und wir haben es mit keinem Worte bestritten, daß der Kaiser Napoleon diesen Krieg in höchst brutaler Weise provozirt hatte. Aber wir sagten uns, daß wir von unserem sozial-republikanischen Standpunkte aus nicht in der Lage seien, unsere Zustimmung zu einer Politik zu geben, die nach unserer Auffassung wesentlich die Ur­ sache zu jenem brutalen Auftreten Bonapartes gewesen ist. Wir sahen uns einer Sache gegenüber, wo wir uns einfach neutral zu verhalten hatten, wo wir weder für noch gegen Partei zu ergreifen hatten, (Br. u. H.) und wir haben uns der Abstimmung über die 120 Millionen-Anleihe aus diesem Grunde enthalten. Gleichwohl, m. H., muß ich Ihnen ganz offen gestehen, daß, als wenige Wochen danach das französische Kaiserreich mit wenigen mächtigen Schlägen zu Grunde gerichtet war, wir uns recht herzlich darüber

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gefreut haben, und zwar deswegen, weil wir uns sagen mußten, daß mit der Ver­ nichtung des Kaiserreichs in Frankreich die Dinge dort und auch in den Nachbarländern, ja vielleicht in ganz Europa, eine wesentlich andere Wendung einnehmen würden. Dies war der Grund! Als nun, m. H., in Paris am 4. September 1870 die kaiserliche Regierung gestürzt, das betreffende Ministerium aus dem Lande gejagt und die republikanische Regierung konstituirt wurde, da stellten wir unsererseits in der Presse wie auch einige Monate später im Reichstage die Forderung auf, daß man unter Ver­ zicht auf die Annexion sich in einen Frieden mit der französischen Republik einlassen möchte, natürlich und selbstverständlich nur unter der Bedingung, daß die Kriegskosten ersetzt, die nöthige Entschädigung in vollem Maße gewährt würde, auch die Festungen geschleift würden, und endlich unter der Bedingung, welche uns sehr angenehm gewesen sein würde, daß das stehende Heer in Frankreich abgeschafft würde. (H.) M. H., diese Bedingungen sind damals im Wesentlichen auch von Jules Favre, dem Unterhändler der französischen Republik, zugestanden worden, und allein die Forderung der Annexion von Elsaß und Deutsch-Lothringen war es, in Folge deren die damaligen Friedens­ verhandlungen sich zerschlugen und der Krieg aufs Neue fortgesetzt wurde. M. H., ich behaupte nun, daß die Friedensbedingungen, die damals Deutschland allerdings mit Verzicht auf die Annexion hätte bekommen können, ungleich günstiger waren wie die­ jenigen, die es nach einem weiteren sechsmonatlichen Kriege zu Anfang März im Friedensvertrage zugestanden erhalten hat. Ich behaupte, m. H., daß, wenn Deutschland damals wirklich Frieden geschlossen hätte, seine Situation eine ungleich bessere, nach jeder Seite hin günstigere und die Zukunft eine ruhigere gerade für Sie und die Re­ gierung gewesen wäre. Denn, m. H., es läßt sich nicht leugnen, daß der großartige Eindruck, den die deutschen Siege in jenen wenigen ersten Wochen gegen das franzö­ sische Kaiserreich in der ganzen zivilisirten Welt hervorgerufen haben, in seiner moralischen Wirkung wesentlich dadurch abgeschwächt wurde, daß nunmehr, nachdem das militärische Frankreich am Boden lag, Deutschland sich genöthigt sah, mit der französischen Republik, die nach der damaligen öffentlichen Meinung in Deutschland gar nicht im Stande war den Krieg fortzuführen, noch volle sechs Monate lang den Krieg fortzuführen, ehe es überhaupt den Friedensschluß herbeiführen konnte. M. H., Sie werden mir Alle zu­ geben müssen, daß das im höchsten Grade überraschend und durchaus nicht voraus­ zusehen war. — Nun, m. H., nehmen wir noch in Betracht die riesigen Opfer, die gerade innerhalb dieser letzten sechs Monate der Kriegführung Deutschland hat bringen müssen, die Opfer von Menschenleben in diesen Dutzenden von Schlachten, hunderten von Gefechten und Scharmützeln bei den verschiedenen Belagerungen, bei der äußersten Ungunst der Witterung, sowohl im Herbst als den ganzen Winter hindurch, bedenken Sie, was an Menschenleben zu Grunde gegangen ist, was sonst an Opfern gebracht ist, wie für die Hinterbliebenen und die zurückgebliebenen Familien gesorgt werden mußte, wie die Geschäfte darnieder lagen und wie Millionen und Millionen dem nationalen Wohlstand entzogen worden sind, so werden Sie zugeben, daß die 5 Milliarden, die schließlich vielleicht noch nicht einmal bezahlt werden, noch viel zu gering veranschlagt sind gegenüber den 2 Milliarden, die Sie im September wirklich hätten bekommen können, und, m. H., der große Unterschied zwischen heute und damals besteht darin, daß Sie damals die 2 Milliarden bestimmt hätten bekommen können, während heute die 5 Milliarden sehr zweifelhaft sind. Allerdings wird man sagen, wir haben dafür auf der anderen Seite ein gewisses Aequivalent in der Annexion von Elsaß und Lothringen. M. H., ich von meinem Standpunkt bestreite entschieden, daß dies ein wirkliches Aequivalent ist; die Opfer, welche der sechsmonatliche Krieg seit September bis März gefordert hat, wiegen die Vortheile der Annexion von Elsaß und Lothringen meines Erachtens nicht auf, denn sie sind geradezu unersetzlich. Aber ganz davon ab­ gesehen, daß ich vom prinzipiellen Standpunkte aus entschieden gegen eine Annexion bin, wo die Bevölkerung selbst nicht mit der Annexion einverstanden ist, muß ich aus der andern Seite sagen, daß ich gar nichts dagegen haben würde, wenn man mir die Ueberzeugung beibringen könnte, daß die Bevölkerung von Elsaß und Lothringen wirklich

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deutsch sein wollte. Ganz abgesehen von diesen Gründen sind es wesentlich noch politische, die meiner Ansicht nach in Zukunft den Standpunkt Deutschlands ganz außer­ ordentlich erschweren. Mögen die Ereignisse in der nächsten Zukunft eine Wendung nehmen, welche sie wollen, mag eine Regierung in Frankreich an die Spitze kommen, welche es auch sei; das Eine ist unzweifelhaft, daß jede Regierung in Frankreich stets darauf wird sehen und denken müssen, die Annexion von Elsaß und Lothringen rück­ gängig zu machen, und, m. H., Sie haben keine Garantie, daß bei künftigen europäischen Verwicklungen Sie in der Lage sind, so selbstständig und allein den Streitpunkt mit Frankreich auszumachen, und daß er so zu seinen Ungunsten ausfallen müsse, wie es jetzt der Fall ist. M. H., ich habe die Ueberzeugung, daß die wohlwollende Neutralität, welche die russische Regierung vorzugsweise in diesem Kriege Deutschland gegenüber an den Tag gelegt hat, in etwas ganz Anderem seinen Grund hat, als in dem bloßen Wohlwollen. (S. w.!) Ich habe die Ueberzeugung, daß ganz bestimmte Versprechungen und Abmachungen zwischen Preußen und Rußland vorhanden sind, und ich bezweifle, daß die russische Regierung etwa sich in ähnlicher Weise über den Löffel wird barbiren lassen, wie dies seiner Zeit bei Napoleon durch den Herrn Reichskanzler geschehen ist. (Stürmische H.) Auf sogenannte „dilatorische" Verhandlungen wird sich künftig die russische Regierung auf keinen Fall einlassen und sowohl die russische, wie die französische Regierung, besonders die letztere, wird die Gelegenheit künftig besser wahrnehmen, wo sie mit mehr Aussicht auf Erfolg die Eroberungen Deutschlands rückgängig machen kann. — Zch glaube also nachgewiesen zu haben, daß auf der einen Seite politische Gefahren aus der Annexion von Elsaß und Lothringen erwachsen, wir werden aber auch auf der andern Seite schwere materielle Nachtheile aus derselben ziehen. Zunächst wird Niemand bestreiten können, daß die Hoffnung, welche das deutsche Volk auf eine wesent­ liche Verminderung des stehenden Heeres gesetzt hat, durch die Annexion von Elsaß und Lothringen trotz der Niederwerfung Frankreichs vollständig illusorisch ist. Sie wissen, m. H., daß seit Zähren, wenn im norddeutschen Reichstag von irgend einer Seite des Hauses die Verminderung des Militäretats besprochen wurde — was wurde uns da geantwortet? wir befinden uns in einer kritischen Lage, wir können nicht wissen, ob nicht über kurz oder lang der Erbfeind Deutschlands uns den Krieg erklärt, wir müssen also gerüstet sein. Nun, m. H., der Erbfeind Deutschlands ist nach Ihrer Ansicht vollständig zu Grunde gerichtet, und doch ist unsere Lage dieselbe geblieben und wird sich noch ver­ schlimmern. Die' Okkupirung und Niederhaltung dieser widerspenstigen Bevölkerung von Elsaß und Lothringen wird eine große Anzahl Truppen nothwendig machen, und so wird Deutschland im Laufe langer Zahre, wenn nicht andere Verhältnisse eintreten, die die Sachlage wesentlich ändern, in die Lage kommen, ein so und so viel Millionen höheres Militärbudget bezahlen zu müssen, als es bisher bezahlt hat, und das Alles trotz der Niederwerfung Frankreichs, von der man sich so viel versprochen hatte. Und nun, m. H., setze ich den Fall, daß der Aufstand, der gegenwärtig in Paris aus­ gebrochen ist, und der ja auch nach der Ansicht des Herrn Reichskanzlers wesentlich dazu beigetragen hat, die gegenwärtige französische Regierung lahm zu legen, es ihr unmöglich zu machen, diejenigen Zugeständnisse, die sie in dem Friedensvertrage gemacht hat, auszuführen — ich sage, ich setze den Fall, daß dieser Aufstand für die gegen­ wärtige französische Regierung in glücklicher Weise seine Erledigung findet, obgleich ich das vorläufig bezweifle, — m. H., wird dann die Sache für Deutschland eine wesentlich andere sein? Auch das bestreite ich ganz entschieden. Zunächst wird bei der Ent­ wicklung der Gegensätze innerhalb der Gesellschaft, die in Frankreich thatsächlich im höchsten Grade existiren, bei den Gegensätzen zwischen. Bourgeoisie und Proletariat, welches letztere seit den Junitagen des Jahres 1848 sich unendlich entwickelt hat, eine eigentlich bürgerlich-republikanische Regierung, so zu sagen die blaue Republik, absolut unmöglich sein. Das ist meine feste Ueberzeugung, m. H., vorausgesetzt, daß nicht die rothe Republik die blaue verdrängt. Frankreich wird also möglicher Weise in die Lage kommen — immer vorausgesetzt, daß die jetzige Thierssche Regierung schließlich siegt — daß entweder ein Orleans oder der vor 6 Monaten erst aus Frankreich fortgejagte ge-

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krönte Schuft Louis Bonaparte wieder auf den Thron kommt. (Unr.) M. H., das ist ein Ausdruck, wie früher in der deutschen Presse weit schlimmere gefallen sind, sowohl in der liberalen, wie in der officiösen. Was wird dann die Folge sein? die Militär­ diktatur. Ein anderes System ist in Frankreich nicht möglich. Die großen Städte werden Jahre lang in Belagerungszustand erklärt werden müssen. M. H., sind das die Mittel und Wege, um den gesunkenen Wohlstand Frankreichs zu heben? sind das etwa die Mittel, den gesunkenen Kredit zu heben? sind das Zustände, welche Frankreich in die Lage setzen werden, seinen Verpflichtungen in Bezug auf die 5 Milliarden leichter nachzukommen? Ganz entschieden nicht. So, m. H., werden Sie in die Lage kommen, diese Okkupation, die jetzt sowohl für Frankreich wie für Deutschland eine so ungeheure Last ist, in alle Ewigkeit aufrecht zu erhalten, und es mag die französische Regierung noch so sehr veranlaßt sein oder genöthigt werden können, sei es, daß sie freiwillig die Unterhaltungskosten für die deutsche Armee bezahlt, oder sei es, daß auf dem Wege, den der Herr Reichskanzler für die nächsten Tage, falls die französische Regierung sich nicht anders besinnt, in Aussicht gestellt hat, auf dem Wege der Requisition die Ver­ pflegung bewirkt wird — in dem einen wie dem anderen Fall bleibt sicher, daß durch alle derartigen Mittel die Aussicht nicht gerade gestärkt wird, die 5 Milliarden zu be­ kommen. Denn je länger die Okkupationstruppen in Frankreich bleiben und je größer ihre Zahl ist, um so rascher wird auch der Ruin des Landes vollzogen werden. Und was haben Sie in Aussicht? Nicht allein, daß das hier in Deutschland eine noth­ wendige Rückwirkung übt; das ist ganz selbstverständlich, denn Deutschland kann sich nicht mit einer chinesischen Mauer von Frankreich abschließen, wie blödsinnige Leute wollen, und mit Frankreich keinen Verkehr mehr haben; dazu sind die Interessen der Völker zu solidarisch, als daß man sich gegen ein Kulturvolk ersten Ranges, das Frankreich doch immer ist und bleiben wird trotz seiner Niederlagen, abschließen kann. Also die Lage der Dinge in Frankreich wird nothwendiger Weise von eminenter Be­ deutung und Rückwirkung auf die Lage der Dinge in Deutschland sein, Geschäft, Handel, Verkehr wird unter diesen Verhältnissen auch in Deutschland leiden, wir werden mit jedem Monat der Okkupation enorme Verluste am National-Wohlstand haben, und auf der anderen Seite werden wir, d. h. diejenigen, welche Söhne und Brüder in den okkupirten Provinzen haben, gezwungen sein — wir sehen es ja an den zahlreichen Briefen, die Tag für Tag von dort kommen, und die sich alle bitter über die Ver­ pflegung beschweren — monatlich Millionen und Millionen an die eigenen Truppen nach Frankreich hinzuschicken, damit diese dort überhaupt auf eine menschliche Weise existiren können. Das, m.,H., sind die Aussichten, das sind die Folgen einer Politik, die meines Erachtens und meiner Ueberzeugung nach es nicht verstanden hat, zur rechten Zeit sich zu mäßigen. Meines Erachtens mußte der Reichskanzler, wenn er wirklich der weitsichtige Staatsmann ist, der er in Ihren Augen sein soll, (H.) einen derartigen Gang der Dinge wenigstens ziemlich voraussehen. Bei den Gewaltmitteln, womit sich neunzehn Jahre lang das französische Kaiserreich aufrecht erhalten hat, war es voraus­ zusehen, daß die soeial-demokratisch-revolutionäre Partei die erste Gelegenheit, sei es auf dem Wege einer inneren Revolution, sei es auf eine äußere Veranlassung hin, ergreifen würde, sich ans Ruder zu drängen. — Ich erinnere an die Ereignisse vom 4. September in Paris. Jules Favre und Konsorten, die ja bei jeder Gelegenheit dem Kaiserreich gegenüber ihre republikanische Gesinnung vertraten, waren aus einmal sehr nüchtern und schüchtern, als das Pariser Volk, die Pariser Arbeiter am 4. September in den gesetz­ gebenden Körper drangen und die ganze hohe Versammlung auseinander jagten. Sie hatten gar keine Lust, die Erbschaft Napoleons anzutreten und nur die Furcht, daß die revolutionäre Partei sich selbst an die Spitze stellen würde, veranlaßte Jules Favre und Genossen, das Ruder zu ergreifen. Sie haben ihre Aufgaben in sehr schlechter Weise erfüllt; es sind viele Thatsachen bekannt, daß sie gerade bei der Verproviantirung und Vertheidigung von Paris viele Fehler sich haben zu Schulden kommen lassen. Nun, m. H., Jules Favre und Konsorten hatten ein sehr richtiges Gefühl, wenn auch kein klares Bewußtsein, so doch ein instinktives Gefühl, sie hatten die Junischlacht vom

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Jahre 1848-mitgemacht, sie wußten wie die Dinge standen, sie wußten, daß die Lage der Bourgeoisie in Frankreich und die Stellung zur socialistischen Partei eine noch weit ungünstigere war, daß, sobald nur erst Ruhe und Frieden wäre, die socialistische Partei sich des Ruders bemächtigen würde, und m. H., die Jules Favresche Partei würde damals im September mit dem größten Vergnügen auf Friedensbedingungen eingegangen sein, wenn nicht die Annexion der Stein des Anstoßes war. Das konnten und durften sie nicht bewilligen, weil die Bewilligung der Annexion ihren Sturz in derselben Minute zur Folge gehabt hätte. Also, m. H., ich komme zu dem Resultat, daß wesentlich die Politik des Reichskanzlers, die allerdings damals und auch noch heute durch die öffent­ liche Meinung, d. h. durch die gesammte liberale Presse auf das Entschiedenste begünstigt und unterstützt wurde, der Grund und die Ursache war, die uns in diese schlimme Lage gebracht hat. — M. H., ich muß noch auf einen anderen Punkt aufmerksam machen Die liberale Presse hat damals, als von unserer Seite der Ruf nach Frieden erscholl, entschieden für Fortführung des Krieges gehetzt, sie war es, die in den einstimmigen Ruf ausbrach den Krieg fortzusetzen, der nach dem eigenen Programm des Königs von Preußen ein Krieg gegen die französische Regierung, gegen die französischen Soldaten war, sie war es, die diesen Krieg zu einem nationalen Krieg, zu einem Racenkrieg machte. — M. H., lesen Sie die liberalen Zeitungen aller Schattirungen jener Zeit, so werden Sie finden, daß man allgemein aussprach, das französische Volk müsse ver­ nichtet werden, (W.) weil es vorzugsweise durch seine Haltung die Politik des Kaiser­ reichs verschuldet habe. (Z.) M. H., gut, dann sind auch wir, das deutsche Volk, schuld, wenn bei uns sehr Vieles nicht so ist, wie es sein sollte. Also die deutsche Bourgeoisie hetzte in dieser Weise; wir waren es, die abriethen vom Kampf, die französischen Arbeiter waren es, die abriethen vom Kampf, die für den Frieden petitionirten, von beiden Seiten hüben und drüben war es die Bourgeoisie, d. h. die­ jenigen Kreise, die bei jeder Gelegenheit betonten, daß sie es seien, welche die Kultur und Bildung verträten, die für den Nationalkampf eintraten. Und wie steht es heute? die so viel verleumdete und angegriffene Kommune in Paris ist es, die mit der größten Mäßigung vorgeht. (Gr., anh. H.) M. H., das werden Sie allerdings nicht wahr haben wollen, das weiß ich recht wohl; indessen ich muß doch zunächst hier konstatiren, daß die meisten Thatsachen, die in Ihren Augen so staats- und gesellschaftsgefährlich sind und sein sollen, von der liberalen Presse, einige Tage nachdem sie sie als richtig veröffentlicht hat, in den meisten Fällen wieder haben dementirt werden müssen. Ich bin durchaus nicht in der Lage, alle Maßregeln, die die Kommune ergriffen hat. zu billigen und zwar aus Zweckmäßigkeits-Gründen; aber ich behaupte doch, daß im All­ gemeinen die Pariser Kommune gerade in Bezug auf diejenigen Kreise, welche vorzugs­ weise daran schuld sind, daß Frankreich in diese gefährliche und verderbliche Lage ge­ kommen ist, z. B. die Kreise der hohen Finanz, mit einer Mäßigung verfahren ist, (W.) die wir vielleicht in einem ähnlichen Falle in Deutschland schwerlich anwenden würden. (H.! h.! H.) — Also, m. H., es hat sich gezeigt, daß es gerade diejenigen Kreise sind, bei denen man die bessere Bildung und Einsicht voraussetzen sollte, die ganz besonders schuld sind, daß wir in unsere heutige Lage gekommen sind. — M. H., Sie werden nach diesen Ausführungen begreifen, daß ich von meinem Standpunkte aus natürlich nicht das mindeste Verlangen habe, die 120 Millionen zu bewilligen, ich werde, wie ich früher gethan, auch heute dagegen stimmen. Und wenn Sie jetzt viel­ leicht meine Ausführungen mit Heiterkeit und einer gewissen Geringschätzung ausgenommen haben und sie als solche betrachten möchten, die hier gar nicht in das Gewicht fallen, so habe ich die feste Ueberzeugung, daß die Ereignisse vielleicht schon in der allernächsten Zeit mir vollständig Recht geben werden, ja zum großen Theil schon jetzt mir Recht gegeben haben, und dann klagen Sie nicht Andere, dann klagen Sie nicht die Ver­ hältnisse an, wenn es gegen Ihren Willen in der Welt schlimm zugeht, sondern Ihre eigene Kurzsichtigkeit. (Unr. u. W.) Abg. von Kardorff: M. H., ich würde es nicht für nöthig halten, auf die­ jenigen Expektorationen, welche wir soeben von dem Mitgliede der internationalen So-

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zialdemakratie gehört haben, welches so eben die Tribüne verlassen hat, zu antworten, wenn nicht in der Presse und namentlich im Auslande solchen Auslassungen leicht mehr Gewicht beigelegt würde, als sie verdienen. Ich möchte von vorn herein darauf auf­ merksam machen, daß es in ganz Deutschland nur zwei Wahlkreise giebt, welche uns Herren von dieser Partei in den Reichstag geschickt haben (Mehrfache Rufe: Nur Einen!) ... nur um die Auslassungen, wie wir sie so eben gehört haben, aus das richtige Maaß und Gewicht zurückzuführen. — M. H., mir scheint es, daß der Herr Abgeordnete die Gelegenheit benutzt hat, um uns diejenige Rede hier zu halten, welche er ursprünglich bei einer andern Frage hat halten wollen, die uns ja vielleicht noch in den nächsten Tagen beschäftigen wird, ich meine nämlich die Frage der Annexion von Elsaß und Lothringen. — Zch möchte darauf nur einen einzigen Gesichtspunkt erwidern. Der Herr Abgeordnete sagt: wenn der Herr Reichskanzler nach der Katastrophe von Sedan die nöthige Mäßigung beobachtet hätte, so wären für uns günstigere Folgen ein­ getreten. Nun meine ich aber, wird der Herr Abgeordnete gerade von demjenigen Ge­ sichtspunkte, von dem er ausgeht, gewiß darauf Gewicht legen, daß eine Regierung den Willen des Volkes thut, soweit sie ihn zu erkennen vermag, und ich glaube nicht zu viel zu sagen, wenn ich ausdrücklich ausspreche, daß ganz Deutschland den Frieden nicht gewollt hat ohne die Annexion von Elsaß und Lothringen. Zn der Spezialdebatte frägt Abg. Lasker ob nicht jetzt die Anleihe als An­ leihe des deutschen Reiches auszugeben, indem ein norddeutscher Bund ja nicht mehr bestehe. Königlich preußischer Bevollmächtigter zum Bundesrath, Staatsminister Camfi­ tz aus en bejaht dies. Das Gesetz wird gegen 5 oder 6 Stimmen von dem ganzen Hause angenommen.

Nr. 9.

Gesetz-Entwurfbetreffend die Änhabrrpapierr mit Prämien. Wir Wilhelm rc. rc. § 1. Auf den Inhaber lautende Schuldverschreibungen, in welchen allen Gläubigern oder einem Theile derselben außer der Zahlung der verschriebenen Geldsumme eine Prämie dergestalt zu­ gesichert wird, daß durch Ausloosung oder durch eine andere, auf den Zufall gestellte Art der Er­ mittelung die zu prämiirenden Schuldverschreibungen und die Höhe der ihnen zufallenden Prämie

bestimmt werden sollen (Znhaberpapiere mit Prämien), dürfen innerhalb des deutschen Reiches nur auf Grund eines Neichsgesetzes ausgegeben oder in Umlauf gesetzt werden. § 2. Wer der Bestimmung des § 1 entgegen, Znhaberpapiere mit Prämien ausgiebt oder in Umlauf setzt, verfällt in eine Geldstrafe, welche dem fünften Theil des Nennwertes der aus­ gegebenen oder der in Umlauf gesetzten Papiere gleichkommt, mindestens aber Einhundert Thaler betragen soll. Die nicht beizutreibende Geldstrafe ist in verhältnißmäßige Gefängnihstrafe, deren Dauer jedoch ein Zahr nicht übersteigen darf, umzuwandeln. § 3. Die Bestimmungen der §§ 1 und 2 finden keine Anwendung auf diejenigen Znhaber­ papiere mit Prämien, welche zu den in dem beiliegenden Verzeichniß aufgeführten Prämienanleihen gehören. (Das Verzeichniß enthält 81 Sorten von Prämienloosen des Auslandes, die mehr

oder minder im deutschen Verkehr zu sein vorausgesetzt werden.)

Motive. Die Ueberfüllung des deutschen Kapitalmarktes mit Lotterie-Anleihen aller Länder ist schon seit längerer Zeit als ein empfindlicher Uebelstand anerkannt worden. Abgesehen davon, daß die Form der Lotterie oft ein Reizmittel bildet, durch welches minder kreditwürdigen oder minder kontrolirbaren Unternehmungen des Auslandes unser Kapitalmarkt geöffnet wird, der ihnen sonst ver-

Jnhaberpapiere mit Prämien.

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schlossen bleiben würde, nehmen die auf den deutschen Markt gebrachten Anlehensloose häufig eine Gestalt an, durch welche sie den gewöhnlichen Lotterieloosen so nahe stehen, daß die Gesichtspunkte, welche für die gegen das Glücksspiel gerichtete Gesetzgebung maßgebend sind, auf dieselben Anwen­ dung finden. Die Ausgabe solcher Anlehensloose bildet somit eine Umgehung dieser Gesetzgebung, vereitelt deren sittliche und wirthschaftliche Zwecke und führt das den inländischen soliden Unter­ nehmungen, sowie dem Staatskredite vorenthaltene Kapital mit einer Prämie den Unternehmern zu, welche die einmal vorhandene Neigung zum Glücksspiel zur vortheilhaften Unterbringung ihrer An­

lehenspapiere benutzen. Der Grund, aus welchem gerade die deutschen Börsen in so ausgedehnten: Maße zur Unter­ bringung fremder Lotterie-Anleihen benutzt werden, liegt zum großen Theil darin, daß an den größeren Kapitalmärkten des Auslandes fremde Lotterie-Anleihen entweder gar nicht oder nur gegen Zahlung eines Stempels zum öffentlichen Verkehr zugelassen werden, während in Deutschland prä­ ventive Bestimmungen, welche die Zulassung von Papieren zum Börsenverkehr regeln, nicht bestehen, und eine Stempel-Abgabe von den ausländischen Jnhaberpapieren, die auf unsern Markt treten, nicht erhoben wird. Zn diesem Verhältnisse liegt geradezu eine Einladung an die Kapitalbedürftigen des Auslandes, durch Begebung von Lotterie-Anleihen in Deutschland sich einen durch die Vortheile des Anreizes zum Spiel privilegirten Zugang zum deutschen Kapitalmärkte zu schaffen. Die gesetzliche Regelung der Ausgabe und des Vertriebes von Jnhaberpapieren mit Prämien wurde, nachdem schon das Preußische Abgeordnetenhaus in seiner Session von 1869/70 diese Frage allgeregt hatte, vom Reichstage des norddeutschen Bundes in seiner letzten ordentlichen Session zum Gegenstände einer eingehenden Berathung gernacht. Es waren zwei den Gegenstand betreffende Gesetz-Entwürfe eingebracht worden und zwar: 1) von den Abgg. Braun (Wiesbaden) u. v. Kardorff, betreffend die Ausgabe und den Vertrieb von Jnhaberpapieren; — 2) von den Abgg. v. Blankenburg, v. Hennig, Dr. Löwe u. Gen., betreffend die Ausgabe und den Vertrieb von Jnhaberpapieren mit Prämien. Während der erstere Gesetz-Entwurf zinstragende Jnhaberpapiere jeder Art in den Kreis seiner Bestimmungen zog und die Ausgabe derselben, insbesondere auch die von Jnhaberpapieren mit Prämien, nicht von dem Erforderniß einer Konzession, sondern nur von Einhaltung der durch das Gesetz zu bestimmenden Vorschriften abhängig gemacht wissen wollte, bezog sich der zweite (v. Blank en burg'sche) Gesetz-Entwurf nur auf Prämien-Anleihen, deren Zulassung auf Anleihen des Bundes und der Bundesstaaten beschränkt, und innerhalb dieses beschränkten Kreises von der Konzessionirung durch die Bundesgesetzgebung abhängig gemacht werden soll, während gleichzeitig Einschränkungen bezüglich des Verkehrs mit den bis jetzt zugelaffenen Jnhaberpapieren mit Prämien vorgeschlagen wurden. Der Reichstag trat am 18. Mai 1870 in die Verhandlung über diese Vorschläge ein; zu einem vollständigen Abschluß kam jedoch die Berathung nicht. Bei der zweiten Berathung wurde der erste Entwurf (Braun u. v. Kardorff) abgelehnt, von dem zweiten Entwürfe (v. Blan­ kenburg u. Gen.) dagegen wurde am 25. Mai 1870 der § 1 angenommen, welcher lautet: „Jn­ haberpapiere mit Prämien, das heißt solche Papiere, in welchen allen Inhabern oder einem Theil derselben die Rückzahlung einer Geldsumme und eine nach ihrem Betrage durch Verloosung oder auf andere Weise zu ermittelnde Prämie zugesichert werden, dürfen innerhalb des Norddeutschen Bundes fortan nur auf Grund eines Bundesgesetzes und nur zum Zweck der Anleihe eines Bundes­ staates oder des Bundes verausgabt oder in Umlauf gesetzt werden." Ein Amendement zu diesem § 1 auf Durchstrich der Worte: „Und nur zum Zweck der An­ leihe eines Bundesstaats oder des Bundes" war mit großer Majorität abgelehnt worden. Von der Berathung der weiteren Artikel des Entwurfs v. Blankenburg u. Gen. wurde mit Rücksicht auf den nahe bevorstehenden Schluß des Reichstags abgestanden, dagegen der Beschluß gefaßt: den Bundeskanzler um die baldmögliche Vorlage eines Gesetzes zu ersuchen, „welches A. die Bedingungen feststellt, unter den die Rückzahlung und Verzinsung von Geldsummen in Verschreibungen, welche den Inhaber als Gläubiger anerkennen, versprochen werden darf, und demgemäß die Ausgabe sowie den Vertrieb solcher verzinslicher Jnhaberpapiere regelt, sodann B. die Ausgabe von Jnhaberpapieren mit Prämien, wie sie im § 1 des Gesetz-Entwurfs Nr. 160 der Drucksachen bezeichnet worden, von einem Bundesgesetz abhängig macht und die erforderlichen Sicherungsmaßregeln wegen der im Um­ lauf befindlichen Papiere trifft." Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes, Session 1870, Band II. S. 1203."

Gesetzentwürfe.

340

Bei näherer Erwägung der Resolution des Reichstages stellte sich zunächst eine gesonderte

legislative Behandlung der beiden durch dieselbe ins Auge gefaßten Fragen als zweckmäßig und im

Sinne des Reichstagsbeschlusses selbst liegend heraus. — Der Reichstag will die Ausgabe von ver­ zinslichen Znhaberpapieren nur von gewissen gesetzlich zu normirenden Bedingungen abhängig gemacht,

also von der Konzessionspflicht befreit wissen, während er die Konzessionirung von Prämien-Anleihen dem Gesetzgeber selbst vorbehalten, die Ausgabe derselben ohne besonderes Gesetz also ver­

boten wissen will.

Der Standpunkt, von welchem der Reichstag die verzinslichen Jnhaberpapiere

behandelt wissen will, ist somit dem Standpunkte, welchen er den Prämienpapieren gegenüber ein­ nimmt, im praktischen Resultate geradezu entgegengesetzt. Und ebenso sind die Gesichtspunkte durch­ aus verschiedene, welche nach dem Reichstagsbeschlusse für die legislative Behandlung beider Arten

von Znhaberpapieren maßgebend sein würden. Die Ausgabe von verzinslichen Znhaberpapieren würde als Ausfluß natürlicher Vertrags­

freiheit betrachtet werden, und für die dafür aufzustellenden Normativbedingungen würde wesentlich

der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit maßgebend sein. Die Ausgabe von Prämien-Anleihen dagegen

würde, als mit der Kategorie der Glücksspiel-Unternehmungen verwandt, der Regel nach verboten sein, und die Zulassung von Ausnahmen von diesem Verbot, die der Gesetzgeber sich selbst vor­

behielte, würde abhängig sein theils von dem Zwecke, für welchen im einzelnen Falle die Zulassung einer Prämien-Anleihe nachgesucht würde, theils von den Formen und Bedingungen dieser Prämien-

Anleihe, die der Gesetzgeber in jedem Falle so einrichten würde, daß die Prämien-Anleihe sich von

der gewöhnlichen Lotterie thunlichst entfernte. Während also dort Gesichtspunkte der Rechtssicherheit

vorwalten, sind hier in erster Linie Rücksichten der Nützlichkeit maßgebend. Durchaus anders würde die Frage der gemeinsamen oder gesonderten legislativen Erledigung

der beiden in bem Reichstagsbeschluß gestellten Aufgaben liegen, wenn im Sinne einer Auffassung, welche nicht die der Mehrheit des Reichstages gewesen ist, für die Zulassung von Prämien-Anleihen

unter Beseitigung der Konzessionspflicht Normativbedingungen aufgestellt werden sollten. Zn einem solchen Falle würde es freilich nicht möglich sein, von einer gleichzeitigen entsprechenden Regelung

der Ausgabe von blos verzinslichen Znhaberpapieren abzusehen.

Ein solches Prinzip ist indeß vom Reichstage nicht aufgestellt, und es kann auch nicht in der Absicht liegen, demselben Geltung zu verschaffen.

Wird hiervon abgesehen, so würde es zu einer

unerwünschten Zusammenfassung ganz heterogener Bestimmungen in einem und demselben Gesetze führen, wollte man bei Gelegenheit der gesetzlichen Regelung der Ausgabe von Prämien-Anleihen

zugleich die schwierige und in ihren Konsequenzen weittragende Frage der Aufhebung der Konzessions­ pflicht und Ausstellung von Normativbedingungen für verzinsliche Jnhaberpapiere zur gesetzlichen

Lösung bringen.

Ob für die verzinslichen Jnhaberpapiere die Konzessionspflicht aufzuheben sein

wird, ist eine Frage, die einer gesonderten, eingehenden Prüfung zu unterziehen ist. Für jetzt liegt,

da ein untrennbarer Zusammenhang zwischen dieser Frage und der der Prämien-Anleihen nicht an­ zuerkennen ist, um so weniger ein dringender Grund für ihre Erledigung vor, als, selbst wenn sie

prinzipiell bejahet würde, im gegenwärtigen Augenblicke eine Freigebung der Ausgabe von verzins­ lichen Znhaberpapieren dennoch nicht für opportun erachtet werden könnte.

Erst ganz neuerdings

ist die Ausgabe von Aktien jeder Art von der Konzessionspflicht gesetzlich befreit worden.

Die

Motive, welche hierbei maßgebend waren, sind ähnliche wie diejenigen, welche sich für eine gleiche

Befreiung bezüglich der Ausgabe von Jnhaber-Oblrgationen geltend machen lassen; gewichtige Gründe lassen es aber durchaus nicht räthlich erscheinen, gerade jetzt eine solche Konsequenz zu ziehen.

Viele Bedürfnisse sind ebensowohl in der Form von Aktien-Emissionen, als in der Form von An­ leihen zu befriedigen. Es besteht ihnen gegenüber nur der wesentliche Unterschied, daß die Aktie sich

darauf beschränkt, dem Inhaber den enssprechenden Antheil an dem eventuellen Ueberschuß des Un­ ternehmens zu versprechen, während die verzinsliche Obligation ihm einen bestimmten Ertrag in Aussicht stellt, einerlei, ob die Kapital-Anlage denselben ergiebt oder nicht. Das verzinsliche Papier • führt leichter zu Täuschungen als die Aktie, weil es mehr verspricht als diese.

Aus diesem Unter­

schiede folgt einerseits, daß die Befreiung der zinstragenden Jnhaberpapiere von der Konzessions­

pflicht nicht ohne Weiteres als eine nothwendige Konsequenz der gleichen Befreiung der Aktien an­ zusehen ist, andererseits, daß es jedenfalls sachlich gerechtfertigt ist, der Befreiung der verzinslichen Jnhaberpapiere von der Konzessionspflicht die der Aktien um eine nicht zu kurze Frist vorausgehen

zu lassen. Daß auch die durch das neue Aktiengesetz gewährte Freiheit vorübergehend zu mancherlei

Jnhaberpapiere mit Prämien.

341

Mißbräuchen und Uebelständen Veranlassung geben könne und werde, ist bei Erlaß des Gesetzes nicht verkannt worden. Um so bedenklicher würde es sein, die hieraus erwachsenden Gefahren durch eine gleiche Folgen mit sich führende Maßregel auf verwandtem Gebiete zu vermehren. Vielmehr ist es jedenfalls gerathen, vorerst die Wirkungen des neuen Aktiengesetzes sich vollziehen zu lassen und die hierbei zu gewinnenden Erfahrungen abzuwarten, ehe einer analogen Maßregel hinsichtlich der Jnhaberpapiere mit Zinsversprechen näher getreten werde. Es steht zu hoffen, daß die Er­ fahrungen, welche das Publikum bei den Wirkungen des Aktiengesetzes sammeln wird, manchen Mißbräuchen vorbeugen werden, welche in Folge der Freigabe der Jnhaberpapiere mit Zinsversprechen sonst unausbleiblich sein würden. In Betreff der Jnhaberpapiere mit Prämien kann der Standpunkt, welchen der Beschluß des Reichstages einnimmt, nur als zutreffend anerkannt werden. Zunächst liegt es unverkennbar im Bedürfnisse, daß die Regelung der Ausgabe von Inhaber­ papieren mit Prämien von der Reichsgesetzgebung ausgehe. Die wesentlichste und historisch älteste Grundlage-der Gemeinschaft zwischen den zum Deutschen Reiche vereinigten Staaten bildet der ge­ meinsame - Markt. Diese Gemeinsamkeit würde in Frage gestellt werden, wenn der PartikularGesetzgebung jene Aufgabe überlassen bleiben sollte, denn die aus solcher partikulargesetzlichen Re­ gelung nothwendig hervorgehenden Verschiedenheiten würden zur unvermeidlichen Folge haben, daß dasselbe Papier von dem Markte des einen Staates ausgeschlossen bliebe, welches auf dem Markte des andern frei umliefe, ja daß Prämien-Anleihen, welche der eine Staat emittirte oder ausdrücklich konzessionirte, von dem Markte des andern ausgeschlossen würden. Wollte man aber diese letztere Konsequenz durch Bundesgesetz ausschließen, so würde einer der Einzelstaaten in der Behandlung der Frage der Prämien-Anleihen eine bestimmte Politik mit Erfolg in Anwendung bringen können, da die Zurückhaltung, welche er sich etwa in Bezug auf Ausgabe und Zulassung von PrämienAnleihen zur Aufgabe stellte, für seinen Markt wirkungslos werden würde, wenn andere Bundes­ staaten von anderen Grundsätzen in der Ausgabe und Konzessionirung von Prämien-Anleihen aus­ gingen, die er dann nicht von seinem Markte ausschließen könnte. Diese Gefahr tritt um so mehr in den Vordergrund, als Erfahrungen neuesten Datums lehren, daß in einzelnen Staaten die Re­ gierung in der Partikulargesetzgebung nicht die Befugniß findet, gegen die beliebige Kreirung von Prämien-Anleihen überhaupt einzuschreiten. Nur die reichsgesetzliche Regelung der Ausgabe und des Vertriebes von Jnhaberpapieren mit Prämien eröffnet die Möglichkeit gegenüber den inländi­ schen wie den ausländischen Prämien-Anleihen, die durch die Einheitlichkeit des Marktes unerläßlich gewordene einheitliche Politik zur Geltung zu bringen. Es könnte in Frage kommen, ob die Reichsgesetzgebung sich darauf zu beschränken haben würde, für die Zulässigkeit von Jnhaberpapieren mit Prämien auf dem gemeinsamen Markte ge­ wisse äußere Bedingungen, die sich auf die Person des Schuldners, den Zweck der Geldbeschaffung und auf die Formen der Anleihen beziehen könnten, aufzustellen. Solche Normativbedingungen würden, so lange die staatliche Genehmigung zur Ausgabe von Jnhaberpapieren fortbesteht, die Wirkung einer Freigabe der Ausgabe von Prämienpapieren, welche diesen Bedingungen entsprechen, nicht haben, da in jedem Falle die Genehmigung noch versagt werden könnte. Durch diesen inneren Widerspruch, vermöge dessen das durch das allgemeine Gesetz als zulässig Erkannte dennoch der speziellen Genehmigung unterläge, würde das Genehmigungsrecht der einzelnen Regierungen zu einem unhaltbaren werden. Aber auch abgesehen hiervon würde die Formulirung solcher Normativ­ bedingungen schwerlich zu dem gewünschten Ziele führen: den Geldmarkt vor unsoliden PrämienAnleihen und deren Nachtheilen zu bewahren und doch die Freiheit der Bewegung soweit zu erhalten, um diese unter Umständen zulässige Art des Kreditgeschäfts in der für den einzelnen Fall geeignetsten Form in Anwendung bringen zu lassen. Eine diesen beiden Gesichtspunkten zugleich entsprechende Formulirung der Normativbedingungen würde sich als unmöglich Herausstellen, da die Bedingungen, um die Möglichkeit des Mißbrauchs auszuschließen, so eng formulirt werden müßten, daß auch der legitime Gebrauch ausgeschlossen erschiene. Die Verschiedenheit des zu be­ friedigenden Bedürfnisses der und Wechsel in den Konjunkturen des Geld- und Kreditmarktes sind zu mannigfaltig, als daß es gerathen erscheinen möchte, sie im Voraus abstrakten Regeln zu unter­ werfen. Vielmehr empfiehlt es sich, die Prüfung und Beurtheilung jedes einzelnen Falles vorzubehalten. Daß eine solche Prüfung jedes Falles, wenn sie das Prinzip des Gesetzes bilden soll, den Reichs organen zu überweisen, erscheint aus demselben Grunde unerläßlich, aus welchem, wie

Gesetzentwürfe.

342

vorhin nachgewiesen ist, die gesetzliche Regelung der Ausgabe und des Vertriebes von Inhaber­ papieren mit Prämien überhaupt, mit Rücksicht auf die Gemeinschaftlichkeit des Marktes im Reichs­

gebiete, dem Reiche vorzubehalten ist.

Für den Weg der Gesetzgebung im einzelnen Falle

endlich spricht die Rücksicht, daß in solchen große materielle Interessen berührenden Fragen die

Qeffentlichkeit der über die Genehmigung zu pflegenden Verhandlungen nur erwünscht sein kann. Wird hiernach in Uebereinstimmung mit dem mehrgedachten Beschlusse des Reichstages zu einer gesetzlichen Vorschrift geschritten, wonach die Befugniß zur Ausgabe von Prämienanleihen

innerhalb des Reichsgebietes fortan nur durch ein in jedem Falle zu erlassendes Reichsgesetz er­ langt werden kann, so erscheint es unerläßlich, die Zulassung der Obligationen ausländischer Prä­

mienanleihen fortan an die gleiche Bedingung zu knüpfen.

Allseitig ist es seither schon als ein

empfindlich sich fiihlbar machender Uebelstand anerkannt worden, daß der inländische Geldmarkt dem

Auslande leichter zugänglich ist, als dem Kreditbedürfniß des Inlandes, daß namentlich der Ver­ kehr mit ausländischen Prämienanleihen völlig freigegeben ist, während die Benutzung dieser beim

Publikum beliebten Form der Anleihe den inländischen Kreditsuchenden versagt wird.

Um so weniger

würde es sich rechtfertigen, gegen die Ausgabe inländischer Prämienanleihen nur an die Stelle der seitherigen geringeren Schranke der Konzessionspflicht die ungleich größere der Nothwendigkeit eines

Reichsgesetzes aufzurichten, und daneben den Verkehr mit ausländischen Prämienanleihen nach wie vor unbeschränkt zu lassen.

Hieraus rechtfertigt sich die in dem § 1 vorgeschlagene Bestimmung, wonach nicht nur die Ausgabe inländischer, sondern auch der Umlauf ausländischer neu zu emittirender Prämienanleihen

innerhalb des Reichsgebietes fortan von der Genehmigung durch ein Bundesgesetz abhängig gemacht wird. Der § 1 stimmt in dieser seiner Absicht mit dem von dem Reichstage in zweiter Lesung an­ genommenen § 1 des v. Blanckenburgschen Entwurfes vollständig überein, namentlich dehnt er, wie

dieser, den Begriff der Jnhaberpapiere mit Prämien nicht auf solche Papiere aus, durch welche — wie dies bei den sogen. Polnischen 4prozentigen Partialobligationen von 1835 und einzelnen anderen Papieren der Fall — den Inhabern eine für alle, oder doch für alle in den üblichen Amortisations-

Terminen gleichzeitig zur Einlösung gelangenden Obligationen gleiche sogenannte Prämie, welche mit der nach dem Amortisationsplane stattfindenden Rückzahlung des verschriebenen Kapitalbetrages

fällig wird, versprochen wird.

Diesen sogenannten Prämien fehlt das für die Natur des Lotterie­

spiels entscheidende Element der Ungewißheit der Höhe des auf den einzelnen Inhaber entfallenden Gewinnes, und da dieselben nur einen sehr mäßigen Zuschlag zu dem heimzuzahlenden Kapitale bilden, so kann ihnen der Vorwurf, daß sie die Spielsucht reizen, nicht gemacht werden, vielmehr

bilden sie nur eine andere Form für die Begebung verzinslicher nach einem Amortisationsplan rück­

zahlbarer Schuldverschreibungen unter Pari. Die Abweichungen des § 1 von dem entsprechenden Paragraphen des v. Blanckenburgschen Entwurfs betreffen nur die Fassung, bei welcher das Bestreben leitend gewesen ist, die rechtlichen

Begriffe in den Bestimmungen möglichst zu präzisiren.

Aus diesem Grunde ist dem Worte „Papiere"

in Zeile 1 des Entwurfs das Wort „Schuldverschreibungen", und sind den Worten: „allen In­

habern" in Zeile 1 die Worte: „allen Gläubigern" substituirt worden.

Nicht unbedenklich erschien

es ferner, zu sagen, daß der Betrag der Prämie, durch Verloosung oder auf andere Weise

zu ermitteln sei.

Das Charakteristische der Prämie ist, daß sie einen Gewinn darstellt, der im Wege

des Spiels zufättt.

Nur wenn die Zinsen ganz oder theilweise unter den Gläubigern ausgespielt

werden handelt es sich um eine Prämien-Anleihe in dem von dem Gesetz gemeinten Sinne.

Das

Element des Spiels oder des Zufalls, wie er bei der Verloosung z. B. entscheidet, ist daher wesent­ lich, und nur eine auf den Zufall gestellte Art der Ermittelung, nicht jede oder irgend eine andere

Art der Feststellung konstituirt den Begriff der Prämie.

Andererseits wird nicht der Betrag der

Prämie, welcher in der Regel planmäßig feststeht, durch das Loos ernüttelt, sondern die Serie resp, bte einzelne Schuldverschreibung, welcher eine Prämie zufallen soll, sowie diejenige planmäßige

Prämie, welche der einzelnen gezogenen Schuldverschreibung zukommt.

Eine Schwierigkeit bot in den Verhandlungen des Reichstages die Behandlung derjenigen

ausländischen Jnhaberpapiere mit Prämien, welche im Reichsgebiete bereits in den Verkehr gebracht sind.

Es hat indeß nicht zweifelhaft erscheinen können, daß die Anwendung des Gesetzes auf die

bisher im Reichsgebiete in Umlauf gebrachten Prämien-Anleihen überhaupt auszuschließen ist.

Eine

nachträgliche Ausschließung der Papiere dieser Anleihen von unserem Markte würde die auf Grund

Znhaberpapiere mit Prämien.

343

der bestehenden Gesetzgebung im guten Glauben erworbenen Vermögensrechte der Inhaber solcher Papiere empfindlich beeinträchtigen und zu einem Mißtrauen gegen unsere Gesetzgebung Veranlassung geben, welches auf die auswärtigen Beziehungen unserer Märkte nur höchst nachtheilig Rückwirkungen

üben könnte. Damit im Laufe der Zeit nicht eine Unsicherheit darüber entstehe, welche Prämienpapiere

hiernach an den Deutschen Märkten noch zulässig find, erschien es zweckmäßig, die Anleihen, auf welche die §§ 1 und 2 keine Anwendung finden sollen, nicht begrifflich, sondern individuell durch

ein dem Gesetze beizufügendes Verzeichnih zu bezeichnen. die im § 3 enthaltene Übergangsbestimmung.

Aus diesen Erwägungen rechtfertigt sich

Das dem Entwurf angeschlossene Verzeichniß, auf welches dieser Paragraph Bezug nimmt, ist auf Grund der von den Vorständen der wichtigsten Börsenplätze erforderten Nachweisungen auf­

gestellt.

Zur Erläuterung desselben ist nur zu bemerken, daß die sonst gewöhnlich unter den

Prämien-Anleihen aufgeführten „Polnischen vierprozentigen Partial-Obligationen von 1835" und einige andere ähnliche Papiere nicht ausgenommen sind, weil sie, wie vorhin erörtert, nicht unter

die Definition, welche der § 1 von den Jnhaberpapieren mit Prämien giebt, fallen.

Erste Berathung am 24. April 1871.

Berichterstatter vr. Stephani: Ich habe dem hohen Hause im Auftrage der Petitionskommission Kenntniß zu geben von zwei Petitionen. Beide enthalten das gleiche Petitum. Die eine Petition geht aus von dem hiesigen Bankhause Krause, zugleich im Auf­ trage der deutsch-österreichischen Bank in Frankfurt a. M., die zweite Petition mit dem gleichen Petitum, aber ausführlicher motivirt, geht aus von dem Börsenkomite in Amster­ dam. Beide beziehen sich auf das dem Gesetze wegen der Prämienanleihen beigefügte Verzeichniß der Prämienanleihen, welche nicht unter das Gesetz fallen sollen, welche also nicht verboten werden sollen, und sie führen Beschwerde darüber, daß eine angeblich bereits im März' dieses Jahres emittirte Prämienanleihe in dies Verzeichniß nicht mit ausgenommen sei, künftig also, wenn das Gesetz angenommen wäre, verboten sein werde; es ist dies die Stuhlweißenburg-Raaber Eisenbahn-Prämienanleihe im Betrage von 12,000,000 Thalern. — Die Petitionskommission überläßt dem hohen Hause, bei Ge­ legenheit der Beschlußfassung über das Gesetz selbst auch diese beiden Petitionen zu erledigen. Präsident des Bundeskanzler-Amts Staatsminister Delbrück: M. H.! Als in dem letzten norddeutschen Reichstage aus der Initiative des Hauses von verschiedenen Seiten vorliegender Gegenstand angeregt wurde, waren die verbündeten Regierungen in der Lage, sich zu der Frage vollkommen neutral zu verhalten. — Der Reichstag hat damals die Verhandlungen nicht vollständig zu Ende geführt; er hat indessen unzwei­ deutig mit großer Majorität seine Ansicht dahin ausgesprochen, daß er eine Gesetzgebung über den Gegenstand für nothwendig halte, und er hat auch in Beziehung auf die Richtung dieser Gesetzgebung wenigstens in einem wesentlichen Punkte einen Beschluß gefaßt. Die Lage, wie sie hinsichtlich der sogenannten Prämienpapiere gesetzlich und that­ sächlich in Deutschland besteht, ist eine keineswegs gleichmäßig geordnete. In der über­ wiegenden Mehrzahl der Bundesstaaten hängt die Emission solcher Papiere von einer Genehmigung des Staats ab, mag nun diese Genehmigung ertheilt werden durch die höchste Verwaltungsinstanz, mag sie ertheilt werden durch den Landesherrn, mag sie er­ theilt werden durch ein Gesetz. Indessen ist das nicht durchgängig der Fall. Ein neuester Vorgang, hat gezeigt, daß wenigstens in einem Bundesstaate zur Emission solcher Papiere eine Genehmigung des Staats nicht erforderlich ist. Diejenigen Staaten in denen es einer Genehmigung bedarf, haben von der ihnen unzweifelhaft zustehenden Befugniß diese Genehmigung zu ertheilen, in sehr verschiedenem Maße Gebrauch gemacht. Von den größeren Bundesstaaten haben Sachsen, Württemberg und Mecklenburg überhaupt nicht solche Genehmigungen ertheilt. Im Großherzogthum Hessen datirt die letzte Genehmigung auf 37 Jahre zurück und in Preußen auf 15 Jahre. Ebenso verschieden wie dieser Gebrauch der Befugniß ist die Art gewesen, wie man diese Befugniß gebraucht hat. Sie finden in der Ihnen vorliegenden

344

Gesetzentwürfe.

Liste, daß Anleihen ausgegeben sind in Appoints von 4 Thalern oder 7 Gulden (h.! h.!) bis zu 100 Thalern. So liegt das Verhältniß in Bezug auf Anleihen, die in Deutschland emittirt sind. Zn Bezug auf Anleihen, die im Auslande emittirt werden, besteht überhaupt eine Beschränkung oder Kontrole nicht. Diese Anleihen können an sämmtlichen deutschen Börsen ohne weitere Genehmigung gehandelt werden und werden an den deutschen Börsen ohne weitere Genehmigung gehandelt. Die gesetzliche und that­ sächliche Lage ist also eine sehr verschiedene. Daraus allein würde allerdings noch nicht mit zwingender Nothwendigkeit folgen, daß der Weg der Gesetzgebung zu beschreiten sei, und in der That haben auch die verbündeten Regierungen und hat insbesondere die königlich preußische Regierung aus diesem Umstand an sich nicht das Bedürfniß her­ leiten können, mit einer gesetzlichen Regelung der Sache vorzugehen. Indessen kommen andere Momente hinzu, die auf eine solche Regelung drängen. Es ist eine Thatsache, daß in den verschiedenen Bundesstaaten die Einzel-Legislaturen sich in ihrer Ansicht zu der vorliegenden Frage sehr verschieden gestellt haben. Die preußische Legislatur hat sich zu der vorliegenden Frage so gestellt, daß es für die preußische Regierung jedenfalls sehr große Bedenken haben würde, die Konzession zu einer Prämienanleihe, Die nicht etwa Staatsanleihe wäre — dann ist es ja Sache des Gesetzes — zu verlangen. Ander­ wärts ist die Lage anders. Es führt dies zu einer weiteren Ungleichheit, die that­ sächlich Znkonvenienzen herbeiführt, die auf der Hand liegen. Es kommt aber auch noch ferner in Betracht, daß in der That in der allerneuesten Zeit die Emission von Prämien­ anleihen einen Umfang gewonnen hat, den sie früher nicht im Mindesten besaß, und zwar einen Umfang sowohl in der Menge, als auch einen Umfang nach der Seite hin, wo die Prämienanleihe sich dem Gebiete der Lotterie sehr nähert. Es sind nach dem Ihnen vorliegenden Verzeichnis wenn man die Gulden und Franken auf Thaler reduzirt, im verflossenen Jahre 1077a Millionen Prämienanleihen im Allgemeinen emittirt und in den ersten drei Monaten dieses Jahres bereits 38,200,000 Thaler. (H.! H.!) — Nun haben Sie soeben von dem Herrn Vorsitzenden der Petitionskommission ge­ hört, daß bereits eine Reklamation vorliegt, welche sich bezieht auf eine Prämienanleihe von 12 Millionen Thaler, und ich kann thatsächlich bemerken, daß beim Bundesrath nach Abschluß seiner Berathungen noch eine weitere Reklamation eingegangen ist, die sich bezieht auf eine Prämienanleihe von 8 Millionen Thalern. Von beiden Anleihen wird behauptet, daß sie bereits im Handel seien, und das würde also für die kurze Zeit von 4 Monaten, die das Jahr 1871 noch nicht einmal vollständig beendet hat, eine Summe von 48,000,000 Thalern ergeben. Diese Lage und die Erwägung, daß es in der That immer schwieriger wird, die Grenze zwischen dem, was Lotterie ist, was also unter das Strafgesetzbuch fällt, wenn es ohne Konzession betrieben wird, und dem, was Prämienanleihe ist, fest zu halten, hat die verbündeten Regierungen dahin geführt, im Einverständniß mit der überwiegenden Majorität des norddeutschen Reichstages die Bedürfnißfrage ihrerseits zu bejahen. Die verbündeten Regierungen sind auf den Weg eingegangen, welchen der norddeutsche Reichstag bei seiner Abstimmung im vorigen Jahre auch empfohlen hat, nämlich den, in Zukunft die Emission und den Handel mit Prämien­ anleihen von einem Akt der Gesetzgebung abhängig zu machen. Fast noch schwieriger, als die Frage, wie in Zukunft die Emission von Prämien­ anleihen zu behandeln sei, war die Frage, wie die jetzt umlaufenden Prämienanleihen zu behandeln seien. Es könnte zunächst darüber nicht wohl ein Zweifel obwalten, und so viel ich mich erinnere, ist auch im norddeutschen Reichstage seinerzeit ein Zweifel gar nicht erhoben worden, daß die in Deutschland emittirten Papiere unter allen Umständen in ihrer ferneren Cirkulation nicht gehindert werden sollen. Anders verhält es sich mit

den ausländischen Papieren. Die Mehrzahl der in Deutschland emittirten Papiere ist versehen mit der Genehmigung einer der verbündeten Regierungen; es ist bei der über­ wiegenden Mehrzahl ein staatlicher Akt, der die Cirkulation dieser Papiere, wenn auch zunächst in ihrem Emissionsgebiet, ausdrücklich gestattet hat. Ein ähnlicher Akt, sei es von Seiten einer einzelnen Bundesregierung, sei es gar vom Reiche selbst, liegt hin­ sichtlich der ausländischen Prämienanleihen nicht vor. Es ist deshalb in Erwägung ge-

Znhaberpapiere mit Prämien.

345

kommen, schon in der letzten Session des norddeutschen Reichstages, ob es nicht zulässig sei, die Notirung der fremden Prämienanleihen an der Börse nach Ablauf einer gewissen Zeit zu untersagen. Die verbündeten Regierungen haben nicht geglaubt, auf diesen Weg eingehen zu können. Bei Papieren wie die vorliegenden gehört zu ihrem Werth vor allen Dingen ihre leichte Verkäuflichkeit, und ihre leichte Verkäuflichkeit ist bedingt dadurch, daß sie an der Börse notirt werden; schließt man die Notirung an der Börse aus, so vermindert man die Verkäuflichkeit der Papiere, man vermindert dadurch ihren Werth und man fügt einer großen Menge von Personen — und es handelt sich bei dieser Sorte von Anleihen keineswegs vorzugsweise um große Kapitalisten, sondern um eine Menge kleiner Leute — man fügt einer großen Menge von Leuten, die solche Papiere erworben haben, einen Schaden zu. — Eine zweite Form, die in Erwägung gekommen ist, ist die, die Zulässigkeit des Handels mit ausländischen Prämienanleihen auf die augenblicklich in Deutschland vorhandenen Stücke zu beschränken. Es ist dies ein Gedanke, der sehr nahe liegt, indem er einerseits die Besitzer dieser Stücke vor jedem Nachtheil 311 sichern geeignet ist, und indem er andererseits dem vorbeugt, daß nun für eine nicht unerhebliche Anzahl ausländischer Prämienanleihen, weil sie zugelassen sind, ein gewisses Privilegium geschaffen wird. Dieser Weg ist bei der Vorberathung des Gesetzes eingehend erwogen worden, man hat indessen nicht geglaubt ihn betreten zu können. Ein zweites Moment, worauf ich indessen weniger Gewicht legen will, ist das, daß man durch, diese Maßregel den in Deutschland umlaufenden Stücken dieser Prämien­ anleihen einen künstlichen Werth geben könnte. Es ist ja klar, daß wenn ein Werth­ papier nur auf dem nichtdeutschen Markte cirkuliren kann — ich meine hier unter Papier ein Stück — und ein anderes Stück desselben Papiers in der ganzen Welt, so hat dieses andere Stück desselben Papiers, welches überall cirkuliren kann, entschieden einen Vorzug vor dem ersten. Es ist dies mit ein Grund gewesen — ich sage nicht: der entscheidende —, der dahin geführt hat, diesen Weg nicht einzuschlagen. So sind denn die verbündeten Regierungen, ich muß bekennen, mit schwerem Herzen — dahin gekommen, zu sagen, daß die in der Liste vorhandenen Papiere auch ferner ohne staat­ liche Genehmigung in dem Reichsgebiete cirkuliren sollen. Abg. von Behr: M. H., ich glaube, wir sind zunächst darin einig, daß wir in dieser Gesetzesvorlage eine gar schöne Frucht erblicken von dem Baume, genannt „deutsche Einigung." So lange Deutschland zerklüftet war, wurden wir ausgebeutet in politischer Beziehung und wurden wir ausgebeutet in wirtschaftlicher Beziehung. Wir werden jetzt

nicht mehr ausgebeutet in politischer Beziehung, m. H., und heute ist diese Gesetzes­ vorlage ein wichtiger Schritt, daß Deutschland nicht mehr ausgebeutet werde auf wirth schaftlichem Gebiete. Ich gestehe also hiermit schon, daß ich diese Gesetzesvorlage mit der größten Freude begrüßt habe; nur will ich gleich bekennen, daß die Gesetzes­ vorlage und ihre Motivirung mich nicht haben überzeugen können, daß wir nicht wesent­ lich weiter gehen müßten. M. H., ich frage Sie einfach, haben wir nicht die Pflicht, unser Volk gegen Ausbeutung zu schützen? M. H., kurz gesagt: diesen Speisezettel*) mit allen seinen 82 Gerichten bin ich nicht im Stande zu unterschreiben. Ich finde darunter, um bei dem Beispiele des Speisezettels zu bleiben, sehr faule Fische. Und wenn das ist, m. H., sind wir nicht schuldig, unser Volk dagegen zu schützen? Haben Sie die Güte, denken Sie sich doch einen Augenblick aus diesem Saale hinaus in unsere Privatkreise! Werden wir uns da nicht verpflichtet glauben, jeden Freund, jeden Be­ kannten zu warnen vor einer ganzen Reihe von diesen faulen Fischen, die wir als Volksvertreter nun genehmigen sollen? Ich möchte noch weiter gehen; ich möchte scher­ zend sagen. Jeder hätte die Pflicht in seinem Wahlkreise davor zu warnen, wenn mir das nicht etwa wieder als eine unrechtmäßige politische Beeinflussung der Wahlen von gewisser Seite würde angerechnet werden. M. H., ich gestehe also zunächst, daß ich die Absicht habe, von diesen 82 von uns zu konzessionirenden Prämienanleihen etwa 12 im Betrage von ungefähr 110 Millionen Thalern auszuschließen, weil sie faul sind. *) Das Verzeichniß der Prämienanleihen, deren Umlauf gestattet sein soll. Reichstags-Repertorium I.

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Gesetzentwürfe.

Gerade weil ich glaube, daß dergleichen Sachen nur in einem kleineren Kreise durch Zuziehung von Sachverständigen durch eine lebhafte Diskussion des pro und contra er­ wogen werden können, werde ich beantragen, nach Schluß dieser Berathung das Gesetz an eine Kommission zu überweisen. Es würde sich fragen, ob die Ueberweisung an die Kommission gleich nach der ersten Berathung oder nach der zweiten stattfinden soll. Ich bin für die Ueberweisung an eine Kommission gleich nach der ersten Berathung, weil ich nicht unnöthige Zeit verlieren möchte. M. H., wenn ich also nun meine 110 Millionen Thaler abziehe, wenn ich die 22 deutschen Prämienanleihen als ganz unnahbar ansehe, obgleich ein kleines Hühnchen auch hier und da noch zu pflücken wäre, so blieben immer noch 700 Millionen Thaler Prämienanleihen für unseren Markt konzessionirt. Zch muß darauf aufmerksam machen, daß von diesen 700 Millionen eine große Anzahl jetzt gar nicht in Deutschland vor­ handen sind. Nun, m. H., wenn wir ganz einfach diese übrigen 46 Prämienanleihen hier konzessioniren, so bewilligen wir den auswärtigen Stücken gewissermaßen eine Importprämie in Preußen, denn wenn nun vorerst ein Angebot von neuen Prämien­ anleihen kommen wird bei einer sich gleichbleibenden Nachfrage darnach, so wird natürlich eine Prämie darauf bewilligt, alle zur Zeit im Auslande befindlichen Stücke auf unseren Markt zu bringen. Zch muß also, trotz der Worte, die wir eben gehört haben, dabei bleiben: wir müssen es versuchen mit einer Stempelung der in Deutschland vorhan­ denen Papiere; ich kann die Sache nicht für unmöglich erklären, das Detail aber heute schon anzugeben, bin ich nicht in der Lage und dies zu verabreden — nun, das ist wieder ein Beweis, daß wir eine Kommission dafür einsetzen müssen. Zch will also, da ich nicht sicher bin, ob mich die Gunst der Götter und der Seniorenkonvent in eine solche Kommission verweisen würden, hier schon andeuten, daß ich glaube, unsere Steuer­ behörde, und zwar zwei Instanzen übereinander, ist so organisirt, daß wir ihr das Kommissorium wohl übertragen können, eine solche Stempelung vorzunehmen und dabei müßte von jedem Papier, welches der Steuerbehörde zur Stempelung überwiesen wird, nachgewiesen werden, daß es am 13. April im Besitz des Präsentanten war. Doch nein, ich habe mich falsch ausgedrückt, nicht blos im Besitz, das genügt mir nicht. Sie wissen, daß wir in Deutschland viele große Depots haben, wo viele Tausende von Papieren liegen und harren auf den Zeitpunkt, wo sie vom Publikum gekauft werden. Zch will also, daß der Nachweis geführt werde, daß diese Papiere am 13. April im unverschuldeten Eigenthum Deutscher, und so zu sagen, körperlich in Deutschland vor­ handen waren. Zch will Ihnen gerne zugestehen, m. H., daß dabei Betrug vorkommen kann. Sagen wir beispielsweise: von 700 Millionen wären in Deutschland faktisch 350 Millionen vorhanden, die dem Stempel dargeboten würden, und es würden rasch noch einige Millionen hereingeschwindelt, und würden auch noch betrügerischerweise mit abgestempelt. M. H., ich würde denjenigen zu beklagen haben, der sich verleiten ließe, falsche Erklärungen abzugeben; aber praktisch aufgefaßt, schließen wir immer noch eine Anzahl von Millionen aus, was unser aller Wünschen entsprechen würde. Dann würde ich weiter vorzuschlagen haben, daß nach vier Wochen kein ungestempeltes Prämienanleihe-Stück in Deutschland überhaupt verkauft werden kann, aber in einer gelinden Modifikation der Regierungsvorlage derart, daß der Verkauf verboten sei bei einer Strafe von 25 Prozent des Kaufpreises, wofür Käufer und Verkäufer solidarisch haftbar zu erklären wären. Was dann mit den ungestempelten Papieren werden soll, darüber würde ich mich in der Kommission auch viel besser erklären können, als hier. Zch will nur an­ deuten, daß ich es wohl für gerechtfertigt halte, wenn wir bei der Stempelsteuer, mit der wir uns hoffentlich bald und gründlich zu beschäftigen haben werden, auch diese Stücke erwähnten, und auf solche auswärtigen Prämienstücke, die hinein wollen, einen größeren Stempel, sagen wir 5 bis 10 Prozent, legten, aber kein Stück unter einem Thaler besteuern. Zch sage einen Thaler, damit wir die kleinen viel erwähnten KöchinnenPrämienanleihen ausschließen. Die Desideria, die ich habe, wären also, daß wir erstens den Speisezettel revidiren und dennoch zweitens die Stempelung versuchen. Zch möchte aber, nachdem ich in dieser

Znhaberpapiere mit Prämien.

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Richitung das Gesetz angegriffen habe, dieses mir dennoch liebe Gesetz vertheidigen gegen die Angriffe, die, wenn ich mich nicht täusche, bald folgen werden! — M. H., es gibt eine so schöne Fahne, die heißt die wirthschastliche Freiheit. Wie wäre es schön, wenn wir Normative uns ersännen und sagten: wer diese Normative erfüllt, darf frei Prämienanleihen ausgeben. Ich frage aber dabei einfach: cui bono? Haben Sie die Güte, folgen Sie mir einen Moment auf das Meer, denken Sie sich das Schiff schön hinreichend bei schönem Wetter; viel tausend kleine Fischlein umgeben das Schiff; der Koch wünscht, den Fischlein etwas zuzuwenden, und schüttet Nahrung ins Meer hinein, aber sofort tauchen aus der Tiefe Haifische auf und verschlingen das Ganze. M. H., wer diese Haifische sind, die ich meine, ich brauche sie nicht zu nennen, ich glaube, sie srnd allbekannt; die kleinen Fischlein aber, die betrogen werden, das wären wir kleinen Leute, wir, die wir doch wünschen würden, für unsere Kommunen, für unsere Kreise, Provinzen, diese Prämienanleihen, gegen die ich im Prinzip nichts einzuwenden habe, wenn sie nicht allzusehr dem Lotto sich nähern, zu benutzen. Wir würden unsere An­ leihen nimmer an den Mann bringen, weil die Haifische alles verschlängen. Ich er­ innere mich bei dieser Gelegenheit besonders gerne an Aufsätze, die, wenn ich nicht sehr irre, von unserm Kollegen Herrn Bamberger herrühren, worin er namentlich nachwies, wie Belgien eine große Menge seiner gemeinnützigen Unternehmungen durch die Prämien­ anleihen ins Werk gesetzt hätte. M. H., das wird uns künftig freistehen; wenn der­ gleichen Unternehmungen uns zur Konzessionirung vorgetragen werden, werden wir zu Gunsten der Kreise, der Kommunen, der großen Städte die Konzession ertheilen können. Zch will Beispiele bringen. Ich will nicht das Projekt erwähnen, das ein großer In­ dustrieller lange gehabt haben soll, Norddeutschland mit einer gemeinsamen Wasserleitung zu versehen. Dazu würden wir nicht die Konzession geben. Aber vielleicht, wenn Pommem und Schlesien sich vereinten, um gemeinsam die Oder zu kanalisiren, wenn wir auf diese Weise ihnen billigeres Geld schaffen könnten, würden wir das nicht für ganz nützlich halten? Also, in. H., ich möchte sehr warnen gegen Normative, weil, so schön es in der Theorie lautet, in der Praxis doch nur eine Ausbeutung des Marktes durch die Haifische stattfinden würde. — Ich fürchte einen zweiten Angriff auf unser Gesetz. Nach der Vorlage, die uns gemacht ist, sollen künftig Prämienanleihen nur auf Grund eines Reichsgesetzes ausgegeben werden. M. H., man wird uns warnen, dergleichen Sachen in den Reichstag zu bringen, man wird erstens sagen, das kostet uns viel Zeit. Dagegen hätte ich denn den Vorschlag, uns etwas weniger mit den Wahlbeeinflussungen zu befassen. Man wird uns zweitens sagen, das könnte zu einer Korruption führen, es sollten Beispiele aus andern Staaten darüber vorliegen. M. H., darauf habe ich Folgendes zu erwidern: Erstens, angenommen, eine Korruption wäre überhaupt irgendwie denkbar, sollte sie deswegen geringer werden, weil sie von den beschließenden Faktoren uns 400 ausnehmen? Was heißt denn doch ein Reichsgesetz? „im Namen des deutschen Reiches nach erfolgter Zustimmung des Bundesraths und des Reichstages." Wenn nun künftig allein der Bundesrath sollte konzessioniren können und wir nicht mit, würde dadurch die Gefahr der Korruption eine geringere werden? M. H., mich ängstigt der Vorwurf der Korruption nicht. Ich bin der Ansicht, daß noch nicht so viel Gold gegraben ist, noch kein so großer Esel geboren ist, dies Gold zu tragen, welcher hinein­ zudringen vermöchte in die Festung, welche genannt ist: Bundesrath und Reichstag. Zch fürchte nicht die Korruption, ich bitte Sie, in dieser Beziehung es absolut bei den Vorschlägen des Gesetzes zu lassen, dagegen möglichst bald eine Kommission zu erwählen, die, wie den Gesetzesvorschlag im Ganzen, so speziell prüft, ob wir nicht den Speise­ zettel ändern können, und ob wir nicht die in Deutschland anwesenden Papiere stempeln können. Abg. Dr. Bamberger: M. H., das heute vorliegende Gesetz hat zwar eine kurze, aber sehr inhaltreiche Geschichte, und ich betrachte die Aufgabe, die Sie zu lösen haben, in Verbindung mit der über das Schadengesetz bei Eisenbahnen und Fabriken, für eine von außerordentlicher Wichtigkeit seiende. Sie inauguriren damit einen legis­ latorischen Gesichtspunkt für den ersten deutschen Reichstag in der allerweittragendsten

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Weise. Sie haben in der kurzen Zeit von nicht zwei Zähren, daß die Oeffentlichkeit sich mit dieser Aufgabe beschäftigt, bereits vierfache Aeußerungen in vierfachem Sinne von kompetenten Stellen über das, was hier zu thun sei, gehört. Zunächst wurde mit der Sache befaßt der volkswirthschaftliche Kongreß, der vom 1. bis 4. September 1869 tagte, und der beschloß, m. H., weder auf Verbote einzugehen, noch auf besondere ge­ setzliche Konzessionirungen; er sprach sich blos gegen den einen Gesichtspunkt aus, gegen den sich alle Autoritäten bis jetzt ausgesprochen haben, und worin ich ihm auch voll­ ständig beistimme: kein Privilegium! das ist der Punkt. Darauf folgte, m. H., die preußische Kammer ebenfalls im Jahre 1869 am 26. Oktober, und sie faßte einen Beschluß, der wesentlich provocirt war durch eine bevorstehende Maßregel, weil nämlich die Hundert - Millionen - Thaler - Prämien - Emission verschiedener Eisenbahn-Gesellschaften emittirt werden sollte. Die preußische Kammer widersetzte sich der praktischen Anwen­ dung dieses Privilegiumsgesetzes, gegen welches sich alle Welt ausgesprochen hatte. Es wurde damals beschlossen, zu erklären, daß die Konzession der Hundert-MillionenThaler-Prämien nicht vereinbar sei mit dem Staatswohl. Es wurde zweitens — wenn ich nicht irre auf Antrag unseres Kollegen Grumbrecht — beschlossen, dahin zu wirken, daß die Frage der Statthaftigkeit der Prämienanleihen auf dem Wege der BundesGesetzgebung geregelt werde; drittens, bis dahin neue Konzessionen nicht zu geben. Sie haben also hier einen zweiten Standpunkt. — Darauf folgte der Reichstag mit einem dritten Standpunkt; hier wurde beschlossen auf den Antrag des Herrn Abg. v. Blankenburg, daß zunächst ein Verbot ergehen solle, außer zu Gunsten von Staat und Gemeinden, und ein Verbot nach drei Monaten für alle circulirenden Prämien­ papiere. Ich bemerke hier ausdrücklich, daß damals der Antrag gestellt wurde, man solle die Exception von Staat und Gemeinde weglassen, man solle das Verbot absolut aussprechen, und daß dieser Antrag mit ansehnlicher Majorität verworfen wurde. Halten Sie auch dieses Präjudiz fest, dies war der Hauptbeschluß damals. Mit diesem Be­ schluß konkurrirte damals ein Antrag Kardorff u. Braun, welche Normativbedingungen wollten, und zwar nicht blos für Prämienanleihen, sondern auch für sämmtliche Znhaberpapiere, eine Sache, die allerdings schwer zu trennen ist und an deren Trennung, wie ich auch glaube, der gegenwärtige Gesetz-Entwurf zum großen Theil zur Unvollkommen­ heit gelangt ist. Der Antrag Grumbrecht verlangte auch, die Ausgabe von Prämien­ anleihen sollen von einem Bundes-Gesetz abhängig gemacht und die erforderlichen Sicher­ heilsmaßregeln wegen der im Umlauf befindlichen Papiere dieser Art getroffen werden. Nun, m. H., haben wir nach diesem dritten Gesichtspunkt einen vierten zuzusetzen durch die heutige Vorlage, die sich wiederum wesentlich von den vorausgegangenen unterscheidet und uns einen neuen Gesichtspunkt aufstellt. Ich erkläre mich von vorn herein ein­ verstanden mit der Bundesbehörde darin, daß sie sagt, das Gesetz ist Zeitbedürfniß, erstens wegen der Ungleichheit der Gesetzgebung in Deutschland, und es ist Zeitbedürfniß, m. H., weil das Drängen nach einer Gesetzgebung selbst wieder das Bedürfniß hervor­ gebracht hat. Zch gebe dem Herrn Vertreter der Bundesbehörde vollkommen Recht, daß in der letzten Zeit ein sehr starkes Zuströmen und Schaffen von Prämienanleihen der verschiedensten Art stattgefunden hat. Aber, m. H., wer ist denn der wahre Begründer dieser Prämienanleihen? Es sind nicht die Banquiers draußen, sondern die Herren hier im Reichstag, die Herren, die beständig gesagt haben, es muß ein Gesetz gemacht wer­ den zur Präkludirung der Prämienanleihen; die haben die drei letzten Bukarester und ähnliche Anlehenslose geschaffen; denn man hat sich draußen in der Welt gesagt: es wird ein Gesetz kommen, die Prämienanleihen werden verboten werden, eilen wir uns, noch schnell vor Thoresschluß mit einer zu kommen. Und nun hat man auf den Markt geworfen — gerade wie wenn ein Zollgesetz gemacht werden soll, man schnell noch Kaffee oder Reis u. s. w. einkauft, um sich für einige Jahre zu verproviantiren — Prämienlose aller Art sind emporgeschossen. Und so geht es, m. H., wenn wir mit zu kühner Hand eingreifen in die Freiheit des Verkehrs, in die spontane Bewegung des Marktes, wobei wir nicht Alles berechnen können: wir rufen sehr häufig das hervor, was wir beschwören wollen! (Lebh. Z.) M. H., ich muß, bevor ich weiter gehe in der

Jnhaberpapiere mit Prämien.

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Diskussion, mich klar stellen zu dem Gesetz-Entwurf, insoweit er von der Bundesbeh'örde ausgeht. Trotzdem sie die moralische Verantwortlichkeit für den Gesetz-Entwurf hier übernimmt und übernehmen muß, so löse ich sie doch von derselben los; sie hat es uns zu verschiedenen Malen sehr deutlich in ihren Organen zu verstehen gegeben, und sie hat es uns heute wiederholt zwischen den Zeilen zu lesen- gegeben, daß sie an dieses Gesetz nur gegangen ist vollständig gezwungen, aufgefordert durch den Reichstag, und daß sie es nicht eingebracht hätte, wenn ihr nicht das Verlangen danach von den ver­ schiedensten Seiten zu verstehen gegeben worden wäre. (S. r.) M. H., die Bundes­ behörde ist so zu sagen doch auch ein Mensch; und wenn eine heilige Allianz, von Herrn v. Blanckenburg, von Herrn Lasker und von Herrn Löwe befehligt, vor ihrem Throne erscheint und so zu sagen im Namen der ländlichen Unschuld, der Sittlichkeit und der Freiheit (Br.! H.) sie beschwört, doch hier legislativ einzugreifen und die Menschheit vor dem Uebel der Prämienanleihen zu retten — nun, m. H., so verzeihen Sie es ihr wahrlich, wenn sie auch ein bischen ihre Ueberzeugung forcirt und sagt: fiat voluntaß tua, ihr wollt ein solches Prämien-Gesetz haben, so sollt ihr es denn haben! Mein verehrter Vorredner und Gegner hat mir in einem Punkte bereits vorgearbeitet; m. H., er ist selbst nicht einverstanden mit dem, was durch den Namen, den die Sache bereits im Volksmunde erhalten hat, genügend charakterisirt ist, mit dem, was hier, glaube ich, allgemein verdammt werden wird, mit dem „Speisezettel". Nun, m. H., dieser Speise­ zettel ist aber einer der Kardinalpunkte des gegenwärtigen Gesetzes; Sie können ihn nicht ausmerzen, ohne das ganze Gesetz zu Falle zu bringen, und ich glaube, schon deßhalb müssen Sie es zur Neuberathung in eine Kommission verweisen. — Es ist aber noch ein anderer Punkt darin, der ebenfalls nach meiner Ansicht — und wie ich glaube nach der Ansicht der Majorität dieses Hauses — außerordentlich disputabel ist, und das ist die Bestimmung, wonach künftighin Prämien-Gesetze nur erlassen werden sollen in Folge eines Reichstagsbeschlusses. Ich glaube, daß außerordentlich große Bedenken diesem Grundsatz entgegenstehen, und daß wir, weil wir auf denselben und wenn wir auf denselben nicht eingehen wollen, damit beginnen müssen, die Vorlage in die Kommission zu verweisen. — Nun, m. H., wenn ich Ihnen in wenigen Worten die äußere Geschichte dieses Entwurfes ins Gedächtniß zurückgerufen habe, so erlauben Sie mir auch, seine innere Geschichte mit zwei Worten zu berühren. Woher kommt denn dieser Gesetz-Entwurf und der Geist, aus dem er hervorgegangen ist? Ich glaube, zunächst beruht er überhaupt auf der Stim­ mung, die gegen die Börsengeschäfte landläufig umgeht, auf einem gewissen Odium, das sich an die Börsengeschäfte heftet; sodann kommt er aus der Ansicht her — und die spielt sehr bedeutend hier mit, — daß die Prämiengeschäfte sowohl dem Kredit des Staates, als auch namentlich des Ackerbaues eine sehr bedenkliche Konkurrenz machen; drittens aus der Anschauung, daß die Prämiengeschäfte eigentlich nichts seien, als eine Art von Spiel und Lotterie; viertens daher, daß man glaubt, wer ein PrämienanleiheLoos kaust, der ist betrogen, und es finde hier eine Täuschung statt; und erst in aller­ letzter Linie wegen des Privilegiums, das ich Ihnen bereits preisgegeben habe. — Nun, m. H., was den ersten Punkt angeht, das Odium gegen die Börse, so weiß ich, daß ich das hier nicht zu widerlegen habe. Die Börse, wenn wir unter uns darüber sprechen, können wir, wie über Alles, was im Mittelpunkt der Welt auf der großen Bühne steht, auch unsere Witze darüber machen, aber, wenn wir ernst darüber reden wollen, so müssen wir doch jagen, daß die Börse die Versinnlichung des ungeheuren Industrialismus ist, der gegenwärtig die Wellgeschäfte beherrscht, ohne den weder die Alpen durchbrochen, noch die Meere mit Telegraphen durchfurcht, noch sogar die ruhm­ reichen Schlachten geschlagen würden, die wir gewonnen haben, und ich halte deshalb für unnöthig, gegen veraltete Anschauungsweisen zu polemisiren. Daß ein großer Ocean, wie die gegenwärtige Zndustriewelt, wenn er ins Kochen kommt, was täglich zwischen 12 und 1 auf den Börsenplätzen geschieht, auch manche Ungeheuer aus der Tiefe mit auswirft, die, wenn sie im Kampf der Wogen zu Grunde gehen und an den Strand geworfen werden, dann, wenn sie sich auflösen, nicht den besten Geruch ver­ breiten — das, m. H., will ich am wenigsten bestreiten; aber das ist doch keine Ver-

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urtheilung eines ganzen ungeheuren Wellelements, gegen das wir jetzt vengebich an­ kämpfen werden. M. H., was ich nur will, das ist, daß die Börse nicht in den Reichstag hereinkommt, (Br.!) und das würden Sie mit diesem Gesetz bgwecken. M. H., Sie haben sich dagegen erhoben, daß die Kanzel nicht in den Reichstag kommt; ich habe Ihnen vielfach zugestimmt, aber hundertmal lieber die Kanzel in den Jeichstag hineingesetzt als die Börse! M. H., das ist meine Ansicht, und so Etwas menen Sie thun, wenn Sie dieses Gesetz einführen, welches dem Reichstag eine Stimme gi-bt über Zulassung von gewissen Prümienanlehen oder über deren Ausschließung; Sie worden es nicht blos thun, indem Sie hier zur Entscheidung bringen, was gut und was schlecht, was empfehlenswerth und nicht empfehlenswerth sei, sondern Sie werden schon auf die Wahlen mitwirken. M. H., wer sagt Ihnen denn, daß, wenn in drei Jahren gewählt wird und ein solches unglückseliges Gesetz bestände, daß nicht da, wo die Bö'senleute Einfluß haben — und sie haben doch auch ihren Einfluß — sie suchen werder, solche Repräsentanten zu bekommen, die für gewisse Prämienanlehen in gewissen Füllm stim­ men, und, m. H., wenn sie keine Majoritäten bekommen, so können sie Einfluß bekom­ men, sie können auch Mitglieder in die Kommissionen bringen, und daß es nu: mög­ lich wäre, davon zu sprechen, das hielte ich schon für ein Unglück, daß nur der Gedanke, nur der Zweifel aufsteigen könnte, es hätten Börseneinflüsse in den Reichstag hinein­ gespielt. Ich glaube, m. H., daß wir von vorn herein, wenn je, so hier dem Grundsatz huldigen müssen: principiis obsta! Keine Privatbills, nichts von Börse hier herein in die Diskussion! Nicht einmal die Möglichkeit, hier eine Wirkung auf ein einzelnes Mit­ glied auszuüben, wenn es die Privatbill unterstützt, nicht einmal ein Verdacht, daß möglicherweise ein Interesse hier im Spiele sein könnte. (S. g.! r.) M. H., der zweite Punkt, der zur Anwendung gebracht wird, ist der, daß hier dem Staat und namentlich dem Grundkredit ein besonderer Schade zugefügt werde. Ich muß gestehen, daß ich mir nicht recht klar bin, wie denn der Grundkredit sich ge­ schädigt halten kann dadurch, daß Prämienloose emittirt werden. Was wirft m.m denn den Prämienlosen vor? Daß sie sich das Geld um zu niedrige Zinsen beschaffen, daß wenn sie keine Lotterie mit ihren Anleihen verbänden, sie höhere Zinsen zahlen müßten, und nun, m. H., kommt der Landbau und sagt: die Zinsen sind schon un­ erschwinglich hoch für mich, und will wen verdrängen? Denjenigen, der weiß, sich billiges Geld zu verschaffen, d. h. denjenigen, der ihm die schwächste Konkurrenz macht; er will, daß in Zukunft diejenigen Gemeinwesen, seien es Gesellschaften, seien es Municipien, seien es Staaten, die sich zu 3 oder 272 oder 3V2 Prozent mittelst Prämienanleihen Geld verschafft haben, gezwungen sein sollen, 6, 7 bis 8 Prozent zu zahlen, und glaubt merkwürdigerweise sich dadurch billigeres Geld verschafft zu haben. Die Sache ist mir um so auffallender und bis jetzt unerklärlicher, als sogar von Seiten der Gegner der Prämienanleihen wir haben sagen hören: wir müssen die Prämienanleihen verbieten, denn wenn wir sie nicht verbieten, so kommen eine ganze Menge Bodenkredit-Anstalten, die Prämienanleihen emittiren wollen. Die alleransehnlichsten Prämienanleihen sind zu Gunsten der Bodenkredit-Anstalten gemacht worden; der ungeheuere französische Credit foncier, der ja der Sache erst Halt und Leben gegeben hat und dessen Beispiel so viel­ fach befolgt worden ist, ist zu Gunsten des Bodenkredits geschaffen, und ich kann mir nicht erklären, und warte vielmehr auf die Erklärung, wie die Herren, welchr den Land­ bau beschützen wollen, sich denken, daß sie billiger Geld haben werden, wmn einmal die Prämienanleihen verboten sein werden. — Ueberhaupt muß ich einschaltm, daß ich in einem Punkte eine recht ketzerische Ansicht habe; nämlich ich bin durchaus nicht gegen die niedrigen Prämienloose, wenn solche überhaupt zugelassen werden sollen. Ich sage, die niedrigen Prämienloose, welche 10 oder20 Gulden nur kosten, die suchen das Geld an einer Stelle aus, wo es sonst gar nicht begehrt wurde; sie machen Ihnen durchaus keine Konkurrenz, sie suchen nur das Geld auf, welches unproduktiv verzehrt würde, sie leben wie die Ziegen auf den Spitzen der Alpen von den letzten Gräschen, die zwischen den Steinen herauswachsen, und machen den großen Kühen, die das viele große Gras brauchen, durchaus keine Korkuwenz. (H.)

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Wo aber, wenn Sie nun die Börse perhorresciren, wenn Sie das Unglück der Agiotage in viel besungener Weise beklagen, wo haben Sie dann die traurigen Beispiele, das Unglück, das die Agiotage herbeigerufen hat? Sehen Sie sich doch den Speisezettel an und fragen Sie sich, wie viele dieser Prämienanleihen bereits ihre Abnehmer ruinirt haben! Sie werden unter den 81 nur ihrer zwei finden, die bis jetzt gestockt haben, Bankerott hat noch nie eine dieser 81 Gesellschaften gemacht, die Prämienanleihen emittirt haben, eine der zwei ist die Esterhazysche Anleihe und die andere in der letzten Krisis in Spanien das Anlehen der Stadt Madrid. Diese beiden haben die Zahlungen nur suspendrrt; die Esterhazysche Anleihe kam wieder in Ordnung, und die Stadt Madrid wird ihre Zahlungen zu gegebener Zeit höchst wahrscheinlich wieder aufnehmen. Ich frage Sie also, m. H., ob die Gesammtheit dieser Schuldscheine demnach wirklich so ruinös ist, und ob wirklich die Opfer, welche die Börse schon beklagt hat, gerade an den Prämien­ loosen gestorben sind, und Sie werden eingestehen, daß Sie in vollkommener Täuschung begriffen sind, wenn Sie unter diesem Eindruck stehen. M. H., was macht denn ein Schuldpapier, um das es sich hier handelt, gut oder schlecht? Das ist die Natur des Schuldners! Wenn Jemand sich fragt, ob er leihen oder nicht leihen soll, so fragt er, wie es in der Geschäftswelt Mode ist: ist er „gut" oder ist er „schlecht", und das heißt nicht: zahlt er 3 V« Prozent oder 4 V2 Prozent, sondern das heißt: wird er im Stande fein, jemals sein Kapital zurückzuzahlen. Nun, m. H., sagt man aber auch, Prämienanleihe ist Lotterie. Der Herr Be­ vollmächtigte zum Bundesrath hat bereits gesagt, wenn wir das Prinzip der Verkehrs­ freiheit aufs Aeußerste treiben wollten, so müßten wir auch die Lotterie gestatten. Ich gebe ihm vollständig recht, daß wenn wir das Prinzip aufs Aeußerste treiben wollen, wir diese Konsequenz ziehen müßten; aber weil ich darin ganz seiner Meinung bin, daß wir als praktische Menschen nie, um ein Prinzip anzuwenden, uns in eine 'Camera obscura setzen und da gerade Linien in die Unendlichkeit ziehen müssen, sondern daß wir die Sachen ansehen, wie sie sind, deswegen behaupte ich, es wäre ebenso falsch zu sagen, die Prämienanleihe ist unter allen Umständen eine Lotterie; dies wäre ebenso falsche als wenn man sagen wollte, weil wir Prämienanleihen zulassen, müssen wir nun auch die Lotterieanleihen zulassen. M. H., es ist die Lotterie, nach dem über­ lieferten Begriff, wie Sie ihn von Hause aus in sich ausgenommen haben, wenn Sie auch fragen nach dem Sprach- und Sittengebrauch, es ist die Lotterie diejenige Ver­ einigung von Menschen, welche sich zusammenthun und sagen: jeder von uns setze einen Einsatz, wenn ich Einzelner kein Glück habe, so soll er verloren sein; wenn ich aber Glück habe, so soll ich hundert- und tausendfach den Einsatz gewinnen. Das, m. H., ist der unverfälschte Begriff von Lotterie, und jedes Anwenden über dieses Prinzip hin­ aus können Sie über den ursprünglichen Ausgangspunkt hinweg ebenso forciren, wie Sie jede Kanone, wenn Sie sie bis zur Mündung laden und 56 Mal hintereinander abschießen, zum Springen bringen können. Das beweist also gar nichts. Nun sagt man aber ferner, es ist auch ein Betrug in der Kontrahirung der Prämienanleihen. Nun, ist es doch an sich höchst wunderlich, daß dieselben Leute, welche gegen das Wuchergesetz aufgetreten sind, welche die gesetzgebenden Versammlungen dahin gebracht haben, die Wuchergesetze abzuschaffen, daß die gegen die Prämienanleihen austreten, weil sie behaupten es läge ein Betrug in denselben. Bei dem Wuchergesetz wollte man, daß demjenigen armen Teufel, der zu wenig Geld hat, nicht zu viel Zinsen abgenommen werde — das war die Absicht des alten Wuchergesetzes — und diesem Gesichtspunkt treten Sie, das Wuchergesetz aufhebend, entgegen und sagen: es dürfen dem, der borgt, so viel Zinsen abgenommen werden, wie man will. Nun kommen Sie aber zu den Prämienanleihen; da sagen Sie, der Mann könnte, wenn er richtig berathen wäre, statt 3V2 Prozent mit den Prämienanleihen 4V2 oder 6 Prozent mit einer guten Staatsanleihe oder Hypothek machen, und Sie wollen dafür sorgen, daß ihm Zinsen genug gegeben werden. Das ist der ganze Sinn dessen, daß Sie sagen, der Nehmer wird betrogen; anders kann ich es mir nicht erklären; oder aber Sie sagen: ja, wenn er nur wüßte, wie viel Zinsen er bei den Prämienanleihen bekommt, aber er weiß es nicht, die Sache

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ist so in einander gemischt, daß man nicht unterscheiden kann, was eigentlich Zins oder Gewinn für den Kontrahenten ist. Nun, m. H., wenn Sie das Prinzip festhalten wollen, dann müssen Sie es vor allen Dingen auch auf diejenigen Papiere anwenden, die Sie gerade freigegeben haben, nämlich auf die Aktien. Die Jnhaberpapiere auf Aktien haben Sie ausnahmsweise, während Sie bis jetzt im Uebrigen sich besinnend noch stille stehen, freigegeben; in Sachen der Jnhaberpapiere sind Sie bereits soweit gediehen in dem Prinzip der gewerblichen Freiheit, daß Sie sagen, die Aktieninhaber sollen frei sein, es sollen Aktien ausgegeben werden können auf Grund der Normativ­ bedingungen, so viel man will; aber in diesen sitzt ja gerade das angeblich so Gefähr­ liche: die unbekannten Zinsen! Welcher Mensch, der Bergwerks-Aktien, Eisenbahn-Aktien oder Credit mobilier kauft, weiß denn, was für Zinsen bezahlt werden. Man sagt ihm, du wirst große Zinsen bekommen, und er bekommt vielleicht gar keine. Also in das Prinzip der Ueberwachung, dadurch, daß sie Jedem einen Rechenmeister zur Seite stellen wollen, der ihn darauf aufmerksam macht, wie viel Zinsen er bekommt, darauf können Sie sich absolut nicht einlassen, ohne vollständig in die krasseste Bevormundung des gewerblichen Verkehrs einzutreten. Sie haben die ärztliche Praxis freigegeben und Sie erlauben jetzt, alle möglichen Heilmittel anzupreisen, ebenso wie Bücher, durch deren Lektüre augenblicklich ein Greis zum Jüngling gemacht werden kann, und die man für einen Thaler portofrei erhält; das Alles erlauben Sie, und ich hoffe, daß Niemand ver­ langen wird, daß Sie es verbieten — und Sie wollen über Jemanden, der 20 Gulden gespart hat und zufrieden ist, 3 Prozent Zinsen zu bekommen und noch 3E als Prämie, eine Ober-Vormundschaftsbehörde setzen, einen Schutzmann, der in sein Portefeuille sehen soll und nachschlagen, ob der Mann auch genau weiß, ob er nur ein halb Prozent statt zwei Prozent in Form von Prämie bekommt! Nun schlägt man Ihnen vor, Sie sollten die Sache doch dadurch remediren, daß Sie einen Stempel erheben, und man sagt Ihnen, es wird ganz praktisch angehen, daß man nur diejenigen Stücke wirklich abstempele, welche in Deutschland wirklich vorhanden sind. Wenn Sie eine Art von eidlicher Erklärung einführen wollen, die wir uns bisher gehütet haben, in Bezug auf die Vermögenssteuer einzuführen, so bitte ich Sie, die Geschäftswelt doch nicht in diese Versuchung zu führen und nicht den Unredlichen gegen den Redlichen zu bevortheilen, nicht denjenigen, der beeidigen oder bescheinigen will, daß ihm diese Loose gehört haben, zu beyortheilen gegen den, der so ehrlich ist zu er­ klären, daß er sie nicht besessen habe. Alle diese Maßregeln sind werthlos; Sie müßten denn gerade einen Grenzkordon schaffen wollen, der dafür sorgt, daß keine fremden Papiere hereinkommen, wie seiner Zeit es für ein großes Unglück betrachtet wurde, daß Kaffee aus den Kolonien kam, weil, wie man sagte, das Geld der preußischen Unter­ thanen aus dem Lande hinausgegeben würde, und es müßten daher industrielle Börsenund Kaffeeriecher angestellt werden, die überall die Nase hineinstecken müssen und nach­ sehen, ob irgendwo ein Prämienloos existirt. M. H., die Normativbedingungen, hat man Ihnen gesagt, werden unvollkommen die Aufgabe lösen. Unvollkommen? ja, wie Alles, was wir machen. Sie haben Normaüvbedingungen für Aktien gemacht; glauben Sie, daß diese Aufgabe vollkommen gelöst ist? In der kurzen Zeit, in welcher dieses Gesetz besteht, habe ich in meiner eigenen persönlichen Praxis schon zwei Mal die leidige Erfahrung gemacht, daß dadurch in irrationeller Weise die wirthschaftliche Art des Be­ triebes einer Gesellschaft sich beschränkt fand, indem man es dieser unmöglich machte, auf ihr lastende und ihre Lage bedrückende eigene privilegirte Aktien zu erwerben, die tief unter dem Werthe standen und deren Ankauf die gesellschaftliche Lage erträglicher gemacht hätte, wenn nicht den Gesellschaften verboten wäre, ihre eigenen Aktien anzu­ kaufen. Sie werden mit Normativbedingungen nie ein Ideal erreichen, aber Sie können sich diesem Ideal so weit nähern, als es überhaupt möglich ist. Nun sage ich noch Eins. Wenn Sie Gesetze machen wollen, m. H., so machen Sie nicht eine Gesetzgebung, die selbst eine Art von Lotterie ist, die — ich darf das hier nicht näher kritisiren, weil es sich um einen gefaßten Beschluß handelt — die aber unter ähnlichen Konstellationen ins Leben gerufen ist, wie es am Schluß des vorigen

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Reichstags geschehen ist, wo am letzten Tage große Prinzipien mit einer Schnelligkeit diskutirt und festgestellt worden sind, wie sie eben am letzten Tage einer auseinander­ gehenden gesetzgebenden Versammlung nothwendig erlassen werden müssen, und machen Sie kein Gesetz des Zornes oder des Unwillens, ein Gesetz, welches sich gegen alle Ihre Prinzipien versündigt, sondern machen Sie ein solches Gesetz, welches ein Eckstein sein kann für den zukünftigen Bau der deutschen Gesetzgebung, und versündigen Sie sich deshalb nicht gegen den Grundsatz des freien Verkehrs. (Br.) Abg. Lasker erklärt sich zuvörderst gegen eine Verweisung der Vorlage an eine Kommission und fährt dann fort: Ich will als meine Meinung heute bereits aus­ sprechen, daß ich die Prämienanleihen in keiner Weise und in keiner Form zulassen will, sofern ich dies erreichen kann, und nur als Nothbehelf allenfalls das Gesetz und in letzter Instanz die Konzession durch den Bundesrath annehmen werde. Während wir über Normative für Jnhaberpapiere und Actien verhandeln, würden wir als eine dieser Normativbedingungen aufstellen können, daß das Papier mit keiner Prämie ver­ bunden sei; was Sie heute abstraktes Verbot nennen, reiht sich sodann als ein Merk­ mal in die allgemeinen Normativen ein, und der Vorwurf ist weggefallen, daß wir ein absolutes Verbotsgesetz machen wollten. Wer uns für berechtigt hält, überhaupt für Jnhaberpapiere Normative zu geben, muß auch zugestehen, daß als eine dieser Bedin­ gungen gelten kann, Prämienanleihen nicht auszugeben. Es handelt sich also blos um die Frage: ist Grund vorhanden, ein solches Normativ vor den übrigen herauszugreifen, uns mit diesem speciellen Gesetz vorweg zu beschäftigen? Und darauf gebe ich nun die Antwort: den ganzen Kreditverkehr durch Gesetze besser zu regeln, als gegenwärtig der Fall ist, ihn zu befreien von der Ausbeutung und von den Privilegien gewisser Gesell­ schaftsklassen, welche Bankiers, Wechsler, Börsenmänner heißen, das bin heute noch nicht im Stande; deßwegen will ich das umfangreiche Gesetz nicht versuchen. Aber begonnen haben wir bereits, begonnen mit der sehr verdienstlichen und fruchtbaren Schöpfung der Schulzeschen Genossenschaften, die wir so lange haben wild wachsen lassen, bis wir in der Lage waren, ihnen ein bestimmtes, heilbringendes, auch zugleich einschränkendes Ver­ fassungsgesetz zu geben. So in derselben Weise werden wir andere scharf hervortretende Erscheinungen auf dem Gebiete des Kreditlebens gesetzlich regeln, sobald wir den Grund und den Zusammenhang der Erscheinungen genau erkannt haben. Aber nicht blos positiv, sondern auch negativ; wenn Erscheinungen hervortreten, bei denen dem allergemeinsten Verstände klar ersichtlich ist, daß sie schädlich wirken, daß sie den Kredit verwirren, dann lasse ich mich durch das Wort Freiheit, welches hinten angehängt wird, in keiner Weise beirren, sondern ich werde wegstutzen, was weggestutzt werden muß, damit die Pflanze gedeihen könne. (Br.!) — Sind solche Erscheinungen bei Prämienanleihen her­ vorgetreten? Der Allseitigkeit, dem durchdringenden Verstände und zum Theil auch dem Witze meines verehrten Freundes, der vor mir gesprochen, ist es allerdings gelungen, manchem Mißbrauch dieser Art eine freundliche Seite abzugewinnen, und ich war sogar einen Augenblick lang verleitet, Prämienanleihen mit Sparkassen zu verwechseln. (H.) Indessen, m. H., ganz unterdrücken hat er doch nicht gekonnt, was an sich einmal schlecht ist und was er selbst blos nach dem Prinzip der Freiheit allenfalls gelten lassen will. — Der Grund aber, weshalb ich mich gegen die Prämienanleihen erklären will, besteht darin, weil das Fundament der Prämienanleihe die Täuschung ist, (s. r. l.) und weil die Geldagenten, welche die Prämienanleihen oder den Absatz schaffen, keines­ wegs dies thun, um ein gutes Circulationsmittel in die Welt zu setzen, sondern sie machen sich zu Agenten der Täuschung, um das Agio in die Tasche zu stecken. (S. r.) Es fällt keinem dieser Herrn ein, keinem der großen Bankiers, die ja in der Regel diese Agenten der Täuschung sind, sich die Prämienanleihen in ihren Kasten zu legen, um sie da als Geldanlage mit 3 % oder 4 Procent jährlich liegen zu lassen, sondern sie rechnen: das Publikum versteht das Ding nicht so gut wie wir, und da es sonst Zu­ trauen zu uns hat, und weil das ärmere Publikum, auch der Mittelstand, eine ganz besondere Neigung hat, dem Glücke die Hand darzubieten, d. h. ein wenig zu spielen, so werden wir die Prämienanleihe mit sehr großen Inseraten in die Welt setzen, die

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Inserate an solche Blätter schicken, die uns dafür nützliche Kritiken gegen die Reichs­ tagsverhandlungen schreiben (H.), werden, nachdem die Lust angeregt ist, einen Aufschlag nehmen und, sobald wir den Aufschlag in der Tasche haben, dafür sorgen, drß auch nicht ein Stück in unserem Besitze bleibt. (S. r.) — Uebertreibe ich, m. H.? (Nein! Nein!) Genau so pflegt es herzugehen. Zuweilen liegt der Betrug — Tmschung nenne ich es einstweilen, denn wir haben es noch nicht zum Betrug gestempelt — für Einen, der genau nachrechnet, auf der Hand. — Die Frage der Gesetzgebung lautet: ein Mittel der ärgsten Täuschung wird angewendet, thatsächlich wird unser Volk kei jeder neuen Prämienanleihe um Millionen geprellt, und wir haben die Macht in Hänoen, die Täuschung auszuschließen. Ist der Ausschluß gestattet? Wenn Sie diese Abnehr für ungestattet erklären, dann, m. H., kommen Sie in konsequenter Durchführung, nur in nicht gar zu großen Schritten, zur Freigebung gewisser Arten des Betruges; (oh! oh!) allerdings, m. H., in konsequenten Schritten kommen Sie dazu, wenn Sie der offen­ kundigen Täuschung freien Spielraum lassen und den Satz billigen, es müsse allein die Klugheit des Einzelnen dagegen helfen. — Ich sehe in der That gar nichts, was da­ gegen einzuwenden wäre, daß die Prämienanleihen entweder ganz verboten würden, oder, wie Einzelne als Wortlaut des Gesetzes vorziehen, daß nur durch Gesetz die Aus­ gabe gestattet werden dürfe. Da ist uns denn ein schreckenerregendes Bild entworfen worden von der Korruption, welcher Mitglieder dieses Hauses unterworfen sein würden. Ich gebe zu, daß es noch keine Versicherungsanstalten für Bewahrung der Tugend giebt, daß Jeder auf seine eigene Kraft wird angewiesen sein, einem Anreiz der Korruption zu widerstehen. Aber täuschen wir uns nicht: jedes Parlament, welches Macht besitzt, ist dem Mißbrauch der Macht ausgesetzt, und jede Vermehrung der Macht ist zugleich ein Antrieb für diejenigen, die sich korrumpiren lassen wollen, korrumpirt zu werden! (S. w.!) Wollen Sie deshalb zu der weiteren Folgerung kommen: man dürfe einem Parlamente nicht Macht anvertrauen, weil schlechte Gesellschaft sich einsinden würde mit dem Versuche, einzelne Mitglieder zu korrumpiren? Ich empfinde keine solche Angst vor Mißbrauch und deswegen würde ich, wenn nicht das absolute Verbot durchgeht, für Konzession durch Gesetz stimmen; ich ziehe aber das absolute Verbot vor, weil es mir nicht als unwirksamer „Monolog" erscheint, wie der Herr Vertreter des Bundesrathes es bezeichnet hat, sondern mir gewissermaßen an die Stelle der eidesstattlichen Ver­ sicherung tritt für die gesetzgebenden Körperschaften, daß sie nicht die Absicht haben, irgend eine Prämienanleihe zu konzessioniren; und da mir eine solche feierliche und heil­ same Versicherung viel werth ist zur Beruhigung für das Publikum und zugleich als Andeutung für das, was in Zukunft geschehen soll, ziehe ich das absolute Verbot vor. Schlimmer sind wir allerdings daran mit den Prämienanleihen, die einmol geschaffen und in Verkehr gesetzt sind. Die Gesetzgebung kann dem Uebel der bereits vorhandenen thatsächlichen Zustände keineswegs allseitig abhelfen; aber nimmer lasse ich nir den Satz gefallen: weil schon viel Uebel gestiftet ist, deshalb müsse man das Unheil frei walten lassen. Ich erkenne als Thatsache an, daß diejenigen Prämienanleihen, welche entweder durch Konzession oder durch Gesetz in einem deutschen Bundesstaate geschafft: sind, oder ausländische, welche an einem bestimmten Normaltage innerhalb Deutschland sich be­ finden, einen gewissen Anspruch auf freie Cirkulation erworben haben. Darüber hinaus giebt es keine Verpflichtung, und darüber hinaus hat die Gesetzgebung freie Hand, den auswärtigen Prämienanleihen, welche zwar geschaffen, aber zur Zeit nicht bei uns im Verkehr sind, in Zukunft freien Eintritt zu gestatten; wenn wir es verhindern können, haben wir nicht die geringste Veranlassung. Die meisten ausroärtigen Skaten haben einen großen Theil ihrer Prämienanleihen geschaffen, rechnend auf die Gutrmthigkeit der deutschen Gesetze und die Bereitwilligkeit der deutschen Händler, sie in Dertschland ab­ zusetzen, (h.! h.!) während. einige im Heimathlande gar nicht eirkuliren dürßn, (h.! h.!) wie mir erst neulich mitgetheilt worden ist über eine Prämienanleihe, die sich petitionirend an uns wendet, um noch nachträglich in die Liste ausgenommen zu werten. (Bew.) Ich wünsche das Uebel auf das geringste Maß einzudämmen, und dieses firde ich darin, daß ermittelt werde, was an einem bestimmten Tage in Deutschland vorhawen gewesen

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ist, und dieser Tag braucht nicht festgesetzt zu werden auf einen Zeitpunkt nach oder bei Emanation des Gesetzes, sondern er kann meiner Meinung nach mit gutem Gewissen festgesetzt werden an einem Tage, an welchem wir über das Gesetz verhandeln. — Dann, m. H., wünsche ich noch ein zweites Mittel der Fürsorge beizufügen. Es sollen diejenigen, welche die Stücke produciren, die eidesstattliche Versicherung abgeben, daß sie im guten Besitz und Eigenthum dieser Papiere an dem Normaltage gewesen sind. Da­ gegen ist eingewendet worden, wenn man eine solche eidesstattliche Versicherung auf­ erlegte, würde die Geschäftswelt massenweise die Papiere einschmuggeln und vielfach unter Bruch der eidesstattlichen Versicherung die Stücke zur Anmeldung bringen. M. H., ich habe doch eine bessere Meinung von der Börse. Da der Bruch der eidesstattlichen Versicherung im Strafgesetzbuch als gemeines Vergehen bezeichnet und mit mehreren Monaten Gefängniß bestraft wird, (H.) so habe ich die Meinung, daß kein redlicher Kaufmann sich dazu hergeben wird, den Bruch einer solchen eidesstattlichen Versicherung zu vermitteln, und ich habe die Ueberzeugung, daß Häuser, die zu solchen Geschäften, unter welchem Vorwande immer, sich hergeben wollten, nicht zu den zuverlässigen würden gezählt werden, denen man Geschäftsvermittelungen anvertraut, und dieser Grund wird ausreichen, um die Reihen der Gewissenhaften zu vermehren, welche ohnehin mit der­ artigen Geschäften sich nicht befassen. — M. H., uns ist zur Last gelegt, daß wir ge­ wissen Instituten, dem Grundkredit oder der Gemeinde zu Liebe die Prämienanleihen sequestriren wollen. Dagegen kann ich versichern, sowohl von mir wie auch von dem Zweiten, der mit mir gemeinschaftlich Zwang gegen den Bundesrath ausgeübt haben soll, dem Abg. Löwe, daß keine Absicht bei uns besteht, das Privilegium für die Ge­ meinden oder sonst Jemand zu erhalten. Nur in der Kenntniß des Lebens und in unserem Verständniß der Dinge können wir die Grenze finden, an welcher der Mißbrauch und der Segen der Freiheit einander ablösen. Ich, der ich anerkenne, daß durch die Größe der ihr gelassenen Freiheit, zum Theil auch durch Privilegien, die Börse und noch weiter hinausgehend die kaufmännische Welt uns den größten Segen gebracht hat, ich scheue doch nicht auszusprechen: an diesem Punkte habe ich einen Mißbrauch der Freiheit erkannt, und hier will ich dem Mißbrauch ein Ende machen. Das ist das Prinzip des Gesetzentwurfes, das ist der Wille Mehrerer, welche dieses Gesetz in dieser Art gestalten wollen, und ich bitte Sie, auf dem kürzesten Wege der Geschäftsbehandlung uns zu helfen, daß ein volles Verbot gegen die Prämien­ anleihen erlassen werde. (Br.!) Abg. von Blanckenburg: M. H., ich würde sehr gern auf das Wort ver­ zichten, wenn ich nicht glaubte, die Pflicht zu haben, da nun einmal doch die jetzige Gesetzesvorlage in erster Linie von mir in einem Antrag angeregt ist, Herrn Bamberger und allen seinen Genossen, die bis jetzt noch nicht Mitglieder dieses Hauses gewesen sind, ganz kurz auseinander zu setzen, was denn nun eigentlich mit dieser Anregung und mit dem ersten Anträge wohl die Unschuld vom Lande gemeint hat; denn nicht als Aristokraten und nicht als Polizisten, sondern ich glaube, als Unschuld vom Lande hat Herr Bamberger mich charakterisirt. — Nun, m. H., diese Unschuld vom Lande hat auch etwas hineingesehen in die Schule vom freien Verkehr und Angebot und Nach­ frage, sie hat auch studirt in den Lehrbüchern, aus denen man diese Grundsätze lernen kann, aber, m. H., ich habe in meinem Leben immer gelernt, daß es doch gut ist, daß man nicht auf dem Tertianer-Standpunkt stehen bleibt, damit man doch nicht immer als Karlchen Mießnick gekennzeichnet wird; (H.) es giebt doch auch Standpunkte, m. H., die sich erst später entwickeln, und was die Lehre vom Angebot und Nachfrage und Freiheit des Verkehrs betrifft, ja, m. H., da hat die Unschuld vom Lande nun also ge­ lernt, daß es damit weiterhin in allen Beziehungen nicht gehen will. M, H., der Herr Abg. Bamberger hat einen gewissen Gegensatz oder eine gewisse Verbindung zwischen Aristokratie und Sozialismus angedeutet. Nach meiner Auffassung — und ich denke, die jüngste Geschichte in Paris lehrt es mit himmelschreiender Klarheit — ist bewiesen, daß der Sozialismus seine Hauptmacht nicht aus der fehlerhaften Behandlung der Aristokratie erhalten hat, sondern daß er sich entfaltet hat in Folge der fehlerhaften

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Lehren der modernen Nationalökonomie. Die freie Konkurrenz der Fäuste kommt erst, wenn die freie Konkurrenz des Kapitals es bis zu einem gewissen Elend gebracht hat. Unter anderem auch deshalb, m. H., ist die Unschuld vom Lande der Meinung, daß sie bei dieser Gesetzesvorlage in erster Linie den Regierungen den Dank aus­ zusprechen hat dafür, daß es den Anschein nehmen will — und ich hoffe, daß es so ist, — daß die verbündeten Regierungen zu der Erkenntniß kommen, daß auf dem nationalökonomischen Gebiete das laisser faire und laisser aller nicht mehr die letzte Weisheit ist, sondern daß dem Staat geboten ist, auch nach dieser Richtung hin seiner Macht sich nicht entkleiden zu lassen und sich nicht beherrschen zu lassen durch die neben ihm sich entwickelnde Geldmacht, durch Korporationen und Aktiengesellschaften, die schließlich als Staaten im Staat diesen seiner berechtigten Macht entkleiden. — M. H., nach dieser Richtung hin war mein erster Antrag gestellt, er sprach den Ge­ danken aus, daß der Verkehr an der Börse bereits einen solchen Umfang genommen habe damals im norddeutschen Bunde und in einer Art und Weise zu Tage getreten war, daß die Staatsmacht vor Allem die Pflicht habe, hieran ihre schützende Hand zu legen! Wie weit wir mit diesen unseren Vorschlägen gehen werden, das wird sich später entwickeln. ' Ich stehe überhaupt auf dem legislatorischen Standpunkt, daß ich immer wünsche, das Mögliche und dringend Gebotene zu erreichen. Das Gebotene in dem jetzigen Augenblick schien uns das zu sein, daß wo die Sitte nicht mehr allein so stark ist, daß der Betrug als Betrug gekennzeichnet werden kann, es da die Pflicht der Staatsregierung ist, legislatorisch schützend einzugreifen! Und darum, m. H., haben wir uns beschränkt auf den Antrag, wie er Ihnen vorgelegen hat und wie er zuletzt im norddeutschen Reichstage plaidirt worden ist! — Ich für mein Theil würde nun außerordentlich bedauern, wenn durch irgend eine Kommissionsmani­ pulation die jetzige Gesetzesvorlage zu Falle käme, und ich schließe mich daher durchaus dem Herrn Abg. Lasker an mit dem Anträge, zunächst im Plenum den 8 1 zu be­ rathen. Ich würde mit dem Herrn Abg. Lasker wünschen, daß der § 1 des Gesetzes dahin amendirt würde, daß wieder der ursprüngliche § 1 unseres Vorschlages hergestellt würde; indeffen glaube ich, praktisch würde sich auch auskommen lassen mit dem jetzigen Vorschläge, da ich in dem Maße die Besorgniß nicht theile. — Was sodann aber die Hauptsache in dem § 3 anbetrifft, daß wir hier eine Liste oder, wie gesagt ist, einen Speisezettel genehmigen sollen für diejenigen Prämienpapiere, die fortan nun mit einer neuen Prämie an der Börse versehen werden sollen, so erregt das in mir natürlich die allergrößten Bedenken. M. H., der Vorschlag, der von mir ausgegangen ist, hatte in allermildester Weise das Verschwinden der qu. Papiere aus dem Verkehr an der Börse für auswärtige Prämienpapiere vorgeschlagen. Ze mehr aber der Gesetzesvorschlag in der Allianz mit den linken Parteien vorschritt, um so schärfer wurde er amendirt. Wir unsererseits begnügten uns mit einem Jahre und hätten den Termin auch wohl noch verlängert, um jeglichen Schein zu vermeiden; die Nationalliberalen beliebten ein halbes Jahr, und gar die Fortschrittspartei bestand auf drei Monate! Dieser Passus erregte bei den Debatten im norddeutschen Reichstage den allergrößten Widerspruch, man deduzirte von allen Seiten, wie wir denn eine solche Rechtsverletzung begehen könnten, denn das seien wohlerworbene Rechte! Ich stehe natürlich, wie ich zuvor gesagt habe, auf einem ganz anderen Standpunkt, ich kenne diese Art Verletzungen von wohlerworbenen Rechten, wie sie an unserem (der Konservativen) Vermögen in Preußen reichlich von jener Seite (links) geübt worden sind! Also so schrecklich empfindlich bin ich nicht — ich nenne hier nur das Wort Grund steuer-Regulirung! Hier handelt es sich gar nicht um wohlerworbene Rechte, sondern es handelt sich in erster Linie nur darum, gewisse Privilegien des Börsenverkehrs diesen Papieren zu entziehen! Indessen aber, m. H., stellen wir uns einmal auf diesen Standpunkt, und ich will es mit thun — gut! so kann der Grundsatz doch nur ausgedehnt werden auf die Stücke, die bereits kursirt haben! Ich sollte meinen, daß es uns hier möglich sein wird, einen Modus zu finden, wie wir diese Stücke ermitteln werden! Daß die Vorlage damit zu weit gegangen ist, alle Prämienanleihen, die je emittirt

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sind, ferner frei kursiren zu lassen, das denke ich, m. H., ist selbstredend! Ich spreche mich dabei im Namen meiner Partei im Großen und Ganzen, also im Prinzip, für die Gesetzesvorlage aus und hoffe und erwarte, daß ein Amendement bei § 3 es er­ möglichen wird, das Gesetz hier zur Annahme zu bringen. Zch erinnere diejenigen Herren, die etwa noch Bedenken haben sollten, dem Staate als solchem die Macht zu geben, den Börsenverkehr auf diese Weise zu beeinflussen, wenigstens soweit er die Prämienpapiere betrifft, zu beaufsichtigen, das Publikum zu schützen, daß sie doch allzu ängstlich damit nicht sein mögen! M. H., Sie werden sich zuletzt dann dem Vorwurfe aussetzen, daß Sie alle Mächte im Staate, seien es Aktiengesellschaften, sei es die Börse, seien es die Banken, freigeben wollen, daß Sie den Staat in dieser Beziehung aller seiner Oberhoheit entkleiden wollen, — nur bei einer Kor­ poration, der Kirche, nicht; da wollen Sie die Einflüsse des Staats behalten. Das sind schreiende Gegensätze! (S. w.!) — Ich bitte Sie daher, m. H., nehmen Sie die Vorlage an, vorbehaltlich der Amendements, die wir bei § 3 stellen werden. Abg. Dr. Braun (Gera): M. H.! Ich bin weder ein entschiedener Anhänger noch ein entschiedener Gegner des Gesetzentwurfs. Ich gebe unbedingt die Frage des Bedürfnisses zu; es handelt sich für mich nicht um die Frage, ob die Reichsgesetzgebung eintreten soll, sondern um die Frage, wie sie eintreten soll, denn der gegenwärtige Zustand ist in der That nicht haltbar, namentlich nicht haltbar für Preußen. Deswegen ist die Frage auch in ihrem Ursprünge als eine preußische zu Tage getreten, nämlich in der Form einer Kritik jener im Herbst 1869 beabsichtigten Emission von 100 Millionen Prämienanleihe, wozu damals der preußische Handelsminister und der damalige Finanz­ minister bereit zu sein schienen; in der Form einer Kritik gegen dieses Projekt hat sich unsere heutige Debatte eingeleitet. Thatsächlich gestaltet sich die Sache so, daß in Folge dieses fehlerhaften Zustandes fremde Leute und namentlich Ausländer den Saugapparat für unser Kapital an den Mund halten, um es aufzusaugen für Zwecke, die uns ganz gewiß nichts nützten, unter Umständen aber aufs Aeußerste schadeten, und daß wir gegenüber unserm inländischen Kapital sowohl für unsere Landwirthschaft, wie auch für unsere Industrie und — füge ich hinzu — für den Bund oder das Reich und für die Einzelstaaten dieses Saugapparats entbehrten. Dieser Zustand läßt sich nicht halten, das ist ganz klar. Zch will noch hinzufügen, ein weiterer Mißstand ist die Buntscheckigkeit der Gesetzgebung der Einzelstaaten: einer hat gar keine Konzession, andere haben die Konzession, andere haben Grundsätze für die Konzession, andere haben Willkür für die Konzession, andere haben scheinbar gesetzliche Normen dafür, aber man be­ hauptet, sie würden in der Wirklichkeit nicht stets allzustrenge aufrecht erhalten. (H.) — Das muß man ausgleichen; man muß meiner Meinung nach unter allen Umständen die Sache der Reichsgesetzgebung und, wenn man nicht anders kann, auch der Reichsgewall in die Hand geben. Ich werde mir zunächst über die bereits erörterten Wege ein paar kurze Worte erlauben und dann noch von einigen nicht erörterten sprechen. Die kereits erörterten Wege sind erstens absolute Freiheit. Diesen Weg zu be­ treten, bin ich nicht geneigt. Ich will mich nicht hineinstürzen in diese theoretischen Untersuchungen über den Begriff und den Werth der Freiheit und der Unfreiheit, auch nicht über die Frage, inwieweit der Staat das Recht hat, die Schwachen zu bevormunden und Ue Dummen zu foulagiren. Mit solchen theoretischen Untersuchungen kommt man zu keinem Zweck — sie führen am Ende zu einem Austausch von Liebenswürdigkeiten, wie „Unschuld vom Lande" und „Polizisten" u. s. w. (H.) — und dabei kommt nichts heraus. — Ich werde weiter fragen, wie ist es mit dem absoluten Verbot? Ja, m. H., wir können ja heute ein absolutes Verbot beschließen, es kann auch publizirt werdea in dem Bundes-Gesetzblatt. Aber fragen Sie nun einmal, kann man es auch vollständig durchführen, und wie lange wird denn dieses absolute Verbot halten? Können nicht nach uns andere Männer kommen, die anderer Meinung sind, kann nicht wirklich der Staat in eine solche Finanzlage kommen, daß wir ihm dieses Auskunftsmittel gar nicht rbschlagen können? Was hilft uns nun das absolute Verbot, von dem der Herr Präsident des Bundeskanzler-Amts den ganz zutreffenden Ausdruck gebraucht hat, daß

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es ein „Monolog des Gesetzgebers" sei. — Ich komme nun an den hier vorgesylagenen Ausweg, nämlich an den Akt der Gesetzgebung. Ich würde dagegen gcr nichts haben, wenn ich die Debatten und die Beschlußfassung dieses Hauses vermeiden könnte. Aber wenn jedes Konzessionsgesuch auf dem Wege der Gesetzgebung erledigt werden soll, so muß der Reichstag mitsprechen, weil er ein legislativer Faktor ist. Wir kommen aber dann auf denjenigen Weg der private-bills, wie er in England, und der Claims, wie er in Amerika existirt; und dort bestehen seit Jahrzehnten, das werden die Männer in unserer Mitte mir bestätigen können, die in beiden Ländern gelebt haben, :m Par­ lamente und im Kongreß die lebhaftesten Beschwerden über diese Art, dergleichen Dinge von vorwiegend persönlichem und Privatinteresse zu erledigen. In beiden Versamm­ lungen ist man auf das Eifrigste bestrebt, Mittel und Wege zu finden, wie man diese Last los werden könnte. Man hat sie an Delegationen, an Ausschüsse und besondere aus dem Schoß derselben Versammlungen konstituirte Behörden verwiesen; kurz und gut, man will sie nicht, und will sie meiner Meinung nach mit Recht nicht. — Nun frage ich, wie finden wir einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit? Nun, m. H., es ist zunächst einfach die Konzessionsfrage, um die es sich handelt. Sollte es nicht möglich sein, gewisse gesetzliche Erfordernisse aufzustellen, bei deren Vorhandensein die Konzession zu ertheilen und bei deren Mangel sie zu verweigern ist? Gewiß, ich gebe Ihnen ja zu, es wäre besser, wenn wir sofort diejenigen Normativbedingungen finden könnten, bei deren Vorhandensein eo ipso und ohne Konzession das Recht eintritt. Ob das uns möglich sein wird, weiß ich nicht. Wenn das uns aber nicht möglich ist, dann würde ich Ihnen vorschlagen, wenigstens die gesetzlichen Voraussetzungen im Allgemeinen festzustellen, und im Uebrigen die Konzession dem Bundesrath zu übertragen ohne Mitwirkung des Reichstags und unter den angeführten Modalitäten der Ge­ werbeordnung. Ich will, damit kein Zweifel darüber ist, was ich unter NormativBedingungen verstehe, einfach sagen, daß es solche Vorschriften sind, wrlche erstens die Täuschung unmöglich machen, und welche zweitens die künstlichen Reizmittel abschaffen. Täuschung — das ist gewiß, das hat mein verehrter Freund Lasker ganz richtig ausgeführt — darf vom Gesetzgeber nicht geduldet werden. Ebenso wenig aber sollen meiner Meinung nach auch die blos künstlichen und schädlichen Neizmütel geduldet werden. Ich will also gesetzliche Vorschriften machen, wodurch diese Kreditform möglichst weit abgerückt wird von der Lotterie und möglichst weit hinübergeschoben zu der Er­ sparung, wonach diese Papiere möglichst aufhören, Spielpapiere zu sein, rnd möglichst anfangen Sparpapiere zu werden. Ich würde Ihnen also vorschlagen: Minimum der Appoints ist 100 Thaler oder, wenn Sie wollen, 50 Thaler. Ich würde Ihnen Vor­ schlägen, das Verhältniß zwischen der Summe, die zur Prämie und derjenigen, welche zu reiner Zinszahlung verwendet wird, zu gestalten wie 1 zu 3, so daß also die Prämie nicht mehr als ein Viertel des Gesammtzinses sein darf. Ich würde Ihnen weiter vorschlagen: die Prämie darf nicht höher sein als ein Prozent jährlich des Nominalkapitals. Dann müssen wenigstens 3 Prozent Zinsen unter aller Umständen verwilligt werden, damit in der That der Sparsinn und nicht der Spielsinn geweckt werde. Endlich, damit eine Sicherheit gegeben wird: keine größere Tilgungsfrist als 60 Jahre; denn für die Ewigkeit ist der irdische Mensch nicht geschaffer und diese Kreditform auch nicht. Ich würde Ihnen, um die Täuschung zu verhindern, weiter Vorschlägen, daß auf jeder Obligation angegeben sein muß der Betrac der An­ nuität, die jährliche Vertheilung der Zinsen, die Amortisation, de Prämie, die Dauer der Tilgungsperiode und vor allen Dingen die Höhe des 6 esammt Zinsfußes, d. h. diejenige Totalziffer, die sich aus dem reinen Zinsfuß und der Prämie ergiebt. Ich würde Ihnen weiter Vorschlägen, um alle Reize der Leidenschaft und der Spielwuth zu beseitigen, daß es verboten wird, die erste Ziehurg früher zu machen, als sechs Monate nach der Begebung, denn dadurch, daß man unnittelbar nach der Begebung zieht, reizt man die Menschen künstlich. Ferner würde ich Ihnen Vor­ schlägen, daß es nicht sinkende Prämien geben darf, das heißt, daß mm nicht die großen Gewinne zuerst losläßt, sondern daß es steigende Prämien sein müssen, die

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allein cuf Solidität spekuliren, nicht auf die Leidenschaft wie bei den sinkenden Prämien. Ich würde Maximal- und Minimalgrenzen der Prämien Vorschlägen, ebenfalls im Sinne der Solidität, und ferner, daß die Prämien nicht später als die Serien gezogen werden dürfen, sondern daß beide gleichzeitig zu ziehen sein würden. Ich will mir zum Schluß nur noch ein paar Worte erlauben über die Geschäfts­ behandlung. Ich wünsche, daß ein Gesetz zn Stande kommt, und daß es jetzt zu Stande kommt. Ich glaube aber, es kommt auch dann zu Stande, wenn wir die Sache an eine Kommission verweisen. Denn, m. H., entweder wird die Kommission rechtzeitig fertig, — gut, so werden wir schlüssig in diesem Jahre; oder ich setze selbst den Fall voraus, dessen Möglichkeit ich ja zugebe, daß die Kommission vielleicht nicht fertig würde, — dann wird es sich empfehlen: wir machen es gerade wie bei der GewerbeOrdnung; wir stopfen provisorisch durch ein Nothgesetz die Quelle zu und vertagen das Uebrige auf das nächste Jahr. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister Camphausen: M. H.! In der Diskussion ist sehr häufig des Verhältnisses gedacht worden, das der preußische Staat den Prämienanleihen gegenüber eingenommen hat; es ist ferner in der Diskussion von verschiedenen Seiten darauf hingewiesen worden, daß der Bundesrath nur gezwungen sich zu dieser Vorlage entschlossen habe. Ich muß Letzteres als einen unbedingten Irrthum bezeichnen. Einem Zwange würde der Bundesrath nicht gefolgt sein, wenn er glaubte, daß die vorgeschlagene Maßregel an sich schädlich sei. Daß auf seine Entschließung nicht ohne Einfluß geblieben ist, daß in dem Reichstage des vor­ maligen deutschen Bundes der Erlaß beschränkender Bestimmungen in dieser Beziehung gewünscht worden ist, das ist eben so unzweifelhaft, und ich glaube, daß es stets Auf­ gabe der verbündeten Regierungen sein wird, sich mit dem in weiten Kreisen der Nation gefühlten Verlangen in Einklang zu setzen. Es ist aber auch, abgesehen von diesem Ausspruch, durchaus nicht zu übersehen, daß die Dinge vor und nach in Bezug auf die Prämienanleihen einen Gang genommen haben, der einen unerträglichen Zustand herbei­ führte. Im preußischen Staate hat bekanntlich stets das Prinzip der Konzessionirung für alle Znhaberpapiere, auch für die Prämienanleihen bestanden. In Bezug auf die Prämienanleihen hat man von dem Rechte der Konzessionirung nur überhaupt zweimal Gebrauch gemacht; einmal in weit entlegner Zeit, als der verewigte Staatsminister Rother eine solche Prämienanleihe ausgab, das andere Mal im Jahre 1855; seitdem ist eine neue Konzession zur Ausgabe von Prämienanleihen nicht, ertheilt worden. Wohl hat es einm Zeitpunkt gegeben, wo es in ernstliche Erwägung kam, ob es nicht dem Staatsinteresse entsprechen würde, eine Prämienanleihe für Rechnung des Staates zu machen, und ich will laut und offen bekennen, daß ich persönlich Ende 1867 diese An­ sicht sehr lcbhaft vertreten habe; ich will hinzusügen, daß ich noch heute der Meinung bin, wir laben damals einen finanziellen Fehler begangen, daß wir nicht eine große, solide, für Staatszwecke ausgegebene Prämienanleihe gemacht haben. (H.! H.!) Man kann darüber verschiedener Ansicht sein, ich bin so frei, diese Ansicht zu hegen. Im Jahre 1869 ging die Regierung zu dem Gedanken über, daß es vielleicht auch zulässig sein möchte, an Privatgesellschaften eine solche Konzession zu ertheilen. Ich persönlich habe das nie gewünscht; (h.! h.!) ich bin auch noch heute der Ansicht, daß Prämien­ anleihen in der Regel, wenn überhaupt, nur für Staatsrechnung auszugeben seien, das ist aber ehe offene Frage. Es können ja Interessen im Lande hervortreten, die so allgemein rerbreitet sind, daß man zu Gunsten dieser Interessen sich auch entschließt, eine Ausnahme zu machen. Diese Frage könnte entstehen z. B. in Bezug auf den Kredit des Grundbesitzes. Da hat es eine Periode gegeben, wo allerdings die Frage sehr wohl (ntstehen konnte: will man für diesen Zweck eine Ausnahme von der Regel zulassen? Ich wiederhole, ich habe persönlich mich nicht für diese Ausnahme interessirt. — Nun, n. H., der preußische Landtag hat im Oktober 1869 den Ausspruch gethan, daß er die Konzessionirung einer Privatgesellschaft, die damals in Frage stand, nicht herbeigeführt zu sehen wünsche. Die preußische Regierung hat sich verpflichtet gehalten, seitdem irgmd eine Konzession nicht zu ertheilen. Was ist nun die Folge davon? Wenn

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der große Staat Preußen sich unbedingt dessen enthält, daß er eine Prämienanleihe konzessionirt, und wenn er dann bei dem bis dahin befolgten Grundsätze, daß Verkehrs­ verbote gegen das Ausland in dieser Beziehung nicht eintreten sollten, stehen bleibt, so ist er der Exploitirung einfach preisgegeben, (s. r.! l.) und zwar einer Exploitirung in einer schlimmeren Weise. Denn wenn der preußische Staat eine Prämienanleihe aus­ gegeben hätte, dann würde er schon dafür gesorgt haben, daß von Täuschung keine Rede sein könnte, daß dem Spieltriebe nicht übertriebener Vorschub geleistet würde, und daß es sich im Wesentlichen um eine verzinsliche Anleihe gehandelt hätte mit einem mäßigen Spatium für die Gewinne, die nach Art einer Lotterie vertheilt würden. Eine Einwirkung auf diese Dinge ist aber nach der bestehenden Gesetzgebung ausgeschlossen, wenn es in irgend einem deutschen Staate oder im Auslande beliebt wird, unseren Markt mit Prämienanleihen zu überschwemmen. Es liegt also auf der Hand, daß doch jedenfalls zwischen den deutschen Regierungen eine Verständigung darüber herbeigeführt werden müßte, nach welchen Grundsätzen man diese Konzessionen ertheilen wolle. Ferner hat es sich herausgestellt, daß in einem Staate, in der Stadt Hamburg, die Ertheilung der Konzession gar nicht erforderlich ist, daß also dort Private zusammentreten und ohne staatliche Konzession mit einer Prämienanleihe hervortreten konnten. Wir haben ja in dieser Beziehung die in meinen Augen sehr unerfreuliche Erfahrung gemacht, daß auch selbst nach den Verhandlungen im letzten Reichstage dieses Vorrecht der Stadt Hamburg noch in der Weise ausgenutzt worden ist, daß man dort eine neue Prämien­ anleihe ausgegeben hat, die im Wesentlichen auf Preußen berechnet war. Ich bin daher der Ansicht, daß ein unabweisliches Bedürfniß vorliege, eine Einheit der Grundsätze für das deutsche Reich herzustellen, und bin dieser Ansicht auch völlig unabhängig von dem im Reichstage des norddeutschen Bundes im vorigen Jahre gefaßten Beschlusse. Ich freue mich aber allerdings, dazu mitwirken zu können, daß dieser Beschluß feine Be­ deutung erhalte. Nun, m. H., was thut nun das Gesetz nach der Richtung hin, um die Prämien­ anleihen unmöglich zu machen? In der Beziehung geht es nicht so weit, als wie hier und da behauptet worden ist; es überläßt das dem freien Ermessen der gesetzgebenden Gewalten im deutschen Reiche. Darin liegt auch der Grund, der dazu bestimmt hat, Normativbedingungen in das Gesetz nicht aufzunehmen. Denn welche Normen man in dem Augenblicke, wo über eine solche Anleihe Beschluß zu fassen ist, gelten lassen will, darüber können die Ansichten im Laufe der Zeit in der That abweichen. Möglich wäre es allerdings, Normativbedingungen in dem Sinne vorzusehen, daß damit wenigstens momentan ein Riegel vorgeschoben würde; wir legen das Gelübde ab, jedenfalls Prämien­ anleihen nicht dann eintreten zu lassen, wenn nicht wenigstens diese Normativbedmgungen erfüllt würden. Aber das würde schon ein ganz anderer Sinn der Normativbedmgungen sein, als den letzteren im vorigen Jahre von den Antragstellern, wie ich glarbe, bei­ gelegt wurde; denn im vorigen Jahre hatte es sich darum gehandelt, Normativbedmgungen aufzustellen und auszusprechen: jeder der bereit ist, diesen Normativbedingunger sich zu unterwerfen, darf eine Prämienanleihe ausgeben. Sie würden gerade das Cegentheil von dem erlangt haben, was die große Mehrheit des Reichstages, wenn ich sie zu jener Zeit richtig verstanden habe, wünschte. Denn was die Normativbedingungen selbst be­ trifft, so würden Sie dieselben schwerlich viel anders formuliren können, alZ sie den damals neuesten soliden Prämienanleihen, die insbesondere im Königreich Bauern und im Großherzogthum Baden gemacht waren, zu Grunde lagen. Sie hätten vielleicht hin­ zufügen können, die Unternehmer sollen verpflichtet sein, gleich bei der ersten Bekannt­ machung den Zinsfuß ganz genau anzugeben, zu dem die Anleihe in Wirklichst kontrahirt wird; Sie würden damit aber nur eine Bestimmung getroffen haben, die wenigstens bei den fraglichen Anleihen allen Geschäftsleuten auch ganz genau bekannt war. Die Geschäftsleute hatten sich natürlich bis aus die sechste Dezimalstelle (H.) ausgerechnet, wie hoch der Zinsfuß sein würde, der nunmehr dem Unternehmen zusiele. Jm Uebrigen würden schwerlich die Vorschriften für eine solide Prämienanleihe wesentlich andns haben lauten können. Wenn der geehrte Herr Vorredner davon sprach, daß man bie künst-

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Inhaberpapiere mit Prämien.

lichen Reizmittel gänzlich beseitigen wolle, so glaube ich, daß er damit eigentlich die Prämienanleihe wohl ruinirt haben würde. (S. r.!) Man kann nur davon sprechen, daß der Grad der künstlichen Reizmittel ein etwas größerer oder ein etwas geringerer sei. Ich will durchaus nicht in Abrede stellen, daß das so sein kann, aber ohne alle künstlichen Reizmittel wird es wohl niemals ablaufen, denn das wird stets der Unter­ schied sein zwischen der Prämienanleihe und der einfach verzinslichen Anleihe. Nun, m. H., wenn der Herr Vorredner — ich möchte sagen, dem Reichstage oder der Bundes­ regierung, ich weiß nicht, wen er mehr ins Auge gefaßt hat, den Vorwurf macht, daß man im Begriff stände, ein Zickzacksystem durchzusühren und auf der einen Seite, wie es bei den Aktiengesellschaften geschehen ist, eine größere Freiheit der Bewegung ein­ treten zu lassen und auf der anderen Seite wieder eine größere Einengung, so glaube ich, daß man diesen Vorwurf wohl hinnehmen kann, denn hier handelt es sich darum, daß in weiten Kreisen die Auffassung getheilt wird — ich selbst bin nicht ganz dieser Ansicht — daß in dem Reize ein sehr unsittliches Moment liege und daß man dieses unsittliche Moment ausschließen wolle, was bei den Aktien-Unternehmungen nicht unter­ stellt wurde. Es ist endlich die Frage aufgeworfen worden, ob nicht der Reichstag einer Kor­ ruption entgegengehe, wenn man die Entscheidung über Prämienanleihen ihm überlasse. Nun, m. H., da muß ich aufrichtig bekennen, daß ich diese Gefahr für eine außerordentlich geringe halte. (S. r.!) Ich will nicht davon reden, daß wir überhaupt zu dem Charakter dieser erhabenen Versammlung nicht das Mißtrauen hegen, daß solche Einflüsse möglich wären. Ich will aber daran erinnern, daß doch unter allen Umständen die Prämien­ anleihen nach Maßgabe der Bestimmungen des vorgelegten Gesetzentwurfes nicht allein der Zustimmung des Reichstages bedürfen würden, sondern auch der Zustimmung des Bundesraths und der Genehmigung Seiner Majestät des Kaisers, und da glaube ich, m. H., daß diejenigen Aktiengesellschaften, welche ein außerordentlich günstiges Geschäft zu machen gedenken sollten, indem sie einzelne Reichstags-Mitglieder für ihre Ansicht zu gewinnen suchten, wenn sie dafür einen hohen Kaufpreis bezahlen wollten, doch wohl ein herzlich schlechtes Geschäft machen möchten. (Z.) Damit will ich nun nicht darüber abgesprochen haben, ob nach der Richtung hin noch andere Bestimmungen dieses Gesetzes angenommen werden können. Mir selbst schweben solche Bestimmungen vor, die sich sehr leicht einführen ließen und nach der Richtung hin vielleicht noch größere Garantien geben könnten, als jetzt gegeben sind. Zn dem Punkte stimme ich mit dem geehrten Herrn Vorredner und mit mehreren anderen Vorrednern überein, daß ich glaube, eine eingehende Berathung des Gesetzentwurfs in einer Kommission, mag nun zuerst über gewisse Prinzipienfragen entschieden sein oder nicht, wird sich als unentbehrlich heraus­ stellen, und insofern würde ich also meinerseits, obschon ich überhaupt über die geschäft­ liche Behandlung nicht mitzureden habe, dennoch dem Gedanken den Vorzug geben, daß eine eingehende Berathung in einer Kommission stattfinden möge, gleichviel, ob vorher über gewisse Prinzipien entschieden wird oder nicht. Das Haus beschließt gegen eine ansehnliche Minorität den Gesetzentwurf an eine Kommission von 21 Mitgliedern zur Berathung zu verweisen. Die gewählte Kommission empfiehlt in ihrem Berichte vom 6. Mai 1871 dem Reichstage die Annahme des Gesetzentwurfes in folgender geänderter Gestalt:

Gesetz, betreffend dir Änhaberpapiere mit Prämien. Wir Wilhelm rc. rc. § 1. Auf den Inhaber lautende Schuldverschreibungen, in welchen allen Gläubigern oder einem Theile derselben außer der Zahlung der verschriebenen Geldsumme eine Prämie dergestalt zugesichert wird, daß durch Ausloosung oder durch andere, auf den Zufall gestellte Art der Er­ mittelung die zu prämiirenden Schuldverschreibungen und die Höhe der ihnen zufallenden Prämie bestimmt werden sollen (Inhaber-Papiere mit Prämien), dürfen innerhalb des Deutschen Reiches Reichstags-Repertorium I.

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Gesetzentwürfe.

nur auf Grund eines Reichsgesetzes, und nur zum Zwecke der Anleihe eines Bundesstaats oder des Reiches ausgegeben werden. § 2. Der Bestimmung im § 1 zuwider im Znlande, sowie nach dem 30. April 1871 im Auslande ausgegebene Jnhaberpapiere mit Prämien dürfen weder an den Börsen noch an anderen zum Verkehr mit Werthpapieren bestimmten Versammlungsorten zum Gegenstände eines Geschäfts oder einer Geschäftsvermittelung gemacht, noch anderweitig öffentlich ausgebvten werden. § 3. Wer den Bestimmungen der §§ 1 und 2 zuwider handelt, verfällt in eine Geldstrafe, welche dem fünften Theile des Nennwerths der den Gegenstand der Zuwiderhandlung bildenden Papiere gleichkommt, mindestens aber einhundert Thaler betragen soll. Die nicht beizutreibende Geldstrafe ist in verhältnißmäßige Gefängnißstrafe, deren Dauer jedoch ein Jahr nicht übersteigen darf, umzuwandeln. Mit Geldstrafe bis zu einhundert Thalern oder Gefängniß bis zu drei Monaten wird be­ straft, wer ein im § 2 bezeichnetes Jnhaberpapier mit Prämie öffentlich ankündigt, ausbietet oder empfiehlt, oder zur Feststellung eines Courswerthes notirt.

Zweite Berathung am 15. Mai 1871 auf Grund des Kommissionsberichts. Es liegt vor: Antrag Dr. Lamey, dem Gesetze folgende 2 Paragraphen voranzuschicken: § 1. Die im Umfange des Deutschen Reichs noch bestehenden regelmäßigen Lotterien werden spätestens bis Ende 1873 aufgehoben. § 2. Die Bewilligung zu gelegentlichen Lotterien, bei denen Geldpreise oder Preise in Liegenschaften ausgespielt werden, welche den Gesammtwerth von 10,000 Thlr. übersteigen, steht nur dem Bundesrath zu.

und dazu wird eingebracht der Unterantrag Grumbrecht: In Erwägung, daß es sich nicht empfiehlt, dieses Gesetz durch ein darin aufzunehmendes Verbot der Lotterien zu gefährden, geht der Reichstag über den Antrag Lamey zur Tagesordnung über.

Der Antrag Dr. Lamey wird mit großer Majorität abgelehnt und zu § 1 des Gesetzes übergegangen. Es liegen vor 1) die (von der Minderheit der Kommission ausgehenden) Anträge von Dr. Wolffson u. Gen.: Der Reichstag wolle beschließen, den § 1 des Antrags der Kommission folgendermaßen zu fassen: § 1. Auf den Inhaber lautende Schuldverschreibungen, in welchen allen Gläubigern oder einem Theile derselben außer der Zahlung der verschriebenen Geldsumme eine Prämie dergestalt zugesichert wird, daß durch Ausloosung oder durch eine andere, auf den Zufall gestellte Art der Ermittlung, die zu prämiirenden Schuldverschreibungen und die Höhe der ihnen zufallenden Prämie bestimmt werden sollen (Inhaber-Papiere mit Prämien), dürfen bis zum Erlasse eines Reichsgesetzes über Inhaber-Papiere innerhalb des Deutschen Reichs nur mit Genehmigung des Bundesraths ausgegeben werden. § la. Für künftig auszugebende Inhaber-Papiere mit Prämien gelten die folgenden

Vorschriften: A. Die einzelnen Schuldverschreibungen dürfen auf nicht weniger als fünfzig Thaler oder deren Werth lauten und nicht in kleinere Theile als von diesem Betrage zerlegt werden. B. Die Schuldverschreibungen müssen außer den Prämien wenigstens 3 pCt. jährliche

Zinsen geben, die mindestens alljährlich auszuzahlen sind. C. Der alljährlich zu Prämien verwandte Betrag darf nicht mehr als ein Viertel der bereits fälligen Gesammtzinsen und nicht mehr als 1 pCt. des Nominalkapitals be­ tragen. Der Ueberschuß der Gesannntzinsen über den reinen Zinsbetrag muß alljährlich zu Prämien verwandt werden. D. Die höchste Prämie darf sich nicht auf mehr als auf das Tausendfache des Betrags der Schuldverschreibung belaufen.

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Jnhaberpapiere mit Prämien.

E. Die Ziehung darf nur einmal im Jahre stattfinden.

Die Ziehung der einzelnen

Nummern darf nicht später erfolgen, als die der Serien. F. Die Auszahlung der Prämie muß zugleich mit der Rückzahlung des Kapitals er­ folgen.

Keine Schuldverschreibung darf mehr als eine Prämie erhalten.

G. Die Amortisationsfrist darf nicht mehr als 60 Jahre betragen.

H. Auf den Schuldverschreibungen muß der Gesammtzinsfuß, der Theil desselben der zu Prämien und der Theil der zur reinen Vergütung verwandt wird, sowie der Tilgungs­

plan angegeben sein. Der Bundesrath hat die Genehmigung zu verweigern, wenn die Anleihe, für welche

dieselbe nachgesucht wird, den vorstehenden Erfordernissen nicht entspricht.

Ob er die

Genehmigung ertheilen will, wenn diese Bedingungen erfüllt find, bleibt seinem Ermessen

überlassen.

2) der Antrag Dr. Hänel: Dürfen innerhalb des

Den Schluß des 8 1 zu fassen:

Deutschen Reiches fortan weder ausgegeben noch in Umlauf

gesetzt werden.

Abg. Son ne mann hält dafür, daß bis zur Vorlegung eines Gesetzes über Jnhaberpapiere es vollständig ausreichend sei, die vorliegende Frage zu regeln durch Normativbedingungen und durch Uebertragung des Konzessionsrechts an den Bundesrath. Nachdem darauf Abg. Dr. Hänel seinen Antrag begründet, wird die Sitzung geschlossen. Fortsetzung am 16. Mai 1871. Abg. Reichensperger (Olpe) spricht für das Requisit der Abstempelung in einer kürzeren Frist, so daß die in jener Frist zur Abstempelung nicht vorgelegten künftig keine Zirkulation in Deutschland mehr haben sollen. Abg. Dr. von Schauß empfiehlt den Antrag Wolffson zur Annahme. Bundeskommissar, Geheimer Regierungsrath Dr. Michaelis: M. H.! Dem § 1, wie er in der Vorlage steht und wie er in nicht wesentlicher Abänderung in dem Kommissionsantrag lautet, treten zwei Anträge entgegen. Der eine verlangt ein absolutes Verbot der Prämienanleihen, der andere verlangt die Konzessionirung der Prämienanleihen durch den Bundesrath, indem er die Zulassung derselben an gewisse Normativbedingungen knüpft. Der erste dieser Anträge scheint mir über das Ziel hinauszuschießen, er entspricht nicht der Auffassung, welche wir als die herrschende Volks­ überzeugung anerkennen können. Ich glaube nicht, daß die große Masse des Volkes es verstehen würde, wenn plötzlich ein absolutes Verbot einer Form der Anleihe aus­ gesprochen würde, welche bisher von Seiten der Gesetzgebung verschiedener Einzelstaaten und von Seiten der Regierungen als vollkommen zulässig anerkannt ist. Ich glaube außerdem, daß man nicht absolut sagen kann, daß die Prämienanleihe eine an sich verwerfliche Form sei, es kommt nur darauf an, wie diese Form entwickelt und ge­ handhabt wird. Diese Handhabung sucht nun der zweite Antrag durch NormativBedingungen in ein System zu bringen. M. H., das Spiel, welches die Chancen des Gewinnes oder Verlustes an den Zufall knüpft, ist Sache der Phantasie, ist eine an­ genehme Beschäftigung der Phantasie. Alle Erfindungen, welche gemacht werden, um die Phantasie in solcher Weise zu beschäftigen, sind Erfindungen der Phantasie. Die Normativbestimmungen bestimmen, es solle nicht mehr zur Lotterie verwendet werden, als ein Viertel des Zinses, und es soll kein Gewinn zulässig sein, der das Tausend­ fache des Nominalwerthes übersteigt. — Zweitens erklären die Normativbedingungen, daß nicht andere als fällige Zinsen zur Verloosung verwendet werden sollen, und die Herren Antragsteller erläutern in den Motiven, daß diese Bestimmung den Zweck habe, zu verhindern, daß als Reizmittel das gebraucht werde, daß unmittelbar nach der Aus­ gabe eine Prämienziehung stattfinde. Ja, m. H., das verhindern Sie dadurch auch in keiner Weise. Es läßt sich z. B. eine Gesellschaft eine Prämienanleihe konzessioniren und zwar so, daß ganz den Normativbedingungen gemäß der erste Ziehungstermin erst 24*

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Gesetzentwürfe.

nach einem Jahre eintritt. Nun braucht sie diese Anleihe aber nicht sofort außnlegen, sondern sie läßt sie von irgend einer Bank beleihen, und wenn etwa der Zirhungstermin am 1. Juni nächsten Jahres ist, so legt sie die Anleihe etwa am 1. Mai nächsten Jahres auf und hat also dadurch doch den Vortheil der Verloosung unmittelbcr nach der Auflegung. — Die Herren Antragsteller haben sehr recht gethan, außer den Nor­ mativbedingungen auch noch eine Konzessionirung von Seiten des Bundesraths aufrecht zu erhalten. Es ist nun aber ein eigen Ding, wenn einer Körperschaft, welcie nicht öffentlich über ihre Beschlüsse diskutirt, die Befugniß gegeben wird, wenn die and die Bedingungen erfüllt sind, eine Konzession zu ertheilen oder dieselbe dann auch zu ver­ sagen. Die Folge ist, daß es für diese Körperschaft sehr schwer ist, eine Konzession abzulehnen, bei welcher diese Bedingungen erfüllt sind, und daß es, wenn tim Eine Konzession einmal ertheilt ist, immer schwerer wird, eine neue abzulehnen. Nua geben Sie dem Bundesrath die Vollmacht, die Konzession zu ertheilen, wenn die und die Be­ dingungen erfüllt seien, machen es ihm also sehr schwer, dieselbe abzulehnen, und wenn er sie dann ertheilt, dann soll er die Kritik auf sich nehmen (H.), die Kritik auf sich nehmen über einen Entschluß, für welchen die Kritik auf sich zu nehmen der Reichstag Anstand nehmen soll. Ich glaube nicht, m. H., daß es gut gethan ist von der Volks­ vertretung, die Verantwortlichkeit für Entschlüsse, für welche sie dieselbe nicht übernehmen mag, der Exekutive zuzuweisen, welche nicht im Stande ist, die Verantwortlichkeit in gleicher Weise zu tragen, wie die aus den allgemeinen Wahlen hervorgegangme Körper­ schaft. (S. r.!)

Abg. Will man ns spricht für die Kommissionsvorlage, da der Hänellche Antrag keine Aussicht habe vom Bundesrathe angenommen zu werden. Nach kurzem Referat des Berichterstatters v. Benda wird der Antrag Hänel abgelehnt, ebenso der der Abgg. Dr. Wolffson u. Gen.; der Antrag der Commission mit sehr großer Majorität angenommen. Zu § 2 des Gesetzes liegen Verbesserungs-Anträge vor:

1) Des Abg. Schulze: Statt 8 2 zu setzen: „Die bei Verkündigung dieses Gesetzes bereits in Umlauf befindlichen Jnhaberpapiere mit Prämien unterliegm inner­ halb zweier Jahre nach Verkündigung dieses Gesetzes keiner Beschrünkrng. Nach Ablauf dieser Frist dürfen dieselben weder an einer Börse, noch an einem anderen, zum Verkehr mit Werthpapieren bestimmten Versammlungsorte angekauft, verkauft oder zur Feststellung eines Courswerthes notirt werden." 2) Des Abg. Blanckenburg u. Gen.: Statt der Worte „dürfen weder an der Börse" zu setzen: „dürfen weder weiter gegeben, noch an den Börsen, roch an an­ deren zum Verkehr mit Werthpapieren bestimmten Versammlungsorten zum Gegenstände eines Geschäfts oder einer Geschäftsvermittelung gemacht werden" und fotzende neue drei Paragraphen anzuschließen: § 3. Dasselbe gilt von ausländischen Jnhcberpapieren mit Prämien, welche vor dem 30. April 1871 ausgegeben sind, sofern dicselben nicht bis zum 15. Juli 1871, diesen Tag eingeschlossen, zur Abstempelung eingerecht werden. § 4. Für die Abstempelung ist eine Gebühr zu entrichten, welche für ehe Schuld­

verschreibung, deren Nominalbetrag den Werth von 100 Thlr. nicht Übersicht, 5 Sgr. oder 17 V2 Kr. S. W., für eine Schuldverschreibung deren Nominalbetrag den Werth von 100 Thlr. übersteigt 10 Sgr. oder 35 Kr. S. W. beträgt. § 5. D-r Bundes­ rath wird die zur Ausführung dieses Gesetzes erforderliche Instruktion erlasen und in derselben festsetzen, unter welchen Umständen ein gutgläubiger Inhaber, de aus ent­ schuldbaren Gründen die Anmeldungsfrist versäumt hat, noch nachträglich Astempelung seiner Schuldverschreibungen erlangen kann. Der Bundesrath wird ferner zur Berech­ nung der Stempelabgabe den Thalerwerth der fremden Valuten feststellen, cuch die Be­ hörden bestimmen, bei welchen die Abstempelung zu erfolgen hat." 3) Des Abg. Richter: im Kommissionsantrage die Worte: „noch anderweitig öffentlich ausgeboten" zu streichen. Referent v. Benda erklärt sich mit dem Richterschen Anträge einverstanden.

Jnhaberpapiere mit Prämien.

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Abg. Freiherr von Patow empfiehlt den Blanckenburgschen Antrag zur Annahme. Bundesbevollmächtigter Staatsminister Camphausen: M. H.! Bei Vorlegung des Gesetz-Entwurfs lag die größte Schwierigkeit in der Frage, wie man den auslän­ dischen Prämienanleihen gegenüber sich verhalten wollte. Es ist ja bekannt, daß auf vielen Seiten die Neigung bestand, sie mit drakonischer Strenge zu verfolgen; es ist nicht minder bekannt, daß von anderer Seite die Auffassung Vertretung fand, daß Pa­ piere, die man im freien Verkehr zugelassen habe, dieses Rechtes nicht plötzlich verlustig gehen könnten. Die verbündeten Regierungen haben nun bei der Vorlage ins Auge gefaßt, daß man den faktischen Zustand respektiren wolle, und indem sie sich die Schwierigkeit vergegenwärtigten, lediglich nach einer begrifflichen Bestimmung nachher fest­ zustellen, welche Prämienanleihen im deutschen Reiche noch circuliren dürften, so kamen sie zu der Auffassung, daß wohl der praktischste Weg sein dürfte, bei den verschiedenen Börsenvorständen nachzufragen, in welchen Papieren derzeit dort Handel getrieben werde. Die Resultate dieser Ermittelungen sind in einem Verzeichniß zusammengestellt worden. Ich will nun nicht leugnen, daß dieses Verzeichniß, einen recht wenig erfreulichen An­ blick darbietet, (H. S. w.!) und ich habe es sehr begreiflich gefunden, daß vom ersten Augenblick an eine gewisse Abneigung dagegen austrat. Diese Abneigung hat mich auch nicht betrübt. Ich habe geglaubt, es wird doch nicht schwer fallen, sich über einen Weg, wie man diese Sache anzugreifen habe, zu verständigen. Mir scheint auch, daß dies gelungen ist, wenigstens sind Vorschläge gemacht, denen ich meinerseits nicht rathen würde, seitens des Bundesraths entgegen zu treten, wenn sie hier von der Majorität des Reichs­ tages angenommen werden sollten. Ich rechne dahin den Antrag der Herren Abg. v. Vlanckenburg u. Gen., der da vorschlägt, daß man durch den Weg der Abstempelung konstatiren solle, welche Prämienpapiere sich zur Zeit in Deutschland in Verkehr befunden haben. Ich glaube diesen Weg billigen zu dürfen, auch auf die Gefahr hin, daß von einigen Seiten der Versuch gemacht werden möchte, uns von diesen Papieren neue zuzu­ führen, die in diesem Augenblick noch nicht im Verkehr sind und denen durch das Stempeln das Dokument angehestet werden soll, als wären sie schon darin. Ich glaube, daß gegen diese Gefahr auch schützen wird, wenn hier hervorgehoben wird, daß weder die Bestimmungen, die sich in der Vorlage der verbündeten Regierungen befinden, noch die Bestimmungen, wie sie hier von dem Herrn Abg. v. Vlanckenburg u. Gen. vor­ geschlagen werden, der künftigen freien Entschließung der gesetzgebenden Gewalt des deutschen Reichs ein Hinderniß bereiteten. (Z. S. g.!) M. H., ich würde mich nach Annahme dieser Bestimmung, um nur ein Beispiel zu erwähnen, vollkommen berechtigt erachten, dem Reichstag einmal den Vorschlag zu machen: wir wollen diese Papiere be­ steuern, (s. g.!) ich würde der Meinung sein, daß eine solche Eventualität nicht aus­ geschlossen wäre, auch wenn jetzt eine Kontrolgebühr entrichtet wird, um zu konstatiren, daß diese Papiere in dem Verkehr des deutschen Reiches sich befunden haben. Wäre die andere Eventualität ausgeschlossen, würde dadurch begründet, wie man sich gestern ausgedrückt hat, daß nunmehr die Prämienpapiere unter des durchlauchtigsten Reiches schützenden Privilegien stehen, dann würde ich Ihnen dringend anrathen, den Vorschlag abzulehnen. Aber so verstehe ich ihn nicht, und ich würde daher meinerseits, ohne irgendwie dafür einstehen zu wollen, welches seiner Zeit die Entscheidung des Bundes­ raths sein wird, kein Bedenken tragen, mit dem Anträge übereinzustimmen. Ich würde dann auch ferner glauben , was den § 2 betrifft, daß da die Fassung der Kommission eigentlich nicht glücklicher ist, als die Fassung der Regierungsvorlage. Es scheint mir, als wenn die Fassung der Kommission die Ansicht auftauchen lassen könnte, daß nun mit Anwendung der Strafe Alles gesühnt sei. Ich weiß nicht, ob ich mich darin irre, aber das ist mein Gefühl. — Dann hat Ihre Kommission nicht den Fall vorgesehen, daß die Papiere einfach weiter gegeben werden, und es scheint mir, daß auch da der Herr Abg. v. Blankenburg eine Lücke, die in dem Kommissionsvorschlag enthalten ist, in der glücklichsten Weise zu beseitigen gesucht hat. Was den Antrag des Herrn Abg. Schulze betrifft, so würde, ich nicht glauben,

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Gesetzentwürfe.

daß das ein richtiger Weg sei, die Materie zu ordnen. Wir würden da in kr That für einen längeren Zeitraum hierdurch ein Privilegium schaffen, und wir würkn uns in die Lage bringen, daß wir nach Ablauf dieses Zeitraums dieselbe Frage zu erörtern hätten, die wir heute zu erörtern haben, was sollen wir nun vorkehren um uns kfinitiv gegen diese Papiere zu schützen. Das aber scheint mir bei der ganzen Gesetzeworlage doch ein höchst wichtiges Moment zu sein, daß, indem das deutsche Reich aus ehischen, aus wirtschaftlichen Gründen — die Motive können ja aus verschiedenen Gebieten ent­ lehnt sein — sich die Entsagung auferlegt, daß nur dann, wenn die sämmtlichm Fak­ toren der gesetzgebenden Gewalten übereinstimmen, in Zukunft eine neue Prämieranleihe ausgegeben werden darf, man sich unbedingt dagegen schützen muß, daß nun dcs Aus­ land uns beliebige Stücke zuführt, (Z.) und ich würde glauben, daß wir mc)t einen Fortschritt, sondern einen Rückschritt machen, wenn wir diesen Schutz nicht glnchzeitig erlangen können. Ich glaube daher, Ihnen die Vorschläge, die ich eben hervorgehoben habe, zur Annahme empfehlen zu können, wenn Sie der Regierungsvorlage feilst Ihre Zustimmung nicht ertheilen zu können glauben. Nachdem Abg. Dr. Wolffson für die Vorschläge der Kommission gesproßen und Referent v. Benda konstatirt, daß der Antrag Blanckenburg in der Kommision mit 10 gegen 10 Stimmen abgelehnt worden sei, die Kommission ihm also sehr rahe ge­ standen, daß dieselbe auch die Veränderung des § 2, welche der Antrag Blanlenburg bezwecke, acceptire, aber dem Antrag Schulze nicht beistimme, wird der Antrag Schulze abgelehnt; der Antrag Blanckenburg in namentlicher Abstimmung mit 132 gezen 121 Stimmen genehmigt, und mit dieser Ergänzung § 2. § 3 wird in der Vorlage der Kommission angenommen als § 6; er lautet: ,,Wer den Bestimmungen der §§ 1, 2 oder § 3 zuwiderhandelt, verfällt in eine Geldstrafe, welche dem fünften Theil des Nennwerthes der den Gegenstand der Zuwiderhandlung bildenden Papiere gleichkommt, mindestens aber einhundert Thaler betrage!: soll. Die nicht beizutreibende Geldstrafe ist in verhältnißmäßige Gefängnißstrafe, deren Dauer jedoch ein Jahr nicht übersteigen darf, umzuwandeln. Mit Geldstrafe bis zu einhundert Thalern oder Gefängniß bis zu drei Monaten wird bestraft, wer ein im 8 2 und 3 bezeichnetes Jnhaberpapier mit Prämie öffentlich ankündigt, ausbietet oder empfiehlt, oder zur Fest­ stellung eines Courswerthes notirt."

Dritte Berathung am 19. Mai 1871. Zu § 1 (Ausgabe von Prämienanleihen nur auf Grund eines Reichscesetzes und nur zum Zwecke der Anleihe eines Bundesstaats oder des Reiches) liegt kein Abände­ rungsantrag vor. Die folgenden §§ 2—6 lauten in der Fassung, wie sie am Schluffe Der zweiten Berathung angenommen wurde: § 2. Der Bestimmung im § 1 zuwider im Inlands, sowie nach dem 30. April 1871 im Auslande ausgegebene Jnhaberpapiere mit Prämien dürfen weder weiter be­ geben, noch an den Börsen, noch an anderen zum Verkehr mit Werthpapieren bestimmten Versammlungsorten zum Gegenstände eines Geschäfts oder einer Geschäftsrermittelung gemacht werden. § 3. Dasselbe gilt von ausländischen Jnhaberpapieren mit Prämien, welche vor dem 30. April 1871 ausgegeben sind, sofern dieselben nicht bis zum 15. Juli 1871, diesen Tag eingeschlossen, zur Abstempelung eingereicht werden. § 4. Für die Abstempelung ist eine Gebühr zu entrichten, welche für ene Schuld­ verschreibung, deren Nominalbetrag den Werth von 100 Thlr. nicht übersteizt, 5 Sgr. oder 17V2 kr. S. W., für eine Schuldverschreibung, deren Nominalbetrag den Werth von 100 Thlr. übersteigt, 10 Sgr. oder 35 kr. S. W. beträgt. § 5. Der Bundesrath wird die zur Ausführung dieses Gesetzes erforderliche Instruktion erlassen, und in derselben festsetzen, unter welchen Umständen ein gutgläubiger Inhaber, der aus entschuldbaren Gründen die Anmeldungsfrist versäumt hat, noch nach­ träglich Abstempelung seiner Schuldverschreibungen erlangen kann. Der öundesrath

Jnhaberpapiere mit Prämien.

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wird ferner zur Berechnung der Stempelabgabe den Thalerwerth der fremden Valuten feststellen, auch die Behörden bestimmen, bei welchen die Abstempelung zu erfolgen hat. § 6. Wer den Bestimmungen der §§ 1, 2 oder 3 zuwiderhandelt, verfällt in eine Geldstrafe, welche dem fünften Theile des Nennwerthes der den Gegenstand der Zuwiderhandlung bildenden Papiere gleichkommt, mindestens aber einhundert Thaler be­ tragen soll. Die -nicht beizutreibende Geldstrafe ist in verhältnißmäßige Gefängnißstrafe, deren Dauer jedoch ein Jahr nicht übersteigen darf, umzuwandeln. Mit Geldstrafe bis zu einhundert Thalern oder Gefängniß bis zu drei Monaten wird bestraft, wer ein im § 2 oder § 3 bezeichnetes Jnhaberpapier mit Prämie öffentlich ankündigt, ausbietet oder empfiehlt, oder zur Feststellung eines Courswerthes notirt. Hierzu liegen folgende Abänderungsanträge vor: 1) Des Abg. vr. Pro sch: dem § 2 folgende Fassung zu geben: „Jnhaberpapiere mit Prämien, welche nach Verkündigung des gegenwärtigen Gesetzes, der Bestimmung im § 1 zuwider, im Jnlande ausgegeben sein möchten, ingleichen Jnhaberpapiere mit Prämien, welche nach dem 30. April 1871 im Auslande ausgegeben sind, dürfen weder" u. s. w. wie in der Zusammenstellung. 2) Des Abg. Richter: im § 2 die Worte zu streichen: „weiter begeben, noch", im § 6, Absatz 2, die Worte zu streichen: „öffentlich ankündigt, ausbietet oder empfiehlt, oder". 3) Des Abg. Bamberger u. Gen.: a) In 8 2 die Worte: „weiter begeben, noch" zu streichen. (Uebereinstimmend mit Richter.) b) Die §§ 3, 4 und 5 zu streichen. c) In § 6 die Worte: „2 oder 3" zu streichen und statt dessen zu sagen: „oder 2". 4) Des Abg. v. Hennig: a) dem § 3 folgende Fassung zu geben: Dasselbe gilt vom 15. Juli 1871 ab von ausländischen Jnhaberpapieren mit Prämien, deren Aus­ gabe vor dem 1. Mai 1871 erfolgt ist, sofern dieselben nicht abgestempelt sind (§§ 4, 5); b) dem § 4 folgendes neue Alinea voranzusetzen: „Die Schuldverschreibungen, deren Abstempelung erfolgen soll, müssen spätestens am 15. Juli 1871 zu diesem Zweck ein­ gereicht werden." Ferner am Schluß hinzuzufügen: „Der Ertrag dieser Abstempelungs­ gebühr fließt zur Reichskasse"; c) im § 5 an Stelle des Wortes: „Anmeldungsfrist" zu setzen: „Einreichungsfrist"; ferner in der vorletzten Zeile zwischen „die" und „Ab­ stempelung" die Worte zu setzen: „Einreichung zur"; endlich hinter „Abstempelung" zu setzen: „(§ 4)"; d) im § 6 Alinea 2 an Stelle der Worte: „im § 2 oder 3 bezeich­ netes" zu setzen: „den Verbotsbestimmungen des § 2 oder des § 3 unterliegendes"; e) dem Gesetze folgenden neuen § 7 hinzuzufügen: Dieses Gesetz tritt in Kraft mit dem Tage, an welchem es durch Reichsgesetz verkündet wird. 5) Des Abg. Kanngießer: in § 6 den zweiten, mit den Worten: „die nicht beizutreibende Geldstrafe" beginnenden Satz zu streichen. Nach kurzer Debatte werden die Anträge Richter und Bamberger abgelehnt; der Antrag Pro sch genehmigt. § 3 wird in der Fassung des Antrags v. Hennig angenommen. §§ 4 und 5 werden mit den Amendements v. Hennig genehmigt. Zu z 6 ziehen Abg. v. Hennig und Richter ihre Amendements zurück, da­ gegen wird das von Kanngießer genehmigt, nachdem derselbe nachgewiesen hat, daß das Alinea, welches er zu streichen beabsichtige, mit dem deutschen Strafgesetzbuch collidire, weil es gegen die Grundsätze des Strafgesetzbuchs verstoße, eine Strafe von 200 Thlr. in Gefängniß und nicht fakultativ bei Insolvenz in die mildere Strafe der Haft zu verwandeln, und Bundeskommissar Michaelis die Zustimmung des Bundes­ raths erklärt hat. In der 40. Sitzung findet namentliche Abstimmung über den Gesetzentwurf statt. Es stimmen 133 Mitglieder mit Ja, 119 mit Nein.

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Gesetzentwürfe.

Nr. 10. Der Antrag des Abg. Schulze-Delitzsch auf Annahme eines Gesehen be­ treffend die privatrechtliche Stellung der Vereine, wird vor der zweiten Lesung für die Session zurückgezogen. Wir verzichten daher auf die Reproduktion der ersten Berathung und des Berichts, die in einer spätern Session wiederkehren muffen.

Nr. 11. Gesetzentwurf, betreffend die «Feststellung des Haushalts-Etats des Deutschen Reichs für das Jahr 187L Der Entwurf tritt in der Form eines Nachtrages zu dem durch das Gesetz vom 15. Mai 1870

festgestellten Haushalts - Etat des Norddeutschen Bundes hinzu, so daß der letztere in Verbindung mit dem Nachtrage definitiv festgestellt wird. die Erweiterung

des Bundes

eine

Der im vorigen Zahre genehmigte Etat erfährt durch

Vermehrung der

Ausgaben

um

565,975

Thlr.

(darunter

136,354 Thlr. fortdauernde) und der gleichen Einnahme. Zn die Einnahme aus der Wechselstempel-

Steuer ist für das zweite Halbjahr auch der auf Bayern fallende Antheil mitgerechnet, da das

betreffende Gesetz bereits am 1. Zuli d. I. für Bayern in Kraft tritt.

Zm

Ganzen ist die Ver­

änderung in den Gesammtziffern des ersten Neichshaushaltes gegen den . letzten des Norddeutschen Bundes nur gering, da die Gemeinschaft der Ausgaben für das Landheer zwischen Nord- und

Süddeutschland erst mit dem 1. Januar 1872 beginnen und demnach bis dahin de: Ertrag der

gemeinsamen Zölle und inneren Steuern hinsichtlich des auf die Staatsgebiete jenseits des Main fallenden Antheils den Staatskassen der süddeutschen Staaten verbleiben soll.

Die letzteren haben

ihren Antheil an den sonstigen Vundesausgaben durch Matrikularbeiträge, also durch Beiträge nach

dem Maßstabe der Bevölkerung aufzubringen.

Erste Berathung am 27. April 1871.

Präsident des Bundeskanzler - Amts, Staatsminister Delbrück: M. H., bei der Eröffnung der Generaldiskussion über den vorliegenden Etatsnachtrag eingehend zu sprechen, ist wenigstens jetzt für mich sehr schwer; es ist ungemein schwer, Sie einzelnen Vorschläge, die dieser Etat enthält, unter weitere allgemeine Gesichtspunkte zu bringen als unter die beiden: die Vorlage ist nöthig geworden nach der Ansicht der verbündeten Regierungen erstens dadurch, daß seit der gesetzlichen Feststellung des Hausjalts - Etats für das laufende Jahr eine Anzahl von Bedürfnissen hervorgetreten sind, für welche dieser Etat nicht Vorsorge getroffen hat und für deren Befriedigung sorgen zu können die verbündeten Regierungen bei Ihnen beantragen; er ist ferner nothwendig geworden dadurch, daß es darauf ankam, die Matrikularbeiträge der süddeutschen Staaten den Bestimmungen der Reichsverfassung gemäß zu ordnen. In der ersten Beziehung, was die einzelnen seit der gesetzlichen Feststellung des Haushalts-Etats hervorgetretenen Be­ dürfnisse anlangt, so ist ein Theil der in dem Etat enthaltenen Positionen bereits von dem Reichstage genehmigt; es sind dies unter Anderen die Entschädigung::: für den Wegfall der Elbzölle an Mecklenburg und Anhalt, es ist dies ferner das Extnordinarium der Postverwaltung für den Bau eines neuen Gebäudes für das Generrl - Postamt. Es ist sodann — zwar im Einzelnen noch nicht genehmigt, indeß durch die Genehmigung der Bundesverträge im Prinzip gebilligt — eine Vermehrung der Stellenzchl bei dem Bundes-Oberhandelsgericht, und es ist endlich im Prinzip bereits gesetzlich ßstgestellt die Errichtung des Bundesamtes für das Heimathswesen, für welches Sie in )er Vorlage Ansätze finden. Einige andere Ansätze beruhen eben auf Bedürfnissen, de im Laufe

Haushaltsetat des Deutschen Reichs für 1871.

369

der Verweltung hervorgetreten sind, und in dieser Beziehung ist der wichtigste Theil der Vorlage, welcher allerdings auf das Hauptresultat des Etats keinen Einfluß hat, der­ jenige Thal, welcher sich auf den Etat der Postverwaltung bezieht. Ich will in Be­ ziehung auf diesen wichtigen Theil der Vorlage der Spezialdiskussion nicht vorgreifen und habe nur im Allgemeinen zu bemerken, daß die Ihnen vorgeschlagenen Aenderungen im Etat ter Postverwaltung den Zweck haben, in der Organisation dieser Verwaltung Verbesserungen einzuführen, welche bei früheren Etatberathungen im Schooße des Reichs­ tages wieterholt angeregt worden sind. Was ferner die Berechnung der Matrikularbeiträge für die süddeutschen Staaten anbelangt, so war diese nach den Vorschriften der Verfassung nothwendig. Auf eine Anzahl einzelner Fragen, die sich an diese Regulirung knüpften, und welche sich in den Erläuterungen der Vorlage näher erörtert finden, hier bei ter Generaldiskussion einzugehen, halte ich wenigstens für jetzt noch nicht am Platze. Abg von Benda: M. H., ich habe ursprünglich geglaubt, daß es unvermeidlich sein werd«, eine vollständige Umarbeitung des norddeutschen Bundeshaushalts-Etats vorzunehmm; nach der uns nunmehr vorliegenden Arbeit habe ich mich aber überzeugt, daß die Form, in welcher die Bundesregierung uns diese Vorlage gemacht hat, an Klarheit, Aebersichtlichkeit und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Der Gesetzentwurf wird an eine Kommission von 21 Mitgliedern verwiesen.

Zweite Jerathng am 15. Mai 1871 auf Grund des Komissionsberichts. Zu At. 8 des Etats für das Bundeskanzler-Amt (Abfindungen in Folge der Auf­ hebung de: Elbzölle) beantragt die Commission: Nr. 3 (an Lauenburg jährlich bis 1875) 8016 Thlr zu streichen. Dieser Antrag auf Streichung wird genehmigt, nachdem der Vertreter )er Bundesbehörde sich bemüht, aus Billigkeitsrücksichten für Lauenburg die Position zr vertheidigen, ein Mitglied der Kommission dagegen unter Verweisung auf die gleichlcutende Entscheidung beim vorigen Budget widersprochen. Zu Titel 9 desselben Etats (Bundesamt für das Heimathswesen an Besoldungen 1000 Thlr jährlich für den Vorsitzenden, je 500 Thlr. für drei Mitglieder, welche vier Stellen ak Nebenämter verwaltet werden sollen, und 2200 Thlr. an das vierte Mit­ glied) beartragt die Budget-Kommission folgende Resolution: „Die als Nebenamt zu verwaltendm Stellen im Bundesamte für das Heimathswesen (Tit. IX. sub 1 und 2) dürfen nm an solche Beamte übertragen werden, welche nicht ohne ihren Willen ver­ setzbar sint." Abg. v. Kardorff u. Gen. beantragen ihrerseits, Folgendes zu erklären: „Die Bewilligury der Etats - Positionen unter Titel IX. sub 1 und 2 erfolgt in der Erwar­ tung, daß bei der Besetzung der Stellen des Bundesamtes für Heimathswesen den Vorschrister der §§ 42 und 43 des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Zuni 1870 genügt und zu diesem Behufe bei Vorlage des Etats für 1872 die erforderliche Mehrbewilligung in Ansatz gebracht werde. Abg. v. Hennig stellt dazu das Amendement, die gesperrten Worte zu streichen. [§ 42 lautet: „Das Bundesamt besteht aus einem Vorsitzenden und mindestens vier Mitgliedern. Der Vorsitzende, sowie die Letzteren werden auf Vorschlag des Bun­ desrathes wni Bundespräsidium auf Lebenszeit ernannt. Der Vorsitzende sowohl als auch mindestens die Hälfte der Mitglieder muß die Qualifikation zum höheren Richter­ amte im Staate ihrer Angehörigkeit besitzen." § 43 lautet: „Bezüglich der Rechtsverhältnisse der Mitglieder des Bundesamtes gelten bis zum Erlaß besonderer bundesgesetzlicher Vorschriften die Bestimmungen der §§ 23 bis 26 des Gesetzes, betreffend die Errichtung eines obersten Gerichtshofes für Handelssaäen vom 12. Zuni 1869 mit der Maßgabe, daß 1. an Stelle des Plenums des Ober-Handelsgerichts das Plenum des Bundesamtes tritt, und daß im Falle des § 25 a. a.O. die Verrichtungen des Staatsanwalts und des Untersuchungsrichters von je einem Nitgliede des königlich preußischen Kammergerichts zu Berlin, welches der

370

Gesetzentwürfe.

Bundeskanzler ernennt, wahrgenommen werden; 2. bezüglich der Höhe der Pensionen die Vorschriften in Anwendung kommen, welche darüber in demjenigen Bundesstaate gelten, aus dessen Dienste das Mitglied des Bundesamtes berufen ist"] Namens der Kommission wird die Nothwendigkeit betont, den Mitgliedern des betreffenden Amtes eine unabhängige Stellung zu geben; der Antragsteller Abg. v. Kardorff will dies speziell durch Sicherung der nöthigen Geldmittel verbürgt haben, die Bundesbehörde glaubt im Interesse der Sparsamkeit mit ihren Vorschlägen auf dem rechten Wege zu sein, ohne das Interesse der Sache zu gefährden. — Zn diesem Sinne nimmt das Haus den Entwurf an, indem es sowohl die Anträge der Kommission als von Kardorff ablehnt.

Mündlicher Bericht der Budget-Kommission über Kapitel 7 Titel 11 der einmaligen und außerordentlichen Ausgaben des Nachtrags zu dem Bundeshaushalts-Etat pro 1871 am 17. Mai 1871.

(Ankauf des Streichenberg'schen Hauses zum Zweck der Marineverwaltung.) Berichterstatter Abg. von Benda referirt und erklärt am Schluß der sich ent­ spinnenden Debatte: M. H., ich kann im Namen der Majorität der Kommission nur wiederholen, daß die Majorität der Kommission der Ansicht war, daß die formelle Frage für den deutschen Bund nicht entscheidend sein kann, daß der deutsche Bund der for­ mellen Frage gegenüber sich in einer vollkommen anderen Lage befindet, als wenn wir es hier noch mit dem norddeutschen Reichstag und mit dem norddeutschen Bund zu thun hätten. Die Sache befindet sich noch ganz genau in derselben Lage, in der sie sich im vorigen Jahre befand. Zm vorigen Jahre ist das Haus angekaust, und es ist angekauft worden aus Vorschüssen, die man aus Bundesmitteln geleistet, die man aber noch nicht definitiv aus der Bundeskasse verausgabt hat. Man hat im vorigen Zahre mit vollem Rechte ^dieses Verfahren angefochten, man hat von Seiten der BundesRegierung versucht, Indemnität dafür zu erhalten;- diese Indemnität ist abgeschlagen worden, man hat die betreffende Position abgesetzt. Genau so liegt die Sache noch heute, nachdem die Versuche, das Haus zu verkaufen, gescheitert sind. — M. H., inzwischen sind wir aber nicht mehr norddeutscher Bund und nicht norddeutscher Reichstag, sondern wir sind der deutsche Bund und der deutsche Reichstag und die Verwaltung des deutschen Reiches ist eine andere, wie die Verwaltung des norddeutschen Bundes. Wir befinden uns nicht in der Lage, daß wir für diese damaligen Fehler des nord­ deutschen Bundes die Verwaltung des deutschen Reiches verantwortlich machen könnten, wie dies der Fall sein würde, wenn wir noch den norddeutschen Bund besäßen. Die Majorität der Kommission war daher außer Zweifel, sie stimmte darin überein, daß diese formelle Frage, die für den Fall, daß der norddeutsche Bund noch bestände, von eminenter Wichtigkeit sein würde, das deutsche Reich nicht tangire, daß das deutsche Reich dieser Frage vollständig unabhängig gegenüber stehe. M. H., wenn der deutsche Reichstag, was ja in Ihrer Hand liegt, — Sie können es ja jeden Augenblick be­ schließen, — diese Position absetzt, so sind die Herren, die damals das Geschäft ge­ macht haben, nach wie vor finanziell verantwortlich, und es ist zu erwarten, und wir brauchen keine Besorgniß zu haben, es wird daraus keine pekuniäre Last für das deutsche Reich erwachsen. — Das ist die eine Seite der Sache. Was die andere Seite betrifft, ob wir Veranlassung haben, das Haus nun zu kaufen, diese entscheidet sich eines Theils nach der Frage des Bedürfnisses, andererseits nach der Frage der Preiswürdigkeit; und wir sind nach den heutigen Ermittelungen, den heutigen Zeitverhältnissen ganz außer Zweifel, daß der Werth dieses Grundstückes vorhanden ist und in dem wahren Werth wahrscheinlich die Summe von 300,000 Thalern übersteigt. Und so haben wir, glaube ich, keine Veranlassung, die Position von 177,000 Thalern zu beanstanden, ich bitte daher Namens der Kommission, diese geforderte Summe zu bewilligen. Die Posiüon wird angenommen.

Haushaltsetat des Deutschen Reichs für 1871.

371

Mündlicher Bericht über Kapitel 7 der Einnahmen des Nachtrages zum Bundeshaushalts-Etats für das Zahr 1871 am 17. Mai 1871.

Der Antrag der Kommission lautet: „Der Reichstag wolle beschließen: Die Kapitel 7 des Nachtrags zum Bundes­ haushalts-Etat für das Zahr 1871 aufgestellte Bertheilung der von den einzelnen Staaten zur Deckung der Gesammtausgaben des deutschen Reiches pro 1871 aufzu­ bringenden Matrikularbeiträge, und demgemäß die Mehreinnahme von 415,717 Thlr. (vorbehaltlich der eventuellen Berichtigung nach den Beschlüssen des Reichstages über die anderweiten Einnahmen resp. Ausgaben des Haushalts-Etats) zu genehmigen." Ferner: „Bei Ertheilung dieser Genehmigung die Erwartung auszusprechen, daß das Reichskanzler-Amt bedacht sein werde, bis zur Feststellung des Reichshaushalts-Etats pro 1872 die Regulirung des Bundes-Gesandtschaftswesens an den süddeutschen Höfen unter Absetzung der bezüglichen Ausgabepositionen von dem Haushalts-Etat, sowie baldmöglichst die Beseitigung der Nachlässe an den Ausgaben für die BundesGesandtschaften, welche den im Bundesauslande eigene Gesandtschaften haltenden Bundes­ staaten bisher gewährt worden sind, soweit letztere nicht in den bestehenden Verträgen ausdrücklich ausbedungen worden sind, herbeizuführen." Nach längerer Diskussion über die Rechts-, die Preis- und die Bedürfnißsrage werden beide Anträge angenommen. Zweite Berathung am 19. Mai 1871.

Die Kommission beantragt, im Ganzen die sämmtlichen Positionen des Nach­ trages zum Ausgabe-Etat der Postverwaltung zu genehmigen. Außerdem beantragt die Kommission zu diesem Etat folgende Resolutionen: 1) Zu Titel 1 Nr. 1 a (S. 2 und 3 des Nachtrags-Etats und S. 24 und 25 der vergleichenden Zusammenstellung): ., Der Reichstag wolle beschließen: Den Reichskanzler aufzufordern, die erforderlichen Schritte zu thun, um ohne Verletzung bereits erworbener Rechte von dem Eintritte des neuen Pensionsreglements an die Reduktion und endlich Aufhebung der Offiziers-Postmeisterstellen eintreten zu lassen." 2) Zu Titel 1 Nr. Id (S. 2 und 3 des Nachtrags-Etats und S. 24 und 25 der vergleichenden Zusammenstellung): „Der Reichstag wolle beschließen: Den Reichskanzler aufzufordern, bei Aufstellung des Etats für 1872 in Erwägung zu nehmen, ob nicht die Gehälter der Postsekretaire in Städten von 30—40,000 Einwohnern den Gehältern der Sekretaire in größeren Städten gleichzustellen sind." Beide Resolutionen und der Antrag werden angenommen. Die Vorlage wird in dritter Berathung am 23. Mai 1871 mit einem Anträge der Abg. v. Benda und Richter (betreffend die Beseitigung der Umrechnung der Matrikularbeiträge durch Absetzung eines kleineren Theils der Einnahme an WechselStempelsteuer) mit großer Majorität angenommen.

Nr. 12.

Gesetzentwurf betreffen- die Vereinigung von Elsaß und Lothringen mit -em -rutschen Neiche. Wir Wilhelm rc. rc. § 1. Die von Frankreich durch den Artikel I. des Präliminarfriedens vom 26. Februar 1871 abgetretenen Gebiete Elsaß und Lothringen werden, unbeschadet der in diesem Artikel vorbehaltenen endgültigen Bestimmung ihrer Grenze mit dem deutschen Reiche für immer vereinigt.

372

Gesetzentwürfe.

§ 2. Die Verfassung des deutschen Reichs tritt in Elsaß und Lothringen am 1. Januar 1874 in Wirksamkeit. Durch Verordnung des Kaisers mit Zustimmung des Bundesraths können einzelne Theile der Verfassung schon früher eingeführt werden. Die erforderlichen Aenderungen und Ergänzungen der Reichsverfassung werden auf ver­ fassungsmäßigem Wege festgestellt. § 3. Bis zum Eintritt der Wirksamkeit der Neichsverfassung wird für Elsaß und Lothringen das Recht der Gesetzgebung in feinern ganzen Umfange vom Kaiser mit Zustimmung des Bundes­ raths ausgeübt. Nach Einführung der Verfassung steht bis zu anderweiter Regelung durch Reichsgesetz das Recht der Gesetzgebung auch in den der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten dem Reiche zu. Alle anderen Rechte der Staatsgewalt übt der Kaiser aus.

Motive.

Durch Artikel I. des am 3. März d. Z. ratifizirten Präliminarfriedens zwischen Deutschland und Frankreich vom 26. Februar d. Z. hat Frankreich allen seinen Rechten und Ansprüchen auf die daselbst näher bezeichneten Gebiete zu Gunsten des deutschen Reiches entsagt. Letzteres soll diese Gebiete für immer mit voller Landeshoheit und zu vollem Eigenthum besitzen. Vorbehalten ist nur die Bestimmung des bei Frankreich verbleibenden Rayons um Stadt und Festung Belfort. Vorbehaltlich dieser, durch den Definitiv-Frieden zu treffenden Bestimmung befindet sich das Reich im rechtlichen Besitze des im gedachten Artikel bezeichneten Gebietes. Es ist daher befugt, die Verhältnisse des letzteren gesetzlich zu regeln und die baldige Regelung dieses Verhältnisses liegt ebenso sehr im Reichsinteresse, als in dem der Bewohner von Elsaß und Lothringen. Der vor­ liegende Gesetz-Entwurf soll diese Regelung einleiten. Derselbe bestimmt Folgendes: I. Elsaß und Lothringen werden mit dem deutschen Reiche sofort vereinigt. II. Die Verfassung des deutschen Reiches tritt in Elsaß und Lothringen am 1. Januar 1874 in Wirksamkeit. III. Einzelne Theile der Neichsverfassung können durch Verordnung des Kaisers mit Zustim­ mung des Bundesraths schon vor dem 1. Januar 1874 eingeführt werden. IV. Von jetzt bis zum Eintritt der Wirksamkeit der Neichsverfassung wird das gesammte Gesetzgebungsrecht — auf den Gebieten der Reichs- und der Landesgesetzgebung — vom Kaiser mit Zustimmung des Bundesraths ausgeübt. V. Vom Eintritt der Wirksamkeit der Neichsverfassung an steht dem Reiche für Elsaß und Lothringen das Recht der Gesetzgebung auch bezüglich der Angelegenheiten zu, welche in den Bundesstaaten der Reichsgesetzgebung nicht unterliegen. VI. Alle anderen Rechte der Staatsgewalt außer dem der Gesetzgebung übt der Kaiser aus. I. Elsaß und Lothringen werden für immer mit dem deutschen Reiche staatsrechtlich vereinigt, sie werden nicht Bestandtheile eines einzelnen Bundesstaates, sondern unmittelbares Reichsland. Allerdings ist die Verfassung des Reichs für ein unmittelbares Neichsland noch nicht eingerichtet. Das deutsche Reich ist seinem Grundcharakter nach ein Bund selbstständiger souveräner Staaten, welche einen durch die Neichsverfassung begrenzten Theil ihrer Staatshoheitsrechte an die gemein­ samen Organe des Reiches abgegeben, im Uebrigen aber ihre staatliche Selbstständigkeit bewahrt haben. Dabei nehmen die einzelnen Bundesstaaten wiederum Theil an der Ausübung der Reichs­ hoheit durch ihre Bevollmächtigten zum Bundesrath und ihre gewählten Abgeordneten zum Reichs­ tag. Das von Frankreich abgetretene Gebiet ist nicht bestimmt einen mit eigener Staatshoheit bekleideten selbstständigen Bundesstaat zu bilden; die Landeshoheit über dasselbe ruht im Reiche. Nicht ausgesprochen sodann (vergl. übrigens § 76 Absatz 2 der Verfassung) aber vorausgesetzt in der Verfassung des Reiches ist das Bestehen von Verfassungen in den Einzelstaaten, kraft welcher die Gesetzgebung in den der Reichsgesetzgebung nicht unterliegenden Angelegenheiten an die Zustimmung — die Landesverwaltung an die Kontrole von Landesvertretungen gebunden ist. Eben deshalb wird eine Landesverfassung durch die Reichsverfassung nicht vollständig ersetzt und es ist die Frage nicht abzuweisen, ob das Verfassungsrecht eines unmittelbaren Reichslandes einzig in der Reichs-

Vereinigung von Elsaß und Lothringen nüt dem Deutschen Reiche.

373

Verfassung bestehen kann — wenn nicht, in welcher Weise eine Landesverfassung für Elsaß und

Lothringen, in welchen Gebieten die französische Staatsverfassung außer Kraft tritt, geschaffen oder

wodurch sie ersetzt werden soll.

Diese Erwägungen konnten indessen nicht davon abhalten, dem

erworbenen Gebiete denjenigen staatsrechtlichen Charakter zu geben, welcher dem geschichtlichen Her­

gänge entspricht, der zu der Erwerbung dieses Gebietes geführt hat.

Die Wiedergewinnung von

Elsaß und Lothringen ist das erhebende sichtbare Ergebniß der gemeinsamen kriegerischen Aktion, durch- welche Deutschland in Abwehr des französischen Angriffs auf seine Unabhängigkeit seine Einheit und Größe wiedergewonnen hat; es sind jene Lande der Siegespreis der Kämpfe, in welchen alle

deutschen Stämme mit- und nebeneinander geblutet haben, das äußere Pfand der Einheit des deut­ schen Reiches, mit vereinter Kraft errungen, mit vereinter Kraft später vielleicht noch einmal zu

vertheidigen.

Deshalb sollen die wiedergewonnenen Gebiete als untrennbares Ganze dem ganzen

Reiche einverleibt, nicht einem Bundesstaate überantwortet, nicht unter mehrere getheilt werden.

Die Reichsverfassung bietet Raum die formellen Schwierigkeiten eines solchen Verhältnisses im Wege

der Reichsgesetzgebung zu überwinden.

II. Wenn die Verfassung des deutschen Reichs in Elsaß und Lothringen in Kraft treten soll, so werden gewisse Abänderungen und Ergänzungen der Verfassung nothwendig werden.

Abgesehen

von den vielfachen Bezugnahmen der Reichsverfassung auf die Stellung der Bundesstaaten, Bundes­

fürsten, Kontingentsherren, werden solche Abänderungen oder Ergänzungen erforderlich, z. B. bei der Beschreibung des Bundesgebiets (Verfassung Art. 1), bezüglich der Festsetzung der Zahl der in

Elsaß und Lothringen zu wählenden Reichstags-Abgeordneten (Art. 20) und hinsichtlich der Bildung des Bundesraths (Art. 6).

Der Kaiser als solcher entsendet keine Bevollmächtigte zum Bundesrath

und sind diese Bevollmächtigten als Vertreter ihrer Regierungen Mitglieder einer Versammlung, welche die Rechte eines Staatenhauses übt und bei deren Beschickung die Bevölkerungen wesentlich

interessirt sind. Es kann allerdings gesagt werden, daß sich solche Abänderungen und Ergänzungen

der Verfassung von selbst verstehen.

Es erschien aber als an sich richtig und zur Verhütung des

Mißverständnisses, als solle Elsaß und Lothringen eine Vertretung im Bundesrath durch den Ge­ setz-Entwurf versagt werden, geeignet, eine bezügliche Hinweisung in das Gesetz aufzunehmen. Daß eine Uebergangsperiode erforderlich, bevor das neue Reichsland in die Gemeinschaft des Reichs mit verfassungsmäßigen Rechten und Pflichten eintreten kann, daß für die Bevölkerung des­

selben ein solcher Uebergang wünschenswerth ist, wird einer besonderen Begründung nicht bedürfen.

Der Termin des 1. Januar 1874 füllt mit der Erneuerung der Legislaturperiode des Reichstags zusammen.

Daß es nöthig werden sollte, den Abschnitt vom „Reichstag" vor diesem Termin ein-

zuführm ist nicht wahrscheinlich.

Sollte das Gegentheil sich herausstellen, so kann das jetzt er­

gehende Gesetz jederzeit entsprechend abgeändert werden.

III. und IV. Daß schon vor dem 1. Januar 1874 einzelne Theile der Reichsverfassung in Wirksamkeit

treten, wie z. B. die Bestimmungen über das Jndigenat, Zoll- und Handelswesen, Eisenbahnwesen,

Post- und Telegraphenwesen, Kriegswesen, ist durch wichtige Interessen des Reichs wie des Reichs­

landes geboten.

Nicht minder nothwendig wird vor jenem Termine die Einführung

zahlreicher

Reichsaesetze werden, mögen solche zur Ausführung jener Bestimmungen erlassen sein, oder mögen sie Institutionen begründen, deren Uebertragung auf das Reichsland durch die Einheit des Reichs gefordert wird. Endlich ist es unerläßlich, besondere in den Bereich der Landesgesetzgebung fallende Bestimmungen für das Reichsland zu treffen, welche, wie die Organisation der Justiz und der Ver-

waltunz, der Etat u. s. w., keine Verzögerung dulden. Der Entwurf beantragt im 2. Alinea des § 2 und im 1. Alinea des § 3 für den Kaiser und

den Brndesrath die Ermächtigung, diese gesetzgeberischen Akte während der Uebergangsperiode ohne Mitwirkung des Reichstages vorzunehmen. Diese Abweichung von dem normalen Gange findet ihre Begründung in dem Umstande, daß die Thätigkeit der Gesetzgebung während jener Periode eine

ununterbrochene und jederzeit bereite sein muß. Ls bedarf kaum der Bemerkung, daß bei Ausübung derselben ein Benehmen mit Notabeln

und Sechkundigen des Reichslandes in allen Fällen stattfinden wird, wo die Dringlichkeit und die politisckM Rücksichten es nicht hindern.

Gesetzentwürfe.

374

Im Einzelnen bleibt zu bemerken, daß der § 2 dem Kaiser und Bundesrathe nicht die Befugniß ertheilt, die ganze Verfassung vor dem 1. Januar 1874 in Wirksamkeit zu setzen oder bei

Einführung einzelner Theile derselben Abänderungen oder Ergänzungen vorzunehmen.

V. Es würde eine dauernde Ausnahmestellung für Elsaß und Lothringen und eine Abweichung von dem bisherigen Neichsstaatsrechte bilden, wenn das Recht der Gesetzgebung auch in den der

Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegenden Angelegenheiten für Elsaß und Loth­

ringen von dem Reiche für immer ausgeübt würde. Es wäre damit eine Provinzialvertretung im Gebiete der Administration, eine Landesver­

tretung mit konsultativem Votum auf dem Gebiete der Landesgesetzgebung nicht ausgeschlossen, wohl aber jede entscheidende Mitwirkung einer Landesvertretung.

Daraus, daß das Reich als Träger

der Staatshoheit über das Reichsland erscheint, folgt streng genommen, daß das ganze Recht der

Gesetzgebung dem Reiche zusteht, im Reiche ruht.

Dessen ungeachtet könnte unter Umständen eine

Mitwirkung bei Ausübung der Landesgesetzgebung vom Reiche einer Landesvertretung übertragen

werden zur Wahrnehmung solcher Interessen, welche vorwiegend Lokal-Interessen der Landes-

Angehörigen find. Die Fassung des §3 Alinea 2 hat die Absicht hier in keiner Weise zu präjudiziren; sie

drückt aus, daß die Meinung nicht die ist, es solle und müsse die ganze Gesetzgebung für Elsaß und Lothringen dauernd vom Reiche unmittelbar ausgeübt werden.

VI. Sämmtliche übrigen Hoheitsrechte außer der Gesetzgebung werden Dieser Satz kennzeichnet das Verhältniß des unmittelbaren Reichslandes.

vom Kaiser ausgeübt. Der deutsche Kaiser als

erblicher Vertreter der Gesammtheit, welcher die Souverainetät über das Reichsland zusteht, übt die landesherrlichen Rechte über das Reichsland aus. Dem Bundesrathe ist eine Theilnahme an der Verwaltung nur nach Maßgabe seiner Zu­

ständigkeit für das ganze Reich eingeräumt. Die Organisation des Bundesraths ist im Allgemeinen für eine Betheiligung an der lokalen Verwaltung nicht geeignet; und einzelne besonders wichtige

Akte hier herauszugreifen ist schwer.

Selbstverständlich ist, daß außerhalb des Bereichs der Gesetzgebung liegende dem Bundesrathe durch besondere Gesetze eingeräumte ^Befugnisse durch die allgemeine Ausdrucksweise des Entwurfs nicht berührt werden.

In wieweit der Kaiser seinerseits Vollmacht ertheilen kann zur Vertretung in Ausübung der landesherrlichen Rechte ist nach allgemeinen staatsrechtlichen Grundsätzen zu entscheiden.

Es scheint

kein Bedürfniß vorzuliegen weder zu besonderer Beschränkung, noch zu ausnahmsweiser Ausdehnung der landeshoheitlichen Befugnisse.

Als selbstverständlich ist zu betrachten, daß die landesherrlich n Anordnungen und Verfügun­ gen des Kaisers zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung eines Ministers bedürfen, welcher dadurch

die Verantwortlichkeit übernimmt.

Dieser Minister wird der Reichskanzler sein, es mag nun die

gesetzgebende Gewalt dem Reichstage allein oder dem Reichstage und in Landesangelegenheiten

einer Landesvertretung zugewiesen werden. Denn die letztere wirkt bei der Landesgesetzgebung kraft

Uebertragung Seitens des Reichs mit, für das Reich wird verwaltet, dem Reiche ist Verantwor­

tung zu legen, wobei die Einräumung des Rechtes, Wünsche und Beschwerden vorzutragen, an eine Landesvertretung im engeren Sinne nicht ausgeschlossen ist.

Erste Berathung am 2. Mai 1871.

Bundeskanzler Fürst von Bismarck: Zch habe zur Einleitung des Zhnen vor­ liegenden Gesetzentwurfs nur wenige Worte zu sagen. Ueber das Detail desselben wird die Diskussion ja Gelegenheit geben mich zu äußern; das Hauptprinzip desselben aber ist, glaube ich, einer Meinungsverschiedenheit kaum unterworfen, nämlich die Frage, ob Elsaß und Lothringen dem deutschen Reiche einverleibt werden sollen. Die Form, in welcher es zu geschehen haben wird, die Form namentlich, in welcher es zunächst an­ zubahnen sei, wird ja Gegenstand Ihrer Beschlüsse sein, und Sie werden die verbündeten

Vereinigung von Elsaß und Lothringen mit dem Deutschen Reiche.

375

Regierungen bereit finden, alle Vorschläge, die in dieser Beziehung abweichend von den unsrigen gemacht werden, sorgfältig zu erwägen. — In dem Prinzipe selbst, glaube ich, daß eine Meinungsverschiedenheit um deshalb nicht vorhanden sein wird, weil sie schon vor einem Jahre nicht vorhanden war und während dieses Kriegsjahres nicht zu Tage getreten ist. Wenn wir uns ein Jahr — oder genauer zehn Monate — zurückversetzen, so werden wir uns sagen können, daß Deutschland einig war in seiner Liebe zum Frieden; es gab kaum einen Deutschen, der nicht den Frieden mit Frankreich wollte, so lange er mit Ehren zu halten war. Diejenigen krankhaften Ausnahmen, die etwa den Krieg wollten in der Hoffnung, ihr eigenes Vaterland werde unterliegen, — sie sind des Namens nicht würdig, ich zähle sie nicht zu den Deutschen. (Br.!) — Ich bleibe dabei, die Deutschen in ihrer Einstimmigkeit wollten den Frieden. Ebenso einstimmig aber waren sie, als der Krieg uns aufgedrängt wurde, als wir gezwungen wurden, zu unserer Vertheidigung zur Wehr zu greifen, wenn Gott uns den Sieg in diesem Kriege, den wir mannhaft zu führen entschlossen waren, verleihen sollte, nach Bürgschaften zu suchen, welche eine Wiederholung eines ähnlichen Krieges unwahrscheinlicher und die Abwehr, wenn er dennoch eintreten sollte, leichter machen. Jedermann erinnerte sich, daß unter unseren Vätern seit dreihundert'Jahren wohl schwerlich eine Generation gewesen ist, die nicht gezwungen war, den Degen gegen Frankreich zu ziehen, und Jedermann sagte sich, daß, wenn bei früheren Gelegenheiten, wo Deutschland zu den Siegern über Frankreich gehörte, die Möglichkeit versäumt worden war, Deutschland einen besseren Schutz gegen Westen zu geben, dies darin lag, daß wir den Sieg in Gemeinschaft mit Bundesgenossen erfochten hatten, deren Interessen eben nicht die unsrigen waren. Jedermann war also entschlossen, wenn wir jetzt, selbstständig und rein auf unser Schwert und unser eigenes Recht gestützt, den Sieg erkämpften, mit vollem Ernste dahin zu wirken, daß unseren Kindern eine gesichertere Zukunft hinterlassen werde. Die Kriege mit Frankreich hatten im Laufe der Jahrhunderte, da sie vermöge der Zerrissenheit Deutschlands fast stets zu unserem Nachtheile ausfielen, eine geographisch­ militärische Grenzbildung geschaffen, welche an sich für Frankreich voller Versuchung, für Deutschland voller Bedrohung war, und ich kann die Lage, in der wir uns befanden, in der namentlich Süddeutschland sich befand, nicht schlagender charakterisiren, als es mir gegenüber von einem geistreichen süddeutschen Souverän einst geschah, als Deutsch­ land gedrängt wurde, im orientalischen Kriege, für die Westmächte Partei zu nehmen, ohne daß es der Ueberzeugung seiner Negierungen nach ein selbstständiges Interesse hatte, diesen Krieg zu führen. Ich kann ihn auch nennen — es war der hochselige König Wilhelm von Württemberg. Der sagte mir: „Ich theile Ihre Ansicht, daß wir kein Interesse haben, uns in diesen Krieg zu mischen, daß kein deutsches Interesse dabei auf dem Spiele steht, welches der Mühe werth wäre, deutsches Blut dafür zu vergießen. Aber wenn wir uns darum mit den Westmächten überwerfen sollten, wenn es soweit kommen sollte, zählen Sie auf meine Stimme im Bundesrathe, bis zu der Zeit, wo der Krieg zum Ausbruch kommt. Dann aber nimmt die Sache eine andere Gestalt an. Ich bin entschlossen, so gut wie jeder Andere, die Verbindlichkeiten einzuhalten, die ich eingegangen bin. Aber hüten Sie sich, die Menschen anders zu beurtheilen, wie sie sind. Geben Sie uns Straßburg, und wir werden einig sein für alle Eventualitäten; so lange Straßburg aber ein Ausfallsthor ist für eine stets bewaffnete Macht, muß ich befürchten, daß mein Land überschwemmt wird von ftemden Truppen, bevor mir der deutsche Bund zu Hilfe kommen kann. Ich werde mich keinen Augenblick bedenken, das harte Brod der Verbannung in Ihrem Lager zu essen, aber meine Unterthanen werden an mich schreiben. Sie werden von Kontributionen erdrückt werden, um auf Aenderung meines Entschlusses zu wirken. Ich weiß nicht, was ich thun werde, ich weiß nicht, ob alle Leute fest genug bleiben werden. Aber der Knotenpunkt liegt in Straßburg, denn so lange das nicht deutsch ist, wird es immer ein Hinderniß für Süddeutschland bilden, sich der deutschen Einheit, einer deutsch-nationalen Politik ohne Rückhalt hinzugeben. So lange Straßburg ein Ausfallsthor für eine stets waffenbereite Armee von 100 bis 150,000 Mann ist, bleibt Deutschland in der Lage, nicht rechtzeitig mit ebenso starken

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Gesetzentwürfe.

Streitkräften am Oberrhein eintreten zu können — die Franzosen werden stets früher da sein." — Ich glaube, dieser aus dem Leben gegriffene Fall sagt Alles — ich habe dem nichts hinzusügen. Der Keil, den die Ecke des Elsaß bei Weißenburg in Deutschland hineinschob, trennte Süddeutschland wirksamer als die politische Mainlinie von Norddeutschland, und es gehörte der hohe Grad von Entschlossenheit, von nationaler Begeisterung und Hin­ gebung bei unseren süddeutschen Bundesgenossen dazu, um ungeachtet dieser naheliegenden Gefahr, der sie bei einer geschickten Führung des Feldzuges von Seiten Frankreichs aus­ gesetzt waren, keinen Augenblick anzustehen, in der Gefahr Norddeutschlands die ihrige zu sehen und frisch zuzugreifen, um mit uns gemeinschaftlich vörzugehen. (Br.!) Daß Frankreich in dieser überlegenen Stellung, in diesem vorgeschobenen Bastion, welches Straßburg gegen Deutschland bildete, der Versuchung zu erliegen jeder Zeit bereit war, sobald innere Verhältnisse eine Ableitung nach außen nützlich machten, das haben wir Jahrzehnte hindurch gesehen. (S. w.!) Es ist bekannt, daß ich noch am 6. August 1866 in dem Fall gewesen bin, den französischen Botschafter bei mir eintreten zu sehen, um mir mit kurzen Worten das Ultimatum zu stellen, Mainz an Frankreich abzutreten, oder die sofortige Kriegserklärung zu gewärtigen. (H.! H.!) — Ich bin natürlich nicht eine Sekunde zweifelhaft gewesen über die Antwort. Ich antwortete ihm: Gut, dann ist Krieg!. (Br.!) Er reiste mit dieser Antwort nach Paris; in Paris besann man sich einige Tage nachher anders, und man gab mir zu verstehn, diese Instruktion sei dem Kaiser Napoleon während einer Krankheit entrissen worden. (H.) — Die weiteren Versuche in Bezug auf Luxemburg und weitere Fragen sind bekannt. Ich komme darauf nicht zurück. Ich glaube, ich brauche auch nicht zu beweisen, daß Frankreich nicht immer charakterstark genug war, den Versuchungen, die der Besitz des Elsaß mit sich brachte, zu widerstehen. Die Frage, wie Bürgschaften dagegen zu gewinnen seien, — territorialer Natur mußten sie sein, die Garantien der auswärtigen Mächte konnten uns nicht viel helfen, denn solche Garantien haben zu meinem Bedauern mitunter nachträglich eigenthümlich abschwächende Deklarationen erhalten. (H.) Man sollte glauben, daß ganz Europa das Bedürfniß empfunden hätte, die häufig wiederkehrenden Kämpfe zweier großen Kul­ turvölker inmitten der europäischen Civilisation zu hindern, und daß die Einsicht nahe lag, daß das einfachste Mittel, sie zu hindern, dasjenige sei, daß man den zweifellos friedfertigeren Theil von beiden in seiner Vertheidigung stärke. -Ich kann indeß nicht sagen, daß dieser Gedanke von Haus aus überall einleuchtend gefunden wurde. (H.) — Es wurde nach anderen Auskunftsmitteln gesucht, es wurde uns vielfach vorgeschlagen, wir möchten uns mit den Kriegskosten und mit der Schleifung der französischen Festungen in Elsaß und Lothringen begnügen. Ich habe dem immer widerstanden, indem ich dieses Mittel für ein unpraktisches im Interesse der Erhaltung des Friedens ansehe. Es ist die Konstituirung einer Servitut auf fremdem Grund und Boden, einer sehr drückenden und beschwerlichen Last für das Souveränetäts-, für das Unabhängigkeitsgefühl des­ jenigen, den sie trifft. Die Abtretung der Festungen wird kaum schwerer empfunden als das Gebot des Auslandes, innerhalb des Gebietes der eigenen Souveränem nicht bauen zu dürfen. Die Schleifung des unbedeutenden Platzes Hüningen ist vielleicht öfter wirksamer zur Erregung französischer Leidenschaft benutzt worden, als der Verlust irgend eines Territoriums, den Frankreich an seinen Eroberungen 1815 zu erleiden hatte. Ich habe deshalb auf dieses Mittel keinen Werth gelegt, um so weniger, als nach der geographischen Konfiguration des vorspringenden Bastions, wie ich mir erlaubte es zu bezeichnen, der Ausgangspunkt der französischen Truppen immer gleich nahe an Stuttgart und München gelegen hätte, wie jetzt. Es kam darauf an, ihn weiter zurückzuverlegen. — Außerdem ist Metz ein Ort, dessen topographische Konfiguration von der Art, daß die Kunst, um es zu einer starken Festung zu machen, nur sehr wenig zu thun braucht, und dasjenige, was sie etwa daran gethan hat, wenn es zerstört würde, was sehr kost­ spielig wäre, doch sehr rasch wiederherzustellen wäre. Ich habe also dies Auskunfts­ mittel als unzulänglich angesehen.

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Ein anderes Mittel wäre gewesen — und das wurde auch von Einwohnern von Elsaß und Lothringen befürwortet —, einen neutralen Staat, ähnlich wie Belgien und die Schweiz, an jener Stelle zu errichten. Es wäre dann eine Kette von neutralen Staaten hergestellt gewesen von der Nordsee bis an die schweizer Alpen, die es uns allerdings unmöglich gemacht haben würde, Frankreich zu Lande anzugreifen, weil wir gewochnt sind, Verträge und Neutralitäten zu achten, (s. g.!) und weil wir durch diesen dazwischen liegenden Raum von Frankreich getrennt wären; keineswegs aber würde Frank­ reich an dem im letzten Kriege ja gehegten, aber nicht ausgeführten Plan gehindert sein, gelegentlich seine Flotte mit Landungstruppen an unsere Küsten zu schicken oder bei Ver­ bündeten französische Truppen zu landen und bei uns einrücken zu lassen. Frankreich hätte einen schützenden Gürtel gegen uns bekommen, wir aber wären, so lange unsere Flotte der französischen nicht gewachsen ist, zur See nicht gedeckt gewesen. Es war dies ein Grund, aber nur in zweiter Linie. Der erste Grund ist der, daß die Neutralität überhaupt nur haltbar ist, wenn die Bevölkerung entschlossen ist, sich eine unabhängige, neutrale Stellung zu wahren und für die Erhaltung ihrer Neutralität zur Noth mit Waffengewalt einzutreten. So hat es Belgien, so hat es die Schweiz gethan; beide hätten uns gegenüber es nicht nöthig gehabt; aber ihre Neutralität ist thatsächlich von beiden geachtet worden; beide wollen unabhängige, neutrale Staaten bleiben. Diese Voraussetzung wäre bei den neuzubildenden Neutralen, Elsaß und Lothringen, in der nächsten Zeit nicht zugetroffen, sondern es ist zu erwarten, daß die starken, französischen Elemente, welche im Lande noch lange zurückbleiben werden, die mit ihren Interessen, Sympathien und Erinnerungen an Frankreich hängen, diesen neutralen Staat, welcher immer sein Souverän sein möchte, bei einem neuen französisch-deutschen Kriege bestimmt haben würden, sich Frankreich wieder anzuschließen, und die Neutralität wäre eben nur ein für uns schädliches, für Frankreich nützliches Trugbild gewesen. Es blieb daher nichts anderes übrig, als diese Landesstriche mit ihren starken Festungen vollständig in deutsche Gewalt zu bringen, um sie selbst als ein starkes Glacis Deutschlands gegen Frankreich zu vertheidigen, und um den Ausgangspunkt etwaiger französischer Angriffe um eine Anzahl von Tagemärschen weiter zurückzulegen, wenn Frankreich entweder bei eigener Erstarkung oder im Besitz von Bundesgenossen uns den Handschuh wieder hin­ werfen sollte. Der Verwirklichung dieses Gedankens, der Befriedigung dieses unabweisbaren Bedürfnisses zu unserer Sicherheit stand in erster Linie die Abneigung der Einwohner selbst, von Frankreich getrennt zu werden, entgegen. Es ist nicht meine Aufgabe, hier die Gründe zu untersuchen, die es Möglich machten, daß eine urdeutsche Bevölkerung einem Lande mit fremder Sprache und mit nicht immer wohlwollender und schonender Regierung in diesem Maße anhänglich werden konnte. Etwas liegt wohl darin, daß alle diejenigen Eigenschaften, die den Deutschen vom Franzosen unterscheiden, gerade in der elsässer Bevölkerung in hohem Grade verkörpert werden, so daß die Bevölkerung dieser Lande in Bezug auf Tüchtigkeit und Ordnungsliebe, ich darf wohl ohne Ueberhebung sagen, eine Art von Aristokratie in Frankreich bildeten; sie waren befähigter zu Aemtern, zuverlässiger im Dienst, die Stellvertreter im Militair, die Gendarmen, die Beamten; im Staatsdienst in einem die Proportion der Bevölkerung weit überragenden Verhältniß waren Elsässer und Lothringer; es waren die 1V2 Millionen Deutsche, die alle Vorzüge des Deutschen in einem Volke, das andere Vorzüge hat, aber gerade nicht diese, zu verwerthen im Stande waren und thatsächlich verwertheten; sie hatten durch ihre Eigenschaften eine bevorzugte Stellung, die sie manche gesetzliche Unbilligkeit ver­ gessen machte. Es liegt dabei im deutschen Charakter, daß jeder Stamm sich irgend eine Art von Ueberlegenheit namentlich über seinen nächsten Nachbarn vindicirt; hinter dem Elsässer und Lothringer, so lange er französisch war, stand Paris mit seinem Glanze und Frankreich mit seiner einheitlichen Größe; er trat dem deutschen Lands­ mann gegenüber mit dem Gefühle: Paris ist mein,' und fand darin eine Quelle für ein Gefühl partikularistischer Ueberlegenheit. Ich gehe nicht auf die weiteren Gründe zurück, daß Zeder sich einem großen Staatswesen, welches seiner Fähigkeit vollen SpielReichstags-Repertorium I.

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raum giebt, leichter assimilirt, als in einer zerrissenen, wenn auch stammverwandten Nation, wie sie sich früher diesseits des Rheines für einen Elsässer darstellte. That­ sache ist, daß diese Abneigung vorhanden war, und daß es unsere Pflicht ist, sie mit Geduld zu überwinden. Wir haben meines Erachtens viele Mittel dazu; wir Deutschen haben im Ganzen die Gewohnheit, wohlwollender, mitunter etwas ungeschickter, aber auf die Dauer kommt es doch heraus, wohlwollender und menschlicher zu regieren, als es die französischen Staatsmänner thun; (H.) — es ist das ein Vorzug des deutschen Wesens, der in dem deutschen Herzen der Elsässer bald anheimeln und erkennbar wer­ den wird. Wir sind außerdem im Stande, den Bewohnern einen viel höheren Grad von kommunaler und individueller Freiheit zu bewilligen, als die französischen Einrich­ tungen und Traditionen dies je vermochten. Wenn wir die heutige Pariser Bewegung betrachten, so wird auch bei ihr eintreffen, was bei jeder Bewegung, die eine gewisse Nachhaltigkeit hat, unzweifelhaft ist, daß neben allen unvernünftigen Motiven, die ihr ankleben und den Einzelnen bestimmen, in der Grundlage irgend ein vernünftiger Kern steckt; sonst vermag keine Bewegung auch nur das Maß von Kraft zu erlangen, wie die Pariser es augenblicklich erlangt hatten. Dieser vernünftige Kern — ich weiß nicht, wie viel Leute ihm anhängen, aber jedenfalls die besten und die intelligentesten von denen, die augenblicklich gegen ihre Landsleute kämpfen — ich darf es mit einem Worte bezeichnen: es ist die deutsche Städteordnung; wenn die Kommune diese hätte, dann würden die Besseren ihrer Anhänger zufrieden sein — ich sage nicht Alle. Wir müssen unterscheiden, wie liegt die Sache: die Miliz der Gewaltthat besteht über­ wiegend aus Leuten, die nichts zu verlieren haben; es giebt in einer Stadt von zwei Millionen eine große Anzahl sogenannter repris de justice, Leute, die man bei uns als unter polizeilicher Aufsicht bezeichnen würde, Leute, die die Intervalle, die sie zwischen zwei Zuchthaus-Perioden haben, in Paris zubringen, und die sich dort in er­ heblicher Anzahl zusammenfinden, Leute, die überall, wo es Unordnung und Plünderung giebt, bereitwillig derselben dienen. Es sind gerade diese, die der Bewegung den be­ drohlichen Charakter für Civilisation gegeben haben, durch den sie sich gelegentlich hervorthat, ehe man die theoretischen Ziele näher untersuchte, und der im Interesse der Menschlichkeit, hoffe ich, jetzt zu den überwundenen gehört, aber freilich ebenso gut auch rückfällig werden kann. Neben diesem Auswurf, wie er sich in jeder großen Stadt ja reichlich findet, wird die Miliz, deren ich gedacht, gebildet durch eine Anzahl von An­ hängern der europäischen internationalen Republik. Mir sind die Ziffern genannt wor­ den, mit welchen die fremden Nationalitäten sich dort betheiligten, von denen mir nur vorschwebt, daß beinahe 8000 Engländer sich zum Zwecke der Verwirklichung ihrer Pläne in Paris befinden sollen — ich setze voraus, daß es größtentheils irische Fenier sind, die mit dem Ausdrucke Engländer bezeichnet wurden — ebenso eine große Anzahl Belgier, Polen, Garibaldianer und Italiener. Das sind Leute, denen die Kommune und die französischen Freiheiten ziemlich gleichgültig sind, sie erstreben etwas Anderes, und auf sie war natürlich jenes Argument nicht gerichtet, wenn ich sagte: es ist in jeder Bewegung ein vernünftiger Kern. (H.) -- Solche Wünsche, wie sie ja in Frank­ reich bei den großen Gemeinden sehr berechtigt sind im Vergleich mit ihrer staatsrecht­ lichen Vergangenheit, die ihnen nur ein sehr geringes Maß der Bewegung zuläßt und nach den Traditionen der französischen Staatsmänner das äußerste dennoch bietet, was man der kommunalen Freiheit gewähren kann, machen sich ja bei dem deutschen Cha­ rakter der Elsässer und Lothringer, der mehr nach individueller und kommunaler Selbst­ ständigkeit strebt, wie der Franzose, in hohem Grade fühlbar, und ich bin überzeugt, daß wir der Bevölkerung des Elsaß auf dem Gebiete der Selbstverwaltung ohne Schaden für das gesammte Reich einen erheblichen freieren Spielraum lassen können — von Hause aus, der allmählich so erweitert wird, daß er dem Ideal zustrebt, daß jedes Individuum, jeder engere kleinere Kreis das Maß der Freiheit besitzt, was überhaupt mit der Ordnung des Gesammt-Staatswesens verträglich ist. Das zu erreichen, diesem Ziele möglichst nahe zu kommen, halte ich für die Aufgabe jeder vernünftigen Staats­ kunst, und sie ist für die deutschen Einrichtungen, unter denen wir leben, sehr viel er-

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reichibarer, als sie es in Frankreich nach dem französischen Charakter und der unitarischen Verfassung ooit Frankreich jemals werden kann. Ich glaube deshalb, daß es uns mit deutscher Gämld und deutschem Wohlwollen gelingen wird, den Landsmann dort zu gewännen — vielleicht in kürzerer Zeit, als man jetzt erwartet. Es werden aber immer Elemente Zurückbleiben, die mit ihrer ganzen persönlichen Vergangenheit in Frankreich wurzeln und die zu alt sind, um sich davon noch loszureißen, oder die durch ihre ma­ teriellen Interessen mit Frankreich nothwendig zusammen hängen und für das Zerreißen der Bande, die sie an Frankreich knüpften, eine Entschädigung bei uns entweder gar nichtt oder nur spät finden können. Also wir dürfen uns nicht damit schmeicheln, sehr rasch an den Ziele zu sein, daß im Elsaß die Verhältnisse sein würden wie in Thü­ ringen in Bezug auf deutsche Empfindungen; aber wir dürfen denn doch auch nicht verzweifeln, das Ziel, dem wir zustreben, unsererseits noch zu erleben, wenn wir die Zeit erfüllen, welche dem Menschen im Durchschnitte gegeben ist. Wie nun dieser Aufgabe näher zu treten sei, in welcher Form zunächst, das ist die Frage, welche jetzt zuerst an Sie herantritt, m. H., aber doch nicht in einer ent­ scheidenden und die Zukunft bindenden Weise. Ich möchte Sie bitten, bei diesen Berathiungen sich nicht auf den Standpunkt zu stellen, daß Sie etwas für die Ewigkeit Gültiges machen wollen, daß Sie jetzt schon sich einen festen Gedanken bilden wollen über- die Gestaltung der Zukunft, wie sie nach mehreren Jahren etwa sein soll. Dahin reicht meines Erachtens keine menschliche Voraussicht. Die Verhältnisse sind abnorm; sie wußten abnorm sein — unsere ganze Aufgabe war es — und sie sind nicht nur abnorm in der Art, wie wir das Elsaß gewonnen haben, sie sind auch abnorm in der Person des Gewinners. Ein Bund aus souveränen Fürsten und freien Städten bestehend, der eine Eroberung macht, die er zum Bedürfnisse seines Schutzes behalten muß, die sich also im gemeinsamen Besitze befindet, ist eine in der Geschichte sehr seltene Erscheinung, und wenn wir einzelne Unternehmungen von schweizer Kantonen abrechnen, die doch auch immer nicht die Absicht hatten, sich die gemeinsam gewonnenen Länder gleichberechtigt zu assimiliren, sondern sie als gemeinsame Provinzen zum Vor­ theil der Eroberer zu bewirthschaften, so glaube ich kaum, daß sich in der Geschichte etwas Aehnliches findet. Ich möchte also glauben, daß gerade bei dieser abnormen Lage und abnormen Aufgabe die Mahnung, den Fernblick des scharfsichtigsten Politikers in menschlichen Dingen nicht zu überschätzen, besonders an uns herantritt. Ich wenig­ stens fühle mich nicht im Stande, jetzt schon mit voller Sicherheit zu sagen, wie die Situation nach drei Jahren im Elsaß und in Lothringen sein wird. Um das berech­ nen zu können, müßte man in die Zukunft sehen. Es hängt das von Faktoren ab, deren Entwickelung, deren Verhalten und guter Wille gar nicht in unserer Gewalt stehen und von uns nicht regiert werden können. Es ist das, was wir Ihnen vor­ legen, eben ein Versuch, den richtigen Anfang einer Bahn zu finden, über deren Ende wir selbst noch der Belehrung durch die Entwickelung, durch die Erfahrungen, die wir machen werden, bedürftig sind. Und ich möchte Sie deshalb bitten, einst­ weilen denselben empirischen Weg gehen zu wollen, den die Regierungen gegangen sind, und die Verhältnisse zu nehmen, wie sie liegen, und nicht wie sie vielleicht wünschenswerth wären. Wenn man nichts Besseres an die Stelle zu setzen weiß für Etwas, was Einem nicht vollständig gefällt, so thut man immer, meiner Ueberzeugung nach, besser, der Schwerkraft der Ereignisse ihre Wirkung zu lassen und die Sache einstweilen so zu nehmen, wie sie liegt; sie liegt aber so, daß die verbündeten Regierungen ge­ meinsam diese Länder gewonnen haben, daß ihr gemeinsamer Besitz, ihre gemeinsame Verwaltung etwas Gegebenes ist, was nach unseren Bedürfnissen und nach den Be­ dürfnissen der Betheiligten in Elsaß und Lothringen modifizirt werden kann. Aber ich möchte dringend bitten, sparen Sie sich, ebenso wie es die verbündeten Regierungen machen, das Urtheil über die Gestaltung, wie sie definitiv einmal werden kann, noch auf. Haben Sie mehr Muth, die Zukunft zu präjudiziren, als wir haben, so werden wir Ihnen bereitwillig entgegenkommen, da wir unsere Arbeit ja doch nur gemeinschaft­ lich betreiben können, und gerade die Vorsicht, mit der ich die Ueberzeugung der ver55*

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bündeten Regierungen kundgebe, mit der dieselben sich die Ueberzeugung gebildet haben, zeigt Ihnen zugleich die Bereitwilligkeit, in der wir uns befinden, uns belehren zu lassen, wenn wir irgend einen besseren Vorschlag erhalten, namentlich, wenn er sich an der Hand der Erfahrung, selbst einer kurzen Erfahrung, als der bessere bewährt haben sollte; und wenn ich unsererseits diesen guten Willen kundgebe, so bin ich sicher, daß er bei Ihnen ebenso vorhanden ist, auf diesem Wege gemeinsam mit deutscher Geduld und deutscher Liebe zu allen, besonders zu den neuesten Landsleuten, das richtige Ziel zu finden und schließlich zu erreichen. (Lebh. Br.) Der Entwurf wird, nachdem aus dem Schooße der Versammlung kurz dafür ge­ sprochen, an eine Kommission von 28 Mitgliedern verwiesen. Im Zusammenhang mit den Erklärungen des Bundeskanzlers in der Sitzung vom 2. Mai 1871 steht die Mittheilung des Reichskanzlers Fürsten von Bismarck in der Sitzung vom 12. Mai 1871 über den Fortgang der Friedensverhandlungen. Dieselbe lautet: Ich knüpfe an eine frühere Erwähnung unserer Friedensverhandlungen an, bei der ich mein Bedauern darüber aussprach, daß diese Verhandlungen sich mehr, als wir erwartet hatten, in die Länge zogen. Wir hatten beim Abschluß des Präliminarfriedens uns der Hoffnung hingegeben, daß in einem Zeitraum von vier bis sechs Wochen, die­ jenigen Verhandlungen, welche erforderlich waren, um den Präliminarfrieden zu einem definitiven umzuwandeln und zu vervollständigen, beendigt sein könnten; wir hatten darauf gerechnet, daß die Regierung, mit der wir den Frieden geschlossen haben, sich der unbestrittenen Herrschaft in Frankreich erfreuen würde. Diese Hoffnung hat sich bekanntlich nicht verwirklicht, und die Regierung hat mit einer schweren und noch nicht überwundenen Insurrektion in der Hauptstadt zu kämpfen. Eine weitere Verzögerung der Verhandlungen mußte in uns die Frage und die Befürchtung erwecken, ob das Land bei Fortdauer seiner inneren Kämpfe und respektive ob die an der Spitze stehende Re­ gierung oder diejenige, welche ihr folgen würde, willens und im Stande bleiben werde, den uns gegenüber eingegangenen Verpflichtungen zu genügen. Der Präliminarfrieden beschäftigt sich mit den beiden wichtigsten Fragen des Friedensschlusses in einer end­ gültigen Weise, nämlich mit der Territorialabtretung und mit der Bezahlung der Kriegs­ entschädigung. In Bezug auf die erste war das streitige Objekt in unseren Händen, und war es nicht wahrscheinlich, daß die Ausführung der Bestimmung weiter inhibirt und zweifelhaft werden konnte, oder vielmehr, daß die Dauer unseres Besitzes gefährdet werden konnte. In Bezug aber auf den zweiten Punkt griff die Befürchtung Platz, die ich vorhin erwähnt habe, in Bezug sowohl auf den Willen als auf die Fähigkeit, ihn definitiv auszuführen. Es sind in der Geschichte die Fälle nicht selten, daß ein Prä­ liminarfrieden oder sonstiges Präliminarabkommen geschlossen worden ist, und daß es nicht gelungen ist, sich über die unentbehrlichen Vervollständigungen, deren der definitive Friede bedarf, rechtzeitig zu vereinigen, daß daher einer der beiden vertragenden Theile, um nicht in eine nachtheiligere Lage zu kommen, es vorgezogen hat, die Feindseligkeiten wieder zu eröffnen, anstatt länger die Ausführung der Präliminarien in Ungewißheit zu lassen. Ich war in der Besorgniß, daß wir nahe vor dieser Eventualität standen, und da sie eine sehr ernste war, so lag das Bedürfniß vor, vorher durch eine per­ sönliche Besprechung mit Mitgliedern der französischen Regierung sich darüber klar zu werden, ob eine solche Nothwendigkeit wirklich vorläge oder nicht. Es wäre für uns immer noch nicht indicirt gewesen, wenn wir uns nicht verständigten, sofort die Truppen der französischen Regierung anzugreifen; aber meiner politischen Erwägung nach wären wir, wenn wir uns jetzt nicht verständigten, wenn wir ernste Verletzungen unserer Interessen mit der Verlängerung der Ungewißheit fürchteten, in der Lage gewesen, der Ungewißheit dadurch ein Ende zu machen, daß wir Paris entweder durch Akkord mit der Kommune oder durch Gewalt einnahmen und dann im Besitz dieses Pfandes von der Versailler Regierung forderten, daß sie, den Stipulationen des Präliminarfriedens entsprechend, ihre Truppen hinter die Loire zurückzöge, und daß in dieser gegenseitigen Verfassung die weitere Verhandlung über den Frieden fortgesetzt würde. Daß dies uns

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in ffchwierige, wenn nicht für die Erfüllung der Friedensbedingungen gefährliche Ver­ hältnisse verwickelt haben würde, liegt auf der Hand. Indessen solche Verhältnisse weriden oft durch längeres Zuwarten nicht besser, sondern schwieriger, und ich glaube, wir wären in der Nothwendigkeit gewesen, mit Entschlossenheit vorzugehen, um einen zweifellosen Zustand herzustellen, wenn es nicht gelungen wäre, zu einem definitiven Abschluß mit Frankreich zu gelangen. Ich war ursprünglich nicht in der Hoffnung nach Frankfurt gegangen, daß es dort schon so weit würde kommen können, sondern nur in der Absicht, einige noch schrwebende Fragen — einige der principiell wichtigeren — zur Entscheidung zu bringen und für die Zahlung der Kriegskontribution eine Verkürzung der Fristen und eine Ver­ stärkung der Garantien zu erreichen und dann den weiteren Abschluß der Verhandlungen den Bevollmächtigten in Brüssel zu überlassen; sobald sich indessen die Aussicht darbot, in Frankfurt sofort definitiv abzuschließen, hielt ich dies für einen großen Gewinn im Interesse beider beteiligten Länder, indem ich überzeugt bin, daß dadurch nicht nur für Deutschland die militärischen Lasten, welche wir uns noch auflegen müssen, wesentlich werden erleichtert werden, sondem daß auch dieser Abschluß zur Konsolidirung der Verhältmisse in Frankreich wesentlich beitragen werde. Dadurch, daß die jetzige Regierung den definitiven Frieden abgeschlossen hat, ist sie diejenige, welche am leichtesten im Stunde ist, den im Allgemeinen nach Frieden verlangenden Wünschen des französischen Volkes zu entsprechen. Jede Regierung, die sich durch Gewalt oder andere Mittel an ihre Stelle setzte, hätte das Bedenken gegen sich, daß für sie und ihr der Friede nicht so vollständig und unbedingt gesichert ist, wie für die jetzige Regierung. Ich glaube daher, daß, wenn meine Voraussetzung richtig ist, daß die Mehrheit der Franzosen den Frieden wünscht, es auch für die Konsolidirung der jetzigen Zustände wesentlich wichtig und vorteilhaft gewesen ist, daß der definitive Friede abgeschlossen worden ist. Ich glaubte deshalb nicht, daß wir so rasch dazu gelangen würden^ weil aus der Feststellung der Hauptbedingungen doch bei einem solchen Friedensschluß eine Anzahl von Neben­ geschäften zu erledigen find, die, wenn nicht sehr viel beiderseitiger guter Wille und ein sehr dringendes Bedürfniß des Friedens auf beiden Seiten vorhanden ist, sonst noch nicht in Wochen, ja selbst mitunter kaum in Monaten ihre Erledigung finden können. Es werden deshalb auch nachträgliche Ausführungsverhandlungen stattzufinden haben, und ist Frankfurt als Ort derselben ausersehen worden; in der Hauptsache aber ist ein befriedigender und endgültiger Abschluß erreicht worden: die Zahlungsfristen sind verkürzt und schärfer definirt worden; anstatt, daß die erste Zahlung erst im Laufe dieses Jahres zu erfolgen hatte, wird die Zahlung der ersten halben Milliarde schon innerhalb der dreißig Tage, die auf die Unterwerfung von Paris folgen werden, stattzusinden haben. Nach der militärischen Lage der Dinge dürfen wir hoffen, daß der Kampf vor und in Paris sich seinem Ende nähert; und sobald die Truppen der Regierung siegreich sein werden — wozu wir die Mittel jetzt, nachdem der definitive Friede abgeschlossen ist, durch verstärkte Freilassung der Gefangenen bereitwillig gewähren werden — wird innerhalb 30 Tagen eine erste Zahlung von 500 Millionen Franken stattzusinden haben. Als Zahlungsmittel ist festgesetzt worden, daß nur Metallgeld oder Noten von sicheren Banken, wie die englische, die niederländische, die preußische, die belgische an­ genommen werden oder Wechsel erster Klasse, das heißt solche, die so gut wie baar Geld sind, und wenn sie es wider Erwarten nicht sein sollten, so trifft der Ausfall nicht uns. (B.) — Die zweite Zahlung von 1000 Millionen Franken hat sodann im Lause dieses Jahres, wenn mein Gedächtniß mich nicht täuscht, sogar bis zum 1. De­ zember stattzusinden. Erst nach dieser zweiten Zahlung sind wir verpflichtet, die Be­ festigungen von Paris zu räumen, (alls. Br.) also nachdem 1 !/2 Milliarden gezahlt sein werden. Es war diese Bestimmung zu meinem Bedauern eine nothwendige Vorsichts­ maßregel gegen die Schwankungen, denen die inneren Zustände des Landes noch aus­ gesetzt sein können, wenn wir zu früh von der Hauptstadt uns zurückziehen, und so schwer es den französischen Bevollmächtigten gewesen ist, hierin zu willigen, so habe ich doch geglaubt, hierauf bestehen zu müssen. (Br.!) Dann wird die vierte halbe

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Milliarde bis zum 1. Mai nächsten Zahres, und nicht erst bis zu Ende nächsten Zahres, zu zahlen sein. Zn Bezug auf die drei letzten Milliarden bleiben die Bestimmungen des Präliminarfriedens in Kraft — sie sind bis zum I. März 1874 vollständig ab­ zuzahlen, (s. g.) und was früher gezahlt wird, das scheidet natürlich aus der Verzinsung, die Frankreich für diese drei Milliarden zu leisten hat, aus. Die französische Regierung hat die Ueberzeugung, ihrer Verpflichtung in der festgesetzten Zeit genügen zu können. Eine andere sehr schwierige Frage war die der Handelsbeziehungen. Die fran­ zösische Regierung scheint die Handelsverträge, die sie geschlossen hat, lösen zu wollen und den mit uns bestandenen nicht wieder ins Leben treten lassen zu wollen. Sie ist der Meinung, daß die gesteigerten Einnahmen, deren sie bedürfe, durch gesteigerte Zölle wesentlich gefördert werden würden. Es ist meines Erachtens nicht thunlich, im inter­ nationalen Verkehr zwischen großen Völkern einen Handelsvertrag zu einer durch Krieg erkämpften Bedingung zu machen, die der Souveränetät eines großen Volkes und der Beschränkung seines Gesetzgebungsrechts auferlegt würde. (S. g.!) Ich habe deshalb auch nicht darauf bestanden und glaube nicht, daß die Maßregel praktisch gewesen wäre. Namentlich habe ich befürchtet, daß sie eine so starke Verletzung des Nationalgefühls enthielte, daß sie später den Frieden frühzeitig beeinträchtigen würde. Zch habe mich deshalb darauf beschränkt zu fordern, daß wir nach dem Princip der meistbegünstigten Nationen uns gegenseitig in Zukunft zu behandeln hätten. Dieses Princip ist in Wesenheit angenommen. Es wurde gewünscht, daß es nicht so allgemein genommen würde, um nicht Verträge mit einzelnen Staaten, die der französischen Republik be­ sonders nahe stehen und bei ihrer Kleinheit oder ihren Handelsbeziehungen weniger von Bedeutung sind, unmöglich zu machen — ich nenne beispielsweise Monaco mit drei Schiffen (H.), oder Tunis und Andere — und dann auch, vermuthlich deshalb wünschte dies die französische Regierung, weil der Handelsvertrag mit Italien noch länger läuft, als sie mit ihren Zollreformen zu warten beabsichtigt. Wir haben des­ halb ausgemacht, daß die Nationen, unter denen wir mit den Begünstigten gleich zu behandeln sind, sich beschränken auf England, Belgien, die Niederlande, die Schweiz, Oesterreich und Rußland. Demnächst ist die Grenzfrage einer erneuten Diskussion unterworfen worden, in­ soweit sie offen geblieben war, namentlich in dem Punkte, den Rayon von Belfort zu bestimmen. Wir waren nach dem strengen Wortlaute wohl berechtigt, unter Rayon dasjenige zu verstehen, was unser amtlicher Sprachgebrauch darunter versteht, und was man im Französischen mit dem Ausdruck „rayon administratif des servitudes militaires“ bezeichnet, d. h. eine Entfernung von 960 Meter von der äußersten Grenze der Befestigung. Es war indessen zweifellos, daß eine so strikte Auslegung des Wortes bei unserer Verabredung nicht zu Grunde gelegen hat, aber auf der anderen Seite auch nicht eine so ausgedehnte, wie sie von Frankreich in Brüssel beansprucht worden war, und wir haben uns deshalb dahin verständigt, daß der Halbmesser des Gebietes von Belfort gebildet wird durch die Entfernung, in welcher diese Festung von der Grenze gelegen haben würde, wenn die ursprüngliche Grenze bei Belfort die zwischen Elsaß und dem nächsten französischen Departement geblieben wäre, also vier bis fünf Kilometer. Darüber hinaus ist einstweilen definitiv keine Grenzabtretung erfolgt. Wohl aber war es für uns wünschenswerth, einige Gemeinden an der Nordgrenze bei Thionville, in welchen das Deutsche theils nicht unerheblich, theils überwiegend ge­ sprochen wird, zu erwerben. (Lebh. B.) Die französischen Minister erklärten sich in der Unmöglichkeit, definitiv zuzustimmen, daß Gemeinden, die bisher französisch geblieben waren, aufhörten, es zu sein. Sie waren daher wohl bereit, eine anderweitige Rekti­ fikation der französischen Grenze bei Belfort zu acceptiren, aber ohne Aequivalent. Ich habe deshalb vorgeschlagen, und der Vorschlag ist angenommen worden, daß sie dies, weil sie die Verantwortung dafür nicht tragen wollten, der ratificirenden Ver­ sammlung überlassen. Zch habe das Angebot einer ferneren Gebietscession vor Belfort gestellt für den Fall, daß man von französischer Seite uns die fraglichen Gemeinden in der Gegend von Thionville, von der Luxemburger Grenze bei Redingen bis gegen Moyoeuvre abtrete.

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Die übrigen Bedingungen werden die Herren ja binnen Kurzem aus der Ver­ öffentlichung und einer amtlichen Mittheilung, die ich mir erlauben werde an Sie zu richten, ersehen können. Wir haben das Bedürfniß gehabt, die Bahnen, welche der Gesellschaft der Ost­ bahn in Elsaß und Lothringen gehören, für eine bestimmte Summe zu erwerben, in­ dem es nicht thunlich erschien, diese überwiegend französisch bleibende Gesellschaft, die nur etwa ein Viertel ihres Eigenthums in Elsaß und Lothringen zu liegen hat, im Besitz der dortigen Konzessionen zu lassen, und indem wir, wenn wir uns nicht ver­ tragsmäßig darüber geeinigt hätten, in der Lage gewesen wären, die Gesellschaft dort gesetzlich zu expropriiren, wobei, da wir zugleich Partei und Gesetzgeber waren, die Frage der Abschätzung des Werthes des Eigenthums immerhin eine unerwünschte ge­ wesen wäre. Für die Ratifikation, einerseits durch Seine Majestät den Kaiser, andererseits durch die Versammlung in Versailles, ist eine Frist von zehn Tagen vorbehalten, sie würde also bis zum 20. d. M. zu erfolgen haben. Zch kann nicht annehmen, daß diese Abmachungen jeden einzelnen persönlichen Wunsch befriedigen werden, das ist indessen bei so großen Abmachungen zwischen zwei Völkern überhaupt nicht möglich. Trennung alter Verbindungen, Schließung neuer Verbindungen sind ohne Verluste und geschäftliche Nachtheile niemals durchzuführen, aber ich glaube, daß hiermit dasjenige erreicht worden ist, was wir von Frankreich vernünf­ tiger Weise und nach den Traditionen, die anderen Friedensschlüssen zu Grunde liegen, verlangen konnten. Wir haben unsere Grenzen durch die Landabtretung gesichert, wir haben unsere Kriegsentschädigungen soweit gesichert, wie es nach menschlichen Verhält­ nissen überhaupt möglich ist; denn weiter ausgedehnte Sicherheiten zu nehmen, muß man sich gegenwärtig halten, wäre für uns mit erheblich größeren Kosten und Anstren­ gungen verknüpft, wir würden nicht nur Geld opfern, sondern, was viel schwerer em­ pfunden wird, die Abwesenheit der Truppen aus dem Lande und so mancher Arbeits­ kräfte würden auf die Dauer schwerer empfunden werden. Indessen, ich habe das Vertrauen, daß es die Absicht der gegenwärtigen französischen Regierung ist, den Ver­ trag auch ohne solche Bürgschaften redlich auszuführen, und ich habe die Ueberzeugung, wie die Herren sie selbst hatten, daß die Kräfte dazu vorhanden sind, und daß die Behauptung, die Kriegsentschädigung wäre von einer unmöglich zu bezahlenden Höhe, eine unbegründete ist, die von den französischen Finanzmännern und Staatsmännern nicht getheilt wird. Ich erlaube mir die Mittheilung mit dem Ausdruck der Hoffnung zu schließen, daß dieser Friede ein dauerhafter und segensreicher sein und daß wir der Bürgschaften, deren wir uns versichert haben, um gegen einen etwa wiederholten Angriff gesichert zu sein, auf lange Zeit nicht bedürfen mögen. (Lebh. Br.)

Laut des Berichtes der gewählten Kommission vom 16. Mai 1871 wurde in der Schlußabstimmung über das ganze Gesetz dasselbe mit 20 Stimmen gegen 8 an­ genommen. Dasselbe soll nach den Beschlüssen der Kommission dahin lauten: § 1. (wie im Entwurf.) § 2. Die Verfassung des Deutschen Reichs tritt in Elsaß und Lothringen am 1. Januar 1873 in Wirksamkeit; Artikel 3 derselben findet jedoch sofort Anwendung. Durch Verordnung des Kaisers mit Zustimmung des Bundesrathes können einzelne Theile der Verfassung schon früher eingeführt werden. Die erforderlichen Aenderungen und Ergänzungen der Verfassung bedürfen der Zustimmung des Reichstages. § 3. Die Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen übt der Kaiser aus. . Bis zum Eintritt der Wirksamkeit der Reichsverfassung wird für Elsaß und Lothringen das Recht der Gesetzgebung in seinem ganzen Umfange vom Kaiser mit Zustimmung des Bundesraths

ausgeübt.

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Gesetzentwürfe. Dem Reichstage wird für diese Zeit über die erlassenen Gesetze und allgemeinen Anordnungen

und über den Fortgang der Verwaltung jährlich Mittheilung gemacht. Nach Einführung der Verfassung steht bis zu anderweitiger Regelung durch Reichsgesetz das Recht der Gesetzgebung auch in den der Reichsgesetzgebung in den Bundesstaaten nicht unterliegen­

den Angelegenheiten dem Reiche zu.

§ 4 (neu).

Die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers bedürfen zu ihrer Gültigkeit

der Gegenzeichnung des Reichskanzlers, der dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt.

Zweite Berathung am 20. Mai 1871. Berichterstatter Abg. Or. Lamey: Ich erlaube mir Ihnen, m. H., einige Worte zur Einleitung des Gesetzes vorzutragen. Durch den § 1 ist das, was der Friede fest­ gesetzt hat, uns nunmehr als die Grundlage eines feststehenden Nechtszustandes gegeben worden. Wie verschieden auch die Ansichten sein mögen und in der Kommission waren, welche in Beziehung auf die Ausführung dieser Grundlage in dem vorliegenden Gesetz eintreten sollten, so glaube ich doch konstatiren zu dürfen, daß sowohl in Ihrer Kom­ mission als auch, denke ich, in diesem Hause nur eine Ansicht in Beziehung auf die Befriedigung vorhanden ist, welche im Allgemeinen die Bestimmung des Art. 1 uns gemacht hat. Sie ist das Ergebniß der Einigung des deutschen Volkes in einem ihm gewaltsam aufgedrungenen Angriffskriege, sie ist das Ergebniß der Tapferkeit der deut­ schen Truppen, sie ist das Ergebniß jener glänzenden Kriegsleitung, die wir zu bewun­ dern in so zahlreichen Schlachten Gelegenheit hatten. — Ich werde, m. H., einem be­ redteren Mund überlassen darüber zu sprechen, ich will nur auf eine Bestimmung des § 1 aufmerksam machen, welche, wie ich glaube, eine ganz besondere Pflicht für Deutsch­ land begründet. Es sind die zwei kleinen Wörtchen, die darin enthalten sind „für immer". Diese Pflicht, die uns aus den Wörtchen erwächst, daß Elsaß und Lothringen „für immer" mit Deutschland vereinigt sein sollen, betrachte ich nicht etwa als die Pflicht eines erobernden Volkes, welches in dem Machtgefühl, das sich unter großen Kriegen und Siegen bei ihm erzeugt hat, nun seinen Nachbarn gegenüber das diktatorische Wort ausspricht: was ich gewonnen habe, behalte ich für immer. Ich betrachte es nicht etwa blos von der Seite, daß wir durch die elsaß-lothringensche Eroberung eine Reichsgrenze gewonnen haben, welche unserer früheren Reichsgrenze weit an kriegerischer Brauchbarkeit überlegen ist; denn, m. H., wenn ich auch zu den Bewohnern eines Grenzlandes gehöre, und wenn ich am allerbesten weiß, wie bei Drohungen mit einem französischen Kriege jeweils diese Grenzlande beengt und geängstigt worden sind, so weiß ich doch, m. H., eben so gut, daß dies eine absolute Folge von der Eigenschaft von Grenzlanden ist, und daß, wenn wir Elsaß und Lothringen für künftighin wirklich als. deutsches Land erhalten wollen, wir in diesem Lande ein neues Grenzland gegen Frankreich haben wer­ den. Ich betrachte, m. H., diese Worte „für immer" von der Seite, von welcher sie am liebsten im Süden und an der Rheingrenze betrachtet worden sind, wenn wir hin­ überblickten über den Rhein-nach dem Elsaß. Wenn wir dorthin schauten, so war es nie ohne das innige und tiefe Gefühl des Bedauerns, daß dieses alte deutsche Land, das noch seine deutsche Sprache in ausgedehnter Weise erhalten hat, einem fremden Volke gehörte, und daß es mehr und mehr von diesem fremden Volke assimilirt wird. Wir bedachten es gegenüber dem Geschicke der deutschen Nation mit Bedauern, daß wir nicht hoffen konnten es zu erleben, daß einst der Tag komme, an welchem dieses deutsche Land wieder dem deutschen Volke zugeführt wird. Nun, m. H., hat ein Krieg, den wir in jeder Beziehung einen gerechten nennen dürfen, auch einen gerechten Ausgang gefunden, er hat diese Lande wieder dem deutschen Vaterlande heimgebracht, und wenn wir die Worte „für immer" nun in unserem Gesetzentwurf sehen, so wünsche ich sie so ausgelegt zu sehen, daß in diesem Wort geschrieben steht, daß sie für immer wieder deutsche Lande, Lande von deutscher Gesinnung werden mögen. Wir geben diesem neu erworbenen Gebiet darum, wie mir scheint, mit Recht den Namen Reichsland, es soll der gemeinsame Pflegling der gesammten deutschen Nation, des gesammten deutschen

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Reiches, aller, seiner Faktoren sein. Wir wissen, daß dieses Land in langen Zähren an Frankreich gesesselt war, wir kennen auch die Ursachen, und wir dürfen als eine der­ selben namentlich auch diejenige ansehen, daß Elsaß-Lothringen Theilnehmer an einer glorreichen Vergangenheit der französischen Nation gewesen ist. Wohlan, m. H., wir bringen ihm nun als Mitgabe eine Geschichte, die nicht minder glorreich, ja die in ihren Konsequenzen, wie ich meinerseits überzeugt bin, noch weit glorreicher sein wird, als die, die das Elsaß verlassen hat, als es sich von Frankreich trennte; allein vor Allem ist es unsere Aufgabe, m. H., in dem Elsaß jenen deutschen Geist wieder zu pflegen, der unter der Fremdherrschaft nur verdeckt, aber keineswegs noch verloren gegangen ist. Ein Volk, das seiner ganzen Natur nach so urdeutsch ist, welches seine deutsche Sprache in so langer Zeit noch im Grundton so sehr erhalten hat, daß es nur in den großen Städten einen französischen Typus hat und auch diesen fast nur auf der Oberfläche empfangen konnte: m. H., ein solches Volk hat bewiesen, wie zähe es trotz dem äußern Scheine an seinem alten deutschen Geiste hängt. Es wird unsere Aufgabe sein, diesen Geist zu pflegen. Wir, m. H., im Reichstage können dabei nicht Alles thun; das Beste muß eine Ver­ waltung thun, die sich dieses deutschen Geistes bewußt ist, und die, m. H., vor allen Dingen auch das Verständniß gewinnt, daß es sich nicht darum handelt, den deutschen Geist nach der Schablone des Nordens zu pflegen, sondern ihm auch seine Ausprägung und seinen Ausdruck nach seinem besonderen Charakter im Süden zu geben. Wir wer­ den, m. H., das Elsaß zunächst gewinnen durch eine treue und ehrliche Verwaltung; daß diese eintritt, dafür bürgt der Gang der Verwaltung in allen deutschen Landen. Wir werden es aber insbesondere dann gewinnen, wenn wir den Grundcharakter deutscher sozialer Einrichtungen, die freie Selbstverwaltung, in gehöriger Weise pflegen und zur Entwick­ lung bringen, und wenn wir insbesondere uns hüten, bei den Uebergängen allzu schroffe Verlangen zu stellen, oder wenn wir uns hüten zu glauben, daß wir nach vorgefaßten Meinungen, nach bestimmten theoretischen Ansichten dieses Land behandeln müßten, die sich vielleicht im Norden bewährt haben, im Süden aber in keiner Weise. Wir werden allesammt wünschen müssen, daß diesem Lande eine freie Kommunalverwaltung gegeben wird; wir werden wünschen müssen, daß die Pflege seiner Schulen bis zu den höchsten Unterrichtsanstalten hinauf in einem freieren deutschen Sinne eingeführt wird; wir werden wünschen müssen, daß die kirchlichen Verhältnisse, insbesondere die der protestanti­ schen Kirche nicht in einem finstern Geiste gepflogen, sondern im Geiste der Freiheit geordnet werden, (Br.!) den das Elsaß nicht nur von lange her kennt, sondern den es auch in seinen Nachbarvölkern als ein besonderes Gut verehrt. (S. g.!) Wenn, m. H., in diesem Geiste verwaltet wird, wenn in diesem Geiste die Central-Regierung ihre Pflicht thut, dann haben wir dem Elsaß, indem wir es als ein Reichsland konstituirten, indem wir ihm den Träger der souveränen Gewalt Deutschlands, den erlauchten Kaiser, zu dem Manne gegeben haben, der die Staatsgewalt dort ausüben soll — dann haben wir ihm wirklich den deutschen Geist, die Anfänge des deutschen Geistes eingeimpft, und wir dürfen dann hoffen, daß in einer kurzen Zeit dieser deutsche Geist Wurzeln und so tiefe Wurzeln schlage, daß das Wort unseres Absatzes 1 „für immer" zur Wahrheit wird. (Br.!) Zm Lauf der Sitzung wird eingebracht der Antrag des Abg. vr. Reyscher: § 1 in folgender Weise zu ergänzen: „Die von Frankreich durch den Artikel 1 des Präli­ minarfriedens vom 26. Februar 1871 und Artikel 1 des Frankfurter Friedensvertrages vom 10. Mai 1871 abgetretenen Gebiete Elsaß und Lothringen werden unbeschadet der vorbehaltenen endlichen Grenzregulirung dem deutschen Reiche für immer vereinigt." Abg. vr. v. Treitschke: M. H., einem Manne vom Oberrhein wäre es wohl zu verzeihen, wenn die gewichtigen Worte dieses ersten Paragraphen ihn begeisterten zu einer prunkenden Rede. Wir sehen in unserem schönen Lande überall die blutigen Spuren der Franzosen von jenem Freiburger Schloßberge an, wo Ludwig XIV. seine drei Schlösser, sein Trutz-Deutschland, erbaute, bis herab zu den geborstenen Thürmen des Heidelberger Schlosses. Wir haben viele hundert Mal mit stillem Kummer herunter­ geschaut nach den Gipfeln der Vogesen. Es wäre wohl verzeihlich, wenn jetzt ein Ober-

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rheinländer in stolzen Worten der Freude Ausdruck gäbe darüber, wie ganz anders jetzt Alles geworden ist, wie stolz wir in die Zukunft blicken, des Gedankens froh, daß das deutsche Schwert die alten Grenzmarken neu zurückerobert hat. Aber, m. H., ich halte es für würdiger, auch heute nicht abzuweichen von jenem schlichten und bescheidenen Tone, der, Gott sei Dank! in diesem hohen Hause heimisch ist. Unsere Landsleute, die heute zu uns zurückkehren in das Reich, sind unter ihren alten Herren bis zum Ekel gesättigt worden mit großen pomphaften Worten. Wir wollen sie heute schon daran gewöhnen, daß die deutsche Weise der Geschäftsbehandlung in schlichteren bescheideneren Formen sich bewegt. (Br.!) Lassen Sie mich, m. H., beginnen mit einem Geständniß, das ich ablege nicht in meinem Namen allein, sondern im Namen Vieler hier im Hause. Zch hatte gewünscht, m. H., noch vor wenigen Monaten, daß dieser Paragraph einen Zusatz enthielte, die Worte nämlich: „die Lande werden einverleibt dem preußischen Staate." Zch hatte das gewünscht aus einem ganz praktischen Grunde: ich sagte mir, die Aufgabe, diese entfremdeten Stämme deutscher Nation unserem Lande wieder ein­ zufügen, ist so groß und schwer, daß man sie nur erprobten Händen anvertrauen darf, und wo ist eine politische Kraft im deutschen Reiche, die die Gabe zu germanisiren, erprobt hat wie das glorreiche alte Preußen? Ich, der ich nicht ein geborner Preuße bin, darf es wohl sagen, ohne mir den Vorwurf der Prahlerei zuzuziehen: dieser Staat hat die Preußen selber dem polnischen Wesen, die Pommern dem schwedischen, die Ost­ friesen dem holländischen, die Rheinländer dem französischen Wesen entrissen, und rückt noch heute alltäglich die Schlagbäume deutscher Gesittung einige Zoll weiter ostwärts. Dieser erprobten. Kraft, hatte ich gemeint, sollten wir die Aufgabe aufbürden, auch im Westen der Held und Mehrer des deutschen Reichs zu sein. Zch meinte ferner: die Elsässer sind uns nur zu fremd geworden als Mitglieder eines centralisirten fremden Staates; mit um so größerer Energie sollte man sie hineinzwingen in einen deutschen Einheitsstaat, in jene festgeschlossene Kraft des preußischen Staatslebens. Und endlich, es wäre für Preußen wie für Deutschland ein Glück gewesen, wenn der Staat, der Deutschland leitet, auch in seinem Innern zahlreiche süddeutsche Elemente enthielte. Preußen muß, wenn es Deutschland verstehen und leiten soll, in seinem Innern süd­ deutsche Eigenart schätzen und würdigen lernen. Das waren die Gründe, welche mich vor Monaten noch hoffen ließen, es würde die Einverleibung der Lande in Preußen ausgesprochen werden können. Diese Hoffnung, m. H., ist heute gänzlich dahingefallen, sie ist dahingefallen schon an jenem Tage im September, da die preußische Krone in München erklären ließ, sie wolle keine Vergrößerung für sich. Das Alles ist geschehen in einem Zeitpunkte, da dieser deutsche Reichstag noch nicht existirte. Wir haben über diese abgethanen Dinge nicht mehr zu richten, sondern müssen die Verhältnisse, wie sie liegen, annehmen, und jetzt fragen: wie gehen wir zu Werke, um dieses Reichsland, um dieses gemeinsame Besitzthum Deutschlands mit deutscher Gesittung zu erfüllen, um es in Wahrheit zu einem Gliede des deutschen Reichs zu machen? Die Aufgabe, m. H., scheint mir nicht blos theoretisch, sondern auch praktisch ungemein schwierig; die beiden einzigen früheren Erscheinungen, welche eine Aehnlichkeit bieten mit dem deutschen Reichs­ leben, erwecken wenig Vertrauen. Es ist den Generalitätslanden der vereinigten Nie­ derlande so wenig gelungen, wie den gemeinen Voigteien der schweizer Eidgenossen, sich auf die Dauer als lebenskräftig zu erweisen. Die Einen sind in unserem Jahrhundert geworden zu gleichberechtigten Provinzen eines Einheitsstaates, die Andern zu gleich­ berechtigten Kantonen eines Staatenbundes. Wir aber treten an diese neue Provinz heran weder mit der Habgier der alten Eidgenossen, noch mit dem trägen Stolze der Holländer, sondern mit dem ehrlichen Willen, unser deutsches Wesen, das Beste, was wir haben, die Muttersprache und ihre Dichtung, alles Herrliche der deutschen Kultur den neu gewonnenen Brüdern zu bringen. Die Aufgabe ist unsäglich schwer, und ich möchte Sie darum bitten, erschweren Sie uns diese schwierige Aufgabe nicht noch durch theotische Streitigkeiten über die Frage: was ist unitarisch, was föderalistisch? Das sind theoretische Streitfragen, welche nach meinem Gefühle in der Kommission schon einen gar zu breiten Raum eingenommen haben. (S. w.!) Wir haben in der Kommission

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die bestimmte Versicherung gehört: das Reichsland sei der erste Schritt zum Einheits­ staate. Ich habe umgekehrt von vielen meiner Freunde gehört: das Reichsland sei der wahre Triumph des Föderalismus u. s. w. Ich frage, wozu sollen uns diese theoreti­ schen Streitfragen führen? Wir wollen hier die Bundesverfassung, wie sie geworden ist, mut ihren Mängeln ehrlich anerkennen und wollen kurzweg sagen: was dort im Westen geschaffen wird, ist kein Präzedenzfall für das, was im Innern Deutschlands geschehen könnte. Dort im Westen haben wir Provinzen eines fremden Reiches zu ordnen, denen vor der Hand jede gesetzliche Staatsgewalt fehlt. In Deutschland bestehen Staaten mit legitimen Dynastien und nicht minder legitimen Landtagen; aus dem, was wir im Elsaß thun und für nothwendig halten, folgt gar nicht, daß wir dereinst für die deutschen Einzelnstaaten mit ihrer bestehenden gesetzlichen Ordnung beschließen können. Gehen wir also kurzweg auf die Frage ein und lassen Sie mich fragen: was sollen wir thun für die Elsässer, um sie für Deutschland zu gewinnen? Ich bin aus voller Seele einverstanden mit den Worten der Kommission: wir wollen die neuen Lands­ leute vom ersten Augenblicke an als Deutsche behandeln, und darum wollen wir ihnen von Anbeginn schenken einige Grund- und Kerngedanken des deutschen Staatsrechts, die gleichsam die politische Luft bilden, darin wir leben. Zu diesen Grund- und Kern­ gedanken des deutschen Staatsrechts. rechne ich die Monarchie. Die Elsässer sind, wie alle Franzosen, dem Vertrauen auf den Segen der Monarchie nur allzusehr entwachsen. Bourbonen, Orleans, Napoleons und republikanische Versuche haben sich im raschen Wechsel gedrängt, und nach allem Wechsel blieb nichts übrig, als der unwandelbare Präfektendespotismus. Hier gilt es zu zeigen, daß wir Deutsche die Monarchie in einem anderen, edleren Sinne verstehen. Wir'wollen die neuen Landsleute dadurch ehren, daß wir ihnen geben die mächtigste und erste Dynastie, die wir besitzen, und wenn der­ einst die Zeit kommt, da einige der alten Kaiserfchlösser im Elsaß wieder aufgebaut werden, dann werden wir nicht zu erröthen brauchen, den Adler der Hohenzollern auf­ zuhängen neben dem Löwen der Hohenstaufen, die heute noch Wacht halten auf der Hoch-Königsburg bei Schlettstadt. Die Monarchie aber, die kaiserliche Gewalt, die der Reichstag dort im Elsaß schaffen soll, sie soll auch alle die unveräußerlichen Rechte der Monarchie besitzen, und zu diesen rechne ich zum Mindesten das Eine, daß in dem monarchischen Staate nichts geschehen darf gegen den ausgesprochenen Willen des Mo­ narchen. Auf diesen Punkt möchte ich in dem weiteren Verlauf der Debatte Ihre ernste Aufmerksamkeit lenken. — Ich rechne zum zweiten zu diesem Grundgedanken deutschen Staatslebens die allgemeine Wehrpflicht, unser volksthümliches Heerwesen. Sie wissen, es ist vor Kurzem eine Notabelnversammlung aus dem Elsaß in Straßburg zusammen gewesen, und sie hat unter vielen anständigeren und leicht zu befriedigenden Wünschen auch den Wunsch ausgesprochen: es möge die Einführung unseres Heerwesens so lange als möglich hinausgeschoben werden. Ich erlaube mir daraus zu antworten: der Wunsch geht hervor aus der geringen Kenntniß des deutschen Lebens, die heute noch im Elsaß besteht, er geht hervor zunächst aus der unbestimmten Aussicht, daß ein­ mal ein Krieg mit Frankreich ausbrechen könne, und das Herz der Elsässer sträubt sich, gegen die alten Landsleute kämpfen zu müssen. Wir aber werden uns mit den El­ sässern erst dann verständigen, wenn sie auf solche unbestimmte Hoffnungen verzichten und den Zustand, in dem sie sich heute befinden, als einen dauernden Zustand für immer betrachten. Und weiter: jener Wunsch geht hervor aus einer Verwechselung der französischen und deutschen Kriegseinrichtungen. Unser Heer ist nicht eine Macht zum Angriff, bestimmt, in angemessenen Zwischenräumen ein gewisses Kapital kriegerischen Ruhmes in die Heimath zurückzubringen; es ist das Volk in Waffen, es ist die große Schule des Muthes, der Mannszucht, der sittlichen Hingebung für die gesammte Blüthe der Nation, und von dieser großen Schule wollen wir die Elsässer nicht von vornherein ausschließen. Ich sage umgekehrt, es soll die deutsche Wehrpflicht eingeführt werden so früh, als es die volkswirthschaftlichen Verhältnisse des Grenzlandes erlauben. — Weiter rechne ich, m. H., zu den unveräußerlichen Grundgedanken des deutschen Staatslebens die edele Freiheit unserer geistigen, namentlich unserer religiösen Bildung. Es ist in

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den letzten Tagen zu diesem Ziele hin ein Schritt geschehen, einer jener Schritte ge­ sunder Staatskunst, deren Werth erst spätere Generationen ganz verstehen; eine neue Epoche der Kulturgeschichte im Elsaß hat begonnen mit dem gesegneten Tage, da der gute alte preußische Schulzwang dort eingeführt wurde. Auf diesem Unterbau der Volks­ schule will ich dann den freien Gymnasialunterricht der Deutschen sich erheben schen, der sich nicht bindet an die eintönigen Regeln der französischen Lyceen, sondern der Persönlichkeit des Lehrers freien Spielraum läßt. Und vor Allem wollen wir erstehen sehen die Hoch­ schule des Grenzlandes. Sie soll nicht eine Landes-Universität werden — deren besitzen wir zur Genüge — sie soll ausgestattet werden mit einer wahrhaft königlichen Großmuth, sie soll zu einer deutschen Universität werden. Wenn heute in die reiche Zahl der Schwestern eine neue Hochschule eintreten und sich in diesem harten Wettkampfe behaupten will, so muß sie eine Eigenart besitzen, sie muß eine Persönlichkeit sein, unter­ schieden von allen Anderen. Die eigenthümliche Kraft aber der Straßburger Univer­ sität, sie soll — wenn anders der Bundesrath einen Blick hat für deutsches Wesen — sie soll enthalten sein in der Freiheit der humanistischen Wissenschaften,, nicht in den Brotstudien. Das alte Land der deutschen Humanisten, das Elsaß, soll von Neuem eine Blüthe der freien Wissenschaft in seiner Hauptstadt entstehen sehen. — Damit hängt aufs engste zusammen, daß wir dem Elsaß jenen konfessionellen Frieden bringen, der Deutschlands Ruhm ist: die volle bisher nur allzusehr verkümmerte Gleichberechtigung der evangelischen mit der katholischen Kirche, deren überlieferte Rechte wir nicht im mindesten anzutasten gedenken. — Wir sollen ferner den Elsässern das deutsche 2ndigenat geben, augenblicklich, unverzüglich als einen Ersatz für das Verlorene, für die Möglichkeit, in dem weiten Frankreich seine Kraft zu bethätigen, die der lElsässer bisher gehabt hat. — Dann wünsche ich, daß in kürzester Frist, in einer Frist, die freilich nur die Verwaltung mit Sicherheit bestimmen kann, auch der deutsche Maokt dem Elsaß geöffnet werde. Es ist dieses Land, Dank der bonapartistischen Verbildung, nur allzusehr daran gewöhnt, auf den materiellen Gewinn ein sehr hohes Gewicht zu legen. Es ist nur menschlich, daß wir sie zunächst durch den materiellen Vortheil an uns binden müssen, denn erst auf diesem Grunde wird langsam die geistige Annäherung sich voll­ ziehen. — Dann weiter einen Grundgedanken deutschen Staatslebens; wir wünschen und fordern für Elsaß die Selbstverwaltung im deutschen Sinne, die Selbstverwaltung, die uns neulich angekündigt wurde durch den Mund des Reichskanzlers. Es läßt sich nicht leugnen, m. H., der Gedanke ist kühn, dort im Elsaß den Versuch der freien Selbst­ verwaltung zu machen, denn jede Selbstverwaltung ruht in erster Linie auf den höheren Ständen, und gerade diese Stände sind uns dort am wenigsten befreundet. Es wird manche Enttäuschung erfolgen, denn die deutsche Selbstverwaltung besteht weniger in ausgedehnten Wahlrechten, als vielmehr darin, daß harte Pflichten des Ehrendienstes in Kreis und Gemeinde erfüllt werden. Aber ich meine, wir sollen uns hier ein Herz faffen und bald thun, was nothwendig ist. Ich wünsche eine baldige Erwählung der Bürgermeister, eine baldige Erwählung der erweiterten Generalräthe. Wenn eine Gefahr vorhanden ist, so wollen wir sie kennen lernen, ihr ins Auge schauen, um da­ nach unsere Schritte ergreifen zu können. Aber nun lassen Sie mich eben so offen sagen, was wir den Elsässern nicht bieten dürfen, wenn nicht die Sicherheit des deutschen Reiches erschüttert werden soll. Ich glaube, wir haben die Freude, heute auf den Tribünen Abgeordnete des Elsaß unter den Zuhörern zu sehen; jedenfalls wird jedes der Worte, die heute hier im Saale gesprochen worden, im Elsaß gelesen werden. Es wird den neuen Landsleuten etwas fremdartig erscheinen, daß wir bei ihrem Eintritt sogleich ihnen sagen, was wir für unerfüllbare Wünsche halten, aber ich meine, das ist deutscher Brauch. Die Elsässer sind seit Jahren gefüttert worden mit Versprechungen und Versprechungen; sie haben sich dadurch angeeignet jenes Mißtrauen gegen jede Regierung, welche sie regiert, jenes Miß­ trauen, das zum Charakterzuge des französischen Volkes geworden ist. Wir aber üben deutsche Art; versprechen wir den Elsässern nicht zu viel, aber dann, m. H., ein Mann, ein Wort! Der Herr Reichskanzler hat neulich freilich aufgefordert, nicht zu weit in die

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Ferne zu schauen; ich bedaure aber, dieser Mahnung nicht vollständig Folge leisten zu können. Warum soll ich zurückhalten, m. H., was Jeder im Stillen doch empfindet? Ich habe vor Jahren, als der Name Bismarck der verhaßteste war im deutschen Lande, die große Politik unseres leitenden Staatsmannes mit voller Seele vertheidigt; es wird mir erlaubt sein, dafür auch heute auf eine Gefahr hinzuweisen, die darin liegt, daß ein so ungewöhnlicher Mann an Deutschlands Spitze steht. Es ist die Weise außer­ ordentlicher Staatsmänner, zu rechnen auf sich selber und ihre überlegene Kraft, und die Institutionen gleichsam sich auf den Leib zuzuschneiden; sie dürfen es wagen, Institutionen zu schaffen, welche unklar, verworren und schwer zu beherrschen sind, sie denken und mit Recht: ich werde sie bewältigen können. Wir aber, m. H., sollen auch denken an die kleinen Menschen, die nach Fürst Bismarck dereinst kommen werden. Ich kann es nicht über mein Gewissen bringen als Volksvertreter, gleichsam mit verbundenen Augen auf dem Schiffe zu stehen und in ein klippenreiches Meer hinauszusegeln, lediglich in dem Vertrauen, daß ein wetterfester Steuermann am Ruder steht. Wir Alle, m. H-, sollen die See kennen, die unser Kiel durchfurcht, die Klippen kennen, die wir vermeiden wollen. Zu diesen Klippen, zu den unerfüllbaren Wünschen, die sich im Elsaß regen, rechne ich zum ersten den unter den Notabeln geäußerten Wunsch, es solle die Provinz Elsaß und Lothringen zu einem Staate umgewandelt werden. Ich halte diesen Gedanken für ganz und gar verwerflich, abermals für hervorgegangen aus der geringen Kenntniß des deut­ schm Lebens. Wir kämpfen, m. H., seit Jahren in harter Arbeit um Deutschlands Einheit; wir haben in diesem Jahrhundert Hunderte der deutschen Kleinstaaten zusam­ menbrechen sehen; wir sind jetzt gesonnen, die wenigen Staaten, die noch geblieben sind, als Männer von rechtlichem Sinn zu achten und zu schonen, weil sie nicht mehr im Stande sind, der Macht des deutschen Reiches geradezu verderblich zu werden. Aber einen neuen Staat zu schaffen zu der nur allzu großen Zahl, die noch besteht, jetzt, da wir hart din Werke sind, die deutsche Zersplitterung zu verringern, aus drei Departe­ ments, die niemals in ihrer Geschichte ein Staat waren, jetzt einen Staat neu zu bilden, einen neuen halbdeutschen Partikularismus an der hartgefährdeten Grenze großzuziehen, das, m. H., würde ich nennen einen Schlag führen in unser eigenes Angesicht. (S. r.! Br.) Ziehen wir daraus, m. H., einige Folgerungen. Ich finde in den Motiven des Gesetzes, welche ich im Uebrigen nicht gerade für ein Meisterwerk halte, doch auf der sechsten Seite eine vortreffliche Stelle, worin gesagt wird, daß nach dem Geiste der deutschen Reichsverfassung jeder Bundesstaat eine Volksvertretung haben müsse zur Kontrole der Verwaltung und zur Theilnahme an der Gesetzgebung. Es freut mich, diese Erklärung aus dem Munde des Bundesrathes zu hören. Meine politischen Freunde und ich, wir behalten uns vor, in diesem Herbste eine Nutzanwendung davon auf das glückliche Land Mecklmburg zu machen, und an den Vertreter Mecklenburgs die Frage zu stellen, ob dort wirklich eine solche Volksvertretung bestehe. Dieser alte deutsche Grundsatz soll nun auch im Elsaß angewendet werden, aber nur so, wie es allein möglich ist in einer Provinz, die ein Staat weder ist noch werden soll. Ich wünsche keinen Landtag in Straßburg, der dieselben Befugnisse hätte wie der von Stuttgart oder München, sondern ich wünsche Provinzialvertretungen je nach den Umständen eine, zwei, drei. Das ist eine Frage der administrativen Zweckmäßigkeit. Die eigentliche Gesetz­ gebung soll ruhen hier in diesem hohen Hause; die Elsässer werden einst unter uns ver­ treten sein, freilich nur durch 16 Stimmen, aber durch Stimmen, die weit mehr be­ deuten als ihre Zahl, weil ihnen die ungeheure Ueberlegenheit der vollen Sachkenntniß zur Seite steht, und die Elsässer können sich darauf verlassen, daß ihre Forderungen dann von uns berücksichtigt werden. — Die große Gefahr, das eigentliche Hauptbedenken 1 gegen das Reichsland liegt doch offenbar darin, daß wir dort leicht einen neuen Partikularismus der ungesundesten Art, der immer von Neuem durch französische Agenten aufgehetzt wird, künstlich erziehen können. Es giebt allerdings der gutmüthigen Leute viele, welche sagen, der elsässische Partikularismus ist die Brücke vom Franzosenthum zum Deutschthum. Ich aber frage, m. H., ist es denn durchaus nöthig, Eulen nach Athen zu tragen? Müssen wir einen Partikularismus erst nähren, welcher schon in

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üppigster Blüthe vorhanden ist? Es lebt derselbe Partikularismus im Elsaß, welcher die Pommern zu guten Schweden machte, die Hannoveraner stolz machte auf die drei Kronen von England, so fest und so tief gewurzelt, wie kaum irgendwo auf deutschem Boden. Zhm entgegen zu treten, dafür zu sorgen, daß er nicht zu einer Gefahr werde, das scheint mir die Aufgabe, und darum wünsche ich weiter für dieses Land auch kein elsässisches Beamtenthum. Es soll kein Sonderleben entstehen, es soll die gebildete Zugend sich nicht daran gewöhnen, wie man bei uns daheim sagt, im Ländle zu bleiben. Sie wissen, was das Jndigenat für diese Frage bisher in Deutschland bedeutet hat! Wie wenige Reuß-Schleizer sind in dem preußischen Staatsdienst, obgleich sie es dürfen! Gäben wir den Grenzlanden ein selbstständiges Beamtenthum, so würden die gebildeten Elsässer sich gewöhnen, zu Hause zu bleiben, und den Deutschen sich mehr und mehr entfremden. Zch wünsche ein Beamtenthum, das der Kaiser versetzen kann, unter Um­ ständen nach den ominösen Orten Schwelm und Stallupönen. (H.) Ja wohl, m. H., das ist praktische deutsche Einheit! Das ist die Eigenthümlichkeit jeder realen politischen Größe, daß sie dem einzelnen Menschen unter Umständen unangenehm werden kann. Wir haben einen Ueberfluß centrifugaler Elemente in Deutschland, wir wollen dafür sorgen, daß noch einige Menschenklassen vorhanden sind, welche dem gestimmten Deutsch­ land angehören. Dazu rechne ich zum ersten uns selber als Vertreter der gesammten Nation, und zum zweiten das Reichsbeamtenthum, das, so Gott will, immer zahlreicher und mächtiger werden soll. Aus demselben Grunde wünsche ich ferner — und ich glaube, das ist auch ein elsässischer Wunsch — daß nicht etwa eine Spielerei gemacht werde mit einem fürstlichen Statthalter, einem Prinzen, der Hof halten muß. Ein solcher Prinz gehört, mit aller Hochachtung für hohe Geburt sei es gesagt, zu den schlechtesten Beamten, weil er Hof halten muß. Die Elemente der Gesellschaft, dis durch solchen Flittertand gewonnen werden können, sind solcher Art, daß ich wenigstens auf deren Unterstützung mit Vergnügen verzichte. (H.) Es sollen ferner die Elsässer keinen Rechts­ anspruch haben, als ein Ganzes verwaltet zu werden. Es ist nach meiner Meinung lediglich eine Frage der administrativen Zweckmäßigkeit, ob Sie das Land eintheilen wollen in ein, zwei oder drei Departements. Ich mache Sie hier aufmerksam auf einen Gesichtspunkt, der in Deutschland bisher noch wenig beachtet worden ist. Ich habe erst vor einigen Tagen einen Brief erhalten von einem der angesehensten und kundigsten Elsässer, einem Manne von rein französischem Blute, der trotzdem politischen Verstand genug besitzt, um die Unvermeidlichkeit der neuen Verhältnisse einzusehen und sich in sie einzuleben. Der sagt mir: unsere größte Furcht ist diese, daß wir auf demselben Fuße behandelt werden mit den welschen Lothringern. Er sagt: hier im Elsaß, wo deutsches Blut in den Adern fließt, wird es bald möglich sein, mit Milde vorzugehen, in Loth­ ringen hilft nur Strenge. Es würde uns verstimmen, wenn man uns nach demselben Gesichtspunkte behandelte, wie diese widerhaarigen Lothringer. — Ich weiß nun nicht, m. H., ob mein Briefsteller Recht hat, und ich glaube, hier im ganzen Hause ist, selbst den Kundigsten, Graf Luxburg nicht ausgenommen, kein Mitglied, welches mit Bestimmt­ heit sagen könnte, daß es so kommen wird, wie der Briefsteller behauptet. Aber wenn es wirklich so ist, wenn wirklich die Stimmung in Welsch-Lothringen eine so ganz andere ist wie in Deutsch-Lothringen und Deutsch-Elsaß, dann würde es richtiger sein, die Ver­ waltung in Berlin zu centralisiren und dann drei selbstständige Departementalbehörden zu schaffen, welche an der Mosel anders verfahren könnten als am Rhein und an der Jll. Jedenfalls ist es besser, die Verwaltung begeht jetzt einen Mißgriff, als daß wir im Wege der Gesetzgebung einen falschen Schritt thäten. Lassen Sie mich nun zum Schluß, m. H., noch einige einzelne Fragen erwägen. Ueber die Nothwendigkeit der Diktatur werden wir hier im Hause, wie im Elsässer Lande wohl Alle einig sein. Ich will hoffen, der Antrag, die Elsässer schon im Herbst in dieses Haus zu berufen, wird im Hause keinen Anklang finden, es wäre nach meinem Gefühl eine Versündigung gegen die Elsässer selber. Man soll ein Volk nicht in Ver­ suchung führen, man soll an den politischen Verstand eines Volkes nicht Zumuthungen stellen, welche über den Durchschnitt menschlicher Kraft hinausgehen. Nicht unsertwegen

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fürchte ich eine zu frühe Berufung der Elsässer hierher, denn wir sind stark genug, solcher Gefahr zu trotzen. Aber welche Beweggründe können es sein, die die Elsässer jetzt schon zu einer vollkommenen Umstimmung bringen können? Vor wenigen Monaten haben sie Gambetta in die französische Nationalversammlung gewählt, sie haben seitdem unsere Soldaten kennen gelernt und so viel gelernt, daß wir nicht die Teufel sind, wofür man uns ausgegeben hat; aber Liebe, wirkliche Hingebung vom Elsaß zu erwarten, dazu sind wir in keiner Weise berechtigt. Es können nur materialistische Gründe sein, welche jetzt schon verständige Wahlen zu schaffen vermögen, und auf eine solche Verwirrung der sittlichen Begriffe des Volkes dürfen wir es nicht ankommen lassen. Wir haben mit gutem deutschen Stolze das bonapartistische Gaukelspiel des suffrage universel ver­ schmäht. Ich bin der Meinung, mit dem Beamtenthum, das wir dort vorfanden, mit der wohlgeölten Maschine büreaukratischer Wahlbeeinflussung hätten wir es dahin ge­ bracht, eine starke Stimmenzahl für die Einverleibung in Deutschland hervorzurufen.. Ich danke Gott, daß uns dieses unwürdige Schauspiel erspart geblieben ist, (s. r.!) und ich wünsche deshalb, daß wir auch jetzt die Zeit ruhig gewähren lassen. Warten wir ab, bis das von Trauer, Furcht und Leidenschaft jeder Art entstellte Gesicht unserer Landsleute sich geglättet hat; in einer späteren Zeit werden sie uns ihr wahres An­ gesicht zeigen. — Ich muß sodann noch einmal daran erinnern, daß es eine Nothwen­ digkeit ist, unseren Kaiser dort im Reichslande in Ehren zu halten. Wir sollen ihn nicht in die Stellung bringen, die seiner unwürdig ist, daß er Gesetze ausführen muß, gegen die er soeben selber sich ausgesprochen hat. Es ist für ein Land mit so schwachen monarchischen Traditionen eine große Gefahr, die Person des Monarchen in eine schiefe abhängige Stellung zu bringen. (Br.! r.) — Nun noch ein Wort über die Rechte, die wir uns vorbehalten müssen. Ich meine, das Recht der parlamentarischen Genehmigung für Alles, was die Diktatur beschließt, wäre ein gefährliches Recht für das Elsaß und seine innere Ruhe. Es hieße geradezu, den Widerspruch, die Agitation gegen die Ge­ setze des Kaisers herausfordern, wenn jeder Elsässer sich sagen dürste: wir können in einigen Wochen durch den Reichstag Alles rückgängig machen, wenn wir nur-tapfer schreien! — Auf diesem Wege ist nichts zu erreichen; dagegen halte ich es für richtig, die Kontrole über das Schuldenwesen des Landes dem Reichstage vorzubehalten. Ich halte das für nöthig, damit nicht durch Mißgriffe der Diktatur ein neues Staatswesen dort gebildet werde, indem man die Provinz zu belasten sucht mit einer so großen Last, wie sie nur ein Staat zu ertragen pflegt. Das wäre nach meiner Befürchtung der erste Schritt zur Gründung eines neuen Mittelstaates, ein Schritt, den ich nun und nim­ mermehr billigen könnte. — Endlich, da wir uns so bescheidene Rechte für die Dauer der Diktatur vorbehalten haben, so ist es nicht mehr als billig, daß wir sie kurz be­ messen. Der erste Januar 1873 als Termin der Dauer wird wohl im Hause Anklang finden. Wenn es sich darum handelte, den Herrn Reichskanzler allein mit voller Kraft dort schalten zu lassen, so würde ich um einige Monate nachgeben können. Aber es geht über Menschenkrast, die Geschäfte des Reichskanzlers und eines Regenten von Elsaß zugleich zu bewältigen. Es kann nicht ausbleiben, daß die laufenden Geschäfte einigen Geheimräthen in die Hand fallen, welche die Meisten von uns nicht einmal dem Namen nach kennen, welche sich als anonyme Größen der Kontrole, sogar der öffentlichen Meinung entziehen, und ich würde es für unverantwortlich halten, solchen Beamten zweiten Ranges auf lange Zeit eine diktatorische Gewalt einzuräumen. Endlich ist es vielleicht für die Elsässer selber heilsam, daß sie schon im Zahre 1873, ein Jahr bevor sie nochmals wählen, eine Probe machen können. Das würde die Gelegenheit bieten, den letzten Rest der Bitterkeit, der noch in den Seelen dieses Volkes schlummern mag, gleichsam aus­ zustoßen, ein Jahr darauf kann dann der Menschenverstand und die kluge Berechnung in ihr gutes Recht eintreten. Und nun, m. H., lassen Sie mich schließen mit einer Bitte, welche im Munde eines Neulings vielleicht Ihnen unbescheiden klingen wird. Es ist so oft in den letzten Tagen in der Presse in einem wenig würdigen Tone uns vorgeworfen worden, der Reichstag stände nicht auf der Höhe dieser großen Tage, seine Verhandlungen zeigten

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nicht den geistigen Gehalt, den ein so stolzes und aufstrebendes Volk verlegen müsse. Zch glaube, m. H., der Vorwurf ist nicht durch uns verschuldet, er ist vershuldett durch jenen unglücklichen Mißgriff, daß wir zu früh berufen worden sind. Bei Dem Mangel an würdiger Beschäftigung sind allerhand gesetzgeberische Improvisationen aufgetaucht, wie jener Antrag über Diäten und ähnliche, zu dessen Bewunderern ich mich nicht zählen kann. Jetzt aber, m. H., ist wirklich ein großer Gegenstand vor uns. H bittte Sie, daß wir uns des Augenblicks würdig erweisen; wir wollen betonen die Reche der beiden Gewalten, welche die Einheit unserer Nation vertreten, die Rechte des Kaißrthunns und des Parlaments, und wir wollen, wenn wir dies gesichert haben, um Eirzelheiüen, die wir anders wünschen könnten, weiter nicht rechten. Denn wir haben dar Gestühl der Sicherheit, daß das Werk des Germanisirens im Elsaß gelingen wird rnd gelingen muß. Ich habe in den letzten Tagen gelesen in den geheimen Akten übrr die Orga­ nisation der Rheinprovinzen aus den Zähren 1815 und 1816. Damals ertöwte aus dem Munde aller Beamten überall eine muthlose Sprache: das sei ein Bastrrdvollk, dem deutschen Wesen ganz und gar entfremdet, es werde viele Jahrzehnte dauern, biis man aufhören könnte, die Verordnungen in beiden Sprachen erscheinen zu lrssen ni. s. w. Wer, m. H., kann diese Befürchtung von 1815 heute lesen, ohne daß ein teutsches Herz stolz und hoffnungsvoll sich erhebt? Heute freilich besitzen wir nirgends ir Deutschland eine Verwaltung, welche sich mit der Tüchtigkeit der damaligen altpreußischer Verwaltung auch nur entfernt vergleichen ließe. (H.! H.!) Das ist eine unvermeidliche Schattenseite des konstitutionellen Lebens für Deutschland geworden. Dafür aber sind wir eine Nation, die, nicht müde bis in den Tod, aus einem ungleichen Kampfe hervorgehj, sondern in wohl gesichertem Wohlstand, strotzend in Kraft und Stärke dasteht. Dcfür siind wir heute eine Nation, die nicht ängstlich wartet auf die Einlösung eines Königswortes, sondern parlamentarische Rechte bereits besitzt und ausübt. Dafür endlich sind wir heute eine Nation, die sich erhoben hat, nicht mit fremder Hilfe, sondern aus eigenem Kraft. —* Dies, m. H., sind hoffnungsvolle Zeichen. Ich sage Ihnen, das Recht der Natur, die Stimme des Blutes in Elsaß wird sich regen, die Stimme des Blutes, die schon so viele verlorene Söhne unseres großen Vaterlandes zurückgeführt hat zu unserem Reiche. Zch sage Ihnen, der Tag wird kommen, wo in dem letzten Dorfe der Vogesen der deutsche Bauer sprechen wird: es ist ein Glück und eine Ehre, Bürger des deutschen Reichs zu sein. (Lebh. Br.) Abg. Wag euer: M. H., wahrscheinlich sind Sie Alle mit derselben Aufmerksam­ keit, wie ich selbst, der Rede gefolgt, die wir so eben aus dem Munde des Herrn Abg. Dr. von Treitschke hier vernommen haben, und gerade weil ich in so vielen wesentlichen Punkten mich in Uebereinstimmung mit ihm befinde, ist es mir doppelt schmerzlich ge­ wesen, ihm doch nicht dahin folgen zu können, wohin er uns schließlich hat führen wollen, in specie schon jetzt im Detail auf die Organisation der Verwaltung von Elsaß und Lothringen einzugehen, wie er uns hier ein Zukunstsgemälde entrollt hat. Ich habe ihn beneidet, daß er heute schon in dem Maße informirt ist, uns solche Vorschläge machen zu können, (H. S. ro.l) und ich muß leider bekennen, daß es mir nicht hat ge­ lingen wollen, mir bis dahin auch nur die Grundlage klar zu machen, von der aus man einen Aufbau und eine Organisation in diesen Ländern vornehmen soll. Zch glaube, er ist dabei durch zwei Irrthümer hauptsächlich irre geführt worden — ich habe ihn wenigstens so verstanden — daß er einmal das Land, welches wir jetzt mit Deutschland verbinden wollen, gewissermaßen für eine tabula rasa gehalten hat, wo wir nichts vor­ finden, und also auch kaum eine andere Aufgabe haben werden, als das Füllhorn unserer parlamentarischen Glücklichmacherei auszuschütten, (M.) und daß er auf der anderen Seite von der Aufgabe ausgeht, daß überhaupt unser Beruf in Elsaß und Lothringen in der Gesetzgebung abgeschlossen ist, und daß wir dort gar nichts Anderes zu thun haben. — M. H., wir finden in Elsaß und Lothringen eine sehr ausgebildete Verfassung, eine sehr ausgebildete Verwaltung, wir finden Korporationen und Institutionen vor, mit denen wir zu rechnen haben, und eine der Hauptaufgaben der Organisation und der Ein­ richtung wird eben die sein, zu alledem, was wir da vorfinden, die richtige Stellung zu

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finden. M. Y., er hat uns gesprochen von Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, er hat uns gesprochen wm Schulzwang, er hat von monarchischen Institutionen gesprochen und sogar einen Appell an unseren leitenden Staatsmann gemacht, indem er ihm, wenn ich ihn recht verstanden habe, den Vorwurf machte, daß er die Institutionen Deutschlands und in specie auch die neu zu gründenden Institutionen für Elsaß und Lothringen gewisser­ maßen auf seinen eigenen Leib zuschneiden wollte und darüber vergäße, diejenigen In­ stitutionen zu schaffen, die allein die Dauer und die Solidität zu garantiren vermögen. — Wenn nan einen solchen Vorwurf machen will, dann muß man überhaupt noch nicht wissen, was ein großer Mann ist. (U. I.) Die Größe des Mannes besteht auf diesem Gebiete eben darin, daß er die gewöhnlichen Wege verläßt, daß er die gewöhn­ lichen Formrn zerbricht, daß er neue Formen schafft, und es giebt keine Institution, die eine große Persönlichkeit zu ersetzen vermöchte. Daraus, m. H., mache ich meinerseits nicht die Deduktion, daß man überhaupt dauerhafte Institutionen nicht schaffen soll, sondern ich mache daraus diejenige Folgerung, die uns hier allein beschäftigt,, daß wir überhaupt n'.cht mit bestimmten Persönlichkeiten zu rechnen haben, sondern daß wir allein zu rechnen haben mit der Persönlichkeit derjenigen Länder, die wir jetzt in Deutschland einverleiben, die wir jetzt mit uns vereinigen, und die wir für uns gewinnen sollen. M. H., wir sollen Elsaß-Lothringen mit uns als Reichsland verbinden. Was ist ein Reichsland? Darüber suchen wir bis jetzt vergeblich eine Definition, und m. H., mir scheint es, bevor wir uns nicht wenigstens so weit klar gemacht haben, daß wir selbst wissen, was ein Reichsland ist und was ein Reichsland sein soll, so werden wir auch vergeblich danach suchen, wie wir die Staatsgewalt eines Reichslandes konstruiren sollen. Nun, m. H., ich gebe zu, weil man bis dahin so wenig informirt ist, daß es kaum gelingen wird, heute schon eine positive Definition von dem zu geben, was man unter Reichsland zu verstehen hat; aber ich glaube eine negative Definition nach zwei Seiten hin liegt vollkommen auf der Hand: die Staatsgewalt eines Neichslandes kann nicht identisch sein mit der Staatsgewalt eines Landesfürsten, noch mit der Staats­ gewalt des Reiches im Reiche; denn es bleiben der Staatsgewalt in einem Reichs­ lande ganz bestimmte Aufgaben und Kompetenzen, die in der Kompetenz der Staats­ gewalt im Reiche nicht begriffen sind. M. H., wir finden, um konkret zu sprechen, in Elsaß-Lothringen eine gallikanisch verfaßte, sehr einflußreiche, bis dahin in sehr ent­ schiedener Abhängigkeit vom Staate stehende katholische Kirche, für deren weitere Be­ handlung ich mich wenigstens bis jetzt innerhalb des Organismus des Reichs nach einem Organe vergeblich umgesehen habe; wir finden in Elsaß-Lothringen zwei evangelische Kirchengemeinschaften, die ihren bisherigen Halt, den sie in der Gesammtheit des evan­ gelischen Frankreichs besaßen, und mit diesem Halt auch ihre bisherige Verfassung ver­ loren haben, und für deren Behandlung es in den Organismus des deutschen Reichs ganz entschieden an einem Organ und an einer Kompetenz bis dahin gebricht. Denn Elsaß-Lothringen hat niemals gekannt und niemals anerkannt denjenigen Begriff eines Summepiskopats, auf dem in allen andern deutschen Ländern, und in specie unserem speziellen Vaterlande Preußen, die höchste Kirchengewalt beruht, und es ist deshalb die Ausgabe der Organisation, auch hierfür den richtigen Platz zu finden. — Wir finden in Elsaß ferner eine ziemlich dissolute Schulverfassung, wo man nicht weiß, unter welchem Gesichtspunkt sie bisher behandelt ist, unter welchem Gesichtspunkt sie weiter behandelt werden soll, und wo im deutschen Reiche das Organ ist, um die höchste Instanz auf diesem Gebiete zu bilden. Und, m. H., wo ist denn im deutschen Reiche dasjenige Organ und diejenige Gewalt, die im Stande oder berufen wären, die vielbesprochene Präfektenwirthschaft im Elsaß in die erwünschte Selbstverwaltung und kommunale Freiheit hinzuleiten? Deshalb, m. H., bin ich der Meinung, bevor wir auf diesem Gebiete irgend einen Schritt weiter machen können, müssen wir uns klar machen, wo liegt im Reiche die Reichsgewalt, was finden wir in Elsaß und Lothringen vor, und in welcher Weise sind diese beiden Dinge mit einander zu vereinigen? M. H., ich glaube nicht, daß die Apostrophirungen, die wir hier vernommen haben, wo man sagt, wir wollen die Be­ wohner von Elsaß und Lothringen zu allererst als Deutsche behandeln, bis jetzt in den Reichstags-Repertorium I.

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Herzen der Elsässer und Lothringer eine sehr große Befriedigung oder auch nur ein sehr lebhaftes Verständniß finden würde; ich, m. H., stehe vielmehr auf dem umgekehrten Standpunkte, ich will die Bewohner von Elsaß und Lothringen an erster Stelle als Elsässer und Lothringer behandeln, und ich thue das mit dem vollen Bewußtsein, daß das kein Gegensatz gegen Deutschland ist, sondern eben weil ich weiß, je mehr ich die Elsässer und Lothringer als solche behandle, desto schneller wird es mir gelingen, sie mit ihrer eigenen Zustimmung und mit Freudigkeit in das Land hineinzuführen, durch das ich sie mit uns verbinden will. (S. w.!) — Dann, m. H., ist hier viel davon gesprochen worden, wenn die Elsässer nur erst in den Reichstag kämen, dann würden sie bald dahinter kommen, wir gut wir es eigentlich mit ihnen meinten, und deshalb wäre es äußerst wünschenswerth, daß wir sie sobald als möglich hier-unter uns sehen, und daß wir ihnen dann hier durch unsere Vota thatsächlich den Beweis lieferten, daß sie nirgend besser aufgehoben sein könnten als in unserer Mitte. M. H., Sie müssen die Zähigkeit des deutschen Volksstammes wahrlich sehr unterschätzen, wenn Sie sich solchen Illusionen Ihrerseits hingeben. (S. w.!) M. H., mir scheint nicht blos der Zeitraum, den Sie hier vorgeschlagen haben, sondern auch der, den die Regierung vorgelegt hat, nach meiner persönlichen Ueberzeugung eigentlich noch kurz zu sein, um das Resultat zu erreichen, was wir zu erreichen wünschen; denn, m. H., täuschen Sie sich nicht darüber, so wahr es ist, wenn Sie sagen, uns thun die Elsässer und Lothringer keinen Schaden, wenn sie unter uns kommen, eben so wahr ist es, daß wir den Elsaß-Lothringern einen vielleicht nicht zu beseitigenden Schaden zufügen, wenn wir sie zu früh nöthigen, unter uns zu erscheinen. (S. r.) Denn, m. H., der Anfang bestimmt den Fortgang, und wenn Sie die Elsaß-Lothringer hier einführen unter uns, wo sie ihre Aufgabe und ihre Thätigkeit innerhalb des deutschen Reiches als Gegner und als Feinde mit einer bis dahin unversöhnten Gesinnung unter uns ausführen, — m. H., täuschen Sie sich darüber nicht, solche Dinge wirken länger fort wie man denkt, und wir werden dadurch nicht die Einverleibung und Vereinigung beschleunigen, sondern wir werden sie verbittern und erschweren. (S. w.!) Deshalb würde es meinen eigenen Wünschen am mehrsten entsprochen haben, m. H., wenn man nach dieser Richtung hin der Regierung mit dem­ jenigen Vertrauen gegenübergetreten wäre, was sie, wie ich glaube, in den deutschen Angelegenheiten sehr reichlich verdient hat, und was sie auch unzweifelhaft rechtfertigen würde, d. h. m. H., wenn man ihr anheim gegeben hätte, selbst zu sagen, wann der Zeitpunkt gekommen ist, wo es möglich sein wird, diese Länder im vollen Umfange in die Vereinigung mit Deutschland eintreten zu lassen. M. H., Sie sehen ja, daß die Regierung selbst den Wunsch hat und in dem uns vorliegenden Gesetze selbst die An­ knüpfungspunkte dazu gegeben hat, so weit möglich schon in allerkürzester Zeit diejenigen Bestimmungen der deutschen Verfassung einzuführen, die ohne Besorgniß und ohne Ge­ fahr eingeführt werden können, und ich müßte mich nach der Qualität dieser Bestim­ mungen sehr täuschen, wenn dieselben nicht den größten Theil der Bundesverfassung in sich begreifen würden. Es ist ja das unzweifelhaft, m. H., daß der größte Theil der deutschen Bundesverfassung in kürzerer Zeit, wie im Jahre 1873, bei uns eingeführt werden kann und voraussichtlich auch eingeführt werden wird. — M. H., worin liegt denn im Bunde die Reichsgewalt, welches ist der Inhaber der Staatsgewalt des Reiches und welches ist der Repräsentant dieser Staatsgewalt? Ich weiß ja wohl, m. H., daß es eine Auslegung giebt, die die Gesammtheit der einzelnen Staaten als den Inhaber der Bundesgewalt bezeichnet. Diese Anschauung theile ich nicht, sondern schließe mich der Rechtsauffassung derjenigen Staatsrechts-Lehrer an, — und ich freue mich, daß ich einen der Repräsentanten dieser Richtung mir gegenüber habe, — die den Bund selbst

als eine ideale Persönlichkeit betrachten, die eine selbstständige Bundesgewalt in sich be­ sitzt, und die sich dann dahin aussprechen, daß die Ausübung der Funktionen der Bundes­ gewalt der Krone Preußen, beziehentlich dem aus Vertretern der Mitglieder des Bundes bestehenden Bundesrath übertragen sind, neben welchen der aus gewählten Abgeordneten des, Volkes bestehende Reichstag kein selbstständiges Element der Bundesgewalt, sondern nur einen diese letztere beschränkenden Faktor bildet. — M. H., also die Staatsrechts-

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Lehrer, die Ihrer eigenen politischen Richtung angehören, sehen als den Repräsentanten der Staatsgewalt innerhalb des Bundes den Kaiser und den Bundesrath an, und ich frage Sie nun: wie kommen Sie nun dazu, in diesem Provisorium dies Verhältniß entweder zu verdunkeln oder zu verkehren, indem Sie an die Spitze den Satz stellen wollen: die Staatsgewalt übt der Kaiser aus. M. H., es könnte ja fast so scheinen, als wenn diejenigen Herren, die hier den Kaiser an die Spitze stellen, monarchischer wären als wir, und daß es eigentlich ein überraschendes Unterfangen von unserer Seite wäre, wenn wir, die wir uns immer gerade mit besonderem Nachdruck als monarchisch gesinnt hingestellt haben, dagegen kämpfen, daß die monarchische Gewalt im deutschen Reich in den Vordergrund gestellt werden soll. Ja, m. H., wenn wir glaubten, daß man dadurch die monarchische Gewalt stärken würde, so würde ich wenigstens der Erste sein, der diesen Satz mit Freuden acceptirte. (S. g.! r.) Aber der Träger des monarchischen Staatsgedankens innerhalb des deutschen Reichs, das ist nicht der isolirte Kaiser, sondern das ist der Bundesrath, in welchem die monarchischen Elemente des gesummten Deutschlands vertreten sind, und, m. H., man kann die monarchische Gewalt nicht mehr schwächen, als wenn man den Kaiser isolirt oder in Gegensatz gegen die anderen monarchischen Elemente des Bundesraths stellt. (S. r.! r.) Wenn ich die Ausführungen des Herrn Vorredners von Treitschke richtig verstanden habe, so wollte er es so darstellen, als wenn man die monarchische Gewalt und das Kaiserthum eigent­ lich aufhebe, wenn man dem Kaiser nicht, abgesehen von dem Bundesrath, ein durch­ greifendes, überall anwendbares Veto beilegt. M. H., wenn der Kaiser — und ich spreche dies ganz unumwunden aus — wenn es jemals dahin kommen sollte, daß das Kaiserthum nicht mehr die Macht hat, ein Gesetz, welches es selbst nicht will, auch durch den Bundesrath vewerfen zu lassen, dann ist es bereits gestorben. (S. r.! r.) Denn, m. H., Preußen ist ein hervorragender, ist der hervorragendste Bestandtheil des Bundes­ raths, und wenn seine deutschen Traditionen und sein moralischer und materieller Ein­ fluß dahin zusammengeschrumpft sein sollte, daß es in prinzipiell wichtigen Dingen — und nur in solchen könnte es sich um ein Veto handeln — nicht mehr den Bundesrath hinter sich hätte, dann Monarchie, Adieu! dann, m. H., läßt sich durch einen solchen Satz, durch ein provisorisches Definitivum oder durch ein definitives Provisorium, das Kaiserthum und die Monarchie wahrhaftig nicht retten. Deshalb, m. H., halten Sie an diesem Grundgedanken fest — das ist für mich wenigstens der Leitstern —: ich lege Gewicht auf den Bundesrath, ich setze meine Hoffnungen auf die Entwickelung des Bundesraths, und die Stärke des Bundesraths ist für mich die Stärke der monarchischen Gewalt in Deutschland. (Lebh. Z. r.) Nun, m. H., könnte ich Ihnen auch noch einige Gedanken sagen, von denen ich glaube, daß man sie in Elsaß-Lothringen ausführen könnte; aber da ich nicht weiß, ob sie ausgeführt werden sollen, und da die Ausführung in anderen Händen liegt, so will ich mich meinerseits darauf beschränken, daß ich allgemein den Wunsch zu erkennen gebe, daß man der Bevölkerung von Elsaß-Lothringen mit denjenigen Vertrauen entgegen­ kommt, welches wir, glaube ich, bisher schon durch unsere Verwaltung dort verdient haben, und welches wir binnen Kurzem, wie ich wünsche und erwarte, durch unsere Verwaltung noch mehr verdienen werden. M. H., Sie schütteln mit dem Kopfe. Womit denken Sie denn eigentlich die Liebe der Anderen zu erringen? Ich frage, womit denken Sie denn ihrerseits die Liebe der Elsaß-Lothringer zu erringen? Meinen Sie etwa mit schönen Reden, die wir halten? oder mit schönen Verheißungen, die wir machen, und in Bezug auf welche wir gar keine Garantie geben können, daß sie ausgeführt werdens oder etwa durch eine gewisse nationale Perspektive, m. H., während ein großer Theil der Bewohner Elsaß-Lothringens, worüber ich ziemlich handgreifliche Beweise gesehen habe, immer noch mit dem halben Rücken nach uns und mit dem halben Gesicht nach Frankreich stehen? M. H., was die Masse der Bevölkerung in Elsaß-Lothringen für uns gewonnen hat — ich scheue mich nicht, es auszusprechen — das ist die Redlichkeit und die Integrität des deutschen Beamtenthums, (S. g. r.) dadurch wird die große Masse der Bevölkerung zuerst Deutschland lieb gewinnen, sie werden erkennen, daß sie

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bei uns mit anderen Leuten zu thun haben, als mit denen sie es bis jetzt zu thun gehabt haben, und sie werden an uns kennen lernen, m. H., daß, wenn wir ihnen etwas versprechen, wir es ihnen nicht versprechen, um es nicht zu halten, und deshalb, m. H., wenn Sie diese Ansicht theilen, dann seien Sie recht vorsichtig mit ihren Ver­ sprechungen, versprechen Sie nichts, was Sie nicht in der Hand haben, versprechen Sie nichts, wo Ihnen alle Unterlagen fehlen, nichts, wo Sie nicht wissen, ob nicht in der Bevölkerung von Elsaß und Lothringen das gerade Gegentheil desjenigen gewünscht wird, was man hier erstrebt. M. H., ich will zum Schluß nur noch auf zwei Dinge Hinweisen. Es giebt ja, wie der Herr Abg. Treitschke sehr richtig gesagt hat, innerhalb des deutschen Reiches keine Institution, die in dem Maße wirksam gewesen ist, neu erworbene Länder mit uns zu assimiliren und uns zu verbrüdern, als die deutsche Armee, und ich theile des­ halb vollkommen den Wunsch, dieses Verbrüderungsinstitut nicht zu lange darauf warten zu lassen, daß wir auch darin unsere deutschen Brüder aus Elsaß und Lothringen be­ grüßen können. Aber, m. H., übereilen Sie auch dieses Mittel nicht. Sie werden in dem Friedensvertrage die Klausel finden, daß es noch ein Jahr lang gestattet ist, zwischen der deutschen und französischen Nationalität zu wählen. Wenn Ihnen die Verhältnisse der französischen Armee genau bekannt sind, dann werden Sie vielleicht wissen, worauf der Zusammenhang von Elsaß und Lothringen mit der französischen Armee beruht: m. H., der beruht, so viel ich mich habe informiren können, darauf, daß die Mehrzahl der Einsteher aus Elsaß und Lothringen waren, und daß man nicht ohne Grund das Argument geltend machen wird, wollt ihr eure bereits zum großen Theil verdienten Einstehergebühren behalten, dann müßt ihr eure Dienstzeit zu Ende führen, und wollt ihr das nicht, dann werdet ihr eurer Ansprüche quitt. — M. H., es giebt Beispiele, daß diese Dinge noch in der neuesten Zeit praktisch geworden sind, statten Sie die Re­ gierung mit denjenigen Vollmachten aus, die sie von Ihnen erbeten hat; Sie werden auf dem gesetzgeberischen Gebiete nichts davon zu besorgen haben, denn ich glaube, jede Regierung hat den lebhaften Wunsch und das Bedürfniß, schwierige Fragen nicht allein auf ihre eigenen Schultern zu nehmen, wenn sie so breite Schultern findet, auf die sie sie ablagern kann. Und, m. H., was das weitaus Wichtigste ist, auf dem Ge­ biete der Verwaltungs-Organisation werden Sie nicht beeinträchtigt, Sie werden nicht helfen, sondern Sie würden nur hindern können. (Lebh Br. r.) Abg. vr. Windthorst: M. H., der Kommission sind von zwei Seiten erhebliche Vorwürfe gemacht. Der Abg. Treitschke sagt, es habe in dem Berichte und in den Verhandlungen der Kommission eine zu breite Behandlung theoretischer Fragen statt­ gehabt. Der Herr Abg. Wagener (Neustettin) hat aus dem Berichte gar nicht erfahren können, was eigentlich in der Kommission vorgekommen sei. Die Beschlusse der Kom­ mission und deren Bericht sind nothwendig der Reflex der Gesetzesvorlage. Man will ein Reichs land bilden und fragt nach dem Begriff. Ich habe genau dieselbe Frage, die der Herr Wagener (Neustettin) gemacht hat, in der Kommission gestellt. Keiner hat mir eine Antwort gegeben. Der Bericht sagt, daß von einer Seite das Reichsland als eine undefinirbare und undesinirte Größe bezeichnet sei. Ich halte diese Bemerkung auch heute noch aufrecht und habe mich überzeugt, daß es sehr bedauerlich ist, daß man darüber eine Klarheit nicht gewonnen hat, weil dann gewisse Mißverständnisse, die jetzt schon da sind, vermieden wären, und viele Mißverständnisse, die in der Folge sicher noch kommen werden, nicht entstehen könnten. Der Abg. Treitschke hat bei der Staatsbildung, die hier in Frage, sehr scharf gewarnt, partikulare Institutionen, einen besonderen Staat zu schaffen. Er hat gesagt, es sei vor Allem den Elsässern zu sagen, einen besondern Staat bekommt ihr nicht. Der Herr Abg. Treitschke hat keine Definition gegeben davon, was er einen besonderen Staat nennt, ich meines Theils muß gestehen, daß ich in der Regierungsvorlage wie auch in den Kommissionsbeschlüssen nichts Anderes finde, als die Bildung eines besonderen Staates. Die Souveränität liegt beim Kaiser und Bundesrath, liegt beim Reich; die betreffenden Landestheile sollen, gesondert von allen übrigen Staaten Deutschlands, als ein Ganzes regiert

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werdren. Daraus folgt, daß dort die Verwaltung, die Justiz, das Budget getrennt von Leren anderer Staaten sein müssen. Es wird sogar die Frage der Armeeorganisatiom roch scharf ins Auge zu fassen sein. Ich habe in dieser Beziehung in der Kommissiwn von den Herren des Bundesraths Aufklärung mir zu verschaffen gesucht, indessen ich hcabc diese Aufklärung nicht in der Vollständigkeit gewinnen können, wie ich glaube, daß es wünschenswerth gewesen wäre. Ein solches Staatswesen ist aber ein besonderer Staat, wenn allerdings ein eigengearteter Staat, ein Staat, wie wir iihn bis jetzt in Deutschland nicht — ich glaube, in der Welt nicht — kennen. Ich glaube, die einzige verständige Lösung der Frage, die hier vorliegt, läge in der Alter­ native: entweder klar und ouvert und bestimmt einen einzelnen Staat, einen besond eren Staat zu gründen, oder aber das hier fragliche Territorium mit einem andern Staate zu vereinigen. Dann wäre Klarheit in den Verhältnissen, dann wäre die Fraze der monarchischen Spitze, dann wäre die Frage der inneren Verfassung des Landes, dann wäre insbesondere die Bundesverfassung intakt. M. H., der Abg. Wagener hat besonders hervorgehoben, wie in der Kommission ein Bestreben sich bemerklich ge­ macht hebe, das Verhältniß von Kaiser und Bundesrath zu verwischen, den Kaiser in dieser Frage vom Bundesrath abzulösen, den Bundesrath in Sachen von Elsaß-Lothringen herabzudrücken — setze ich hinzu — in die Rolle einer ersten Kammer. Ich habe in der Kommission ganz im Sinne des Abg. Wagener gekämpft, ich habe leider aber bei seinem Freunden nur sehr theilweise und sehr schwache Unterstützung gefunden, ich habe bestimmte Anträge, welche die Fragen klar stellen sollten, dort gestellt, und die Er­ örterungen, welche stattfanden, haben bewirkt, daß eine Reihe von Anträgen, die noch weiter von den Anschauungen des Herrn Abg. Wagener und von denen der Regierung abgewichen wären, verworfen worden sind. Daß von der Frage der Souveränität an sich eigentlich der ganze übrige Inhalt der beabsichtigten Organisation ausgeht, sich danach richtet, dadurch bestimmt wird, das brauche ich Niemandem zu sagen, der das Wesen einer Monarchie kennt. Wenn das aber der Fall ist, so kann ich im monarchischen Interesse es nur beklagen, daß es nicht möglich gewesen ist, eine vollere und be­ stimmtere Klarheit in dieser Frage zu erreichen. Aber ich wiederhole, dieser Vorwurf trifft nicht sowohl die Kommission und ihre Arbeiten, er trifft die Regierungsvorlage ebenso und noch mehr. Denn in Fragen dieser Art kann etwas Gesundes nur ent­ stehen aus der Initiative und aus den fest formulirten Anschauungen der Regierung. Eine große Versammlung so wenig wie Kommissionen können in dieser Hinsicht Anträge bringen, zumal der Accept solcher Anträge von wesentlich anderen Faktoren abhängt und ich meinestheils keine Bedenken trage, auszusprechen, daß ich die Konstituirung monarchischer Institutionen, in welchem Lande es immerhin sein mag, nicht hervorgehen lassen will aus den Volksvertretungen, sondern aus dem Rechte der Fürsten. (Bew.) — Ja, m. H., ich weiß wohl, daß wir auf der schiefen Ebene der Volkssouveränität, an deren Fuße jetzt Frankreich liegt, bereits recht weit gekommen sind. (W. im Hause.) — Es war meine Prinzipalanschauung, die auch von meinen politischen Freunden, die in der Kommission waren, getheilt wurde, daß es richtiger sein dürfte, zur Zeit nur eine nach jeder Richtung hin provisorische Einrichtung zu treffen, natürlich umgeben mit den nöthigen Garantien für die Einwohner des Elsaß für die Dauer dieses Provisorii, und daß dieses Provisorium benutzt werden sollte zu einem ein­ gehenden Studium der einschlagenden Fragen im Schoße der Regierungen, wozu sie im Drange der Zeit und der Ereignisse kaum Muße gehabt haben können, und daß man dann vor uns trete mit einem vollständig durchdachten, festen klaren Plan und uns sagte, was von Seiten der Regierungen für zweckmäßig erachtet worden, und daß man über solchen Plan unsern Rath einholte. Dieses Provisorium hielt ich übrigens auch deshalb für besonders wünschenswerth, weil ich glaube, daß, nachdem über die Frage der Abtrennung von Frankreich die Bevölkerung von Elsaß und Lothringen nicht gehört werden wird, es mindestens Recht wäre, der gedachten Bevölkerung Gelegenheit zu geben, sich über die Frage zu äußern, was in Zukunft im deutschen Reiche aus ihr werden solle, daß es Recht wäre, auch in Beziehung auf die eigentliche Staatsverfassung

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die Bevölkerung zu hören. Mir widerstrebt es in dem innersten Gefühle, daß ich über die Zukunft von über P/2 Millionen der gebildetsten Bevölkerung Europas, ohne sie gehört zu haben, hier aburtheilen soll. (S. ro.I l.) Der Herr Abg. Treitschke hat uns eine Reihe von Dingen genannt, die er ge­ währen will, und von Dingen, die er nicht gewähren will. Der Herr Abg. Wagener hat zum Theil sich auf dieses Gebiet verleiten lassen, obwohl er im Allgemeinen das Prinzip aufstellte, es sei nicht an der Zeit, so weit schon zu gehen, und es sei vor Allem wichtig, daß wir hier nichts versprächen und nichts in Aussicht stellten, was schließlich nicht gehalten werden könnte. Und ich muß dem Herrn Abg. Wagener darin beistimmen, daß wir nichts versprechen, was nicht gehalten wird, denn nichts ist für eine neue Be­ völkerung schlimmer, als wenn die von höchster Stelle gegebenen Versprechungen nicht erfüllt werden. Zch will mich deshalb auch enthalten, auf die einzelnen Sachen des Herrn Treitschke einzugehen. — Es scheint nach den Erfahrungen, die ich gemacht habe, auch anderswo und an entscheidenderer Stelle als die des Herrn Abg. von Treitschke, der Gedanke vielfach vorzuwalten, daß man durch das Durcheinanderwürfeln der Beamten Provinzen gewinne. M. H., ich muß sagen, daß das eine kuriose Anschauung der Dinge ist. Dieses Durcheinanderwürfeln hat mehr als irgend etwas in anderen Staaten, die ihre Selbstständigkeit verloren, Mißbehagen und Mißstimmung erregt. (H.) — Darüber lachen Sie, m. H. ? Ich wollte, daß es Ihnen einmal selbst geschehen wäre, dann würden Sie anders urtheilen. — Auch bin ich der Meinung, daß ein solches Hin- und Herversetzen der Beamten dienstlich sich gar nicht empfiehlt, denn die ge­ würfelten Beamten verstehen dann an den Stellen, wohin sie kommen, nicht Land und Leute, und was es heißt, bei einer Regierung, die auf Vertrauen und nicht auf Bayonette sich stützt, Land und Leute zu kennen, das können die Herren dann vorzugsweise sich vergegenwärtigen, wenn sie die schönen Studien Riehls über Land und Leute studiren wollten. Ich habe das Gewicht dieser Beamtenfrage fühlend und vollkommen anecknnend, in der Kommission gefragt: werden die Beamten in ElsaßLothringen Reichs beamte, werden sie elsässische Beamte sein, werden sie den Rück­ tritt in ihr Land haben? Es ist mir darauf die höchst ungenügende Antwort geworden: das werde von der Anstellung im einzelnen Falle abhängig sein; wenn man sich den Rücktritt vorbehalte, werde man ihn haben. Ob aber die Beamten Reichs- oder aber elsässische Beamte würden, darüber wurde mir keine Auskunft gegeben. Dann hat der Herr Abg. Treitschke hier bereits auseinandergesetzt, es müssen drei Departements sein, es müßte das Centrum der Regierung in Berlin liegen. Es ist das ein Specimen von Selbstverwaltung, welches ich meinestheils nicht verstehe. Ich halte dafür, daß wenn etwas Verständiges geschehen soll, über diesen drei Departements eine Centralstelle, wie immer sie geartet sein möge, in dem Lande selbst sein muß. Ohne das wird man die Elemente dort, von denen Sie eben selbst behaupten, sie seien zum Theil nicht homogen, niemals zusammenbringen, und zusammengebracht sollen sie doch werden in diesem Reichslande ohne Definition. Das kann nur durch eine reich an Macht ausgestattete Centralverwaltung im Lande selbst geschehen. M. H., in Preußen spricht man seit Zähren immer von Selbstverwaltung, und die besteht schließlich darin, daß die Geheimen Räthe in der Wilhelmstraße Alles machen. (H.) Wir haben in Preußen an der Spitze der Provinzen Oberpräsidenten, eine durchaus gesunde Institution im Gedanken und in der Grundlage. Karrikirt sind diese Herren aber zu Briefträgern. (Oh! Oh!) Es wird hier eben ein Zweifel erhoben. Vielleicht haben die Oberpräsi­ denten ein inneres Arbeitsfeld, was ich nicht kenne und was mich korrigirt; das äußere Arbeitsfeld macht auf mich den Eindruck, welchen ich bezeichnet habe. — Wenn wir anfangen wollten zu deeentralisiren, so würde es vor Allem nothwendig sein, daß wir die Oberpräsidien mit einer viel größeren Kompetenz ausstatteten, so daß sie nur in den wenigen Angelegenheiten, bei welchen das allgemeine Interesse in Frage ist, ab­ hängig wären von der Centralregierung, sonst werden diese Herren, wie die Regierungs­ präsidenten, in der That nicht viel anders sein, als die Präfekten in Frankreich es waren. Ich bin nicht zweifelhaft darüber, daß die Präfektenwirthschaft in Frankreich eines der

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allerböffesen Uebel ist, weil diese Leute absolut keine Selbstverwaltung zulassen, vielmehr von beer Centralregierung unbedingt abhängig sind und nur von oben herab die Dinge wachem. Wollen wir den Elsaß-Lothringern eine Wohlthat, eine Selbstverwaltung in Wirklnchkät gewähren, so gewähren wir ihnen vor Allem eine Central stelle in ihrer- Ditte mit großen Machtbefugnissen, und sorgen wir dafür, daß sie sehr La^d bei den Angelegenheiten ihres Landes mitsprechen, dann werden wir, gilcube ich, sie mit der Zeit gewinnen können; aber darin bin ich mit dem Herrn Abg. Wegener einverstanden, durch bloße Worte und schöne patriotische Redensarten, selbst Lie)er, werden wir sie nicht gewinnen. — Der Abg. Wagener hat eine besondere Schwierickeit bezeichnet, die in den kirchlichen Verhältnissen liegt, und er hat gefragt, wie soll nan die katholische, angeblich gallikanische, wie soll man die evangelischen Kirchen behandeln. Ich antworte, behandeln Sie die katholische und evangelische Kirche in Elsaß Lothringen gar nicht! (S. r.! l.) Je weniger Sie sich mit dieser Be­ tz and llurg abgeben, desto sicherer werden Sie die Elsaß-Lothringer gewinnen. (S. r.!) Ich hcrbe die Herren zu verweisen auf dasjenige Volk, was vor allen anderen wider­ strebende Völkerschaften an sich zu ketten weiß. Dieses Volk sind nicht, wie der Herr Abg. Tretschke gemeint hat, die preußischen Stämme, dieses Volk ist in England, und in England ist es einer der ersten Grundsätze, daß man nicht an den kirchlichen und religiösen Dingen der Länder, die man verwalten will, rüttelt. (Ruf: Irland!) An Irland haben die Engländer die richtige Methode eben gelernt, (H.) und wenn die Herren etwa Lust hätten, insbesondere die katholische Kirche im Elsaß-Lothringen ä la Irland zu behandeln, (oh, oh 9 so werden sie dieselbe Erfahrung dort machen, welche die Engländer in Irland gemacht haben. (M.) Ich weiß nicht, warum Sie mich auf Irland verwiesen haben, wenn Sie jetzt nichts davon hören wollen, ich habe ja nicht zuerst von Irland gesprochen. Außerdem ist man in England jetzt zur Erkenntniß ge­ kommen, wie schwer man sich durch Jahrhunderte versündigt hat, und man sucht es jetzt thunlichst wieder gut zu machen. Ich aber wünsche, daß wir in Elsaß und Loth­ ringen nichts wieder gut zu machen haben, daß wir es gleich recht machen. Deshalb sage ich mit dem Abg. Wagener wiederholt, behandeln Sie die kirchlichen Verhältnisse möglichst wenig. Die Behandlung der kirchlichen Verhältnisse von Berlin aus ist sehr wenig erwünscht; das haben wir in den annektirten Provinzen erfahren. — Wir werden — darin hat der Herr Abg. Wagener vollkommen recht — die Elsaß-Lothringer nur dann gewinnen, wenn wir sie als Elsaß-Lothringer und in ihrer Eigenart behandeln und von ihnen nicht die Aufgebung lieb gewordener Institutionen ver­ langen, soweit nicht das allgemeine Ganze es absolut und mit Nothwendigkeit verlangt. Es wird deshalb sehr nothwendig und wichtig sein, daß wir sie in ihren Gesetzbüchern unangetastet lassen, daß wir ihre Kommunalverhältnisse schonend behandeln und nur da, wo wir ihnen eine größere Selbstverwaltung geben können, die deutschen einführen — nota bene, nachdem wir selbst zu Hause uns recht gute ge­ macht haben — und daß das Alles nicht in zu großer Raschheit geschieht. Die Leute müssen eben durch längere Bekanntschaft mit den deutschen Verhältnissen und mit uns sich überzeugen, daß es in Deutschland gute Institutionen giebt, und daß wir es in der That gut mit ihnen meinen. Dann werden sie williger sein. Wider Willen kann man keinen Menschen glücklich machen. Ich bin auch der Meinung, daß, wenn man den Rechts-Standpunkt festhält, anders nicht vorgegangen werden kann. Der Friede ist abgeschlossen. Es wird nächstens das betreffende Patent erscheinen müssen. Nach allen Grundsätzen des Völkerrechts ist es unzweifelhaft, daß das öffentliche wie Privat­ recht der betreffenden Landestheile, sofern nicht durch die Abtrennung von Frankreich das Objekt der Nechtsbestimmungen weggefallen ist, vollständig in Kraft ver­ bleiben. Das ist ein Satz, den ich hier deshalb sehr bestimmt betone, weil in den Dikasterien Berlins darüber verschiedene Urtheile obgewaltet zu haben scheinen. — Das führt mich zu der Frage, wie man denn diese zu Recht bestehenden Jnstituüonen, soweit sie im Interesse des Ganzen etwa nothwendiger Weise abgeändert werden müssen, ab­ ändern kann. Dafür wollen die Herren eine möglichst lange Diktaturperiode. Der

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Herr Abg. Wagener hat gemeint, man solle eigentlich sagen: die Regierung kann so lange allein handeln, wie sie es wünscht. M. H., das ist ein Standpunkt, den ich a priori nicht einnehmen kann, und den ich, nachdem ich die Erfahrungen gehabt habe in dieser Materie, die ich gemacht, unmöglich theilen kann. Zch bin der Meinung, daß das Vorgehen der Gesetzgebung mit allen Garantien umgeben werden muß, die überhaupt nur erfunden werden können. Denn die Leichtigkeit, mit der man in Uebergangszeiten hier in Berlin Gesetze macht, durch welche die allerbewährtesten Institutionen eines Landes aufgehoben worden, ist etwas ganz Unglaubliches. (H.) Die Hanno­ veraner, die Hessen, die Schleswig-Holsteiner und Nassauer werden Ihnen davon Zeugniß geben; — das darf nicht wieder geschehen. Darum bin ich auch meinestheils dafür, daß das Vorgehen der Gesetzgebung an die Mitwirkung des Reichstages gebunden werden soll. Zch habe in der Kommission und auch heute hier gehört, die Regierung wird es am besten allein machen. Za, m. H., wenn das richtig ist, dann schaffen wir ge­ fälligst den Reichstag überhaupt ab; die Herren, die dieses Argument vorbringen, bedenken in der That nicht, daß sie das konstitutionelle Prinzip in der Wurzel treffen; denn wenn die Regierungen es in so ernsten wichtigen Augenblicken für sich allein am Besten machen, warum sollten sie es dann nicht auch am Besten machen, wenn die See ganz ruhig und glatt ist. Bei solcher Argumentation ist der ganze Apparat konstitu­ tioneller Versammlungen unnöthig. Da ich diese Ansichten aber nicht theile, da ich den konstitutionellen Verfassungen einen Werth beilege, — nicht in Bezug auf das, was sie positiv leisten, sondern in Bezug auf das, was sie verhüten —; so würde ich einen Ausschluß des Reichstages von der Gesetzgebung in den Angelegenheiten von Elsaß-Lothringen unmöglich zugeben können und freue ich mich, daß der Herr Abg. Duncker uns bereits mit Anträgen, die die Mitwirkung des Reichstags sichern, versehen hat, Anträge, die ich vollständig acceptire. Wenn gemeint ist, daß durch das Erforderniß der nachträglichen Genehmigung der eiligsten Gesetze eine gewisse Agitation entstehen könnte — so hat Herr von Treitschke sich ausgedrückt — so ist das wiederum ein An­ griff des konstitutionellen Prinzips. Es wird dabei vorausgesetzt, daß der Reichstag Unverständiges thun könnte, und, m. H., daß wir etwas Unverständiges thun könnten, werden wir doch nicht zugeben. (H.) Wenn wir aber nun etwas Verständiges thun und voraussetzen, daß wir das thun, dann werden wir gewiß alle diejenigen eiligen Verfügungen, die zutreffend' waren, auch genehmigen, die unzutreffenden aber können wir nicht rasch genug rückgängig machen. — Ich bin daneben der Meinung, abweichend von den Herren von Treitschke und Wagener, daß es dringend wünschenswerth ist, die Elsaß-Lothringer sobald als möglich im Reichstage zu sehen. Ich sehe gar keinen Grund, warum das nicht möglich sein sollte. Man hat gesagt, die Stimmung der Leute wäre noch nicht so, daß sie hierher gerne kämen. Nun, m. H., das Gerne hierherkommen entscheidet nicht, denn, wenn es darauf ankäme, wären andere Leute auch nicht hier. (H.) Aber die Erwägung des Verstandes, die Zweckmäßigkeit, das eigenste Interesse, der alleinige Hebel aller Politik wird die Leute in Elsaß-Lothringen schon bestimmen zu kommen, und wenn sie zunächst kommen werden mit gedrückten Gefühlen, so wird es unsere Aufgabe sein, in offener, treuer, deutscher Ehrlichkeit ihnen entgegenzutreten und mit ihnen zu sprechen, ihr Gefühl zu würdigen und anzuerkennen und mit ihnen gemeinsam zu überlegen, wie in den neuen Verhältnissen das Wohl ihres Landes am Besten ge­ wahrt wird. Wenn wir sie von uns stoßen, wenn wir noch Zahre lang über ihre Geschicke hier ohne ihre Einwirkung entscheiden, dann wird ihnen zu Muthe sein, wie einem Menschen, der sieht, daß Andere über seinen Nock würfeln. — Wenn Sie glauben, daß nach einem, zwei oder drei Jahren die Stimmungen in Elsaß und Loth­ ringen anders sein werden, dann, m. H., leugnen Sie den deutschen Charakter der Elsässer und Lothringer. Leichtsinnige Völker können vielleicht in so kurzer Zeit ihre Anschauung ändern, feste deutsche Charaktere können das nicht, die werden über drei Jahre im Wesentlichen gar nichts anders fühlen als heute, und wenn sie es thäten, so würde ich es beklagen. Aber sie werden wie Männer den Verhältnissen, in die sie nun einmal gestellt worden sind, in Treue sich fügen und werden, wie es deutschen Männern ziemt,

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ehrlich und treu mitwirken, um das Ganze und ihr eigenes Wohl zu bessern. Ich schließe mit dem Wunsche, daß auf unsern Arbeiten der Segen ruhen möge, der gleichmäßig wünschenswerth ist für das Heil Deutschlands wie für das Heil unserer Bruder in Elsaß und Lothringen. (Br.!) Präsident des Bundeskanzler-Amts Staatsminister Delbrück erklärt sich gegen die Aeußerung des Abg. Windthorst, als bestehe in Berliner Dikasterien die Auffassung, daß durch die Abtretung von Elsaß-Lothringen an Deutschland nun plötzlich mit allen Institutionen von Elsaß und Lothringen tabula rasa gemacht sei und hält in Voraus­ sicht der allernächsten Zukunft das Amendement Reyscher für überflüssig. Abg. Lasker: M. H.! Ich würde bei diesem Gesetz und namentlich bei § 1 das Wort nicht ergriffen haben, wenn nicht von zwei verschiedenen Seiten, von dem Herrn Abg. Wagener und mit ihm im Einverständniß von dem Herrn Abg. Windthorst ein Vorwurf erhoben worden wäre gegen einen Theil dieses Hauses, als dessen Mitreprä­ sentant ich hier wohl sprechen darf: der Vorwurf, daß wir das gegenwärtige Gesetz benutzen wollen, um die Zdee der Reichsverfassung zu verändern, sie zu verdunkeln, oder sonst im Sinne unserer Gegner ihr Schaden zu thun. Es ist nicht schwer zu er­ rathen, daß dieser Vorwurf gerichtet war nicht blos gegen meine engeren politischen Freunde, sondern gegen einen großen Theil, ich glaube gegen die entschiedene Mehrheit des Hauses, welche allerdings in diesem Gesetze, soweit es angeht, eine klare Ausdrucks­ weise der unklaren Ausdrucksweise vorzieht: denn nur die Ausdrucksweise wird in Frage kommen. Aber ich würde es für die schlimmste Versündigung gegen die neuen Pro­ vinzen halten, wenn wir diese als ein Objekt behandelten, das nicht um seiner selbst willen unser bestes Verständniß beschäftigt, sondern als Mittel dazu dienen sollte, an­ dere Zwecke im Reiche zu erlangen. (S. r.) Das Land, welches eben abgetrennt wor­ den ist von einem größeren Reiche, die anderthalb Millionen Einwohner — großen­ teils unserer Nationalität, aber gleichviel, welcher Nationalität angehörig — der voll­ zogene Wechsel giebt ihnen als erstes Recht, von dem neuen Vaterlande die beste Re­ gierungsweise zu verlangen, und es würde mir wenig unseren Pflichten zu entsprechen scheinen, auf Kosten von Elsaß und Lothringen Zwecke anzustreben, die ihnen gänzlich fremd sind, und die mit ihrem Wohlergehen nichts zu thun haben. Zch weise diesen Gedanken im Namen meiner politischen Freunde und im Namen der Mehrheit des Hauses zurück, und halte es für eine ungerechte Anschuldigung, zu deren Vertretern sich zwei Abgeordnete hergegeben haben, ohne mit einem Worte nachzuweisen, daß von un­ serer Seite eine solche Absicht obgewaltet habe. M. H., für uns handelt es sich darum, nicht mehr zu thun, als wir gegenwärtig zu thun im Stande sind. Zm § 1 sprechen wir aus, was ohne Anstand von allen Mitgliedern des Hauses angenommen werden kann, daß das thatsächlich für Deutschland erworbene Elsaß und Lothringen nach Annahme dieses Gesetzes auch gesetzlich einen Theil des deutschen Reichs bilden soll. Sodann gehen wir über zu dem Zustand der Zwischenzeit, während welcher zugestandener­ maßen provisorisch und nach Art einer Diktatur verwaltet werden muß. Ueber diesen Zustand herrscht kein Zweifel, daß die Verwaltung allein vom Kaiser ausgeübt werde. Zch lasse die Gründe fort als Untersuchungen, die zur Klärung nicht beitragen, ob der Kaiser in sich nachdenkend sagt: ich übe diese Gewalt im Namen oder in Vollmacht des Bundesraths aus, oder ob er sagt: ich übe sie. im eigenen Namen aus; ich lasse diese Fragen vollständig unerörtert, als ein inneres Motiv. So viel steht fest: die Gewalt des Kaisers ist in Bezug auf die Verwaltung durch den Bundesrath nicht be­ schränkt, sie ist unwiderruflich, ist von dem Willen aller Mitglieder des Bundesraths zusammen unabhängig. Die Verwaltung, welche in allen Beziehungen mit alleiniger Ausnahme der Gesetzgebung die Merkmale der Staatsgewalt vollständig erschöpft, übt der Kaiser unbeschränkt aus, so weit sie nicht nach den allgemeinen Grundsätzen des konstitutionellen öffentlichen Rechts in sich beschränkt ist. Diese allein in der Gesetz­ gebung beschränkte Vertretung der Staatsgewalt durch den Kaiser wollen wir klar und deutlich an die Spitze stellen. Ich stelle gern fest, daß der Beschluß der Kommission nur die Ausdrucksweise verändert, nicht den Inhalt; ich wie der Herr Abg. Windthorst

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beziehe mich auf den Ausspruch des Vertreters des Bundesrathes, daß der Inhalt der Vorlage durch den Beschluß der Kommission nicht verändert worden ist; auch wir haben den Inhalt nicht verändern wollen. Von einem solchen Mißverständniß verleitet war der Herr Abg. Wagener, der in dem merkwürdigsten Widerspruch mit sich selbst uns einen Vorwurf daraus macht, daß wir die Reichsverfassung durch dieses Gesetz verändern wollen. Wenn das Ende und der Anfang seiner Rede sich je begegnen sollten, würden sie sich sehr wundern, Theile desselben Werkes zu sein. (H.) Begonnen hat der Herr Abg. Wagener seine Rede damit, daß die Frage: was ist Reichsland? kaum zu beantworten sei, doch müsse man das Eine anerkennen, daß die Staatsgewalt im Reichslande nicht identisch sei mit der Staatsgewalt im Reiche; gegen das Ende der Rede aber macht er uns den Vorwurf, daß der von uns sormulirte Satz: „die Staatsgewalt übt der Kaiser aus", nicht mit der Bundesverfassung übereinstimme. Aber der Redner hatte ja kurz vorher selbst zugestanden, daß die Staatsgewalt in Elsaß und Lothringen nicht übereinstimme mit der Staatsgewalt im Reiche. Wenn Sie die ganze Bundesverfassung von Anfang bis zu Ende durchlesen, finden Sie keine Bestimmung, welche die Verhältnisse in Elsaß und Lothringen in irgend einer Weise regeln möchte oder sich auch nur als Analogie auf Elsaß und Lothringen übertragen ließe, und dies ist der Gedanke, welchen wir uns bestreben, gegen Mißverständnisse klar zu stellen. Nicht die Reichsverfassung ist das Grundgesetz, aus welchem die Re­ gelung in Elsaß-Lothringen entspringt, sondern das gegenwärtige Gesetz ist es. Das gegenwärtige Gesetz ist die Quelle, aus welcher die Rechte des Kaisers entspringen, das gegenwärtige Gesetz bezeichnet die Art und Weise, wie die Gesetze während des Pro­ visoriums, und wie sie später zu Stande kommen sollen. Der klare Ausdruck dieses Gedankens erscheint uns sehr wichtig, damit nicht Gegner dieses oder jenes Vorschlages einwenden, es stimme derselbe nicht mit der Reichsversassung überein. Dieses ganze Gesetz braucht nicht durchweg mit der Reichsverfassung übereinzustimmen und kann es nicht; denn die Rechte, welche der Bundesrath und welche der Reichstag, und ebenso die Rechte, welche der Kaiser in Beziehung auf Elsaß und Lothringen empfängt, sind nicht in der Bundesverfassung geschrieben, sondern sie werden begründet und vertheilt durch dieses gegenwärtige Gesetz, und während wir mit der gesetzlichen Regelung be­ faßt sind, sprechen wir klar aus, daß der Kaiser als der Herrscher in Elsaß-Lothringen nicht verwechselt werde mit dem Kaiser, der als par inter pares im Bundesrathe sitzt, wo es sich um Reichsangelegenheiten handelt. (S. r.!) — Man hat uns auch den Vor­ wurf nicht erspart, daß wir auch den Zustand nach dem Ablauf des ersten Provisoriums schon jetzt in einem bestimmten, uns allein zusagenden Sinne gestalten wollen. Nein, m. H., wenn Sie das Gesetz durchlesen, so werden Sie finden, daß das sogenannte Definitivum, welches mit der Wirksamkeit der Reichsverfassung eintreten soll, in Be­ ziehung auf die Verfassung von Elsaß-Lothringen durchaus nicht diesen Namen ver­ dient. Wir sind uns wohl bewußt, daß mit der Herrschaft der Reichsversassung ein neues Provisorium anfängt; aber vorsichtigerweise faßt der Gesetzentwurf ins Auge, was geschehen soll, wenn das erste Provisorium abläuft und eine Landesverfassung für Elsaß-Lothringen noch fehlt. Für diesen Fall sorgt der kurzgefaßte Satz, daß die Gesetze für Elsaß - Lothringen in derselben Weise zu Stande kommen sollen, wie die Neichsgesetze zu Stande kommen. — Bis das endgültige Definitivum durch Reichsgesetz geregelt ist, soll der Reichstag, mit Einschluß der Vertreter von Elsaß und Lothringen, in Gemeinschaft mit dem Bundesrath, einstweilen die Gesetzgebung wahrnehmen. Mehr als dieses Nothwendige will das Gesetz nicht vorschreiben, und ich nehme es in diesem Sinne an. Dagegen weise ich den unbegründeten Vorwurf zurück, daß wir mit irgend einem unserer Vorschläge die Nebenabsicht verbinden, irgend etwas im Reiche zu erlangen, was wir sonst nicht auf dem Wege reformatorischer Bewegung in Deutschland zu erlangen im Stande gewesen wären. Wenn wir das Provisorium wagen können, so müssen wir es auch, damit wir Zeit gewinnen, die Einwohner von Elsaß-Lothringen zu hören, sobald sie genug beruhigt sind, ein gültiges Urtheil abzu­ geben, während sie heute selbst zugestehen müssen, daß die Anfragen sie unvorbereitet

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finden rrürden. Darum suchen Sie keine andere Absicht hinter dem Gesetz, sondern nur was klar in demselben ausgesprochen ist, und ich hoffe, daß in diesem Sinne keine Spaltung unter den sachlich fast einstimmigen Mitgliedern des Hauses eintreten wird. (Br.) Abz. vr. Löwe: M. H-, ich werde mich streng an die vorliegende Aufgabe zu halten suchen und nur fragen: was paßt für diesen Augenblick am Besten für die Aufgabe, die wir hier zu erfüllen haben? Welche Aufgabe haben wir aber zu erfüllen? Nicht das Land zu erobern, m. H., sondern das, was das Schwert gewonnen hat, jetzt durch die bürgerliche Einrichtung und Verwaltung sicher zu stellen. Alle sind nun darin übereingekommen, daß sie sagen: nicht mit der bloßer Gewalt ist die Sache zu machen, auch nicht mit der bloßen büreaukratischen Maschine, sondern an das Volk selbst muß man sich anlehnen, um in irgend einer Weise seine Mitthätigkeit, seine Mithülfe bei dieser Arbeit zu erlangen. M. H., als unser großes Mittel, auf die Bevölkerung zu wirken, ist uns angegeben die Macht unserer modernen Nationalität, die Macht des deutschen Wissens, der deutschen Gelehrsamkeit, der deutschen Kunst und Wissenschaft. Sie sollen wir hineinwerfen in die Wagschale, die die Elsässer und Lothringer jetzt zwischen Frankreich und Deutschland halten, und sie würde unsere Schale tief sinken machen und die französische emporschnellen. Ja, m. H., so sehr ich überzeugt bin, daß wir Alles, was wir sind und haben, Alles nur dieser literarischen Entwickelung unserer Nationalität verdanken, dem, daß wir vor allen Dingen eine geistige Nationalität wieder gewonnen haben, so muß ich doch gestehen, daß ich fern von der Illusion bin, die sich der ausgezeichnete Historiker, der die heutige Debatte eröffnet hat, zu machen scheint, wenn er glaubt, er könne mit diesem Mittel in jener Landschaft unmittelbar wirken, und auf die unmittelbare Wirkung kommt es jetzt dort an. Jene Länder sind uns aber gerade in der Zeit, in der wir unsere Entwickelung gemacht haben, abhanden ge­ kommen, sie haben sie nicht mitgemacht, und daran können wir also nicht anknüpfen. Das, m. H., was uns allein in Elsaß und Lothringen einen Halt gewährt, das ist nicht die — wiedergeborene deutsche Nationalität, — das ist das alte unvertilgte deutsche Stammesbewußtsein, und ich wundere mich, daß ein Historiker von Fach die Bedeutung des deutschen Stammesbewußtseins, des deutschen Partikularismus, wenn er so will, so sehr unterschätzen kann. Wenn wir auch in unserer historischen Bewegung auf den Einheitsstaat zu unserer inneren Ruhe und zu unserer Sicherheit nach Außen gedrängt sind, so täuschen Sie sich darüber sehr, wenn Sie glauben, wir könnten nun, weil wir ein Parlament haben und weil wir große Schlachten geschlagen haben, und weil wir nach unserer besten Ueberzeugung und nach unserem besten Wissen und Ge­ wissen für nothwendig halten, daß vor Allem die Armee in einer Hand vereinigt sein muß, — so täuschen Sie sich sehr, wenn Sie das deutsche Volk bereit glauben, nun in eine Art französischen Unitarismus hineinzustürzen. Wir wollen die StammesEigenthümlichkeit, soweit sie nicht im Widerspruch mit unserer Sicherheit und mit dem Frieden nach Außen steht anerkennen, und den einzelnen Ländern und Provinzen die Selbstständigkeit in ihrer Einrichtung und Verwaltung lassen, der sie sich unbeschadet der Sicherheit des Ganzen erfreuen können. Aber, m. H., wenn das auch nicht unser Prinzip wäre, und wenn wir auch nicht durch unsere ganze Geschichte darauf hingewiesen wären, heute haben wir keinen anderen Anhaltspunkt in Elsaß und Lothringen, um die Trennung von Frankreich zu befestigen und die Bevölkerung zu vermögen, für uns und mit uns zu wirken, als das Stammesbewußtsein. Ist es denn vielleicht das Studium der deutschen Philosophie und Literatur gewesen, das die Zähigkeit in den Elsässern und einem Theil von Lothringen Frankreich und den Französirungsversuchen gegenüber gefestigt hat? Nein, es ist nichts als die Stammeseigenthümlichkeit gewesen, die sich in ihnen Frankreich widersetzt hat, der Partikularismus, wenn Sie wollen, ist es ge­ wesen, und das Mittel, die Mitwirkung der Elsässer und Lothringer für unsere Aufgabe zu gewinnen, finden wir nicht in der Begeisterung für die moderne deutsche Nationalität, sondern wir finden es in dem Festhalten an ihrem Stammesbewußtsein, in dem, was man eben den Partikularismus nennt. Also daran muß man anknüpfen, wenn man einen Halt gegen Frankreich gewinnen will, und, m. H., um diesen Halt gegen fran­ zösische Agitationen handelt es sich doch gerade.

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Nun frage ich Sie, m. H., wenn wir die historische Entwicklung bei uns und in Elsaß und Lothringen sehen, — können Sie da hoffen, daß Sie mit der bloßen Idee der modernen deutschen Nationalität, mit der Idee des deutschen Staates, der ein so großer Staat sein soll, wie Frankreich gewesen ist, oder gar nur an der Hand der deutschen Bureaukratie — können Sie damit hoffen, diesen Anschluß wirklich zu machen, wenn Sie die Selbstthätigkeit dieses Volkes nicht mit in Anspruch nehmen? und können Sie hoffen, die.Selbstthätigkeit in irgend einer andern Weise hervorzurufen als dadurch, daß Sie sich an das Stammesbewußtsein wenden, das allein den Halt gegen Frankreich gewährt hat? — Ich habe es deshalb, ganz abgesehen von allen staatsrechtlichen Theorien, für einen weisen Akt der Regierung gehalten, den Anfang so zu machen, daß wir sie als Reichsland laffen, um ihnen damit das Gefühl zu geben, daß ihre Stammes­ eigenthümlichkeiten geachtet werden sollen, und daß es in Zukunft in ihre Hand gelegt sein wird, sich selbst einzurichten. Was wir nun aber dabei noch zu thun haben, m. H., das ist das, daß wir das unumgängliche Provisorium so kurz als möglich machen. Denn so lange die Gedanken in Elsaß-Lothringen noch damit beschäftigt sind, es kann bald, heute oder morgen, ein Umschwung kommen, so lange ist ja gar keine Hoffnung da, daß sie auch nur praktisch sich mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigen. Selbst die ersten ökonomischen Aufgaben, die sich ihnen für ihr Land stellen, werden nicht völlig erfüllt werden, so nothwendig sie auch für die Entwickelung des Landes sein mögen. Die Sicherheit wird aber erst in ihre Gemüther einziehen, und das Gefühl in ihnen eintreten: „die Sache ist jetzt abgemacht", wenn sie selbst an dem Neubau mit­ arbeiten. Nun sagen Sie, m. H., es sei so schwer und so sehr gefahrvoll, das Pro­ visorium zu verkürzen, weil die Gemüther noch nicht darauf eingerichtet seien. M. H., das ist eine psychologische Frage, da ist jeder gleich berechtigt; der größte Staatsmann ist darüber nicht besser unterrichtet, was in den Herzen der Menschen, und der Be­ völkerungen vorgeht, wie der gewöhnliche Beobachter. Ich von meiner Stelle sage Zhnen: niemals im Laufe der nächsten fünf, sechs, vielleicht noch mehr Jahre ist der Moment ein so günstiger, diese Verschmelzung vorzunehmen, sie zu uns zu rufen als jetzt, wo sie sich sagen bei allem Unglück, das über sie gekommen: „Gott sei Dank, daß wir nicht in die furchtbare Katastrophe von Paris mitverwickelt sind!" (S. w.!) — Nun, m. H., daß gerade in dem Augenblicke, wo diese Katastrophe in Paris vorgeht, das Band zerschnitten wird, das die ruhige arbeitsame, ihren Wohlstand und ihre Bildung pflegende Bevölkerung bisher an Frankreich gefesselt hat, das ist von der größten Wichtigkeit für die Stimmung der dortigen Bevölkerung. M. H. , ich bin gar nicht so sanguinisch, ich glaube nicht an die so schnell wechselnden Gesinnungen der Menschen, aber daran glaube ich, daß, wenn der Mensch aus einer großen Katastrophe hervorgeht, wie die Elsaßer und Lothringer jetzt daraus hervorgehen, sie in erster Linie ihre Interessen ins Auge fassen, und wir werden deshalb hier in erster Linie eine Interessenvertretung und nicht eine revolutionäre Propaganda haben. Was sollte ihnen auch die revolutionäre Propaganda hier helfen? Denn daß sie uns nicht dazu be­ stimmen, für sie eine Revolution zu machen, damit sie von uns wieder loskommen,- ist doch wohl selbstverständlich. Der revolutionäre Heerd wird in Paris bleiben, und sie werden dann mit uns sich wegen des Faktums beglückwünschen, daß mit dieser letzten Katastrophe in Paris und mit diesem ganzen Kriege der Zündfaden der von Paris durch Europa, durch alle Länder durchgelegt war und der in dem Augenblick, wo die Mine angesteckt wurde in Paris, seine Explosion in allen Ländern Europas machte, zerschnitten ist. Wir dürfen nicht fürchten, daß die Elsässer und Lothringer sich dieser Erkenntniß verschlossen haben, und wir, ich wiederhole es, haben ein gebieterisches Interesse, sie in dem Augenblick mit uns organisch zu verbinden, wo ihnen das Gefühl, von Pariser Katastrophen frei zu sein, so klar geworden ist, wie es nur eben werden kann. Später werden andere Erwägungen kommen, später werden die politischen Par­ teien sich wieder organisiren. Ganz natürlich, m. H., und ganz in der Ordnung! Ohne Parteien wird es eben nicht gehen, und da werden sich die alten Bekannten wieder finden und alte Erinnerungen werden wieder lebendig, und wenn sie dann erst zum

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erstem Male für uns wählen sollen, so stoßen wir dann vielleicht auf Schwierigkeiten, die, wenn wir den Akt früher hätten vollziehen lassen, nie vorgekommen wären. — Also machen Sie das Provisorium so kurz als möglich, besonders aber geben Sie ihnen die Möglichkeit, Vertreter in den Reichstag zu wählen, sobald es die VerwaltungsOrgamisation eben gestattet. Ich, wie gesagt, theile nicht die Besorgniß, daß wir es zu frrüh thun könnten. Ich habe die Ueberzeugung, heute oder im nächsten Jahre liegt es füir unsere Interessen, nicht blos für die Elsässer, sondern auch für unsere Interessen besser- und günstiger, als es in drei, vier, fünf, sechs Jahren liegen wird. So lange aber,, m. H., bis eine Generation ausgestorben ist, können Sie doch unmöglich warten wollen. — Der Herr Abg. Treitschke hat nun hier überhaupt den Reichstag in den Hintergrund zu drängen gesucht. Er hat davor gewarnt, daß wir mit der Beiheiligung des Parlaments der Autorität des Kaisers in Elsaß und Lothringen entgegentreten; und nur mittelst dieser monarchischen Autorität würde es möglich sein, den Boden dort für unseren Staat zu gewinnen. M. H., welche Stellung und welche Aufgabe er damit dem Kaiser zuweist, dem Schatten des Napoleonismus, des Gambetta und des Konvents Konkurrenz in den Gemüthern des Volkes zu machen, das ist seine Sache. Ich würde nicht «gewagt haben, diese Aufgabe dem Kaiser zu stellen. Was ich aber wage und was ich Ihnen als das Zweckmäßigste vorschlage, das ist der Gedanke: dieser Regier- und Revokutionswirthschaft den Rechtsstaat gegenüberzustellen, und den Elsaß-Lothringern zu sagen: „ihr tretet hier in einen Rechtsstaat ein und eure Vertreter sind vollberechtigt dabei." Wenn sie auch nicht Alles durchsetzen, was sie wünschen, so werden sie euch doch sagen können: in Deutschland kommt das Recht wenigstens zu Gehör, wenn es sich auch nicht immer durchsetzt. Aber offen und frei wird jede Klage und jede Rechts­ bedrückung dort verhandelt, und wir können unsere Klage dort wenigstens vor das Ohr der Nation bringen, wenn wir auch mit unseren Beamten nicht fertig werden können. — M. H-, lassen Sie doch nicht den Gedanken in diesen neuen Provinzen aufkommen: der Landrath ist nah und der Kaiser ist weit. Denken Sie doch nicht, daß Sie da einen dauernden Gewinn erzielen können durch die bloße Verwaltung. Ich erkenne mit dem Herrn Abg. Wagener vollständig an, daß man in dem deutschen Beamten einen glück­ lichen Konkurrenten gegen den französischen hat, aber immer bleibt er als ein Organ der Gewalt mit einem gewissen Mißtrauen behaftet, und, m. H., dieses Mißtrauen ist schwer zu überwinden. Ich beklage deshalb den Rathschlag, den man von verschiedenen Seiten, und den der Herr Abg. Treitschke noch besonders gemacht hat, dort lauter neue Beamte hinzubringen, nicht auf die Elsaß-Lothringer selbst sich zu stützen, sondern mit neuen Beamten einen neuen Geist hineinzuregieren. Mit den neuen Beamten werden Sie, m. H., keinen neuen Geist hineinregieren, ganz das Gegentheil werden Sie damit er­ reichen — ich kenne auch etwas von Elsaß und Lothringen. Ich mache Sie zuvörderst daraus aufmersam, daß die Elsaß-Lothringer gewiß nicht so sehr gesucht wären als Beamte in Frankreich, wenn sie nicht die Eigenschaften guter Beamten überhaupt hätten. Elsaß hat ganz vortreffliche Beamten gehabt, und wenn unsere Regierung in der ersten Einrichtung einen Fehler gemacht hat, ist es der, daß sie sich ausschließlich an die alten napoleonischen Maires und Friedensrichter gewandt hat, alles Leute, die von dem Na­ poleonismus nicht blos korrumpirt waren, sondern die das Korruptionsgeschäft für ihn besorgt haben. Sie hat sich an sie gewandt, weil sie vielleicht im Moment die gefügig­ sten waren, die vielleicht gerade das sagten, was man in dem Moment gerade hören wollte. Man hat z. B. eine Klasse von Beamten, soweit ich unterrichtet bin, sehr wenig benutzt, obgleich sie gerade zu den besten im Elsaß gehört, und ich glaube, die Folge davon, daß wir mit den Finanzbeamten im Elsaß und Lothringen so wenig gearbeitet haben, hat zum wesentlichen Nachtheil unserer Staatskasse gereicht. Ich glaube, daß der schlechtere Eingang der Staatssteuern, welche weit unter der vorausgesetzten Annahme zurückgeblieben sind, wesentlich seinen Grund darin gehabt, daß wir die alten Beamten nicht damit beschäftigt haben. In seiner Kritik des Reichstags muß ich dem Abg. Treitschke auf das Bestimmteste entgegentreten. Sie hat mich schwer verletzt diese Kritik, die er über unsere parlamentarische Thätigkeit am Schluß seiner Rede ausgesprochen hat;

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ich begreife seinen Irrthum nur dadurch, daß ich nur sage, er selbst hat an den Arbeiten wenig oder gar nicht Theil genommen. Hätte er sich unmittelbar daran betheiligt, hätte er auch nur die Mühen gesehen, die die einzelnen Mitglieder des Hauses in den ver­ schiedensten Arbeiten vollzogen haben, so würde es ihm nicht haben beikommen können, diese mißfällige Kritik auszusprechen. (S. w.! l.) Ich kann mit voller Aufrichtigkeit sagen, daß ich in den verschiedenen Parlamenten und in den verschiedensten Volksver­ tretungen, in denen ich gewesen bin, und die ich in den verschiedensten Ländern an Ort und Stelle habe arbeiten sehen, und zwar habe arbeiten sehen mit der Beobachtung eines im parlamentarischen Leben nicht unkundigen Menschen, niemals so viel Arbeit habe leisten sehen, als hier in diesem Hause geleistet ist, niemals mit so treuer Hin­ gebung und auf vielen Punkten so erfolgreich habe arbeiten sehen. Und, m. H., das werden die Elsässer, wenn sie hierher kommen, fremd wie sie sind, und mit den Bildern ihres französischen Parlamentarismus vor Augen, noch viel deutlicher, noch viel lebhafter empfinden, als ich. Gerade sie werden an unserer Arbeit erkennen, daß, wenn wir auch nicht einen Fortschritt von einem Jahrhundert gleich mit einem Federstrich als Diktatoren dekretiren können, doch diese treue, fleißige und mühsame Arbeit, die gerichtet ist auf den Fortschritt auf den verschiedensten Punkten, diese Arbeit, die nicht ermüdet und ermattet, weil nicht Alles sogleich gelingt und es nur langsam vorwärts geht, doch eine viel bessere Bürgschaft dafür gewährt, auf die Höhe einer wahrhaft großen Nation zu gelangen, als das gewaltsame revolutionäre und cäsaristische Verfahren, das sie bei sich in Frankreich als die einzige historische Entwickelung kennen gelernt haben. (Br.!) Präsident des Bundeskanzler-Amts Staatsminister Delbrück: Ich kann nicht unterlassen, eine thatsächliche Angabe des Herrn Vorredners zu berichtigen, und zwar deshalb, weil in der von ihm angeführten Thatsache, so wie er sie angeführt hat, ein Prinzip gefunden werden könnte. Der Herr Vorredner hat bemerkt, daß die provisorische Verwaltung in Elsaß-Lothringen sich nur an die Maires, die sie vorfand, gehalten habe, während sie die Kräfte der übrigen einheimischen Beamten, insbesondere der Finanz­ beamten, nicht benutzt habe. Die Thatsache ist richtig. Aber worin lag ihre Ursache? Die Maires waren die einzigen Beamten, im Großen und Ganzen gesprochen, die aus­ hielten, und zwar sehr zum Vortheil ihres Landes aushielten, mit ihnen mußte die neue Regierung verwalten und war glücklich, es zu können. Die übrigen Beamten, mit wenigen Ausnahmen, versagten ohne Weiteres den Dienst. Ich kann versichern, daß es der Verwaltung außerordentlich angenehm gewesen sein würde, wenn sie mit den französischen Steuerbeamten hätte sortregieren können. Aber die wollten nicht. Abg. Krüger: Pian wird amtlich möglicherweise vermuthen, daß ich unter dem Vorwande, für Elsaß und Lothringen zu sprechen, von Nordschleswig und dessen Be­ schwerde rede. Dies ist jedoch mein Plan nicht, Nordschleswig hat kürzlich bei Gelegen­ heit der letzten Wahlen so laut und vernehmlich für sich selber gesprochen, daß meine Worte nur den Eindruck dieser Willenskundgebung abschwächen würden. Bei der Fest­ stellung der Verfassung von Elsaß und Lothringen treten zwei Richtungen mit einander in Kampf. Die eine hält die Anwendung und den Sieg der Gewalt für hinreichend, um einem Lande und einer Bevölkerung ihre Stellung anzuweisen. Für sie ist der Triumph der Macht der stärkste Beweisgrund, und sie verlangt nach keinem bessern, in ihren Augen ist der Sieg der deutschen Waffen ein unwiderlegliches Argument, um einer Körperschaft, in welcher Elsaß-Lothringen keinen einzigen Vertreter zählt, die Ver­ fügung über die Zukunft dieser Lande zu gewähren. Die andere Richtung erkennt keine Abmachung als billig an, welche nicht aus dem Selbstbestimmungsrecht der Völker her­ vorgegangen. — Ich muß, was meine persönliche Stimmung betrifft, bemerken, daß ich freilich noch etwas höhere kenne als diese beiden Theorien, das ist die Treue für einen seit Jahrhunderten bewährten Staatszusammenhang, und für ein alt angestammtes Herrscherhaus, — die Treue, in welcher das echteste und edelste Selbstbestimmungsrecht' inbegriffen ist, und welche jeden Schicksalsschlag überdauert, die Treue, sage ich, welche durch Verträge weder bestätigt noch geraubt werden kann, weil sie älter ist als die wandelbaren Erzeugnisse der Diplomatie, — die Treue und Ausdauer, wie sie meinen

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Landsleuten dort eigen ist. Aber ich will hiervon absehen, damit man mich nicht be­ schuldige, Gefühlspolitik zu treiben, ich will die vorliegende Frage erörtern, wie sie praktisch sich gestaltet. — Vom praktischen Gesichtspunkte aus habe ich zweierlei zu erwägen: erstens, welche von den oben bezeichneten beiden Richtungen hat die größere Anzahl von Anhängern auf ihrer Seite, und demnach die größte Aussicht auf Geltendmachung? und zweitens, welche von den beiden Theorien bietet die stärkere Gewährleistung für die Er­ richtung dauernder und befriedigender Zustände? Also welche zählt mehr Anhänger? Da wird es in der heutigen Epoche der Civilisation und der Freiheit kaum einen einzigen Politiker geben, welcher nicht betheuern sollte, daß das Selbstbestimmungsrecht nach seiner Ansicht obenan stehe, und daß kein Gesetz, keine Verfassung gut sei, die nicht aus dem Selbstbestimmungsrechte hervorgegangen. Unsere Zeit nennt sich recht eigentlich die Aera der nationalen Selbstbestimmung; man führt sogar Kriege, um der Selbstbestim­ mung zum Durchbruch zu verhelfen. Man wird kaum eine Nummer irgend einer deut­ schen Zeitung aufschlagen, kaum die Rede irgend eines deutschen Volksrepräsentanten vernehmen können, ohne dem Bekenntnisse von der Heiligkeit der Selbstbestimmung zu begegnen. Auch unsere Nationalökonomie bis zur Organisation des untersten Gewerbes herab, bemht auf der Lehre von der Selbstbestimmung. Am 20. Dezember 1866 bei der Debatte des preußischen Abgeordnetenhauses über die Einverleibung der Herzogthümer Schleswig und Holstein in den preußischen Staat sagte der Fürst-Reichskanzler wörtlich: „Ich bin stets der Meinung gewesen, daß eine Bevölkerung, die wirklich in zweifellos und dauernd manifestirtem Willen nicht preußisch und nicht deutsch sein will, einem un­ mittelbar angrenzenden Nachbarstaate ihrer Nationalität angehören will, keine Stärkung der Macht bildet, von welcher sie sich zu trennen bestrebt ist." — Es ergiebt sich aus diesem Worte, wie nachdrücklich der Fürst-Reichskanzler selber in den Willen der Bevölke­ rungen die letzte entscheidende Instanz verlege, und wie sehr es dem Staatsmanne nur darauf ankomme, an dem Willen der Bevölkerungen keinen Zweifel bestehen zu lassen. Wenn ich somit eine solche Autorität auf meiner Seite habe, wenn überdies das allge­ meine politische Glaubensbekenntniß sich zur Annahme des Satzes von der Selbstbestim­ mung reißt, so wird man mir zugeben, daß ich der politischen Konsequenz nur die ihr gebührerde Ehre angedeihen lasse, indem ich den Reichstag bitte, den Bevölkerungen von Elsaß rnd Lothringen die Wohlthat jenes Grundsatzes nicht zu verkürzen. — Zweitens: Wo liest die Gewähr der Dauer eines politischen Zustandes? Offenbar doch nicht in der Anvendung oder Ausnutzung der Gewalt, sondern in der freien Verfügung der Völker. Wer sich auf die Gewalt beruft, muß stets darauf gefaßt sein, daß von der Gewalt an die Gewalt appellirt wird, er macht aus der hohen Wissenschaft der Diplo­ matie en Glücksspiel, wo die Völker, abgesehen von ihrem Widerwillen gegen jeglichen entwürdgenden Druck nur immer auf der Lauer liegen, um die neue Gewalt zu be­ grüßen, welche der alten ein Ende machen soll. Bei einer solchen Lage der Dinge kann keine Errichtung Wurzel schlagen, kein Vertrauen emporwachsen. Es empfiehlt sich also, dem Elstß und Lothringen die Entscheidung über sich selber anheimzustellen, ihnen die Souvercnetät übxr sich selber zu überlassen, damit sie etwas haben, woran sie festhalten, weil iHv nationale Ehre damit verknüpft ist. So wird man ihren Dank, ihre Liebe erwerben — Gestatten Sie mir noch zum Schluß ein warnendes und mahnendes Wort zu sagen Ich habe in meiner Heimath täglich die Gefahren, die Nachtheile, die Leiden eines zneifelhaften Zwischenzustandes vor Augen; die verhängnißvollen Folgen eines solchen Schwebezustandes verpflanzen sich an jeden Heerd, in jede Familie, in jedes Geschäft, in jeden Erwerb. Versetzen Sie die Bewohner von Elsaß und Lothringen nicht in eine Lage, bei welcher ihr Wille keine Stimme hat, Sie würden die Zukunft dieser Lmde, an denen sich der Krieg jetzt schon durch die Zerschneidung der angewur­ zelten Bziehungen, durch die Verstopfung der Kanäle des Erwerbes schwer gerächt hat, für immr untergraben, lassen Sie diesen Bevölkerungen nun wenigstens die einzige Stütze, an der sie sich aufrichten können, die des freien Willens, thun Sie dies in Treue für Ihre politischen Grundsätze, wo nicht, so erheben Sie den Zufall auf den Thrm.

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Abg. Dr. v. Niegolewski: M. H., nach der Geschäftsordnung § 17 ist bei der zweiten Berathung eine allgemeine Diskussion über die Grundsätze des Entwurfs nicht zulässig, und deshalb haben wir uns nach genommener Rücksprache mit dem Herrn Präsidenten dahin verständigt, daß wir uns, da wir eben über die allgemeinen Grund­ sätze des Entwurfs das Wort ergreifen wollen, erst bei der dritten Berathung an der Diskussion betheiligen. Da jedoch bei der zweiten Berathung auch abgestimmt wird, so erachte ich es doch für meine Pflicht, unsere Stellung dem Gesetze gegenüber vorläufig wenigstens zu kennzeichnen. Wir werden uns der Abstimmung enthalten. Unsere na­ tionale und politische Sonderstellung haben wir Polen schon in allen Repräsentativ­ versammlungen, an denen wir gegen unseren Willen und ungeachtet unserer Proteste die Ehre gehabt haben, Theil zu nehmen, den Vertretern des deutschen Volkes gegenüber immer aufrecht erhalten und behauptet. Ich will heute nur konstatiren, daß nunmehr auch Ihrerseits durch Ihre Motivirung der Annexion auf das historische Recht als auch auf das Nationalitätsprinzip, nicht nur unsere Sonderstellung im Hause anerkannt wor­ den, sondern daß konsequent Sie auch dadurch unsere unveräußerlichen Rechte auf Selbst­ ständigkeit anerkannt haben. Unsere Berechtigung dazu beruht auf denselben Rechten und Grundsätzen, denen der Abg. Treitschke mit beredten Worten heute Ausdruck ge­ geben hat. M. H., das, was Sie für Ihre Nation in Anspruch nehmen, müssen Sie auch uns Polen gegenüber anerkennen. Die Wärme, mit welcher heute von Ihnen und insbesondere von dem Herrn Abg. Treitschke dem historischen Rechte und dem Na­ tionalitätsprinzip Ausdruck gegeben worden ist, berechtigt mich sogar zu dem Ausspruche, daß es eine politische Blasphemie wäre, nur anzunehmen, Sie könnten im Stande sein, nationale Rechte, die Sie für sich in Anspruch nehmen, anderen Völkern gegenüber nicht anzuerkennen. Diese politische Blasphemie will ich nicht begehen, weil ich die National­ gefühle, welche Deutschland so hoch hält, beleidigen würde. § 1 wird gegen zwei Stimmen angenommen. Die Polen enthalten sich der Abstimmung.

Fortsetzung am 22. Mai. Es liegt vor der Antrag Duncker: Der Reichstag wolle beschließen: 1) Im ersten Alinea des § 2 anstatt der (von der Kommission vorgeschlagenen) Jahreszahl „1873" zu setzen: „1872." 2) Im zweiten Alinea des § 2 anstatt der Worte: „Durch Verordnung des Kaisers mit Zustimmung des Bundesraths" zu setzen: „durch Reichsgesetz." Referent Abg. Dr. Lamey begründet den Kommissionsantrag. Abg. Duncker: M. H., bei staatsrechtlichen Schöpfungen genügt es nicht, einen Gedanken und selbst einen richtigen Gedanken auszusprechen, es kommt hernach das Wesentlichste, die richtige Durchführung desselben, die Ausgestaltung desselben in alle Einzelheiten, und da ist nun von mehreren Seiten immer die Frage, der Ein­ wurf uns entgegen geworfen worden, was sei denn ein Reichsland und wie sei ein Reichsland zu behandelu. Noch in der Generaldiskussion hat der Herr Abg. Wagener diese Frage aufgeworfen, ich meine die Antwort geben ihm zum Theil schon die Motive, giebt der Gesetzentwurf selbst: ein Reichsland ist eben, wie die Motive des Gesetzent­ wurfs sagen, ein solches, wo die Staatshoheit nicht in dem Lande selbst ruht, sondern von Reichs wegen ausgeübt wird, und wo daher die Organe des Reichs bestimmen, in welcher Weise die Staatshoheit in dem Lande ausgeübt werden soll, wie wir das eben im Begriff sind durch das Gesetz für Elsaß-Lothringen festzustellen. Aber, m. H., darin haben die Herren ja ganz Recht, ein solches Reichsland kann ebenso verschieden konstruirt werden, wie man jedes andere Land verschieden einrichten kann, wir können ebenso gut ein despotisch-absolutistisch regiertes Reichsland vor uns haben, als so mancher einzelne Bundesstaat in unserem Vaterland noch absolutistisch oder feudalistisch regiert wird. Die Ausführung wird wesentlich davon abhängen, wie wir jetzt bestimmen, unter welchen Formen und Beschränkungen die Staatshoheit, welche im Reiche wohnt, nun in diesem Lande ausgeübt werden soll, in welchem wir ein gesundes und ein der übrigen

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deutschen Entwickelung entsprechendes Glied nur dann anfügen werden, wenn wir in unserer Gesetzgebung und in der Verfassung dieses Reichslandes so verfahren, daß wir einmal die freiheitliche, die selbstständige Entwickelung dieses Landes sicher stellen, und es sodann als ein vollständig gleichberechtigtes Glied gegenüber den anderen Bundes­ ländern behandeln. — M. H., der Streit, ob, wenn man das Reichs land in dieser Weise organisirt, man damit einen neuen Staat oder eine neue Provinz schafft, scheint mir in der That beinahe ein müßiger, uud wenn die Elsässer in ihren Forde­ rungen, die sie in der Versammlung zu Straßburg aufgestellt haben, in der Vorlage von der „Provinz" Elsaß-Lothringen gesprochen, nachher in der Diskussion aber das Wort Provinz in „Staat" verwandelt haben, so ist mir das begreiflich von dem Selbst­ gefühl jener Männer aus, aber für die sachliche Prüfung in unseren Debatten ist die Frage, glaube ich, wirklich eine gleichgültige. Denn, m. H., der Unterschied zwischen Staat, Provinz oder Bundesland in unseren Reichsverhältnissen ist wahrlich nicht ein sehr echeblicher. Wir nennen — aus einer gewissen Kourtoisie, möchte ich sagen — die eirgelnen Bundesstaaten noch Staaten, obschon sie doch Glieder eines größeren Ganzen sind und auf sehr wichtige Hoheitsrechte zu Gunsten dieses Ganzen verzichtet haben. Ein souveräner Staat ist eigentlich nicht zu denken ohne die Ausübung des wichtigsten Hoheitsrechtes über die Militärangelegenheiten und ohne die wichtigste Entscheidurg über Krieg und Frieden und, m. H., auf dieses wesentliche Attribut der Staats­ hoheit haben die sämmtlichen Staaten verzichtet, und selbst der Staat Preußen, der heut zu Tage nicht im Stande ist, für sich Krieg zu erklären, ist in diesem Sinne zu Gunsten des Reichs mediatisirt und nicht mehr als selbstständiger und souveräner Staat [u bezeichnen. Ich glaube also in der That, daß diese Streitfrage eine müßige ist, da kaum irgend jemand, der von einer selbstständigen Herstellung eines Staates Elsaß-Lthringen im Reichsverbande spricht, daran denken wird, einmal diesem Staate eine selbstständige Dynastie zu geben, noch viel weniger, ihm die selbstständige Entscheidun; über Krieg und Frieden oder gar die selbstständige Verfügung über seine Heeresnacht einzuräumen. Wenn dem aber so ist, m. H., dann glaube ich, haben wir auf der andern Seite um so mehr alle Veranlassung, die nach der Lage der Reichsverhältnsse mögliche Selbstständigkeit dieser neuen Landestheile zu gewähren, und ich gehöre lllerdings zu denjenigen — wie der Herr Abg. Treitschke, glaube ich, sich aus­ drückte — gutmüthigen Thoren, welche glauben, daß es durch die Werthhaltung, durch die Pflege dessen, was er als elsaß-lothringischen Partikularismus bezeichnete, gelingen werde, Ue Elsaß-Lothringer zu guten Deutschen zu machen. — M. H., wenn das meine Zielpunkte sind, also die möglichst selbstständige Stellung eines eigenen Reichslandes, und wem ich den Grundgedanken eines solchen als einen richtigen aeceptire, so kommt mir Allts darauf an, daß bei der Ausführung dieses Reichsland nicht zu einem Schein­ wesen lerabgebracht werde, daß wir unter dem Namen des Reichslandes, unter dem Namen einer selbstständigen Schöpfung, unter dem Namen einer gemeinsam zu verwaltendm Provinz, an der alle Reichsgewalten gleichberechtigten Antheil zu nehmen haben, m die Stelle einer solchen Schöpfung nicht ein Scheinwesen setzen, wo nur nicht den Namen, wohl aber der Sache nach eine Annexion an Preußen vollzogen wird, d. h. eire Verwaltung durch preußische Ministerien, was dann meiner Ansicht nach der schlimmse Zustand sein würde, weil dann die Frage, wen denn die eigentliche Verantwortlichbit für die dort vorgenommenen Maßregeln trifft, ganz in die Luft gestellt würde, und der Reichstag in keiner Weise die Mittel und die Macht haben würde, auf die Verwaltung dieser Lande den berechtigten Einfluß zu üben. Um das zu vermeiden, m. H., staube ich, daß wir die Frage, nach der sogenannten Diktatur d. h. nach dem­ jenigen, was nun innerhalb der sogenannten Uebergangszeit geschaffen werden soll, nicht scharf gemg ins Auge fassen können. M. H., in dieser Hinsicht möchte ich Sie bitten, genau zoischen zwei Diktaturen zu unterscheiden. Es handelt sich ja einmal darum, die Reiüsverfassung als solche in Elsaß-Lothringen einzuführen, ganz abgesehen davon, wie die lokalen Angelegenheiten von Elsaß-Lothringen geordnet werden. Auch dafür verlange: die Motive des Gesetzentwurfs eine gewisse Uebergangszeit und sagen, das Reichstgs-Nepertorium I.

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läge so auf der Hand, daß eine nähere Begründung, warum eine solche Uebergmgszeit sein müsse und wie lange sie zu dauern habe, eigentlich nicht nöthig sei. Ja, m. H., ich frage doch, warum hat denn die Regierung gerade den Zeitpunkt bis zum 1.Januar 1874 bemessen, und warum bemißt die Kommission für diese Diktatur den Aitpunkt bis zum 1. Januar 1873? Es sieht das so aus, m. H., als wenn, um die Reichs­ verfassung in Elsaß-Lothringen einzuführen, so gewaltig tief einschneidende Organsationen vorgenommen werden müßten, daß dafür also die Regierung einen großen Spelraum haben müsse, und daß die Bevölkerung in Elsaß-Lothringen gewissermaßen einen großen Zeitpunkt haben müsse, um sich in diese neuen Organisationen einzuleben. Wie lögt denn aber die Sache in der That? Haben wir denn nicht einmal in Deutschland ßlbst die in verschiedenster Weise organisirten Staaten von dem feudalen Mecklenburg ar bis zu dem konstitutionell vielleicht am weitesten entwickelten Baden? Sind sie nicht ale unter das gemeinsame Dach dieser Reichsverfassung eingefügt, manche in sehr schnellen Uebergange? Es beweist das doch also, daß für die Einführung und für das Jnwirfamkeittreten der Reichsverfassung in der That keine langen und schwierigen Vorbereitungen nöthig sind, und wenn Sie sich die Sache im Detail ansehen, so werden Sie das be­ stätigt finden. Es kann sich einmal nur handeln um Zoll und Handelsintereftn, und da hat uns der Herr Präsident des Bundeskanzler-Amts selber gesagt, er wünshe selbst Elsaß und Lothringen je eher je lieber in die deutsche Zolllinie einzufügen, und er wünsche die Freiheit der Entschließung für. die Bundesregierung nur deshalb, veil wir im Sommer wahrscheinlich nicht hier versammelt sein werden, wenn er diese Einshließung in die deutsche Zolllinie vornehmen wird. Wir haben dann ferner die Vorbereitungen, welche nothwendig sind, um eine Vertretung im deutschen Reichstage zu schaffe:. Nun, m. H., diese sind wahrlich sehr einfacher Natur — es kommt einmal darauf an, die Abgrenzung der Wahlbezirke vorzunehmen, es kommt sodann darauf an, daß mr durch eine Ergänzung der Verfassung die Zahl der Abgeordneten feststellen. M. H., ic) glaube die Statistik ist in jenen Provinzen so reich und gut entwickelt, daß zur Tornahme dieser Arbeiten der kürzeste Zeitraum nöthig wäre, und daß namentlich zur Tornahme einer Verfassungsänderung, wie viele Abgeordnete von Elsaß-Lothringen künftigdiesem Reichstage sitzen sollen, sehr gut trotz der vielen Geschäfte der heutigen Session in dieser doch dazu sehr leicht noch die Zeit sich finden würde. Ungefähr ist die Zahl jaschon be­ rechnet worden, es ist gesagt worden, es werden künftig ungefähr sechszehn Abgeordnete aus Elsaß-Lothringen im Reichstage zu sitzen haben. Der einzige Punkt, wo große Schwierig­ keiten vielleicht eintreten könnten, ist die Einführung der deutschen Wehrverfissung in Elsaß-Lothringen, und es ist ja ein gewisser berechtigter Standpunkt, daß mm sagen kann, ehe nicht diese Wehrverfassung eingeführt, ehe nicht unsere wesentlichsten Pflichten von den Elsaß-Lothringern übernommen werden, dürfe man an uns nicht die Zrrnuthung stellen, daß wir ihnen diejenigen Rechte, die sonst jedem deutschen Stamme zckommen, einräumen. Nun glaube ich aber auch, daß die meisten Abgeordneten in diesem hohen Hause und die Vertreter der verbündeten Regierungen in dieser Beziehung allerdings nicht auf die Wünsche der Elsaß-Lothringer eingehen werden und sollen, welch in Be­ ziehung auf die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht einen möglichst langen Ausstand gewährt haben wollen. — Nun, m. H., aber die zweite Art der Diktatur. E ist die­ jenige, welche wir in Ansehung der Landesangelegenheiten aussprechen sollen md welche meiner Ansicht nach auch fortbestehen wird, selbst wenn die Elsaß-Lothringe hier im Reichstag vertreten sind. In dieser Beziehung habe ich ja schon erst mein Einvrständniß mit dem Abg. Lasker konstatirt, und ich meine, daß es gerade im äußersten Interesse des Verschmelzungsprozesses ist, daß wir auch hier auf die Selbstständigkeit auf die Lostrennung der eigentlich elsässisch-lothringischen Angelegenheiten aus den Verhandlungen unseres Reichstags sobald als möglich Bedacht nehmen, auch selbst dann, venn die Elsaß-Lothringer schon in unserer Mitte sind. Denn, m. H., wenn dem nicht so wäre, in welche Stellung bringen Sie dann die sechszehn Männer hier? Sie werden mnn nicht das stolze Gefühl bekommen, was uns andere alle beseelt, und was uns die Zerfassung vorschreibt, daß jeder Einzelne von uns hier Vertreter der gestimmten deutschn Nation

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ist. Nun, wenn jene sechszehn Männer hier die einzigen aus Elsaß-Lothringen sind, die mit Sachkunde den Verhandlungen beiwohnen können, die über ihre speziellen elsässisch­ lothringischen Angelegenheiten hier gepflogen werden, so muß sich in ihnen das Gefühl festsetzen, daß sie lediglich hier sind als Provinzial-Vertreter, als Vertreter eines dem Reiche gewissermaßen nur noch fremd angehängten Organismus, während ich wünsche und will, daß sie durch die gemeinsame Arbeit mit uns und durch die Entlastung von jenen verbitternden und oft kränkenden spezifischen Verhandlungen über elsaß-lothringische Lokalangelegenheiten so bald als möglich auch hier sich fühlen, wie wir Andern alle, als Vertreter des gesammten deutschen Volks und nicht als Vertreter eines besonderen Volksstammes. M. H., ich habe in meinen Amendements diesem Gedanken, daß den Elsaß-Lothringern möglichst bald die Ordnung ihrer eigenen Angelegenheiten anvertraut werde, lediglich in einer Form Ausdruck gegeben, die sich wohl davor hütet, etwas zu versprechen, dessen Erfüllung man nicht unbedingt sicher ist. Ich habe daher den Punkt, wann wir eine Landesverfassung für Elsaß-Lothringen werden geben können, ausdrück­ lich in suspenso gelassen, ich habe es aber als das Ziel unserer Entwickelung hingestellt, — und das glaube ich, wird namentlich derartigen Ausstellungen gegenüber, wie wir sie hier von den Einheitsstaatlern gehört haben, um so nöthiger sein, in das Gesetz zu schreiben, um derartigen Beunruhigungen der Elsaß-Lothringer, daß man an ihre historisch berechtigte Individualität gewissermaßen tasten wolle, zu beseitigen; — ich habe mich wohl gehütet, einen bestimmten Zeitpunkt festzustellen, weil das ja allerdings von der Entwickelung abhängen wird, wann wir im Stande sein werden, zu erkennen, daß die Elsaß-Lothringer sich soweit mit uns eingelebt haben, daß sie in der Behandlung ihrer lokalen Angelegenheiten niemals antinationale und deutschfeindliche Tendenzen verfolgen werden. Zch sage, wir werden uns vorbehalten müssen, diesen Zeitpunkt zu erkennen, und werden ihnen dann eine solche Landesverfassung im Wege der Reichsgesetzgebung, und nachdem wir sie natürlich vorher gehört haben, geben können. Eine solche Landesverfassung wird dann um so entschiedener die freiheitlichen Rechte der Elsaß-Lothringer betonen können, je fester bei uns die Ueberzeugung gewurzelt ist, daß sie sich als ein gleichberechtigtes, aber zu uns gehören wollendes Glied betrachten, und das wiederum wird um so schneller geschehen können, je rascher sie die Abgeordneten dieses Landes in unsere Mitte berufen. — Um nun aber, m. H., in der sich allerdings auch nach meiner Ansicht ergebenden Zwischenzeit die Vorsorge zu treffen, daß den be­ rechtigten Forderungen von Elsaß-Lothringen Genüge geschähe, und daß die Gesetzgebung und die Verwaltung dieses Landes in einem Sinne geführt werde, der nach unseren Anscharungen dem deutsch-nationalen Interesse überall gerecht wird, meine ich, ist es unbedingt nöthig, daß wir für die Zwischenzeit, wo also auch die Landesgesetzgebung beim Reiche ruhen soll, uns die Zustimmung zu allen gesetzgeberischen Maßnahmen min­ destens vorbehalten. M. H., ich habe schon oben angedeutet, daß der große Gedanke eines Reichslandes wirklich und zum vollen Ausdrucke nur dann kommt, wenn auch die berechtigen Reichsgewalten sämmtlich an der Gestaltung, an dem Wachsen und Ge­ deihen dieses Landes den lebhaftesten Antheil nehmen, und daß nicht von vornherein der eim Faktor, welcher so recht eigentlich berufen ist, das Einheits- und Freiheitsgefüh) der deutschen Nation zu vertreten, daß nicht der Reichstag von vornherein auf seine Mtwirkung verzichte. — Aber, m. H., wenn man trotzdem auf den Standpunkt, den die Majorität Ihrer Kommission betreten hat, eingeht, wenn man soweit gehende Vollmahten der Bundesregierung überweisen will, dann meine ich, hätte nach meinem Gefühl die Kommission wenigstens mehr Gewicht legen müssen auf die thatsächliche Erörtenng der Verhältnisse, wie sie jetzt sind in Elsaß-Lothringen, und wie sie werden sollen ir Elsaß-Lothringen; sie hätte mehr Gewicht auf diese thatsächlichen praktischen Verhältnsse legen sollen, als auf die staatsrechtlichen Deduktionen, mit denen sie sich vorzugsveise beschäftigt hat, mit Deduktionen über die Stellung des Kaisers und des Bundesnths, Dinge, die für unsere neuen Staatsangehörigen in Elsaß-Lothringen sicher­ lich böhnische Dörfer sind. Wenn wir eine derartige weitgehende Vollmacht, wie das allseitig aneüannt wird, dem Kaiser und dem Bundesrathe übertragen wollen, m. H-, 27*

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ja dann, meine ich, ist es nothwendig, daß die Negierung doch wenigsten; in den allgemeinsten Umrissen ein Programm vorlegt, in welcher Richtung sie die Vawaltung und Gesetzgebung in diesem Lande handhaben will, m. H., und ein solches Programm ist allüberall noch zu vermissen; wir wissen nicht das Allermindeste davon, und die Aeußerungen des Herrn Präsidenten des Bundeskanzler-Amts hierüber beweger sich ge­ radezu in einem Zirkel, wie er sie hier in der neulichen Sitzung abgegeben hat, er sagt: hierüber sind noch keine Entschlüsse gefaßt, weil uns noch die gesetzliche Ernächtigung fehlt, die Sie durch dieses Gesetz eben uns geben sollen. Aber ich meine umgekehrt: gerade die Absichten, die Pläne der Regierung, sie können allein für uns da; Motiv abgeben, eine so weitgehende Vollmacht zu geben, oder auf der andern Seüe müssen wir sie, wenn uns dieses Programm nicht gefällt, oder wenn uns gar keins vorgelegt wird, und wenn wir außerdem Grund haben zu begründetem Mißtrauen, dam, meine ich, müssen wir rundweg eine solche absolute Vollmacht verweigern. M. H., in dieser Beziehung will ich über das, was beabsichtigt wird, nur auf einige wenige Punkte auf­ merksam machen. — M. H., einigermaßen beruhigende Zusicherungen hat uns der Herr Präsident gegeben in Ansehung der Besteuerung, aber eigentlich gar keine Auskunft in Ansehung dessen, wie sich das Bundeskanzler-Amt die künftige Gestaltung der Verwaltung denkt. Wir haben nicht gehört, ob die Verwaltung dort durch eine Centralbchörde ge­ leitet werden soll, oder ob sie von hier aus per Reskript und per Telegrapheudraht ge­ führt werden soll. Wir haben endlich nicht vernommen, in welcher Weise die wichtigen Angelegenheiten der Kirche und namentlich der Schule geordnet werden sollen, ob durch eine einheitliche Behörde, die dort im Lande sitzt, oder nur von hier aus durch die Räthe des Bundeskanzler-Amts. M. H., wenn das Letztere geschieht, daß diese Dinge nur durch die Räthe des Bundeskanzler-Amts erledigt werden — ja ich nteirie, das giebt zu den allerschwersten Besorgnissen Anlaß. Einmal vermissen wir bis heutzutage jegliche Organisation im Bundeskanzler-Amte für eine derartige besondere Landetzver­ waltung; wir vermissen die Organe, welche die Kirchen- und SchulangelegenheitM traktiren sollen, weil derartige Dinge dem Reiche bisher ganz fremd waren. Was wird also geschehen, m. H.? Man wird rekurriren auf die organisirten preußischen Mssortministerien, weil diese die Mittel und die Kenntnisse besitzen und die Beamten haben, die wenigstens die Routine einer derartigen Verwaltung haben. Aber, m. H., gerade das meine ich, ist der allerschlimmste Ausweg; denn dann wird eben hinten herum Elsaß-Lothringen vielleicht zu einer Domäne des preußischen Kultusministeriums gemacht, (oh! oh! r.) während dem Reichstage und der Bevölkerung des elsaß-lothringenschen Landes selbst jede Einwirkung und jede Direktive in diesen Dingen entzogen wird. Und in dieser Beziehung, meine ich, m. H., hätten wir nicht blos Grund, gewissermaßen theoretische Besorgnisse aufzustellen, sondern wir haben schon einige recht handgreif­ liche Thatsachen, welche uns beweisen, daß allerdings diese Angelegenheiten im Sinne des Kultusministeriums erledigt werden sollen, und durchaus nicht im Sinne von ElsaßLothringen. M. H., unter den von den elsaß-lothringenschen Delegirten zu Straßburg aufgestellten Wünschen finde ich unter Nr. 8 Folgendes: „Wir wünschen eine Organi­ sation des Sekundärunterrichts ohne eine Spur von Scheidung nach Konfessionen. Ernstliche Besorgnisse erhoben sich, seitdem die Normalschule nach den Bekenntnissen gespalten worden ist." Also, m. H., sind schon in ElsaßLothringen derartige Verwaltungsmaßregeln vorgekommen, welche den: Sinne, dem Geiste der Bevölkerung widersprechen, wie sie auch, glaube ich, den Anschauungen dieses hohen Hauses widersprechen werden. Es bestand nämlich, hierauf bezieht sich die obige Reso­ lution, in Straßburg ein Lehrer-Seminar gleichzeitig für Katholiken, Protestarten und Israeliten. Unter der preußischen Herrschaft ist dieses Schullehrer-Seminar unter der provisorischen Verwaltung gespalten worden, indem man das katholische in Straß­ burg belassen, das protestantische nach Colmar verlegt und die Israeliten merk­ würdiger Weise ganz vergessen hat, denn erst auf spätere Reklamationen soll für diese gesorgt worden sein. Es liegt mir ferner ein Schreiben vom 2. Dezember B7O von dem Civilkommissarius Kühlwetter an den Bischof von Straßburg vor, auf welches wahr-

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scheinllich in einer späteren Spezialdiskussion noch zurückgekommen werden wird, aus welchem hervongeht, daß der Herr Civilkommissar den Bischof auffordert, die Pfarrer in den einzelmen Orten zu veranlassen, daß sie an die Spitze der Lokalschul-Aufsichtskommissiomen treten und als diese Spitze vorzugsweise die Visitation der Schule übernehmen und die Berichte an die vorgesetzten Behörden verfassen möchten. M. H., wenn eine so wichtige Frage, welche Stellung der Ortsgeistliche innerhalb der Lokalschul-Aufsichtskommissiom einzunehmen hat, ob er nur einfaches Mitglied sei oder aber das bevorzug­ teste Glied der Kommission sein soll, so beiläufig in einem Schreiben an den Bischof erledigt wird und damit die Schule in einem großen Gebiete völlig der Kirche unter­ stellt wird, so ist das eine Thatsache, welche uns zur äußersten Vorsicht ermahnen sollte; (f. nx.!) denn ich bin allerdings der Ansicht des Abg. Windthorst, daß wir am Besten in Elffaß-Lothringen regieren werden, wenn wir uns so wenig als möglich in die kirch­ lichen Angelegenheiten mischen; aber auf der andern Seite darf das Reich sich sein Aufsichtsvecht über das Schulwesen in keiner Weise durch die Kirche verkümmern lassen, da hat in erster Stelle die Gemeinde die Aussicht zu führen, und in weiteren geordneten Instanzen bis hinauf zu uns ist die Aufsicht über diese weltlichen Angelegenheiten zu regeln. M. H., wenn das schon einzelne Dinge sind, wie sie schon thatsächlich vorgekominen sind, so meine ich, daß auch manches andere Vorkommniß im lieben deutschen Reiche uns doch zu einiger Vorsicht anspornen sollte. — Ich meine, wir haben Grund, sehr vorsichtig zu sein, und wir haben einfach die Frage zu erwägen, ob wir mit einem bekannten preußischen Staatsmanne die parlamentarischen Einrichtungen für einen Luxus halten, für den wir eine viel zu hoch gebildete Nation sind, oder ob wir die parlamenta­ rischen Institutionen für das nothwendige Lebenselement einer großen Nation anerkennen, ob wir die Ueberzeugung haben, daß der Parlamentarismus gerade die Grundbedingung ist, daß ihre Angelegenheiten in nationalem Sinne richtig geordnet und geleitet werden. Wenn Sie, wie ich das von einer so großen parlamentarischen Körperschaft nicht anders annehmen kann, diese Ueberzeugung haben, ja, m. H., dann weiß ich nicht, wie Sie dazu kommen können, Ihrer Mitwirkung, Ihrer Entscheidung in einer so wichtigen Lebens­ frage des deutschen Volkes von vornherein absagen zu wollen. — M. H., auch mir ist das „für immer" in dem ersten Paragraphen unseres Gesetzes ein kategorischer Im­ perativ, und ich glaube, daß die deutsche Nation unter allen Umständen und allen Ge­ fahren die Vereinigung mit Elsaß und Lothringen aufrecht erhalten wird; aber, m. H., das Wann, an welchem Zeitpunkte sich diese Verschmelzung vollzogen haben wird, und das Wie, ob diese Entwickelung auf friedlichem und freiheitlichem Wege vor sich geht, oder ob diese Entwickelung uns in neue Kriege und in neue Ströme von Blut hineinreißen soll, m. H., das wird sehr wesentlich davon abhängen, wie die Ver­ waltung und die Gesetzgebung in den neuen Landestheilen gehandhabt wird, und weil dem so ist, m. H., darum warne ich davor, Ihren berechtigten Antheil an dieser Gesetz­ gebung aus den Händen zu geben! (Br.! l.) Präsident des Bundeskanzler-Amts Staatsminister Delbrück: M. H., da meines Wissens nur der § 2 der Vorlage zur Diskussion steht, so werde ich mir erlauben, mich auf die Amendements zu beschränken, welche zu § 2 gestellt sind. Aus der Begrün­ dung des Herrn Vorredners habe ich eigentlich die Folgerung zu ziehen gehabt, daß er konsequenter Weise sein erstes Amendement dahin hätte stellen müssen: „die Verfassung des deutschen Reiches tritt in Elsaß und Lothringen sofort in Kraft." (S. r. r.) Das war konsequent, das war klar und thatsächlich durchaus nicht unausführbar. Denn daraus würde ja keineswegs folgen, daß nun am nächsten Tage Abgeordnete von ElsaßLothrirgen hier im Saale ihren Sitz einnehmen, die Wahlen aber würden sich rasch genug besorgen lassen; denn darin hat der Herr Vorredner ganz recht, statistisch ist man kinlänglich informirt über die nothwendigen Wahlbezirke. Das wäre klar und konsieqrent und hervorgegangen aus dem von ihm ausgesprochenen Gedanken, daß er den verbündeten Regierungen nicht das Vertrauen schenkt, welches nöthig ist, um ihnen die Wcllmacht zu ertheilen, die hier verlangt wird. Für meine Stellung hier würde das eine Amendement genau soviel sagen wie das andere. Der Gedanke, der der

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Vorlage zu Grunde liegt, ist der, die verbündeten Regierungen in die Lage zu setzen, die Organisation von Elsaß und Lothringen bis zu einem gewissen Umfange selbst­ ständig durchführen zu können. Dazu ist ein Termin, wie der 1. Januar 1872, viel zu kurz für Jeden, der sich vergegenwärtigt, welche Aufgaben dabei zu lösen sind. Ich rede hier nicht sowohl von einer großen Menge neuer organischer Gesetze, sondern eben nur von den Einrichtungen, die nöthig sind, um in den verschiedenen Zweigen der Verwaltung diejenigen Organisationen zu treffen, deren es bedarf. Für die Durch­ führung eines, solchen Planes reicht die Zeit bis zum 1. Januar 1872 im Entferntesten nicht aus. Ich habe formell kein Recht zu deduziren, daß auch der 1. Januar 1873 dafür zu kurz ist, es liegt ja kein Antrag vor. Was das zweite Amendement betrifft, was an sich von dem ersten unabhängig ist — es könnte angenommen werden, auch wenn das erste verworfen würde — so erlaube ich mir darauf aufmerksam zu machen, daß die theilweise Einführung der Reichsverfassung, wie auch von dem Herrn Vor­ redner thatsächlich erwähnt ist, ein wesentliches Interesse hat in Bezug auf die Mög­ lichkeit, die Zollgrenze zwischen Elsaß-Lothringen und Deutschland aufzuheben. Der Moment, wann dies eintreten wird — und es wird vermuthlich für den ganzen Tarif nicht an ein und demselben Tage eintreten — ist zur Zeit noch nicht zu bemessen, es ist deshalb, sofern man nicht entweder eine ganz unbestimmte Dauer des Reichstages in Aussicht nähme, oder eine an sich richtige Maßregel, die Herstellung des Verkehrs zwischen Elsaß-Lothringen und Deutschland unnötigerweise aufschieben will, ganz un­

erläßlich, einzelne Theile der Verfassung im Wege der Verordnung, wie es die Vorlage vorsieht, einzuführen. Ich könnte in dieser Beziehung noch auf andere Theile der Ver­ fassung, auf die Abschnitte über Post und Telegraphie Bezug nehmen, es würde das mit gleichem Recht geschehen können. Das Wichtigste und Eingreifendste ist die Frage der Herstellung des freien Verkehrs mit Elsaß-Lothringen. Aus diesen Gründen bitte ich Sie, beide Amendements abzulehnen. Nachdem Abg. v. Kleist für den Termin 1874, Abg. v. Kardorff fütf 1873 und Berichterstatter Dr. Lamey nochmals für den Zeitpunkt 1873 gesprochen, wird bei der Abstimmung der Antrag Duncker in beiden Theilen ab gelehnt. § 2 wird in der von der Kommission vorgeschlagenen Fassung mit sehr großer Mehrheit angenommen.' Zu § 3 liegen vor: 1. Antrag des Abg. Duncker: In tz 3 Alinea 2 hinter „BundeSrath" hinzu­ zufügen: „und des Reichstages" und zugleich folgendes neues Alinea einzuschalten: „Zn dringenden Fällen können jedoch, sofern der Reichstag nicht versammelt ist, Ver­ ordnungen vom Kaiser mit Gesetzeskraft erlassen werden. Dieselben sind aber dem Reichstage bei seinem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen und treten außer Wirksamkeit, falls der Reichstag diese nicht ertheilt." — In 8 3 Alinea 4 statt „Verfassung": „Reichsverfassung" und statt „bis zu anderweiter Regelung durch Reichsgesetz" zu setzen: „bis zur Feststellung einer Landesverfassung für Elsaß und Lothringen durch ein Reichsgesetz." 2. Antrag der Abgg. Freiherr Schenck v. Stauffenberg und Lasker: Der Reichstag wolle beschließen: § 3 Abs. 2 zu fassen: „Bis zum Eintritt der Wirk­ samkeit der Reichsverfassung ist der Kaiser bei Ausübung der Gesetzgebung an die Zu­ stimmung des Bundesraths und bei Gesetzen, welche Elsaß und Lothringen mit An­ leihen oder Uebernahme von Garantieen belasten, auch an die Zustimmung des Reichs­ tages gebunden." ' 3. Anttag des Abg. Reichensperger (Olpe) u. Gen. Der Reichstag wolle beschließen, in § 3 des Kommissions - Anttages den Absatz 4 zu streichen und statt des­ selben folgenden Zusatz-Paragraphen anzunehmen: „§ 3 a. Nach Einführung der Reichs­ verfassung in Elsaß und Lothringen wird das Recht der Landesgesetzgebung und Be­ steuerung in den der Reichs-Gesetzgebung nicht unterliegenden Angelegenheiten unter Mitwirkung einer Landesvertretung ausgeübt, welche auf Grund einer, unter Zustim­ mung des Reichstags festzustellenden Landesverfassung für Elsaß und Lothringen ge-

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wählt werden soll." — Event, nach Verwerfung dieses Antrags zu 8 3 der Kom­ missions-Anträge folgenden Zusatz anzunehmen; „Zn der ersten auf die Einführung der Reichsverfassung folgenden Session des Reichstages wird demselben der Entwurf einer Landesverfassung für Elsaß und Lothringen vorgelegt. Durch dieselbe wird ins­ besondere einer gewühlten Landesvertretung das Recht der Mitwirkung bei der Gesetz­ gebung und Besteuerung des Landes in den der Reichsgesetzgebung nicht unterliegenden Angelegenheiten übertragen werden." 4. Antrag des Abg. Dr. Wigard: Der Reichstag wolle beschließen: nach § 3 folgenden Paragraphen einzuschalten: „§ 4. Während der in § 3 vorgesehenen Über­ gangszeit bedarf es zur Erlassung von Gesetzen und allgemeinen Anordnungen des vor­ gängigen Gutachtens einer gewählten Landesvertretung. — Die Bildung der Landes­ vertretung erfolgt nach Maßgabe des § 3 entweder durch allgemeine Wahlen nach Ana­ logie des Reichswahlgesetzes oder in möglichstem Anschluß an die in Elsaß und Loth­ ringen bestehenden Kommunal-Vertretungen." (Dr. Hänel läßt den Satz weg: „entweder — oder".) Berichterstatter Abg. Dr. Lamey: M. H., es ist mir in der neulichen Diskussion die Bemerkung gemacht worden, daß der Bericht nicht mit vollständiger Klarheit das­ jenige entwickelt, was man sich unter dem vorliegenden Gesetzentwurf, beziehungsweise unter dem darin aufgestellten neuen Begriff eines sogenannten Reichslandes zu denken habe. Ich kann darauf nur bemerken, daß ein Berichterstatter in einen ziemlich engen Rock eingeschnürt ist und nicht alles dasjenige, was er etwa als unverfängliche Folgen seiner Anschauung entwickeln möchte, entwickeln kann. — Wir haben uns zu beschäf­ tigen mit der Konstituirung eines Landes, was als Ganzes noch gar nicht existirt hat und dieser Umstand macht es, daß unsere Meinungen auseinandergehen. Nun räume ich ein und hebe hervor, der Entwurf ist sehr elastisch und giebt Jedem etwas, den Union-sten, den Föderalisten und den Partikularisten, aber je nachdem Jeder sich etwas herausliest, findet er, daß in dem Entwurf nicht genug von dem Seinigen und zu viel von dem Anderen enthalten ist. Es ist aber doch von jedem etwas darin enthalten, die Herren haben nach allen Richtungen eine gewisse Befriedigung darin. — Zunächst müssen wir fragen, wem steht denn die Konstituirung dieses neuen Gebietes zu und da ist es unzweifelhaft, daß diese Konstituirung dem Reiche zusteht. Ich will da nicht streiter?, was das Reich ist, jedenfalls ist es der Kaiser, der Bundesrath und wir; ich will nicht streiten, ob diese Reichseinrichtung föderalistisch oder unionistisch ist, es ist hier genug, daß sie besteht, und daß die erste Konstituirung diesem Reiche zusteht. Nun tiefe Konstituirung nehmen wir zum Theil heute in dem vorliegenden Gesetz vor, zum Theil überlassen wir sie dem Reiche für eine spätere Zukunft und zwar ausdrück­ lich gleichfalls dem Reiche, denn Absatz 2 der Regierungsvorlage, jetzt glaube ich Absatz 4 des Kcmmissionsvorschlages, sagt ausdrücklich: bis zur anderweitigen Regelung durch Reichsgesetz. Diese anderweitige Regelung bezieht sich aber auf nichts an­ deres als auf eine anderweitige Konstituirung des Landes nach Aufhören der jetzt eintretenten Provisorien. In welche Formen bringen wir nun bei dieser Gelegenheit das Land? Nun, m. H., ich meine, die Herren Partikularisten können zufrieden sein, wir bringe; es in die Form eines eigenen Wesens, wir geben ihm die Reichsverfassung, indem wir sie ihm geben, geben wir sie ihm als einem eigenen, von jedem anderen Bundesgebiet gesonderten Land, als einer eigenen Individualität; wir geben ihm eine eigene Staatsgewalt, und zwar im Gegensatz zu allen anderen in deutschen Landen bestehenden Staatsgewalten als ein eigenes Ding, und es liegt ein Antrag vor, der am stcrksten betont, daß hier ein eigenes Wesen entstehen soll. Der Abg. Stauffen­ berg mmlich hat den Antrag gestellt, daß dieses Wesen Schulden machen darf. Wer aber Schulden machen darf, der muß eine eigene, gewissermaßen partikularistische Existenz besitzen, sonst leiht ihm Niemand etwas. (H.) Ich meine also, in soweit könnten die­ jenigen, die ein eigenes Wesen gebildet haben wollen, zufrieden sein, und sie können mehr ien Schmerz in der Seele derer suchen, die unionistisch gesinnt sind und wün­ schen, )aß diese eigenen Dinge verschwinden. Allein auch diese Unionisten werden be-

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friedigt, denn sowohl der Entwurf, als auch die Kommissions-Vorlage erklärt, der vor­

gefundenen Gegenstände gelöst werden, fließen nach Abzug des Portos und der sonstiger Kosten

zur Post-Armen- oder Unterstützungskasse.

Meldet sich der Absender oder der Adressat spiter, so

zahlt ihm die Post-Armen- oder Unterstützungskaffe die ihr zugeflossenen Summen, jedrch ohne

Zinsen, zurück. Rach gleichen Gundsätzen ist mit Beträgen, welche auf Postsendungen eingezahlt sird, und

mit zurückgelassenen Passagier-Effekten zu verfahren. § 27—52.

Straf- und allgemeine Bestimmungen.

Postwesen des Deutschen Reiches.

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Erste Berathung am 5. Mai.

Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor Stephan: M. H., ich erlaube mir den Entwurf des ersten deutschen Reichs-Postgesetzes mit einigen Worten einzuleiten. Es ist nicht eine mit dem Wesen der darin behandelten Materie in unmittelbarem Zu­ sammenhänge stehende innere Nothwendigkeit, die ihn zunächst hervorgerufen hat; es wäre ja das auch kein sehr günstiges Zeugniß gewesen für das Postgesetz, welches erst vor drei Zähren im norddeutschen Bunde unter Mitwirkung des norddeutschen Reichstags zu Stande gekommen ist, ein Gesetz, von welchem man im Gegentheil sagen kann, daß es sich in der Praxis trefflich bewährt hat. Der Anlaß ist mehr ein äußerer, der Gmnd ein mehr formaler. Es wird dadurch die große Bedeutung dieses Gesetzes keines­ wegs abgeschwächt. Dem Reiche steht verfassungsmäßig das Recht der Gesetzgebung in Beziehung auf das Postwesen zu, und es wird auch auf diejenigen süddeutschen Staaten, denen nach der Konstitution die selbstständige Verwaltung ihres Postwesens zusteht, diese Reichs-Gesetzgebung sich in wichtigen, ja in den wichtigsten Theilen erstrecken. Wenn also der vorliegende Entwurf lebendiges Recht geworden sein wird, so wird damit die deutsche Nation ein Gut erlangt haben, dessen Werth keineswegs zu unterschätzen ist, ein Gut, welches sie in keiner früheren Epoche ihrer Geschichte besessen hat: — ein all­ gemeines deutsches Postrecht. Denn, m. H., was bisher unter diesem Namen gegolten hat von den Mandaten des Wiener Reichs-Hofraths und den Patenten und Lehnbriefen der Kaiser Rudolph II. und Matthias an bis zu dem § 13 des Regensburger ReichsDeputationsabschlusses, der den Fortbestand der Thurn- und Taxisschen Lehnspost garantirte, und endlich bis zu dem unseligen Artikel 17 der Wiener Bundesakte: — das, m. H., war kein allgemeines Postrecht der deutschen Nation, wie mehrere StaatsrechtsLehrer und darunter sogar berühmte Namen, es nannten, sondern es war weit eher ein allgemeines Post unrecht der deutschen Nation, ja es war, wie der große Kurfürst in einer denkwürdigen Staatsschrift vom Jahre 1660 an den Kaiser in Wien es be­ zeichnet hat, es war „ein Unfug und ein unleidliches Vornehmen". Es ist gut, an diese Zeiten sich zu erinnern, um in ihrer ganzen Tragweite die großen Nachwirkungen zu erkennen, welche auch auf den nichtpolitischen Lebensgebieten Deutschlands die Er­ eignisse zurücklassen, die unsere Generation durchlebt! — Mit dem Recht der Gesetz­ gebung auf postalischem Gebiete fällt nun für das Reich im gegenwärtigen Moment die Pflicht zusammen, dieses Recht auszuüben. Wir haben es mit lebendigen Instituten zu thun, die in Wirksamkeit sich befinden, und die nach dem 1. Januar 1872 natürlich nicht ohne Rechtsbasis bleiben können. Dazu tritt der Umstand, der auf einem Zweck­ mäßigkeitsgrunde beruht, daß wir das nicht unbedeutende und durch eine sehr rührige und hoch intelligente Verwaltung zu großer Blüthe entfaltete Postwesen eines dritten süddeutschen Staates vom 1. Januar 1872 an in die Verwaltung des Reichs auf­ zunehmen haben. Es sind vorher noch bedeutende Abmachungen nöthig, und es ist wesentlich, dabei auf einem, wenn auch noch nicht in Kraft getretenen, doch auf einem gegebenen, promulgirten Gesetz fußen zu können. — Veränderungen haben wir geglaubt in dem bestehenden Gesetz des norddeutschen Bundes nur da vornehmen zu müssen, wo sie sich nach dem übereinstimmenden Urtheil der betheiligt gewesenen Sachverstän­ digen als wirkliche Verbesserungen darstellten. Man hätte ja noch in Beziehung auf die Redation dieses und jenes ändern können, das Gesetz vielleicht etwas stylvoller her­ stellen, mehr modelliren können; es sind auch in der Richtung bei den sehr eingehenden Berathungen Versuche im Bundesrathe gemacht worden. Indessen man ist doch nur mit großer Vorsicht herangegangen, weil sich wiederholt gezeigt hat, daß bei einer an­ scheinend blos sprachlichen und grammatischen Aenderung doch eine leise Verschiebung des unterliegenden Begriffs die Folge gewesen ist, und man ist deshalb zur ursprüng­ lichen Fassung zurückgekehrt. Alles in Allem genommen, glaube ich, m. H., daß dieses Gesetz eine der guten Erbschaften ist, welche das deutsche Reich vom norddeutschen Bunde macht, und welche es getrost ohne das beneficium inventarii antreten kann. Ich kann nach allen diesen Gesichtspunkten Ihnen das Gesetz nur zur Annahme empfehlen.

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Gesetzentwürfe.

Abg. Dr. Elben: M. H., der Erlaß eines allgemeinen deutschen Reichs-Postgesetzes kann nur mit der allgemeinsten Befriedigung ausgenommen werden. Ich möchte den großen Gesichtspunkten, mit welchen dasselbe soeben von dem Herrn Bundeskommissar eingeführt worden ist, das Eine nur beifügen, daß durch dieses Reichsgesetz das Post­ wesen Sache des Gesetzes wird in einzelnen deutschen Ländern, in welchen es bisher lediglich im Verordnungswege geregelt worden ist, und daß dieses Gesetz Kom­ petenzkonflikte zwischen der Volksvertretung und der Regierung in diesen Ländern, welche bisher über die Materie des Postwesens sowie auch über das verwandte Taxwesen be­ standen, mit einem Schlage beendigen wird. Ich glaube, man kann aber noch von einem anderen Standpunkte aus mit der größten Befriedigung diese Erbschaft des nord­ deutschen Bundes im deutschen Reiche begrüßen. Das Gesetz betritt nämlich die Bahn eines wesentlichen Fortschritts, indem es den § 1 des Gesetzes des norddeutschen Bundes vom 2. November 1867 weggelassen hat. Es hat damit die Bahn betreten, von der Starrheit des Monopols der Post, von dem Postzwange, abzugehen und einzulenken in die freien Bahnen des Verkehrs, welche überall im Verkehrsleben des deutschen Reichs sich eingebürgert haben. Bisher war das Fuhrgewerbe in seiner Anwendung auf die Personenbeförderung wesentlichen Beschränkungen unterworfen. Diese sind gefallen; es ist die freieste Bewegung der Personenbeförderung auch neben der Post her statuirt. Die Motive sagen ausdrücklich, daß dies geschehe im Interesse der Freiheit des Ver­ kehrs. Es legt sich hiermit die Frage sehr nahe, ob denn der Schritt nicht noch weiter gethan werden könne auf dieser Bahn der Freiheit des Verkehrs; denn das Gesetz hält in wesentlichen Beziehungen das Monopol der Post, den Postzwang, noch aufrecht mit einer Reche von Beschränkungen und Strafbestimmungen. Wir finden allerdings in den Moüven eine Erklärung dafür. Es wird dort ausgeführt, daß der Pflicht der Post auf Beförderung das Recht derselben auf ausschließliche Beförderung gegenüber­ stehe. — Soweit mir die früheren Verhandlungen des norddeutschen Reichstages und des preußischen Abgeordnetenhauses bekannt sind, besteht nun allerdings ein historischer Zusammenhang dieses Rechtes und dieser Pflicht der Post; aber ich glaube, dieser Zu­ sammenhang ist denn doch kein nothwendiger. Es bestehen ja auch sonst Anstalten des Staates im Interesse des Verkehrs, ich erinnere an die Staats-Eisenbahnen, und es ist Niemand eingefallen — es ist dies durch die Verfassungsbestimmung ausgeschlossen —, daß Staats-Eisenbahnen irgend welches Monopol zuertheilt werde. Die ganze Rich­ tung unserer Gesetzgebung im deutschen Reiche geht ja dahin, den Verkehr von allen Fesseln, namentlich von jeder Fessel eines Monopols zu befreien. Außer der Rücksicht auf die Freiheit des Verkehrs ist es ja eben der politische, hochwichtige Grund, welcher der Pflicht der Post, alle Zeitungen befördern zu müssen, zu Grunde liegt, und man kann diesem wichtigen politischen Grunde unmöglich ein Recht der Post auf Postznang gegenübersetzen. — Ich erlaube mir aber noch ein weiteres und zwar sehr allgemein wichtiges Moment Ihnen vorzuführen. Bei der Verhandlung über den Eintritt der süddeutschen Staaten in das deutsche Reich ist bekanntlich bei mehreren derselben das Kapitel vom Post- und Telegraphenwesen in der Hauptsache ausgeschlossen geblieben. Als Grund dafür wurde geltend gemacht, wie gerade in jenen Staaten in vielen Be­ ziehungen das Postwesen liberaler, freier organisirt sei, als in der bisherigen nord­ deutschen und durch den jetzigen Entwurf dem deutschen Reiche übergebenen Gesetzgebung. Es ist nun aber gewiß ein allgemeines Interesse, so bald als möglich dahin zu ge­ langen, daß auch das Postwesen für ganz Deutschland in jeder Beziehung ein einheit­ liches werde, daß man fortan mit den gleichen Werthzeichen durch ganz Deutschland die Briefe versenden können, und ein und dieselbe Verwaltung nicht blos mit der gleichen Gesetzgebung, sondern auch mit den gleichen reglementären Bestimmungen bestehe. — Ich spreche hier in keiner Weise für die Interessen meines Heimatlandes; denn es ist durch das Schlußprotokoll vom 25. November 1870 ausdrücklich festgesetzt, daß gesetz­ liche Vorrechte der Post in Württemberg nur mit Zustimmung der württembergffchen Regierung eingeführt werden dürfen, wenn die Vorrechte der Post weiter gehen, als die Post solche Vorrechte in Württemberg hat. Das trifft nun in dem vorliegenden

Postwesen des Deutschen Reiches.

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Falle, wenigstens zum wichtigsten Theile, zu; es werden allerdings einige bisherige Vorrechte durch das Gesetz beseitigt werden, wie die Versendung von Geld und von Pretiosen. Das ist aber offenbar das weit Untergeordnete im Verhältniß zu den poli­ tischen Zeitungen. Die Versendung der politischen Zeitungen unterliegt nun in Württem­ berg und Bayern keinerlei Postzwang, (h.! l.) und es wird die wüttembergische Regierung in keiner Weise gehindert sein, gestützt auf das Schlußprotokoll, nach wie vor die Ver­ sendung politischer Zeitungen im inneren Verkehr auch der Privatindustrie zu überlassen. Es ist somit kein württembergisches Interesse, das ich vertrete, sondern es ist das all­ gemeine deutsche Interesse, in welchem ich wünsche, daß die Möglichkeit geschaffen werde, das Postwesen zu einem einheitlichen zu gestalten. Das ist aber nur möglich, wenn das Reich dieselben liberalen Bestimmungen annimmt, welche in einzelnen Staaten ein­ geführt sind; denn .dann, wenn die gleichen liberalen Bestimmungen durch ganz Deutsch­ land gelten, wird es auch eine leichte Sache sein, äußerlich die Einheit des Postwesens herzustellen. (B.) Abg. vr. Seelig: M. H., ich habe zu den Worten meines verehrten Herrn Vorredners nur wenig hinzuzufügen, da ich im Ganzen genommen durchaus auf dem­ selben Standpunkte stehe. Ich fühle mit ihm ebenso lebhaft mich zum Danke ver­ pflichtet für die großen Vortheile, die wir durch das gemeinsame neue deutsche Postwesen erreicht haben; ich möchte aber auch ebenso wie er die wichtige Frage anregen, ob in dem Moment, wo es gilt, ein allgemeines deutsches Postgesetz zu gründen, in dem Moment, wo wir uns der Prüfung unterziehen müssen, wie es denn um ein allgemeines deutsches Postrecht beschaffen sein soll, ob in diesem Moment, meine ich, nicht die Pflicht an uns herantritt, daß wir die Frage nach Fortexistenz des Postmonopols doch etwas genauer erwägen, als es — wenigstens wenn ich nach den Motiven urtheilen soll, die uns mitgetheilt worden sind — geschehen sein möchte. Es versteht sich ja ganz von selber, daß Niemand die Nothwendigkeit in Abrede stellen will, welche ursprünglich vorlag, dieses Monopol einzuführen. Nur durch das Monopol war es möglich, die­ jenige Konzentration des Verkehrs herbeizuführen, die eintreten mußte, wenn man die dafür erforderlichen großen umfassenden Maßregeln und Einrichtungen ausführen wollte; aber in demselben Grade, wie sich diese Konzentration des Verkehrswesens gebildet hatte, wurde es auch möglich, von dem Monopol nachzulaffen. Die finanziellen Gründe, die dem entgegenstanden, sind jetzt, Gott sei Dank! entfernt, wenigstens soweit sie aus den entgegenstehenden Privatrechten hätten hergeleitet werden können. Wir freuen uns natür­ licherweise auch jetzt noch, wenn das Postwesen finanzielle Ueberschüsse liefert, aber wir betrachten das Erzielen von finanziellen Ueberschüssen doch nur als einen Gegenstand von sekundärer Wichtigkeit; primäre Wichtigkeit hat für uns die möglichste Förderung des Verkehrswesens, und ich will von meinem Standpunkt aus die möglichste Förde­ rung des freien Verkehrs betonen. — Wir waren in Schleswig-Holstein gewiß doppelt dankbar für die große Erleichterung, die uns der Anschluß an das deutsche Postweseu brachte. Wenn ich aber nun konstatire, daß selbst das dänische Postwesen, das keines­ wegs so wohlwollend gegen uns war, von dem Postmonopol einen eingeschränkteren Gebrauch machte, daß die Vereinigung mit der preußischen Post uns neue ZwangsMaßregeln brachte, so liegt die Frage nahe, sind diese Zwangs-Maßregeln in solchem Umfange jetzt noch nöthig? Wir hatten in Schleswig-Holstein wie in Dänemark keinen Postzwang für Zeitungen, der ist jetzt erst neuerdings eingeführt worden und ist eine große Belastung für unseren internen Verkehr; es muß also sich für uns die Frage erheben, kann das deutsche Postwesen einen solchen Zwang nicht entbehren? — Es ist vorher mit Recht betont worden, daß es gilt, ein Postrecht zu schaffen; ich bitte also um die Erlaubniß, noch einmal zu der Rechtsfrage mich zu wenden und Nachfrage zu erheben: steht denn ein solches Postmonopol mit dem lebendigen Rechtsbewußtsein des Volkes in Einklang? Wenn ein expresser Bote von einem Orte zum anderen geschickt wird, die Postverbindung mit einander haben, und dieser expresse Bote noch einen anderen Brief um Gotteswillen oder für eine kleine Entschädigung befördert und dafür bestraft wird, — steht denn solche Strafe mit dem Rechtsbewußtsein des Volkes in Einklang?

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Gesetzentwürfe.

Za, m. H., ich darf noch auf einen anderen Punkt aufmerksam machen. Wenn das Monopol aufgehoben wird, so wird eine gewisse Konkurrenz der Privatanstalten ein­ treten. Eine solche Konkurrenz halte ich aber nicht blos für das Publikum, sondern auch für das Postwesen in vieler Beziehung für sehr wohlthätig. Eine Staatsanstalt kann nicht experimentiren, darf nicht eine Maßregel ergreifen, die sie nachher zurück­ nehmen muß, weil sie verunglückt ist, wohl aber kann das ein Privatunternehmen. Ein Privatunternehmen wird auf dem Gebiete des Postwesens, wenn die Konkurrenz frei gemacht ist, das Terrain vorsichtig untersuchen, und wenn sich dann durch dieses Vor­ gehen des Privatunternehmens der Grund und Boden als stark genug bewiesen hat, dann kann die gewichtige Staatsmaschinerie auf diesem Boden folgen. Ich glaube also, daß die Konkurrenz des Privatunternehmens auf dem Gebiet des Postwesens der Post­ anstalt manche nützliche Fingerzeige und Lehren ertheilen kann. — Man wird mir natür­ licherweise sofort entgegnen, daß die Aufhebung des Monopols aus dem Grunde nicht möglich sei, weil die Post gegenwärtig eine Menge von kleineren Anstalten und Neben­ routen unterhalten muß, bei denen sie Schaden hat, und dieser Schaden müsse aus­ gewogen werden durch die Überschüsse, die die Hauptrouten ergeben. Also wir haben da eine Bilanz zwischen den Anstalten, die Gewinn bringen, und denen, die Schaden bringen. Nun wird natürlicherweise die Privatindustrie sich zunächst denjenigen Routen zuwenden, aus denen sie Vortheil zu ziehen hofft, und in einem gewissen Grade die Staatsindustrie beschränken; allein ich glaube nicht, daß das in erheblichem Grade der Fall sein wird. Die Staatsanstalt hat wegen ihrer sicheren und umfassenden Ver­ bindung doch noch immer so große Vortheile, die in der Sache selber, nicht im Privi­ legium liegen, voraus, daß sie meiner Meinung nach die Konkurrenz mit jeder Privat­ industrie ganz getrost aushalten kann, vorausgesetzt, daß die Staatsindustrie nüt der möglichsten Umsicht und Energie zu arbeiten fortfährt. — Es kommt nicht darauf an, blos den Anfang mit guten Einrichtungen zu machen, sondern es muß auch eben so umsichtig fortgefahren werden. Dafür aber haben wir hier wieder eine Bürgschaft in der daneben stehenden Konkurrenz der Privatanstalten. Ich meine also, es wird eine Bilanz aufzustellen sein zwischen denjenigen Lokal-Postanstalten und Routen, die gegen­ wärtig Schaden bringen, und denjenigen, die Vortheile bringen, und es wird nun eine Wahrscheinlichkeitsrechnung aufzustellen sein, wie etwa die Verhältnisse sich ändern würden, wenn dem Postzwange in einem gewissen Grade ein weiterer Einhalt geboten würde. Natürlicherweise wird eine solche statistische Uebersicht sich nicht damit begnügen können, blos generelle Ausstellnngen zu machen, sondern es werden bestimmte Klassen jener In­ stitute nach absoluten und relativen Zahlen aufgestellt werden müssen, damit man richtig vergleichen kann und für seinen Wahrscheinlichkeitskalkül eine richtige, statistische Unter­ lage hat. Abg. vr. Baehr: Zm Anschluß an die Anerkennung und den Dank, welcher der Postverwaltung für ihre Umsicht und energische Thätigkeit von verschiedenen Seiten dieses Hauses ausgesprochen ist, möchte ich hier einen Gedanken anregen, der viel­ leicht, wenn er ausführbar wäre, dazu dienen könnte, zu den Verdiensten der Post­ verwaltung noch ein neues kleines Verdienst hinzuzufügen. Es besteht vielfach das Bedürfniß, nicht allein Jemandem eine Mittheilung zu machen, sondern auch über diese Mittheilung, Anzeige, Kündigung rc. ein Beweismittel zu erhalten. Ich glaube nun, daß für diesen Zweck sich das neue Institut der Korrespondenzkarten brauch­ bar machen ließe. Ich denke mir die Sache so, daß der Absender der Korreftondenzkarte diese in doppelter Ausfertigung zur Post giebt, daß dann der Briefträger, wenn er dem Adressaten die Postkarte zustellt, die eine Ausfertigung von der anderen los­ trennt, die erste dem Adressaten in Händen läßt, auf der anderen aber sich durch die Namensunterschrift des Adressaten den Empfang bescheinigen läßt und diese drnn mit der schon darauf befindlichen Adresse an den Absender zurücksendet. Auf diese Weise würde der Absender ein Beweismittel der Zustellung an den Adressaten erhalten. Ich möchte daher diesen soeben von mir angeregten Gedanken dem Herrn General-Post­ direktor zur Erwägung anheimgeben und kann versichern, daß, wenn er als ausführbar sich erwiese, damit dem Rechtsverkehr eine große Wohlthat erwiesen würde.

Postwesen des Deutschen Reiches.

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Abg. Holder: M. H., ich wünsche Ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Punkkt zu lenken. Dieses Gesetz bringt uns in Süddeutschland einen gesetzlich geregelten Rechttszustand bezüglich der Benützung der Post, den wir bisher zu unserem Bedauern vermiißt haben. Der § 3 spricht den nach meiner Ansicht ungemein wichtigen Satz aus, daß „die Annahme und Beförderung von Briefen, sowie von politischen Zeitungen seitems der Post nicht verweigert werden darf." Aber, m. H., gerade weil ich auf diese Bestimmung einen so entscheidenden Werth lege, so möchte ich den Herrn Bundesbevolllmächtigten über folgenden Punkt um Auskunft ersuchen. Es geht aus dem Gesetzenttwurf, insbesondere aus dem § 50, der die Reglements in Aussicht nimmt, hervor, daß idie Post noch eine Reihe von anderen Gegenständen außer Briefen und politischen Zeitumgen in den Kreis ihres regelmäßigen Geschäftsganges zieht: die Beförderung von Packerten, von Kreuzband-Sendungen, von Personen u. s. s. Meine Frage geht nun dahini, warum nicht auch bezüglich dieser Beförderung ausdrücklich in dem Gesetz der Satz ausgesprochen und anerkannt ist, daß das Publikum ein Recht hat auf Benützung der Postanstalt, sobald den reglementsmäßigen Vorschriften entsprochen ist. M. H., es ist dües nicht blos eine theoretische Angelegenheit; man könnte vielleicht sagen, praktisch würine ja Niemand gehindert werden, auch in diesen Beziehungen die Postanstalt zu benützen. Aber wir haben eben entgegengesetzte Erfahrungen gemacht, vor Allem seiner Zeit mit den politischen Zeitungen. Sodann könnte es ja auch einmal einer Post­ behörde oder einer Regierung einfallen, die Beförderung einer Korrespondenzkarte oder einer Person zu verweigern, aus irgend welchen äußeren Gründen, die in keiner Weise gerechtfertigt wären. Man könnte einem Wahlkandidaten, der im letzten Augenblick noch tauf den Platz reisen will mit Extrapost, sagen: wir befördern dich nicht. M. H., noch Lis in die neueste Zeit sind bei uns wenigstens solche Mißstände bei einer ähn­ lichen Verkehrsanstalt, bei dem Telegraphenbetrieb, hervorgetreten. Da hat man bei Wahben — es ist nicht im letzten Jahre geschehen, aber früher — die Beförderung von Telegrammen verweigert, weil es nicht im Interesse der Regierung war, daß ein solches Telegramm rechtzeitig an die Adresse gelangte. (H.! h.! l.) Ich bin nach solchen Erfahirungen in diesen Dingen etwas mißtrauisch und würde es für sehr angemessen halten, daß wir die Gelegenheit benützten, um den möglichen Mißbräuchen eine gesetz­ liche Schranke zu setzen. Je nachdem die Antwort des Herrn Bundeskommissars aus­ fällt, dürste es sich vielleicht empfehlen, bei der zweiten Lesung den Gesetzentwurf in der amgedeuteten Weise zu ergänzen. Abg. Grumbrecht: Ich möchte dem Herrn Vorredner nur Eines erwidern — ohne der Erklärung von Seiten des Herrn Bundeskommissars vorzugreifen — daß nämlich die Pflicht der Post, Pallete, Kreuzband-Sendungen und dergleichen zu be­ fördern, nicht ausgesprochen ist, weil eben der Post auch nicht das Recht gewährt ist, diese Sachen allein zu befördern. Es steht das in einem gewissen Zusammenhänge, und es läßt sich im Allgemeinen nicht verkennen, daß, wenn man der Post nicht das Recht geben kann, derartige Sendungen ausschließlich vorzunehmen, man auch schwer die Pflicht der Post aussprechen kann, Packete und dergleichen zur Beförderung anzu­ nehmen, zumal die Grenze, bis zu welcher diese Verpflichtung sich erfüllen läßt, außer­ ordentlich schwer zu ziehen ist. — Ich gestehe gerne zu, daß das Recht der Post, aus­ schließlich politische Zeitungen zu befördern, kaum ausgesprochen zu werden braucht; ich glaube auch, daß daneben die Pflicht der Beförderung politischer Zeitungen ganz gut bestehen bleiben kann. Aber der Briefzwang, der eigentliche Briefzwang, scheint mir durchaus unentbehrlich, wenn man die Post wirklich als eine Staatsanstalt, nicht als ein Industrieunternehmen behandeln will. M. H., was würde sich ergeben, wenn man den Briefzwang aufhöbe? Es würden nothwendigerweise und ganz gewiß sich größere Gesellschaften bilden, die diese Postbeförderung in gewissen Kreisen übernähmen, wo sie erhebliche Einnahmen gewährt, z. B. innerhalb Berlins. Denn das ist ja das Resultat der Postverwaltung, daß eigentlich nur bestimmte Beförderungen einen erheblichen Ueberschuß liefern, und daß eine große Zahl von Beförderungen der Post mehr kosten, als sie einbringen. Unter diesen Umständen würde also der Post im Wesentlichen nur die-

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Gesetzentwürfe.

jenige Beförderung verbleiben, die ihr nichts einbringt, und die vortheilhaften Routen würde man'vielleicht in Verbindung mit Eisenbahn-Gesellschaften durch Privatgesell­ schaften ausbeuten lassen. Ich glaube, das darf man nicht; man darf nichts bestim­ men, was diesen Erfolg haben könnte. Abg. Dr. Becker: Ich glaube, daß das, was der Herr Vorredner zuletzt gesagt hat, nicht eine Begründung seiner Ansicht ist, daß die Post nothwendigerweise ein Monopol, ein Zwangsrecht ausüben müsse. Ich bin der Ansicht, daß die Post recht gut bestehen kann, auch wenn sie das Monopol für die Beförderung der Briefe und der politischen Zeitungen nicht mehr hat; ich bin überzeugt, daß der bei weitem größte Theil des Publikums sich auch dann noch der Post bedienen wird. Kommen aber Aus­ nahmen vor, so hat das Publikum eben seine besonderen Gründe dazu; das werden aber immer nur Ausnahmen sein, die dem Wesen und den Einnahmen der Post keinen Eintrag thun. Heben Sie das Monopol auf, so ist durchaus nicht zu befürchten, daß sich in so großer Menge Anstalten für Briefbeförderung bilden, daß die Existenz der Post irgendwie gefährdet würde. Im Allgemeinen wünsche ich, daß die Postverwaltung auf das Monopol verzichte; aber darum werde ich der Ausdehnung der bestehenden Postverwaltung auf das gesammte deutsche Reich doch nicht widersprechen. Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor Stephan: M. H., Ich möchte mir zuerst erlauben, dem Herr Abgeordneten, den ich mir gegenüber zu sehen die Ehre habe, zu bemerken, daß, was die Behauptung betrifft, es werde das Postwesen in den süd­ deutschen Staaten liberaler verwaltet als es bisher im norddeutschen Bunde geschehen sei, diese Behauptung doch weder in ihrer Allgemeinheit noch in ihrer Besonderheit zutrifft. Es dürste uns nicht geziemen, darüber in nähere Untersuchungen einzutreten. Es ist mir nur bekannt, daß jede deutsche Postverwaltung seit Jahren, und namentlich nachdem seit mit Begründung des deutschen Postvereins im Jahre 1850 eine frische und freie Strömung in das Postwesen Deutschlands gekommen war, sich bemüht hat, die Ziele, die der Post gesteckt sind, so viel wie möglich und in liberalem Sinne zu erreichen. Ich erkenne sehr gern an, daß in den süddeutschen Staaten einzelne Ein­ richtungen bestehen, die entschiedene Vorzüge haben gegenüber den Einrichtungen, die wir im Norden besitzen; es ist aber das auf der anderen Seite auch im Norden der Fall; und um darüber einen Vergleich anzustellen, müßte man eine sehr genaue Analysis anstellen. Ich glaube aber, m. H., daß es darauf überhaupt gar nicht mehr ankommen kann; wir nehmen vielmehr das Gute, wo wir es finden: das ist der Standpunkt ge­ wesen, den wir bei dem Gesetz innegehalten haben. Wenn wir damit aber nicht den Erwartungen des Herrn Abgeordneten aus dem 4. württembergischen Wahlkreise (Elben) entsprochen haben, so liegt das einfach darin, daß das Gute, was der Herr Abgeordnete wünscht bei diesem Punkte, in Württemberg allerdings nicht zu finden war. In dem Postgesetz-Entwurf, welcher uns vorliegt, ist nur die Postzwangs-Pflichtigkeit der Briefe und der politischen Zeitschriften in Anspruch genommen. In Württemberg sind da­ gegen nach der Eisenbahn-Transportordnung vom Jahre 1863 postzwangspflichtig: Briefe, Pretiosen aller Art, namentlich verarbeitetes und unverarbeitetes Gold, Silber, Platina, geschliffene und ungeschliffene Edelsteine, Perlen, goldene und silberne Uhren, Bijouterie- und Galanteriewaaren, insofern sie aus Gold und Silber verfertigt oder mit echten Edelsteinen oder Perlen besetzt sind, Gold- und Silberstoffe, echte goldene und silberne Borden, endlich Geld, mit Ausnahme baarer Geldsendungen und der Sendungen von verarbeitetem Gold und Silber, welche über 25 Pfund wiegen, beziehungsweise mindestens 1000 Gulden betragen und in Kisten oder Fässern verpackt sind. — Nun, m. H., frage ich, ob wir daraus das Gute entnehmen konnten? (H.) In Bayern ferner sind alle Brief- und Schriftsendungen ohne Werthangabe, sodann alle Drucksachen unter Band, mithin auch die so versandten politischen Zeitungen postzwangspflichtig, endlich die Aktenpackete und Postanweisungen. — Wenn ich mir die Postzwangs-Gesetzgebung anderer Länder ansehe, so finde ich, daß wir beim deutschen Postwesen darin am libe­ ralsten sind. Es besteht in England allerdings ein Postzwang nur für Briefe — ob nur für verschlossene, ist nicht gesagt — ferner für die Frachtbriefe. Ein Postzwang

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für politische Zeitungen besteht dort zwar nicht, es wird aber den Herren, die in dem hohen Hause sich befinden und die in England gewesen sind, gewiß bekannt sein, daß das allgemeine Verfahren dort sich so gestaltet, daß, wenn die Zeitung auf dem Stempelami gestempelt ist, sie dann frei geht auf der Post durch das ganze Land. Es ist das offenbar nichts Anderes, als ein faktisch indirekter Postzwang. — Zn Frank­ reich geht der Postzwang noch sehr viel weiter; er besteht dort nicht allein für offene Briefe, für Fakturen, für Rechnungen; jede Art schriftlicher Mittheilung, wenn Sie sie mit der Botenfrau auf das Land schicken, unterliegt dem Postzwange, und zwar bei 300 Francs Geldbuße. Das haben wir unter Anderem im Elsaß erfahren. Es be­ steht ferner in Frankreich der Postzwang für alle Zeitungen, für alle Drucksachen, selbst für jeden Theaterzettel. Außerdem besteht der Postzwang für alle Papiere und notariellen Akte bis zum Gewicht von 2 Pfund; er ist unendlich weiter ausgedehnt, als bei uns. — Zn Italien besteht der Postzwang für Briefe und Zeitungen. — Zn den vereinigten Staaten von Amerika besteht der Postzwang für Briefe — es ist nicht gesagt, ob nur für verschlossene; ausgenommen sind die Expreßbriefe, Frachtbriefe und Briefe, deren Beförderung unentgeltlich erfolgt. Nun hat Amerika allerdings nicht den Postzwang für politische Zeitungen; aber, wie gesagt, es steht diesem Zwange bei uns gegenüber der große Vortheil, der für die Zeitungsverleger und für die Zeitungsleser darin be­ steht, daß die Postverwaltung den Debit der politischen Zeitungen besorgt. Es ist hier nur immer von der Beförderung der Zeitungen die Rede. M. H., das ist eine Verwechselung: es handelt sich auch um den Vertrieb der Zeitungen, um das PostAbonnements geschäst, was der nationalen Presse zum größten Vortheil gereicht, der Post dagegen viel weniger; die Post hätte vielmehr alle Ursache, die Zeitungs­ abonnements abzuschaffen.' Zch glaube aber, daß es zur Zeit im ganzen Lande unan­ genehm empfunden werden würde, wenn die Post daran ginge, den Debit für die Zei­ tungen abzuschaffen. Was aber den Postzwang in Dänemark betrifft, so ist mir gestern aus Kopenhagen die neue Lov zugegangen über das Postwesen, und es heißt darin: Es besteht der Postzwang für versiegelte oder sonst verschlossene Briefe, Adreßbriefe, geschriebene oder sonst mit Schrift ausgefüllte gedruckte Sachen jeder Art und jedes Gewichts. Also jede einzelne Liste, die Sie offen schicken, und worin eine Rubrik mit Schrift ausgefüllt ist, muß auf die Post gegeben werden. Ferner bestimmt das dänische Gesetz den Postzwang für Werthpapiere und für gemünztes Geld in verschlossenem Um­ schläge. Das geht also auch viel weiter, als bei uns der Postzwang ausgedehnt ist. Dies Briefmonopal besteht, wie schon aus dem, was ich eben die Ehre gehabt habe mitzutheilen, hervorgeht, in sämmtlichen Ländern; und ich möchte mir erlauben dem Herrn Abg. Dr. Becker zu erwiedern, daß auf der Konferenz, die im Zahre 1863 in Paris stattfand, auf dem internationalen Postkongreß, auf welchem sämmtliche Staaten vertreten waren, nur ein einziger Abgeordneter sich gefunden hat, der für die Beseiti­ gung des Monopols der Briefe sich aussprach, das war der Abgeordnete der Sand­ wichsinseln; (H.) derselbe, der auch den Vorschlag machte, um Rowland Hill zu primiren, gar kein Porto mehr für Briefe zu nehmen. — Mit Reformtendenzen dieser Art, m. H., würden wir am Ende dahin gelangen, noch etwas hinzuzuzahlen, wenn uns Briefe zur Beförderung gebracht werden. — Es ist dann von Herrn Dr. Seelig geäußert worden, daß es der Postverwaltung gar nicht schaden würde, wenn eine freie Konkurrenz eintreten würde; der Herr Abgeordnete hat gemeint, wir würden eine Lehre daraus ziehen können. Za, m. H., uns würde die Konkurrenz ganz angenehm sein, aber wahrscheinlich nicht den Konkurrenten selber, wie sich aus den verschiedenen bis­ herigen total fehlgeschlagenen Versuchen, der Post Konkurrenz zu machen, zur Genüge ergeben hat. Wir haben aus diesen Konkurrenzversuchen allerdings eine Lehre gezogen, und zwar die, daß unser Packetporto keineswegs zu hoch ist, und daß, sowie man es niedriger setzt, man mit Nothwendigkeit in den Zustand der Liquidation geräth. — Das statistische Material, welches von einer Seite verlangt worden ist, wird die Postverrvaltung sehr gern liefern; ich muß aber bekennen, daß ich nicht recht habe folgen können, auf welche Punkte es sich eigentlich beziehen soll, und ich möchte daher zunächst

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Gesetzentwürfe.

den Herrn Abgeordneten für den Kreis Oldenburg ersuchen, mir seine Fragen zukom­ men zu lassen; ich werde mich dann bemühen, eine Berechnung aufstellen zu lassen; allerdings wird es aber kaum möglich sein, zu ermitteln, was eine einzelne Post ein­ bringt. Das geht schon deshalb nicht, weil die Post, die z. B. zwischen Memel und Tilsit fährt, auch Briefe befördert, die in Konstanz aufgegeben und frankirt sind. — Dann ist noch angeführt von dem geehrten Abgeordneten des 4. württembergischen Wahlbezirks, daß die Staats-Eisenbahnen ja keine Monopole besitzen. Za, m. H., wenn Niemand anders als die Post auf den Chausseen fahren könnte und dürfte, so würden wir auf das Monopol gerne Verzicht leisten. Ich möchte doch wissen, wer anders auf den Schienen der Ostbahn fahren und dort Personen und Sachen transportiren sollte, als die Verwaltung der Bahn selber; das ist faktisch ein Monopol, und darin liegt eben ein wesentlicher Unterschied. — Zch komme zu dem Wunsch des Herrn Dr. Baehr, eine Einrichtung hergestellt zu sehen, welche es ermöglicht, in gewissen Rechtsgeschäften eine authentische Quittung per Post zu erhalten, und zwar durch Duplikate von Kor­ respondenzkarten. Die Postverwaltung hat sich mit etwas Aehnlichem bereits beschäftigt, und ich bin dem geehrten Herrn Abgeordneten für Kassel sehr dankbar dafür, daß er die Angelegenheit hier zur Sprache gebracht hat. Ich glaube, die Sache wird sich einrichten lassen, wenn auch nicht mit Korrespondenzkarten, so doch mit einer Art von Behändigungsscheinen, wie sie ähnlich bei den Gerichtsbehörden und bei den Notaren zulässig sind, und es wird möglich sein, diese Einrichtung auf einen größeren Kreis des Publikums auszudehnen. Es ist dann von dem Herrn Abgeordneten für den 10. würt­ tembergischen Wahlkreis (Hölder) die Frage angeregt worden, ob es nicht angemessen sei, ein allgemeines Recht des Publikums auf Benutzung der Post auch für diejenigen Objekte, welche dem Postzwange nicht unterliegen, herzustellen. Der Herr Abgeordnete für Harburg (Grundrecht) hat darauf bereits im Wesentlichen die zutreffende Antwort gegeben, und ich möchte mir nur noch erlauben anzuführen, daß in dem jetzigen § 50 der Vorlage der Reichskanzler ermächtigt wird, die weiteren für die allgemeine Be­ nutzung der Posten zu Reisen und Versendungen formgebenden Bestimmungen zu treffen, und daß dies durch das Reglement geschieht, welches ja durch öffentliche Publikation in den geeigneten amtlichen Blättern bekannt gemacht wird. In diesem Reglement sind die Bestimmungen angegeben, unter welchen Jedermann die Post benutzen kann. Zch glaube, die Sache wird sich damit erledigen. Abg. Dr. Metz: Ein Umstand, der bis jetzt nicht angeregt wurde, veranlaßt mich zu einer kurzen Bemerkung. In § 11 des Postgesetzes wird fixirt, daß die Postverwal­ tung den Reisenden bei Beschädigung ihrer Person zu gewissem Ersatz verpflichtet sei. Es wird hierbei ein Unterschied gemacht dahin, daß der Reisende, der mit der ordent­ lichen Post fährt, die,nöthigen Kur- und Verpflegungskosten ersetzt bekommt, der Extrapost-Reisende dagegen auf keinerlei Ersatz Anspruch hat. Es ist mir nun in doppelter Beziehung diese Bestimmung nicht ganz erklärlich, und aus den Motiven kann ih dafür gar keinen Grund finden. — Ich meine, die Gesetzgebung solle doch im Allgemeinen, falls nicht durchschlagende Gründe für Abweichungen vorliegen, nach bestimmten und gleichmäßigen Grundsätzen verfahren. Mir sind wenigstens Gründe für derartige Un­ terscheidungen zwischen Post- und Eisenbahn-Reisenden nicht erkennbar. Ebenso finde ich im §15, bezüglich der Verjährung, sechs Monate als Verjährungsfrist fest­ gesetzt, während wir kürzlich zwei Jahre fixirt haben, ohne daß für eine Verjährungs­ zeit von 6 Monaten bei der Post und von 2 Jahren bei der Eisenbahn durchschlagende Gründe angegeben oder nur ersichtlich sind. Ich glaube, es würde vielleicht n dieser Beziehung eine Aufklärung geeignet sein. Bundesbevollmächtigter General-Postdireltor Stephan: M. H., der Unterschied, den der geehrte Herr Abg. Metz vermißt, ist doch vorhanden. Die Personenposten sind voll­ ständig unter der Autorität der Verwaltung eingerichtet und werden auf derer Rech­ nung betrieben; das Extrapost-Fahren ist mehr eine Art freier Vereinbarung zwischen dem Reisenden und dem Posthalter. Wenn auf die jüngste Gesetzesvorlage brtreffend die Unfälle auf Eisenbahnen Bezug genommen ist, so möchte ich mir doch erlauben,

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darauf aufmerksam zu machen, daß hier ein sehr wesentlicher Unterschied insofern ob­ waltet, als die Eisenbahnen auf der Strecke, die sie befahren, die Bahnpolizei ausüben unter öffentlicher Autorität, während die Postverwaltung auf den Chausseen nicht die Polizei ausübt. Endlich darf ich das noch hervorheben, daß wir es ja nicht mit einem Körper zu thun haben wie der Dampf, dessen physische Eigenschaften genau feststehen, und gegen dessen Explosionskraft wir blos die Wände des Dampfkessels zu verstärken oder die sonstigen Hilfsmittel anzuwenden brauchen, welche die Wissenschaft darbietet, sondern wir haben es, indem wir mit unseren Pferdeposten die Landstraßen befahren, ja mit lebendigen Wesen zu thun, für deren Eigenthümlichkeiten und Einfälle man doch unmöglich einstehen kann. Bundeskommissar Geheimer Ober-Postrath vr. Dambach: Ich wollte dem Herrn Abgeordneten nur in Bezug auf die Verjährungsfrist erwidern, daß die Bestimmung, wonach die Ansprüche gegen die Postverwaltung in sechs Monaten verjähren, bereits seit 1850 im deutschen Postverein und seit 1852 in Preußen besteht. Es sind niemals Klagen über diese sechsmonatliche Verjährungsfrist laut geworden und ist es für den posttechnischen Betrieb überdies sehr wünschenswerth, die Frist in dieser Beziehung nicht zu lang zu bemessen. Ich will aber noch auf einen wesentlichen Punkt aufmerksam machen. Das Gesetz sagt nicht etwa, daß nach Ablauf von sechs Monaten kein Ersatz mehr geleistet werden darf, sondern nur: der Anspruch erlischt nach Verlauf von sechs Monaten; und diesen Wortlaut des Gesetzes hat die Postverwaltung so aufgefaßt, daß sie ihrerseits berechtigt ist, auch nach Ablauf von 6 Monaten Ersatz zu leisten, wenn sich ergiebt, daß die Sendung wirklich auf der Post verloren gegangen ist; und ich kann konstatiren, daß die Postverwaltung in solchen Fällen, in denen auch selbst nach Ablauf von Zähren bestimmt ermittelt worden ist, daß die Sendung auf der Post verloren gegangen oder beschädigt ist, den Ersatz geleistet hat trotz des Ablaufs der sechsmonatlichen Frist. Die sechsmonatliche Frist hat eben nur ein Mittel sein sollen, um die Post gegen unbegründete Ansprüche nach Ablauf dieser Frist sicher zu stellen. Der Entwurf geht zur 2. Berathung ins Plenum. Zweite Berathung am 12. Mai.

Aus dem § 1, welcher den Postzwang für Briefe und alle Zeitungen po­ litischen Inhalts festsetzt, beantragt Abg. Elben die unterstrichenen Worte zu streichen und zugleich folgende Resolution anzunehmen: „Der Vertrieb der politischen Zeitungen im Wege des Postdebits, mit den die Freiheit der Preffe auch auf dem Gebiete der Staatspost schützenden Bestimmungen des § 3 des Gesetzes über das Post­ wesen des deutschen Reichs, erfüllt so sehr das berechtigte Kultur-Znteresse der raschen, sicheren und gleichmäßigen Verbreitung der deutschen Zeitungen durch das ganze Reich, daß auf der Beibehaltung des Debits durch die allein zu dessen genügender Besorgung befähigte Postanstalt zu beharren ist, selbst wenn der Nutzen der Post aus dem Zeitungs­ vertrieb ein unerheblicher würde." Zugleich beantragt Abg. Seelig, nur die „gewerbsmäßige" Beförderung von Briefen auf anderen Wegen, als durch die Post, zu verbieten.

Abg. vr. Elben: Ich halte es für wünschenswerth und für möglich, von dem Postzwange wenigstens zu Gunsten der politischen Zeitungen eine Ausnahme zu machen, weiter aber möchte ich nicht gehen. Zch würde nicht befürworten, auch bei Briesen von dem bestehenden Postmonopol für jetzt abzugehen. Eine zweite Ausnahme wird stattfinden können zu Gunsten des deutschen Buchhandels. Der Buchhandel befördert namentlich Wochenschriften in ziemlicher Anzahl auf seine Weise, und ebenso wird die Ausnahme vielleicht Platz greifen in der Versendung deutscher Zeitungen durch einen Theil Deutsch­ lands bis nach den Seeplätzen, von wo sie in größerer Anzahl nach überseeischen Län­ dern, namentlich nach Amerika gehen. Zch halte es für wünschenswerth, diese Ausnahnren zuzulassen, ich halte es aber auch vom Standpunkt der Post aus für möglich, NeichStags-Nepertorium I.

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denn die Ausnahmen werden jedenfalls im Verhältniß zum Ganzen nur von geringer Tragweite und deshalb von keinem zu bedeutenden finanziellen Einfluß sein. — Wenn man glauben wollte, es könnte der Antrag dazu führen, daß die Post überhaupt von dem Vertrieb der Zeitungen zurückträte, so möchte ich dem mit aller Entschiedenheit ent­ gegentreten. Ich habe schon in der allgemeinen Debatte darauf hingewiesen, daß aller­ dings die' früheren Verhandlungen im preußischen Abgeordnetenhause einen gewissen äußeren Zusammenhang von Recht und Pflicht der Post aufgewiesen haben, daß aber ein solcher Zusammenhang in keiner Weise ein nothwendiger ist. Wir müssen das Recht des Volkes auf den Vertrieb der Zeitungen durch die Post als ein wesentlich politisches Recht auffassen; die Reichspost ist verpflichtet, neben den übrigen Funktionen, in die sie eintritt, auch in die Funktion einzutreten, daß sie den Debit der deutschen Zeitungen besorgt. Es ist dies eine so vortreffliche Einrichtung, daß wir sie nicht missen wollen; sie findet sich anderwärts nirgends in derselben Vollkommenheit, wie in Deutschland: sie findet sich nicht in England, nicht in Frankreich. Es ist gewiß ein wesentliches Interesse, daß man zu demselben Preise überall im deutschen Reiche die deutschen Zeitungen pünktlich und rasch und sicher bekommen kann. Zch möchte darauf Hinweisen, wie wesentlich gerade in dieser Beziehung eine Einrichtung wie die geschil­ derte ist. Neben dem persönlichen Verkehr, neben den Kongressen, neben dem gemein­ schaftlichen Tagen in diesem Hause ist es wesentlich dem Umtriebe der deutschen Zeitun­ gen durch das ganze deutsche Reich zu danken, daß wir nach und nach immer näher einander kommen; es ist ein wesentliches Interesse, daß man in Süddeutschland nord­ deutsche, preußische Zeitungen liest, daß man hier in Berlin die Zeitungen der Provinz und die Zeitungen der süddeutschen Staaten liest und aus denselben sich über die Zu­ stände in jenen Ländern, in den Provinzen unterrichten kann; deshalb sage ich: es ist eine Pflicht der Reichspost, daß sie das Institut, welches bei ihr eingeführt ist, auch von diesem höheren Gesichtspunkte aus betrachte, beibehalte und nicht von demselben abgehe. Ich habe mir deshalb erlaubt, Ihnen eine Resolution in diesem Sinne vor­ zuschlagen, welche der etwaigen Meinung entgegentreten soll, als ob es im Belieben der Neichspost stünde, willkürlich von dem Vertriebe der deutschen Zeitungen zurückzutreten. Abg. Dr. Gerstner: M. H.I Es wäre allerdings sehr leicht und deshalb verlockend, alle Gründe, welche gegen das Postmonopol überhaupt sprechen, zu Gunsten des Antrages vor­ zuführen, allein ich will den bekannten Streit über die Zweckmäßigkeit des Pcstregals nicht anfachen, ich will sogar einräumen, daß das Postregal für den Briefverkehr sich bisher als ganz begründet und gerechtfertigt erwiesen hat. Wenn aber das richtig ist, so ist es ebenso gewiß, daß der Postzwang im Verkehr mit politischen Zeiturgen ein verfehltes Institut ist; denn Briefe und Zeitungen sind wesentlich verschiedene Dinge. Ich darf die Unterscheidungsmerkmale Ihnen nicht aufzählen, ich würde Ihrer Einsicht zu nahe treten; aber ich muß doch darauf Hinweisen, daß die Zeitung mehr als der Brief Gegenstand industriellen Unternehmens ist; der Brief hat vorherrschens einen unersetzlichen idealen Werth, der der öffentlichen Verwaltung vorzugsweise das Vertrauen im Briefverkehr sichert. Die Zeitung, sage ich, ist Gegenstand industriellen Unterrehmens, ist eine Waare und hat wie jede andere Waare auch ihren Preis; man hat cber von jeher kein Bedenken getragen, den Transport der Waaren der freien Konkurrenz voll­ ständig zu überlassen. — Ist schon, m. H., in diesem Unterschied ein Beweis gegen den Postzwang im Verkehr mit politischen Zeitungen gegeben, so sind es besonders praktische Erfahrungen, das praktische Bedürfniß des Verkehrs, welches gegen den im Entwurf begehrten Postzwang mit Zeitungen sich ausspricht. Zch muß zunächst auf de kleine, in der Wirkung aber sehr große Tagespresse kommen. Es erscheinen an vielen Orten Deutschlands kleine Blätter, die auf den Absatz im nächsten Umkreise argewiesen sind. Es ist der Postanstalt nicht möglich, ihre Einrichtungen so mannigfach zu ver­ zweigen und die Benutzung so häufig zu gestatten, als diese Tagesliteratur nothwendig hat; sie ist dadurch angewiesen auf ein Gebiet, in welchem die Post nur einnal des Tages expedirt, vielleicht noch seltener. Wenn die kleine Presse nun genöthigt ist, die Post zu benutzen, so kann sie ihre Erzeugnisse nicht so rasch verbreiten, als es geboten

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ist, um die nöthigen Abnehmer zu finden. — Es ist aber nicht blos der kleine, sondern auch der große Zeitungsverkehr durch den Postzwang in eine sehr lästige Fessel ge­ schlagen. Es ist ein kaufmännischer, ein agitatorischer Vertrieb, wenn ich so sagen darf, durchaus unmöglich. Die Kolportage, ein wesentliches Mittel, ein bedeutender Hebel zur Verbreitung der Zeitungen, ist fast ganz ausgeschlossen. Es ist gar nicht möglich, eine Berliner Zeitung in Potsdam zur Massenverbreitung zu bringen, wenn ich nicht ein Packet Zeitungm als Eilgut an einen Agenten dort schicken kann. Das ist aber eben durch den Postzwang ausgeschlossen. Es ist aber auch dieser Weg schon viel zu theuer, weil man nicht dem Agenten 12 bis 15 pCt. und der Post zugleich 25 pCt. nachlassen kann. Es ist einem betriebsamen Zeitungsunternehmer bei den bestehenden Einrichtungen nicht möglich, seine Thätigkeit zu entfalten; denn so viel ich weiß, verschließt ihm die Postverwaltung in Preußen sogar die Angabe der Abonnenten; er weiß also gar nicht, wer auf seine Zeitung bereits abonnirt ist oder nicht, weiß also nicht, mit wem er sich für neue Abonnements in Verbindung setzen soll. — Es führt der Postzwang endlich bei nahe gelegenen Städten und Orten geradezu zu Kuriositäterl. Wie unnatürlich ist ein solcher Postzwang z. B. zwischen den Städten Hamburg und Altona, Straßburg und Kehl, Regensburg und Stadt am Hof, Ulm und Neuulm rc.; dergleichen nahe gelegene und durch den Verkehr eng verbundene Städte giebt es noch Dutzende. — Ich mache aber noch auf einen anderen praktischen Gesichtspunkt aufmerksam. Wenn Sie den Postzwang zugeben, wie ihn der Entwurf fordert, dann wird die Privatindustrie, die Privatkonkurrenz, falls die Post einmal durch ein außergewöhnliches Ereigniß ge­ stört ist, nicht vorbereitet, nicht genug eingeübt sein, um entsprechende Aushülfe zu leisten. Das hat man im Jahre 1866, das hat man auch in dem letzten Jahre oft und zuweilen bitter empfunden; es war keine vorbereitete, gewissermaßen eingeschulte Privatkonkurrenz zu benutzen. — Noch ein anderer praktischer Gesichtspunkt ist der finanzielle. Man könnte sagen, daß durch die Aufhebung des Postzwanges dem Fiskus ein bedeutendes Erträgniß entginge. Es steht aber die Wahrheit in der Praxis und in der Theorie fest, daß der fiskalische Vortheil bei Beurtheilung der Aufgabe der Post nicht in erster Linie in Betracht kommen kann. Ich behaupte, daß der Ausfall nur ein ganz un­ bedeutender ist, er ist gewiß so gering, daß er durch die Vortheile der Verkehrsfreiheit weit überboten wird. — Ich glaube ferner, m. H., es gebietet auch eine gute Gesetz­ gebungspolitik, daß man nicht dem Verkehr einen Zwang auferlegt, der zu Gesetzes­ überschreitungen nöthigt. Der Postzwang, ausgedehnt auf die politischen Zeitungen in der Form, wie der Entwurf es verlangt, greift in ein Gebiet, in welchem er meines Erachtens'das Verkehrsbedürfniß nicht blos unerfüllt läßt, sondern geradezu mit dem Verkehrsbedürfnisse in Widerstreit geräth. Wenn aber das der Fall ist, so ist es be­ greiflich, ja natürlich, daß das Gesetz nicht beobachtet wird, nicht beobachtet werden kann; die Macht, der Verkehrsverhältnisse drängt förmlich zu Überschreitungen. Ich glaube endlich, m. H., auch nicht zu weit zu gehen, wenn ich sage, daß es nationale Erwägun­ gen sind, welche den Antrag unterstützen. Ich will mich nicht auf den speziell bayeri­ schen Standpunkt stellen, ich will nicht Bayern gegen das Reich Vottheile zu wahren suchen, im Gegentheil, ich möchte, daß die guten Einrichtungen, die sich bei uns be­ währt haben, dem ganzen Reiche zukommen sollen. Man hat in Bayern ein weit ver­ zweigtes Botenwesen, welches den Brief- und Zeitungsverkehr unterhält, auf mäßige Entfernungen nämlich, die sich von selbst durch die freie Konkurrenz bemessen und fest­ stellen. Warum will man uns nun durch das vorliegende Gesetz eine Einrichtung nehmen, die sich vollständig erprobt hat, bei der Staat und Publikum sich wohl befinden. Es ist ganz richtig, in der Handhabung der Verwaltung ist Preußen uns in vielen Stücken voran, nicht aber immer in den Grundsätzen der Verwaltung, das möchte ich meires Erachtens behaupten. Wir haben nämlich den Grundsatz: das Monopol geht so weit, bis es mit beii Interessen des Verkehrs, mit den Interessen der Wohlfahrt in Widerstreit geräth, dann hört es auf. Dieser Grundsatz, sollte ich doch glauben, wäre annehmbar, und auf diesen Grundsatz stützt sich auch der Antrag. Ich bitte Sie, m. H., nehmen Sie denselben an; ich bin überzeugt, daß Sie den Bedürfnissen des geistigen

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Verkehrs gerecht werden; Sie fördern damit auch die Volksbildung durch die Presse; ich bin überzeugt, daß Sie dadurch auch den Anforderungen einer guten Gesetzgebung entsprechen und ein besseres Gesetz schaffen, welches viel weniger Ueberschreitungen ver­ anlaßt. Za, ich möchte sagen, daß durch die Ausdehnung unserer Einrichtung auf das ganze Reich auch die Gemüther befriedigt werden, welche in der großen nationalen Einigung mit Recht beständigen Fortschritt und Besserung erwarten. (Br.!) Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, General - Postdirektor Stephan: Wenn ich mir den Antrag betrachte, der von Herrn Dr. Elben gestellt ist, so macht mir derselbe den Eindruck eines Zanuskopfes: er hat in seinen beiden ersten Theilen ein ganz junges Gesicht und in dem letzteren ein altes; mit dem einem sieht er in die Zukunft, mit dem andern in die Vergangenheit. Wenn ich mich ganz auf den Stand­ punkt des Antrags stellen will — man kann ja die Unparteilichkeit kaum weiter treiben — so sagt der erste Satz etwa, es soll der Zwang abgeschafft werden, es soll also eine freie Bewegung, ein Fortschritt erzielt werden; — und der zweite Satz will das Staatsgewerbe aufrecht halten; er sagt etwa, dieses ganz mittelalterliche Institut des Betriebes eines buchhändlerischen Geschäfts von Seiten des Staates und eines Kom­ missionswesens durch den Staat müsse jedenfalls aufrecht erhalten werden, ja er wickelt es noch in besonders warme Baumwolle der Anerkennung ein. Za, m. H., da steht die Sache doch so, daß hier im ersten Satz unter der harmlosen Form der Streichung von drei oder vier Worten das ganze Bollwerk, welches die Stellung der Postverrvaltung in dem Zeitungswesen befestigt, über den Haufen gerannt wird, während man uns in dem zweiten Satze sagt: die Position, die ihr hinter dem Bollwerk einnehmt, ist so heilsam für die gesammten Kulturinteressen, so wichtig für den Staat, daß ihr diese Position unter allen Umständen hallen müßt, und ihr seid solche Helden, daß ihr das auch ohne Bollwerk und ohne Waffen und Munition fertig bringen werdet. Za, m. H., die Postverwaltung kann für dieses unbegrenzte Vertrauen, welches ihr entgegenxtragen wird, gewiß nur sehr dankbar sein; aber Sie werden es doch andererseits arch sehr erklärlich finden, wenn wir über unsere eigenen Leistungen, über unser Könnm und Vermögen doch um sehr Vieles bescheidener denken; und da habe ich die Ehre, Ihnen zu sagen, daß wenn das hohe Haus die Frage, ob der Postzwang für Zeitunzen ab­ geschafft werden soll, aufnimmt, die Regierung sich den desfallsigen Erwägungm nicht entziehen wird, natürlich aber unter der ganz unaufgeblichen Bedingung, daß dam auch die Pflicht des Postdebits in Wegfall kommt. Denn wenn Sie auf der einer Seite verlangen, daß die Postverwaltung diese Pflicht erfüllen soll, dann müssen Sie ihr nothwendiger Weise auch ein selbstständiges Terrain anweisen, auf dem re ihre Operationen ausführen kann, Sie müssen ihr dazu die nöthige Ausstattung gelen, ein Allodium, damit sie wehr- und leistungsfähig bleiben kann; das ist aber nicht ter Fall, wenn der Postzwang wegfällt. — Von den Bemerkungen, die vorhin gemacht worden sind, ist eigentlich nur eine, die ich vielleicht näher zu widerlegen haben werde; in Betreff der übrigen würde es Weisheit in die Stoa tragen heißen, wenn ich sie hier erst widerlegen wollte. Es ist nämlich das bekannte Beispiel angeführt von HcmburgAltona, Nürnberg-Fürth- und wie die Zwillingsstädte sonst noch heißen, ein 3eispiel, das mit einigem Gewicht hier geltend gemacht worden ist. Za, m. H., diese Zwillinge werden bei jeder Gelegenheit aus den Windeln genommen und uns vorgehaltm, und ich zweifle nicht, daß es auch heute noch aus Veranlassung des Fischerschen Antrages geschehen wird. Es sind das exceptionelle Verhältnisse, auf welche ein allgemeines Gesetz nicht berechnet werden kann. Wenn zwischen Hamburg und Altona der Aitungsverkehr ein so reger ist — und ich meines Theils wünsche es ihm — so könrte dem jcr durch Expreßboten abgeholfen werden, welche von den Redaktionen entweder an die einzelnen Abonnenten, oder an Kommissionäre gesandt werden können, wenn die letzteren die Vertheilung so gut wie die Briefträger zu besorgen im Stande sind. - Das Zeitungswesen nimmt mit Recht so viel Interesse in Anspruch, daß ich mir erlauben darf auf die Sache etwas näher einzugehen. Ich habe hier den Zeitungs-PreLkourant der deutschen Reichs-Postverwaltung für das Zahr 1871; derselbe besteht aus 126 Seiten,

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die mit einer Engigkeit gedruckt sind, die den größten Sparsamkeitsanforderungen des Rechnungshofes genügen wird. Auf diesen 126 Seiten enthält der Preiskourant 3112 verschiedene Zeitungen in deutscher Sprache, ferner in französischer 625, in eng­ lischer 469, spanische 24, holländische 72, russische 55, norwegische 38, dänische 64, rumänische 30, portugiesische 36, italienische 128; ferner ungarische, slowakische, ruthenische, slovenische und selbst eine türkische Zeitung, im Ganzen 4800 Journale. Diese sämmt­ lichen Zeitungen, vorausgesetzt, daß sie Abonnenten finden, werden von den Postbeamten des deutschen Reiches durch alle Provinzen und Gebiete, so weit die deusche Zunge klingt, und auch so weit sie hinter der Warthe und der Eider und der Mosel nicht klingt, mit vollständigster Pünktlichkeit gewissenhaft besorgt. Es sind z. B. im vorigen Jahre gegen 200 Millionen einzelne Zeitungsexemplare auf diese Weise geschickt worden, und die Post hat davon einen Bezug gehabt — es Ist kein Grund, ein Geheimniß

davon zu machen, auch wenn es nicht in der Rechnung stände, weil gerade diese Zahl mir dazu dienen wird, weiter zu argumentiren — einen Bezug von 500,000 Thalern. Es ergiebt das aus die Zeitung noch nicht ganz einen Pfennig; dafür wird nicht allein die Beförderung nach allen Winkeln der Erde, sondern auch das Abonnement, die Geld­ abrechnung mit den Verlegern und die Bestellung besorgt. Die hier in Berlin unter­ haltene desfallsige Anstalt, das Zeitungskomtoir, zählt 136 Beamte und steht mit 2300 auswärtigen Postanstalten in direktem Verkehr, von Moskau bis Florenz, von New-Bork bis Christiania, von London bis Konstantinopel. Diese Anstalt allein, obwohl sie mit einer spartanischen Genauigkeit und Festigkeit verwaltet wird, erheischt jährlich einen Aufwand von nahe an 100,000 Thlrn., die aus den Zeitungseinnahmen be­ stritten werden müssen. Das ist eine Anstalt. Nun haben wir in Hamburg, Leipzig, Frankfurt a. M., Köln, Bremen, Breslau, Magdeburg, Stettin und den sonstigen Centren des literarischen Verkehrs ähnliche Anstalten, die Post-Zeitungsexpeditionen, welche ebenfalls sehr kostspielig sind. Wir müssen Agenturen unterhalten im Auslande, in New-Bork, Paris, London, Florenz und Rom; wir müssen des internationalen Zeitungsverkehrs wegen an den vorgeschobenen Grenzen Zeitungs-Grenzämter haben: in Köln für den Verkehr mit den westlichen Staaten, in Hamburg für den skandina­ vischen Verkehr, in Frankfurt a. M. für den Verkehr mit der Schweiz, in Leipzig für den Zeitungsaustausch mit Italien. Alles das bildet eine umfassende Organisation, die einen Aufwand von bedeutenden Mitteln erheischt, einen Aufwand, der kaum durch den Betrag, der sich durch die Zeitungsprovision ergiebt, ausgeglichen wird. In keinem Lande der Welt — bei weitem nicht, m. H. — ist für die nationale Presse in dieser Beziehung so viel geschehen wie gerade in Deutschland. Ich werde die Ehre haben, da ich einiges Interesse für den Gegenstand bei dem hohen Hause voraussetzen darf, dies noch etwas näher auszuführen. Nehmen wir beispielsweise einige Berliner Zeitungen an, so würde, wenn der in England gültige Satz z. B. Anwendung fände auf die „Volkszeitung" — ich will annehmen, es wäre eine Auflage von 10,000 Stücke­ ich nenne die wirkliche Zahl nicht, die ist bei weitem größer — so würde die Expedition dieser Zeitung 40,000 Thaler mehr an die Post zu zahlen haben, als sie jetzt zahlt; die „Nationalzeitung" bei derselben Auflage — ich nenne auch hier die wirkliche Zahl nicht — sogar 90,000 Thaler mehr, da sie zweimal täglich erscheint. Es zahlt die „Nationalzeitung" jetzt P/52 Pfennig an die Post für jedes Exemplar, die „Kölnische Zeitung" I V2 Pfennig, die „Deutsche allgemeine Zeitung" 1"/i3 Pfennig, die „Vossische Zeitung" 1V4 Pfennig mit ihrer ganzen Trainkolonne von Beilagen, (H.) die wir in alle Himmelsgegenden schicken müssen. Die „Neue Preußische Zeitung" zahlt uns den höchsten Satz, 2 Vs' Pfennig, die „Augsburger Allgemeine Zeitung" nur 165/ieo Pfennig pro Exemplar. Nun hat man in Frankreich einmal eine Berechnung aufgestellt, was der Post in der Gesammtheit des Betriebes ein einzelner Gegenstand überhaupt kostet; wir haben bei uns eine solche Berechnung nicht aufstellen können wegen der Ver­ mischung mit dem Fahrpostbetrieb. Die Franzosen, die in diesem Punkt gute Rechner sind, haben herausgefunden, daß ein jedes Exemplar und überhaupt jeder postalische Gegenstand im Durchschnitt 7 Centimes Betriebsausgaben verursacht. Wenn in Deutsch-

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land also die Zeitung praetor propter zu einem Pfennig befördert wird, so ist dcas ein Defizit von sechs Pfennigen, mit welchem die deutsche Post der französischen gegeenrber abschließen würde, und das unserer nationalen Presse zu Gute kommen. In Berlin allein werden von den erscheinenden 28 politischen Zeitungen 34 Millionen Exennpmre jährlich durch die Post versandt und von den 185 erscheinenden nicht politischen Zeitturgen 8 Millionen Exemplare. — Wenn man nun mit Obigem die Taxen vergleicht, die in anderen Ländern bestehen, so zeigt sich zunächst in Oesterreich, daß da ein PostLebitsVerfahren merkwürdiger Weise nur besteht für diejenigen Oesterreicher, welche cusländische Zeitungen lesen wollen, und für diejenigen Ausländer, welche österreichische Zeitungen lesen wollen; (H.) daß dagegen innerhalb Oesterreichs, wenn ein Oesterreicher österreichische Zeitungen lesen will, kein Postdebits-Verfahren besteht, — es nruß da pure ein Versenden unter Kreuzband stattfinden, wie für eine gewöhnliche Drucksache. Für dieses Verfahren läßt die österreichische Postverwaltung sich 2 Neukreuzer pro Exemplar bezahlen, das sind 4 Pfennige, und dabei hat sie nicht die Mühwaltung der Bestellung und der Besorgung des Abonnements. Nun hat sie zwar Zeitungsmarken eingerichtet und sagt: wenn der Redakteur die Zeitungen so verpackt, daß wir sie nicht an den einzelnen Adressaten zu besorgen haben, sondern an das Postamt des Be­ stimmungsortes, wenn er also zum Beispiel alle Zeitungen für Linz in ein Packet packt, so kann er Zeitungsmarken verwenden, und von diesen sollen hundert Stück für einen Gulden verkauft werden; da kommt also der Satz pro Exemplar auf 1 Neukreuzer zu stehen, mithin immer das Doppelte von dem, was im deutschen Postgebiet besteht. — Den Satz von circa 1 Pfennig finden wir in Dänemark, in Belgien und in der Schweiz. Zch mache aber darauf aufmerksam, daß es doch ein großer Unterschied ist, ob die Zeitungen innerhalb der Distancen solcher kleinen Gebiete befördert werden und ob eine Postanstalt vielleicht mit fünfzig anderen in Verkehr steht, oder ob wir ein großes Postgebiet haben und uns in einem Rayon befinden, wo wir mit Tausenden von Postanstalten in direkten Bestellungs- und Geldabrechnungs-Verkehr treten müssen. Es sind also diese Vergleichsmomente wesentlich mit zu berücksichtigen. — In Frankreich haben wir für jedes Exemplar der Zeitungen innerhalb des Departements 2 Centimes und außerhalb des Departements 4 Centimes. Zch will gleich einschalten und das dem Herrn Abgeordneten für Kiel erwidern, daß in Frankreich der Postzwang für Zeitungen ebenfalls besteht — er besteht auch für Kreuzband-Sendungen, mithin viel weiter gehend als bei uns. Jener Portosatz gilt nur für Zeitungen bis zu 40 Gramm; für jede weiteren 10 Gramm steigt der Satz um 1 Centime, so daß man schließlich zu einem Satz von 2, 3 Franken gelangt. Jetzt hat nun zwar die Kommune in Paris die voll­ ständige Taxfreiheit für die Zeitungen, welche innerhalb des Gebiets der Kommune cirkuliren, eingeführt; aber sie haben nichts von dieser Freiheit, da sie alle unterdrückt sind. (H.) Ich komme nun auf Italien. Da zahlt jede Zeitung bis zu 40 Gramm den sehr billigen Satz von 1 Centesimo; allerdings wird bei größerem Gewicht auch wieder ein Zuschlag erhoben und es findet kein Abonnement statt. Das Verfahren läßt sich also nicht auf gleichem Boden mit dem deutschen Usus stellen. — In den Ver­ einigten Staaten, wo ebenfalls Abonnements-Verfahren nicht besteht, kostet jede Zeitung 2 Pfennig, also das doppelte unseres Satzes; und gar in England hat die Zeitungs­ taxe bis zum vorigen. Jahre noch 1 Penny betragen, und erst in diesem Jahre ist der Satz auf V- Penny, also auf 5 Pfennig, heruntergesetzt worden. Wir haben eine Be­ rechnung aufgestellt: wenn wir die englischen Sätze bei uns hätten, und diese Sätze auf die 200 Millionen Exemplare von Zeitungen anwendeten, die wir befördern, so würde uns das eine Reineinnahme von 272 Millionen Thalern jährlich verschaffen; es wäre das gerade das Doppelte dessen, was die Post überhaupt als Gesammt - Rein­ einnahme bei uns jetzt aufbringt. (H.! H.!) Das sind die Opfer, die von der deutschen Post für die nationale Presse gebracht werden, und es ist sehr gut, m. H., wmn man sich einmal diese inneren deutschen Einrichtungen klar macht gegenüber dem, was man so oft vom Auslande als leuchtendes Vorbild hinzustellen geneigt war, und das beim näheren Zusehen sich doch als modriges Holz erweist! (S. w.!) Diese Leistungen

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würde die Post aber nicht erfüllen können, wenn sie nicht in dem Postzwange ein be­ stimmtes Vermögen besäße, das sie auf ihre Organisation verwenden kann; denn, m. H., Sie haben zwar bemerkt, wie ja nicht ausgeschlossen sei, daß die Post auch nach Abschaffung des Postzwanges benutzt werde für einzelne Zeitungen oder auch für die Mehrzahl der Zeitungen; Sie haben sogar gesagt, die Post sei in ihren Einrichtungen so schnell und so sicher, daß dies wahrscheinlich die Regel werden würde. Indessen, wenn wir ein Gesetz machen, wenn wir Einrichtungen treffen sollen, die Hunderttausende von Thalern kosten, welche auf Tausende von Beamten berechnet sind und weithintragend ihre Wirkung entfalten: dann müssen wir eine ganz positive Bestimmung haben, und dann können wir uns auf Möglichkeiten und selbst auf Wahrscheinlichkeiten, die ein­ treten würden, auf hypothetische Sätze und dergleichen unter keinen Umständen einlassen, vielmehr muß das, was unseren Mittelrückhalt bilden soll, mit ganz apodiktischer Be­ stimmtheit in das Gesetz hineingesetzt werden. — Ich glaube, bei den Meinungen gegen diesen Postzwang hängt auch Vieles, wie bei so manchem Vorurtheil im Leben, an der Form und an dem Wort. Das Wort Postzwang ist nun in die Gesetzgebung hinein­ gekommen zu einer Zeit, die sich nicht mehr genau ermitteln läßt, denn in den alten Gesetzen findet es sich nicht vor; da heißt es „Postpflicht" oder „Postpflichtigkeit". Der Ausdruck „Postzwang" mag bei irgend einer späteren Bearbeitung der Postgesetze durch einen Juristen hineingekommen sein, welchem der Zwang als der nothwendige Rückhalt des Gesetzesbegriffs vorschwebte. Es ist aber gerade in dem Falle, der uns hier be­ schäftigt, kein Postzwang, sondern weit eher eine Postgunst, ein Postvortheil, der den Zeitungen, und zwar in hohem Maße, zugewendet wird. Wenn aber die Juristen den Ausdruck Zwang nicht entbehren wollen — nun, m. H., so betrachten Sie die Einrichtung als — dies Wort hat ja seit Ludwig Börne das literarische Bürgerrecht bekommen — als einen süßen Zwang, der den Zeitungen angethan wird, (H.) oder setzen Sie das Wort, welches einem deutschen Ohre gewiß nicht unwillkommen klingt, daZ Wort Pflicht, und sehen Sie ab von allen kleinen Verhältnissen, von einzelnen Fällen in einzelnen Staaten und Bezirken; sehen Sie ab von diesen partikularen Interessen und übernehmen Sie willig jene Pflicht im Interesse des großen Ganzen, weil ohne sie das Institut, welches Sie ja selbst als so heilsam und unentbehrlich für die nationalen und Kulturinteressen erkennen, absolut nicht aufrecht zu erhalten ist. (Bravo!) Abg. Duncker: M. H., ich pflichte in vielen Punkten der lichtvollen Darstellung des Herrn General-Postdirektors bei und setze natürlich nicht den mindesten Zweifel in die von ihm angeführten Zahlen; nur in einem Punkte, glaube ich, habe ich ihn ent­ weder verhört, oder der Herr General-Postdirektor hat sich vielleicht vergriffen. Er hat gemeint, daß in den 500,000 Thalern, die für die Zeitungsspedition eingingen, auch die Bestellgebühren enthalten seien. So viel mir bekannt ist, wird in diese Summe nur der wirkliche Abonnementspreis eingerechnet, und es ist den Abonnenten überlassen, auf ihre Kosten und nach besonderer Vereinbarung mit der Post die Zeitungen sich von der Post abzuholen, und für die ländlichen Zeitungsempfänger tritt da die allgemeine Klage, die wir neulich über das Landbrief-Bestellgeld erhoben haben, noch in erhöhtem Maße in Wirksamkeit, da dies Bestellgeld für Zeitungen in den letzten Jahren, wenn ich nicht irre, verdoppelt worden ist. Wenn ich mir nun aber die Zahlen gerade, wie sie der Herr General-Postdirektor angeführt hat, vergegenwärtige, diese unendliche Billigkeit, für welche die Post diese große Last des Zeitungsverkehrs übernimmt, dann meine ich, hat der Herr General-Postdirektor gerade auf das Schlagendste unsere An­ träge befürwortet und auf das Schlagendste bewiesen, daß es einen derartigen Zwang in der That für die Aufrechthaltung dieses großartigen Verkehrs durchaus nicht bedarf; denn, m. H., welches Privatunternehmen wäre denn im Stande, auf diese Weise mit der Post zu konkurriren, die Blätter für einen Pfennig pro Stück bis in die entlegensten Theile des Reichs zu befördern? das ist eine Unmöglichkeit. Die Post würde, auch wenn wir diese Zwangspflicht streichen, einen so unendlichen Vortheil für das Publikum wie für die betreffenden Verleger haben, daß für die weitaus überwiegende Zahl der

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Fälle man sich auf keinen anderen Verkehr einlassen würde, als den, welhem das Debitsverfahren bei der Post bietet. Ich glaube also, eine Gefahr ist für die Prost in keiner Weise vorhanden. Und die zweite Gefahr, die immerhin darin liegt, einer ssolchen Zwang auszusprechen, ist die, daß den offieiellen Verkehrsanstalten doch in gewisser Weise dadurch der Sporn entzogen wird, sich immer auf der Höhe der Vollkommenheit zu erhalten, welche sie gegenwärtig allerdings einnehmen. Einmal im Jntlressse der Freiheit des Verkehrs, wie andererseits im Interesse der Vervollkomnumng mnserer Staatsanstalten, bitte ich Sie daher, für den Antrag Elben zu stimmen. Abg. Dr. Gerstner: Der Herr Bundeskommissar hat bemerkt, daß füir die nationale Presse durch die deutsche Postverwaltung auf das Beste gesorgt fei.. (Es ist aber doch dagegen richtig, daß in anderen Ländern in England und Franbeicch viel mehr Zeitungen gelesen werden, daß die Zeitungen dort viel weiter verbreitet sinld, als bei uns zu Lande, und daran ist zum großen Theile der Zwang schuld, der ietni Ver­ kehr mit politischen Zeitungen bei uns auferlegt ist. Es wurde erwidert, mcn könne sich durch Expreßboten helfen, um die Zeitung an entfernteren Orten zu nrbrreiten. Ja, m. H., das widerstreitet eben den ökonomischen Anforderungen eines Zeitrngswnternehmers. Nach § 2 würde es dem Unternehmer der Zeitung, dem Redakteur rviel zu theuer kommen, wenn er die Zeitung durch Erpreßboten vertheilen wollte. — Dann muß ich hervorheben, wie meine Bemerkung ganz übergangen wurde, daß in Bayern ebenfalls kein Postzwang bestünde, daß man in Bayern und Württemberg sich Sei dieser Einrichtung ganz wohl befände. Warum will man die erprobte Erfahrungm dieser Länder nicht dem ganzen Reiche zu Gute kommen lassen? Königlicher bayerischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister des Handels und der öffentlichen Arbeiten von Schlör: M. H., die wiederholten Bezugnahme cruf die Umstände des Postwesens in Bayern, insoweit es sich um den Debit von Zeitungen handelt, lassen es vielleicht gerechtfertigt erscheinen, wenn ich einige Worte hier mir zu sprechen erlaube. Der geehrte Herr Vorredner hat eben darauf hingewiesen, ob denn nicht durch die Einführung des Postzwanges bezüglich des Vertriebs von Zeitungen in Bayern Zustände hervorgerufen werden möchten, welche gegenüber dem bisherigen zu einer schlimmeren Lage des Publikums führen könnten, welche den Zeitungsvertrieb im Allgemeinen beschränkten und abschwächten. Sie begreifen, m. H., daß es die Vertreter der bayerischen Regierung als eine Pflicht erachten mußten, hier, wo es sich handelt um eine Ausdehnung des Postmonopols, mit besonderer Vorsicht zu Werke zu gehen, und ich kann dem Herrn Vorredner die Versicherung geben, daß ich aus der Ausdeh­ nung des Postzwangs auf die Zeüungsspedition eine Gefahr für Bayern nicht habe erwachsen sehen können. M. H., ich erlaube mir, zu unserer Rechtfertigung auch einige statistische Zahlen Ihnen vorzuführen. In Bayern bestand bisher der Postzwang für Zeitungen nicht; dessenungeachtet wurden im Jahre 1869, für welches mir Anhaltspunkte vorliegen, in Bayern im Ganzen 54 Millionen einzelne Exemplare von Zeitungen durch die Post versendet, während in dem sieben Mal größeren Postbezirke des norddeutschen Bundes nur 152 Millionen Zeitungsexemplare 1869 versendet wurden. Die Einnahme im norddeutschen Bund betrug in jenem Jahre für die Zeitungsspedition 500,000 Thlr., genau 497,000 Thlr., in Bayern 173,000 Gulden. Es stellt sich demnach der Kosten­ betrag für jedes einzelne Zeitungsexemplar im norddeutschen Bund auf V, Kreuzer süd­ deutsch oder 1 Pfennig, in Bayern auf etwa V5 Kreuzer, genau 0,19 Kreuzer süddeutsch. In Bayern bestand kein Monopol, aber auch keine Pflicht der Postverwaltung, die Zei­ tungen zu spediren; dessenungeachtet ist es in Bayern noch niemals vorgekommen, daß irgend einem politischen Blatte der Postdebit entzogen wurde, (h.! h.!) und die betreffende Anstalt hat, ich möchte beinahe sagen, mit einer bewundernswürdigen Naivität auch die­ jenigen Blätter unbeanstandet spedirt, die sich alle Tuge eine Aufgabe daraus machten, sie anzugreifen. (Lebh. Br.) Gerade aus diesen Ziffern werden Sie ersehen, daß die Zustände mit dem Monopol oder ohne das Monopol ziemlich gleichmäßig sich entwickelt haben, und wenn an dem Monopol dessenungeachtet festgehalten wird, so glaube ich, liegt die Berechtigung vollständig in dem Umstand: nur durch das Monopol ist es

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möglich, daß die Privatindustrie nicht einzelne Postrouten, die einen Ertrag versprechen, für ihre Interessen ausnützt, und die anderen, die keinen Ertrag versprechen, der Post­ anstalt überläßt. Lediglich in dem Monopol liegt die Garantie für die Postverwaltung, ihre Aufgaben nach allen Richtungen hin erfüllen zu können. Ich sehe nicht den vor­ nehmsten Schutz der Postverwaltung in dem Monopol, ich sehe den hauptsächlichsten Schutz in den Einrichtungen, die sie trifft, und wenn diese Einrichtungen so getroffen sind, daß eine Konkurrenz undenkbar ist, so wird sie unter allen Umständen die ihr zu­ gewiesenen Aufgaben erfüllen und nach allen Richtungen hin den Bedürfnissen des Ver­ kehrs gerecht werden. Ich glaube daher dem Herrn Vorredner die Zusicherung geben zu können, daß die Einführung des Zeitungsmonopols in Bayern der dortigen Ent­ wickelung des Zeitungswesens in keiner Weise in den Weg treten wird. Bundeskommiffar Geheimer Ober-Postrath vr. Dambach: Ich muß das hohe Haus bitten, das Amendement Seelig abzulehnen. Es ist ja wohl darüber kein Zweifel, daß das hohe Haus, sei es in weiterem, sei es in engerem Umfange, überhaupt den Postzwang aufrecht erhalten wird, jedenfalls unbedenklich in Bezug auf die Briefe. Es fragt sich nun also, ob alsdann in dieser Beziehung noch eine weitere Einschränkung dahin eintreten soll, daß nur die gewerbsmäßige Beförderung von Briefen verboten ist. Wenn Sie, m. H., überhaupt den Postzwang für Briefe aufrecht erhalten, dann glaube ich, ist es ganz gerechtfertigt, eine Ausnahme hiervon nur insoweit zu statuiren, als wirklich ein Bedürfniß des Publikums obwaltet. Ein solches Bedürfniß zu einer Ausnahme liegt vor, insofern Zeder durch einen Erpressen seine Briefe muß befördern lassen können, und dafür ist Vorsorge getroffen im § 2. Nun aber noch weiter zu gehen und zu sagen: jede Beförderung von Briefen ist erlaubt, sobald sie nur nicht gewerbs­ mäßig erfolgt, dazu liegt in der That gar kein Grund vor. Es kann gar keinen Unter­ schied machen, ob Jemand, der sich überhaupt Bezahlung für die Beförderung eines Briefes geben läßt, dies zweimal oder dreimal thut, öder ob er es zehnmal oder zwölf­ mal thut. — Mit der Annahme dieses Amendements bringen Sie aber auch die Praxis in die größten Schwierigkeiten. Was heißt überhaupt eine „gewerbsmäßige Be­ förderung" von Briefen? Sie kommen damit in dieselbe Kasuistik hinein, die man in anderen Gesetzen durch ein solches Wort hervorgerufen hat, und der Herr Antrag­ steller hat selbst gesagt, daß ihm schon entgegnet sei, es müßte eine Definition der Gewerbsmäßigkeit geschaffen werden. — Wie soll denn die Post in dem einzelnen Falle konstatiren können, ob der Betreffende die Briefe gewerbsmäßig befördert oder nicht? Die Post, wenn sie einmal einen solchen Mann mit einem Briefe oder mit zweien be­ trifft, kann doch nicht konstatiren, ob dieser Mann die Beförderung der Briefe gewerbs­ mäßig, d. h. in vielen Fällen, oder aber nur in dem einen, in dem er betroffen ist, vorgewmmen hat. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor Stephan: M.H., ich muß mir erlauben, Sie zu bitten, noch einige Worte in Beziehung auf den Zeitungs­ zwang anzuhören. Es ist vorhin behauptet worden, — und ich lege einen großen Werth darauf, dieser Behauptung mit aller Entschiedenheit entgegenzutreten —, daß die Post die Verpflichtung habe, für alle Interessen des geistigen Verkehrs zu sorgen. Abgesehen von dem sehr Vagen des Begriffs — ich will denselben nicht erst seziren —, daß die Post „für alle Interessen des geistigen Verkehrs" die Sorge übernehmen soll, (H.) möchte ich nur, auf das Eine mich beschränkend, speziell betonen, daß eine Ver­ pflichtung, den Zeitungsdebit und die Abonnements zu besorgen, für die Post in keiner Weise obwaltet, außer sofern dies im Zusammenhang steht mit dem im Gesetze ausgesprochenen Postzwange. Der Zeitungs-Postdebit hat sich, wie bekannt, in Deutsch­ land hstorisch gebildet aus dem Anfang des sechszehnten Jahrhunderts, da die Post­ meister damals diejenigen waren, welche die ersten Zeitungen und Nachrichtblätter schrieben und zryleich den Vertrieb besorgten. Die deutsche Post hat damals schon die Presse geförde^, im Kulturinteresse gewirkt; sie hat z. B. die Flugschriften von Luther und von Hrtten in einer Zeit verbreitet, wo Kardinal Wolsey in England und Kardinal Richelim in Frankreich die Post noch als ein förmliches reines Polizeiinstitut ansahen

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und handhabten. Die deutsche Post wird auch ferner in dem bisherigen Geiste die Interessen der Presse fördern, es fragt sich aber, ob die Post in diesem Sinne ihre Aufgabe weiter zu erfüllen vermag, wenn ihr nicht die Mittel dazu gewährt werden; und ich wiederhole, daß die Post nicht die Verpflichtung hat, den Debit aufrecht zu erhalten, und dies nicht kann, wenn der Postzwang hinwegfällt und dadurch der Mittel­ ausfall herbeigeführt wird. § 1 wird unter Ablehnung der Amendements Elben und Seelig mit sehr großer Majorität angenommen. Zu § 2 beantragt Abg. Fischer (Augsburg) ihn zu fassen: „Das Verbot in § 1 Absatz 1 erstreckt sich nicht auf die Beförderung von Briefen oder politischen Zeitungen zwischen Orten, welche nicht mehr als zwei Meilen von einander entfernt find, und auf die Beförderung von Briefen oder politischen Zeitungen gegen Bezahlung durch expresse Boten oder Fuhren. Doch darf bei einer Entfernung von mehr als zwei Meilen ein solcher Expresser nur von einem Absender abgeschickt sein und dem Postzwange unterliegende Gegenstände weder von Anderen mitnehmen, noch für Andere zurückbringen." Abg. Fischer: M. H., nachdem Sie bei der Abstimmung über § 1 dem Amen­ dement des Herrn Abg. Dr. Elben Ihre Zustimmung versagt haben, gewinnt das Amen­ dement, welches zu § 2 eingeöracht wurde und welches ich zu vertreten habe, eine Be­ deutung, die es großenteils verloren hätte, wenn der Antrag des Herrn Dr. Elken zur Annahme gelangt wäre. Ich für meine Person muß gestehen, daß das, was für die Zeitungen erstrebt wird, mir als das Wichtigere erscheint auch in dem Amendement, welches ich nunmehr vertrete. Sie haben sich für die douce violence entschieden, welche der Herr General-Postdirektor der Presse anzuthun gedenkt, und, m. H., ich muß mit dieser Entscheidung rechnen, obwohl, wie ich nicht verhehlen kann, die Erfahrungen, welche man in Bayern gemacht hat, den Beweis liefern, daß die Liebe der Presse zur Postanstalt eine größere ist, wenn die Hingebung eine freiwillige sein darf. (H.! h.! l.) Das, was das Amendement zu § 2 bezweckt, ist die Beseitigung praktischer Uebelstände, welche sich Herausstellen werden und Herausstellen müssen, wenn unter allen Voraus­ setzungen die Benützung der Post zu einer unerläßlichen Verpflichtung gemach: wird. Der Herr General-Postdirektor hat bereits selbst auf die oft genannten Zwillinzspaare von Städten hingewiesen, welche ihm voraussichtlich wieder vor Augen geführt werden würden, wenn man auf den 8 2 zu sprechen komme, und ich bekenne, daß ich aller­ dings auf diese Städte ein besonderes Augenmerk gerichtet habe, als ich mich entschloß, dem Amendement beizutreten, welches heute vorliegt. Es ist eine Jnkonvenienz, welche sich nicht wird ertragen lassen, wenn in Städten wie Köln und Deutz, wie Nm- und Altulm, wie Ludwigshafen und Mannheim, wie Regensburg und Stadtamhof, in Städten, die unmittelbar an einander grenzen, von denen aber jede eine eigene Postansvlt hat, jeder Bewohner der einen Stadt, welcher auf eine in der andern Stadt erscheinende Zeitung abonniren will, genöthigt ist, diese Zeitung bei der Postanstalt seiner Gemeinde zu bestellen und wenn diese Postanstalt dann erst jene Zeitung durch Vermittelung der Postanstalt der anderen Gemeinde zu beziehen hat. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor S t ep h a n: M. H., es ist doch wohl gut, sich die Frage vorzulegen: liegt es denn wirklich im Be)ürfniß, diese Grenze von zwei Meilen zu ziehen und in ein großes und harmonisches Gq'etz eine kleine Ausnahme, die sich schon, rein ästhetisch betrachtet, unangenehm ausnehmev würde, (H.) einzuflechten? Die Frage nun, ob es ein Bedürfniß ist, muß doch wohl bei ge­ nauer Prüfung der Sache verneint werden. Für den Verkehr der nahe gelegenen Orte oder der aneinander grenzenden Ortschaften finden sich ja, wenn man die Prst nicht gebrauchen will, gesetzlich erlaubte Mittel in Menge: man braucht nur besonder: Boten zu schicken; man kann ferner mit offenen Briefen korrespondiren; man kann Kcrrespondenzkarten schicken, von denen der General-Postmeister der Vereinigten Staaten tr seinem neuesten Jahresberichte sagt, sie seien eines der besten und bequemsten Verkelrsmittel der neueren Zeit. Diese sind offen und unterliegen dem Postzwang nicht. Also die

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Möglichkeit ist gegeben, mit gesetzlich erlaubter Umgehung der Post zwischen solchen Orten eine Korrespondenz zu erhalten; und überall da, wo keine Postanstalt errichtet ist, be­ steht überdies der Postzwang nicht. Dann möchte ich noch auf den Gesichtspunkt auf­ merksam machen, daß, indem Sie jetzt eine Grenze von zwei Meilen für den Brief­ zwang ziehen wollen. Sie ja den Anreiz der Postverwaltung, mehr Postanstalten an­ zulegen, außerordentlich abschwächen, denn dadurch verengern Sie das Terrain, auf welchem das Monopol gilt. Ze weiter wir die Postverwaltung entwickeln, desto mehr Postanstalten müssen wir schaffen an Orten, die unter zwei Meilen von einander ent­ fernt liegen. Dieser naturgemäßen Entwickelung tritt der Antrag hemmend entgegen. Wollen Sie denn, m. H., das Institut der reisenden und reitenden Postfuhr-Kontroleure und Postfiskale aus der Rumpelkammer alter Systeme wieder hervorholen? Das ist dcch wahrlich nicht Ihre Absicht. Abg. Dr. Becker will in dem Anträge Fischers zunächst nur die politischen Zeitungen aufrecht erhalten und die Briefe fallen lassen. Der Antrag lautet also: „Das Verbot in § 1 Absatz 1 erstreckt sich nicht auf die Beförderung von politischen Zeitungen zwischen Orten, welche nicht mehr als zwei Meilen von einander entfernt sind und auf die Beförderung von Briefen oder politischen Zeitungen gegen Bezahlung durch expresse Boten oder Fuhren. Doch darf bei einer Entfernung von mehr als zwei Meilm ein solcher Expresser nur von einem Absender abgeschickt sein und dem Postzwance unterliegende Gegenstände weder von Anderen mitnehmen, noch für Andere zurück)ringen." Er wird, da die Abstimmung zweifelhaft blieb, bei Namensaufruf mit 145 gegen 105 Stimmen angenommen; der Rest des Fischerffchen Antrags (Briefe) fällt. Fortsetzung am

13. Mai 1871.

Es liegt vor der Antrag des Abg. Dr. Hölder: Der Reichstag wolle beschließen: dem £3 folgenden Zusatz zu geben: „ebenso darf die Benutzung der Post bezüglich ihres sonstigen Geschäftsbetriebs nicht verweigert werden, sofern die Vorschriften des Reglements (§ 50) beobachtet sind und die zur Verfügung stehenden Betriebsmittel ausreichen." Abg. Hölder begründet seinen Antrag, gegen welchen sich Bundeskommissar Ge­ heimer Ober-Postrath Dr. Dambach erklärt. Abg. Sonnemann frägt, ob es nicht möglich sein sollte, wie in den Pro­ vinzen des ehemals taxisschen Gebietes, daß allen Zeitungen regelmäßig mitgetheilt wird, für welche Städte und Postanstalt überhaupt bestellt wird. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter General - Postdirektor Stephan: M. H-, die Verschiedenartigkeit der Gestaltung dieser Mittheilungen hängt lediglich von einem praktischen Verfahren ab, welches sich in den einzelnen Provinzen eben nach Lage der Verhältnisse herausgebildet hat. Da, wo der Staat den Zeitungsverlegern auch noch He Verpackung für die sehr billige Provision besorgt, fällt' natürlich eine Veranlassun; dazu weg, den Zeitungsverlegern die Mittheilungen zu machen, für welche der Tauserde von kleinen Orten die einzelnen Zeitungsexemplare bestimmt sind; ja es fällt nicht cllein die Veranlassung weg, es wäre das auch eine Vervielfältigung der Schreiberei, die urter Umständen, namentlich bei verbreiteten Zeitungen und an den Orten, wo der Zeiturgsdebit sich sehr konzentrirt, eine nicht unerhebliche Arbeitskraft beschäftigen würde, weil He Bestellungen ja das ganze Jahr über laufen. Das ist beispielsweise in Berlin der Fill, wo das Zeitungskomtoir eine außerordentlich große Last mit der Verpackung der Zeitungen für die einzelnen Orte übernommen hat. Zn anderen Städten, z. B. in Kü'n, wo der sehr umfassende Betrieb der „Kölnischen Zeitung" stattfindet, wird den Wrlegern vollständig mitgetheilt, für welche Orte die Zeitungen bestimmt sind, weil He Verleger es da übernommen haben, die Zeitungen direkt zu verpacken, und dadury der Post ihren schweren Betrieb zu erleichtern. So hat sich die Sache praktisch herausgebildet. Wie es in Frankfurt im Augenblick ist, weiß ich nicht. Zch weiß nur, daß de Mittheilungen an die Redaktionen gelangen, auch wenn der geehrte Herr Abgeordwte dies nicht gesagt haben würde. Ob die Redaktionen die Zeitungen verpacken,

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ob es alle thun, und ob sie es bei jeder Zeitung thun, ist mir nicht bekannt. Indessen so haben sich die Verhältnisse herausgebildet, und es unterliegt durchaus keinem wesent­ lichen Bedenken, die Abonnenten denjenigen Redaktionen, welche die Verpackung selber besorgen wollen, mitzutheilen. Abg. Duncker: Zch bedauere, heute in der Lage zu sein, dem Herrn GemeralPostdirektor in einem Punkte widersprechen zu müssen. Zch glaube nicht, dcrß die Weigerung der Post-Zeitungskomtoire, den Zeitungsverlegern mitzutheilen, nach welchen Orten hin ihre Blätter versandt werden, sich in der Art herausgebildet hat. Die Sache hat allerdings einen politischen Hintergrund. Man hatte gewissermaßen zwei Strafklassen, zu der Zeit, als es noch nicht durch das Gesetz gehindert war, überhaupt den Postdebit zu entziehen. Die stärkste Strafe war, einer mißliebigen Zeitumg den Postdebit überhaupt zu entziehen; man wollte aber auch den anderen gewissermaßen in der zweiten Strafklasse befindlichen Zeitungen nicht die Mittheilung machen, wohin ihre Exemplare gingen, damit die Redaktionen nicht ihrerseits auf ihre Kosten die Ver­ breitung fördern könnten, und es ist während der reaktionären Periode in Preußen ein ausdrückliches Minister!alreskript an die damalige preußische Postverwaltung er­ gangen, welches das Verbot enthielt, daß das Zeitungskomtoir den Verlegern, diese Mittheilung mache. — Die praktischen Bedenken, die der Herr General-Postdirektor angeführt hat) daß eine solche Mittheilung umständlich sein und Kosten machen rvürde, sind sehr leicht'zu heben. Es würde jeder der beteiligten Interessenten sehr bereit sein, diese Kosten zu zahlen, die übrigens nicht sehr bedeutend sein werden. Denn das Zeitungskomtoir führt genaue Listen, nach welchen Orten die Exemplare versendet wer­ den, und da es die Zeitungen täglich selbst verpackt, so muß es diese Listen ä jour halten. Wenn also den Verlegern gestattet würde, eine Abschrift von der Liste zu nehmen, was die Arbeit eines Tages ist, so würden die Verleger gern bereit sein, die Kosten zu zahlen, und ich würde es als eine Beseitigung der früher obwaltenden Ten­ denz in Bezug auf diesen Punkt ansehen, wenn der Herr General-Postdirektor die aus­ drückliche EÜlärung abgeben wollte, daß man allen Verlegern, die es verlangen sollten, diese Mittheilung machen werde. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, General - Postdirektor Stephan: Ich muß zunächst dagegen einen ganz formellen Protest einlegen, daß die Postverwal­ tung bei Erfüllung ihrer Pflicht und bei der Handhabung der Gesetze irgendwie nach politischen Parteien und politischen Unterschieden verfahre. (Gr. U. und Ruf: oh! oh! auf der L.) Ich wiederhole es, sie erfüllt ihre Pflicht und handhabt das Gesetz nach vollster Unparteilichkeit. Was die Sache selber betrifft, so unterliegt es, wie ich schon vorher bemerkt habe, keinem Bedenken, diese Mittheilungen seitens der Post ewgehen zu lassen an die Zeitungsunternehmer, sobald ihr dadurch keine Kosten erwachsen, diese vielmehr von jener Seite übernommen werden. Abg. Duncker: Zn Bezug auf den Protest des Herrn General - Pofftdirektors bemerke ich, daß ich der gegenwärtigen Postverwaltung durchaus keine parteiische Ver­ waltung vorgeworfen habe. Ich habe lediglich die Thatsache angeführt, daß ein solches Reskript innerhalb der preußischen Postverwaltung während der Reaktionsperiode er­ gangen ist und bisher als gültiges Postrecht bestanden hat. Danach hat «auch, das will ich hinzufügen, keine ungleiche Behandlung, wenigstens officiell nicht statttgefunden. Damit die mißliebigen Zeitungen nichts erführen, hat man die Verfügung generell getroffen, aber es finden sich immer Wege, solche generellen Verfügungen zu um­ gehen, und ich glaube, daß in der betreffenden Periode allerdings die gutgearteten Zeitungen erfahren haben, wohin sie gehen, während es den oppositionellen nicht mög­ lich war zu erfahren, wohin ihre Exemplare versandt worden sind. Nach der gegen­ wärtigen Erklärung des General-Postdirektors hoffe ich, daß die Frage für diie Jetztzeit und für die Zukunft erledigt sein wird und wir diese Streitaxt für immrer begra­ ben können! Abg. Dr. Becker beantragt den Paragraphen etwa so zu fassen: „Die An­ nahme und Beförderung von Postsendungen darf von der Post nicht

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verweigert werden, f ob alb die Bestimmungen dieses Gesetzes und des Reglements beobachtet sind." Bundeskommissar, Geheimer Ober-Postrath Dr. Dambach: M. H., ich halte das Amendement des Herrn Abg. Becker für eine ganz entschiedene Verbesserung. Ich habe mir bereits erlaubt hervorzuheben, daß es materiell der Post durchaus nicht darauf an­ kommt, eine Hinterthür zu bekommen, um Postsendungen nicht zu befördern. Wenn also das hohe Haus ein besonderes Gewicht darauf legen sollte, dies überhaupt im Gesetz zum Ausdruck zu bringen, so würde ich mich eventuell mit dem Amendement Becker einverstanden erklären. Abg. Holder zieht seinen Antrag zu Gunsten des von Becker zurück. Das Amendement Becker wird angenommen. Auf § 11 richtet sich der Antrag der Abgg. von Bernuth u. Gen., an Stelle der Worte: „durch einen Zufall oder durch die Schuld der Reisenden" zu setzen: „durch höhere Gewalt oder eigene Fahrlässigkeit des Reisenden". Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor Stephan erklärt, daß die Regier­ rung mit dem Amendement einverstanden ist. Es wird angenommen. Es folgt der Abschnitt III: Besondere Vorrechte der Post; § 16. Abg. Dr. Prosch hält es für unbillig, daß auch Privatpostfuhrwerke Chaussee­ geldbefreiungen genießen sollen, wie dies § 16 anordnet. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, General-Postdirektor Stephan er­ widert, daß nur, wenn diese Chausseegeldfreiheit gewährt werde, es in vielen Fällen allein möglich sei, auf den verschiedensten Linien und zwischen kleineren Orten eine regelmäßige Personenverbindung überhaupt ins Leben zu rufen. Abg. Dernburg: M. H., ich glaube aus den Worten, die von Seiten des Herrn General-Postdirektors gefallen sind, annehmen zu müssen, daß die Post beabsich­ tigt, sich der Personenbeförderung so sehr wie möglich zu entschlagen, und ich fürchte, daß diese Unterstellung, die aus den Worten des Herrn General-Postdirektors heraus­ zutreten schien, auch in der Freiheit, die nun für die Personenbeförderung überhaupt gegeben wird, ihre Bestätigung findet. M. H., die Freiheit, die uns da gegeben wird, scheint mir aber sehr gefährlich, denn der Zustand des Kommunikationswesens in Deutsch­ land ist noch nicht von der Art, daß wir die Personenbeförderung durch die Post entbehren können. Es handelt sich bei der Personenbeförderung durch die Post na­ mentlich um das Interesse von kleineren Orten, die durch eine Eisenbahn nicht berührt, ja durch die Anlegung von Eisenbahnen in ihren Verhältnissen oft geschädigt werden. Sollte es daher die Absicht der Postverwaltung sein, sich wirklich von der Personen­ beförderung immer mehr zurückzuziehen, so würde ich darin doch ein Vorgehen erblicken, das mit unseren heutigen Kommunikationsverhältnissen noch nicht in Einklang zu brin­ gen wäre, und glaube, daß von einem solchen Vorgehen doch Abstand zu nehmen räthlich ist. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, General-Postdirektor Stephan: Zch bin in der glücklichen Lage, den Herrn Abgeordneten für den fünften hessischen Wahlkreis über seine Besorgnisse vollkommen beruhigen zu können. Es ist keineswegs die Absicht der Postverwaltung, sich so viel irgend möglich, oder selbst immer mehr der Wahrnehmung des Personenverkehrs zu entziehen; nur auf denjenigen Routen, auf denen sich die Personenposten so wenig rentiren, daß ein klaffender Riß zwischen Ein­ nahmen und Kosten entstanden ist, wollen wir allmählich versuchen, die Privatfuhrwerke heranzuziehen. Wir habe:: z. B. eine Post, die eine jährliche Unterhaltungslast von 4000 Thalern verursacht, und die im Ganzen 1000 Thalern Personengeld aufgebracht hat. Wir haben eine Post zwischen Arnich und Büttelhof gehabt, die 472 Thaler per Jahr gekostet und im ganzen Jahr 20 Thaler Personengeld aufgebracht hat; wir haben für jede Meile 18 Silbergroschen 6 Pfennige aus den Mitteln des Staats, mithin aus der Tasche der Gesammtheit der Staatsbürger zugegeben. (H.! h.!) Ferner eine Post zwischen Grabow und Serrane, die 421 Thaler kostet und 45 Thaler Personen-

gelb einbringt; eine Post zwischen Glöven und Havelberg, mit 620 Thalern Rossten und 94 Thalern Personengelb. Und so könnte ich Ihnen eine große Anzahl wetener Fälle mittheilen. Ja, m. H., baß wir uns einen so überschwänglichen Luxus in Personen­ posten nicht gestatten können, und baß jede Gelegenheit, die wir zu ergrefem in ber Lage sinb, um berartige kostspielige Einrichtungen zu ersetzen, sehr willkommn ist, bas werben Sie hoffentlich als eine richtige Anschauung der Verwaltung erkenmn. Antrag Pro sch wirb verworfen, § 16 unverändert angenommm. Zu § 28, lautend: „Im ersten Rückfalle wirb die Strafe (§ 27) verdoppelt urü biet ferne­ ren Rückfällen auf das Vierfache erhöht. Im Rückfalle befindet sich derjenige, welcher, nachdem er vegen einer der in dem § 27 bezeichneten Defraudationen vom Gerichte oder iim Ver­ waltungswege zur Strafe rechtskräftig verurtheilt worden ist, imerhalb der nächsten drei Jahre nach der Verurteilung eine dieser Defraudationen verübt." liegt der Vorschlag der Abgg. von Bernuth u. Gen. vor: Absatz 2 solcendermaßen zu fassen: „Im Rückfalle befindet sich derjenige, welcher, nachdem er roegor (einet der in § 27 bezeichneten Defraudationen vom Gerichte oder im Verwaltungswege 34, 35) bestraft worden, abermals eine dieser Defraudationen begeht. Die Straferhöhung wegen Rückfalls tritt auch ein, wenn die frühere Strafe nur theilweise verbüßt, oder ganz oder theilweise erlassen ist, bleibt jedoch ausgeschlossen, wenn seit der Verbüßung oder dem Erlasse der letzten Strafe bis zur Begehung der neuen Defraudation drei Jahre verflossen sind." Abg. von Bernuth: M. H., das Amendement zu § 28 ist wesentlich redak­ tionell, und wie das folgende Amendement zu § 31 nur hervorgegangen aus dem Be­ streben, in den strafrechtlichen Bestimmungen der Spezialgesetze, wie deren hier eins vorliegt, die Grundsätze, die aus dem allgemeinen Straf-Gesetzbuch, aus dessen korrespondirenden Vorschriften herrühren, zur Norm dienen zu lassen. Wenn Sie in dieser Beziehung die Vorschriften der §§ 244 und 245 des Straf-Gesetzbuchs und die dort in Bezug auf die Begriffe und die Requisite des Rückfalls enthaltenen Vorschriften näher vergleiche würden, so würden Sie unzweifelhaft finden, baß eine Fassung, wie wir Sie Ihnen vorschlagen, mehr dem entspricht, was das Straf-Gesetzbuch vorschreibt. Da die Sache so einfach ist, und da auch die jetzt folgenden Amendements bis zur Nr. 8 inklusive theils auf derselben Basis beruhen, theils rein redaktionell sind, so wird der Herr Präsident mir vielleicht verzeihen, wenn ich bei dieser Gelegenheit diese kurze Er­ läuterung über den Zweck der folgenden Amendements gebe. Abg. Kanngießer: Demjenigen, was der Herr Abg. v. Bernuth gesagt hat, habe ich hinzuzufügen, daß die vorgeschlagene Aenderung im § 28 nicht blos redaktioneller Natur ist. Nach der Bestimmung, wie sie uns die Vorlage bringt, befindet sich der­ jenige Kontravenient im Rückfall, welcher vorher rechtskräftig verurtheilt worden ist; nach dem Verbesserungsvorschlage nur derjenige, welcher vorher die Strafe verbüßt hat, oder dem sie im Gnadenwege erlassen ist, nicht aber derjenige, welcher rechtskräftig verurtheilt worden ist, ohne daß eine Verbüßung oder Begnadigung stattgefunden hat. Das möchte ich zunächst konstatiren. Der Antrag v. Bernuth wird angenommen; ebenso der fernere Antrag v. Bernuth u. Gen.: § 31 folgendermaßen zu fassen: „Kann die verwirkte Geldstrafe nicht beigetrieben werden, so tritt eine verhältnißmäßige Freiheitsstrafe ein. Die Dauer derselben soll von dem Richter so bestimmt werden, daß der Betrag von Einem Thaler bis zu fünf Thalern einer Haft von Einem Tage gleich geachtet wird. Die Dauer der Haft, welche an die Stelle einer nicht beizutreibenden Geldstrafe tritt, ist vom Richter fest­ zusetzen und darf sechs Wochen nicht übersteigen." sowie in § 34, lautend: „Wenn eine Post- oder Portodefraudation entdeckt wird, so eröffnet die Ober-Postdirektion oder die mit den Funktionen der Ober-Postdirektion be-

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cnftragte Postbehörde vor Einleitung eines förmlichen Verfahrens dem Angestuldigten, welche Geldstrafe für von ihm verwirkt zu erachten sei, und stellt ikn hierbei frei, das fernere Verfahren und die Ertheilung eines Strafbescheides duch Bezahlung der Strafe und Kosten innerhalb einer präklusivischen Frist vm zehn Tagen zu vermeiden. Leistet der Angeschuldigte hierauf die Zahlung ome Einrede, so ist die Sache damit rechtskräftig beendet; entgegengesetzten Frlles erfolgt die Untersuchung und Entscheidung nach Maßgabe der § 35 — 46" nach „Posbehörde" einzuschalten: „mittels besonderer Verfügung"; statt der Worte: „so ist die Sache damit rechtskräftig beendet" zu setzen: „so gilt die Verfügung als rechtskrchfticer Strafbescheid". Der Zusatzvorschlag der Abgg. v. B ernuth u. Gen., an die Schlußworte des § 40: ,„Fndet die Ober - Postdirektion rc. die Anwendung einer Strafe nicht gerecht­ fertigt, so lerfügt sie die Zurücklegung der Akten," anzufügen „und benachrichtigt hier­ von den Argeschuldigten", wird angenommen. In 41: „Dem Strafbescheide müssen die Entscheidungsgründe beigefügt sein. Auch ist drin der Angeschuldigte sowohl mit dem ihm dagegen zustehenden Rechts­ mittel, ials auch mit der Straferhöhung, welche er im Falle der Wiederholung der Defraudatim zu erwarten hat, bekannt zu machen. — Der Strafbescheid ist durch die Postanstalt dem Angeschuldigten entweder zu Protokoll zu publiziren oder in der für die Vorladmg vorgeschriebenen Form zu insinuiren," wird auf Antrag der Abgg. v. Bernuth u. Gen.: statt „dem Rechtsmittel" gesetzt „den Rechtsmitteln (§ 42)", und im Alinea s statt „im Falle der Wiederholung": „beim Rückfalle". Der Vorschlag der Abgg. v. Bernuth u. Gen. hinter § 46: „Die Vollstreckung der rechtskräftigen Erkenntnisse geschieht nach den für die Vollstreckung strafgerichtlicher Erkenntnisse im Allgemeinen bestehenden Vorschriften, die Vollstreckung der Strafbescheide oder der Rffolute aber von der Postbehörde; letztere hat dabei nach denjenigen Vor­ schriften zu verfahren, welche für die Exekution der im Verwaltungswege festgesetzten Geldstrafen ertheilt find" einen neuen Paragraphen zu ins euren: „Zur Beitreibung von Geldstrafen darf ohne Zustimmung des Verurtheilten, sofern dieser ein Znländer ist, ein Grundstück nicht subhastirt werden," wird abgelehnt. Auf § 50 bezieht sich der Vorschlag des Abg. v. Below, zu dessen Alinea 6 fol­ gende Resolution zu fassen: „Der Reichstag spricht die Erwartung aus, das GeneralPostamt werde dem Geldvermittelungsverkehr seine besondere Aufmerksamkeit zuwenden, damit die Post umfangreicher als bisher vom Publikum zum Zahlungsausgleich be­ nutzt werde." Abg. v. Below: M. H., bevor ich in die kurze Motivirung meiner Resolution eingehe, möchte ich vor allen Dingen, um jedem Mißverständnisse vorzubeugen, hervor­ heben, daß in dem Antrag keineswegs ein Mißtrauensvotum gegen unsere vortreffliche Postdirektion liegen soll. Läge zu diesem Mißtrauensvotum eine Veranlassung vor, so würde ich darauf Bezug genommen haben, das Alinea 6 des § 50 in das Posttaxgesetz zu verweisen. Es berührt die Festsetzung der Gebühren für Geldsendungen. Da dem aber nicht so ist, und dem vollsten Vertrauen gegenüber der Postdirektion hiermit Rech­ nung getragen wird, so scheint es angebracht, an dieser Stelle die Erwartung der Re­ solution hervorzuheben: die allseitigen Wünsche des Landes richten sich darauf, daß der Verkehr und die Uebermittelung des Geldes durch die Post nach demselben Maßstabe gemessen werden, der für das Briefporto gilt. Vor dem Gesetz des Jahres 1867 waren wesentlich andere Grundsätze maßgebend für die Tarifirung des Portos für Briefe und Geldsendungen; es waren dies hauptsächlich fiskalische Rücksichten. Mit Annahme eines einheitlichen und billigen Briefportosatzes für das ganze Reichsgebiet erhob man sich über diese fiskalischen Rücksichten und adoptirte einen volkswirthschaftlichen Grundsatz, indem man sagte: wir wissen allerdings sehr wohl, daß uns die Veränderung des Gesetzes finanzielle Rückschläge bringen wird, wir setzen uns aber darüber fort, wir wissen, daß wir damit die Mittel für die Kultur und den Wohlstand des Volkes gehoben haben. Wenn das für das Briefporto maßgebend war, so ist es in gleichem Maße für den

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Geldvermittelungs-Verkehr, und meiner individuellen Ansicht nach war es nicht angebracht, sich an den Geldvermittelungsverkehr zu halten, um den Ausfall, den das Briefporto brachte, zu decken. Der Geldvermittelungsverkehr steht in so enger Verbindung mit dem Briefverkehr, daß man unmöglich beide nach verschiedenen Prinzipien messen kann. M. H., es ist zudem eine Sache der Gerechtigkeit, bei diesem Alinea 6 des § 50 sein besonderes Augenmerk darauf zu wenden, daß die alten Taxsätze vor dem Jahre 1867 möglichst wieder ergriffen werden, aus dem Grunde, weil über 70 Prozent der Be­ völkerung unseres Reichsgebietes nicht im Stande sind, ihren Geldausgleich durch,Han­ delshäuser oder Banquiers zu vollziehen. Die Bewohner der kleinen Städte und des platten Landes haben keine Banquiers, — sie sehen in dem nächsten Post-Expedienten ihren Banquier. Es wäre daher wünschenswerth, daß auf diesem Gebiete wieder eine Ermäßigung im Tarife eintrete. Wesentlich würden dadurch gewinnen der kleine Waarenhandel uud der Binnenkonsum, die auf diesen Zahlungsmodus angewiesen sind. — Ich will hier auf Data und Zahlen nicht eingehen, das Kriegsjahr von 1870 und das erste Jahr nach der Emanation des Postgesetzes verdunkeln vielfach die Jntraden in dieser Beziehung; die Kritik ließe sich daran heften, ich enthalte mich aber ihrer, und will nur konstatiren, daß in den drei Jahren 1868, 1869 und 1870 die Durchschnittssätze für die Postanweisungen geringer geworden sind. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter General - Postdirektor Stephan: M. H., wie ich den Antrag zuerst zu Gesicht bekam, da sah er mir so unschuldig aus, daß ich nicht allein das Einverständnis der verbündeten Regierungen damit hätte aus­ drücken können, sondern auch vollständig in der Lage gewesen wäre, den Erwartungen zu entsprechen, die hier in dem Antrag zum Ausdruck gelangen, nämlich die besondere Aufmerksamkeit der Postverwaltung auf diesen Verkehr zu richten. Wir sind dem Herrn Antragsteller sehr dankbar, daß er die Angelegenheit zur Sprache gebracht hat. Es ist ja der Geldvermittelungsverkehr, wenn auch nicht gerade ein Hauptzweig des Postwesens, doch ein außerordentlich wichtiger Nebenzweig, den wir in seinem ganzen Werthe er­ kennen. Als ich dann aber die Motive las und in denselben einen etwas mysteriösen Ausdruck, nämlich den Ausdruck „civilere Kostenpreise" fand, da habe ich mir gleich gesagt: latet anguis in herba! Durch die Motivirung, die der geehrte Abgeordnete hinzugefügt hat, ist diese kleine Schlange nur noch gewachsen, und ich muß Sie schon bitten, mir einen Augenblick zu folgen, um zu versuchen, einen Giftzahn, der in ihr zu stecken scheint, ihr auszubrechen. Wenn angenommen ist in den Motiven und in der Ausführung des Herrn Vorredners, daß der Postanweisungs-Verkehr zurückgeht, so stimmt das mit den thatsächlichen Verhältnissen nicht überein. Nach der Statistik, die ich in Händen habe, sind in dem Jahre 1865 auf diesem Wege umgesetzt worden 76 Millionen, und nach der Erweiterung zum norddeutschen Bunde, also im Jahre 1868, 104 Millionen Thaler. Der Umsatz im Jahre 1870 hat ungeachtet der schon hervorgehobenen un­ günstigen Verkehrsverhältnisse doch 114 Millionen Thaler betragen. Es ist also eine Zunahme vorhanden. Wenn dann darauf hingewiesen ist, daß die Durchschnittssätze der Postanweisungen abnehmen, so würde das ein bedenkliches Zeichen sein, sofern auch die Gesammtsumme zurückginge; aber darin sehe ich gerade einen sehr großen Fortschritt, nämlich, daß die Postanweisungen weit mehr in das Volk eindringen, daß nicht mehr die Kaufleute und die Banquiers, die die großen Summen schicken, sich dieser Einrich­ tung vorzugsweise bedienen, sondern daß das Volk, die Landleute, die Soldaten, sich immer mehr mit derartigen Sendungen befassen. — Ich gehe nun auf den Tarif über. Wenn wir in der Rückkehr zu dem alten Tarif, mittelst dessen man 25 Thcler für 1 Silbergroschen von Memel bis Saarbrücken überweisen konnte, die Mittel finden sollten, um etwa das Landbriefbestellgeld — denn so glaube ich wohl die Andeutung auslegen zu müssen — abzuschaffen, so muß ich doch nach der ganzen Lage der Dinge bitten, hierauf nicht zu große Hoffnung zu setzen. Wir haben uns mit dem PostanwcisungsVerkehr und mit seinen finanziellen Resultaten bei der letzten Erhöhung der Gebühr ganz speziell beschäftigt; es haben genaue Ermittelungen stattgefunden, was diestr Ver­ kehr der Verwaltung kostet. Es sind ja nicht allein die zahlreichen Kassenbestände —

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wir brauchen einen Betriebsfonds von zwei Millionen Thalern, dessen Zinsen doch be­ rechnet werden müssen! — ferner die Kosten für Kontrolbureau, Beamte, Lokale u. s. w., es kommen auch enorme Kosten für Drucksachen, Expedition, Deckung von Verlusten u. s. w. in Betracht, wie Sie sich das bei einem Umsatz von vielen Millionen Thalern leicht erklären können. Es hat sich nun bei jener Berechnung ergeben, daß die Postanweisung im Durchschnitt einbringt nach dem jetzigen Tarif 2 Silbergroschen l3/io Pfennig, daß sie uns aber kostet 1 Silbergroschen ll%o Pfennig, es bleibt also übrig lVio Pfennig. Dabei sind nun die Zinsen des Betriebskapitals noch nicht veranschlagt, da wir es aus der Staatskasse entnehmen. Wenn man diese Zinsen mit in Rechnung bringt, so zeigt sich auch bereits bei diesem Betriebszweige, wie bei manchem anderen, den die Post handhabt, daß wir im Zustande des Deficits sind, wie ich bereits die Ehre gehabt habe, bei Veranlassung des Landbrief-Bestellgeldes weiter auszuführen. — Wenn es für Obiges noch einer weiteren Bestätigung bedürfte, so liefert sie uns vollständig ein Vergleich des deutschen Tarifs mit dem der übrigen Staaten. Er ist auf meine Veranlassung sehr ausführlich aufgestellt worden; ich will aber, um die Geduld des hohen Hauses nicht zu ermüden, mich darauf beschränken, nur die Vergleichung mit den Hauptstaaten in Kurzem anzugeben, mit Frankreich, Italien, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Bei dem Satz von 5 Franken gleich 17j Thlr., haben wir in Deutsch­ land einen Ertrag — der Uebersicht wegen ist die Angabe in Centimes gegeben — von 25 Centimes, in Frankreich 25 Centimes, in England 20 Centimes (es ist also bei diesem kleinen Betrage in England eine Verminderung), in Italien 40 Centimes, in den Vereinigten Staaten 65 Centimes. (Redner führt dies weiter aus.) Was dann die Po st Vorschüsse betrifft, die auch eine mention honorable in dem vorliegenden Anträge erhalten haben, so kann ich da nicht in Aussicht stellen, daß eine Ermäßigung der Gebühren eintreten wird. Die Postvorschüsse, m. H., bilden eine äußerst schlimme Gesellschaft, sie sind der Schrecken aller Postbeamten, sie geben zu vielen Defekten und verwickelten Betriebs-Rechnungsformen Veranlassung; es wirft sich der Schwindel auf dieses Gebiet in einem Maße, von dem man wirklich keine Ahnung hat, wenn man nicht die Sache unmittelbar in Händen hat; es vergeht kaum eine Woche, wo nicht auf die Kasse Beträge angewiesen werden müssen, die nicht haben eingezogen werden können, trotz aller Vorsichtsmaßregeln, die die Post anwendet« Es ist dies eine wahre Plage für viele Zweige des Verkehrs, und ich möchte mir die Frage erlauben, ob Sie nicht Alle schon aus irgend einem Winkel des Landes eine Komposition, oder eine Li­ thographie, ein Festgedicht und so weiter unter Postvorschuß erhalten haben; in der Regel sind es 20 Silbergroschen, (H.) was auf die Herkunft dieser Einrichtung aus dem Gebiet der Guldenwährung schließen läßt. Ich könnte Ihnen — und ich fürchte das Amtsgeheimniß damit nicht zu verletzen — Fälle anführen, wo entrüstete Väter an mich geschrieben haben: werden Sie nicht endlich das verwünschte Postvorschußwesen ab­ schaffen? oder wenigstens Vorkehrungen treffen, daß diese Einrichtung auf dem Gebiet der verwandtschaftlichen Beziehungen ausgeschlossen werde, zum Beispiel bei Söhnen, die auf der Universität oder auf sonstigen Instituten sich befinden, oder bei einem Regimente ihr Jahr abdienen? (H.) Ja, m. H., und es geht noch weiter; auch die Onkel werden in Kontribution gesetzt (alls. H.) und es hat mir einst ein sehr würdiger Mann gesagt, er habe nur dann einen ruhigen Sommer, wenn sein Neffe, der dem Seewesen angehört, eine Expedition nach dem Nordpol oder eine Fahrt in die indischen Gewässer angetreten habe. Dieses Verfahren, m. H., diesen in Papier umgesetzten Exekutor, biefe Einrichtung, von der ich beinahe sagen möchte — wenn der Staat sie nicht be­ triebe —, daß sie ans Unsittliche streift, nennt nun der Belorv'sche Antrag die „be­ quemste und beste Art für den Geldausgleich" (H.) und verlangt, daß die Postverwal­ tung ihre „besondere Aufmerksamkeit" darauf richten solle, um dieses schöne Institut noch zu befördern. Ich kann dafür wirklich keine Aussicht eröffnen und möchte auch sehr davon abrathen. Dagegen wird sich vielleicht eine andere Idee verwirklichen lassen, die darauf berechnet ist, dem geäußerten Wunsche in einem gewissen Maß zu entsprechen und andererseits auch die Unannehmlichkeiten des Postvorschußwesens, die ich eben geNeichstagS-Nepertorium I.

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schildert habe, thunlichst zu beseitigen, nämlich die Ausgabe von Postordres, also von Mandaten, aus welche die Post das Inkasso von Forderungen, namentlich arf Neben­ plätze, wozu ja ein großes Bedürfniß vorhanden zu sein scheint, ausführen kann. Es ist in dieser Beziehung bereits ein Reglements-Entwurf von der Postverwabung auf­ gestellt und vom Bundeskanzleramt an die verschiedenen Regierungen des deutschen Reiches überschickt worden, um sich zur Sache zu äußern. Es sind auch kereits die Handelskammern darüber befragt worden, und die Angelegenheit schwebt demnach in der Informations-Instanz. Ob es gelingen wird, die Idee zur Ausführung zr bringen, kann ich zur Zeit noch nicht bestimmt versprechen, ich bin dazu auch nicht ermächtigt; jedenfalls ist aber in vollstem Maße die Vorbereitung eingeleitet, und ich glaube, daß eine solche Einrichtung wirklich einen großen Nutzen gewähren und einen Theil der Wünsche, die geäußert worden sind, befriedigen werde. Präsident: Der Abg. I)r. Elben hat eine Resolution, lautend: „Der Vertrieb der politischen Zeitungen im Wege des Postdebits, mit den die Freiheit der Presst auch auf dem Gebiet der Staatspost schützenden Bestimmungen des § 3 des Gesetzes über das Post­ wesen des deutschen Reichs, erfüllt so sehr das berechtigte Kulturinteresse drr raschen, sicheren und gleichmäßigen Verbreitung der deutschen Zeitungen durch das ganze Reich, daß auf der Beibehaltung des Debits durch die allein zu dessen genügender Besorgung befähigte Postanstalt zu beharren ist, selbst wenn der Nutzen der Post aus dem Zeitungs­ vertrieb ein unerheblicher würde" — vorgeschlagen. Abg. vr. Elben: M. H., ich glaube, die Resolution aufrecht erhalten zu sollen. Ich glaube, der Gedanke derselben stimmt mit dem Wunsch der Mehrheit des Hauses überein, ja es sind gewiß Viele, die gegen mein Amendement auf Befreiung der politischen Zeitungen vom Postzwang nur deshalb gestimmt haben, weil sie wünschen, daß der Vertrieb der Zeitungen stets bei der Post verbleiben solle. Ich glaube aber, die Resolution namentlich deshalb aufrecht erhalten zu sollen, weil in dem § 3 des Gesetzes die Worte sich befinden, „so lange überhaupt der Vertrieb der Zeitungen im Postgebiet erfolgt." Darin könnte man die Geneigtheit der Postbehörden erblicken, bei erster Gelegenheit diesen Vertrieb der Zeitungen von sich abzuschütteln. Ich möchte das aus den bereits angeführten Gründen nicht und bitte Sie deshalb, der Resolution beizustimmen. Dieser Antrag wird abgelehnt, die Resolution v. Below angenommen.

Dritte Berathung am 16. Mai 1871. Zur Generaldebatte: Abg. Richter: Ich kann noch nicht ernstlich glauben, daß die Mehrheit des Reichstages entschlossen ist, einen neuen deutschen Reichs-Postzwang für Zeitungen zu begründen; ich sage begründen, denn für Bayern und Württemberg soll dieser Postzwang erst eingeführt werden. Auch ich habe ein großes Interesse an der Be­ gründung eines einheitlichen deutschen Rechts und auch eines einheitlichen Postrechts, aber ich bin doch nicht ein solcher Einheitstieger, daß ich mich über einen neuen Schlag­ baum für den Verkehr schon deshalb freuen könnte, weil dieser Schlagbaum einen schwarz-weiß-rothen Anstrich hat. Nun hat der Herr General-Postdirektor urs zwar gesagt: wollt ihr den Zeitungs-Postzwang aufgeben, so fällt auch das Korrelat, die Verpflichtung der Post, alle Zeitungen ohne Unterschied zu debitiren. Diese Verbindung ist eine durchaus willkürliche. Bei anständigen Verwaltungen versteht es sich, wie wir neulich noch von dem bayerischen Herrn Minister gehört haben, ganz von felist, daß man in dem Debit der Zeitungen keinen Unterschied macht in Bezug auf die politische Farbe. Die deutsche Reichsverfassung hat durchaus nicht daran gedacht, einen ReichsPostzwang zu begründen. Gleichwohl hatte sie in ihre Grundrechte über de Presse ausgenommen, daß ein Postverbot unzulässig sein soll. M. H., diese ganze Zrage ist keine formell rechtliche, sie ist nicht einmal eine Postfrage, sondern eine reine Finanz­ frage. Es berührt den Postbetrieb als solchen durchaus nicht, mag die Post das

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Monopol behalten oder nicht. Freilich, wenn man den Herrn General-Postdirektor hier sprechen hört, so sollte man auch glauben, er hätte die Post persönlich in Entreprise genommen, und wir ständen der Post ungefähr so fremd gegenüber, wie wir einer Privat-Eisenbahngesellschast gegenüber stehen. (S. r.! l.) Das ist aber doch ein ganz falscher Standpunkt. Die Frage betrifft die Post nur insofern, als sie die Posteinnahmen, den Postnberschuß verringert. Nun ist die Postverwaltung für ihre Bedürfnisse auf diese Einnahme, auf diesen Ueberschuß doch nicht angewiesen, ist die Einnahme, ist der Ueberschuß geringer, nun so trifft das die Steuerzahler, die um so mehr Steuern auf­ zubringen haben; ist der Ueberschuß größer, so kommt das den Steuerzahlern zu Gute. Wir find die eigentlichen Vertreter der Steuerzahler hier und uns geht diese Frage in erster Lime an, und wir haben darüber gar nicht mit dem Heern General-Postdirektor, sondern nur mit dem Vertreter der Finanzverwaltung zu sprechen. (S. w.!) Wenn der Herr General-Postdirektor gleichwohl so hartnäckig das Postmonopol vertheidigt, so kommt das daher, weil ihm, wie allen Zunftmeistern, das Privilegium, seine Zunft so sehr ans Herz gewachsen ist. Herr Stephan soll ja ein ganz ausgezeichneter GeneralPostdirektor sein, jedenfalls liebt er die Post leidenschaftlich, und weil er sie leiden­ schaftlich liebt, so haßt er alle Diejenigen, die der Post ins Handwerk pfuschen wollen. Man entgegne mir darauf nicht, daß er in diesem Gesetze das Monopol für Personen­ beförderung gänzlich preisgebe. Za, m. H., so ein paar lumpige Personen ein paar Meilen über die Landstraße zu schleppen, das ist ein Geschäft, welches der Herr GeneralPostdirektor nicht mehr für zeitgemäß hält, und deshalb will er dies den kleinen Pfuschneistern, den Bönhasen gern überlassen. (H.) — Ich behandle also diese Sache lediglich als Finanzfrage, und da sage ich, was die Einführung des Monopols in Bayern und Württemberg betrifft, so habe ich mich allein abzufinden mit dem bayerischen und den württembergischen Finanzminister. Die Postfinanzen in Bayern und Württemberg sind ja vollständig getrennt von den Postfinanzen in Norddeutschland. Daß Bayern und Württemberg dieses Monopol nicht haben wollen, haben wir deutlich gehört, die dortigen Minister wollen das Monopol so wenig, daß sie sich in den Schlußprotokollen zu den Verfassungsverträgen für den jetzt drohenden Fall, daß wir Bayern und Württenberg das Zeitungsmonopol oktroyiren, vorgesehen haben, dieses gesetzliche Monopil im Verwaltungswege wieder aus Bayern und Württemberg heraus zu reglemeatiren. Nun, da weiß ich doch nicht, was in aller Welt uns noch sollte be­ wegen wnnen, diesen Postzwang den Bayern und Württembergern hier zu oktroyiren. Wir snd doch, glaube ich, in diesem Saale Alle der Meinung, daß das Endziel der postalishen Entwickelung die Beseitigung aller Monopole ist. Wenn wir die Bayern und Württemberger, die diesem Ziele um einen Schritt näher stehen, nun zwingen, erst einen Schritt rückwärts zu gehen,um dann mit uns zusammen den Schritt wieder vor­ wärts^ za machen, so ist das eine Methode, die wohl der Echternacher Springprozession entspriät, die wir aber doch nicht wohl für die Gesetzgebung empfehlen können. (H.) — Zch werde mich nun an den Vertreter der Bundes-Finanzverwaltung für Norddeutschlmd. Was die Frage der Aufrechthaltung des Postmonopols für Norddeutschland betrifft, so hat jetzt die Post eine Bruttoeinnahme aus dem Zeitungsdebit von einer halben Million Thalern. Diese Einnahme entsteht aber nicht vollständig unter dem Schutze des Monopols, denn es werden nicht nur durch das Monopol geschützte Zeitungen, sondern auch Zeitungen von der Post debitirt, wobei die freie Konkurrenz der PrivatJndustre Platz greift. Der Herr General-Postdirektor hat uns neulich eine ganze Menge, für die Sache sehr unerhebliche Zahlen mitgetheilt, aber nicht die Zahl, inwiewet diese halbe Million Einnahme nun entsteht unter dem Schutze des Monopols, und invieweit sie trotz der freien Konkurrenz resultirt. Die letzte ausführliche Post­ statistik, die wir in Bezug auf den Zeitungsverkehr mitgetheilt erhalten haben, betrifft das Za>r 1869. Schlage ich diese Statistik auf, so sehe ich, daß im Zahre 1869 allerdings über 300,000 Abonnements auf politische Blätter durch die Post vermittelt worden sind, daß daneben aber über 500,000 nicht politische Blätter durch die Post debitirt worden sind. Diese halbe Million nicht politischer Blätter ist doch debitirt 33*

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worden ohn§ den Schutz des Monopols. Ich weiß nun sehr wohl, daß die Eiinnahme aus dieser halben Million nicht so groß ist für die Post, wie die Einnahrw caus den 300,000, denn diese 500,000 sind durchweg Wochenblätter, die 300,000 siw caber der größten Anzahl nach Tagesblätter. Entsprechend dem höheren Preise der Tagesblätter ist auch die Provision der Post an den Tagesblättern eine verhältnißmäßig (größere. Gerade aus diesem Unterschied folgere ich aber, daß die Post ihre Einnahmen im großen Ganzen auch nach Aufhebung des Monopols behalten wird. Gerade bei dm Wochen­ blättern ist der Buchhandel im Stande, mit der Post zu konkurriren; es besteht die bekannte Organisation des Buchhandels, welche es ermöglicht, wöchentlich einmal von Leipzig aus sehr billig Drucksachen nach allen Theilen Deutschlands zu befördern. Wenn nun trotzdem die Post noch eine halbe Million Wochenblätter debitirt, so beweist das, daß sie aller Konkurrenz vollständig gewachsen ist. In Bezug auf die Jagesblätter kommen die natürlichen Vorzüge der Post, ihre prompte und regelmäßige Beförderung, noch mehr zur Geltung und geben ihr gerade deshalb hier den weitesten Vcrsprung in der Konkurrenz mit der Privatindustrie. Vergleichen wir die Statistik der lebten Jahre, so finden wir, daß der Zeitungsverkehr der Post von Jahr zu Jahr ungefähr um zehn Prozent zunimmt; diese Mehreinnahme aus der natürlichen Zunahme deä Zeitungs­ verkehrs würde nach Aufhebung des Monopols den etwaigen Ausfall eines kleinen Be­ trages vollständig ausgleichen. Nun kann man uns erwidern: ja wenn das wirklich so durchaus finanziell und praktisch unerheblich sein wird, warum besteht Jjr denn so hartnäckig darauf, daß das Monopol aufgehoben werde, es hat denn doch nahrlich nur eine geringe Bedeutung mehr; darauf erwidere ich: wir wollen das Momopol aufgehoben wissen, damit eine große Summe von kleineren Plackereien in Wegfall konme, die auf gewissen kleinen Grenzstrecken stattfinden, wo die Konkurrenz der Privatin^ustrie dem Postdebit allerdings begegnet. Ein solch kleiner Grenzstreifen ist schon durch das Amen­ dement Fischer berührt worden; dasselbe betraf das Herumtragen von Zeitungen inner­ halb des Umkreises von zwei Meilen vom Erscheinungsorte. Eine andere solche kleine Grenzstrecke betrifft den Debit der Wochenblätter. Wie ich bereits gesagt habe hinsichtlich der Wochenblätter, kann der Buchhandel mit der Post insofern eher konkurriren, als die Organisation des Buchhandels auf einem wöchentlichen Vertrieb beruht. Nun mache ich auf Eines aufmerksam. Die Post hat gegenwärtig schon das ihr gesetzlich zustehende Recht auf diesen Grenzstreifen thatsächlich aufgegeben, es herrscht in Bezug auf die Handhabung des Gesetzes den Wochenblättern gegenüber in der Postverwaltung die größte Willkür. Die Post darf also keine politischen Wochenblätter durch den Buch­ handel debitiren lassen. Nun bitte ich Sie, nehmen Sie die „Grenzboten^ in die Hand, da steht „Zeitschrift für Politik und Literatur." Dieses Blatt wird rmter den Augen der Post ballenweise durch den Buchhandel versendet, es wird in dcm Blatt .selbst ausdrücklich zum Abonnement durch den Buchhandel eingeladen. Die „preußischen Jahrbücher" — die Herren von Treitzschke und Wehrenpfennig würden es gewiß sehr übel nehmen, wenn man die Jahrbücher nicht als ein politisches Blatt bezeicknete, — (H.) werden gleichwohl von der Post als ein nicht politisches Blatt behandelt, sie werden durch den Buchhandel verbreitet und haben als nichtpolitisches Blatt bis :870 im Zeitungskatalog gestanden; 1871 sind, wie mir eben gesagt worden, die beiden Kategorien zwischen politischen und nicht politischen Blättern in dem Zeitungskatalog arfgehoben worden, weil sich die Grenze dazwischen absolut nicht mehr ziehen läßt. Wem sie sich aber in der Praxis nicht mehr ziehen läßt, dann sollte man sie auch in der Gesetz­ gebung aufheben. Finanziell ist die Sache unerheblich; sehen Sie die Statistik von 1869 nach, so finden Sie, daß überhaupt nur 12,000 Exemplare politischer Wochen­ blätter von der Post debitirt werden. Das kommt eben daher, weil gerade di« größten politischen Wochenblätter von der Post als nichtpolitische Blätter behandelt werden. Aus diesen 12,000 politischen Wochenblättern, die die Post jetzt debitirt, hat sie höchstens eine Jahreseinnahme von 2 — 3000 Thalern, die Aufhebung des Debitszwmgs für politische Wochenblätter würde also nur einen Ausfall von 2—3000 Thalern ergeben, in dem Falle, daß alle diese 12,000 Wochenblätter nicht mehr von der Post, sondern

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nur durch den Buchhandel debitirt würden. Das wird nicht zutreffen, denn so gut wie jetzt schon eine halbe Million nichtpolitischer Blätter durch die Post debitirt wird, ebensogut werden auch künftig politische Wochenblätter durch die Post debitirt werden, eben weil die Post in Bezug auf rasche Beförderung viele Vorzüge vor dem Buch­ handel Hw. — Wenn Sie daher auch heute noch nicht den finanziellen Muth fassen können, tas Zeitungsmonopol ganz aufzuheben, dann heben Sie es wenigstens für diese Wochenblätter aus, wo die Sache noch eine praktische Bedeutung hat. Am besten aber, Sir stören sich an das Wehklagen unseres Post-Zunftmeisters überhaupt nicht, sondern schneiden diesen Zopf auf einmal ganz ab.

Die Generaldebatte ist geschlossen.

Zu §§ 1 und 2 liegen vor:

1) Amendement Dr. Becker: Zn § I dem ersten Absätze folgende Faffung zu geben: „die Beförderung I) aller versiegelten, zugenähten oder sonst verschlossenen Briefe, 2) aller Zeitungen politischen Inhalts, welche öfter als einmal wöchentlich erscheinen, gegen Bezahlung von Orten mit einer Postanstalt nach anderen Orten mit einer Post­ anstalt de- In- oder Auslandes auf andere Weise als durch die Post, ist verboten. Hinsichtlich der politischen Zeitungen erstreckt dieses Verbot sich nicht auf den zweimeiligen Umkreis ihres Ursprungsortes;" — in § 2 die Vorlage des Bundesrathes wieder Herzusteller.. 2) Amendements Dr. Elben und Dr. Gerstner: 1) zu § 1 des Gesetzes. Zm Absatz 1 die Worte: „2) aller Zeitungen politischen Inhalts", im Absatz 2 die Worte: „und Zeitungen", — 2) int § 2 (nach der Fassung des Regierungsentwurss) die Worte: „und politische Zeitungen" zu streichen. 3) Amendement Richter: am Schluffe des § 1 hinzuzufügen: „Die Bestimmungen dieses Paragraphen über Zeitungen politischen Inhalts finden nicht Anwendung auf Bayern und Württemberg." Abg. Dr. Becker: Da der Herr General-Postdirektor auf die starken Gründe, welche der Herr Abg. Richter (Rudolstadt) gegen das Monopol geltend macht, nichts geantwortet hat, so bin ich einigermaßen in Verlegenheit, wenn ich mein Amendement begründen soll, denn dasselbe ist nur für den Fall gestellt, daß der Antrag der Herren Abgg. Elben und Gerstner vom Reichstage nicht angenommen wird. Ich kann mich also eines Eingehens auf das allgemeine Wesen der Monopole und auf die besondere Bedeutung derselben im Transportwesen enthalten. Ich lasse das Monopol auf sich beruhen, aber ich halte in Vertretung von Volksinteressen an dem einen Satz fest: Jedes Nonopol muß da seine Grenze finden, wo die Vortheile, welche es bietet, ge­ ringer werden als die Nachtheile, welche aus ihm erwachsen. Ich glaube nun aller­ dings, daß, wenn die Post das Monopol, welches sie in der Beförderung der politischen Zeitungm in Anspruch nimmt, wirklich zur vollen Ausführung bringt, sie in mehrfacher Hinsicht mehr Schaden thut als sie damit nützt. Ich will zunächst daran erinnern, wie es mit dem modernen Geist des Postwesens vollständig unvereinbar ist, daß die Post die bedmckten Blätter, die sie befördert, auf ihren Inhalt hin untersucht. Es ist das letzte Mal unter dem Ministerium von der Heydt geschehen, daß ein Unterschied ge­ macht nurde bei der Beförderung von Kreuzband-Sendungen hinsichtlich ihres Inhalts. Diese Unterscheidung ist jedoch bereits wieder aufgegeben worden, und eine KreuzbandSendury wird jetzt lediglich nach ganz objektiven, Jedermann erkennbaren Merkmalen definirt, der Inhalt des Gedruckten kommt dabei nicht weiter in Frage. Die Post will sich aber noch das lästige Amt auferlegen und festhalten, eine Zeitung dahin zu prüfen,

ob sie politisch sei oder nicht. Es ist bereits angeführt worden, wie das thatsächlich kaum möglich ist; ich will aber einmal diese Möglichkeit zugeben; ich werde wenigstens,

einer Bchörde gegenüber, die ein Privilegium ausbeutet, nie wagen zu sagen ihr Unterscheidunjsvermögen sei nicht stark genug, um alle Konsequenzen zu ziehen, die in dem Privilegum lägen. Wenn Sie die hier in Betracht kommende Schwierigkeit etwas näher körnen lernen wollen, dann müssen Sie die Instruktion lesen, welche von der

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preußischen Finanzverwaltung der Post gegeben ist über die Prüfung der Zeitungen, die in deutscher Sprache vom Auslande eingehen. Diejenigen Herren — und ich glaube wohl, Zeder von Ihnen ist in solcher Lage — die eine deutsche, aber nicht preußische Zeitung unter Kreuzband bekommen, finden jetzt auf dem Kreuzband einen blauen Stempel, der lautet: „Zeitungssteuer"; das heißt, es müssen 3 Pfennige bezahlt werden für jede in deutscher Sprache im Auslande gedruckte und nach Preußen einkommende Zeitung. Auch diese Abnormität ist ganz und gar nicht mehr aufrecht zu erhalten, sie steht im Widerspruch mit dem Geiste der Gesetze und der Ereignisse, auf Grund deren wir hier versammelt sind. (S. w.!) In der Instruktion nun, die an die Postbeamten ergangen ist, damit sie sich vergewissern können, welche Zeitung eine politische sei oder nicht, heißt es, sie sollen den Zeitungskatalog nachschlagen, und wenn der Zeitungs­ katalog sie rathlos läßt, dann sollen sie sich Auskunft erbitten bei der Provinzial-Steuerdirektion, und zwar wegen der 3 Pfennige! M. H., wenn die Unterscheidung also ost sehr schwer ist, so ist sie aber doch zu machen, namentlich wenn man sie vom fiska­ lischen Standpunkte aus macht, und mit dem Recht der Entscheidung zugleich das Recht der Exekuüon hat. Es ist, sage ich, mit dem Geiste der modernen Postgesetzgebung ab­ solut unvereinbar, daß die Post eine Druckschrift auf ihren Inhalt hin prüft, um je nach Befund ihr Monopol darauf anzuwenden oder nicht. Die Sache wird vollständig zur Karrikatur, wenn Sie sich den Fall denken, daß die Post die verschiedenen Packete, die auf der Eisenbahn als gewöhnliche Eisenbahn-Packete aufgegeben sind, darauf an­ sehen möchte, ob darin politische Zeitungen stecken oder nicht. Die Wochenausgaben unserer politischen Zeitungen, die vorzugsweise für das Ausland bestimmt sind, gehen zum größten Theile nicht durch die Post, sie gehen ballenweise durch die Eisenbahn. Wenn die Post ihr Privilegium in Anspruch nähme, so hätte sie das Recht, diese Eisen­ bahn-Ballen zu saisiren. Denken Sie sich einmal, zu welchen Konsequenzen Sie kommen würden, wenn an jedem Sonnabend auf den verkehrreichsten deutschen Bahnhöfen die Postagenten mit den Beamten der gerichtlichen Polizei ständen, um die Packete und Ballen darauf anzusehen, ob darin politische Wochenblätter und andere Zeitungen steckten. — Die Postverwaltung selbst aber leistet in der Beförderung der politischen Zeitungen durchaus nicht das, was noch von unseren sonstigen Posteinrichtungen verlangt werden müßte, um ein Monopol zu entschuldigen. In Berlin macht Zeder von Ihnen, der eine auswärtige Zeitung bestellt, diese Erfahrung: die Post schafft Ihnen die Zeitung blos nach Berlin, und wenn die Einzelnen unter uns hier in der Postexpedition des Hauses die Zeitungen in Empfang nehmen, so ist es eben eine Ausnahme. Wer die Zeitung in seine Wohnung gebracht haben will, dem bringt die Post sie nicht, sondern den verweist sie an einen Privatmann, an einen sogenannten Zeitumgsspediteur; mit diesem muß man sich abfinden, damit er die Bestellung bei der Post mache und Einem die Zeitung ins Haus liefere. — Angesichts solcher Umstände, glaube ich, ist es durch­ aus verkehrt, wenn die Post ihre Ansprüche auf den Zeitungsdebit in aller Konsequenz festhielt. Ich habe schon zweimal gesagt, ich streite heute über die Ausdehnung des Monopols nicht weiter, als indem ich behaupte, sie müsse da ihre Grenzen haben, wo der überwiegende Vortheil des Publikums entgegensteht, wo das Publikum also sagen kann, es würde ihm mehr Schaden als Nutzen zugefügt, wenn die Post ihre Ansprüche durchsetzt. — Für den Fall also, und nur für den Fall, daß der Antrag der Herren Elben und Gerstner abgelehnt wird, bitte ich Sie, zuzulassen, daß erstens Zeitungen, politische Zeitungen, welche wöchentlich einmal oder seltener erscheinen, nicht dem Post­ zwange unterliegen. Zweitens bitte ich Sie, das Monopol nicht gelten zu lassen in dem Umkreise von zwei Meilen vom Erscheinungsorte des Blattes, denn, m. H., inner­ halb dieses Bezirks kann die Post unmöglich so pünktlich, wenigstens nicht so schleunig die Zeitungen austragen, als die Privatindustrie es kann, wenigstens thut sie es in sehr vielen Fällen nicht und zwar aus dem einfachen Grunde, weil der Verkehr von der Stadt in den Umkreis von zwei Meilen, also namentlich von einer großen Stadt in die nächstgelegenen kleinen Städte, meistens in den Morgenstunden und wenn er zwei­ mal stattfindet, in den Mittagsstunden sich vollzieht. Die ganze Umgebung der Städte

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wäre ohne Privatboten für den Zeitungsbezug lahm gelegt gewesen. Ich glaube, hier handelt es sich nicht blos um ein gewerbliches Interesse, nicht blos um das Interesse des. Kaufmanns, der am Nachmittag schon wissen will, was in der Stadt Mittags an der Börse sich ereignet hat, sondern es handelt sich auch um ein moralisches Interesse, um eine hochpolitische, patriotische Angelegenheit. Zch hoffe von Seiten der Postver­ waltung keinen Widerspruch zu finden, wenn ich Ihnen mein Amendement empfehle: würde es allerdings noch mehr vorziehen, wenn die Postverwaltung sich mit dem An­ träge der Herren Abgg. Elben und Gerstner einverstanden erklären könnte. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor Stephan: Zch habe Sie zu bitten, entsprechend dem früher gefaßten Beschlusse, den Antrag der Herren Abgg. Dr. Elben und Dr. Gerstner nicht anzunehmen. Dagegen glaube ich in Aussicht stellen zu können, daß bei der ferneren Berathung der Angelegenheit im Bundesrathe eine Einigung dahin erzielt werden wird, das Amendement des Herren Abg. Dr. Becker anzunehmen, und ich würde Sie also bitten, diesem Amendement die Zustimmung zu ertheilen. Die Amendements Dr. Elben u. Gerstner, sowie Richter werden abgelehnt, der Antrag des Abg. Dr. Becker mit großer Majorität angenommen. Zu § 3 liegen vor: 1) Amendement Duncker: Im 8 3: 1) nach den Worten „nicht verweigert" das Wort „insbesondere" zu ersetzen durch das Wort „auch", 2) die Worte: „so lange überhaupt der Vertrieb der Zeitungen im Wege des Postdebits erfolgt" zu streichen und 3) die unmittelbar darauf folgenden Worte: „von demselben" zu ersetzen durch die Worte: „vom Postdebit". 2) Amendement Dr. Brockhaus: 8 3 am Schluß hinzuzufügen: „Die Post be­ sorgt die Annahme der Pränumeraüon auf die Zeitungen, sowie den gesammten Debit derselben." 8 3 wird unter Annahme der beiden Amendements in folgender Fassung: „Die Annahme und Beförderung von Postsendungen darf von der Post nicht ver­ weigert werden, sofern die Bestimmungen dieses Gesetzes und des Reglements (8 50) beobachtet sind. Auch darf keine im Gebiete des deutschen Reichs erscheinende poli­ tische Zeitung vom Postdebit ausgeschlossen und ebensowenig darf bei der Normirung der Provision, welche für die Beförderung und Debitirung der im Gebiete des deut­ schen Reichs erscheinenden Zeitungen zu erheben ist, nach verschiedenen Grundsätzen verfahren werden. Die Post besorgt die Annahme der Pränumeraüon auf die Zeitungen, sowie den gesammten Debit derselben." mit großer Majorität angenommen. Die 88 4 bis 15 werden angenommen. Auf 8 16 bezieht sich der Vorschlag des Abg. Dr. Prosch, den zweiten Satz des ersten Alinea, welcher mit den Worten „von Personenfuhrwerk rc." beginnt, zu streichen. Die 88 16 bis 26 werden nach Ablehnung dieses Vorschlages angenommen. Der Antrag der von den Abg. Dr. Elben und Dr. Gerstner zu 8 27 gestellt war, hat mit der Abstimmung über 88 1 und 2 seine Erledigung gefunden. Auch die 88 27 bis 40 werden angenommen. 8 41 wird mit Wegfall der Worte „der Defraudation" angenommen, ebenso 88 42 bis 49 einschließlich. Der Antrag der Abg. Schenck u. Gen., der sich auf 8 50 bezieht und auf Be­ seitigung des Landbriefbestellgeldes hinausgeht, steht im engsten Zusammenhänge mit dem Beschluß, der in zweiter Berathung zu 8 8 des Posttaxgesetzes gefaßt worden ist. Da nach Mittheilung des Präsidenten von Seiten des Regierungstisches die Absetzung der dritten Berathung des Gesetzentwurfs über das Posttaxwesen von der Tagesordnung gewünscht wird, weil man sich darüber noch in einem anderen Kreise verständigen will, so wird die Berathung über 8 50 bis zur dritten Berathung über das Posttaxwesen ausgesetzt. (Siehe am Schluß dieses Abschnittes.)

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Gesetzentwürfe.

Die §§ 51 und 52 werden angenommen. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor Stephan: Ich will zum Schlüsse nur einige Bemerkungen machen im Zusammenhang mit ehern Vor­ gänge, der bei der zweiten Berathung stattgefunden hat. Von dem Herrn Abg Duncker ist geäußert worden, daß ein Ministerialreskript existire, welches den Zeitungm unter­ sage, eine Mittheilung über die Orte, wohin die einzelnen Exemplare geschickt werden, an die Verleger zu machen. Es ist von dem Herrn Abgeordneten nicht behauptet worden, daß das Reskript einzelne Ausnahmen für bestimmte Zeitungen statuire, es ist aber ausweislich des stenographischen Berichts von ihm die Bemerkung daran geknüpft worden: damit die mißliebigen Zeitungen nichts erführen, hat man die Verfügung generell getroffen, aber es finden sich immer Wege, solche generellen Verfügungen zu umgehen, und ich glaube, daß in der bezeichneten Periode allerdings die gutgearteten Zeitungen erfahren haben, wohin sie gehen, während es den oppositionellen nicht möglich war, zu erfahren, wohin ihre Exemplare versandt worden sind. Von der Existenz dieses Ministerialreskripts war mir nichts bekannt, ich habe deshalb die nöthigen Nachforschungen anstellen lassen, und es ist gelungen, in einem SpezialAktenstück dieses vom 15. Januar 1850 datirte Reskript aufzufinden; — es existirt also in der That und lautet, wenn ich mit Erlaubniß des Herrn Präsidenten den sehr kurzen Inhalt mittheilen darf, folgendermaßen: An die Ober-Postdirektion in Berlin. Der Ober-Postdirektion eröffne ich auf die Anfrage in dem Berichte vom 8. d. M., daß die Antwort, welche das Zeitungskomptoir der Redaktion der „Ostsrezeitung" und „Börsennachrichten der Ostsee" nach dem anliegend zurückfolgenden Schreiben derselben auf das Verlangen „ihr die Zahl der im Jahre 1849 und der in diesem Jahre für Rußland bestellten Exemplare ihrer Zeitung mitzutheilen", geoeben hat, durchaus korrekt und daher zu bestätigen ist, da die Postbehörden keine Veranlassung haben, den Redaktionen der verschiedenen Zeitschriften darüber Auskunft zu ertheilen, wohin sie die von ihnen bezogenen Blätter absetzen. Man könnte sagen, es ist das der Standpunkt, den jeder Vermittler eines Kaufgeschäfts — und um das handelt es sich — einzunehmen hat: denn wenn ich z. B. zu einem Buchhändler komme und Bücher von ihm kaufe, so brauche ich ihm nicht zu sagen, für wen sie bestimmt sind. Aber ich will hierauf kein Gewicht legen. Es hat auch der Vorwurf des Herrn Abg. Duncker sich nicht gegen das Ministerialreskript, sondern gegen die Anwendung desselben gerichtet, und in dieser Beziehung erlaube ich mir zu benerken, daß von dem Zeitungskomptoir unter dem 16. April 1850 folgender Bericht m das General-Postamt erstattet ist: Es fehlt eine feste Bestimmung, welche für alle Fälle zur Anwendung lommen muß, da nach meiner Ansicht sämmtliche Verleger zur Postverwaltung in ganz gleichen Rechten stehen und es nicht den Ansichten des Rendanten überlassen bleiben kann, diesem oder jenem Verleger irgend einen Vorzug oder irgend eine Berücksichtigung einzuräumen. Dieser Bericht und die darin niedergelegte Ansicht über die Stellung der Post zu den verschiedenen Zeitungsverlegern sind dann in der darauf ergangenen Verfügung von dem General-Postamte vollkommen gebilligt worden; und daß nach diesen Bestimnungen auch verfahren ist, das erlaube ich mir ferner aus den Akten zu beweisen bürg einen Vorgang, der zwei Jahre später stattgefunden hat, indem der damalige Polizei^äsident von Hinckeldey sich an das Zeitungskomtoir gewendet hatte um Auskunft, wchin die verschiedenen Zeitungen gehen. Es ist demselben darauf geantwortet worden: Euer Hochwohlgeboren entgegne ich auf das geehrte Schreiben vom 18. d. N. ganz ergebenst, daß ich zu meinem Bedauern außer Stande bin, die Anzahl der Zstungen anzugeben, die durch Vermittlung des Zeitungskomtoirs durch die Post versandt verden, weil dies den bestehenden, kürzlich erneuerten Bestimmungen entgegen ist. Es ist ferner auf ein gleiches Verlangen einiger Landraths-Aemter unter dem !0. Ja­ nuar 1852 eine Verfügung seitens des General-Postamtes an die Ober-Posttirektion zu Magdeburg ergangen, welche sagt:

Postwesen des Deutschen Reiches.

513

Es ist ganz in der Ordnung, daß die Ober-Postdirektion nach dem Berichte der­ selben vom 5. d. Mts. den Postanstalten des dortigen Bezirks die Genehmigung zu den, )on den Landraths - Aemtern verlangten Mittheilungen über die debitirten Zeit­ schriften und über die betreffenden Abonnenten versagt hat. Seitens der Postbehörden ist hiernach stets gleichmäßig bei Anwendung des Reskripts verfahrer worden. — Es hat außerdem auf meine Veranlassung der Chef des Zeitungskomtoirs jetzt noch in einem besonders erstatteten amtlichen Berichte darüber, wie die Haltung gewesen ist, Anzeige erstattet, und es heißt darin ausdrücklich: Diesel Weisung (nämlich der obigen des General-Postamts) ist nach allen Richtungen hin bri dem Zeitungskonrtoir gleichmäßig entsprochen worden, und es kann mir, wie ich glaube, nicht nachgewiesen werden, daß bezüglich der Tendenz der verschiedenen Zeiturgen und deren Verleger irgendwie bei dem Zeitungskomtoir eine Bevorzugung Einzelner eingetreten wäre. Am Schluß heißt es nochmals: Nach diesen Entscheidungen ist hier — nach den Angaben des Rechnungsraths N. N. — arch vor meinem Eintritt bei dem Zeitungskomtoir konsequent verfahren und mithin Bevorzugung einzelner Verleger, welcher Farbe sie auch angehört haben, durch Mittheilung der Debitslisten nicht eingetreten. 2>9 hoffe, m. H., Sie werden daraus die Ueberzeugung gewinnen, daß die ver­ schiedenartige Anwendung des Ministerialreskripts durch die Postbehörden, von welcher der Herr Abg. Duncker in der vorigen Sitzung sprach, nicht stattgefunden hat. Er hat zwar ausdrücklich bemerkt, daß er seinen Vorwurf nicht gegen die jetzige Ver­ waltung richten wolle, indeß, m. H., in Dingen dieser Art handelt es sich nicht um eine jetzige und eine frühere Verwaltung; da giebt es vielmehr immer nur eine Verwaltung, (B. r.) und Sie werden erklärlich finden, daß es mir am Herzen gelegen hat, den Vorwurf gerade von der früheren Verwaltung abzuwenden, um so mehr, als derselbe Männer treffen würde, die leider bereits unter dem Rasen liegen und sich nicht selbst vertheidigen können. (Br.! r.) Abg. Duncker: M. H., ich meine, daß dasjenige, was der Herr GeneralPostdirektor soeben mitgetheilt hat, lediglich die Behauptungen bestätigt, welche ich neulich ausgesprochen habe. M. H., das Reskript, von dem ich gesprochen habe, der Herr General-Postdirektor hat es Ihnen eben vorgelesen. Ich habe auch, wenn Sie den stenographischen Bericht ansehen wollen, schon damals in keiner Weise die Po st Verwaltung angegriffen, indem ich eben damals schon, wie heute, gewußt habe, daß namentlich das hiesige königliche Zeitungskomtoir und dessen Vorsteher immer die Grundsätze der Unparteilichkeit gegen alle Blätter gehandhabt hat, aber ich habe behauptet, daß die Efistenz einer solchen generellen Ministerialversügung, welche das Verbot äussprach, den Zeitungsverlegern die Orte anzugeben, wohin ihre Blätter hin gingen, von dieser höheren Stelle allerdings in der Tendenz ergangen sei, die Verbreitung mißliebiger Zeitungen womöglich zu hindern, und diese Behauptung halte ich heute noch aufrecht, wie ich ebenso sagen muß, daß, ohne irgend einen Vorwurf gegen die Postverwaltung zu erleben, sich gegen solche generelle Verfügungen immer Mittel und Wege finden lassen, sie zu umgehen für diejenigen, die sich liebes Kind zu machen wissen. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, General - Postdirektor Stephan: Ja, n. H., wenn die letzte Anführung aufrecht erhalten bleibt, so bleibt auch die Aeußerung des Herrn Abg. Duncker bestehen, daß die generelle Verfügung verschieden gehandhabt worden sei. Die Handhabung dieser Verfügung lag aber lediglich in der Hand der Postbeamten und der Postbehörden, und ich werde bis dahin, wo der Herr Abgeoümete die Beweise dafür vorbringt, daß von Seiten der Postverwaltung und der Postbermten verschieden, namentlich mit Rücksicht aus Parteiinteressen, verfahren worden sei, ihr bitten uns zu erlauben, daß ich den amtlichen Berichten und den Akten, die uns wrliegen, mehr Werth und Glauben beilege, als den Erklärungen, die von ihm hier ir dieser Beziehung gefallen sind. Abg. Freiherr von Hoverbeck: Es scheint mir in diesem Augenblick etwas

514

Gesetzentwürfe.

hart, von einem Abgeordneten, der nur als Privatperson handeln kann, solche speziellen Nachweise zu verlangen. (H. r.) Es klingt allerdings sehr plausibel: wo küne be­ stimmten Beweise da sind, ist auch kein Grund zur Beschwerde vorhanden; wmir wir aber das Regime in Preußen von dem Jahre 1848 bis heute bedenken, so wecken wir wohl zu der Ansicht kommen, daß es Zeiten gegeben hat, wo derartige Requisitionen seitens der Landräthe oder noch höherer Verwaltungsbehörden von den einzelnen 8eamten in unteren Postanstalten beifällig und willfährig behandelt worden sind; und ick glaube, wenn der Herr Postdirektor nur so gut wäre, in den Akten, die er ja in Brzug auf diesen Punkt nach seiner eigenen Angabe früher nicht gekannt hat, noch weiter nach­ zusuchen, daß er möglicherweise in dem reichen Material, das ihm zu Gebote stcht, auch noch etwas für uns finden könnte. Abg. Duncker: Ich habe dem Herrn General-Postdirektor auf seine letzte Aeußerung nur zu erwidern, indem ich meine Behauptung aufrecht erhalte: es giebt neben den offiziellen nichtoffizielle Wege, über die Sie niemals etwas in den Akten finden werden! Das Haus kommt zu der Resolution, die bei der zweiten Berathung angenommen ist. Dieselbe wird angenommen, nachdem auf Anregung des Abg. Mosle der GeneralPostdirektor Stephan erklärt, daß in Zukunft für den Verkehr mit England der Transit über Calais werde erstrebt werden. sDie Zusammenstellung wird ausgesetzt bis gleichzeitig mit der dritten Berathung über das Posttaxgesetz die Frage des Landbriefbestellgeldes entschieden ist] Fortsetzung am 23. Mai 1871. Es wird bei der dritten Verhandlung über das Posttaxwesen der Beschluß Abschaffung des Landbriefbestellgeldes mit großer Majorität aufrecht halten (s. daselbst). Darauf auch das Wort „Landbriefbestellgeld" im § 50 sition 7 des Postgesetzes laut Antrag Erhard u. Gen. beseitigt. Schließlich wird das ganze Gesetz in dritter Berathung angenommen.

auf er­ Po­ auch

Nr. 16.

Gesetz-Entwurf über das Posttaxwesrn im Gebiete -es deutschen Keichs. Wir Wilhelm rc. rc.

§1. Porto für Briefe. Das Porto beträgt für den frankirten gewöhnlichen Brief auf alle Entfernungen bis zum Gewichte von 15 Grammen einschließlich 1 Silbergroschen, bei größerem Gewichte........................................... 2 Bei unfrankirten Briefen tritt ein Zuschlagporto von 1 Sgr., ohne Unterschied des Cewichts des Briefes hinzu. Dasselbe Zuschlagporto wird bei unzureichend frankirten Briefen nebm dem Ergänzungsporto in Ansatz gebracht. Portopstichtige Dienstbriefe werden mit Zuschlagporto nicht belegt, wenn die Eigenschaft der­ selben als Dienstsache durch eine von der Reichs-Postverwaltung festzustellcnde Bezeichnung cuf dem Couvert vor der Postaufgabe erkennbar gemacht worden ist.

§2. Packetporto. Das Packetporto wird nach der Entfernung und nach dem Gewicht der Sendung rrhoben. Die Entfernungen werden nach geographischen Meilen, zu 15 auf einen Aequatorgrck „ be­ stimmt. Das Postgebiet wird in quadratische Taxfelder von höchstens 2 Meilen Seitenlange ein-

Posttaxwesen des Deutschen Reiches.

515

getheilt. Der direkte Abstand des Diagonalkreuzpunktes des einen Quadrats von dem des andern Quadrats bildet die Entfernungsstufe, welche für die Taxirung der Sendungen von den Post­ anstalten des einen nach denen des andern Quadrats maßgebend ist. Die bei den Entfernungs­ stufen sich ergebenden Bruchmeilen bleiben unberücksichtigt. Das Packetporto beträgt: pro Pfund: bis 5 Meilen ... 2 Pfennige, . .. 4 über 5 bis 10 Merlen 10 . .. 6 15 20 . .. 8 15 ... 10 25 20 30 25 1 Sgr. 30 40 1 ; 2 50 1 ; 4 5 40 50 60 1;6; 1 ; 8 70 60 80 1 = 10 70 2 ; — 90 80 2 ? 2 s 90 - 100 2 ; 4 - 100 - 120 2 ; 6 - 120 - 140 2 8 - 140 - 160 2 S 10 5 - 160 - 180 - 180 Meilen........................... 3 Ueberschießende Gewichttheile unter einem Pfunde werden für ein volles Pfund gerechnet. Als Minimalsätze für ein Packet werden bis 5 Meilen 2 Sgr., über 5 bis 15 Meilen 3 Sgr., über 15 bis 25 Meilen 4 Sgr., über 25 bis 50 Meilen 5 Sgr., und über 50 Meilen auf alle Ent­ fernungen 6 Sgr. erhoben. Für die etwaige Begleitadresse kommt besonderes Porto nicht in Ansatz. Wenn mehrere Packete zu derselben Begleitadresse gehören, wird für jedes einzelne Packet die Taxe selbstständig berechnet. §3. Porto und Versicherungsgebühr für Sendungen mit Werthangabe. Für Sendungen mit Werthangabe wird erhoben: a. Porto, und zwar: 1) für Briefe, ohne Unterschied der Schwere derselben, auf die nach § 2 ermittelten Entfernungen: bis 5 Meilen . . . IV2 Sgr., über 5 bis 15 Meilen . . . 2 15 - 25 . . .. 3 - 25-50 . . .. 4 - 50 Meilen...................... . 5 2) für Packete und die etwa dazu gehörige Begleitadresse: der nach § 2 sich ergebende Betrag; und

b. Versicherungsgebühr. Dieselbe beträgt auf die nach § 2 ermittelten Entfernungen und nach Maßgabe des angegebenen Werths: bis 50 Thlr. über 50 bis 100 Thlr. bei größeren Summen für je 100 Thlr. bis 15 Meilen............................... % Sgr. ... 1 Sgr. ... 1 Sgr. über 15 bis 50 Meilen . . . 1 . . . 2 ...2-, - 50 Meilen ...................... 2 . . . 3 . . . 3 Uebersteigt die angegebene Summe den Betrag von 1000 Thalern, so wird für den Mehr­ betrag die Hälfte der obigen Versicherungsgebührensätze erhoben.

Gesetzentwürfe.

516

Wenn mehrere Packete mit Werthangabe zu einer Begleitadresse gehören, wird surr jedes Packet die Versicherungsgebühr selbstständig berechnet.

§4.

Abrundung und Umrechnung. Die bei der Berechnung des Portos sich ergebenden Bruchtheile eines Silbergroschms werden

auf V4, V2, 3A oder ganze Silbergroschen abgerundet. Zn den Gebieten mit anderer als derjenigen Währung, welche den vorstehenden Tarifsätzen

zum Grunde liegt, sind die aus obigem Tarif sich ergebenden Portobeträge in die lcndeesübliche Münzwährung möglichst genau umzurechnen.

Stellen sich hierbei Bruchtheile heraus sw erfolgt

die Erhebung mit dem nächst höheren darstellbaren Betrage. Dem Portosatze von 1 Sgr. nvird bei

einfachen frankirten Briefen in den Gebieten mit Guldenwährung der Betrag von 3 Kreuzerm gegen­ übergestellt. §5.

Couvertiren an die Postanstalten. Werden Briefe oder

andere Gegenstände

vom Absender

an

eine Postanstalt zrum Ver­

theilen couvertirt, so kommt für jede im Couvert enthaltene Sendung das tarifmäßige Porto in Ansatz.

§6. Termin der Zahlung. Die Postanstalten dürfen Briefe, Scheine, Sachen rc. an die Adressaten erst dann aushän­

digen, wenn die Zahlung der Postgefälle erfolgt ist; es ser denn, daß eine terminweise Abrechnung darüber zwischen der Postanstalt und dem Adressaten verabredet wäre.

§7. Nachforderung von Porto. Nachforderung an zu wenig bezahltem Porto ist der Correspondent nur dann zu berichtigen verbunden, wenn solche innerhalb Eines Jahres nach der Aufgabe der Sendung angemeldet wird.

§8.

Abschaffung von Nebengebühren. Für die Abtragung der mit den Posten von weither gekommenen und nach dem Ortslestell-

bezirke der Postanstalten gerichteten Briefe ohne Werthangabe, Correspondenzkarten, gegen ermäßigtes

Porto beförderten Drucksachen, Warenproben oder Waarenmuster, rekommandicten Sendungen, Begleitadressen zu Packeten, Postanweisungen und Formulare zu Ablieferungsscheinen roirh eine

Bestellgebühr nicht erhoben. Gebühren

für Postscheine über die Einlieferung von Sendungen zu Post und

Cefach-

gebühren für abzuholende Briefe oder sonstige Gegenstände, desgleichen Packkammergeld, kcmmen

nicht zur Erhebung.

§9. Verkauf von Postwerthzeichen durch die Postanstalten.

Die Postanstalten haben, nach näherer Anordnung der Reichs-Postverwaltung,, Freinarken zur Frankirung der Postsendungen bereitzuhalten und zu demselben Betrage abzulasssen, velcher

durch den Frankostempel bezeichnet ist.

Die Postanstalten sollen ermächtigt sein, auch mit den Ab­

satz von Franko-Couverts und von gestempelten Streifbändern, Postanweisungen und Korrespondenz­ karten sich zu befassen, für welche, außer dem durch den Frankostempel bezeichneten WertlMrage,

eine den Herstellungskosten entsprechende Entschädigung eingehoben werden kann.

§ 10. Provision für Zeitungen.

Die Provision für Zeitungen beträgt 25 Prozent des Einkaufspreises mit der Ermäßigung auf 12y2 Prozent bei Zeitungen, die seltener als monatlich 4 Mal erscheinen.

Mindestens ist jedoch für jede abonnirte Zeitung jährlich der Betrag von 4 Silbergwschen zu entrichten.

§11. Tarife für den Verkehr mit anderen Postgebieten. Die Tarife für den Verkehr mit anderen Postgebieten richten sich nach den betrefenLen

Postverträgen.

Posttaxwesen des Deutschen Reiches.

517

§ 12.

Aufhebung bisheriger Bestimmungen. 'AL bisherigen allgemeinen und besonderen Bestimmungen über Gegenstände, worüber das

gegenwiärtge Gesetz verfügt, werden hierdurch aufgehoben. § 13.

Innerer Postverkehr in Bayern und Württemberg. Dir Bestimmungen dieses Gesetzes finden nicht Anwendung auf den inneren Postverkehr in Bayern, urd Württemberg.

§ 14.

Anfangstermin. Da- gegenwärtige Gesetz tritt mit dem 1. Januar 1872 in Kraft.

Erste Berathung am 5. Mai 1871.

2lbz. Graf Nittberg: Ich mache darauf aufmerksam, daß durch diese Vorlage das Briejporto erhöht werden soll. Bisher zahlten wir für einen Brief, welcher ein Loth Zollgewicht hatte, einen Silbergroschen, jetzt wird uns vorgeschlagen, für einen Brief, der 15 Gramm wiegt, 1 Silbergroschen zu zahlen; 1 Loth macht aber 16% Gramm, es folgst also daraus, daß das Briefporto etwas theurer wird. M. H., ich möchte diese Erhöhung des Briefportos nicht ohne alles Aequivalent bewilligen, und darauf erlaube ich mir folgenden Vorschlag zu gründen. — Ich komme zurück auf das Landbriefbestellgeld, welches wir schon vor einigen Tagen besprochen haben. Von Seiten der Bundes­ regierung ist uns gesagt, wie sehr auch sie wünsche, daß dasselbe aufgehoben werden möge, zur Zeit sei es aber unthunlich, weil das Aequivalent für den Ausfall, der da­ durch in der Postkasse entstehen würde, nicht herbeizuschaffen sei. Nun, m. H., möchte ich doch wenigstens einen kleinen Anfang damit machen. Ich lenke Ihre Aufmerksamkeit auf diejenigen Postsendungen, welche mittels Streifbandes oder Kreuzbandes geschickt werden. Sie kosten durch das ganze Land und von Memel bis Triest 4 Pfennige, und wenn eine solche Sendung abgetragen wird auf das Land, wo keine Postanstalt besteht, so muß der Empfänger 6 Pfennige bezahlen. Das scheint mir doch eine sehr große Ungleichheit und Härte zu sein. Ich möchte daher vorschlagen, daß wir für diese Sendungen unter Streif- oder Kreuzband das Landbriefbestellgeld aufhöben; ich stelle diesen Vorschlag zur geneigten Erwägung des hohen Hauses und werde, wenn wir zur zweiten Berathung gehen und wenn er Beifall findet, ein desfallsiges Amendement ein­ bringen. Die verbündeten Regierungen und namentlich den Herrn General-Postdirektor aber möchte ich ersuchen, diesem Vorschläge wenigstens günstig zuzustimmen und uns so ein Aequivalent für das erhöhte Porto zu geben, dadurch aber freilich auch die Hoff­ nung zu stärken, daß das Landbriesträger-Bestellgeld bald ganz wegfalle. Vundesbevollmächtigter, General-Postdirektor Stephan: M. H., wir sind dem geehrten Herrn Abg. für Glogau sehr dankbar dafür, daß Sie die Verringerung des Briefgewichts bewilligen wollen. Allerdings ist mit diesem daraus auch sogleich ein petimusque vicissim verbunden gewesen; für dieses petimus bin ich weniger dankbar und für das vicissim noch weniger, namentlich insofern diese Ermäßigung des Brief­ gewichts keineswegs eine Mehreinnahme für die Post im Gefolge haben wird. Es hat sich das Präsidium einer Handelskammer mit einer Eingabe hierher gewendet, in welcher es cheißt, daß die Ermäßigung des Briefgewichts in ihrer Folge die Erhöhung des Portos, wie die Handelskammer sich ausdrückt, ungefähr neun Zehntel aller Korrespondenz be­ treffe. Ja, m. H., wenn solche Behauptungen aufgestellt werden von Seiten, wo man doch annehmen kann, daß einigermaßen Sachverständniß obwaltet, dann kann man sich darüber nicht wundern, daß im großen Publikum dergleichen Irrthümer weiter verbreitet sind. Ich habe glücklicherweise Zeit gehabt, das zählen zu lassen: dieser Briefe, die sich in dem Rayon von 15 bis 16% Gramm bewegen, sind unter 1000 nur 25 gewesen, also ein ganz verschwindend kleiner Theil, und in Betreff dieser 25 hege ich zu der geschLftsmännischen Umsicht unseres Publikums doch die Zuversicht, daß es die Mittel

518

Gesetzentwürfe.

schon finden werde, um diese Briefe im Gewicht zu verringern, ohne dazu noch ein Papier, wie seiner Zeit Naglers Verdruß, zu verwenden. (H.) Also es wird uns da sehr wenig mehr Porto zugeführt werden. Nichts desto weniger aber habe ich die Er­ mächtigung erhalten, gegenüber der Anregung, die zur Abschaffung des Landbrief­ bestellgeldes für Kreuzband-Sendungen gegeben ist, die Erklärung abzugeben, daß die Regierung geneigt ist, aus die Abschaffung dieses Satzes einzugehen. (Br.!) Unsere statistischen Ermittelungen über diesen Punkt sind jetzt geschlossen. Es ist eine Summe von etwa 40,000 Thalern, um die es sich dabei handelt, und die wir aller­ dings nur schwer entbehren können, weil wir bestrebt sind, die Landbriefbestellung noch weiter auszudehnen. Ich möchte hierbei blos in Parenthese bemerken, daß wir beispielsweise in Mecklenburg gar keine Landbestellung vorfanden, und es sind in den paar Jahren dort bereits 164 Landbriefträger in Thätigkeit gesetzt worden, die einen Kostenaufwand von 25,200 Thalern verursachen; in Hannover fanden wir bei der Uebernahme des Postwesens im ganzen Lande nur 139 Landbriesträger vor, die eine Summe von 19,588 Thalern für ihre Besoldungen in Anspruch nahmen, — diese Zahl von 139 ist in den drei Jahren erhöht worden unter der norddeutschen Postverwaltung auf 635, (h.! h.!) und der Aufwand dafür ist 89,553 Thaler. Nun kommt das Elsaß und Lothringen, wo zwar die Landbriefbestellung sehr gut organisirt ist — es ist das anzuerkennen —z aber wo die Landbriefträger sehr schlecht bezahlt gewesen sind und zum Theil angewiesen waren auf den Vertrieb von Kalendern, auf den Rabatt von Post-Freimarken, auf den Verkauf von Traktätchen und anderen der­ gleichen Dingen, so daß dieser Zustand doch unmöglich unter der deutschen Verwaltung aufrecht erhalten werden kann. Wir werden also da, um die armen Leute nicht einen Ausfall erleiden zu lassen, auch eine erhebliche Verbesserung der fixen Besoldung vor­ zunehmen haben. Ungeachtet mir also auch jenes Scherslein von 40,000 Thalern zu den Landbriesträger-Besoldungen sehr willkommen wäre, so ist die Regierung in An­ erkennung des großen Mißverhältnisses, das darin liegt, daß ein Kreuzband von Con­ stanz bis Tilsit 4 Pfennige kostet und von Tilsit bis nach dem nächsten Dorfe 6 Pfen­ nige, doch bereit, die Abgabe mit Erlaß des neuen Reglements, also vom 1. Januar 1872, fallen zu lassen. (Br.!) Abg. Ackermann befürwortet Halbgroschenporto für kleine Entfernungen. Bundesbevollmächtigter, General-Postdirektor Stephan: Was den Wunsch be­ trifft in Bezug auf das Einhalbgroschenporto, da glaube ich, die Sehnsucht der Herren aus den betreffenden Bezirken wird leider wohl noch sehr lange unbefriedigt bleiben müssen; es wird nur dann der Moment dafür eingetreten sein, wenn einmal die Postvernultung in Folge einer größeren, mir jedoch unwahrscheinlichen, Zurückhaltung in den Wünschen und Anforderungen, die allerseits an die Post gestellt werden, in die glückliche Lage kommen sollte, ein Einheitsporto von überhaupt einem halben Groschen herzulellen, denn wenn man jetzt das Einhalbgroschenporto für den kleinen Rayon von fünf Neilen zugestehen und in Folge dessen den entsprechenden Satz in denjenigen noch kleineren Bezirken, wo Kreuzerporto und Dreipfennigporto bestand, gleichfalls einführen vürde, und daraus dann auch wieder einen besonderen Rayon machen müßte, dann wärm wir ja wieder bei drei Rayons glücklich angelangt. Was helfen uns da alle Priryipien, alle Doktrinen und Unifikationstheorien des Posttarifs? Wo bliebe der Fortschritt?! Sie würden durch eine solche Maßregel demselben geradezu vor den Kopf stoßen; die Welt und die Wissenschaft hätten auf diesem Gebiete dann ganz vergebens gearbeitet, und Ihre Rayontaxe wäre ein Rückschritt, der uns geradezu in die Pfahlbauten-Zeiten des Postwesens zurückversetzen würde! (Gr. H.) Ich kann mich also dieser Konsequenzen wegen nicht dafür aussprechen, das Einhalbgroschenporto in einzelnen Bezirken ein­ zuführen, wenn wir nicht in der Lage sind, es für das ganze deutsche Reich zu thun. Die Vorlage wird zur zweiten Berathung ins Plenum verwiesen.

Zweite Berathung am 13. Mai 1871.

Der Antrag des Abg. Dr. Reichensperger (Crefeld) in Alin. 3 zu setzen:

des

§ 1

Posttaxwesen des Deutschen Reiches.

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„Portopflichtige Dienstbriefe und die von Soldaten in eigener Angelegenheit abge­ sandten Briefe werden mit Zuschlagsporto nicht belegt, wenn die Eigenschaft derselben als Dienstsache, beziehentlich als Soldatenbriefe durch eine von der Reichs-Postver­ waltung festzustellende Bezeichnung auf dem Couvert vor der Postaufgabe erkennbar gemacht worden ist," wird ab gelehnt. Auf § 8 beziehen sich die Anträge der Abgg. Graf von Nittberg (das Landbrief­ bestellgeld für Streifbandsendungen abzuschaffen), Schenck u. Gen. (die Worte „und nach dem Ortsbestellbezirke der Postanstalten gerichteten" in tz 8 zu streichen.) Abg. Graf von Rittberg: M. H., Sie haben hier ein Zusatzamendement, welches der Vertreter der verbündeten Regierungen, der Herr General-Postdirektor, bereits die Güte gehabt hat, bei der ersten Lesung zu bewilligen, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich habe aber geglaubt, hier diese Bewilligung als Zusatzantrag in Vorschlag bringen zu müssen, weil es besser ist, daß dieses aus dem Gesetz erhellt, als daß es aus dem Reglement hervorgeht. Nun geht der Antrag Schenck u. Gen. allerdings viel weiter; er erstrebt das, was wir Alle wünschen, daß das Landbriefbestellgeld ganz auf­ gehoben wird. Ich habe aber Bedenken, diesem Amendement, obgleich ich das Resultat wünsche, zuzustimmen, weil die verbündeten Regierungen bereits das Mindere zugegeben und zugesagt haben, daß sie Bedacht darauf nehmen würden, künftig das ganze Land­ briefbestellgeld aufzuheben. Wenn wir nun diese weitere Forderung stellen, so habe ich einige Bedenken, ob nicht das Zustandekommen des ganzen Gesetzes gefährdet sein könnte, und das würde mir nicht angenehm sein, weil ich diese ganzen Postverhältnisse wirklich durch ein Gesetz festgestellt wissen will. Ich bitte daher mein Amen­ dement anzunehmen. Abg. Schenck: M. H., der von uns gestellte Antrag will, daß das Bestellgeld für Briefe und für die übrigen im § 8 bezeichneten Sendungen ganz beseitigt werde. Ich darf zur Begründung dieses Antrages mich auf wenige Worte beschränken.*) — Es ist von Seiten des Herrn Vertreters des Bundesraths bereits anerkannt worden, daß das Bestehen des Bestellgeldes ein Mißverhältniß sei. Der Reichstag des nord­ deutschen Bundes hat bereits im Jahre 1870 diesen Uebelstand anerkannt und hat damals schon an den Herrn Bundeskanzler die Anforderung gestellt, er möge für die Abschaffung dieses Uebelstandes bemüht sein. Dieses Haus hat am 2. Mai bereits, ehe dieses Taxgesetz vorgelegt war, an den Herrn Reichskanzler das Ersuchen gestellt, diesen Gegenstand in Erwägung zu ziehen, und damit die Aufhebung des Landbrief­ bestellgeldes als nothwendig erkannt. Jetzt, wo das Gesetz uns vorliegt, wo wir Ge­ legenheit haben, mitzuwirken, daß dieses Uebel beseitigt wird, können wir meines Er­ achtens nicht anderes, als uns dahin aussprechen, daß vom 1. Januar 1872 ab das Bestellgeld aufhöre. Ich bitte Sie daher, so zu beschließen. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, General-Postdirektor Stephan: M. H., ich darf annehmen, daß das hohe Haus über die Stellung der Bundesregierung zu diesem Anträge nicht in Zweifel ist nach dem, was bereits bei einem früheren An­ träge hier zur Erörterung kam; indessen muß ich mir erlauben, in Kürze auf zwei Punkte einzugehen. Was die Anzahl der Landbriefträger und die Kosten für die Land­ briefbestellung betrifft, so sind sie bei weitem größer als die Briefbestellung in den Städten, und der geehrte Herr Abgeordnete würde sich davon sehr bald überzeugt haben, wenn er die Güte gehabt hätte, in den Etat hineinzublicken. Da sind pro 1870 allein an Landbriefträger aufgeführt 8624, die Zahl ist inzwischen auf 9000 gestiegen, wäh­ rend die Zahl sämmtlicher Unterbeamten bei allen Lokal-Postanstalten, also nicht nur Briefträger, sondern Wagemeister, Packmeister, Büreaudiener sich in dem ganzen Reich auf 5338 beläuft. Schon hieraus geht hervor, daß die Kosten der Landbriefbestellung ungleich höher sind als die der Stadt. Wenn dann auf die Einnahme wiederholt ver*) Am 2. Mai überwies der Reichstag eine Petition auf Abschaffung des Landbriefbestell­ geldes an den Reichskanzler.

520

Gesetzentwürfe.

wiesen worden ist, die die Post im Jahre 1870 erzielt hat, und die sie voraussichtlich im Jahre 1871 allerdings noch höher erzielen wird, so möchte ich mir doch erlauben, darauf aufmerksam zu machen, daß das eigentliche Gros dieser Einnahme zusammen­ hängt mit der Abschaffung der Portofreiheit; es ist das etwas über eine Million Thaler; der sonstige Theil des Überschusses ist im Wesentlichen entstanden aus sehr be­ deutenden Ersparnissen, die wir durch veränderte Organisation in dem inneren Dienst der Postanstalten erzielt haben. Der Ueberschuß pro 1870 liegt hauptsächlich in diesen beiden Momenten, und die ersten Monate von 1871 haben dies auch wieder bestätigt, denn die Einnahmen vom Verkehr sind immer noch außerordentlich schwach, was mit dem Kriege im Zusammenhänge steht. Ich lege Werth daraus, nochmals zu konstatiren, daß das Institut des Landbriefbestellgeldes dem Staate eine sehr beträchtliche Summe jährlich kostet, um so mehr, als noch vielfach die Meinung verbreitet ist, daß die Post sogar einen Ueberschuß aus dem Landbriefbestellungswesen zieht. Abg. Freiherr zur Rabenau: Ich bin der Ansicht, m. H., daß man in dieser Materie zwischen Land und Stadt die Dinge nicht auf die Goldwaage legen kann, und das thut man, wenn man in der Weise rechnet, wie es hier geschehen ist. M. H., die Post darf aus staatswirthschaftlichen Gründen keine Quelle staatlicher Reineinnahme sein, so lange noch berechtigte Anforderungen auf Verkehrserleichterungen bestehen, und eine solche Forderung ist diejenige auf Aufhebung des Landpostbestellgeldes. Will man aber spitz rechnen, so berechne man auch, was die Briefe, die eine weitere Ent­ fernung zurückzulegen haben, mehr kosten und welche Ausgaben dadurch in höherem Maße der Postverwaltung erwachsen; dann wird man zu dem statistischen, feststehenden Resultat kommen, daß das Land den Städten gegenüber in dieser Beziehung selbst dann noch finanziell ungünstiger gestellt ist, wenn man das Landbriefbestellgeld aufhebt. Ich bitte Sie dringend, ergreifen Sie die einzige Gelegenheit, diese Unbilligkeit zu beseitigen und nehmen Sie den Antrag Schenck u. Gen. an. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, General-Postdirektor Stephan: Ja, m. H., die verbündeten Regierungen werden nicht in der Lage sein, ein Gesetz an­ zunehmen, in welchem diese Position.ihre Aufnahme findet. Ich bitte Sie also, es bei der Resolution zu belassen, die bereits aus Anlaß des früheren Antrages der Petitions kommission gefaßt worden ist und welche vollkommen genügt, die Sache insoweit zu erledigen, als sie unter den gegenwärtigen Finanzverhältnissen überhaupt der Erledigung entgegengeführt werden kann. Der Antrag Schenck u. Gen. wird angenommen. Zu § 9 beantragt Dr. Bamberger: Der Reichstag wolle beschließen: dem § 9 hinzuzufügen: „Zum Zweck der Erleichterung des Verkehrs mit Freimarken, FrankoKouverts, Streifbändern und Korrespondenzkarten ist die Postdirektion ermächtigt, bestimmten sich zu dem Verschleiß verpflichtenden Personen einen Rabatt bis zu höchstens 2 Prozent auf den Normalsatz obiger Gegenstände zu gewähren." Abg. Dr. Bamberger: M. H., in den Ländern, welche die Pennypoß zuerst eingeführt haben, in den Vereinigten Staaten und Großbritannien, hat man sich dazu verstanden, einen Rabatt zu gewähren auf die Postmarken und den Debit zum Besten des Publikums. So viel ich weiß, hat man keine Beschwerden von irgend welcher Seite dagegen erhoben. In anderen Ländern hat man das nachgeahmt, und de Sätze sind so gering, daß die Einnahmen dadurch kaum verringert werden. Auch in England hat man einen Rabatt von einem Prozent für alle Postexpedienten und für as Verhältniß der Marine zum Landheere nicht richtig gewürdigt hätte, daß ich die Marine über das richtige Niveau erhoben und dem Landheere Eintrag gethan hätte. Der stenographische Bericht wird das Gegentheil beweisen. Ich habe gestern mich ver­ pflichtet erachtet, hervorzuheben, daß wir auch der Marine manche schöne glorreiche Waffenthat zu danken hätten, und das wiederhole ich. Es ist von dem Herrn Abg. Schmidt selbst schon der „Meteor" und dessen Seekampf in der Havanna genannt worden. Es sind ferner schon hervorgehoben worden die Leistungen der „Augusta"; ich nenne Ihnen ferner die „Grille", den Kampf der Corvette vor Bordeaux, die Kanonenboote aus der Loire, deren Leistungen wir wahrlich nicht unterschätzen dürfen. Wenn ich Ihnen neben den Führern, die an der Spitze der Flotte stehen, unter anderen die Namen Knorr und Graf Waldersee nenne, so glaube ich, verdienen diese Männer, daß sie auch in diesem Saale mit Anerkennung genannt werden, und ich möchte glauben, daß mir nicht Schuld gegeben werden kann, ich hätte mein Amendement mit Überschätzung der Marine gestellt, sondern ich glaube, mit wohlberechtigter Anerkennung der Marine. (Br.!) Abg. Schmidt (Stettin): M. H., als König Heinrich IV. einmal in eine Stadt einzog, wurde er beglückwünscht, und als der Redner geschlossen hatte, sagte der König: Du schilderst mich so, wie ich sein könnte, nicht aber, wie ich bin. Diese Worte fielen mir ein bei den Worten des Herrn Grafen Eulenburg. Ich bemerke, m. H., daß meine Absicht ja in keiner Weise gewesen ist, etwa die Marine herunterzusetzen, ich war nur durch den Antrag des Herrn Abg. von Bernuth veranlaßt, Thatsächliches hervorzuheben. Wenn wir auf die Entwickelung der Marine eingehen, so wissen wir, daß im Jahre 1864 unsere Schiffe sowohl auf der Ostsee wie auf der Nordsee gekämpft haben, obwohl sie an Zahl und auch an Ausrüstung den Dänen nicht gewachsen waren, sie nahmen aber in der Ostsee den Kamps auf zur Ehre unserer Flagge, und das machte damals überall einen vorzüglichen Eindruck. Nun, m. H., haben wir seit der Zeit mehrere große Panzerschiffe erworben, und was ich von dem ersten Schiff angeführt habe, das wird in keiner Weise durch das widerlegt, was der Herr Abg. Graf Eulenburg gesagt hat. Verstatten Sie mir blos einen Satz vorzulesen. Der genannte Verfasser, Korvettenkapitän Werner, sagt in seinem Buch: „Ein Kommandant von Muth und Energie, und daran fehlt es unseren Seeoffizieren nicht, wird sich am Bord des „König Wilhelm" gar nicht viel auf Kanonade einlassen, sondern ohne Weiteres die feindliche Flotte durchbrechen und die Transportschiffe niederrennen, die ihm bei seiner überlegenen Geschwindigkeit nicht entgehen können. —--------- Der „König Wilhelm" braucht aber die feindliche Flotte nicht in der Ostsee zu erwarten — er kann ihr in der Nordsee und bis vor ihren Häsen mit derselben Aussicht auf Erfolg entgegengehen und es ist deshalb schwerlich anzunehmen, daß sie sich einem solchen Schicksale aussetzen sollte." — M. H., wenn man diesen Panegyrikus liest auf das erste Schiff unserer Flotte, so werden Sie mir zugeben, daß man doch auch etwas von demselben erwarten mußte; dieses Urtheil kam ja nicht aus dem Kreise nichtkompetenter Sachverständiger. Entsprechend, m. H., haben viele etwas erwartet von den anderen beiden Panzerschiffen „Kronprinz" und „Friedrich Karl", zumal ja die französische Flotte sehr schlecht ausgerüstet war, wie das aus verschiedenen Berichten hervorgeht, die selber von französischen Marineoffizieren herrühren. Ich meine also, m. H., was hier durch die Vorredner von den glorreichen Kämpfen der Marine angeführt wird, das reducirt sich eigentlich auf einige Schießversuche, wie man es der Wahrheit gemäß konstatiren muß(Oh! oh! r.) An der französischen Küste wurden von der „Königin Elisabeth" aller­ dings einige Kauffahrteischiffe genommen; diese hatten gar keine Kanonen an Bord, es war also auch kein großes Verdienst, wenn ein norddeutsches Kriegsschiff einige

Kriegsdenkmünze für das Reichsheer.

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Kauffahrteischiffe fortnahm. Ich meine, dieses Lob reducirt sich darnach ebenfalls. — Was das Kanonenboot „Meteor" betrifft, so habe ich sein Verdienst ja selbst anerkannt, und ich muß mich wundern, daß Sie meinen Worten so wenig zugehört haben, um nicht das Hervorheben des „Meteor" in meinen Worten zu konstatiren. — Ich resumire mich dahin, m. H., daß es für die Entwickelung unserer Flotte weit günstiger gewesen wäre, wenn sie auch ihrerseits mehr geleistet hätte, als aus den angegebenen Daten hervorgeht, und ich werde mich in keiner Weise bestimmen lassen, mein Urtheil nach dem, was wir hier gehört haben, zu verändern und zu verbessern. Zch behaupte ent­ schieden, daß die Leistung der Flotte nicht den Erwartungen entsprochen hat, die vielfach von ihr gehegt wurden. Abg. von Winter: M. H., ich habe nur noch zu konstatiren, daß die Thätigkeit unserer Flotte in den übrigen Seestädten nicht dieselbe geringschätzende Verurtheilung findet, wie es nach den Worten des Herrn Abgeordneten von Stettin in Stettin der Fall zu sein scheint. (H.! h.y Ich erinnere mich aus dem ersten dänischen Kriege, daß die Herren in Stettin in ihren Hoffnungen und Erwartungen schon damals sehr überschwänglich waren, und ich glaubej nach dem, was ich heute gehört habe, daß sie auch jetzt das richtige Maß für das, was man von unserer Flotte zu erwarten hatte, nicht zu finden gewußt haben. (S. r.!) Der Herr Abgeordnete von Stettin stützt sich vorzugsweise auf das Urtheil des Kapitäns zur See, Herrn Werner, eines anerkannt tüchtigen und von mir persönlich sehr verehrten Mannes. Sein Urtheil über die Leistungsfähigkeit und die Macht des „König Wilhelm", die er so hochstellte, daß man vermittelst dieses einen Schiffes — wie er, wenn ich die Worte recht im Kopfe habe, sich ausdrückt — alle Flotten der Welt überwinden könne, wurde indessen damals, als er es schrieb, schon von anderen kompetenten Seemännern — ich scheue mich nicht, es auszusprechen — belächelt. Es mag damals wahr geroefetr sein, heute ist es der französischen Flotte gegenüber nicht wahr; denn es ist bekannt, daß die französische Flotte seitdem fünf große Panzerschiffe von dem Rang und der Kraft und der Aus­ rüstung des „König Wilhelm" besitzt. Wir in Danzig, m. H., waren wahrlich von großer Bcsorgniß ergriffen, als die ersten Nachrichten von der Ausrüstung des fran­ zösischen Panzergeschwaders zu uns kamen. Ein unbekannter Freund hatte die Güte, mir später vom Kriegsschauplatz her eine Illustration des Bombardements und der Ein­ nahme von Danzig zuzustellen (H.) und mir dadurch den Beweis zu liefern, daß man in Frankreich alles. Ernstes einen sehr entschiedenen Angriff auf Danzig erwartete. Ich glaube, wir haben es zum großen Theil der Haltung unserer Flotte — und gerade der reservirten Haltung unserer Flotte, in Folge deren sie vielleicht den Franzosen als eine mehr zu fürchtende Macht erschienen ist, als sie es in der That war, — zu danken, daß wir vor diesem Unheil eines Bombardements bewahrt geblieben sind. Wir sind vollständig zu der Ueberzeugung gekommen, und in allen mit nautischen und see­ männischen Verhältnissen in meinem Wohnort bekannten Kreisen ist das Urtheil wohl ein einstimmiges, daß, wenn man anfangs auch sich der sanguinischen Hoffnung hin­ geben mochte, unsere Flotte würde durch einen geschickt ausgeführten Coup der fran­ zösischen Flotte irgend eine Niederlage beibringen können, — daß, sage ich, unsere Flotte doch weise gehandelt hat und weise geleitet worden ist, wenn sie der Versuchung widerstanden hat, einen solchen Coup auszuführen. Wenn unsere Panzerschiffe als schwimmende Batterie den mit so großen Kosten und Opfern geschaffenen Hafen an der Jahde geschützt haben, wenn die kleinen Schiffe, wie namentlich die „Nymphe", die französische Flotte zurückgeschreckt haben vor einem Angriff insbesondere auf Danzig, der bestimmt in Aussicht genommen war, dann hat sie sich, glaube ich, den Dank des Landes verdient. Wenn Sie daran zweifeln wollten, daß dieser Angriff der „Nymphe" auf die französische Eskadre bei Danzig von Wirkung gewesen ist, dann bitte ich Sie, den Bericht des französischen Admirals zu lesen, der, als er dieses Angriffs — wie hier gesagt wird, dieses Schießversuchs — erwähnt, ausdrücklich hinzufügt; „man wird begreifen, welche Entmuthigung die Offiziere und Mannschaften der französischen Es­ kadre ergreifen mußte, als sie den Angriff dieses kleinen Schiffes auf sich ausführen

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Gesetzentwürfe.

sahen." — Ich habe also nur konstatiren wollen, daß man bei uns die Leistungen der Flotte anders beurtheilt als in Stettin, wenn man-vielleicht auch das Bedauern darüber theilt, daß die Leistungsfähigkeit nicht eine größere gewesen ist. Abg. von Kuss erow: M. H-, es ist schon von verschiedenen Seiten darauf auf­ merksam gemacht worden, welche Hindernisse sich dem „König Wilhelm" entgegenstellten, um im Sinne des Herrn Abg? Schmidt seine Schuldigkeit zu thun. Ich kann aus der Zeit des Krieges, zu welcher ich die Ehre gehabt habe bei der deutschen Botschaft in London zu fungiren, Zeugniß dafür ablegen, ohne ein Dienstgeheimniß zu verrathen, daß das Marinedepartement verschiedentlich versucht hat, den „König Wilhelm" nach England zurückzuschicken, wo er gebaut worden ist, um daselbst wieder in den nöthigen Stand gesetzt zu werden. Die englischen Neutralitätsgesetze ließen es aber nicht zu. Es trifft also das Kommando des „König Wilhelm" und unser Marinedepartement durchaus kein Vorwurf. — Ich hoffe, daß der Herr Abg. Schmidt bei Gelegenheit der Berathung des Marineetats seine Bemängelungen unserer Marine wiederholen wird; es werden dann Vertreter des Marinedepartements hier sein, um sich gegen solche Vor­ würfe zu rechtfertigen; ich hoffe dann aber auch, daß der Herr Abgeordnete aus großem Säckel die Mittel bewilligen wird, die wahrscheinlich die Vertreter des Marinedepar­ tements verlangen werden, um unsere Marine in den Zustand zu versetzen, den wir Alle wünschen. Ich möchte auch hervorheben, daß ebenso viel Tapferkeit dazu gehört, der Versuchung anzugreifen zu widerstehen, wenn man den Feind vor sich hat, als dazu gehört, draufzugehen. Abg. Grum brecht: M. H., auch an der Nordsee, das muß ich bezeugen, hegte man anfangs Erwartungen von den Erfolgen unserer Marine, die natürlich nicht voll­ ständig befriedigt sind. Es war das sehr erklärlich, da man das neue Institut, unsere neue Seemacht, ja immer mit der lebhaftesten Empfindung begleitet hat, aber ich muß doch zugleich bezeugen, daß man im Laufe der Zeit sich sehr dankbar dafür bezeugte, daß die Flotte ein Landen an unseren Küsten verhindert hat. Dieses Erfolges war man sich bewußt, und man freute sich später vollständig, daß nicht die Flotte in* einem vielleicht ungleichen Kampfe geopfert sei. Ich glaube daher, daß die Anschauungen an der Nordsee denen entsprechen, die der Herr Abgeordnete von Danzig für seine Distrikte bezeugt hat. Abg. Harkort: In diesen Kampf will ich mich nicht mischen und blos einem der Herren Vorredner erwidern, daß ich es stets getadelt habe, daß man im Auslande für viele Millionen Thaler Schiffe ankaufte ohne sie daheim repariren zu können. Das Gesetz wird einstimmig angenommen.

Nr. 19.

Die Abgg. Lasker u. Gen. beantragen folgendes

Gesetz. Wir Wilhelm rc. § 1.

Ueber einen Gesetz - Entwurf von ungewöhnlich großem Umfang kann der Reichstag

nach dem Abschluß der ersten Berathung unter Zustimmung des Bundesrathes beschließen, daß der Entwurf einer Kommission zur Vorberathung überwiesen, die Verhandlung des Reichstages in der nächsten Session derselben Legislaturperiode fortgesetzt und in der Zwischenzeit die Vorberathung

der Kommission begonnen oder fortgesetzt werde. § 2.

Auf die Verhandlungen-, sowie auf die persönlichen Rechte der Mitglieder dcr Kom­

mission für die Dauer der Kommissionssitzung finden die in dem Artikel 21, Absatz 1, Aräkeil 22,

Absatz 2, Artikel 30 und Artikel 31, Absatz 1 und 2 der Verfassung enthaltenen Vorschriften An­ wendung.

Kommissionsberathung eines Entwurfs von ungewöhnlich großem Umfange.

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Im Uebrigen bleibt der Geschäfts-Ordnung des Reichstages vorbehalten, die Regeln über die Zusammensetzung und die Wahl der Kommission, so wie die durch den Beschluß bedingten Regeln des Verfahrens in dem Reichstag und in der Kommission festzustellen. § 3. Für die zwischen einer und der andern Session abgehaltenen Sitzungen der Kommission erhalten deren Mitglieder Ersatz der Reisekosten und außerdem Diäten, deren Höhe bis zu gesetz­ licher Feststellung durch das Bundespräsidium festgesetzt wird.

Erste Berathung am

10. Mai 1871.

Abg. Lasker: M. H., der Antrag, den ich Ihnen unterbreite, soll einem Uebel­ stande abhelfen, der, wie ich glaube, allgemein gefühlt wird. Wir haben bei mehrfachen Berathungen schon ersehen, daß bei technischen Gesetzen, insbesondere wenn der Schwer­ punkt der Einzelberathung ins Haus verlegt wird, entweder die Beschlüsse gefaßt wer­ den mußten in einer Weise, daß zuweilen der Zufall zu entscheiden scheint, oder der Reichstag mußte thatsächlich auf seinen Antheil an der Gesetzgebung so gut wie ver­ zichten; denn wenn er einmal entschlossen ist, das gesammte Gesetz in der vorgelegten oder in einer abgeänderten Form anzunehmen,, so pflegt sich wenigstens im Laufe der Zeit eine Koalition aller derjenigen zu bilden, welche nicht geneigt sind, an der Debatte aktiven Antheil zu nehmen, und die- gewissermaßen einem jeden Antragsteller und Jedem, der sich gründlicher mit der Sache beschäftigt- diese Schuld kaum verzeihen. Der Regel nach wird angenommen, daß, wenn das Gesetz im Allgemeinen gut sei, kein Grund vorhanden sei, über die Einzelheiten zu sprechen. Sehr guten Glaubens pflegt Miß­ stimmung gegen Abänderungsanträge sich auszubilden, welche wesentlich davon herrührt, daß das technische Gesetz eine gewisse Eintönigkeit der Verhandlungen herbeiführen muß, und daß naturgemäß ein großer Theil der versammelten Herren für den Gegenstand der Berathung keinen lebhaften Antheil haben kann. Unter einer solchen allgemeinen Stim­ mung leiden oft die Einzelheiten des Gesetzes. Andererseits dringt auch nicht der Satz durch, daß im Allgemeinen die Gesetze, so wie sie uns vorgelegt werden, angenommen werden müssen; in diesem Falle befänden wir uns in der klaren Position, daß bei großen Gesetzen die Regierung ungefähr die Stimmung des Hauses zu treffen sucht, im Uebrigen aber unser Antheil sehr beschränkt ist; wir bestätigen mit unserem Gutachten, daß wir dem Gesetze beitreten. So geschieht es aber nicht, sondern in der Mitte eines so großen Gesetzes kommt endlich ein Prinzip, bei welchem der Einzelne seine Kraft einsetzt, damit das ihm wichtige Prinzip nicht durch den Zufall zu Schanden gemacht werde, und will ein glücklicher Zufall, daß ein aufmerksames Auditorium sich bildet und die Wichtigkeit anerkannt wird, so fällt die Entscheidung oft günstig aus. — Aber, m. H., ich möchte mir nicht den Vorwurf zuziehen, als ob ich irgend eine Schuld der Versammlung beimessen wollte; bei gewissen technischen Gesetzen hat ein großer Theil naturgemäß für die einzelnen Bestimmungen entweder nicht das genügende Interesse, oder die Kenntnisse, welche erforderlich sind, um ihre Bedeutung zu würdigen. . Es ist ein stehender Witz, über Juristen zu spotten und über die Art, wie sie die in ihr Fach schlagenden Bestimmungen behandeln; der Witz pflegt mit einem Lächeln belohnt zu wer­ den und wird häufig angewendet. Aber wahr bleibt es doch, daß die Juristen zu den aufmerksamsten Zuhörern und Theilnehmern gehören, die bei jeder Frage von juristischem Belang, und wenn sie noch so obstrus erscheint, nicht gern Unrichtiges durchgehen lassen, und unter großem Interesse von Juristen wird oft eine Debatte geführt, für welche viele Mitglieder des Hauses nicht die völlige Aufmerksamkeit haben können, weil, und dies werden Sie mir nicht verargen, sie nicht das gleiche Verständniß dafür besitzen. Sie belegen das Verhalten der Juristen mit Kleinkrämerei oder mit anderen geringschätzigen Namen, mit denen der Nicht-Sachverständige das tiefere Eingehen der Sachverständigen in die Materie zu bezeichnen liebt. Ich sehe aber in der schwankenden Behandlung der Gegenstände die viel größere Gefahr, daß sich die fälschliche Meinung herausbildet, es sei das Parlament nicht geeignet, bei schwierigen Gesetzen mitzuwirken, und daß dadurch der Büreaukratie der Kamm schwillt, indem sie sich den höheren Beruf der Ge-

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Gesetzentwürfe.

setzgebung beilegt. Wenn auch von der Verwaltung die verkrüppelten Sätze entworfen werden, und es bemüht sich ein Mitglied um eine bessere Fassung, so setzt es sich dem Vorwurf der Kleinkrämerei aus; der vom Regierungs-Kommissar befürwortete, wenn auch verkrüppelte Satz wird vorgezogen, die bessere Fassung verworfen, und der Bun­ des-Kommissar geht mit dem Bewußtsein nach Hause, daß er der beste Gesetzgeber der Welt sei. — Wir haben dieser Tage erfahren, in einer Debatte, welche das Land lebhaft beschäftigt und auch uns sieben Sitzungen in Anspruch genommen hat, daß bei den allerwichügsten Bestimmungen die große Majorität des Hauses den Schluß der Diskussion angenommen hat, unmittelbar nachdem der Regierungs-Kommissarius gegen die Anträge, welche aus der Mitte dieses Hauses gekommen waren, gesprochen hatte, und Sie haben sich dadurch unter die Leitung des Regierungstisches gestellt. (Oho! r.) Ich wußte wohl, daß das, was ich soeben gesagt, Unzufriedenheit hervorrufen würde, ich wollte aber die thatsächlichen Zustände treu abspiegeln, selbst wenn es Ihnen nicht gefällt. Tie letzte Rede eines Regierungs-Kommissarius ist wirklich von dem allergrößten Einfluß auf eine große Anzahl von Mitgliedern, (oho! r.) und es wäre schlimm, wenn dies nicht der Fall wäre. — Nun ist mir zweifellos, daß jedes Mitglied dieses Hauses für Fragen von hoher Politik genug vorbereitet ist, um selbstständig seine Entscheidung zu fällen; bei technischen Fragen dagegen wird immer die Erörterung der Sachverständigen eine sehr bedeutende Nolle spielen, und diese Erörterung wird am besten in Kommissionen vorgenommen. Wenn aber die jetzige Behandlungsweise allein Geltung behält, so können umfangreiche Kommissionsverhandlungen während des Reichstages nicht wohl stattfinden, weil sie die Sitzungen des Reichstages zu sehr in die Länge ziehen, uns aber darauf ankommt, so viel wie möglich die Sessionen abzukürzen. — In der nächsten Zeit haben wir gewiß eine Reihe großer Gesetze zu erwarten, in erster Linie den Strafprozeß, den Civilprozeß und das Gesetz über die Organisation der Gerichtsbehörden, das Gesetz über die Organisation der Beamten, das Obligationenrecht und- die Ordnung von Materien, die unter den Begriff meines heutigen Antrages fallen und der Behandlung in einer Zwischenkommission fähig sein werden. Wenn also zahlreiche Gesetze von großem Um­ fange bevorstehen, so werden entweder die Sessionen eine sehr bedeutende Ausdehnung nehmen, oder wir werden auf eine wirksame Berathung der einzelnen Bestimmungen verzichten müssen, oder es muß ein Ausweg geschaffen werden, welcher es möglich nacht, die Arbeit aus der einen Session in der anderen Session fortzusetzen. — Ich habe den Satz ausgenommen, daß der Reichstag mit Zustimmung des Bundesraths darüber be­ schließe, ob in dem einzelnen Falle eine Verhandlung durch eine Zwischenkominission stattfinden soll. Zwei Ansichten werden möglicherweise entgegentreten; die eine wird vielleicht vertheidigen, daß der Reichstag allein die Geschäftsbehandlung in Händen )aben müsse. Dies scheint mir nicht zutreffend, weil die Frage, ob ein Gesetz, das n der einen Session vorgelegt wird, in der nächstfolgenden Session verhandelt werden soll, nicht allein den einen Faktor, welchem das Gesetz vorgelegt ist, sondern auch der an­ deren Faktor interessirt, welcher das Gesetz vorgelegt hat. Eine zweite Meinung da­ gegen, für jeden einzelnen Fall ein Sxezialgesetz zu erlassen, daß die Vorlage nach dem Schluß der Session vorberathen und im Laufe der nächsten Session weiter verhmdelt werden dürfe, scheint mir um deswillen nicht zutreffend, weil das Publikum nicht das entfernteste Interesse daran hat, ob ein solches Gesetz zu Stande kommt oder nicht und um deswillen die Publikation nicht nothwendig ist, die inneren Merkmale der Ver­ einbarung eines Gesetzes aber auch nach meinem Vorschläge gefordert werden. In den­ jenigen Staaten, in welchen drei Faktoren mitwirken, hat das Erfordern eines jedes­ maligen Spezialgesetzes eine ganz andere Bedeutung, als bei uns, wo ein dritter Faktor nicht Hinzutritt, weil man dort durch Erforderniß des Gesetzes den Vorbehalt auÄrückt, auch den nichtbetheiligten Faktor zu hören, ob er seine Zustimmung zu dem Vorschlag geben will; bei uns aber erschöpft sich der Wille ganz im Bundesrath und dem Leichs­ tag, und es sind deshalb in meinem Vorschläge alle Merkmale des Gesetzes vorhmden mit alleinigem Weglassen der unnützen Publikation und der weitläufigen Verhandlung, wie sie die dreimalige Lesung des Gesetzes nothwendig macht. Noch ein anderer srund

Kommissionsberathung eines Entwurfs von ungewöhnlich großem Umfange.

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bestimmt mich, dieses allgemeine Gesetz den Spezialgesetzen vorzuziehen; auf diesen Grund haben mich Gegner aufmerksam gemacht. Ich selbst habe keine feine Fühlung für Ver­ fassungsänderungen, aber ein hierfür besonders begabtes Mitglied dieses Hauses hat, als ich die Idee meines Antrages ihm mittheilte, sofort seine Gegenmeinung aus­ gesprochen: es liege in diesem Anträge eine ungeheure Abänderung der Verfassung. Ich weiß nicht, wie weit diese Meinung im Hause getheilt wird, — das verehrte Mit­ glied wird vielleicht selbst das Wort nehmen, um es später auszuführen, denn ich sehe, daß es sich bereits Notizen macht —, (H.) wenn aber diese Ansicht getheilt wird, so ist es doch nicht rathsam, in jedem einzelnen Falle ein Verfassungsänderungs-Gesetz darüber zu fordern, wie eine Angelegenheit geschäftlich behandelt werden soll; sondern es ist rathsamer, jetzt meinen Antrag, wie ich unter dieser Voraussetzung zugestehen will, ohne Widerspruch von 14 Mitgliedern im Bundesrath zum Gesetz erheben zu lassen und dann in der gewöhnlicheren und einfacheren Form, aber unter der materiellen Voraus­ setzung einer Gesetzesvereinbarung das zu beschließen, was in dem Anträge vorgesehen ist. Schließt man sich der Ansicht an, daß der Antrag eine Verfassungsänderung involvirt, so würde ich es im äußersten Grade für unschicklich halten, eine Spezial-Ver­ änderung der Verfassung für jeden einzelnen Fall herbeizuführen. Also auch um dieses Bedenken auszuschließen, ist der von mir vorgeschlagene Weg der rathsamere. Ein Gesetz hat für die Neuerung mir wesentlich deswegen nothwendig geschienen, um die Immunitäten des Reichstags auf die Verhandlungen und auf die Mitglieder der Kommission nach Vertagung des Reichstags Anwendung finden zu lassen; ferner auch aus dem Grunde, weil naturgemäß und gewiß unbestritten auf allen Seiten dieser Antrag nur dann einen Werth hat, wenn die Mitglieder während der Kommissions­ sitzungen außerhalb der Session Diäten erhalten. Fügen Sie diese Bewilligung nicht hinzu, so bin ich überzeugt, daß Sie entweder große Noth haben würden, Kommissions­ mitglieder zu finden, oder daß Sie genöthigt sein würden, Ihre Wahl vorzugsweise auf Mitglieder zu lenken, die in Berlin wohnen, und ein solches Privilegium möchte ich ihnen nicht zuwenden, man mag dasselbe als ein privilegium onerosum, oder als ein günstiges Privilegium betrachten. Aus demselben Grunde reicht auch nicht das formale Auskunftsmittel aus, daß das Haus sich lediglich vertage und seine Kommission in der Zwischenzeit verhandeln lasse; außer andern Gründen spricht auch dieser Grund dagegen, daß die Zahlung der Diäten nach den Bestimmungen der Verfassung nicht gestattet wäre, wenn nicht wiederum ein Gesetz die Diätenzahlung an die Mitglieder einer solchen Kommission ausnahmsweise für gestattet erklärt, und zu einem sol­ chen Gesetz würden Viele im Hause vermuthlich noch weniger Lust haben als zu diesem Gesetz, weil sodann innerhalb der Session einer gewissen Kategorie von Mit­ gliedern Diäten gezahlt würden, den andern Mitgliedern nicht. Aus allen diesen Er­ wägungen habe ich geglaubt, diesen, wie mir scheint, vorsichtig gefaßten Antrag Ihnen unterbreiten zu sollen. Selbstverständlich werden, wenn Sie diesen Antrag annehmen, erhebliche Vorkehrungen in der Geschäftsordnung getroffen werden müssen über die Art der Behandlung im Hause und in den Kommissionen. Dies ist. jedoch eine cura posterior; die Geschäftsordnung wird die passenden Wege finden. Ich bitte, m. H., meinen Antrag genau in Erwägung zu ziehen. Abg. vr. Windthor st: M. H., ich glaube, daß wir dem Abg. Lasker dankbar sein müssen für die Anregung, welche er durch einen Antrag giebt, in welchem er die Art der Geschäftsbehandlung dieses Hauses in ihrem Kernpunkte, in ihrem Marke trifft. Ich statte ihm meinen Dank dafür ausdrücklich ab, insbesondere auch für die glänzende Vertheidigung der juristischen Elemente dieses Hauses, denn bei dem Ent­ schädigungsgesetze habe ich wiederum so viel mißbilligende Aeußerungen über die Juristen gehört, daß ich meinestheils beinahe in Versuchung gekommen wäre zu sagen: ich bin keiner. (Gr. H.) Dann ist sehr anzuerkennen, daß der Herr Abgeordnete durch den Lauf der Zeit den Werth der Kommissionen wieder mehr zu würdigen anfangt, als er es bisher gethan hat. Bisher haben wir gegenüber meinem verehrten Gönner, dem Abg. Freiherrn v. Hoverbeck, (H.) wenn derselbe für Kommissionsberathung sprach, immer

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ausführen gehört, daß nichts gründlicher sei, als eine Schlußberathung im ganzen Hause. (H.) Wir haben diese Erörterung insbesondere bei dem höchst wichtigen und vielleicht wichtigsten Gesetze, das überhaupt die Reichsorgane geschaffen haben, bei dem Kriminal-Gesetzbuch, gehört. Es ist ja im Wesentlichen auch danach verfahren worden, und ich freue mich, daß das Kriminal-Gesetzbuch ungeachtet der Weise, wie es behandelt ist, doch so geworden ist, wie es ist. Diesen Erörterungen gegenüber ist klar, daß durch diesen Antrag den Kommissionen eine Huldigung zu Theil geworden, die ihnen bisher, nach meinem Dafürhalten zu Unrecht, versagt ist. Dann hat der Herr Abgeordnete durch seinen Antrag zu erkennen gegeben, daß in den Kommissionen noch mit mehr Gründlichkeit gearbeitet werden müsse, als bisher. Zch zweifle nicht, daß Zeder, der die Thätigkeit eines Parlamentsmitgliedes sich vergegenwärtigt, sagen muß, es ist eine fast übermenschliche Anstrengung, die einem Parlamentsmitgliede zugemuthet wird: ein Ueberfluthen von Regierungsvorlagen, ein Ueberfluthen von Petitionen, ein Ueberfluthen von Gesetzen aus der Initiative dieses Hauses — nicht von Anträgen auf Vorlage von Gesetzen durch die Regierungen, sondern von redigirten Paragraphen — ein Ueberfluthen von Amendements. Dies Ueberfluthen ist in der That so groß und so stark, daß man sagen kann, es ist physisch unmöglich, dasselbe zu bewältigen. Ich glaube nur, zu meinem Bedauern, wenigstens heute noch so entschiedene Bedenken gegen den Vorschlag Laskers haben zu müssen, daß ich mich der Lösung des Problems, vor dem wir stehen, in dieser Art nicht anschließen kann. Vorläufig weiß ich kaum etwas Anderes anzugeben, als daß die Regierungen die Güte haben möchten, uns nur dann zu berufen, wenn sie mit ihren zu unserer Berathung bestimmten Arbeiten voll­ ständig fertig sind, (lebh. Z.) damit wir gleich beim Zusammentritt die Aufgaben über­ sehen, und danach uns einrichten können. Dann bin ich der Meinung, daß man n den Regierungen für eine Legislaturperiode eine gewisse Uebersicht, einen gewissen Plaa der Aufgaben aufstellen sollte, nach welchen man systematisch vorgehen will. Dann wird eine weise Vertheilung der Geschäfte in den einzelnen Sessionen des Parlaments mög­ lich sein, und man kann dann die Sachen mit mehr Ruhe und Gründlichkeit erledigen. Dann glaube ich, daß wir uns bei den großen Gesetzen, die der Abg. Lasker besonders im Auge hat, gewöhnen sollten, nicht sowohl die Einzelheiten zu berathen, dieRedaktion bis ins Komma und Punktum zu verfolgen, sondern die wichtigsten Principien herauszulesen, diese zu einem Abschluß zu bringen, unb dann die Redaktion im großen Ganzen der Regierung zu überlassen. (S. r.!) Wenn wir dahin kommen, dann wer­ den wir nicht allein prinzipiell richtigere Gesetze, sondern auch besser redigirte besetze erlangen. Warum ich, da ich nicht behaupten will, daß mit den Gesichtspunkten, die ih an­ gedeutet habe, sofort das Nothwendige zu erreichen, dem Anträge Laskers gegember mich wenigstens heute ablehnend verhalten muß, das hat der Herr Abg. Lasker bereits angedeutet, als er bemerkte, daß ich Notizen machte. Zch bin wirklich der Meimng, m. H., wir stehen hier gar nicht vor einer Geschäftsordnungsfrage, wir 'tehen hier vor einer entscheidenden Kardinalveränderung der Verfassung. Dieses zeigt sich, um nur zwei Punkte hervorzuheben, in doppelter Richtung. Zunächst erthült der Antrag Lasker außer der Modalität der Geschäftsordnungsfrage den sehr bestinmten Satz oder doch die Voraussetzung, daß Gesetze, deren Berathung in einer Sessior des Parlaments begonnen, in der folgenden Session fortberathen werden sollen, denn seine Kommission soll eben die Brücke sein von der ersten Berathung in Session A bs zur zweiten Berathung in Session B; darin liegt mindestens rücksichtlich derjenigen Gegen­ stände, die nach Maßgabe dieser Verordnung oder dieses Gesetzes behandelt nerden würden, eine Kontinuität des Parlaments. M. H., die Frage der Kontinuität des Par­ laments, der Verbindung der Sessionen zu Sessionen, der Uebertragung der Gechäfte einer zur folgenden ist nicht neu, sie ist in den verschiedensten Ländern behandet, sie ist insbesondere auch in dem größten deutschen Staate, in Preußen, wiederholt behindelt worden. Immer ist man nicht zu der Annahme dieser Kontinuität gelangt, mcn hat dieselbe bis dahin immer abgelehnt. Zch für meinen Theil bin gegen diese Kontinuität

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der Sessionen selbst in einem festen Staate, wo man eine klar und fest verordnete Regiierungsgewalt und zwei Häuser hat, wie z. B. in Preußen. Ich bin noch ent­ schiedener dagegen da, wo man eine noch nicht klar ausgebildete Regierungs­ gewalt, wo man nur eine Kammer hat, und allerdings einen Bundesrath, von dem wir neulich zwar ein großes Lob gehört haben, welches inzwischen — ich kann nicht recht sehen — viele Bundesräthe roth gemacht haben soll. (H.) — M. H., in einem solchen, noch losen Staatsverhältnisse, ist es von selbst ersichtlich, daß es nothwendig ist, dahin zu sehen, daß das Parlament auf dem Gebiete der Gesetzgebung nicht eine zu starke Uebermacht bekommt. Ich habe in meinem Innern, wenn ich dem Gange seit 1866 im norddeutschen Reichstage und nun wieder hier folge, das Gefühl, daß nach und nach in Beziehung auf die Gesetzgebung eine solche Macht in das Parlament ge­ legt wird, daß ich nicht weiß, ob die Regierungsgewalt auf die Dauer sich dagegen behaupten kann. (Gel.) Ja, m. H., ich weiß wohl, daß dieser Gedanke heute noch kurio-s gefunden wird, ich weiß sehr wohl, daß die Herren denken, es werden immer so sehr sich selbst beschränkende Männer auf diesen Plätzen sitzen, wie wir es sind. (H.) Sie halten es gar nicht für möglich, daß einmal andere Elemente da sind. Ich wende mich, wenn ich solche Aeußerungen höre, an die Geschichte, an die Geschichte anderer Staaten, insbesondere an die Geschichte der Entwickelung der Parlamente. Diese aber beweist den großen Wechsel, dem die Inhaber der Plätze in einem Parlamentshause unterliegen; und wenn einmal große Bewegungen kommen, so muß ich sagen, daß ich es möglich erachte, daß die Bänke nicht von so erleuchteten Männern besetzt sein könnten, wie- wir es sind, (H.) nicht von so leidenschaftslosen, wie wir es sind. Und wenn diese dann auf dem Felde der Gesetzgebung die große Macht haben, die wir alle Tage uns gewinnen, so weiß ich nicht, was daraus entstehen könnte. — Wenn wir nun bei dieser Lage der Sache noch dazu die Kontinuität des parlamentarischen Körpers hin­ stellen, dann erklären wir in der That den Parlamentismus in Permanenz. Diese Per­ manenzerklärung ist gegenüber dem monarchischen Prinzip nach meinem Dafürhalten be­ denklich. Es muß zu den Attributen des einzelnen Monarchen oder der vielen Monarchen, die zusammentreten zur Herstellung einer Souveränetät, nothwendig die Befugniß ge­ hören, zu jeder Zeit das Parlament aufzulösen in allen seinen Theilen, in allen seinen Funktionen. Es muß durchaus dazu gehören, daß Ruhepunkte in der parlamentarischen Thätigkeit eintreten, damit die Zwischenstationen sich kenntlich machen, damit die Be­ deutung der Regierungsgewalt während dieser Zwischenstationen klarer und fester wieder hervortritt, nicht in allen Enden und in allen Stücken gehemmt oder verdunkelt erscheint durch die Zuthaten aus dem Parlament. Das ist bei der Kontinuität des Parlaments nicht möglich, und so behaupte ich, daß in Beziehung auf diese Frage der Kontinuität durch den Antrag Lasker eine wichtige tief einschneidende Verfassungsveränderung beab­ sichtigt oder doch angebahnt wird. — Die zweite Richtung, in welcher durch den Antrag Lasker die Verfassung in ihrer Grundlage ergriffen wird, ist die Bestimmung über die Diäten. Der Herr Abg. Lasker hat in seiner Rede wiederholt nicht umhin gekonnt, auf diesen Punkt selbst hinzudeuten. M. H., ich habe wiederholt Gelegenheit gehabt, meine Ueberzeugung auszusprechen, daß es auf die Dauer nicht möglich ist, ein diäten­ loses volles Haus zu haben. So lange aber die betreffende Bestimmung besteht, glaube ich, muß man sie rein erhalten. Also auch in dieser Richtung der Diäten wird eine wesentliche Verfassungsveränderung durch den Antrag nothwendig oder wird dadurch angebahnt. Wenn ich dabei auch die Frage nicht erörtern will, ob nach dem § 23 der Bundesverfassung dem Parlament in Beziehung auf Verfassungsverände­ rungen die Initiative zusteht, so glaube ich doch, daß jedenfalls es wichtig war und wichtig ist, es sich genau zu vergegenwärtigen, worum es sich denn eigentlich hier handelt, und daß es sich in der That um eine Verfassungsänderung handelt. — Hier­ nächst bin ich der Meinung, daß, wenn ich auch an sich zugeben wollte, daß solche Ver­ fassungsänderungen, wie sie hier entweder schon getroffen oder doch nothwendig angebahnt werden, zulässig waren, an sich und rathsam schon heute, wo wir eben die Verfassung publizirt erhalten haben, doch sehr erhebliche Zweckmäßigkeitsgründe gegen den Antrag

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Lasker in Frage kommen. Wenn ich mir vergegenwärtige, daß für wichtige Gesetze ein solcher Ausschuß niedergesetzt wird, wie der Herr Abgeordnete es will, so ist nach meiner Meinung klar, daß dadurch der Einfluß der Negierung auf das Zustandekommen eines Gesetzes und auf dessen materiellen Inhalt geschwächt wird. — Außerdem aber, m. H., wird der Einfluß der Kommission auch zu stark gegenüber dem Parlament. Wenn die Herren, die wir in eine solche Kommission schicken, die daselbst verhandelte Angelegen­ heit so durchstudiren wie sie es thun können und werden, wenn sie in derselben so voll­ ständig instruirt werden durch alle die Dinge, die sie entweder in der Literatur oder in der Tagespresse oder von den Negierungen rc. haben, so sind sie in einem Maße instruirt, daß wir anderen, wenn wir zurückkehren, in der That kaum etwas Anderes thun können und werden, wenn wir zweckmäßig handeln wollen, als die Beschlüsse der Kommission zu registriren. Gegenüber also infinitsten Mit­ gliedern sind die anderen nicht instruirten Mitglieder in der Regel lahm, und deshalb hat eine solche Kommission eine dem Parlamente gegenüber übertriebene Präponderanz. Daneben, m. H., werden, wenn wir den Antrag zugeben, die Herren der Kommission aus der parlamentarischen Atmosphäre entrückt. Das Zusammensein, das tägliche Be­ sprechen in den Fraktionen und sonst giebt, das läßt sich nicht leugnen, eine Richtung, eine Anschauung, eine Rückwirkung für die Kommissionsmitglieder, die ganz ungeheuer ist. (Z.) M. H., wir berathen in den Kommissionen, und alle unsere Kollegen, die in den Kommissionen nicht sind, haben das Recht dort zu erscheinen, und sie machen sehr oft und sehr viel davon Gebrauch, und ich wünschte, es wäre noch mehr der Fall. Wenn wir dann hinausgehen, so kommen die Kollegen und sagen manchmal, noch ehe man den Oberrock anziehen kann: was war das für tolles Zeug! — (H.) — nicht etwa in Beziehung auf die Aeußerungen der Kollegen, sondern in Beziehung auf meine eigenen. — Und so habe ich recht lebendig empfunden, was diese Wechselbeziehungen zwischen den Kommissionsmitgliedern und dem versammelten Parlament bedeuten. Ich wiederhole: gerade dieses Zusammensein mit der Hauptmasse der Mitglieder, die sich nicht an den Debatten betheiligen, die aber — das wird Jeder erfahren — in sehr großer Zahl bei weitem diejenigen überragen, welche debattiren, wird bei Annahme des Antrags Laskers nicht mehr stattfinden, und dadurch, daß diese Männer nicht mehr durch ihre kurzen, einfachen Rathschläge ihre Einwirkung auf die Kommission durchsetzen, wird unzweifelhaft das parlamentarische Ganze schwer geschädigt. — M. H., dann ist unzweifelhaft, daß durch die beabsichtigte Einrichtung das Institut mehr noch ausgebildet wird, wovor uns vor einiger Zeit der Herr Reichskanzler gewarnt hat, das Institut der Berufssoldaten des Parlaments. (S. r.!) Es ist unzweifelhaft, daß, wenn wir diese Einrichtung treffen, bei der großen Zahl der Parlamente und bei der nicht abzuweisenden Nothwendigkeit, daß die meisten oder doch recht viele Mitglieder in allen Parlamenten sein müssen, man immer mehr auf Männer wird greifen müssen, welche ihr ganzes Leben ausschließlich der parlamentarischen Thätigkeit widmen; das ist weder gesund für ihren Leib noch für ihren Geist. (H.) Deshalb muß ich meinestheils entschieden davor warnen. — M. H., ein Freund sagte mir in diesen Tagen, als er diesen An­ trag besprach, das wird eine Geheimraths-Presse. Es ist etwas Wahres indem Gedanken, und ich kann deshalb nur sehr rücksichtsvoll auf die Seite der Sache Hin­ weisen. Dann würden wir armen Leute vom Lande (H.) sehr prägravirt werden zu Gunsten der Bewohner der Haupt- und Residenzstadt. Wenn man sich die Zahl der Parlamente vergegenwärtigt und nun denkt, daß „die Leute vom Lande" nun auch noch in die Kommission sollen, so werden sie entweder sich von allen ihren Hausverhältnissen ablösen müssen definitiv und ganz, oder sie werden in den Fall kommen nach Berlin zu ziehen, und dann gehören sie zu den Berlinern. Und so ist es naturgemäß, daß bei aller Liebe für die Behandlung solcher Gegenstände man doch, wenn man vom Lande ist, sich nicht entschließen wird, in solche Kommissionen zu treten, und daß in Folge dessen nothwendig die Herren aus Berlin in diese Kommission kommen. Ob das ein privilegium onerosum oder utile ist, lasse ich dahingestellt. Das wird nach dem Subjekt zu beurtheilen sein.

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Hiernach komme ich auf meinen Satz zurück, daß ich gegen diese in dem Anträge Lasker nach meinem Dafürhalten liegende, sehr ernsten Bedenken unterstellte Verfassungs­ veränderung mich abwehrend verhalten muß. Mir soll es angenehm sein, wenn man meine Bedenken beseitigen kann, da ich nicht leugne, daß in dem jetzigen Geschäftsgänge gewisse Schwierigkeiten liegen, wenn wir eben nicht auf eine ganz andere Methode der Debatte kommen, um große Gesetze zu Stande zu bringen. Ob man etwa auf den Antrag der Regierung — nicht auf Antrag des Hauses — für ganz bestimmt bezeichnete Gesetze eine Ausnahme-Einrichtung dieser Art zulassen will, das ist eine andere Frage. Ich zweifle nicht, daß der Herr Abgeordnete mit besonderer Rücksicht auf die bevorstehende Berathung der Civilprozeß-Ordnung, der Kriminalprozeß-Ordnung, des größeren oder geringeren Umfanges einer Gerichts-Organisation seinen Antrag ge­ stellt haben wird. Ich könnte mir denken, daß bei Einbringung dieser Gesetze, die hoffentlich zusammen einkommen, die Regierung, von ähnlicher Sorge geleitet, wie der Herr Abg. Lasker sie uns dargebracht hat, speziell für diesen Fall etwas Derartiges beantragte, wie es der Herr Abgeordnete will. Ein solcher von der Regierung ge­ brachter Antrag würde eine große Zahl der Bedenken, die ich habe, nicht treffen. Ob­ wohl auch dadurch nicht alle Bedenken beseitigt werden würden, würde ich vielleicht doch mich entschließen können, zuzustimmen. Es liegt aber dieser Fall heute nicht vor, und ich würde abwarten müssen, ob die verbündeten Regierungen eine solche Initiative ergreifen. Um ein solches Speziale handelt es sich, wie gesagt, heute nicht; der Herr Abg. Lasker will eine organische Einrichtung, und diese organische Einrichtung ist es, die ich bekämpfe. Wenn wir zur Detailberathung kommen, würde ich mir rück­ sichtlich der Fassung und rücksichtlich der Einzelheiten des Vorschlags noch Manches Vorbehalten müssen, für heute kann ich hiermit meinen Vortrag schließen. (Br.!) Abg. Dr. Braun (Gera): M. H., ich bin diesem ausführlichen Vortrage mit der ganzen Aufmerksamkeit gefolgt, die er verdient; ich habe indessen eine Schwäche in demselben entdeckt, oder glaube sie wenigstens entdeckt zu haben. Der Herr Redner erkennt ohne allen Rückhalt an, daß Mißstände vorliegen, welche die Erledigung sehr umfangreicher Gesetz-Entwürfe schwer oder unmöglich machen; er erkennt ebenso an, daß es der Aufsuchung neuer Mittel und Wege bedarf, um diese Mißstände zu beseitigen, aber er schlägt uns keine Mittel und Wege vor; er hat uns zwar einige Ideen „vor­ schweben" lassen über das, was in England ist und möglicherweise bei uns auch ein­ mal werden könnte, irgend einen positiven Vorschlag hat er uns nicht gemacht, und deshalb glaube ich, hätte er sich wohl erinnern müssen an das alte: „------------- Si quid, novisti rectius istis, candidus imperti: si non, bis utero mecum.” Im Uebrigen hatte sein Vortrag drei Theile, woraus ich den mittelsten herausgreifen will, der die Ver­ fassungsbedenken enthält, denn der erste und dritte Theil scheinen mir mehr bloße Adminikula zu enthalten, die gegen so wichtige Dinge wenig in Betracht kommen können. Der Herr Vorredner hat uns gesagt, er sei gegen den Antrag, weil er in zwei Punkten die Verfassung aufhebe, erstens in Betreff der Diskontinuität und dann in Betreff der Diäten. Zch werde diese beiden Punkte kurz beleuchten. Es ist ganz richtig, unsere Verfassung stellt den Grundsatz der Diskontinuität auf; aber, m. H., beseitigt denn dieser Antrag die Diskontinuität? Im Gegentheil, er bekräftigt sie in dem Sinne: „exceptio firmat regulamer läßt die Diskontinuität in ihrem vollen Umfange be­ stehen und sucht nur einen Ausweg, welcher eine Verletzung der Diskontinuität über­ flüssig macht, weil er ein Ersatzmittel bietet, das sonst nicht gefunden werden könnte. Der Herr Vorredner hat uns gesagt, wenn wir die Kontinuität einführen, — was übrigens der Antrag gar nicht bezweckt — so ist eine kräftige Regierung unmöglich. Nun, ich will einfach anknüpfen an das Beispiel, das er gebraucht hat, nämlich an den Antrag, der im preußischen Abgeordnetenhaus gestellt worden ist. Der Antrag, Vorlagen von einer Sitzung auf die andere zu übertragen, ist von der altpreußischen konservativen Partei ausgegangen, und ich hoffe, der Herr Vorredner wird dieser Partei doch nicht nachsagen wollen, daß sie der Feind einer kräftigen Regierung in Preußen sei. (Abg. Dr. Windthorst: zuweilen!) Er sagt uns, wir seien eben nur eine Kammer. Za, ReichStagS-Repertorium I.

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das thut uns recht leid, daß wir inder Beziehung dem Herrn Vorredner mißfallen; aber bis dem Fehler abgeholfen sein wird, und wir sein Oberhaus besitzen — von dem wir bis jetzt noch gar keine Idee haben, denn er hat uns nie gesagt, was es ist und aus wem es bestehen soll —, bis dahin kann es noch sehr lange dauern. Unter dem Begriff „Oberhaus" oder „Staatenhaus", und wie dann die Ausdrücke alle heißen mögen, denkt sich der Eine das und der Andere jenes; Einige denken sich auch darunter eine Einrichtung, worin einige dermalen weder regierende noch auch mediatisirte Fürsten wieder sitzen werden, — kurz, man kann sich allerlei darunter denken, oder auch gar nichts. Der Herr Vorredner hat sich mit besonderer Sorgfalt, ich möchte sagen, mit einer zarten, mütterlichen Sorgfalt der Bundesregierung und des Bundesrathes an­ genommen; er versichert, die Bundesregierung sei „schwach". Ich, m. H., glaube, daß die Franzosen darüber entgegengesetzter Meinung sind, sie finden sie vielleicht etwas zu kräftig; und was uns anlangt, so haben wir uns doch auch noch nicht übermäßig über Schwäche zu beschweren, denn sie hat einigen unserer Herzenswünsche, und namentlich dem Her­ zenswünsche des Herrn Vorredners nach Diäten, doch bis jetzt einen ziemlich kräftigen Widerstand entgegengesetzt. Zch hoffe also, wir können uns darüber trösten. Auch wird das Parlament nicht, wie der Herr Vorredner befürchtet, durch diese Art der Ge­ schäftsbehandlung „zu stark" werden. Er findet es freilich jetzt schon zu stark. Zch kann ihn aber nur an die Anhänger der entgegengesetzten Meinung verweisen, die ja zuweilen mit ihm übereinstimmen, wenngleich nicht in Allem, und die fortwährend ver­ sichern, dieses Parlament, dieser Reichstag sei eigentlich weiter nichts als das „Feigen­ blatt des Absolutismus". Die Herren, die in Manchem übereinstimmen und in diesem nicht, mögen dann sehen, wie sie sich über diesen Zwiespalt mit einander verständigen. Wenn aber gesagt worden ist, der Antrag taste das monarchische Prinzip an, weil er ein sogenanntes langes Parlament, eine Volksvertretung, die kein Ende nehme, auf­ stelle, so ist das ein totales Mißverstehen des Antrags, es ist eine Verwechslung zwischen einem Spezialausschuß, einer Sonderkommission, auf der einen Seite, und einer ständigen Generalkommission, auf der andern Seite. M. H., nach den alten deutschen Territorial-Verfassungen war es ja überall Sitte, daß, wenn die Stände nach Hause gingen nach empfangenem Landtags-Abschied, sie einen ständigen oder auch ständi­ schen Ausschuß zurückließen, welcher während der Zeit ihrer Abwesenheit das ganze Jahr hindurch die Geschäfte der Landstände wahrnahm, eine Kommission, die ihrer Natur nach permanent war, die die Stände repräsentirte und während der Zeit, wo die Stände nicht saßen, die Stände war. Wollen wir so was? Es fällt uns das im Traum nicht ein, obgleich ich beifügen muß, daß auch eine solche ständische Kommission, welche wir übrigens perhorresciren, durchaus keine Verletzung des monarchischen Prinzips ist, denn die deutschen Territorialherrschaften haben ja Jahrhunderte lang mit solchen ständischen Ausschüssen regiert, und sie bestehen ja noch, z. B. in Württemberg; ich habe aber noch nicht gehört, daß der ständische Ausschuß in Württemberg je dem König von Württem­ berg an die Krone getastet hat, wenigstens würde ich dem Herrn Vorredner dankbar sein, wenn er mich darüber informirte, falls ich mich etwa im Zustande der Ignoranz in dieser Beziehung befinden sollte. Ich sage also, das sind Gespenster, und vor sol­ chen Gespenstern wollen wir uns nicht fürchten in dem Augenblick, wo es sich darum handelt, einen praktischen Schritt vorwärts zu thun, der uns unsere schwierige Aufgabe wesentlich erleichtern wird. —- Was nun die Diäten anlangt, so will der Antrag ja keineswegs die Diäten einführen; er läßt die Diätenfrage so, wie sie sich nach der Verfassung ge­ staltet hat, und wie sie hier in unserem Schoße erörtert worden ist, ja ganz unberührt, wie Sie schon daraus sehen, daß ganz entschiedene Anhänger der Diäten, wie der, den wir gehört haben, und die, welche wir noch hören werden, gegen den Antrag sind, während Gegner der Diäten für denselben sind. — Ich muß Ihnen sagen, m. H., ich habe im Anfang auch gxoße Skrupel gegen diesen Antrag gehabt, wir haben ja in Süddeutschland die Erfahrung gemacht, wie es mit solchen Kommissionen, wenn sie sich vom Plenum gänzlich emancipiren, geht, und da kann man sagen: vestigia terrent; aber da sind die Kommissionen auch ganz anders eingerichtet, da dankt das Plenum

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gleichsam ab zu Gunsten solcher Kommissionen und da können dann allerdings Dinge vorkommen, wie sie z. B. in Württemberg vorgekommen sind, daß man die Berathung des deutsch-französischen Handelsvertrages jahrelang hinausschleppt in der Kommission, denn die Kommission ist souverain, daß der Berichterstatter einen Folianten darüber schreibt und ihn drucken läßt und nichts daran fehlt, als daß er in Schweinsleder ein­ gebunden wird, (H.) und daß die Sache in dem Augenblick zur Berathung kommt, wo überhaupt diese Versammlung gar nichts mehr mitzusprechen, sondern einfach Ja zu sagen hat, sodaß sie also eine unsägliche Arbeit gethan hat und „durchstudirt die große und kleine Welt, um es am Ende gehen zu lassen, wie es Gott gefällt." Dergleichen Dinge sind allerdings sehr abschreckender Natur, und da liegt auch die Gefahr nahe, daß eine solche Kommission sich in ein Kollegium oder in ein Bureau, oder wie der Herr Vorredner sich auszudrücken beliebte, in eine Geheimraths-Presse verwandelt; ich weiß nicht, ob er damit gemeint hat, daß die Mitglieder der Kommission damit direkt zu Geheimräthen befördert würden. (H.) Das fürchte ich nicht. Ich fürchte nicht, daß, wenn wir auch den Herrn Vorredner in eine solche Kommission setzen, uns nicht seine schätzbare Mitwirkung in diesem Hause trotzdem gesichert bleiben sollte; er wird nicht sofort als remotus in auras in jenes Jenseits des Bundesraths hinübergehen. (H.) — Es ist uns weiter vorgehalten worden, wir, die wir bisher nicht so sehr zur Wahl der Kommissionen hingeneigt hätten, wir machten uns einer Inkonsequenz schuldig, denn wir hätten bisher ja die Schlußberathung für das Gründlichste erklärt und durch Schlußberathung auch das Straf-Gesetzbuch erledigt. M. H., das ist ein Irrthum; wir haben niemals die Schlußberathung für das Gründlichste erklärt, sondern die Vorberathung im Plenum in gewissen Fällen empfohlen. Nun, Alles zusammen genom­ men, glaube ich, man hat uns eine ganze Reihe von Gespenstern vorgeführt, die in Wirklichkeit gar nicht existiren. Der Antrag bezweckt nichts, als dem Reichstag die Möglichkeit zu geben, eine Form der Geschäftsbehandlung zu wählen, welche geeignet ist, die großen Aufgaben zu überwinden; er giebt dem Reichstage das Recht, diese Form zu wählen, aber nicht die Pflicht es zu thun, und macht außerdem noch das Zustandekommen einer solchen Berathung von der Zustimmung seitens des Bundesraths abhängig. Ich würde mir nur einen Grund denken können, warum man gegen den Antrag stimmen könnte; das wäre der, daß wir einen außerordentlichen Grad von Miß­ trauen gegen uns selbst hätten, wenn wir etwa glaubten, wir selbst wären geneigt, in Zukunft Alles an solche Sonderkommissionen zu verweisen. Aber der Herr Vorredner hat ja gerade konstatirt, daß die Neigung des Hauses, Sachen an eine Kommission zu verweisen, nach seiner Meinung eine allzu geringe ist, und daß wir den Werth der Kommissionen noch gar nicht begriffen hätten. Darin hat er ja eine Bürgschaft, daß wir nur mit weiser Mäßigung Gebrauch machen werden von der Befugniß, welche uns dieser Antrag übertragen will. — Ich werde also unter diesen Umständen für den An­ trag stimmen, hauptsächlich deshalb, weil mir die Ausstellungen, die dagegen erhoben worden sind, grundlos scheinen, weil er keine ständischen Kommissionen, keine solchen Kommissionen, wie sie die Verfassungen süddeutscher Staaten aufzuweisen haben, bildet, sondern etwas ganz Anderes, und zweitens deshalb, weil von allen Gegnern, auch denen, die ich vor dieser öffentlichen Berathung privatim gehört habe, kein anderer Weg vor­ geschlagen wurde. Sagen uns die Herren doch einmal, wie sie denn diese großen ge­ setzgeberischen Aufgaben, die uns bevorstehen, anders bewältigen wollen! Wenn uns darüber keine Auskunft gegeben werden kann, ja, so denke ich, die Herren Gegner sind der Meinung, daß man darauf verzichten müsse, diese Aufgaben zu bewältigen. Da ich aber nicht geneigt bin, zu einem solchen Verzicht, da ich diese Aufgaben bewältigen will, und ich voraussetze, daß die Mehrheit des Hauses es auch will, so hoffe ich, die­ selbe wird dem Anträge entsprechend beschließen. (Br.) Abg. von Blanckenburg: Im Namen meiner Freunde, m. H., muß ich er­ klären, daß sie auf dem Standpunkt des prinzipiellen Gegensatzes gegen diesen An­ trag stehen. Auch meine Freunde sehen darin die Gefahr, die in der Kontinuität liegt, auch meine Freunde sehen darin einen Bruch des Grundsatzes, daß man nicht aus dem 35*

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Parlamente selbst eine Körperschaft aussondern soll, die vielleicht die Macht des Par­ lamentes selbst dermal nicht beseitigen kann; sie theilen nach dieser Richtung hin Alles, was der Herr Abg. Windthorst uns vorgeführt hat. Ich für meine Person aber theile in dem Maße diese Befürchtungen nicht, so anders der Antrag richtig behandelt wird! Zch meinerseits muß anerkennen, daß auch ich dem Herrn Abg. Lasker sehr dankbar bin, daß er mit diesem Anträge eine Sache angeregt hat, die uns Alle, m. H., sowohl die verbündeten Regierungen, als das Haus auf das Tiefste und Ernsteste be­ schäftigen sollte, nämlich auf die Lage, in der die Gesetzgebung überhaupt sich hier in diesem Hause befindet. Wenn der Herr Abg. Braun gerühmt hat die Gesetzgebung des norddeutschen Bundes gegen die englische Gesetzgebung, daß sie in den wenigen Jahren — dünkt mich hat er gesagt — mehr geleistet habe, als die englische; ja, m. H., so glaube ich, liegt schon in dem Anträge des Abg. Lasker selbst, daß die Herren drüben selber fühlen, daß gegen diese Schnelligkeit eine Remedur eintreten soll, sie selber fühlen, daß nicht immer das allein zu loben ist, daß überhaupt Gesetze gemacht werden, noch viel weniger, daß sie schnell gemacht werden, sondern daß sie gut und mit Bedacht gemacht werden. Ich sage, nach dieser Richtung hin würde ich also, wenn der Antrag das Ziel einer gründlicheren Vorbereitung und Be­ rathung der Gesetze auf diesem Wege erreichen könnte, mich diesem Gedanken des Antrages anschließen! Ich behaupte aber eben in erster Linie, der Antrag schießt nach dieser Richtung hin weit über das Ziel hinaus! Ich muß mich nach dieser Richtung hin dem Bedenken anschließen, daß allerdings eine solche Kommission die Fühlung mit dem Hause verliert, daß sehr leicht das Alles eintreten kann, was uns Herr Windt­ horst vorgemalt hat. Za, ich muß noch sagen, daß diese Kommission, wie sie der Herr Antragsteller sich gedacht hat, int § 2 ausgerüstet ist mit Machtvollkommenheiten, von denen ich nicht begreife, wozu das sein soll, wenn die Kommission nämlich nur den Zweck haben soll, die Gesetzesvorlage gründlich und abermals gründlich als Ausschuß dieses Hauses zu beleuchten und zu verbessern. Sie wird mit den Machtbefugnissen, die ihr § 2 giebt, ein kleines Parlament. Zch glaube, man wird anerkennen, daß häufig das Unbeschäftigtsein der meisten Mitglieder dieses Hauses, wenn Kommissionen arbeiten — vorausgesetzt, daß sie also geboten sind, und das scheint für gewisse Gesetze doch überall die Meinung zu sein —, allerdings ein Uebel ist, namentlich wenn so um­ fangreiche Arbeiten während der Permanenz des Hauses gemacht werden müssen. Zndessen wie gesagt, ich verwerfe dieses Mittel, welches der Herr Antragsteller vorgeschlagen hat, und weise auf einen anderen Weg hin. Sollte es nicht möglich sein? Wir wollen sehen. Zch weiß, m. H., Sie lieben es nicht, den englischen Modus eintreten zu lassen, ich will ihn daher nur im Vorbeigehen wenigstens doch erwähnt haben: ich meine, daß nur eine geringe Zahl für die Beschlußfähigkeit nothwendig ist! Zn England ist es so, daß eben dann kommissionsweise gearbeitet wird, während die Mitglieder des Parlaments nach Hause gehen, die bei einer so detaillirten Berathung nicht zugegen sein wollen oder können. Zn der Zeit werden die Gesetze gemacht und berathen, und das Par­ lament erscheint in Fülle, wenn anders die Institution des Einpeitschens ordentlich ge­ trieben wird, und wenn es Zeit ist, die ganze Macht der Parteien zu entfalten. In­ dessen — wie gesagt — ich liebe diesen Weg nicht; er ist mir vielleicht auch selber bedenklich; und ich möchte Zhnen wenigstens einen anderen Weg andeuten, den zu be­ treten ich für möglich halte, ohne daß man in der Geschäftsordnung sehr viel zu ändern braucht. — Wenn wir uns frühzeitig versammeln, so können wir uns auch, nachdem wir die betreffende Kommission gewählt haben, faktisch vertagen. Der Herr Präsident setzt die nächste Sitzung dann und-dann an, vorausgesetztenfalls, daß die Regierungen und das Haus damit einverstanden sind; wir haben dann allerdings eine Kommission, die auch — doch nicht in dem Maße — isolirt ist, wie die hier gedachte, und vor allen Dingen gar nicht mit den Machtvollkommenheiten ausgerüstet ist, von denen hier die Rede ist. Indessen ich will nur den Gedanken angedeutet haben, daß wir für große Gesetze zu Kommissionsberathungen kommen können, ohne gerade diesen mir also und meinen Freunden äußerst bedenklichen Apparat in Bewegung zu setzen! Ich habe aber

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gegen den Antrag einen weit tiefer gehenden Grund, der bis jetzt nur angedeutet ist und den hier zu entwickeln der erste Herr Redner mir wohl Veranlassung gegeben hat. M. H., es ist ja nicht zu leugnen, wir haben es ja oft genug bei den Gesetzesvorlagen hier erlebt, daß, wenigstens äußerlich angesehen, die Berathung tiefgehender, umfang­ reicher Gesetze bei uns in der Art vor sich geht, daß der Bundesrath wenige Tage vor der Eröffnung unserer Sitzungen die Ausschüsse beruft und die Gesetzesvorlagen prüft, die ihm, ich weiß nicht von welchem Ministerium, von welchem Rathe vorgelegt worden sind oder von welchen einzelnen Regierungen. Ich finde nun, daß der Bundesrath großen und umfangreichen Gesetzen gegenüber sich in derselben Lage befindet wie wir, (f. w.!) nämlich in einem gewissen Nothstände, daß auch dort (ich bin darüber freilich nicht so genau unterrichtet, ich denke es mir aber so), das Bedürfniß hervortreten möchte, die Gesetze mit mehr Gründlichkeit und Ruhe prüfen zu können. Zch erinnere nur an die Art und Weise der Behandlung, die wir beispielsweise an dem hochwichtigen Ent­ schädigungsgesetze in diesen Tagen erlebt haben. Das Gesetz ist wohl geprüft und wohl berathen in dem Bundesrathe, wie ich annehme, es paßt also nicht einmal das, wie ich vorhin sagte, wenn es umfangreiche Gesetze sind! — Dessenungeachtet, m. H., ist die Art und Weise der Behandlung, daß uns noch in der dritten Lesung Amende­ ments auf Amendements gekommen sind, (s. w.! h. h.!) daß noch in dritter Lesung, die wir geschäftsordnungsmäßig eigentlich nur dazu eingerichtet haben, um nur noch redaktionelle Bedürfnisse zu befriedigen oder den verbündeten Regierungen Gelegenheit zu geben,, bei ganz wichtigen Kardinalsachen sich zu äußern — daß in einer solchen dritten Lesung zum Theil oft noch ganz neue Gesetzesmaterien in dieses Gesetz hineinamendirt werden. M. H., in welcher Lage befinden sich dem gegenüber die ver­ bündeten Regierungen, vertreten im Bundesrath?! Za, wir erwarten in diesen Tagen noch, wie ich höre, ein umfangreiches Gesetz von hundert und mehr Paragraphen. M. H., wir haben es noch nicht, wir hören, die Ausschüsse haben es bereits berathen, das Ple­ num des Bundesrathes hat es berathen. Wenn wir in einem solchen Gesetze eben so mit unserer Amendementssucht fortfahren, wie es bisher sehr oft geschehen; dann frage ich, was soll daraus werden? Also den Bedürfnissen Abhülfe zu schaffen erkenne ich an, und ich werde nachher gleich die Mittel und Wege angeben, wie ich denke, daß sie befriedigt werden könnten. Der Herr Abg. Lasker hat in seinem einleitenden Vorträge den Antrag unter Anderem auch damit motivirt, daß er sich darüber beschwerte, daß es sehr häufig eintrete, daß die Regierungsvertreter das letzte Wort hätten, daß Schluß­ anträge die Antwort hinderten, daß also übereilte Abstimmungen zu besorgen seien. Ich muß gestehen, ich habe grade das umgekehrte Gefühl: ich schmachte oft nach Einfluß vom Regierungstische her, (H. l.) leider wird er mir sehr oft nicht zu Theil, ich würde sehr oft erwünscht finden, daß von dort eine ganz deutliche Erklärung zwischen der zweiten und dritten Lesung käme, damit man die Erwägung noch anstellen könnte, ob das gestellte Amendement oder der und der Paragraph so viel werth ist, daß man daran festhält auf die Gefahr hin, daß dieses Gesetz durch die Weigerung der Regierung kein Gesetz wird! Also, m. H., ich würde anerkennen, daß nach allen diesen Richtungen hin außerordentlich viel Ursache vorliegt, unsere Geschäftsordnung und die Vorbereitung der Gesetze zu korrigiren, denn ich muß einräumen, daß ich darauf verzichte, uns selbst zu ermahnen, d. h. mit Erfolg, daß wir uns selber mäßigen mit Gesetzesvorschlägen und Amendementsstellen! M. H., in dieser Be­ ziehung sind wir dem alten Solon sehr unähnlich, denn dessen Grundsatz, Maß zu halten, kennen wir gar nicht! Jeder, der irgend eine legislatorische Zdee hat und für zweckmäßig hält, reißt sie aus seinem gesetzgeberischen Busen, (H.) und in Gestalt eines Amendements wird sie den verbündeten Regierungen in letzter Stunde überreicht, wo sie vielleicht kaum Zeit haben, darüber nach allen Richtungen hin zu votiren, wo die verbündeten Regierungen dann auch vielleicht in die Lage kommen, daß sie sich sagen müssen: ja, das ganze Gesetz hat doch dies und jenes Gute, wir wollen es mit in Kauf nehmen! Diese ganze Art der Geschäftsbehandlung, m. H., beklage ich auf das Tiefste und suche Abhülfe. Aber durch den Antrag Lasker — von dem ich also nicht

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glaube aus den mehrfach von dem ersten Herrn Redner dargelegten Gründen, daß er annehmbar sei — wird auch, abgesehen von den Gefahren, dem Bedürfniß und dem Uebel nicht abgeholfen. — Der Herr Abg. Windthorst sagte, diese Art und Weise des Ausschusses, die hier vorgeschlagen sei, sei um so bedenklicher, da wir es hier nicht mit einem Zweikammersystem zu thun hätten, sondern mit einem Hause und dem Bundesrath, und für ihn, m. H., sagte er, sei der Bundesrath eine unbe­ kannte Größe. Nun, m. H., ebenso erwähnte er und deutete hin auf die Rede des Herrn Reichskanzlers, der alle möglichen wünschenswerthen Eigenschaften des Bundes­ rathes schon gegenwärtig in ihm verkörpert sah. Ich stehe nun in der Mitte; ich bin der Meinung, daß der Bundesrath keine unbekannte Größe ist, und ich wünsche von ganzem Herzen, daß die Ausbildung und die Weiterbildung dieses wunderbar richtig gegriffenen Staatskörpers stattfinden möge, auf daß er auch nicht für den Herrn Abg. Windthorst mehr eine unbekannte Größe bleibe. Ich habe es hier natürlich nur mit der legislatorischen Seite zu thun, ich kann nur darüber eine Bemerkung machen, wie ich hoffe und wünsche, daß die Bundesregierungen in Bezug auf die Legislative den Bundesrath der Art ausbauen, daß alle die Bedenken, die der Herr Abg. Lasker gegen die Gesetzgebungsart entwickelt hat, fortfallen. M. H., warum waren denn in alter Zeit —- das ist mehrfach anerkannt und auch neulich erst hervorgehoben worden — die Gesetze in Preußen besser formulirt als jetzt? Warum wurde denn früher eine viel größere Sorgfalt darauf verwandt? Würde, wenn das der Fall wäre, dann nicht mit mehr Recht hier die Lust zu amendiren bekämpft werden müssen und können, wie jetzt? Nun, m. H., Sie haben die Bestimmung in unserer Verfassung, daß die ver­ bündeten Regierungen nur so viel Mitglieder in den Bundesrathernennen dürfen, als sie Stimmen führen. Ich habe schon an einem andern Orte und zu einem anderen Zwecke gesagt, daß es mir sehr heilsam schiene, wenn diese Worte „so viel Stimmen" gestrichen würden — ohne das Stimmverhältniß natür­ lich im mindesten zu alteriren. Sobald das geschehen ist, würden die Regierungen im Stande sein, in jedem einzelnen Staate alle gesetzgeberischen Notabilitäten, seien sie juristischer Art, seien sie aus anderen Ständen, um sich und im Bundesrathe zu ver­ sammeln, so daß nach dieser legislatorischen Richtung hin diese Körperschaft für uns die bewährten Funktionen eines Staatsrathes ausüben könnte; der Bundesrath würde dann im Stande sein, auf diese Weise die Gesetze vorzubereiten in sich selbst und aus sich selbst. Es ist mir gar nicht zweifelhaft, m. H., daß auf diesem Wege eine so ausgezeichnete Vorbereitung möglich wäre, daß wir hier dadurch alle Amendement­ steller mit mehr Recht wie jetzt ab- und zur Ruhe weisen könnten, und daß es dahin käme, daß wir hier wirklich nur über große Prinzipien abzustimmen hätten. Ich bezweifle nicht, daß so hervorragende Leute wie der Herr Antragsteller und viele Andere unter uns (ich exemplizire auf ihn nicht im Scherz, sondern im vollen Ernst), daß so hervorragende Parlamentskapazitäten, die sich zur Aufgabe gemacht haben, immer mit großem Eifer und großem Ernste das gesetzgeberische Beste zu finden, daß solche Notabilitäten auf diese Weise als Theile des Staatsraths im Bundesrath Platz finden könnten, und ich bezweifle nicht, daß wir dann auf dem gewöhnlichen Wege, wie wir sonst Gesetze gemacht haben, zu einem glücklichen Ende kämen. — Un­ erwähnt will ich es nicht lassen, was auch der Abg. Windthorst bereits angedeutet hat, daß die Sache sich ganz anders machen würde, wenn man für einzelne wichtige um­ fangreiche Sachen Kommissionen bildete, dabei aber den verbündeten Regierungen die Initiative ließe. Ich wollte auch dies noch gesagt haben, damit Sie sehen, daß ich nicht allzu schroff dem Anträge entgegen getreten bin und es für gerechtfertigt halten würde, wenn der Antrag an eine Kommission gewiesen würde, wo nach den besagten Richtungen hin alle klugen Leute das Richtigste und Beste aushecken mögen! — Abg. vr. Schwarze: M. H., ich schließe mich dem Danke, welcher von mehreren Seiten dem Abg.^Lasker gebracht worden ist, ebenfalls an, ich erlaube mir aber ins­ besondere auch gegen Herrn von Blanckenburg wiederholt zu konstatiren: es handelt sich bei dem Anträge des Abg. Lasker durchaus nicht um jene Justizausschüsse, wie sie in

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mehreren Staaten Süddeutschlands früher üblich gewesen sind, sondern um Ausschüsse, die für jeden einzelnen Fall vom Reichstag mit Zustimmung des Bundesraths gewählt werden. M. H., derartige Kommissionen sind zum Beispiel im Königreich Sachsen wiederholt bestellt worden, und auch, wie ich hier betonen will, für jedes einzelne Gesetzbuch, welches dem Landtage vorgelegt werden sollte, und die Erfahrungen, welche man in Sachsen in dieser Beziehung gemacht hat, sprechen ganz entschieden für diese Einrichtung. Zch bin der Meinung, daß wir diesen Entwurf, den uns der Kollege Lasker vorgelegt hat, beschränken sollten auf die uns in Aussicht gestellten Gesetze, nämlich auf die Civilprozeß-Ordnung, die Strafprozeß-Ordnung, das Organisationsgesetz und die damit zunächst in Verbindung stehenden Gesetze. — Sehr interessant ist mir gewesen, was der Herr Abgeordnete für Meppen über die Erfahrung sagte, die er in Bezug auf die Kommissionen gemacht hat. M. H., er hat zunächst behauptet, daß in einer solchen Kommission der Einfluß der Regierung auf das Zustandekommen des Ge­ setzes erschwert werde; er hat angedeutet, daß die Regierung eine viel leichtere Arbeit dem beweglichen Elemente einer großen Versammlung gegenüber habe, als in einer ge­ schlossenen Kommission. M. H., zunächst spricht dieses Argument des Herrn Abg. Windthorst gegen jede Niedersetzung einer Kommission; das Argument, welches er ge­ braucht hat, paßt ja nicht ausschließlich auf die Kommissionen, welche von dem Abg. Lasker vorgeschlagen sind. Ich meinesorts habe in solchen Kommissionen sehr lange und jahrelange Erfahrungen und zwar die gegenteilige Erfahrung gemacht; ich habe gefunden, daß es der Regierung viel leichter geworden ist, ein Gesetz im Landtage durch­ zubringen, nachdem es unter ihrer Mitwirkung in der Kommission berathen worden war, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil in die Kommission sachverständige, mit dem Gegenstände vertraute Männer gewählt worden waren, mit welchen die Regierungs­ Kommissare den Entwurf nach allen maßgebenden Gesichtspunkten durchsprechen konnten. Dadurch wurde es möglich, bei der Vorlage des Berichts der Kommission an den Landtag alle diejenigen Bedenken bereits vollständig klar gestellt zu haben, welche der Kommission durch einzelne Mitglieder theils aus dem Schoße der Kommission selbst, theils von Dritten zugetragen worden waren. Die Sache war eine viel vollständiger präparirte, viel glatter — möchte ich sagen — vorgetragene, und jedes Kammermitglied, welches sich mit der Sache beschäftigt hatte, fand in dem Berichte bereits die Ansichten der Re­ gierung und der Kommission über die hauptsächlichsten Zweifel, die gegen den Entwurf vorgebracht waren, vorgetragen. Selbst in denjenigen Fällen, in welchen die Regierungs­ Kommissare und die Kommission nicht einig waren, wurde es dem Landtage dadurch viel leichter gemacht, eine Entschließung zu fassen, ob er der Regierung oder seiner Kom­ mission beitreten wolle, indem er in dem bereits nunmehr, möchte ich sagen, durch­ gearbeiteten Berichte die Meinungen beider Theile vorgelegt erhielt. — Wenn der Herr Abg. Windthorst bemerkt, daß der Einfluß des Parlaments durch eine solche Maßregel geschwächt würde, so möchte ich nur darauf Hinweisen, daß der Einfluß des Parlaments in der That um so weniger geschwächt werden würde, als ja in der Zwischenzeit, in welcher die Kommission arbeitet, es jedem Mitgliede des Parlaments frei stände, seine Anträge, seine Zweifel, seine Wünsche in Form von formulirten Anträgen oder von Memoires an die Kommission gelangen zu lassen. M. H-, das ist ein großer Vortheil, der mit einer solchen Kommissionsberathung verbunden ist. Als wir in Sachsen die großen Gesetze — Strafgesetzbuch, Strafprozeß-Ordnung, bürgerliches Recht, Kirchen­ ordnung und dergleichen mehr — beriethen, hat die Regierung jedem einzelnen Kammermitgliede natürlicherweise ebenfalls die Entwürfe zugehen lassen, und es hat, während die Kommissionen arbeiteten, eine sehr reiche Zusendung von Anträgen, Amendements und Wünschen der einzelnen Landtags-Mitglieder, die nicht in den Kommissionen ihren Sitz hatten, stattgefunden, so daß die Kommissionen dadurch in die Lage gesetzt wurden, ein sehr reiches Material verarbeiten zu können. — Der Vorschlag, den der Herr Abg. von Blanckenburg angedeutet hat, scheint mir gerade dasjenige zu wollen, was der Abg. Lasker beantragt hat. Der Herr Abg. von Blanckenburg wünscht, daß der Reichstag auf die Zeit, während eine solche Kommission sitzt, faktisch vertagt werde. Za, m. H.,

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Gesetzentwürfe.

dann sitzt ja diese Kommission auch ohne alle Berührung und ohne alle Fühlung mit dem Reichstage. Zm Gegentheil aber, m. H., würde ich glauben, daß dasjenge, was der Herr Abg. von Blanckenburg gesagt hat, sich anwenden ließe zu Gunsten oes An­ trages, wie ihn der Herr Abg. Lasker gestellt hat; denn, m. H., wenn dann die ReichstagsMitglieder nach der ersten Berathung mit dem Entwurf nach Hause kommen, drnn sind sie in der Lage, in ihren Kreisen die Praktiker zu fragen und dort Erfahrunzen und Stimmen zu sammeln, was man über den Entwurf denke, wie man glaube, oaß der­ selbe in einzelnen Partien umzugestalten sei, und mit diesen Mittheilungen ausgerüstet, kehren dann die Reichstags-Mitglieder an ihre Arbeit zurück; aber thatsächlich hat, m. H., eine solche Fühlung,-wie sie hier aecentuirt wird, zwischen dem Reichstag und seiner Kommission nicht stattgefunden. Zch wiederhole, m. H., daß ich allerdings glaube, daß der Antrag des Kollegen Lasker, wie er jetzt uns vorliegt, nicht acceptabck ist, ich würde, wenn es zur Spezialberathung kommt, mir erlauben, die Anträge dahin zu formuliren, daß der Entwurf beschränkt würde auf die großer in Aussicht stehenden Gesetze, lediglich auf diese. Abg. Lasker: M. H., der eifrigste Gegner meines Antrages war diesmal wieder der Herr Abg. Windthorst, welcher viele theoretische Bedenken angeführt, aber seine praktischen Erfahrungen verschwiegen hat. Mir war viel daran gelegen, daß tas Haus die praktischen Erfahrungen aus den einzelnen Ländern erfahre; nur ein Redner, der Herr Abg. Schwarze, hat die Güte gehabt, seine praktischen Erfahrungen aus Sachsen dazuthun, und diese waren im Ganzen dem Antrag günstig. Ein anderes Mitglied, das soeben aus seinem Heimathlande die dort gleichfalls günstigen Erfahrungen hat mittheilen wollen, ist leider durch den Schluß nicht zum Worte gekommen, und der Herr Abg. Windthorst, der eine schöne Gelegenheit hatte, aus Hannover zu bezeugen, wie unter seiner Mitthätigkeit dieselbe Einrichtung im Inhalt vortrefflich gewirkt, hat die praktischen Erfahrungen verschwiegen und nur seine theoretischen Bedenken geäußert, die, offen gestanden, mir zwar interessant, aber für die gewünschte Belehrung in diesem Falle doch weniger werth waren. Der Herr Abg. Windthorst hat in ihm geläufiger Weise beide Seiten des Hauses mit verschiedenen, zum Theil entgegengesetzten Gründen gegen meinen Antrag zu stimmen gesucht: der Rechten hat er versichert, das Parlament werde mit Hülfe meines Antrages das Königthum verschlingen; der Linken dagegen, die Kommission werde das Parlament verschlingen; für die Herren drüben war der Antrag revolutionär, für meine Nachbarn war er reaktionär, und so ist kaum ein Mitglied im Hause, an welches nicht ein scheinbarer Grund der Ueberredung gerichtet ist. Das ist allerdings eine gefährliche Gegnerschaft. Um mich aber nach allen Seiten hin zu rechtfertigen, will ich gestehen, daß ich ganz unschuldig an diesen gefährlichen Antrag gegangen bin; ich wußte nicht, welche revolutionäre Arbeit ich damit unternahm. Die Herren, welche von sich rühmen, daß sie die Gesetzgebung sehr wenig beunruhigen, wie z. B. der Herr Abg. von Blanckenburg, der mir beifällig zunickt, und der eben ab und zu nur Anträge unterstützt, die das Haus nicht lange aufhalten, (H.) — nie wir das neulich gesehen haben — mögen sich die Gesetzgebung ein wenig anders vorstellen, als sie in der That ist. Man kann nicht über Prinzipien allein abstimmen und das Andere einer Redaktionskommission überlassen; manchmal steckt in einem Gesetzesarsdruck ein Prinzip, das nicht gleich verständlich ist und das man genau erwägen und unter­ suchen muß. (S. r.!) Die Herren malen sich einen Zustand aus, der ihrem Zdeal entsprechen würde, der aber kein bloßes Ideal ist, sondern schon anderswo befanden und sehr schlecht gewirkt hat. Wenn ich alle Beschwerden gegen das Amendirm und gegen das Reden zusammenfasse, so dürften wir nicht sprechen und nicht ameadiren, sondern wir müßten zu den uns vorgelegten Anträgen, lediglich Za oder Nein sagen. Dieser verlockende Zustand ist schon in Frankreich unter Napoleon dem Ersten in dem Tribunal verwirklicht gewesen, und darin war die Weisheit erschöpft, die wir so oft hören, gegen die Redelust und Amendirungssucht der Parlamente; darauf läuft das Zdeal hinaus, welches den Beschwerdeführern vorschwebt. Wenn Sie 4(>0 einsichtige Männer versammeln, ihnen Gesetze vorlegen und verlangen, daß sie in den Bestimnungen

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das Beste für das Land treffen, so werden sich dieselben nie und nimmer darauf ein­ schränken lassen, nur im Großen die höheren Prinzipien zu prüfen, im Uebrigen aber, obschon ihnen das Recht zusteht, die Einzelheiten einer Vorlage zu verbessern, das minder Gute durchgehen zu lassen, lediglich weil es das Bequemere ist; dies würde eben so der Pflicht wie der Natur des selbstständigen Mannes widerstreiten. Deswegen müssen wir darüber nachdenken, wie dem Uebelstande abzuhelfen, daß das Haus beschäftigt wird mit technischen Angelegenheiten, die nicht das volle Plenum interessiren können. Das ist der Kern meines Antrages. — Nur gegen einen Widerspruch will ich mich noch ver­ wahren. Ich habe nie anders darüber gedacht und gesprochen, als daß technische Gesetze an Kommissionen überwiesen werden müssen, besonders wenn sie von größerem Umfange sind. Ich habe stets im preußischen Abgeordnetenhaufe und auch hier dafür gestimmt, daß solche Gesetze an eine Kommission verwiesen werden. Ganz anders verhält es sich mit politischen Gesetzen, mit dem Budget und anderen bedeutenden Gesetzen, die gerade um ihrer Bedeutung willen im Plenum am Besten behandelt werden. Fragen der höchsten Politik und des höchsten Staatswohles scheinen mir am Besten dem Plenum anvertraut, welches immer der beste und kompetenteste Richter ist, wenn es genügendes Interesse und genügende Aufmerksamkeit für die Angelegenheiten hat, welche be­ handelt werden. Aber, m. H., wenn mein Antrag wirklich so gefährlich, staatsumstürzend, parlamentverderberisch wäre, wie der Abg. Windthorst ihn geschildert hat, dann würde ich für die Gesetzgebung Preußens verzweifeln, denn Alles, was er gegen die Einsetzung einer Einzelkommission gesagt hat, paßt auch gegen die Scheinform, daß das Haus sich inzwischen vertagt; es bleiben dann bekanntlich sehr wenige Mitglieder an dem Sitze des Parlaments. Nun aber soll der preußische Landtag das nächste Mal sich beschäftigen mit der Gemeindeordnung, mit der Provinzialordnung, mit der Kreisordnung, mit den Grunderwerbs-Gesetzen, mit Hypothekenrecht und 16 Einführungs-Gesetzen; wenn das irgend ein Landtag zu Stande bekommt, ohne daß er Kommissionen niedersetzt, die berathen, während das Plenum nicht zusammen ist, so wird sich ein Wunder vollziehen muffen. Der preußische Landtag wird derselben Frage gegenüber stehen, und dort werden Viele von uns die Kassandraklagen des Abg. Windthorst über den Umsturz des preußischen Staats wiederum hören. Es ist mir lieb, daß er heute uns vorbereitet hat, weil zuweilen seine Angriffe, während sie frisch aus seinem Busen kommen, etwas Be­ stechendes haben, und ich finde es deshalb erwünscht, daß sie in der Zwischenzeit den Reiz der Neuheit verlieren. (H.)

Präsident: Ehe ich die Frage wegen der Kommission an das Haus richte, gebe ich dem Abg. Dr. Windthorst zu einer persönlichen Bemerkung das Wort. Abg. Dr. Windthorst: M. H., dem Abg. Dr. Schwarze muß ich sagen, daß ich nicht behauptet habe, die Regierung habe einen größeren Einfluß aus die beweglichen Elemente des Hauses; ich habe im Gegentheil gesagt, daß sie einen größeren Einfluß habe aus die große abwägende und entscheidende Masse des Hauses, aber die beweglichen Elemente entschlüpfen der Regierung; — aus die große Masse des Hauses aber hat sie einen größeren Einfluß als aus die Kommissionen. — Dem Herrn Abg. v. Blanckenburg bemerke ich, daß ich nicht von dem Bundesrath gesagt habe in Betonung, daß er mir eine unbekannte Größe sei, der Ton lag aus der Größe. (Gr. H.) Wenn dann der Herr Abgeordnete zweifelhaft gelassen hat, ob es zu seiner Befriedigung oder zu seinem Bedauern war, mit mir ausnahmsweise übereinzustimmen, so erkläre ich, daß ich mich immer freue, wenn er mit mir stimmt, denn dann ist er auf dem rechten Wege. (H.) — Dem Herrn Abg. Lasker bin ich eine Erklärung schuldig. Zch habe entfernt nicht daran gedacht, daß der Herr Abg. Lasker subjektiv irgend etwas Gefährliches zu unternehmen beabsichtigt habe, ich habe nur objektiv sprechen wollen, bemerke übrigens aber, daß die Harmlosesten in der Regel am unbefangensten mit dem Feuer spielen. Der Entwurf wird an eine Kommission von 14 Mitgliedern verwiesen. Die Vorschläge derKommission gehen nach dem erstatteten Berichte dahin, in folgender Fassung anzunehmen ein

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Gesetzentwürfe.

Gesetz, betreffend die geschäftliche Behandlung von Gesetzentwürfen durch IwischenkomnMonrn. Wir Wilhelm rc. § 1. Der Reichstag kann nach dem Abschlüsse der ersten Berathung über einer WefehEntwurf unter Zustimmung des Bundesrathes beschließen, daß der Entwurf einer Kommssicon zur

Vorberathung überwiesen, die Verhandlung des Reichstages in der nächsten Session derßlbcen Le­ gislaturperiode fortgesetzt und in der Zwischenzeit die Vorberathung der Kommission begomem oder fortgesetzt werde.

§ 2. Auf dir Mitglieder der üommisfion finden für die Dauer der Äomnissfionssttzungen die üestimmnngrn der Artikel 2l und Artikel 30 der Verfassung Anvemdung. Zm Uebrigen bleibt der Geschäfts-Ordnung des Reichstages vorbehalten, die Rtzelm über die Zusammensetzung und die Wahl der Kommission, so wie die durch den Beschluß bedingten

Regeln des Verfahrens in dem Reichstag und in der Kommission festzustellen.

§. 3. Wahrend der Dauer der vorberathung zwischen einer und der amderen Sesfion des Ueichstages erhalten die Mitglieder der Aommisflorr Ersatz der vnselkosten und außerdem Diäten» deren Höhr bis zur gesetzlichen Feststellung durch Kaiserüchrr An­ ordnung festgesetzt wird. §. 4. Gegenwärtiges Gesetz tritt außer Wirksamkeit» sobald dir vrrfassnnzsnnäßige Inständigkeit des gegenwärtig gewählten Nrichstags durch Ablauf der Wazlpirriode oder Anflösung erloschen ist. Zweite und dritte Berathung am 1. Juni 1871. Berichterstatter Abg. Dr. Schwarze: M. H., ich hoffe, daß der Berühr Ihrer Kommission ausreichendes Material darbietet, um die verschiedenen Ansichten, welche in der Kommission vorgebracht worden sind, kennen zu lernen und die Motive, welche dem Beschlusse Ihrer Kommission unterliegen, zu beurtheilen, und ich verzichte daher zur Zeit auf ein weiteres Eingehen auf die Sache.

Spezialdebatte.

Abg. Dr. Reyscher bringt einen Abänderungsvorschlag zu den §§ 1 und 3 ein: 1. an die Stelle des § 1 folgenden § 1 zu setzen: Der Reichstag kann nach dem Abschluß der ersten Berathung über einen Ge­ setzentwurf von größerem Umfang unter Zustimmung des Bundesraths beschließen, daß der Entwurf einer Kommission zur Vorberathung in der Zwischenzeit bis zu der nächsten Session derselben Legislaturperiode überwiesen und sodann von der Kommission bei dem Beginn der neuen Session darüber eingehender Bericht erstattet werde. 2. §3 des Laskerschen Antrags zu genehmigen mit dem Beisatze: dasselbe findet statt, wenn eine Kommission unter Zustimmung des Bundes­ raths im Falle der Vertagung mit dem Auftrage zugelassen wird, während der Dauer der Vertagung in Vorberathung zu treten und bei Wiederaufnahme der Session darüber zu berichten. Abg. Reichensperger (Crefeld): M. H., Ich verkenne meinerseits durchaus nicht, daß Bedenken sehr ernster Natur dieser Vorlage entgegenstehen; ich bin aber der Ansicht, daß hier gewissermaßen der Fall einer höheren Gewalt vorliegt, ja, ich möchte es fast einen Akt der Verzweiflung nennen, wenn wir dem Gesetzentwürfe, wie ich meinerseits zu thun beabsichtige, beipflichten. Ich habe für meine Person durch den bisherigen Gang der Reichstags-Verhandlungen die Ueberzeugung gewonnen, daß wir unmöglich auf diesem Wege vorangehen können, wenn wir nicht in hohem Maße die uns anvertrauten Interessen verletzen wollen. (S. w.) M. H., ich gestehe, ich habe mein Gewissen mehr als einmal schwer gedrückt gefühlt, wenn ich meine Abstimmung über die sich hier kreuzenden Amendements abgeben mußte. M. H., das Alles hat mir die

Kommissionsberathung eines Entwurfs von ungewöhnlich großem Umfange.

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Ueberzeuarng aufgedrängt, daß größere Gesetze, Gesetze von tiefgreifendster Wirkung nach crller Richtungen hin unmöglich, sei es im Sturm mittels einer bloßen öffentlichen Verhandlung, sei es nach Lesung eines Kommissionsberichts, wie bisheran von uns in zwecknräßger, den Anforderungen sowohl der Wissenschaft als des Lebens entsprechender Weise alsolvirt werden können. Ich greife also nach dieser Gesetzesvorlage gewisser­ maßen nie ein Ertrinkender nach einem Balken, ich glaube, wir müssen einst­ weilen diesen Balken festhalten. Zch bin aber weiter der Ansicht, daß das Gesetz uns nicht und noch weniger die hohe Bundesregierung dispensiren soll, auch noch auf andere Korrektive zu sinnen. Zch bin der Ansicht, daß wir dem Gesetz nur einen provisorischen Charakter ertheilen sollen, wie das auch der vierte Paragraph des­ selben thut, daß mit vollem Ernste darauf Bedacht genommen werden muß, andere Mittel und Wege ausfindig zu machen, welche es ermöglichen, größere Gesetze, schwie­ rigere Ge'etze, Gesetze, welche, wie ja der Ausdruck auch im Bericht gebraucht ist, einen mehr ode: weniger technischen Charakter an sich tragen, in angemessener, wahrhaft wür­ diger Weise vorzuberathen. — Ich will hier nicht von dem mehrfach erörterten Kapitel eines Oberhauses sprechen; auch ich, bin der Ansicht, daß auf die Dauer noch eine Art von erster Kammer geschaffen werden muß. (W. l. Abg. Braun (Gera): in gothischem Style?) Zch weiß nicht, ob das ein Witz sein soll; bejahenden Falls würde ich gern applaudiren. (H,) Zch bin also der Ansicht, daß eine weitere Instanz geschaffen werden muß, deren Vortheile in Bezug auf die Gesetzgebung hier nicht erst erörtert zu werden brauchen; wo möglich noch entschiedener aber bin ich der Ansicht, daß irgend eine Körper­ schaft zu schaffen ist, welche wesentlich den Beruf hat, Gesetzesvorlagen vorzubereiten, also eine Art von Staatsrath — ein Staatsrath, welcher aus erfahrenen, durchaus erprobten Männern zusammengesetzt ist, und der in aller Muße und in voller Unab­ hängigkeit die Gesetzesvorlagen vorbereitet. Ich glaube, daß eine solche Körperschaft, wie sie ja auch in fast allen anderen größeren, Staaten unter der einen oder anderen Bezeichnung besteht oder bestanden hat, absolut nothwendig ist. Wir würden von dieser Körperschaft allseitig durchdachte Gesetzesvorlagen mit Motiven bekommen und einer Be­ hörde gegenüber stehen, die nicht mehr oder weniger eine gegensätzliche Stellung zu den Häusern einnimmt, die gewissermaßen einen richterlichen über den Parteien stehenden Charakter an sich trüge. Wie mir scheint, sollte man baldmöglichst darauf Bedacht nehmen, eine solche Körperschaft herzurichten. — Dann aber bin ich weiter der Ansicht, daß wir etwas schon vorkehren könnten und müßten, was in der Macht dieses hohen Hauses liegt, daß wir nämlich als Geschäftsordnungs-Grundsatz aufzustellen hätten, daß kein Gesetz, wenigstens kein Gesetz irgend technischer Art, welches nicht ganz ein­ fache, klare, keinem Mißverständniß unterliegende Dispositionen enthält, sofern dasselbe hier amendirt worden ist, als vollendet betrachtet werden soll, bevor es nicht wieder in die Kommission zurückgegangen ist, daß mit einem Worte immer eine Kommission noch einmal den amendirten Gesetzesvorschlag revidiren und mit ihren Bemerkungen in das Haus zurückbringen soll. In einem solchen Vorgehen liegt offenbar wenigstens eine annähernde Garantie dafür, daß die verschiedenen Amendements, die bei Gesetzesvor­ lagen zur Annahme kommen, zu einander stimmen, daß in den Gesetzen wenigstens die Einheitlichkeit der Grundgedanken gewahrt bleibt, eine Garantie, welche meines Er­ achtens bei der jetzigen Art, Gesetze zu Stande zu bringen, nicht gegeben ist. — End­ lich, m. H., komme ich noch auf etwas, was vielleicht bedenklich ist, hier auszusprechen, nämlich auf die Ansicht, daß das Haus in seiner Initiative möglichst sparsam sein sollte, und sodann auf den Wunsch, daß bei den Erörterungen nicht gar zu viele und gar zu lange Reden gehalten werden möchten. (H.) Um meinerseits nicht auch in diesen Fehler zu verfallen, werde ich gleich meinen Vortrag schließen. (H.) Zch will nur noch die Bemerkung machen, daß mir der Antrag des Herrn Reyscher keine Ver­ besserung des vor mir liegenden § 1 zu sein scheint; im Gegentheil halte ich es für einen Vorzug dieses § 1, daß er den ursprünglichen Ausdruck „von ungewöhnlich großem Umfange" beseitigt hat. Wir haben nun einmal eine parlamentarische Nor­ malelle nicht zur Hand, um danach zu bemessen, was ungewöhnlich groß, oder was

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Gesetzentwürfe.

überhaupt groß und was klein ist; ohnehin sind das ja sehr relative Begriffe. Außer­ dem aber können auch verhältnißmäßig kleine Gesetze — wenigstens kleine im Verh)ältniß zu einem Strafgesetzbuch oder zu einer Civilprozeßordnung, also Gesetze, die nneinetwegen nur ein Drittel so groß sind, wie ein solcher Codex — in sich so intrikaterr und schwieriger Natur sein, zumal wenn keine Muster existiren, bei welchen man sich 'Raths erholen könnte, daß sie noch weit eher auf Klippen gerathen, als große Gesetzesvorlagen der eben gedachten Art. Was nun solche große Gesetzesvorlagen betrifft, so steche ich wahrscheinlich auf einem Minoritätsstandpunkt, wenn ich wünsche, diese großen (Gesetze oder Gesetzbücher möchten nicht in rascher Aufeinanderfolge über das Land er.gehen. Es hat etwas außerordentlich Bedenkliches um solche große Gesetze, in der Regel wer­ den sie nur von gewissen mehr politischen Zwecken geschaffen, ohne daß man genant das Terrain und die Verhältnisse kennt, über welche sie sich verbreiten und welche fiie um­ gestalten sollen. Ich wünsche daher, daß der gegenwärtig gewählte Reichstag nicht mit allen den großen Gesetzen bedacht werden möge, welche ihm in Aussicht gestellte sind; wäre es der Fall, so würde sogar eine zwischenzeitliche Kommission schwerlich in der Lage sein, diese Vorlagen in angemessener Weise durchzuarbeiten und ihnen denjenigen Inhalt zu geben, auf welchen das Volk Anspruch zu machen hat. Abg. Dr. Gneist: M. H., ich habe die Ehre gehabt, als Berichterstatter des Abgeordnetenhauses von dieser Tribüne aus dieselbe Frage zu erörtern, wenigstens die Hauptfrage. Ich habe den lebhaften Wunsch gehabt, es möge der Kommission gelingen, die sachlichen Bedenken zu widerlegen, die diesem Wege entgegenstehen; denn ich erkenne die praktischen Uebelstände, die auch der letzte Herr Redner hervorgehoben hat, ebenso lebhaft an wie irgend Jemand. Ich erkenne die Loyalität des Antrages und die praktische Mäßigung in der Durchführung vollkommen an. Wenn sich die Verdenken dadurch nicht erledigen, so glaube ich, liegen sie unabänderlich in der Natur, der Parla­ mentsberathungen, in der Mangelhaftigkeit der menschlichen Einrichtungen, in biet Be­ schränktheit der Aufgaben dieses Parlaments, die wir mit deutscher Universalitä-t gern weiter ausdehnen möchten, als sie sein kann. M. H., ich bin zunächst aus legis­ latorischen Gründen der Ueberzeugung, daß dieser Weg der Zwischenkommissionen unsere großen Prozeß- und Organisations-Gesetzgebungen nicht fördern, sondern in dem äußersten Maße erschweren, nahezu unmöglich machen wird. Denn für diese Gesetzes­ werke kommt es nicht an auf die Summe der Intelligenzen — m. H., meinen Respekt, wenn es sich um die Summe der Intelligenzen handelt — aber die Gesetz­ gebung kann man nicht in Kommissionen geben. Die Bedeutung der Kommissionen beginnt erst, wenn diese Intelligenzen sich zu einer organischen inneren Einheit durch­ gearbeitet haben; und dafür ist der Weg der Kommissionen überhaupt ein schmieriger. Versetzen Sie sich in die Lage der Staatsregierung: Ein sehr erfahrener, in Gesetzes­ arbeiten selbst eingelebter Justizminister hat mit der größten Sorgfalt eine Kommission auszuwählen, bei derselben auf die Kenntniß der verschiedenen Landesrechte, die Lebens­ stellungen, die juristischen Erfahrungen unbefangen Rücksicht zu nehmen und eine kleine Zahl inne zu halten, acht oder neun Mitglieder — größere Kommissionen schaffen selten ein organisches Gesetz. Selbst diese Kommissionen bekommen ihren Werth erst nach Jahr und Tag, wenn nämlich die Mitglieder erst ihre Individualität untergeordnet haben einem Gemeingeist, einer Kollegialität der Berathung. Bei großen Gesetzgebungen, wie bei dem Handels-Gesetzbuch, dauert es lange Jahre, ehe die Kommission zu einer Einheit an Haupt und Gliedern wird, ehe sie stillschweigend einen leitenden Geist ent­ wickelt, der zuletzt die Seele einer Kodifikation bildet. Und damit ist es noch nicht genug, m. H., Gesetzentwürfe bringen sich nicht von selber durch, sie kommen nur durch, wenn das so geschaffene einheitliche Werk von der Staatsregierung im vollsten Maße zu ihrem eigenen gemacht, wenn es mit der ganzen Macht und Autorität der Staats­ gewalt durchgeführt wird gegenüber den unendlichen Widersprüchen. Denn alle Kodi­ fikationen rufen die Widersprüche in großen Kreisen wach, und darum scheitert das beste Gesetzmaterial in Gestalt der Kodifikation in jeder anderen Hand als der Regierungen, die in vollem Maße ihre Autorität gebrauchen. (S. r.!) Wenn das blos gelehrte Ar-

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beiten wären, wenn es genug wäre eine Anzahl distinguirter Juristen beisammen zu haben, mit welcher Leichtigkeit wären wir schon zu gemeinsamer deutscher Gesetzgebung gekommen! — Welche Stellung kann dazu das Parlament einnehmen? M. H., die sehr schwer wiegende, schwierige Aufgabe der Kontrole; aber sowie es darüber hinausgeht, werde ich die Ehre haben, Ihnen die Folge davon sogleich darzulegen. Es hat die Aufgabe einer Kontrole — ja, aber nicht die Aufgabe, einen zweiten Entwurf zu machen — das ist vielmehr der Weg, an dem die Kodifikation scheitert. Ich setze voraus, wenn ein solches Gesetzeswerk entsteht, muß es geraume Zeit vorher bekannt gemacht sein. Es kann gar nicht die Rede davon sein, daß im Laufe einer Session die Kommission oder das Plenum sich erst informiren soll über ein GerichtsOrganisations- oder Prozeßgesetz. Das muß geraume Zeit vorher bekannt, das muß besprochen sein in den Kreisen der Betheiligten, der Sachverständigen. Das Jnformationswerk muß schon in den Grundzügen vollendet sein, ehe ein Parlament Zusammen­ tritt, sonst ist es nur scheinbar eine Parlamentsarbeit, vielmehr die technische Arbeit einer neuen Kommission, wenn die Berathung unter andern Umständen beginnt. Die Kommission ist das bloße Informations-Instrument des Parlaments, um dem Hause die großen Prinzipien darzulegen, über die es sich schlüssig zu machen hat, die ver­ schiedenen Amendements, die stets in außerordentlicher Zahl bet solchen Gesetzgebungen einströmen, zu sichten, zu ordnen, zu erwägen, ob sie vereinbar sind mit dem Grund­ gerüst des Gesetzes, aber niemals einschneidende Aenderungen zu machen, die den Knochenbau des Code treffen. (S. r.I) Denn wenn man so weit gehen zu müssen glaubt, dann muß man dem Hause vielmehr rathen, den Entwurf abzulehnen und die Regierung zu.ersuchen, einen andern einzubringen, aber nicht in der Vorliebe für die Schaffung des eigenen Werkes einen parlamentarischen GegenEntwurf machen.— Ist nun aber eine Kommission thätig, die sich in der Zwischen­ zeit von fünf bis neun Monaten einer solchen Prüfung des Gesetz-Entwurfs widmet: dann wird sie (mag sie bei ihrer Wahl einen Entschluß fassen wie sie will) unabänder­ lich das Organ, aus dem ein zweiter Gesetz-Entwurf hervorgeht. Zch weiß sehr wohl, m. H., wir leugnen das: aber glauben Sie mir, m. H., mit aller Geläufigkeit, mit der man das auseinandersetzen mag, es ist das ein unabänderliches Resultat; denn es liegt in der Natur des Menschen. Es liegt in der Natur des Juristen, es liegt am meisten in der Natur des deutschen Juristen mit seinen vortrefflichen Eigenschaften, die, glaube ich, nicht hoch genug veranschlagt werden können, in seiner Gründlichkeit und seiner Gewissenhaftigkeit, in dem Bewußsein des gewaltigen Berufes, von dem deutschen Parlament beauftragt zu sein mit der materiellen Prüfung vielleicht des praktisch wichtigsten Gesetz-Entwurfs, wie einer Civil-Prozeßordnung. Zn solcher Lage verzichtet kein deutscher Jurist auf die Ehre und auf die von ihm gemeinte Pflicht, das Beste zu thun, was nach seiner individuellen Auffassung richtiger ist, als der RegierungsEntwurf. Und wenn bei irgend einem Werke das zutrifft, so ist es bei der CivilProzcßordnung, bei der jeder Jurist sein eigenes System bereits fertig mitbringt, bei de: überhaupt ein Jeder seine individuellen Erfahrungen mit der größten Entschiederheit geltend macht. Versuchen Sie aber in einer Kommission von 28 zu suchen, ob auch nur zwei von diesen 28 mit derselben Grundvorstellung vom Grundgerüst des Civilpnzesses in diese Kommission treten! — Ich nehme also an, in 5—9 Monaten wird unter der Presse der bevorstehenden Plenarsitzungen ein zweiter Entwurf zu Stande komme;, ein (wenn ich den Maßstab der Amendements zu dem deutschen Strafgesetz­ buch nchme) aus vielleicht tausend Amendements neu zusammengefügter Entwurf. Nun frage ich aufrichtig, in aller Bescheidenheit und Verehrung für dieses hohe Haus: wird dieser Entwurf besser sein als derjenige, den die Regierung uns vorzulegen vermag? Ja, wenn es auf die Summe der Intelligenzen ankäme — ich habe gar kein Bedenkm, wie ich zu antworten habe. Ich setze dabei alles Günstige voraus, was die Achtun; und Verehrung für das hohe Haus bedingt; ich setze voraus, daß der hohe Seniormkonvent die schwierige Zusammensetzung einer solchen Prozeßkommission mit mehr Umsicht als ein erfahrener Justizminister zu Stande bringt; ich setze voraus, daß die

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ersten Kapacitäten Deutschlands, die eigentlich zur Prozeß-Gesetzgebung berufenen, wirk­ lichen Decemvirn sich in dieser Kommission beisammen finden, wie das die schuldige Hochachtung vor dem Hause bedingt, und wie wir dies ja von jeder Kommission an­ nehmen, so lange bis sie wirklich gewählt ist. (H.) Nun, wenn Alles dies zusam­ mentrifft, zu verkennen: desto schlimmer für das Gesetzeswerk, denn je größer die Summe der Kapacitäten in der Kommission, desto gewisser ist es, daß die drei Mal stärkere Kommission.wenigstens drei Mal so lange Zeit braucht als eine Regierungs­ Kommission, um sich kollegialisch durchzuarbeiten zu einem Gesammtwillen, nicht so, daß blos mechanisch abgestimmt wird, vierzehn für diese Meinung und dreizehn für jene, sondern so, daß die Individualitäten sich bereits untergeordnet, in einer langen Durch­ arbeitung gegenseitig so viel nachgegeben haben, um ein einheitliches Werk zu wollen. Das ist ganz unmöglich, und darauf beruht es, m. H., daß kein englisches Parlament, kein amerikanisches Parlament, kein französisches Parlament jemals diese commissio creatrix, die eine kodifizirte Arbeit macht, zu Stande gebracht hat. Es liegt das nicht in der Beschränktheit der Nationen, sondern in der Natur der Parlamente oder viel­ mehr in dem Satz: Gesetzgebungen lassen sich nicht in Kommission geben. — Wenn ich nun aber auch annehme, m. H., daß durch ein glückliches Zusammentreffen, durch die Besonnenheit, die uns so oft geleitet hat, ein leidlicher neuer Entwurf zu Stande kommt: — wie soll nun das hohe Haus sich dazu verhalten? Das Haus kommt in eine viel üblere Lage, als jemals gewesen: es soll nun gar entscheiden zwischen zwei organischen Ganzen, zwischen dem Regierungs-Entwurf und zwischen der Arbeit der achtundzwanzig Herren, die hier im Schweiße ihres Antlitzes acht bis neun Monate einen zweiten Entwurf geschaffen haben. Die Entscheidung einer großen Versammlung zwischen zwei auf so verschiedenen Grundlagen entstandenen Arbeiten ist unendlich schwer und niemals unbefangen. M. H., es wäre widernatürlich, vorauszusetzen, daß das Haus nicht in jeder zweifelhaften Frage seinen eigenen Vertrauensmännern, seinen höchst schätzbaren und höchst geachteten Kollegen den Vorzug giebt. — Diese Gesetzberathung mit Zwischenkommissionen führt also dahin, die Initiative der großen Kodifikationen aus der Staatsregierung herauszunehmen und in die Parlamente zu verlegen. Denn, m. H., was soll die Regierung zuletzt machen? Sie muß, wenn überhaupt etwas zu Stande kommen soll, auch widerwillig nachgeben, unter 100 Amendements 98, 97, 96 nachgeben, um wenigstens den Schein der Fruchtbarkeit zu wahren. Am Schluß scheitert vielleicht das Gesetzeswerk doch noch an einem Umstande. Es scheitert an dem kompakten Widerspruch, den auch die beste Prozeßordnung, die Sie genehmigen werden, bei der großen Majorität der deutschen Juristen unter allen Umständen findet; denn es ist nicht möglich, auch das beste Werk so zu schaffen, daß es nicht der ungeheuren Macht der Gewohnheit schroff gegenübertreten muß. Schaffen Sie ein Werk mit der Zangengeburt, für das die Regierung nicht als ihr eigenes Werk eintritt, so riskiren wir schließlich noch, daß die saure Arbeit der Kommission vergeblich war. — Wir sind seit zehn Jahren und länger einig, wir brauchen ein solches Gesetzeswerk, und die Regierungen als solche sind nicht feindselig dagegen gewesen. Aber wir haben das Unglück gehabt, daß in den Vorbereitungsstadien immer nicht ein Entwurf, sondern stets zwei Entwürfe zum Vorschein gekommen sind. Der Widerspruch dieser Entwürfe hat uns um die Prozeß­ reformen gebracht. Ich fürchte aber, m. H., mit dem Systeme der Zwischenkommission machen wir den Zwiespalt permanent. — Nun beruft sich die Kommission zwar auf eine Reihe von Präcedenzfällen, das sei gar nicht so schlimm, das Gegentheil hätte sich vollkommen bewährt in Sachsen. Ich will dem kleinen Musterstaat Sachsen seine Erfahrungen auf diesem Gebiete nicht streitig machen, am allerwenigsten dem geschickten Referenten, der wohl mit seinen Landsleuten in Gesetzkommissionen zu arbeiten weiß. Aber darin liegt eben der Unterschied. Ein großes Parlament, welches 40 Millionen mit unendlich verschiedenen Rechtssystemen, Prozeßsystemen und Gewohnheiten vertritt, ist in einer völlig anderen Lage, als eine Regierung in einem kleinen Lande mit einer einheitlichen Rechts- und Prozeß-Gesetzgebung, wo die Exekutive immer noch eine gewisse Präponderanz über kleine Kammer-Kommissionen behält. Es sind hier eben ganz andere

Kommissionsberathung eines Entwurfs von Ungewöhnlich großem Umfange.

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Verhältnisse. Zn kleinen Ländern gehen viele Dinge, die in großen nicht gegangen sind und nicht gehen werden. Man hat sich ferner darauf berufen: wir haben ein nord­ deutsches Strafgesetzbuch zu Stande gebracht! Za, m. H., wir haben es zu Stande gebracht, weil eben der Reichstag des norddeutschen Bundes die weise Resignation ge­ habt hat, mit ein paar Hundert Amendements zufrieden zu sein, (H.) da uns das Glück zu Theil geworden ist, daß der hohe Reichstag nicht 9 Monate Zeit gehabt hat zu amendiren, sondern nur die Zeit, sich über die Grundprinzipien zu informiren, sich klar zu machen, daß man etwas Großes und Ganzes annimmt, und nicht jede Kleinig­ keit daran bessert und mäkelt, wenn man ein großes Ganzes dafür gewinnt. Es ist gegangen, weil man eine feste, inkontestable Grundlage gehabt hat. Kein Mensch war zweifelhaft, daß man das preußische Strafgesetzbuch zu Grunde gelegt hatte. Wir haben es hier aber mit Gesetzeswerken zu thun, in denen der rheinische Zurist, der ge­ meinrechtliche Jurist eine grundsätzlich andere Meinung hat, wie der preußische; wir haben hier von unten herauf einen Gegensatz der Meinungen, der seit Jahren Alles zum Scheitern bringt, und diese Gegensätze, die sich in kleinen Kommissionen kaum in zwei, drei Jahren durcharbeiten, diese Gegensätze sollten verdaut und verarbeitet werden in einer Parlaments-Kommission von achtundjwanzig? — M. H., glauben Sie nicht, daß es sich um eine häusliche Frage der Zuristen handelt, sondern gerade die Nicht-Zuristen bitte ich vorzugsweise Kenntniß zu nehmen, worauf denn die unermeß­ lichen Schwierigkeiten unserer Prozeß-Gesetzgebung beruhen. Es ist die individuelle, die übertriebene individuelle Geltendmachung jeder partikulären Gewohnheit des juristischen Berufs in den einzelnen Landestheilen, es ist der äußerste Widerstand, den die ver­ schiedenen Gewohnheiten gemeinrechtlicher, preußischer, rheinischer Juristen dem Zusammen­ schmelzen in ein Gesetzeswerk gegenüberstellen. Diese Verhältnisse sind nicht zu über­ winden, wenn Sie nicht der Regierung die Ehre und Verantwortlichkeit der Initiative lassen wollen, wenn sie nicht in engeren Kreisen diese Dinge erst durcharbeiten lassen, wenn Sie den Schwerpunkt der Kodifikation in eine so locker zusammengesetzte Parla­ ments-Kommission legen. Majoritäten kann man wohl in der Kommission schaffen, aber innerlich zusammenarbeiten kann man solche Gesetze in 5 —9 Monaten nicht. Es kommt zu diesen legislatorischen Rücksichten aber auch ein sehr erhebliches politisches Bedenken hinzu. Die Regierung eines großen Landes läßt sich mit einem großen mächtigen Parlament niemals anders führen, als wenn der eine Theil permanent, der andere Theil periodisch arbeitet, so daß wenigstens mit jeder Jahressession tabula rasa gemacht wird, so daß die Gesetzesarbeiten und die Organe des Parlaments glatt abschließen, um für die nächste periodische Zusammenkunft eine neue Gruppirung der Meinungen, der Interessen und völlig neue Arrangements möglich zu machen. Sie finden diesen obersten Grundsatz bei allen Parlamenten großer Nationen, die irgend eine bedeutende Staats-Entwickelung auf der Regierungsseite und auf der Parlamentsseite darbieten. Es ist nicht möglich, unter anderen Bedingungen die Ein­ heit der Staatsgewalt zu gewinnen, die auch mit den Parlamentsmajoritäten erhalten werden muß und erhalten werden kann. Ze größer und mächtiger der Körper ist, und je mannigfaltiger und widersprechender die Interessen sind, die an dieser Stelle zusam­ menstoßen, desto unvermeidliches sind die Widersprüche, die sich von Session zu Session häufen zwischen den Ansichten der zeitigen Volksvertretung und zwischen den Ansichten der zeitigen Regierung. Diese Gegensätze können sich heben, sowie wir jährlich ein bis zwei Mal in der Lage sind, mit freien Händen einander wieder gegenüberzutreten. Da die frühere Kombination an unserer Dissonanz gescheitert ist, so können wir einen zweiten oder dritten Weg wählen, um zu einer Einheit der Entschlüsse zu gelangen. Diese Art der Konkordanz, auf der die Weise der parlamentarischen Regierung beruht, nimmt sofort eine andere Gestalt an, sowie die Staatsregierung es zu thun hat mit gesetzlich anerkannten permanenten Organen einer Volksvertretung. Es ist nicht möglich, unter so veränderten Bedingungen eine geordnete Regierung fortzusetzen; denn die Knoten der Verwickelung schürzen sich, wie wir wissen, nicht blos in jeder Session, sie schürzen sich in jedem Monat, ich möchte sagen, in jeder Woche unter den großartigen

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Gesetzentwürfe.

Verhältnissen einer Reichsregierung. Beruft sich eine Volksvertretung dagegen auf die anerkannte Kontinuität ihrer Beschlüsse, oder was dasselbe ist, auf die Kontinuität ihrer Organe, auf die Kontinuität der Aussprüche einer Elite ihrer Vertrauensmänner: so ist es unmöglich, mit diesen kontinuirlichen Zwischenorganen über den organisirten Zwiespalt in der Reichsverwaltung hinauszukommen. Das ist der praktische Grund, weshalb die amerikanischen, die englischen, die französischen Parlamente, warum die Völker die wir wegen ihrer praktischen Einsicht in staatliche Verhältnisse achten, vor jeder kontinuirlichen Zwischenbilonng sich gescheut haben. Sie kommen mit solchen permanent geschaffenen Körperschaften in die Alternative, entweder eine Regierung lahm zu legen durch einen fortgesetzten Widerspruch, oder, da die Einheit der Staatsregierung unum­ gänglich ist, dahin, daß die Regierung ihrerseits auf die Kontinuität verzichten und das Parlament ersuchen muß, die Verantwortlichkeit der Regierung als regierender Körper selbst zu übernehmen, damit ein einheitlicher Staatswille wieder da sei. Nun sagt uns die Kommission, so ist es nicht gemeint. Ja, m. H., das weiß ich sehr wohl, daß die geehrten Herren der Kommission es nicht so meinen; aber was daraus wird,» hängt nicht von den Beschlüssen der Kommission ab, sondern von der na­ türlichen Entwickelung der Dinge, wie sie überall dieselbe gewesen ist. Die Kommission hat eine sehr löbliche Absicht, sie will eine recht gründliche Berathung der Prozeß-Ord­ nung und vielleicht des Organisations-Gesetzes und vielleicht der Kriminal-Prozeß­ ordnung und vielleicht des Militair-Strafgesetzbuches. Aber wenn man erst damit einmal anfängt, so ist unversehens nach wenigen Jahren daraus etwas Anderes ge­ worden. Die Kommission selbst meldet Ihnen auf Seite 7: „als man in Bayern erst die Zwischen-Kommissionen für die Gesetzbücher hatte, dauerte es nur noch kurze Zeit, dann kam noch die Bildung besonderer Ausschüsse für Gesetz-Entwürfe über das Ge­ meindewesen, Ansässigmachung und Verehelichung, Heimath und Ar­ menpflege, dann über das Gewerbewesen". Es kommt dann eben eins nach dem Andern, denn glücklicherweise sind die Vorlagen des hohen Reichstags von außer­ ordentlicher Wichtigkeit. Jede Majorität wird sich den Beschluß frei erhalten, jede wich­ tige Sache den Weg des Deputationsganges gehen zu lassen. Wenn nicht gleich so akut, wie der Herr Abg. Reichensperger dies ausspricht, wird man doch gegen Ende der Session auf die ständigen Kommissionen kommen. Es ist, wie gesagt, das ein „Rettungsanker", und man greift dann nach den Kommissionen, um gerettet zu werden von der unerträglich werdenden Session. Die Kommission selbst hat dies auch ein­ gesehen: eine äußere Grenze läßt sich nicht ziehen, sie will überhaupt den Beschluß des hohen Reichstages offen lassen, jede Sache in eine Zwischen-Kommission zu we'.sen. — Nun aber, meint die Kommission, eine Schranke lasse sich doch ziehen: man müsse nämlich, um die Gefahren dieser bedenklichen Neuerung zu mildern, die Sache auf diese Legislaturperiode beschränken. Mit dieser Legislaturperiode ist dieses Gesetz erloschen und muß dann von Neuem mit Zustimmung der Bundesregierungen beschlossen werden. Das findet die Kommission unbedenklich, weil ja die Loyalität dieses hohen Hauses jede Garantie gewähre, daß kein Mißbrauch getrieben und daß nichts Tenden­ ziöses daraus werde, es könne ja künftig anders beschlossen werden. Nein, m. H., man kann künftig nicht anders beschließen, sondern es liegt in dem Wesen eines Parla­ mentes, daß im Verlauf der Neuwahlen niemals ein Parlament sich weniger Gewalten beilegen und weniger Vertrauen in sich selbst haben sollte als das vorangexangene. Dieselben Uebelstände, die in dieser Session zur Annahme einer Maßregel trängen, dauern in den folgenden Sessionen unabänderlich fort; ich möchte sagen: es ist ein Ehrenpunkt eines jeden künftigen Parlamentes, sich dieses Vertrauen mindestens selber zu schenken, und die Zustimmung des Bundesraths läßt sich das zweite und dritte Mal noch viel schwerer versagen als das erste Mal. Die Kommission sagt darüber die sehr bemerkenswerthen Worte, Seite 8: „es ist nicht zu erwarten, daß der gegenwärtige Reichstag selbst sich und seinen Mitgliedern gegenüber die Befürchtung eines solchen Mißbrauches hege. Die Nachtheile der Kontinuität, wenn die Fluchen im politischen Leben wieder hochgehen sollten, sind mit dem Vorschläge beseitigt." Zch weiß

Komrnissionsberathung eines Entwurfs von ungewöhnlich großem Umfange,

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nicht, ob der Herr Verfasser dieser Worte es sich klar gemacht hat: aber den Satz schreiben Sie ruhig heute schon in alle künftigen Kommissionsberichte nieder; denn dieser Ansicht ist jede Majorität und jede Kommission zu jeder Zeit und am meisten dann, wenn die Wogen der Bewegung hochgehen. Das ist das große Argument, mit dem man heut zu Tage „öffentliche Meinung" macht, m. H., das ist das Geheimniß: auf diese Fragestellung muß man es bringen, um der Majorität sicher zu sein; denn das Vertrauen aus die eigene Loyalität hat jede deutsche Versammlung. — Also, m. H., mit der Beschränkung auf eine Legislaturperiode ist nichts geholfen. Es ist vielmehr ganz unzweifelhaft: dieselbe Argumentation, mit der sich hier die Sache einschmeichelt, mit dem Kompliment für die Loyalität und die Einsicht der hohen Versammlung — dieses Argument wird unabänderlich wirken, so lange hier eine Versammlung beisammen ist. Und wenn das Haus stark genug ist, diese Neuerung heute durchzubringen, so wird es jedenfalls stark genug sein, sie in jeder künftigen Legislaturperiode fortzusetzen, nachdem der Anspruch darauf durch Präzedenzfälle feststeht. Es ist mir unzweifelhaft, daß, wenn in diesem einen Falle eine ständige Deputation beschlossen wird, der hohe Reichstag damit nicht diese Deputation, sondern das System der Reichsdeputationen ein für allemal beschlossen hat. Nun, m. H., dieser Aenderung gegenüber bitte ich in Erwägung zu ziehen: giebt es einen höheren Gesichtspunkt für das hohe Haus in diesem Augenblicke, als die Anerkennung der Nothwendigkeit, der Negierung, die dort sitzt (auf die Plätze des Bundesräthes deutend), eine Einheit, Festigkeit und Stetigkeit in der bürger­ lichen Verwaltung des Reichs zu geben? M. H., das ist die nationale Aufgabe dieses Parlaments, und ich glaube, die nationale Aufgabe beider Seiten des Hauses. Zch erinnere daran, wir stehen einer Regierung gegenüber, die nur eine Gewalt ganz hat, das ist die Militärgewalt —; alles Andere ist Stückwerk. Sie hat ein Stück von der Gesetzgebung, sie hat ein Stück Exekutive, sie hat ein Stück vom Ministerialsystem, sie hat em Stück von Oberhausbildung in sich. Dieser stückweisen, locker gefügten Regie­ rung gegenüber zu stellen von hier aus ein System ständiger Reichsdeputationen, das sollte uns erinnern an unsere eigene Vergangenheit. Ich glaube, mit den ständigen Körpern, die wir hier noch schaffen, um die unendlich verwickelte, kaum zu leitende Ma­ schinerie an jener Stelle (auf den Bundesrath deutend) in Ordnung zu halten, damit werden wir nicht die Einheit des Reichs, auch nicht die gesetzliche Freiheit fördern, sondern wir werden wieder in die Alternative kommen, entweder Lahmlegung der Regierung oder die Versuchung, einen unregelmäßigen Gebrauch von den unregelmäßi­ gen, mit solchen Schwierigkeiten überhäuften Gewalten zu machen. Gerade dieser Re­ gierung gegenüber sollte das hohe Haus darauf verzichten, neue Gewalten zu über­ nehmen und damit auch Verantwortlichkeiten, die sich über die letzte Stunde auch nur einer Session hinausziehen. Es sollte sich wenigstens die Möglichkeit offen halten, daß in der komplizirten Maschine, in der noch mehr als zwanzig Regierungen unter einen Hut gebracht werden müssen, wenigstens die freie Wahl bleibt, mit jeder Session neue Arrangements, neue Vereinbarungen zwischen Reichstag und Regierungen zu beginnen. Zch möchte darin erinnern, unter den günstigen Umständen, die nie wiederkehren werden, empfirden wir in dieser Session die unermeßliche Schwierigkeit, einheitlich und sicher die Geschäfte des Reiches in dieser Formation zu leiten. Wenn wir heute diese Schwirrigkeit fühlen, so frage ich, was soll aus diesem Reichsparlament mit seinen Reichsoeputationen werden, wenn erst die großen populären Aufgaben gelöst, die großen natiomlen Gesetzgebungen geschaffen sind und nur noch übrig bleibt, der materielle Stoff der Zrteressenvertretung, das Material des Zollparlaments. Aus solchen Parlamenten heraus stärken die ständigen Deputationen das Reich wahrhaftig nicht. Zch glaube, wir sollten gerade bei der Schwierigkeit der jetzigen Lage der Regierung alles vermeiden, wodurh wir der Maschinerie, die dort schon in so komplizirter Weise auf den Stühlen sitzt, wch permanente Deputationen gegenüberstellen, die im Laufe der Zeit durch die Finanxechte des Hauses und durch andere Umstände jedenfalls als neue Räder sich mit denen dort noch durchkreuzen. ReiclStags-Repertorium I.

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Erlauben Sie mir schließlich noch eine persönliche Bemerkung. Als ich vor neun Zähren die Ehre hatte, die politischen Gesichtspunkte der Diskontinuität hier zu vertreten, galt es damals, gegen das preußische Herrenhaus diese Gründe geltend zu machen, von dem damals dieselbe Grundidee ausging, die Kommissionen und die Gesetzesberathungen der früheren Periode zu kontinuiren in die folgende Session. Das preußische Abgeord­ netenhaus hat damals diese Grundsätze gebilligt. M. H., es versteht sich von selbst, daß ein Zurist nicht zweierlei Maß für diese Frage hat. Zch finde es aber sehr be­ greiflich, daß ein Maß vdn Selbstverleugnung dazu gehört, wenn die Frage in umge­ kehrter Gestalt an die Gesammtvertretung des deutschen Volkes herantritt, sich zu sagen: es ist nicht unsere Aufgabe die Schaffung großer Kodifikationen, die noch niemals ein Parlament zu Stande gebracht hat. Aber so schwer ist es, diese Standpunkte zu vertteten, so hege ich die Hoffnung, daß der schwere Ernst der Zeit, die uns darüber auf­ klärt, was ein Parlament kann und was es nicht kann, und zugleich das gehobene pa­ triotische Gefühl in diesem Augenblicke im Stande ist, der Versuchung zu widerstehen, auf diesem Wege neue, dauernd wirksame Organe des Parlaments zu schaffen, die neue Schwierigkeiten bereiten werden, welche wir heute nicht übersehen können, jedenfalls nicht beabsichtigen. Zch bin aber der Ueberzeugung, m. H., daß entscheidend für diese Frage ist, der ersten Versuchung zu widerstehen. (Lebh. Br.!) Abg. Wagen er: M. H., es gereicht uns, wenigstens mir, zur besonderen Be­ friedigung, meinem Herrn Vorredner gegenüber das Element des Juristenstandes ver­ treten zu dürfen, denn mir scheint es, daß, wenn seine Ausführungen richtig wären, wir dann eigentlich keine dringendere Aufgabe hätten, als uns möglichst von allen Ju­ risten, die hier im Parlament sitzen, zu befreien, denn was von Kommissionen gilt, m. H., das scheint mir in noch erhöhtem Maße von dem Plenum zu gelten. (S. rv.!) Wir haben ja immer den Kreisrichter mit einer gewissen Besorgniß beobachtet im Par­ lamente, aber ganz entbehren und abschaffen möchten wir ihn doch nicht, (H.) nur mit Vorsicht gebrauchen. Aber, m. H., mir scheint in der Ausführung des Herrn Vorredners entweder von meiner oder von seiner Seite ein vollkommenes Mißverständniß obzuwalten, entweder hat er die Tendenz des Antrages Lasker nicht vollständig aufgefaßt, oder ich habe seine ganze Ausführung mißverstanden. Zch habe kein Wort davon gehört zur Beleuchtung der Gefahren, die er uns dargestellt hat, daß er irgendwie davon gesprochen hat, daß ja alle diese Beschlüsse des Reichstages vollkommen abhängig sind von der Zustimmung des Bundesraths. Es kann ja in dem Reichstage nach dieser Richtung hin gar kein Beschluß gefaßt werden ohne die Zustimmung des Bundesraths, und mir scheint deshalb, daß wir uns auf diesem Gebiet keiner größeren Gefahr aussetzen wie auf allen anderen, da wir ja, wenn der Bundesrath uns einen Rückhalt gewährt, von welcher Voraussetzung ich meinerseits ausgehe, wir ja diesen Rückhalt in dem vor­ liegenden Fall ebenso vollständig haben wie in jeden anderen. — M. H., ich befinde mich diesem Anträge gegenüber in der eigenthümlichen Lage, daß ich im Einverständniß mit der Grundtendenz doch meinerseits gegen die Vorlage, wie sie aus den Berathungen der Kommission hervorgegangen, mich aussprechen und auch dagegen stimmen muß, und zwar aus den beiden für mich maßgebenden Gründen, weil das jetzige Gesetz für mich eine Zwittergestalt dadurch bekommen hat, daß man es auf eine Legislaturperiode be­ schränken will, und weil ich zweitens das nöthige Korrelat vermisse, was mich veranlassen könnte, diesem Grundgedanken zuzustimmen, nämlich den Ausbau und die entsprechende Ergänzung des Bundesraths. — M H., alle die Gründe, die uns der Herr Vorredner vorgeführt hat, und denen ich mit der schuldigen Aufmerksamkeit gefolgt bin, weil ich ihn als eine entschiedene Autorität in diesen Parlamentsfragen behandle, finb für mich doch keineswegs überzeugend gewesen, obschon ich vielleicht mit ihm darin übereinstimmen würde, daß ich es auch von meinem Standpunkte aus vorziehen möchte, den Uebelstand, den man beseitigen und treffen will, in der Hauptsache dadurch zu beseitigen — wozu wir doch in kürzerer oder längerer Zeit werden gedrängt werden — daß wir nämlich die beschlußfähige Anzahl in diesem Hause in angemessener Weise herabsetzen. (W. l.) Alles Andere, was der Herr Vorredner gesagt hat, möchte ich ihm aus der Ver-

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gcmgenheit unserer Parlamente selbst widerlegen. Zch stehe diesem Anträge in der Weise gegenüber, daß ich ihn ansehe als eine Beseitigung eines Uebelstandes, den ich für viel schlimmer halte, als diese Kommission selbst, nämlich als den Ausdruck, m. H., daß wir an Stelle der freien Kommissionen, die wir bis jetzt gehabt haben, uns ein Organ schaffen, welches die nöthige Vermittelung in den dazu geeigneten Fällen zwischen diesem Reichstage und der Regierung aufrecht erhält. M. H., die politischen Elemente, die uns entgegengehalten sind, die Hinweisung auf den Ernst der Zeit, die Nothwendigkeit, die Aktion der Regierung zu kräftigen und den Bundesrath zu einem energischen, leistungs­ fähigen Körper zu machen, erkennt gewiß Niemand mehr an als ich selbst. Wir haben seit dem Beginn unserer parlamentarischen Thätigkeit nichts anderes erstrebt, als die Stärke und die Leistungsfähigkeit der Regierungen festzuhalten, selbst auf die Gefahr hin, darüber als Freiheitsfeinde und als Reaktionäre verschrieen zu werden, zu einer Zeit, m. H., wo diese Dinge noch nicht so populär waren, wie sie jetzt geworden sind, und wo man namentlich nicht vor sich hatte dm Erfolg, mit dem jetzt Mancher ab­ rechnet, und mit dem er — ich will nicht sagen, — die Vergangenheit vergessen will, sondern vielleicht vergessen hat. M. H., es ist das nicht immer so gewesen, wir haben nicht immer von jener Seite Aufforderungen zur Stärkung des Gouvernements erhalten: um so erfreulicher sind sie uns heute, um so lieber acceptiren wir sie, und, m. H., ich hoffe, wir werden bald Gelegenheit haben zu sehen, ob und wie weit man auf dieser Unterlage mit diesen guten Vorsätzen Ernst zu machen versteht. (Bew.) M. H., ich weiß nicht, ob Sie die kleine Anekdote kennen, die man von dem verstorbenen Zahn erzählt: Als er — Sie werden sich wohl entsinnen — wegen eines kleinen Vergehens nach der Festung gebracht wurde, da sagte er zu dem Bürgermeister: „es ist doch eigentlich sehr hart, daß ich hier auf 6 Monate herkomme, ich habe doch auch früher manchen guten Dienst geleistet", und darauf erwiderte ihm der Bürgermeister: „da haben Sie sehr recht, wenn ich der König gewesen wäre, ich hätte Sie auf 6 Monate zum Bürgermeister gemacht, dann wären Sie von allen Ihren Schrullen kurirt". — M. H., diese kleine Anekdote zur Bestätigung dessen, was ich Ihnen angedeutet habe, was wir eben wünschen — ich weiß nicht, wie weit ich hier im Sinne meiner Freunde spreche, aber ich halte mich für verpflichtet, meine eigene Ueberzeugung unumwunden darzulegen. — Das ist der Grund, weshalb ich danach strebe, daß ich dem Parlamente das Gefühl der Verantwortlichkeit je länger desto mehr beibringen will dafür, was es spricht, was es beschließt und was es thut; denn, m. H., das ist — und damit lassen Sie mich meine Ausführungen schließen — das Entscheidende, und deshalb bin ich meinerseits ein entschiedener Gegner des Spiels mit dem Konstitutionalismus, es ist das Ent­ scheidende, daß in dem Parlamente das Bewußtsein wächst, daß seine Beschlüsse etwas zu bedeuten haben und daß es auch dafür verantwortlich ist. Abg. Lasker: M. H., von den meisten Rednern, die über den Antrag gesprochen haben, ist zugestanden worden, daß ein Nothstand vorhanden sei, dem irgendwie ab­ geholfen werden müsse. Der erheblichste Gegner, der sich heute an die Stelle des Herrn Abg. Windthorst gestellt hat, war der Herr Abg. Gneist, und ich gestehe, wenn ich gar keine Erfahrung zur Seite gehabt hätte, sondern lediglich durch den theoretischen Vor­ trag belehrt würde, so würde ich durch einen Theil dieser Rede vielleicht mich haben bestimmen lassen, die Sache mir noch einmal näher zu überlegen, ehe ich für meinen Antrag um Ihre Zustimmung bäte. Aber die bereits gemachten Erfahrungen wider­ legen in allen Punkten die Behauptungen des Herrn Abg. Gneist, und es trifft wieder zu, daß man in einer rein theoretischen Diskussion Recht behalten kann, während im Leben das Gegentheil sich als richtig bewährt. Ich frage den Herrn Abg. Gneist, wann ist aus Kommissionen des Hauses ein vollständiger Gegenentwurf zu den Vorschlägen der Regierung hervorgegangen? So langeich die parlamentarischen Arbeiten kontrolire, ist dies nicht der Fall gewesen; wir haben, beispielsweise im preußischen Landtage das sehr schwere Gesetz über den Erwerb von Grundeigenthum berathen und es vielfach in der Kommission amendirt, und die meisten Mitglieder'der Kommission waren sodann Kommissarien für das Zustandekommen dieses Gesetzentwurfs, und das Plenum hat in ver36*

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hältnißmäßig kurzer Zeit die sehr schwierige Materie erledigt. Ganz dieselben Erfahrungen haben wir bei der Subhastationsordnung gemacht und bei Gesetzen anderer Art. .Der Herr Abg. Gneist hat in Bezug auf das deutsche Strafgesetzbuch zwei Gründe argefführt, weshalb dessen Behandlung geglückt sei; den einen habe ich für einen Scherz zeh-alten, und den andern für ernst gemeint. Der erste Grund ist, daß der norddeutsche Äeicchstag

sich bei dem Strafgesetzbuche enthalten habe, nicht Tausende, sondern Hunderte vom Ab­ änderungsanträgen zu stellen. Nun, m. H., Tausende von Abänderungsanträgem sind überhaupt erfahrungsmäßig noch niemals eingebracht, und es gehört diese Uebertreibung zu den verschönernden Ausdrucksweisen; aber der Reichstag ist gar nicht sparsann ge­ wesen mit seinen Anträgen zum Strafgesetzbuch, sondern er hat oft auch in Dringen, die man nicht zu den höchsten Prinzipien rechnet, wohlthätige Aenderungen angekracht. Als zweiten Grund des Gelingens hat der Abg. Gneist angeführt, es sei die Grumdlage zum Strafgesetzbuch bereits gegeben gewesen in dem guten preußischen Strafgesetzbuchs. Dieses gute preußische Strafgesetzbuch ist in seiner ersten Grundlage zu Stande gekommen durch die Berathung mit einer ständischen Kommission, die vom vereinigten Larndtag gewählt war und nach dessen Auseinandergehen zusammengeblieben war; eine solche Zwischenkommission hat die Grundlage desjenigen Strafgesetzbuches gegeben, nvelches später in Preußen Recht geworden ist, und welches noch heute dem unsrigen zu Wrunde liegt. Unter den vielfachen Erfahrungen sprechen auch diese für meinen Antrag. Durch die Zwischenkommission des vereinigten Landtages ist das monarchische Prinzip nicht erschüttert worden, dagegen haben wir die Grundlage für ein gutes Strafgesetzbuch erhalten. — Mir scheint, der Herr Abg. Gneist hat auch diesmal wiederum mit .seinem scharfen Blick in die Geschichte das Ganze gesehen und die Einzelheiten übersehem. Er empfindet in den von mir vorgeschlagenen Kommissionen bereits die Vorahnumg von Reichsdeputationen, und wenn wir erst auf das Kapitel von Reichsdeputationen koimmen, dann bin ich mit ihm einer Meinung. Aber es handelt sich nicht um eine ständige Einrichtung, sondern blos darum, daß zu geeigneter Zeit eine Kommission aid hoc ernannt werde, das heißt zur Berathung eines einzelnen Gesetzes. Darin kaum man doch unmöglich eine Institution sehen, welche die Regierungen schwächt; wenin wir so schwache Regierungen hätten, dann wäre es schon jetzt zu Ende mit dem Zusammen­ wirken zwischen Regierung und Volksvertretung. Man sollte wirklich meinen, das Par­ lament des deutschen Reichs sei bereits so allmächtig, daß die tüchtigsten Mitglieder des Reichstags für nichts mehr zu sorgen hätten, als wie diese Macht des Parlaments ein­ zuzäunen sei. Angesichts der Vorgänge, die wir in vergangener Woche erlebt haben und die wir an einer andern Stelle fortgesetzt finden, dürfen Sie sich dieser Besorgniß entschlagen; in sehr untergeordneten Dingen erlaubt man sich eine Sprache gegen das Parlament, die man sich gegen keine irgendwie mächtige Körperschaft erlauben kann. (H.! H.!) Nach dem Wiederhall von außen scheint man in jenen hemmenden Kreisen zu glauben, daß die Regierungen den Reichstag für ein bloßes Spielwerk halten. Ich hoffe, daß diese Auffassung nicht aus der maßgebenden Quelle entspringt, aber daß geistreiche Mitglieder dieses Hauses den Reichstag warnen, er möge nicht noch mehr Macht an sich reißen, widerspricht den Tagesereignissen. — Der Herr Abg. Gneist hat Gegenvorschläge nicht gemacht; ich weiß von anderer Stelle, daß er im Innern seines Herzens eigentlich den Staatsrath meint; da er für ihn aber heute nicht plaidirt hat, kann ich dies Motiv ihm gegenüber nicht angreifen, weil unausgesprochene Motive nicht angegriffen werden sollen. Aber hat denn der Abg. Gneist sich nicht überlegt — ich glaube, er hat es sich überlegt, denn er pflegt nichts unüberlegt zu sprechen —, daß jeder Einwand, den er gegen die Kommission gemacht hat, in verschärftem Grade gegen das Plenum und gegen den Parlamentarismus überhaupt gelten würde? Nach seiner Darstellung wäre der Parlamentarismus überhaupt nicht fähig, bei großen Gesetzen mitzuwirken. Der Herr Abg. Gneist hat wiederholt davon gesprochen, die Initiative müsse bei den Regierungen bleiben; wenn man unter Initiative versteht Vorbereitung, Entwurf und Abschluß des Gesetzes, dann war der Ausdruck Initiative richtig gebraucht; aber in der That heißt dies nicht Initiative, sondern man nennt das Absolutismus,

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das heßt, die Regierung muß für eine bestimmte Gattung von Gesetzen absolut sein. Der H:rr Abg. Gneist will gewiß eine Anzahl von Gesetzen zu wirklicher Theilnahme dem Pcrlamenten überlassen, aber große Gesetze können nicht mit einer so unfähigen Körpoershaft, wie er sie geschildert hat, zu Stande gebracht werden. Nun sage ich, m. §)., in allen solchen Dingen sollen die Gesetze aussprechen, was das Leben verlangt. Wemn der Herr Abg. Gneist eine Anzahl von Gesetzen auszuscheiden weiß, die nicht fähig; snd, durch parlamentarische Vorberathung zu Stande kommen, so müssen wir diese aulssccheden und anordnen, daß bei bestimmten Gesetzen das Haus das Recht habe, ent­ weder zuzustimmen oder zu verwerfen, aber nicht zu amendiren. So lange Sie aber dein Hmse das Amendirungsrecht lassen, werden Sie darüber nachdenken müssen, wie dieses Amendirungsrecht in der besten Form ausgeübt werden könne; und daß dies in der Konmission minder soll stattfinden können als im Plenum, widerspricht schon in soferm i>ern eigenen Jdeengange des Herrn Abg. Gneist, als nach seiner Ansicht gewiß das Uebel der Mitberathung weniger Mitglieder minder gefährlich ist, als das Mitberatcher vieler Mitglieder, die er für gleich wenig befähigt hält. 2bg. Dr. Gneist: M. H., ich bin unter Anderm ausdrücklich gefragt worden, ob mir dein unbekannt sei, in wie tüchtiger Weise der norddeutsche Reichstag gearbeitet habe.. Zch bin offenbar von dem Herrn Vorredner mißverstanden worden; ich rathe eben,, bü der dort erprobten Weise stehen zu bleiben, sich zu begnügen mit Kommissionen der Se'sion, die sich wirksam erwiesen haben. Der Herr Redner eben hätte zu beweisem, daß Zwischenkommissionen von 6 bis 9 Monaten brauchbarer sind. Der Herr Redner widerlegt mich sodann als Vertreter des Absolutismus. Zch habe aus­ drücklich gesagt, für Kodifikationen des Gesammtrechts beanspruche ich eine Initiative der Regierung, und eine Kontrole, Amendirung eventuell Verwerfung des Hauses. Zch habe auch kein Wort vom Staatsrath gesagt. Der Herr Redner hat, statt mich zu widerlegen, sich bestimmte Positionen gesetzt, die er widerlegt hat. Zch bitte den Herrn Vorredner, meine Argumente zu lesen und mich zu widerlegen, aber nicht die von ihm gesetzten Figuren zu widerlegen. Berichterstatter Abg. Dr. Schwarze: M. H., nach den Ausführungen des Herrn Antragstellers in Verbindung mit demjenigen, was zum Theil auch der Abg. Wagner Ihnen vorgetragen hat, glaube ich mich kurz fassen zu dürfen. M. H., nur zunächst gegen meinen sehr verehrten Freund, den Abg. Gneist, gestatten Sie mir die Bemerkung, daß dasjenige, was er uns aus dem preußischen Abgeordnetenhause bezüglich einer Differenz, die damals stattgefunden, erzählt hat, auf den vorliegenden Fall nach meiner Ansicht gar nicht paßt. Damals handelte es sich darum — ich habe den Bericht des Herrn Abg. Gneist selbst verglichen — ob der in einer Sitzung des Abgeordnetenhauses gefaßte Beschluß über einen Gesetzentwurf auch dann maßgebend bleiben solle, wenn die Sitzung des Abgeordnetenhauses geschlossen, ehe der Entwurf im Herrenhause vorgetragen und zum Abschlüsse gebracht worden sei. Es ist damals allerdings, namentlich in der Kom­ mission des Herrenhauses, darauf hingewiesen worden, daß es sehr bedenklich sein würde, einen in der einen Sitzung des Hauses gefaßten Beschluß für bindend für das Haus zu erklären, wenn es seine Thätigkeit geschlossen habe und nach einiger Zeit zu neuer Thätigkeit zusamnlentrete. Es ist geltend gemacht worden, daß die gesetzgebende Gewalt nur gleichzeitig in den beiden Häusern sich äußern könne, und daß die gesetzgebende Gewalt vollständig ruhen müsse in der Zwischenzeit zwischen einer Sitzung und der andern. Keineswegs ist aber natürlicher Weise, wie mir scheint, das anwendbar auf den hier vorliegenden Vorschlag. Die Kommission, m. H., faßt ja gar keine bindenden Beschlüsse; in der Zwischenzeit hat die Kommission ja nur die Aufgabe, den Gegenstand vorzuberathen, das Material zu sammeln und dem Hause gesichtet in dem Bericht vor­ zulegen. Von einem bindenden Beschluß ist also in keiner Weise die Rede. Zch beuge mich sehr gern vor der staatsrechtlichen Autorität meines Freundes Gneist, aber gestatten Sie mir hier wenigstens einschaltungsweise zu bemerken, daß ich im Laufe dieser Tage mit einer ebenfalls staatsrechtlichen, anerkannten Autorität Deutschlands, mit einem im parlamentarischen Leben sehr erfahrenen Manne gesprochen und ihm unseren Vorschlag

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Gesetzentwürfe.

mitgetheilt habe, sowie auch die Einwendungen, die gerade von dem Prinzip der Dis­ kontinuität aus gegen den Vorschlag gemacht worden sind, und von ihm die Antwort erhallen habe, daß er in dem Vorschläge der Zwischenkommissionen eine Verletzung des Prinzips der Diskontinuität nicht finde, sondern daß er vielmehr in dem Vor­ schläge der Zwischenkommission das einzige geeignete Mittel erkenne, um namentlich in großen parlamentarischen Körperschaften einen größeren Gesetzentwurf in befriedigender Weise berathen und zum Abschluß bringen zu können. — M. H, es handelt sich ferner nicht um ein System ständiger Kommissionen, auf welches fortdauernd hier der Herr Abg. Gneist exemplifizirt und deduzirt hat. Es wird ja in jedem einzelnen Falle dem Bundesrathe, sowie dem Reichstage die volle Freiheit seiner Entschließung gesichert, ob er den vorliegenden Entwurf an eine Kommission verwiesen sehen will oder nicht. Es ist ferner ausdrücklich in dem Anträge des Abg. Lasker hervorgehoben worden, daß dieser Beschluß erst gefaßt werden soll nach dem Abschlüsse der ersten Berathung, mithin zu einer Zeit, wo der Entwurf bereits dem Hause völlig bekannt ist, die Prinzipien des Entwurfs durchgesprochen sind und möglicherweise auch eine Klarheit über die Stellung des Hauses zu diesen Prinzipien erlangt worden ist. — Alle die Gespenster, die uns der Herr Abg. Gneist in so beredter Weise vorgeführt hat, scheinen mir zu zerstieben und zu zerfließen vor der Leuchte der Bestimmung, daß jede Niedersetzung einer solchen Kommission die Zustimmung des Bundesraths erfordert, und ich habe in der That in der ganzen Deduktion des Abg. Gneist nicht ein Wort dafür gehört, wie es möglich sei, zu glauben, daß die Regierung irgendwie in ihrer Festigkeit, Einheit und Stetigkeit durch einen solchen Vorschlag, wie er hier vorliegt, geschädigt werden könne. M. H., über die Nothwendigkeit einer Abhülfe der gegenwärtig bestehenden Einrichtungen herrscht, wie mir scheint, volles Einverständnis wir sind nur zweifelhaft über den Weg der Abhülfe, und da ist bis setzt kein einziger Vorschlag gemacht worden, der rascher und leichter ins Leben eingeführt werden könnte, als der Laskersche Antrag. Denn alle die andern Institutionen, auf welche direkt oder indirekt hingewiesen worden ist, erfordern, glaube ich, eine viel größere Vorbereitung zu ihrer Einführung, als der Laskersche Vor­ schlag. Der Herr Abg. Gneist hat insbesondere geltend gemacht, die Kommission werde die Arbeiten nicht fördern, sondern erschweren, und er hat uns dabei in sehr drastischer Weise die Individualität der einzelnen Kommissionsmitglieder vorgeführt, wie sie, von falschem Ehrgeiz oder falschem Berufseifer getrieben, nur daran denken würden, neue Gedanken vorzubringen, neue Systeme vorzuschlagen, Abänderungen zu machen, zu zeigen, daß sie ihre Intelligenz verwerthen, daß sie ihre praktischen Erfahrungen an den Mann bringen wollen und jeder gewissermaßen zeigen wolle: ich bin erst der richtige Mann in der Kommission gewesen, denn ich habe erst die Wahrheit gefunden und zur Geltung gebracht. — Ja, m. H., daraus muß ich dem Herrn Abg. Gneist antworten, daß nach meinen Erfahrungen gerade diese Bedenken, welche der Herr Abg. Gneist vorgebracht hat, in solchen Zwischenkommissionen bedeutend abgeschwächt werden. Glaubt denn der Herr Abg. Gneist, daß, wenn wir heute keine Zwischenkommissionen für solche Gesetze nieder­ setzen, nun alles dasjenige, was er von den Mitgliedern der Zwischenkommission fürchtet, für das Plenum erspart werde? Umgekehrt, m. H.; setzen Sie für solche Gesetze nicht Zwischenkommissionen ein, dann wird die ganze Fluth der Amendements, hervorgegangen vielleicht aus übertriebenem Berufseifer, ins Plenum gebracht und dann erst die Verwirrung herbeigeführt werden, wie wir sie leider ja noch kürzlich bei dem Hastgesetz gesehen haben. Der Herr Abg. Gneist stellt sich die Sache so vor, als ob die einzelnen Mitglieder der Kommission durchaus keine Selbstverleugnung besäßen; sie wollten um jeden Preis Neues schaffen, um jeden Preis gewissermaßen Opposition gegen den Ent­ wurf machen, der uns vorgelegt ist, um sagen zu können: wir sind die eigentlich gescheidten Leute gewesen. M. H., glauben Sie denn, daß das Plenum die Selbstver­ leugnung haben wird, daß es sich unbedingt dem Entwurf, den die Regierung vor­ gelegt hat, submittiren werde? Gewiß nicht. Ich denke, die Erfahrungen, die wir gerade bei dem Gesetz über die Haftpflicht der Eisenbahnen gehabt haben, hätten uns eine gute Lehre dafür gegeben, daß manche Amendements nicht gestellt, manche Reden

Kommissionsberathung eines Entwurfs von ungewöhnlich großem Umfange.

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nicht gehalten worden wären, daß vielleicht, m. H., Manches besser geworden sein würde, wenn ein schriftlicher Kommissionsbericht vorgelegen hätte, in welchem alle diese Fragen, wie es in der freien Kommission geschehen ist, diskutirt und das Material den einzelnen Mitgliedern des Hauses vorgelegt worden wäre. Denn dann würde manches Mitglied gefunden haben, daß die Fragen, die ihn beschäftigten, in der Kommission bereüs Gegenstand der Erörterung gewesen sind, daß diese oder jene Gründe für oder wider die Meinung sprechen, und er würde Beruhigung über seine Bedenken in dem Bericht gefunden haben. Aber wenn Sie den einzelnen Mitgliedern der Kommission nicht zutrauen, daß sie während der Berathung Selbstverleugnung haben werden, daß sie richt nutzlose Amendements bringen werden, dann glaube ich, werden die Mitglieder im Plenum diese Selbstverleugnung noch weniger haben, weil ihnen kein Material vorgeleot wird, das sie bestimmt, Selbstverleugnung zu üben und sich der Kommission zu unterwerfen, welche nach Einvernehmen mit der Negierung diesen oder jenen Antrag angenommen oder abgelehnt hat. — M. H., ich will auf dasjenige, was der Herr Abg. Gneist in Bezug auf Sachsen gesagt hat, nicht eingehen, auch nicht auf die sogenannte Prcftonderanz der Regierung; ich kann ihm, wenigstens meines Orts, versichern: ich habe wiederholt die Ehre gehabt, als Regierungskommissar an solchen Kommissions­ arbeiten theilzunehmen; ich Habemir weder eine Präponderanz zugetraut noch geltend zu machen gesucht, und ich glaube das auch von meinen Kollegen als Regierungskommissare versihern zu können. Aber wenn der Herr Abg. Gneist einmal auf Sachsen hingewiesen hat, so erlaube ich mir ihm doch aus meiner Erfahrung etwas anzuführen. Zch kann versihern, daß ich an die Berathungen der Zwischenkommissionen, die in Sachsen niedergesetzt worden waren, mit der größten Befriedigung zurückdenke, und wenn wiederholt hier der sächsischen Gesetzgebung, namentlich dem Strafrecht und Straf-Prozeßordnung ein Lob ertheilt ist, so trage ich kein Bedenken hier auszusprechen, daß dieses Lob zum Theil den Mitgliedern der Kommission, ihrer Hingabe, ihrer Arbeitslust und Arbeitskraft zu danken ist, während ich überzeugt bin, ohne dem Landtage selbst zu nahe zu treten, daß bei einer speziellen Durchberathung in den beiden Kammern ohne solche tiefe vor­ ausgehende Vorberathung in einer Kommission die Arbeiten nicht das Lob verdienen würden, das ihnen jetzt von allen Seiten gespendet wird. — Zum Schluß noch eine einzige Bemerkung. Der Herr Abg. Gneist hat auf die bayerische Gesetzgebung sich bezoger. Gerade der Vorgang mit dem bayerischen Gesetze beweist, wie mir scheint, die Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit der Maßregel. In dem ersten Gesetze Bayerns, welches in dem Bericht allegirt ist, war eine bestimmte Gruppe von Gesetzen bezeichnet, und die günstigen Erfahrungen, die man nach den Vorberathungen dieser Gesetze in den bayerischm Zwischenkommissionen gemacht hatte, bewogen die Regierung eine neue Gruppe von Gesetzen namhaft zu machen, die sogenannten Sozialgesetze, und bezüglich dieser nunnehr dieselbe Maßregel eintreten zu lassen, die man mit günstigem Erfolg bei der frührren Gesetzesgruppe angewendet hatte. Zch empfehle Ihnen die Annahme des Kom­ missionsvorschlages. § 1 wird in allen drei Fassungen ab gelehnt und damit hat die zweite Berathrng ihre Erledigung gefunden, ebenso auch die dritte Berathung.

Nr. 20.

Gesetzentwurf, detnffend die penflonirung und Versorgung der IHUitalrptrsontn des NrichshrrreS und der Kaiserlichen Marine- sowie die vnterstnhung der Hinterbliebenen solcher Personen. Wir Wilhelm 2c.

§ 1. Für die Pensionirung und Versorgung der Militairpersonen des Reichsheeres und der kaiserlichen Marine, sowie ffir die Unterstützung der Hinterbliebenen solcher Personen gelten die rachfolgenden Vorschriften.

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Gesetzentwürfe.

Erster Theil.

Offiziere und im Gffizierrange stehende Mttitairarzte. A.

Im Reichsheere.

Anspruch auf Pension. § 2. Jeder Offizier und im Ofsizierrang stehende Militairarzt, welcher sein Gehalt aus dem Militair-Etat bezieht, erhält eine lebenslängliche Pension, wenn er nach einer Dienstzeit von wenigstens zehn Jahren zur Fortsetzung des aktiven Militairdienstes unfähig geworden ist und deshalb verabschiedet wird.

Ist die Dienstunfähigkeit die Folge einer bei Ausübung des Dienstes ohne eigene Ver­ schuldung erlittenen Verwundung oder sonstigen Beschädigung, so tritt die Pensionsberechtigung auch bei kürzerer als zehnjähriger Dienstzeit ein. § 3. Als Dienstbeschädigungen (§ 2) gelten: a. die bei Ausübung des Dienstes unmittelbar eingetretenen äußeren Verletzungen, b. anderweite nachweisbar durch die Eigenthümlichkeit des Militairdienstes hervorgerufene bleibende Störungen der Gesundheit, wenn durch sie — a. und b. — die Militairdienstfähigkeit sowohl für den Dienst im Felde, als auch in der Garnison aufgehoben wird. Die Entscheidung, ob auf Grund einer Dienstbeschädigung eine Pension in Anspruch ge­ nommen werden könne, erfolgt für die einzelnen Personen mit Ausschluß des Rechtsweges durch die oberste Militair-Verwaltungsbehörde des Kontingents. § 4. Der Anspruch auf Pension ist bei einer kürzeren als zehnjährigen Dienstzeit (§ 2) zuvörderst auf ein Jahr oder einige Jahre zu beschränken, insofern die Unfähigkeit zur Fortsetzung des aktiven Militairdienstes nicht mit Sicherheit als eine bleibende angesehen werden kann. Mit der Wiederherstellung zur völligen Dienstfähigkeit erlischt die Berechtigung zur Pension. Beruht die Ursache der Invalidität jedoch in einer vor dem Feinde erlittenen Verwundung oder äußerlichen Beschädigung, so findet die Gewährung der Pension stets auf Lebenszeit statt. § 5. Wird außer dem in § 2 bezeichneten Falle ein Offizier oder im Offizierrange stehender Militairarzt vor Vollendung des zehnten Dienstjahres dienstunfähig und deshalb verabschiedet oder zur Disposition gestellt, so kann demselben eine Pension entweder auf bestimmte Zeit oder lebens­ länglich bewilligt werden. § 6. Die Höhe der Pension wird bemessen nach der Dienstzeit und dem DurchschnittsEinkommen der innerhalb des Etats bekleideten Charge. Die Beförderung über den Etat, die bloße Charakter-Erhöhung während des Dienstes oder beim Ausscheiden aus demselben, sowie die vorübergehende Verwendung in einer höher dotirten Stelle gewähren keinen höheren Pensionsanspruch. § 7. Wird ein Offizier oder ein im Offizierrange stehender Militairarzt in einem militärischen Dienstverhältniß mit geringerem Diensteinkommen, als er bisher etatsmäßig bezogen hat, ver­ wendet, so wird bei seinem späteren Eintritt in den Ruhestand die Pension dennoch nach dem vorher bezogenen höheren Diensteinkommen unter Berücksichtigung der gesammten Dienstzeit berechnet. § 8. Die Offiziere und im Offizierrange stehenden Militairärzte des Beurlaubtenstandes erwerben den Anspruch auf eine Pension nicht auf Grund der Dienstzeit, sondern lediglich durch eine im Militairdienst erlittene Verwundung oder Beschädigung (§§ 2 und 3).

Betrag der Pension. § 9. Die Pension beträgt, wenn die Verabschiedung nach vollendetem zehnten, jedoch vor vollendetem elften Dienstjahre eintritt, 15/60 und steigt von da ab mit jedem weiter zurückgelegten Dienstjahre um Veo des pensionsfähigen Diensteinkommens. Ueber den Betrag von "/so dieses Einkommens hinaus findet eine Steigerung der Pension nicht statt. In dem im § 2 erwähnten Falle der Invalidität durch Beschädigung bei kürzerer als zehn­ jähriger Dienstzeit beträgt die Pension 15/60 des pensionsfähigen Diensteinkommens; in dem Falle des § 5 höchstens "/60 desselben. § 10. Als pensionsfähiges Diensteinkommen (§ 9) wird in Anrechnung gebracht:

Pensionirung unb Versorgung der Militairpersonen des Reichsheeres re. a) das lich b) der c) für

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chargenmäßige Gehalt nach den Sätzen für Infanterie-Offiziere oder, wo das wirk­ bezogene etatsmäßige Gehalt niedriger ist, dieses letztere; mittlere Stellen- beziehungsweise Chargen- (Personal-) Servis; die Offiziere vom Brigade-Kommandeur einschließlich aufwärts die im Etat ausge­

worfenen Dienstzulagen; d) für die Offiziere vom Regiments-Kommandeur einschließlich abwärts der Werth der Be­ dienung durch einen dienstfreien Burschen; e) für die Premier- und Sekonde - Lieutenants der etatsmäßige Werth ihrer Berechtigung zur Theilnahme an dem gemeinschaftlichen Offiziertische; f) für die unter e. aufgeführten Chargen, sowie für die Hauptleute dritter Klasse der Werth ihrer Berechtigung zur Aufnahme in das Lazareth gegen eine billige Durchschnitts­ vergütung. § 11. In Fällen, wo das pensionsfähige Diensteinkommen insgesammt mehr als 4000 Thaler beträgt, wird von dem überschießenden Betrage nur die Hälfte in Anrechnung gebracht. Ansprüche auf Pensionserhöhung und Betrag derselben. § 12. Jeder Offizier oder im Offizierrange stehende Militairarzt, welcher nachweislich durch den Krieg invalide und zur Fortsetzung des aktiven Militairdienstes unfähig geworden ist, erhält eine Erhöhung der Pension: a) wenn die letztere 900 Thlr. jährlich und mehr beträgt, um 100 Thlr. jährlich; b) wenn dieselbe 800 Thlr. und weniger beträgt, um 200 Thlr. jährlich; c) wenn die Pension zwischen 800 und 900 Thlr. beträgt, auf 1000 Thlr. jährlich. § 13. Jeder Offizier oder im Offizierrange stehende Militairarzt, welcher nachweislich durch den aktiven Militairdienst, sei es im Krieg oder irn Frieden, verstümmelt, erblindet oder in der nachstehend angegebenen Weise schwer und unheilbar beschädigt worden ist, erhält neben der Pension und eintretenden Falls neben der nach § 12 bestimmten Pensionserhöhung eine fernere Erhöhung der Pension um je 200 Thlr. jährlich: a) bei dem Verluste einer Hand, eines Fußes, eines Auges bei nicht völliger Gebrauchs­ fähigkeit des anderen Auges. Die Erblindung eines Auges wird dem Verluste desselben gleichgeachtet. b) bei dem Verlust der Sprache; c) bei Störung der aktiven Vewegungsfähigkeit einer Hand oder eines Armes, sowie eines Fußes in dem Grade, daß sie dem Verluste des Gliedes gleich zu erachten ist. Die Bewilligung dieser Erhöhung ist ferner zulässig: d) bei nachgewiesener außerordentlicher Pflegebedürftigkeit, die in wichtigen, noch schlimmer als der Verlust eines Gliedes sich äußernden Funktionsstörungen ihren Grund hat. Die unter a. bis d. aufgeführten Pensionserhöhungen dürfen zusammen den Betrag von 400 Thlrn. nur in dem Falle übersteigen, wenn die Invalidität durch Verwundung oder äußerliche Beschädigung herbeigeführt ist. Die für Erblindung eines oder beider Augen ausgesetzten Pensionserhöhungen von beziehungs­ weise 200 Thlrn. und 400 Thlrn. jährlich werden jedoch von der vorstehenden Einschränkung nicht betroffen. Ist die Gebrauchsfähigkeit der unter c. bezeichneten Gliedmaßen oder die unter d. erwähnte Pflegebedürftigkeit als vorübergehend anzusehen; so wird die Pensionserhöhung nur auf die vor­

aussichtliche Dauer des Schwächezustandes angewiesen. § 14. Offiziere und im Offizierrange stehende Militair-Aerzte, welche als Invalide aus dem aktiven Dienste mit Pension ausgeschieden sind, erlangen, wenn sie zum Militairdienst wieder heran­ gezogen werden, Ansprüche auf die im § 12 bestimmte Pensions-Erhöhung nur dann, wenn durch eine im Kriege erlittene Verwundung oder äußerliche Beschädigung eine bleibende Störung ihrer Gesundheit herbeigeführt worden ist.

§ 15. Die in den §§ 12 und 13 aufgeführten Pensions-Erhöhungen werden auch bewilligt, wenn der Betrag der Pension mit den Erhöhungen den Betrag des pensionsfähigen Dienst-Ein­ kommens erreicht oder übersteigt. § 16. Die Bewilligung der Pensions-Erhöhungen auf Grund einer im Kriege erlittenen Verwundung oder Dienstbeschädigung ist nur zulässig, wenn die Pensionirung vor Ablauf von fünf Jahren nach dem Friedensschlüsse eintritt.

562

Gesetzentwürfe.

3m Falle einer im Friedensdienst entstandenen Invalidität wird die Pensionserhöhung ge­ währt, wenn die Pensionirung innerhalb fünf Jahren nach der erlittenen Beschädigung erfolgt. § 17. Die Entscheidung darüber, ob ein Offizier oder im Offizierrange stehender Militairarzt im Sinne dieses Gesetzes den Krieg mitgemacht, beziehungsweise durch den Krieg invalide und zur Fortsetzung des Dienstes unfähig geworden ist (§ 12), erfolgt mit Ausschluß des Rechtsweges durch die oberste Militairverwaltungsbehörde des Kontingents. Berechnung der Dienstzeit. § 18. Die Dienstzeit wird vom Tage des Eintritts in den Dienst bis zu dem Tage ein­ schließlich, an welchem die Ordre der Verabschiedung oder Dispositionsstellung ergangen ist, gerechnet.

Den Offizieren und im Offizierrange stehenden Militairärzten des Beurlaubtenstandes wird nur diejenige Zeit als Dienstzeit gerechnet, in welcher sie aktiven Militairdienst geleistet haben.

Die Theilnahme an Kontrolversammlungen bleibt außer Ansatz. § 19. Bei Berechnung der Dienstzeit kommt auch die Zeit in Anrechnung, während welcher ein Offizier oder im Osfizierrange stehender Militairarzt a) im Militärdienste eines Bundesstaates oder der Regierung eines zu einem Bundesstaate gehörenden Gebietes sich befunden, oder b) mit Gehalt zur Disposition gestanden hat. 8 20. Die im Civildienst des Reiches oder eines Bundesstaates zugebrachte Zeit wird mit zur Anrechnung gebracht. Bei den Personen des Beurlaubtenstandes kann eine solche Anrechnung nicht erfolgen, wenn dieselben bei ihrer auf Grund des gegenwärtigen Gesetzes erfolgten Pensionirung sich noch im aktiven Civildienst befindend Ob dre Zeit, während welcher ein Offizier oder im Offizierrange stehender Militairarzt im Gemeinde-, Kirchen- oder Schuldienste oder im Dienste einer landesherrlichen Haus- oder Hofververwaltung gestanden hat, mit zur Anrechnung gelangen kann, entscheidet die oberste MlitairVerwaltungsbehörde des Kontingents. Eine doppelte Anrechnung desselben Zeitraums ist unstatthaft. 8 21. Die Zeit, während welcher ein mit den Pensionsansprüchen des gegenwärtigen Ge­ setzes aus dem aktiven Dienst geschiedener Offizier oder im Offizierrange stehender Militairarzt zu demselben wieder herangezogen worden ist und in einer etatsmäßigen Stellung Verwendung findet, begründet mit jedem weiter erfüllten Dienstjahre den Anspruch auf Erhöhung der bisher bezogenen Pension um Veo des derselben zum Grunde liegenden pensionsfähigen Diensteinkonnnens. Dagegen erlangen diejenigen Offiziere und im Osfizierrange stehenden Militairärzte, welche nach anderen Gesetzen oder Reglements pensionirt sind, wenn sie in der vorbezeichneten Wäse zum Dienst wieder herangezogen werden, eine höhere Pension auf Grund fortgesetzter Dienstzeit nur nach Maßgabe der betreffenden Gesetze, Reglements und Bestimmungen. 8 22. Die Dienstzeit, welche vor den Beginn des achtzehnten Lebensjahres fällt, bleut außer Berechnung. Nur die in die Dauer eines Krieges fallende und bei einem mobilen oder Ersatztruppentheile abgeleistete Militairdienstzeit kommt ohne Rücksicht auf das Lebensalter zur Anrechnung. Als Kriegszeit gilt in dieser Beziehung die Zeit vom Tage einer angeordneten Mobilnachung,

auf welche ein Krieg folgt, bis zum Tage der Demobilmachung. 8 23. Für jeden Feldzug, an welchem ein Offizier oder im Offizierrang stehender Nilitairarzt im Reichsheer, in der Kaiserlichen Marine oder in der Armee eines Bundesstaates derart Theil genommen hat, daß er wirklich vor den Feind gekommen oder bei den mobilen Truppen an­ gestellt gewesen und mit diesen in das Feld gerückt ist, wird demselben zu der wirklicher Dauer der Dienstzeit ein Jahr zugerechnet. Ob eine militairffche Unternehmung in dieser Beziehung als ein Feldzug anzusehen ist und inwiefern bei Kriegen von längerer Dauer mehrere Kriegsjahre in Anrechnung kommer sollen, darüber wird in jedem Falle durch den Kaiser Bestimmung getroffen. Für die Vergangenheit bewendet es bei den hierüber in den einzelnen Bundesstaaten erlassenen Vorschriften. 8 24. Von der Anrechnung ausgeschlossen ist: a) die Zeit eines Festungsarrestes von einjähriger und längerer Dauer, sowie

b) die Zeit der Kriegsgefangenschaft.

Pensionirung und Versorgung der Militairpersonen des Reichsheeres re.

563

Unter besonderen Umständen kann jedoch in diesen Fällen die Anrechnung und zwar in dem Falle unter a) mit Genehmigung des Kontingentsherrn, in dem Falle unter b) mit Kaiserlicher Genehmigung stattfinden. § 25. Mit Genehmigung der obersten Militair-Vermaltungsbehörde des Kontingents kann auch die Zeit angerechnet werden, während welcher ein Offizier oder im Offizierrange stehender Militairarzt im Dienste eines dem Reiche nicht angehörigen Staates gestanden hat. Sind bei der Uebernahme in den Dienst eines Bundesstaates bereits bindende Zusagen über die Anrechnung der Vorangegangenen Dienstzeit ertheilt worden, so bleiben dieselben in Kraft.

Verfahren bei der Pensionirung. § 26. Die Feststellung und Anweifilng der Pensionen erfolgt durch die oberste MilitairVerwaltungsbehörde des Kontingents. § 27. Offiziere oder im Offizierrange stehende Militairärzte, welche Ansprüche auf Pension erheben und noch nicht vierzig Jahre gedient haben, sind verpflichtet, ihre Invalidität nachzuweisen. Hierzu ist namentlich auch die Erklärung der unmittelbaren Vorgesetzten erforderlich, daß sie nach pflichtmäßigem Ermessen den die Pensionirung Nachsuchenden für unfähig zur Fortsetzung des aktiven Militairdienstes halten. Inwieweit noch andere Beweismitttel allgemein oder im einzelnen Falle beizubringen sind, bestimmt die oberste Militair-Verwaltungsbehörde des Kontingents. § 28. Offiziere oder im Offizierrange stehende Militairärzte, welche eine Dienstzeit von vierzig Jahren zurückgelegt haben, sind bei Nachsuchung ihrer Verabschiedung mit Pension von dem Nachweise der Invalidität befreit. Für den Anspruch auf die Pensions-Erhöhungen (§§ 12 und 13) ist jedoch der Nachweis in jedem Dienstalter erforderlich. § 29. Das Gesuch um Gewähruug von Pension muß in dem Abschiedsgesuche enthalten und begründet sein; eine nachträgliche Forderung von Pension ist unzulässig; nur in dem Falle, daß die Art der Invalidität gleichzeitig den Anspruch auf Pensions-Erhöhung begründet, kann eine nachträgliche Bewilligung stattfinden, insofern eine solche innerhalb der im § 17 angegebenen Fristen beantragt wird.

Zahlbarkeit der Pension, Kürzung, Einziehung und Wiedergewährung der­ selben. § 30. Die Pension wird monatlich im Voraus bezahlt. § 31. Die Zahlung der Pension beginnt mit dem Ablaufe desjenigen Monats, für welchen der Verabschiedete das etatsmäßige Gehalt zum letzten Male empfangen hat. Ist der Betrag dieses Gehalts geringer als die Pension, so soll der sich ergebende Ausfall für den letzten Monat vergütet werden. § 32. Das Recht auf den Bezug der Pension erlischt: a) durch den Tod des Pensionairs, b) durch rechtskräftige gerichtliche Verurtheilung zum Pensionsverlust. Die Pensionserhöhungen können jedoch durch richterliches Erkenntniß nicht entzogen werden. § 33. Das Recht auf den Bezug der eigentlichen Pension ruht: a) wenn ein Pensionair das Deutsche Jndigenat verliert bis zu etwaiger Wiedererlangung desselben; b) mit der Wiederanstellung im aktiven Militairdienst während ihrer Dauer; c) wenn und so lange ein Pensionair im Reichs-, Staats- oder im Kommunaldienste ein Diensteinkommen bezieht, insofern als der Betrag dieses neuen Diensteinkommens unter Hinzurechnung der Pension, ausschließlich der Pensionserhöhung, den Betrag des vor der Pensionirung bezogenen pensionsfähigen Diensteinkommens übersteigt. § 34. Das Recht auf den Bezug der Pensionserhöhungen (§§ 12 und 13) ruht in dem Falle des § 33 unter a), desgleichen der Regel nach in dem Falle des § 33 unter b); es verbleiben jedoch die Pensionserhöhungen dem Pensionair: a) bei Anstellung in den für Garnisondienstfähige zugänglichen militairischen Stellen, z. B. bei den Traindepots, den Landwehr-Bezirkskommandos, den Garde-Landwehr-Bataillons-Stämmen, als Platzmajors, Führer der Strafabtheilungen, Vorstände der Hand­ werksstätten, Etappeninspektoren und in der Militair- und Marineverwaltung;

564

Gesetzentwürfe.

b) bei vorübergehender Heranziehung zum aktiven Dienst für die Dauer des mobilen Ver­ hältnisses;

c) bei Versorgung in Jnvalideninstituten; d) bei Anstellung im Civildienst neben den sonst zuständigen Kompetenzen.

§ 35.

Mit der Gewährung einer Civilpension aus Reichs- oder Staatsfonds fällt bis auf

Höhe des Betrages derselben das Recht auf den Bezug der früheren Militairpension hinweg.

Die

Pensionserhöhung verbleibt jedoch dem Empfänger.

Hat die Civildienstzeit weniger als ein Jahr betragen, jo wird für den Fall des Zurück­ tretens in den Ruhestand die volle Militairpension wieder gewährt.

§ 36.

Erdient ein Militairpensionair, welcher in eine an sich zur Pension berechtigte Stel­

lung des Kommunaldienstes eingetreten ist, in dieser Stellung eine Pension, so findet neben der­ selben der Fortbezug der auf Grund dieses Gesetzes erworbenen Militairpension nur in dem durch § 33 unter c) begrenzten Umfange statt.

Die Pensionserhöhung verbleibt jedoch dem Empfänger. § 37.

Die Einziehung, Kürzung oder Wiedergewährung der Pension auf Grund der Be­

stimmungen in den §§ 34 bis 38 tritt mit dem Beginn desjenigen Monats ein, welcher auf das,

eine solche Veränderung nach sich ziehende Ereigniß folgt. Im Fall vorübergehender Beschäftigung im Reichs-, im Staats- oder im Kommunaldienste

gegen Tagegelder oder eine anderweite Entschädigung wird die Pension für die ersten sechs Monate dieser Beschäftigung unverkürzt, dagegen vom siebenten Monat ab nur zu dem nach den vorstehenden

Bestimmungen zulässigen Betrage gewährt. § 38. Die Bewilligung einer Pension kann auch bei der Stellung zur Disposition erfolgen. In diesem Falle finden die Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes gleichmäßige Anwendung. Bewilligung für Hinterbliebene.

§ 39.

Hinterläßt ein pensionirter Offizier oder im Offizierrange stehender Militairarzt eins

Wittwe ohne eheliche Deszendenz, so wird die Pension noch für den, aus den Sterbemonat folgenden Monat gezahlt.

Die Zahlung der Pension für den auf den Sterbemonat folgenden Monat kann mit Ge­

nehmigung der obersten Militair-Verwaltungsbehörde des Kontingents auch dann stattfinden, wenn

der Verstorbene Eltern, Geschwister, Geschwisterkinder oder Pflegekinder, deren Ernährer er gewesen

ist, in Bedürftigkeit hinterläßt, ober wenn der Nachlaß nicht ausreicht, um die Kosten der letzten Krankheit und der Beerdigung zu decken.

Der über den Sterbemonat hinaus gewährte einmonatliche Betrag der Pension kann nicht Gegenstand der Beschlagnahme sein. § 40.

Erfolgt der Tod eines mit Pension verabschiedeten Offiziers oder im Offizierrange

stehenden Militairarztes in dem Monat, in welchem derselbe das etatsmäßige Gehalt zum letzten Male zu empfangen hatte, so hat seine Familie (§ 40) für den Monat nach dem Ableben nur An­

spruch auf Gewährung des einmonatlichen Penstonsbetrages.

§ 41.

Den Wittwen von denjenigen Offizieren und im Ofsizierrange stehenden Militairärzten

der Feldarmee, welche

a) im Kriege geblieben oder an den erlittenen Verwundungen während des Krieges oder

spater gestorben sind, b) im Laufe des Krieges erkrankt ober beschäbigt unb in Folge besten vor Ablauf eines

Jahres nach dem Friedensschluß verstorben sind, werden besondere Beihülfen, so lange sie im Wittwenstande bleiben, gewährt unb zwar: den Wittwen der Generale im Betrage von

500 Thlr.,

den Wittwen der Stabsoffiziere.........................................................

400 „

den Wittwen der Hauptleute und Subalternofsiziere.......................

300 „

jährlich.

Dieselben Beträge empfangen die Wittwen der Aerzte nach Maßgabe des Militairranges der

letzteren.

Die mittelst Charaktererhöhung erworbene Charge wird hierbei der mit einem Patent ver­

liehenen Charge gleich geachtet. § 42.

Für jedes Kind der im § 41 bezeichneten Offiziere und im Offizierrange stehenden

Pensionirung und Versorgung der Militairpersonen des Reichsheeres rc.

565

Mtilitairärzte wird bis zum vollendeten siebzehnten Lebensjahre eine Erziehungsbeihülfe von 50 Thlrn. jä hrlich gewährt.

§ 43.

Die §§ 41 und 42 finden auf die Angehörigen der nach einem Feldzuge Vermißten

gleichmäßige Anwendung, wenn nach dem Ermessen der obersten Militair-Verwaltungsbehörde des

Kontingents das Ableben mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. § 44.

Die nach § 41 erforderliche Zugehörigkeit zur Feldarmee wohnt allen zur unmittel­

baren Aktion gegen den Feind bestimmten Truppen, sowie den zu denselben gehörenden Kommando­ belhörden, Stäben, Trains und Administrationen bei.

Bei allen anderen Truppen und Militairbehörden sind der Kategorie des § 41 gleich zu achten: diejenigen während des mobilen Verhältnisses, beziehungsweise während der Kriegs­

formation im Dienste befindlich gewesenen Offiziere und im Offizierrange stehenden Militairärzte, denen in Folge der eingetretenen kriegerischen Verhältnisse außerordentliche

Anstrengungen und Entbehrungen 'auferlegt, oder welche dem Leben und der Gesundheit gefährlichen Einflüssen ausgesetzt werden mußten.

Die Entscheidung, ob das Eine oder Andere der Fall gewesen, erfolgt, mit Ausschluß des Rechtsweges, durch die oberste Militair-Verwaltungsbehörde des Kontingents. Für die Begrenzung des Anspruchs gilt auch hier, daß der Tod vor Ablauf eines Zahres

nach dem Friedensschlüsse eingetreten ist. Ueb er gangs-Be stimm ungen.

§ 45.

Die den Offizieren und im Offizierrange stehenden Militairärzten nach Maßgabe dieses

Gesetzes zu bewilligenden Pensionen dürfen nicht hinter demjenigen Betrage zurückbleiben, welcher demselben bei etwaiger Pensionirung vor Erlaß dieses Gesetzes bereits zugestanden haben würde.

Dasselbe gilt für die Bewilligungen an Wittwen und Waisen. § 46.

Alle bisherigen Bestimmungen, welche nicht im Einklang mit dem gegenwärtigen Ge­

setze stehen, sind aufgehoben. Das letztere hat rückwirkende Kraft in Bezug:

a) auf alle Pensionsgewährungen und Unterstützungen, welche seit dem 1. August 1870 den Teilnehmern an dem Feldzuge gegen Frankreich, beziehungsweise ihren Hinterbliebenen

zuerkannt sind; b) auf diejenigen Wittwen und Kinder verstorbener, am Kriege 1870/71 betheiligt gewesener

Offiziere und im Offizierrange stehender Militairärzte, welchen die nach dem Königlich

Preußischen Gesetz vom 16. Oktober 1866 zu gewährenden Beihülfen bisher versagt wer­ den mußten, weil der Nachweis des Bedürfnisses nicht geführt werden konnte; c) auf die im § 14 bezeichneten, während des Feldzuges von 1870/71 zum Militairdienste

herangezogenen Pensionsempfänger, indem diesen der Anspruch auf die Pensionserhöhung (§ 12) nach der näheren Bestimmung des § 14 gewährt wird.

Eine anderweite Feststellung ihrer eigentlichen Pension aber kann nur nach Maßgabe

der Bestimmung im zweiten Absätze des § 21 erfolgen. Für' die nach den bisher gültig gewesenen Vorschriften pensionirten Offiziere und im Offizier­

rang stehenden Militairärzte'findet der § 33 unter c. ebenfalls Anwendung, sofern nicht die bis­

herigen Bestimmungen ihnen künftiger sind. Insoweit das Diensteinkommen der Offiziere einzelner Kontingente dem Diensteinkommen

der Offiziere der Norddeutschen Armee noch nicht gleichgestellt ist, wird das letztere gleichwohl bei Berechnung der Pensionen für die Theilnehmer an dem Kriege gegen Frankreich zu Grunde gelegt.

B.

§ 47.

In der Kaiserlichen Marine.

Die vorstehenden Bestimmungen finden auf die ihr Gehalt aus dem Marine - Etat

beziehenden Offiziere, sowie auf die im Offizierrange stehenden Aerzte und die Deckoffiziere der

Kaiserlichen Marine und auf deren Wittwen und Kinder mit den nachfolgenden Maßgaben An­ wendung.

§ 48.

Als pensionsfähiges Diensteinkommen (§§ 9 und 10) wird in Anrechnung gebracht:

1) für die Chargen vom Unterlieutenant zur See (excl. Maschinen - Ingenieur) aufwärts das im § 10 festgesetzte Diensteinkommen,

Gesetzentwürfe.

566

2) für die Chargen der Maschinen-Zngenieure und Deckoffiziere a) das etatsmäßige Gehalt,

b) der mittlere Chargen-Serviszuschuß und

c) der Werth der ihnen zustehenden Berechtigung zur Aufnahme in das Lazareth gegen eine billige Durchschnittsvergütung, 3) für die Chargen der Maschinen-Jngenieure der Werth der Bedienung durch einen dienst­

freien Burschen, 4) für die Marineärzte die ihnen nach dem Etatsgesetze gebührende Zulage.

§ 49.

Der Schiffsbesatzung eines zur Kaiserlichen Marine gehörigen Schiffes wird, auch

während des Friedens, die auf einer ostasiatischen Expedition zugebrachte Dienstzeit, vom Tage des

Abganges aus dem Ausrüstungshafen bis zum Tagr der Rückkehr in die Nordsee, bei der Pensionirung doppelt in Anrechnung gebracht.

Dasselbe gilt auch für Seereisen beziehentlich Indienststellungen, bei welchen mindestens

13 Monate außerhalb der Ost- und Nordsee zugebracht worden find. In den Fällen, wo eine Seereise von kürzerer Dauer nachweislich sich als besonders schädi­ gend und nachtheilig für die Gesundheit der Schiffsbesatzung erwiesen hat, ist es Kaiserlicher Ent­

schließung vorbehalten, dem Vorstehenden entsprechende Bestimmungen zu treffen.

Ausgenommen

von der für die See-Expeditionen bewilligten Doppelrechnung der Dienstzeit ist die in solche Fahre fallende Zeit, welche bereits als Kriegsjahre zu erhöhtem Ansatz kommt.

§ 50.

Als Dienstbeschädigung ist außer den, nach § 3 bei Ausübung des Dienstes unmit­

telbar eingetretenen Verletzungen und anderweiten nachweislich durch die Eigenthümlichkeit des Militair- beziehentlich Marinedienstes hervorgerufenen bleibenden Störungen der Gesundheit, auch die, lediglich und nachweislich auf die klimatischen Einfiüsse bei Seereisen, insbesondere in Folge län­

geren Aufenthalts in den Tropen, zurückzuführende, bleibende Störung der Gesundheit anzusehen,

wenn dadurch die Dienstfähigkeit für den Seedienst aufgehoben wird. § 51.

Die auf Seereisen nachweislich durch außerordentliche klimatische Einflüsse, namentlich

bei längerem Aufenthalte in den Tropen, invalide und zur Fortsetzung des Seedienstes, ohne ihr Verschulden, unfähig gewordenen Offiziere, Aerzte und Deckoffiziere haben auf die im § 12 fest­

gesetzten Pensions-Erhöhungen Anspruch. Auch sind den Wittwen der, in Folge der oben gedachten klimatischen Einflüsse auf solchen

Seereisen oder innerhalb Jahresfrist nach der Rückkehr des Schiffes in den ersten heimathlichen

Hafen verstorbenen Offiziere, Aerzte und Deckoffiziere die im § 42 und für die Kinder derselben die im § 43 festgesetzten Beihülfen zu gewähren.

§ 52.

Den in der Kaiserlichen Marine angestellten Maschinen-Jngenieuren, Ober-Maschinisten

und Maschinisten wird die Zeit, in welcher sie sich vor ihrer etatsmäßigen Anstellung ununter­

brochen in einem Kontraktverhältnisse bei der Kaiserlichen Marine befunden haben, als Dienstzeit mit in Anrechnung gebracht.

§ 53.

Den mit Pension aus dem Marinedienste ausscheidenden Personen wird, wenn sie

vor dem, für den Beginn der penstonsberechtigten Dienstzeit vorgeschriebenen Termine an Bord

eines Kriegsschiffes der Kaiserlichen Marine eingeschifft gewesen sind, die im aktiven Marinedienste

zugebrachte Zeit von dem Zeitpunkte der ersten Einschiffung ab als pensionsberechtigende Dienstzeit in Anrechnung gebracht, gleichviel, bei welchem Marinetheile, beziehentlich in welcher Stellung die­ selben sich bei ihrem Ausscheiden aus dem Marinedienste befinden.

§54.

Die durch dieses Gesetz der obersten Militair-Verwaltungsbehörde des Kontingents

übertragenen Befugnisse werden in Bezug auf die der Kaiserlichen Marine angehörigen Personen von dem Marineministerium ausgeübt. Schluß bestimmun gen.

§ 55.

Auf die oberen Militairbeamten des Reichsheeres und der Kaiserlichen Marine werden

die §§ 12 bis 19, §§ 46—ä., 49, 50 und 51, auf die Hinterbliebenen derselben die §§ 42, 43, 44

und 51 dieses Gesetzes in Anwendung gebracht.

Der den Wittwen dieser Beamten zu gewährende

Betrag (§ 42) wird nach dem penstonsfähigen Diensteinkommen bemessen, welches von dem Manne bezogen worden ist, je nachdem dasselbe dem pensionsfähigen Diensteinkommen eines Generals, eines

Stabsoffiziers oder eines Hauptmanns und Subalternoffiziers am nächsten gestanden hat.

Pensionirung und Versorgung der Militairpersonen des Reichsheeres rc.

567

§ 56. Im Sinne dieses Gesetzes werden den oberen Marine-MiliLairbeamten gleich behandelt: 1) die Marineverwalter und 2) die ihr Gehalt aus dem Marine-Etat empfangenden Lootsenkommandeure, Ober-Lootsen, Schiffsführer und Steuerleute vom Lootsen- und Betonnungspersonal der Kaiserlichen Marine, insoweit eine Invalidität und Unfähigkeit zur Fortsetzung des Dienstes durch den Krieg — § 12 — oder eine Verstümmelung und Erblindung — § 13 resp, der Tod in Folge des Krieges — §§ 42 und 43 — eingetreten ist. Zweiter Theil.

Versorgung der Militairpersonen der Unterklassen, sowie deren Hinterbliebener. A.

Unteroffiziere und Soldaten.

Allgemeine Bestimmungen. § 57. Die zur Klasse der Unteroffiziere und Gemeinen gehörenden Personen des Soldatenstandes

halben Anspruch auf Znvalidenversorgung, wenn sie durch Dienstbeschädigung oder nach einer Dienst­ zeit von mindestens acht Zähren invalide geworden sind. Haben dieselben achtzehn Zahre oder länger aktiv gedient, so ist zur Begründung ihres Ver­ sorgungsanspruches der Nachweis der Invalidität nicht erforderlich. § 58. Als Dienstbeschädigung sind anzusehen: a) Verwundung vor dem Feinde, b) sonstige bei Ausübung des aktiven Militairdienstes im Kriege oder Frieden erlittene äußere Beschädigung (äußere Dienstbeschädigung), c) erhebliche und dauernde Störung der Gesundheit und Erwerbsfähigkeit, welche durch die besonderen Eigenthümlichkeiten des aktiven Militair- beziehentlich Seedienstes veranlaßt sind (innere Dienstbeschädigung). Hierher gehören auch epidemische und endemische Krankheiten, welche an dem, den Soldaten zum dienstlichen Aufenthalt angewiesenen Orte herrschen, insbesondere d) die kontagiöse Augenkrankheit. § 59. Für die Berechnung der Dienstzeit finden die in den §§ 18—25, 49 und 53 ent­ haltenen Bestimmungell Anwendung. § 60. Die Invaliden sind entweder: Halb-Znvalide, d. h. solche, welche zum Feld- beziehentlich Seedienst untauglich, aber zum Garnisondienst noch fähig sind, oder Ganz-Invalide, welche zu keinerlei Militairdienst mehr tauglich sind. § 61. Die Invalidität und der Grad derselben werden sowohl für sich, als in ihrem ursächlichen Zusammenhänge mit einer erlittenen Dienstbeschädigung auf Grund militairärzlicher Bescheinigung durch die dazu verordneten Militairbehörden festgestellt. Die Thatsache einer erlittenen Dienstbeschädigung muß durch dienstliche Erhebungen nach­

gewiesen sein. § 62. Invaliden von kürzerer als achtjähriger Dienstzeit, bei denen eine Besserung ihres Zustandes zu erwarten steht, haben nicht sogleich den Anspruch auf lebenslängliche, sondern nur auf vorübergehende Versorgung bis ihr Zustand ein endgültiges Urtheil möglich macht. § 63. Als Jnvaliden-Versorgung gelten Pension und Pensionszulagen, der Civilversorgungsschein, die Aufnahme in Znvaliden-Znstitute, die Verwendung im Garnisondienst. Pension. § 64. Die den versorgungsberechtigten Unteroffizieren und Soldaten zu gewährenden Znvalidenpensionen zerfallen für jede Rangstufe in 5 Klassen, sie betragen monatlich in der 4. 5. 2. 3. 1. Klasse. Klasse. Klasse. Klasse. Klasse. Thlr. Thlr. Thlr. Thlr. Thlr. 5 7 9 11 a) für Feldwebel . . . . 14 5 4 7 9 b) für Sergeanten. . . . 12 3 4 8 6 c) für Unteroffiziere . . . 11 2 5 3 7 d) für Gemeine. . . . . 10

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Gesetzentwürfe.

§ 65. Die Jnvaliden-Pension erster Klasse wird gewährt: A. nach einer Dienstzeit von 36 Jahren ohne Nachweis der Invalidität, B. den Ganzinvaliden, welche 1) nach 25 jähriger Dienstzeit, oder 2) durch Dienstbeschädigung gänzlich erwerbsunfähig geworden sind und ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen können. § 66. Die Jnvaliden-Pension zweiter Klasse wird gewährt: A. nach einer Dienstzeit von 30 Jahren ohne Nachweis der Invalidität, ’B. den Ganzinvaliden, welche 1) nach 20jähriger Dienstzeit, oder 2) durch Dienstbeschädigung gänzlich erwerbsunfähig geworden sind. § 67. Die Jnvaliden-Pension dritter Klasse wird gewährt: A. nach einer Dienstzeit von 24 Jahren ohne Nachweis der Invalidität, B. den Ganzinvaliden, welche 1) nach 15 jähriger Dienstzeit, oder 2) durch Dienstbeschädigung größtentheils erwerbsunfähig geworden sind. § 68. Die Jnvaliden-Pension vierter Klasse wird gewährt: A. nach einer Dienstzeit von 18 Jahren ohne Nachweis der Invalidität, B. den Ganzinvaliden, welche 1) nach 12 jähriger Dienstzeit, oder 2) durch Dienstbeschädigung theilweise erwerbsunfähig geworden sind. § 69. Die Jnvaliden-Pension fünfter Klasse wird gewährt: A. den Ganzinvaliden, welche 1) nach 8 jähriger Dienstzeit, oder 2) durch eine der im § 58 unter a) b) d) bezeichneten Dienstbeschädigungen zu jedem Militairdienst untauglich geworden sind; B. den Halbinvaliden, welche 1) nach 12 jähriger Dienstzeit, oder 2) durch eine der im § 58 unter a) b) d) bezeichneten Dienstbeschädigungen zum Feldbezw. Seedienst untauglich geworden sind. Pensions-Zulagen. § 70. Unteroffiziere und Soldaten, welche durch Verwundung vor dem Feinde ganzinvalide geworden sind, erhalten eine Verwundungszulage von 2 Thlrn. monatlich neben der Pension. § 71. Unteroffiziere und Soldaten, welche nachweislich durch Dienstbeschädigung, sei es im Kriege oder im Frieden, verstümmelt, erblindet oder in der nachstehend angegebenen Weise schwer und unheilbar beschädigt worden sind, erhalten neben der Pension und event, neben der Verwun­ dungszulage eine Verstümmelungszulage. Dieselbe beträgt je 6 Thlr. monatlich: a) bei dem Verluste einer Hand, eines Fußes, eines Auges bei nicht völliger Gebrauchs­ fähigkeit des andern Auges; die Erblindung des Auges wird dem Verluste desselben gleich geachtet; b) beim Verlust der Sprache; c) bei Störung der Bewegungsfähigkeit einer Hand oder eines Armes, sowie eines Fußes in dem Grade, daß sie dem Verluste des Gliedes gleich zu achten ist. Die Bewilligung dieser Zulage ist ferner zulässig: d) bei schweren Schäden an den übrigen wichtigen Körpertheilen, welche einer Verstümmelung gleich zu achten sind. Die unter a) bis d) aufgeführten Zulagen dürfen den Betrag von 12 Thlrn. monatlich nur in dem Falle übersteigen, wenn die Invalidität durch Verwundung oder äußere Dienstbeschädigung (§ 58 a. und b.) herbeigeführt ist. Die für Erblindung eines oder beider Augen ausgesetzten Zulagen von 6 Thlrn., beziehentlich

12 Thlr. monatlich werden jedoch von der vorstehenden Einschränkung nicht betroffen. § 72. Invalide, welche einfach verstümnlelt sind, werden als gänzlich erwerbsunfähig, die­ jenigen, welche mehrfach verstümmelt sind, als solche angesehen, die ohne fremde Wartung und Pflege nicht bestehen können.

Pensionirung und Versorgung der Militairpersonen des Reichsheeres re.

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§ 73. Den Unteroffizieren vom Feldwebel abwärts wird vom zurückgelegten 18. Dienstjahre ab für jedes weitere Dienstjahr bei eintretender nachzuweisender Ganzinvalidität eine Pensionszulage von V2 Thlr. monatlich gewährt (Dienstzulage). Der hiernach erworbene Pensionssatz darf jedoch — unbeschadet der in den §§ 70 und 71 bezeichneten Zulagen — das gesammte Diensteinkommen der Stelle, welche der Invalide im Etat bekleidet hat, nicht übersteigen. Civilversorgungsschein. § 74. Die als versorgungsberechtigt anerkannten Invaliden erhalten, wenn sie sich gut geführt haben, einen Civilversorgungsschein. Die Ganzinvaliden erhalten diesen Schein neben der Pension, den Halbinvaliden wird derselbe nach ihrer Wahl an Stelle der Pension verliehen, jedoch nur dann, wenn sie mindestens zwölf Fahre gedient haben. § 75. Invalide, welche an der Epilepsie leiden, dürfen den Civilversorgungsschein nicht erhalten. Ist die Epilepsie durch Dienstbeschädigung entstanden, so wird den damit Behafteten, unter der Voraussetzung ihrer Berechtigung zum Civilversorgungsschein, nicht die dem Grade ihrer Inva­ lidität entsprechende Jnvalidenpension, sondern, sofern sie nicht schon die Pension der ersten Klasse beziehen, die der nächst höheren Klasse gewährt. Dieselbe Vergünstigung darf unter gleichen Voraussetzungen auch anderen Invaliden beim Ausscheiden aus dem aktiven Dienst zu Theil werden, wenn sie ihrer Gebrechen wegen zu keinerlei Verwendung im Civildienst tauglich sind. § 76. Die Subaltern- und Unterbeamtenstellen bei den Reichs- und Staatsbehörden, jedoch ausschließlich des Forstdienstes, werden nach Maßgabe der darüber von dem Bundesrathe festzu­ stellenden allgemeinen Grundsätze vorzugsweise mit Invaliden besetzt, welche den Civilversorgungs­ schein besitzen. Zn dem bestehenden Konkurrenzverhältnisse zwischen den Invaliden und den übrigen MilitairAnwärtern tritt durch die obige Vorschrift ebensowenig eine Aenderung ein, wie in den, in den einzelnen Bundesstaaten bezüglich der Versorgung der Militair-Anwärter im Civildienste erlassenen weitergehenden Bestimmungen.

Invalid en-Institute. § 77. An Stelle der Pensionirung können Ganzinvalide auch durch Einstellung in ein Jnvaliden-Jnstitut (Jnvalidenhäuser, Znvalidenkompagnien, so lange letztere noch bestehen) versorgt werden. Die Aufnahme kann nur innerhalb der für dergleichen Institute festgestellten Etats erfolgen. Die Jnvalidenhäuser sollen vorzugsweise als Pflegeanstalten für solche Invalide dienen, die besonderer Pflege und Wartung bedürftig sind. Das fernere Verbleiben in einem Invaliden-Znstitut kann von keinem Invaliden beansprucht werden, wenn seine Verhältnisse ihn dazu nicht mehr geeignet erscheinen lassen.

Verwendung im Garnisondienst. > § 78. Halbinvalide Unteroffiziere können im aktiven Militairdienst belassen werden, wenn sie sich zur Verwendung in solchen militairischen Stellen eignen, deren Dienst das Vorhandensein der Feld- beziehungsweise Seedienstfähigkeit nicht erfordert/ und wenn sie dies statt der Gewährung der Pension wünschen. § 79. Soldaten, welche sich in der zweiten Klasse des Soldatenstandes befinden, haben nur in dem Falle Anspruch auf Znvalidenversorgung, wenn sie vor dem Feinde verwundet und in Folge dessen invalide sind. Den übrigen Soldaten der zweiten Klasse kann, wenn bei ihnen eine der Voraussetzungen vorhanden ist, welche den Anspruch auf die Pension der dritten bis ersten Klasse begründen, eine Unterstützung nach Maßgabe des Bedürfnisses bis zum Betrage der Pension der dritten Klasse ge­ währt werden. Anmeldung des Versorgungs-Anspruchs. § 80. Wer nach den vorstehenden Bestimmungen einen Anspruch auf Jnvalidenversorgung zu haben glaubt, muh denselben vor der Entlassung aus dem aktiven Dienst anmelden. Dies gilt auch für Unteroffiziere und Soldaten des Beurlaubtenstandes, wenn sie zum aktiven Militairdienst einberufen sind. Reichstags-Repertorium I.

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Gesetzentwürfe.

Versorgungs-Ansprüche nach der Entlassung aus dem aktiven Dienst. § 81. Unteroffiziere und Soldaten, welche aus dem aktiven Militairdienst entlassen sind, ohne als versorgungsberechtigt anerkannt zu sein, und welche späterhin ganzinvalide und theilweise erwerbsunfähig werden, können einen Versorgungsanspruch geltend machen: A. ohne Rücksicht auf die nach der Entlassung verflossene Zeit, wenn die Invalidität als veranlaßt nachgewiesen wird: 1) durch eine im Kriege erlittene Verwundung oder äußere Dienstbeschädigung (§ 85 zu a) und b), oder 2) durch eine während des aktiven Militairdienstes a) im Kriege oder b) in Frieden überstandene kontagiöse Augenkrankheit; B. innerhalb dreier Jahre nach dem Friedensschlüsse, beziehentlich nach der Rückkehr in den ersten heimathlichen Hafen, wenn die Invalidität als veranlaßt nachgewiesen wird durch eine im Kriege erlittene innere Dienstbeschädigung oder durch eine auf Seereisen erlittene innere oder äußere Dienstbeschädigung, und C. innerhalb sechs Monaten nach der Entlassung aus dem aktiven Militairdienste, wenn die Invalidität nachweislich durch eine während des aktiven Militairdienstes im Frieden erlittene Dienstbeschädigung verursacht ist. § 8*2. Jede Dienstbeschädigung, welche in den Fällen des § 81 als Veranlassung der In­ validität und Erwerbsunfähigkeit angegeben wird, muß durch dienstliche Erhebungen vor der Ent­ lassung aus dem aktiven Dienst festgestellt sein. Eine Ausnahme hiervon findet nur hinsichtlich der Teilnehmer an einem Kriege statt, welche innerhalb der auf den Friedensschluß folgenden drei Jahre nachweislich durch die im Kriege erlittenen Strapazen und Witterungseinflüsse ganzinvalide und theilweise erwerbsunfähig geworden sind (§§ 58 zu c. und 81 zu B.). Diese Ausnahme gilt auch bei den Theilnehmern an einer Seereise, welche innerhalb dreier Jahre nach der Rückkehr des Schiffes in den ersten heimathlichen Hafen nachweislich durch die klimatischen Einflüsse der Seereise

ganzinvalide und theilweise erwerbsunfähig geworden sind. § 83. In den Fällen des § 81 zu A. 1. und 2. unter a. findet während der auf den Frie­ densschluß folgenden drei Jahre volle Berücksichtigung nach den vorstehenden Pensionszulage-Be­ stimmungen statt. Später kommen zwar die Bestimmungen über Verwundungs- und Verstümmelungszulagen ohne Einschränkung zur Anwendung, dagegen kann alsdann bei theilweiser Erwerbsunfähigkeit nur die Jnvalidenpension der fünften Klasse, bei größtentheils vorhandener Erwerbsunfähigkeit die der vierten Klasse, bei gänzlicher Erwerbsunfähigkeit die der dritten Klasse und bei gleichzeitigem Be­ dürfniß fremder Wartung und Pflege die der zweiten Klasse gewährt werden. Dieselbe Beschränkung der Pensionsgewährung findet in den Fällen des § 81 zu A. 2. unter b. und C. statt. Die Verstümmelungszulage ist jedoch auch hier zu gewähren. Auf die Fälle des § 81 zu B. finden die im ersten Alinea des gegenwärtigen Paragraphen enthaltenen Bestimmungen Anwendung. § 84. Auf die als dauernd versorgungsberechtigt anerkannten Invaliden finden bei späterer Steigerung ihrer Invalidität die Bestimmungen des § 83 mit der Maßgabe Anwendung, daß auch in den Fällen des § 81 zu B. und zu C. keine Zeitbeschränkung, sondern nur die entsprechende Be­ schränkung der Penfionsgewährung eintritt. § 85. Für Temporärinvalide (§ 62) sind die in den §§ 64 bis 72 enthaltenen Pensions­ und Pensionszulage - Bestimmungen so lange ohne Einschränkung maßgebend, bis ihrem Zustande nach definitiv über sie entschieden wird. § 86. Der Civilversorgungsschein kann unter Berücksichtigung der Bestimmungen des § 74 und des § 75 1. und 2. Alinea auch den nach der Entlassung zur Versorgungsberechtigung aner­ kannten Invaliden gewährt werden. § 87. Die Prüfung und Anerkennung der nach der Entlassung aus dem aktiven Dienste erhobenen Versorgungsansprüche findet alljährlich nur einmal statt.

B. Untere Militairbeamte. § 88. Den Regiments-, Bataillons- und Zeughaus-Büchsenmachern wird bei eintretender Unfähigkeit zur Fortsetzung ihres Dienstes nach zehnjähriger Dienstzeit eine monatliche Pension von 3V2 Thlrn., nach zwanzigjähriger Dienstzeit eine solche von 7 Thlrn. bewilligt.

Pensionirung und Versorgung der Militairpersonen des Neichsheeres re.

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Neben dieser Pension werden bei Ganzinvalidität in Folge Verwundung vor dem Feinde und bei Verstümmelungen, die durch Dienstbeschädigung verursacht sind, die Zulagen der §§ 70 und 71 gewährt. Auf den Civilversorgungsschein haben Büchsenmacher keinen Anspruch; derselbe darf ihnen jedoch auf ihr Ansuchen für bestimmte Stellen ertheilt werden, wenn dadurch versorgungsberechtigte Unteroffiziere und Soldaten nicht benachtheiligt sind. § 89. Alle übrigen unteren Militairbeamten werden bei eintretender Untauglichkeit zur Fort­ setzung des Dienstes nach den für die Neichsbeamten zu erlassenden gesetzlichen Bestimmungen be­ handelt. Jedoch finden auch auf sie die Bestimmungen der §§ 70 und 71 Anwendung, wenn sie durch Verwundung vor dem Feinde ganzinvalide geworden oder durch Dienstbeschädigung verstüm­ melt sind. § 90. Die zum Zeug- und Festungspersonal gehörigen Personen des Soldatenstandes und die Registratoren bei den Generalkommandos werden nach vollendeter fünfzehnjähriger Dienstzeit bei eintretender Invalidität, sofern es für sie günstiger ist, nach den Bestimmungen des § 89 pensionirt unter Belassung des Anspruchs auf den Civilversorgungsschein. § 91. Nach der Entlassung aus dem Militairdienst können die gemäß der §§ 88 bis 90 zu behandelnden Militairpersonen nur in Betreff der Zulagen der §§ 70 und 71 einen Anspruch erheben, und sind dabei die Bestimmungen des § 81 maßgebend. § 92. Die ihr Einkommen aus dem Marineetat empfangenden Zimmerleute, Lootsen-Aspiranten, Matrosen und Jungen des Lootsen- und Betonnungspersonals der Kaiserlichen Marine er­ halten, insoweit ihre Invalidität und Unfähigkeit zur Fortsetzung des Dienstes durch den Krieg eingetreten ist, je nach dem Grade ihrer Erwerbsunfähigkeit die in den §§ 65 bis 70 für Gemeine aufgeführten Pensionssätze. Auch finden auf sie, ebenso wie auf die ihr Gehalt aus dem Marineetaat beziehenden Lootsen der Kaiserlichen Marine, im Falle der Verwundung oder Verstümmelung im Kriege oder im Frieden die Bestimmungen der §§71 und 72 Anwendung.

C.

Unterstützung von Wittwen und Waisen.

§ 93. Den Wittwen derjenigen Militairpersonen der Unterklassen der Feldarmee und im § 92 erwähnten Personen, welche a) im Kriege geblieben oder an den erlittenen Verwundungen während des Krieges oder später verstorben sind, b) im Laufe des Krieges erkrankt oder beschädigt und in Folge dessen vor Ablauf eines Jahres nach dem Friedensschlüsse verstorben sind, c) in Folge der klimatischen Einflüsse auf Seereisen (§ 58 c) oder innerhalb Jahresfrist nach der Rückkehr in den ersten heimathlichen Hafen verstorben sind, werden besondere Unterstützungen, so lange sie im Wittwenstande bleiben, gewährt. Die im § 44 über die Zugehörigkeit zur Feldarmee getroffenen Bestimmungen finden ihrer ganzen Ausdehnung nach auch hier entsprechende Anwendung. § 94. Die Unterstützung beträgt für a) die Wittwen der Feldwebel und Unterärzte monatlich 9 Thlr. b) die Wittwen der Sergeanten und Unteroffiziere monatlich 7 Thlr. c) die Wittwen der Gemeinen monatlich 5 Thlr. Bei den Wittwen der unteren Militairbeamten ohne bestimmten Militairrang, sowie der im § 92 erwähnten Personen ist für die Höhe der Unterstützung das den verstorbenen Männern zuletzt gewährte Diensteinkommen dergestalt maßgebend, daß 1) die Wittwen der Beamten mit einem Einkommen von 215 Thlrn. und darüber jährlich auf die Unterstützung von 9 Thlrn. monatlich; 2) die Wittwen der Beamten mit einem Einkommen von 140 bis zu 215 Thlrn. jährlich auf die Unterstützung von 7 Thlrn. monatlich; 3) die Wittwen der Beamten mit einem Einkommen bis zu 140 Thlrn. jährlich auf die Unterstützung von 5 Thlrn. monatlich Anspruch haben. Waren jedoch die Beamten vorher Soldaten und bedingte der von ihnen zuletzt

37*

572

Gesetzentwürfe.

bekleidete Militairrang eine höhere Unterstützung, als das ihnen zuletzt gewährte Diensteinkommen, so wird den Wittwen die höhere Unterstützung gewährt. § 95. Für jedes Kind der im § 93 bezeichneten Militairpersonen wird bis zum vollendeten fünfzehnten Lebensjahre eine Erziehungsbeihülfe von 3V2 Thlr. monatlich gewährt. § 96. Die §§ 94 und 95 finden auf die Angehörigen der nach einem Feldzuge Vermißten gleichmäßige Anwendung, wenn nach dem Ermessen der obersten Militair-Verwaltungsbehörde des Kontingents das Ableben mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. § 97. Hinterläßt ein Pensionär eine Wittwe oder eheliche Deszendenz, so finden wegen der Bewilligung der Pension für den Gnadenmonat die im § 39 enthaltenen Bestimmungen Anwendung. Die in den §§ 39 und 40 bezeichneten Unterstützungen können im Fall des Bedürfnisses zur Bestreitung der Kosten für das Begräbniß und die Pflege in der letzten Krankheit noch für den Sterbemonat folgenden Monat gezahlt werden.

D.

Gemeinsame Bestimmungen.

Zahlbarkeit, Kürzung, Einziehung und Wiedergewährung der Pensionen re. § 98. Die Zahlung der Pensionen, Pensionszulagen, Wittwen- und Waisen-Unterstützungen erfolgt monatlich im voraus; eine Berechnung von Tagesbeträgen findet nicht statt. Die Zahlung hebt mit dem ersten desjenigen Monats an, welcher auf die regelmäßige An­ erkennung des Anspruches durch die kompetente Behörde folgt. Haben Verzögerungen in der Anerkennung des Anspruchs ohne Verschulden des Betheiligten stattgefunden, so werden die im Rückstände gebliebenen Pensionsbeträge, soweit sie nicht der Ver­ jährung unterworfen sind, nachgezahlt. § 99. Das Recht auf den Bezug der Pension erlischt: 1) durch den Tod, 2) im Falle temporairer Anerkennung mit Ablauf der Zeit, für welche die Bewilligung erfolgt war, 3) sobald das Gegentheil der Voraussetzungen erwiesen ist, unter denen die Bewilligung der Kompetenz stattgefunden hat. § 100. Das Recht auf den Bezug der Jnvalidenpension einschließlich sämmtlicher Zulagen ruht: a) wenn ein Pensionair das Deutsche Zndigenat verliert, bis zu etwaiger Wiedererlangung desselben; b) mit der Wiederanstellung im aktiven Militairdienst während ihrer Dauer. § 101. Das Recht auf den Bezug der Jnvalidenpension ausschließlich der Verwundungs­ und Verstümmelungszulagen ruht: a) während des Aufenthalts in einem Znvalideninstitut;

b) während des Aufenthalts in einer militairischen Kranken-, Heil- oder Pflegeanstalt; die Pension kann jedoch in dergleichen Fällen denjenigen Invaliden, welche die Ernährer von Familien find, nach Bedürfniß ganz oder zum Theil zur Bestreitung des Unterhalts ihrer Familie gewährt werden; c) bei allen Anstellungen und Beschäftigungen im Eivildienst mit Ablauf des sechssten Monats, welcher auf denjenigen Monat folgt, in dem die Anstellung oder Beschäftigung

begonnen hat. § 102. Erreicht das Diensteinkommen eines im Civildienst angestellten oder beschäftigten Pensionairs nach Abzug des etwa miteinbegriffenen Betrages zu Ausgaben für Dienstverhältnisse nicht den doppelten Betrag der Jnvalidenpension, ausschließlich der Verwundungs- und Verstümme­ lungs-Zulagen oder a) bei einem Feldwebel nicht 200 b) „ „ Sergeanten oder Unteroffizier nicht . 150 c) „ „ Gemeinen nicht........................................... 100 so wird dem Pensionair, je nachdem es günstiger für ihn ist, die

Thlr., „ „ Pension bis zur Erfüllung des

Doppelbetrages oder bis zur Erfüllung jener Sätze belassen. § 103. Bei wechselnden Anstellungen oder Beschäftigungen eines Pensionairs im Civildienst darf im Laufe eines Kalenderjahres die nach § 105 c. zulässige Gewährung von Pension und Dienstzulage neben dem Civileinkommen den Gesammtbetrag für sechs Monate nicht übersteigen.

Pensionirung und Versorgung der Militairpersonen des Reichsheeres re.

§ 104.

573

Wer über das in dem § 101 zu c. angegebene Zeitmaaß hinaus die Pension oder

einen ihm nicht zustehenden Theilbetrag derselben forterhebt, muß sich ohne prozessualisches Ver­

fahren bis zur völligen Deckung der stattgefundenen Ueberhebung Abzüge von seinem Dienstein­ kommen oder seinen nächstfolgenden Pensionsraten gefallen lassen.

Gegen die diesfälligen Allordnungen der Verwaltungsbehörden ist eine Berufung auf richter­

liche Entscheidung unzulässig. § 105.

Unter Civildienst im Sinne der vorstehenden Paragraphen ist jeder Dienst be­

ziehungsweise jede Beschäftigung eines Beamten zu verstehen, für welchen ein Entgelt (die Natura­ lien nach ihrem Geldwerth gerechnet) aus einer öffentlichen Reichs-, Staats- oder Gemeindekaffe direkt oder indirekt gewährt wird; ferner der Dienst bei ständischen oder solchen Instituten, welche ganz oder zum Theil aus Mitteln des Staats oder der Gemeinden unterhalten werden.

Dienstverrichtungen, in welchen dem Pensionair die Eigenschaft eines Beamten nicht bei­

gelegt ist, gegen stückweise Bezahlung, gegen Boten-, Tage- oder Wochenlohn oder bloßen Kopialienverdienst gehören nicht hierher. § 106.

Den im Civildienst angestellten Militairpensionairen wird bei ihrem Ausscheiden aus

diesem Dienst, wenn sie in demselben entweder gar keine oder eine geringere oder eine dem Betrage der Invalidenpension nur gleiche Civilpension erdient haben, an Stelle derselben die gesetzliche Jn-

validenpension aus Militairfonds wieder angewiesen. Haben dieselben jedoch in den von ihnen bekleideten Civilstellen den Anspruch auf eine höhere

Pension erworben, so wird der Betrag der Jnvalidenpension hierauf in Anrechnung gebracht und nur der Mehrbetrag aus dem betreffenden Civilpensionsfonds bestritten/

Die Verwundungs- und Verstümmelungszulagen bleiben bei dieser Berechnung außer Betracht

und werden unter allen Umständen aus Militairfonds bestritten.

§ 107.

Den im Kommunal- und Znstitutendienst re. angestellten Militairpensionairen, denen

bei ihrer Pensionirung aus diesem Dienst die früher zurückgelegte Militairdienstzeit als pensions­ fähige Dienstzeit nicht angerechnet wird, ist bis zur Erreichung desjenigen Pensionssatzes, den sie

für die Gesammtdienstzeit zu beanspruchen haben würden, die früher erdiente Jnvalidenpension zu gewähren. Schluhbestimmungen.

§ 108.

Mit Ausschluß der auf Belassung, Einziehung und Wiedergewährung der Militair-

pension im Falle der Anstellung im Civildienst bezüglichen Angelegenheiten ist die Prüfung und

Entscheidung aller auf Grund der im zweiten Theile dieses Gesetzes geltend zu machenden Ansprüche

Sache der Militairbehörden.

Gegen die Entscheidung derselben ist die Beschreitung des Rechtsweges unzulässig, wenn es sich um das Urtheil über den Grad der Invalidität und Erwerbsunfähigkeit, um die Entscheidung

darüber, ob in besonderen Fällen das Kriegs- oder Friedensverhältmh als vorhanden anzunehmen, ferner um Beantwortung der Frage, ob die vorhandene Dienst- und Erwerbsunfähigkeit durch Dienst­

beschädigung entstanden ist oder nicht, und endlich um die Beurtheilung der Führung handelt.

§ 109.

Denjenigen Unteroffizieren und Soldaten, welchen nach diesem Gesetze ein Anspruch

auf Jnvalidenversorgung nicht zusteht, können im Falle ihrer Entlassung wegen Dienstuntauglichkeit bei dringendem Bedürfnisse vorübergehend, den Verhältnissen entsprechend, Unterstützungen bis zum

Betrage der Jnvalidenpension dritter Klasse gewährt werden. § 110.

Die den Unteroffizieren und Soldaten nach Maßgabe des gegenwärtigen Gesetzes

zu bewilligenden Pensionen dürfen nicht hinter demjenigen Betrage zurückbleiben, welcher denselben

bei etwaiger Pensionirung vor Erlaß dieses Gesetzes bereits zugestanden haben würde. Dasselbe gilt für Unterstützungen an Wittwen und Waisen. § 111.

Den im zweiten Theile dieses Gesetzes enthaltenen Vorschriften wird rückwirkende

Kraft beigelegt für die Theilnehmer an dem letzten Kriege mit Frankreich. Für die übrigen bereits aus geschiedenen Militairpersonen und deren Hinterbliebene bleiben

diejenigen Versorgungsgesetze, welche bisher auf sie anwendbar waren, maßgebend, jedoch finden dir Bestimmungen der §§ 98 — 107 unbeschadet der etwa bereits erworbenen höheren Ansprüche

arch auf sie Anwendung.

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Gesetzentwürfe. Erste Berathung am 13. Mai 1871.

Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister von Roon: M. H., ein äußerlicher Anlaß, die Vorlage Ihrem Wohlwollen zu empfehlen, liegt nicht vor, und zwar, weil ich glaube, daß das Gesetz, lange und reiflich erwogen, in seinen aus­ führlichen Moüven Alles das enthält, was für die Annahme des Gesetzes sprechen dürfte. Auf der anderen Seite könnte ich mich aber auch einer Empfehlung um des­ willen entschlagen, weil ich glaube, daß Ihre patriotischen Gesinnungen der Vorlage entgegen kommen. Es ist daher mehr ein innerliches Bedürfniß, welches mich dazu veranlaßt, einige Worte über die Vorlage zu sprechen. Es ist auch nicht sowohl die amtliche, übrigens wohl begründete Rücksicht auf meine Stellung im Bundesrathe, als Minister des Hauptbestandtheils des Reichsheers, als Marineminister, welche mich ver­ anlaßt, das Wort zu ergreifen, sondern es ist vielmehr der innerliche, herzliche Drang, für diejenigen ein Wort zu sprechen, welche mir aus sehr natürlichen Ursachen nahe stehen, für die Armee, für die Marine und ihre Verwundeten und Beschädigten. Es ist ein Wort, welches ich zu sprechen habe für die tapferen Waffengefährten, welche minder glücklich als ihre gleich tapferen, aber nicht verwundeten Kameraden aus dem Kampfe, den die Nation bestanden hat, mit Ehrenwunden bedeckt hervorgegangen sind, und Schmerzen und Leiden mancherlei Art zu ertragen hatten; es ist ein Wort der Sympathie, welche ich empfinde für alle diejenigen, die ihre Theuren und Lieben haben blutig in fremder Erde betten lassen müssen, und welche nunmehr des Trostes und der Hülfe bedürfen, die ihnen das Vaterland zu gewähren hat, und wie ich hoffe, ge­ währen wird. (Lebh. Br.) Gestatten Sie mir wenige Worte über das Maß und über die Mittel: über das Maß, in welchem, und über die Mittel, durch welche die Hülfe des Vaterlandes zu gewähren sein wird. Wärmere Herzen werden meinen, daß mit dem Gesetze und mit seinen Vorschlägen kaum genug geschehen sei. Daß für die Verluste, um welche es sich hier handelt, nicht der volle Ersatz möglich ist, leuchtet ein; es kann sich immer nur handeln um eine Entschädigung, selbst bei den freigebigsten Bewilligungen. Sie bleiben unsere Gläubiger, die tapferen Söhne des Vaterlandes, die für seine Freiheit und Unabhängigkeit, für seinen Ruhm und seine Ehre gekämpft und geblutet haben, auch dann, wenn der Gesetzentwurf, wie er Ihnen vorliegt, unverändert durchgeht. Es ist meines Erachtens indessen dabei noch ein Punkt in Erwägung zu ziehen, um dem gewissenhaften Mitgefühl des Vaterlandes den richtigen Ausdruck zu geben. Es ist keine Frage, daß unsere Kämpfer, für die der Gesetzentwurf Sorge zu tragen sucht, noch etwas Anderes in Rechnung stellen müssen, um die Bilanz nicht zu sehr zu ihren Ungunsten gezogen zu sehen: das ist das unveräußerliche Ehrenkapital; welches in dem Bewußtsein liegt, für des Vaterlandes Ruhm und Größe gelitten und geduldet zu haben. Und unsere Verstümmelten, wo und wie sie uns auf der Straße begegnen, werden ja, das weiß ich, von Jedermann eben um deswillen hochgehalten, weil sie für das Vaterland gefochten, für das Vaterland geblutet haben, und weil der Verlust ihrer Glieder keine Schmälerung, sondern eine Mehrung ihrer Ehre herbeigeführt hat. (Br.!) Daß dem Vaterlande jeder vergossene Blutstropfen, jedes erloschene Leben theuer und werth ist, darin liegt eben die Veranlassung für diejenigen, welche beschädigt sind, so wie für die Hinterbliebenen der Gefallenen zu sorgen; das ist eben ein Hauptmotiv, welches für die Annahme dieses Gesetzes geltend gemacht werden kann. — Noch ein Wort über das Maß. Die den Pensionsempfängern zugebilligten Sätze sind also immer nur — nach dem, was ich anzuführen die Ehre hatte — eine mäßige Entschädigung, keineswegs ein Aequivalent: sie sind bemessen worden nach billigen Grundsätzen, bedingt von der Dienststellung, von der Dienstzeit, von der Natur der Invalidität, von dem Geldwerth der Gegenwart und den verschiedenen Graden der Hülfsbedürftigkeit. Sie selbst, m. H., werden bei Prüfung des Gesetzentwurfes das Bestreben nicht verkennen, in allen diesen Beziehungen eine gerechte Vertheilung eintreten zu lassen. Was die Mittel anbelangt, aus denen diese Pensionen zu bewilligen sein werden, so sind sie

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glücklicherweise vorhanden; wären sie es nicht, wie etwa nach einem unglücklichen Kriege, so würden wir unendlichem Elend auf allen Straßen des Landes begegnen; das Vater­ land würde seinen Kämpfern und Vertheidigern schuldig bleiben müssen, wenigstens zum Theil, wozu es ihnen gegenüber verpflichtet ist. Wenn nun aber die Mittel vor­ handen sind und, wenn wir erwägen, daß diejenigen, für welche ein Antheil an diesen durch den Krieg errungenen Mitteln beansprucht wird, diese Mittel durch ihre Tapferkeit und ihre Treue, ihre Leiden und ihre Schmerzen haben selbst miterkämpfen helfen, so kann ich sicher annehmen, daß man ihnen diesen billigen Antheil, so wie der Gesetz­ entwurf ihnen solchen zuweist, nicht vorenthalten wird. — Aber, m. H., der vorgelegte Gesetzentwurf beschäftigt sich nicht allein, wenngleich vorzugsweise, mit den Kämpfern des kaum beendigten Krieges, sondern er beschäftigt sich auch mit allen künftigen Kriegs­ invaliden, ja auch mit denjenigen, welche im Frieden Invaliden geworden sind. Was diese letzteren anbelangt, so ist man von der Meinung ausgegangen, daß ihnen die An­ erkennung des Vaterlandes ebenso wenig entzogen werden dürfe, auch wenn sie nicht Gelegenheit gefunden haben, ihr Leben einzusetzen für das Vaterland, auch wenn sie in ungefährlicherer, doch immer treuer, nimmer rastender Friedensarbeit invalide geworden sind. Ich meine, m. H., der Gesetzentwurf trägt auch diesen Verhältnissen in billiger Weise Rechnung. Diejenigen, welche im Frieden invalide werden und nicht durch eine äußerliche Beschädigung zum Dienste unfähig geworden sind, haben eben durch ihre pflichttreue Arbeit im Frieden ihr Lebenskapital früher verzehrt, als es bei einer anderen und einträglicheren Beschäftigung vielleicht geschehen sein würde. Wohlan, m. H., auch dieser friedlichen Kriegsarbeit werden Sie, wenn auch in mäßigeren Grenzen, die ver­ diente Anerkennung nicht versagen wollen, denn Sie haben es eben erst erfahren, was es bedeutet, ein Heer zu besitzen, welches, wie das deutsche, aus dem Volke hervor­ gegangen, in das Volk zurückkehrend, als ein geschultes Volk in Waffen angesehen werden muß, und das sich als solches vor Europa bewährt hat. Ein scharfes Schwert fort und fort scharf und schneidig, die Hand, die es führen soll, kräftig und geübt zu erhalten, m. H., das ist die Arbeit des Friedenssoldaten, und was solche stete Kampf­ bereitschaft für das Vaterland werth ist, das haben wir neuerlich deutlich erkannt, be­ sonders da, wo wie bei uns, das Schwert in Jedermanns Hand, und jede Hand mit dem Schwerte vertraut ist. — Ich empfehle, m. H., den Gesetzentwurf zur Berathung und zwar knüpfe ich daran bei der Ausführlichkeit seiner Motivirung den Antrag, daß er zur Berathung im ganzen Hause gestellt werden möge. (Lebh. Br.) Abg. vr. von Bunsen: M. H., wohl noch niemals, seit die Meisten von uns irgend einer parlamentarischen Versammlung angehören, hat eine Gesetzesvorlage einer so unbedingten Sympathie begegnen können, als diejenige, welche uns heute zum ersten Male beschäftigt.' Schon die Thatsache, daß Sie, m. H., eine Vorlage von so großem Umfange, die zum Theil gänzlich neue und unerwartete Bestimmungen trifft, bereits am dritten Tage nach deren Druck hier in diesen Saal bringen, schon dieser Beschluß hat wohl den Berweis liefern müssen, daß das Haus fest entschlossen ist, die Vorlage mit Anwendung aller Kräfte, mit jedem Opfer und unter allen Umständen zu ihrem Ab­ schluß hin durchzuführen, so schwer das auch im Einzelnen und namentlich in den Theilen des Geseßes sein mag, welche ohne Rücksicht auf die verheißene analoge Vorlage eines Reichs-Civilpensionsgesetzes zu entscheiden sein werden. Auf diesem Gebiete allein liegen die ernsteren Bedenken für diejenigen unter uns, welche in dem Gesetz nun einmal nicht füglich umhin können, in eminentem Sinne ein Finanzgesetz zu erblicken. Diese Seite des Gesetzes einfach wegzureden und wegzuschweigen, würde nicht angehen. Wir haben bereits vom ersten Redner aus dieser Versammlung vernommen, daß die Verpflichtungen, welche in diesem Gesetz niedergelegt sind, und auch noch höhere auch dann vom Lande unbedingt übernommen werden müßten, wenn wir nicht wie heute das hohe Glück hätten, ein vollkommen siegreiches Heer zurückkehren zu sehen. (S. r.!) Dieser Gedanke kann nicht oft genug wiederholt werden, daß es sich hier um die Erfüllung einer Pflicht handelt, welche gänzlich unabhängig davon ist, daß in diesem Falle die Kosten des Krieges und darüber hinaus uns durch den geschlagenen Feind ersetzt werden. — Ich

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rede heute nicht von den Verwundeten und Erkrankten, von den Männern, ich rede von den Wittwen und Kindern der Gefallenen aus dem Unteroffizier- und Gemeinen­ stande. (S. w.!) Die Erhöhungen, welche aus den §§ 94 und 95 des Gesetzes hervorgehen, sind, wie ich nach reiflicher Erwägung ganz bestimmt ausspreche, zu gering, und ich hoffe im Namen Vieler zu sprechen, wenn ich das ausdrückliche Ersuchen stelle, daß noch einmal von Seiten des Bundesraths erwogen werde, ob nicht bis zur zweiten Lesung in dieser Hinsicht ein anderer Beschluß gefaßt werden könnte. Mit derselben Bestimmtheit glaube ich mich in Bezug auf die Erziehungsbeihülfen für die Kinder der Offiziere aussprechen zu dürfen. M. H., eine Erziehungsbeihülfe von 50 Thlrn. per Zahr, wie sie in einer geringen Abänderung der Bestimmung des Gesetzes vom 16. Oktober 1866 hier ausgenommen worden ist, dürfen wir unter allen Umständen nicht als eine hinreichende Pflichterfüllung seitens des Landes, welches die Offiziere be­ wogen hat, ins Feld zu ziehen, betrachten. Zn diesen beiden Punkten würde es mich ganz außerordentlich schmerzen und ebenso, wie ich überzeugt bin, die große Mehrheit unserer Nation, wenn die Ausführung hochherziger Worte, welche den lebhaften Beifall aller Anwesenden hervorriefen, der kaiserlichen Worte in der Eröffnungssitzung des Reichstags, durch welche Seine Majestät uns aufforderte, die Wunden nach Möglichkeit zu heilen, welche der Krieg geschlagen hat, und den Dank des Vaterlandes denen zu bethätigen, welche den Sieg mit ihrem Blut und Leben bezahlt haben, in dieser Weise erfolgen sollte! Es ist nicht zufällig, m. H., daß ich hier einen Unterschied mache zwischen den Männern, denen das Leben geblieben ist, und den Familien, die einen auf dem Felde der Ehre Gefallenen zu beweinen haben. Es ist nicht zu vergessen, wie vielen Hunderten noch in der letzten Stunde vor dem Scheiden aus diesem Leben es Trost gebracht-hat, daß das Vaterland, nicht die Nachbaren, nicht die Vereine, sondern das Vaterland als solches den Hinterbliebenen, und zwar auf Grund eines Rechts­ anspruches, eine einigermaßen ausreichende Hülfe gewähren würde. Auch aus finanziellen Gründen, von deren Erwägung ich mich unter keinen Umständen dispensiren möchte, ist eine Abänderung des Gesetzes in den beiden Punkten nicht sehr zu befürchten. Denn, Gott sei Dank, ist ja die Zahl der auf dem Felde oder in Folge ihrer Verwundungen Gestorbenen, für den Laien wenigstens, überraschend gering im Verhältniß zu derjenigen der Verwundeten und Erkrankten. — Zn kleineren Beziehungen würde ich gern bei dieser ersten Lesung vollkommen schweigen, aber erwähnen will ich, daß ein besonderer Gewinn der neuen Gesetzgebung in Preußen der gewesen ist, daß unsere Invaliden­ häuser sich von Monat zu Monat mehr leeren. Zn Folge des letzten Krieges steht eine Vermehrung derselben, wie aus den Motiven zur Gesetzesvorlage hervorgeht, nicht bevor, was ich mit besonderer Befriedigung begrüßt habe. Außerdem aber hätte ich gewünscht, daß für die Aufnahme in die vorhandenen Znvalidenhäuser* der ausdrückliche Wunsch der Betheiligten mit als Bedingung gestellt worden wäre. M. H., zum Schluß möchte ich einen Punkt erwähnen, ohne welchen auch die kürzeste Beleuchtung des Gegenstandes gar zu lückenhaft sein würde. Denselben bitte ich nicht zu betrachten als einen Wunsch, daß die gesetzgeberische Thätigkeit dieser Sitzungs­ periode noch beschwert und vermehrt werde; ich erfülle mehr eine Pflicht des Gewissens und warte noch den Moment ab, wo demselben volle Genüge geschehen kann. Es sind neuerdings auf Grund, wenn ich nicht irre, gesetzlicher Bestimmungen für die Offiziere Retablissementsgelder bewilligt worden; dieselben setzen sie in den Stand, denjenigen Verpflichtungen erneuert nachzukommen, welche sie nach wie vor dem Kriege zu erfüllen haben. M. H., es ist unmöglich, sich darüber zu freuen, wie ich es von Herzen thue, ohne zugleich der kerngesund und darum ohne allen Anspruch auf Staatsunterstützung zurückkehrenden Tausende zu gedenken, welche gegenwärtig schon zum großen Theil in unserem Vaterlande angelangt sind, zu einem andern Theil binnen Kurzem erwartet werden dürfen. Die Leute gehören, kurz gesagt, zweien Kategorien an. Die Einen sind leicht unterstützt, sofern sie überhaupt der Unterstützung bedürfen, sie gehören dem Ar­ beiter-, dem kleinen Handwerker- oder Dienstbotenstande an, und sind ja ost aus aller Noth heraus, sobald man dem Einzelnen, etwa zur Beschaffung eines neuen Civilanzuges

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mit 10, 15 oder 20 Thalern beispringt. Es giebt keine Gemeinde, keinen Verein, der das nicht gern nach seinen Kräften thäte, und es geschieht das schon in einem großen Theile des Vaterlandes. Anders steht es aber mit Denjenigen, die vor dem Ausrücken ins Feld einem selbstständigen Gewerbsbetriebe oblagen. Für diese kann kaum eine Gemeinde, etwa die reichste ausgenommen, und unmöglich ein Verein in der Weise aus­ helfen, wie es nothwendig ist, damit sie nicht in einer Weise — und zum Theil blei­ bend — ruinirt werden, welche uns zeitlebens die Schamröthe in die Wangen treiben müßte, wenn wir der Schwierigkeit so ohne alle Rücksicht aus dem Wege gingen. Zch spreche aus einer nicht ganz geringen Erfahrung der letzten Wochen, m. H., und kann versichern, daß in Berlin wie im ganzen Vaterlande unter diesen Leuten eine Stimmung herrscht, die ganz dicht an die Verzweiflung grenzt, wo sie nicht bereits weit über diese Grenze hinausgeht. Diesen Leuten durch eine Geldspende zu helfen, m. H., halte ich nicht für möglich und, wenn es möglich wäre, nicht für rathsam. Zch glaube, daß die meisten derselben nicht in ihrer Ehre anzutasten sind durch Geldspenden so hoher Art, wie sie in diesem Falle nöthig wären. Dagegen bietet sich ein Mittel dar, welches ich der Anwendung aufs Allerdringendste empfehlen möchte: es besteht in Darlehnskassen, wie sie zur Zeit des ostpreußischen Nothstandes so außerordentlich wirksam eingetreten sind, und wiederum zu Anfang der beiden Kriege, die hinter uns liegen, einem argen Nothstände vorgebeugt haben. Man werfe mir nicht ein, daß dem Reiche es an Or­ ganen fehle, um die Wohlthat einer solchen Darlehnskasse an den richtigen Mann zu bringen, um die Gabe mit den nöthigen Garantien zu umgeben. Es ist das viel leichter, als es auf den ersten Blick erscheint. So wie eine solche Reichs-Darlehnskasse, wie ich sie wünsche,' bestände, würde es ein Leichtes sein, durch Vermittelung derjenigen Lokalbehörden, welche überall und namentlich während des Krieges die Verhältnisse der einzelnen Familien kennen gelernt haben, die Gewährung dieser Darlehne zu veranlassen. Noch gegen einen anderen Einwand möchte ich mich gleich aussprechen. Möge man mir nicht einwenden, daß, während beim ostpreußischen Nothstände eine Art von Unter­ lage bestand in den Grundstücken, den noch so sehr verschuldeten, aber doch vorhandenen Grundstücken, oder während der Kaufmann als Unterlage werthvolle Bestände hergeben kann, eine solche Unterlage hier fehle. Da bietet sich ein in allen Kreditkassen voll­ ständig bewährtes und außerordentlich sicher wirkendes Mittel, das ist die Bestellung von zwei Bürgen. Die Erfahrung derjenigen Kassen, welche ich irgendwie kennen zu lernen Gelegenheit gehabt habe, legt die Hoffnung nahe, daß wenigstens in Deutschland ein ausnehmend geringer Verlust dabei zu erwarten stehen dürfte. Diese Last aber wiederum den Gemeinden zu übertragen oder gar den Vereinen, halte ich, da die ersteren wie die letzteren schon über alle Maßen viel zu thun haben, nicht für billig. Zch erachte, daß die Durchführung einer Reichs-Darlehnskasse für diesen Zweck eine Nothwendigkeit ist, und bedaure, für heute den Gegenstand, der mir von großer Wich­ tigkeit zu sein scheint, fallen lassen zu müssen. Abg. Freiherr von Hoverbeck: M. H., ob wir die Sache hier im Plenum berathm oder an eine Kommission verweisen, ist an sich für mich nicht die Hauptsache. Für eine Kommission wird sich Manches sagen lassen; ich setze aber das Eine voraus, daß eine Kommission unter keinen Umständen oder Vorwänden ein Mittel sein soll, die endlich- Erledigung der Sache noch in dieser Session hinauszuschieben. (Z.) Zch wünsche noch auf einen Punkt zu kommen, den der Abg. v. Bunsen schon berührt hat; es ist die Frage: wie erleichtern wir den Kämpfern, die aus dem Kriege zurückkommen, den Uebergang in ihre civile Beschäftigung? Der Herr Abg. von Bunsen hat, ich weiß nicht aus welchem Grunde, gemeint, es wäre nicht möglich, diesen Männern eine be­ stimmte baare Geldsumme zu zahlen. Nun, ich bin anderer Meinung. Zch erinnere Sie Ale, daß den Offizieren, welche den Krieg mitgemacht haben, Retablissementsgeld bewilligt ist, und es ist der Ehre der Offiziere nicht, im mindesten zu nahe getreten, wenn man dieses Retablissementsgeld bewilligt hat, worauf sie gerechte Ansprüche haben. Aber eosrrso, m. H., sind diejenigen rückkehrenden Soldaten, die. schon in laufenden Gewerken gewesen sind, also Reservisten und Landwehrleute, mindestens be-

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rechtigt zu verlangen, daß man ihnen diesen Uebergang so leicht als möglich mache. Ich will also nur die Erwägung anregen, ob es nicht zweckmäßig sei, den Reservisten und Landwehrmännern, die aus dem Kriege zurückkommen, ebenso wie den Offizieren, Retablissementsgeld zu gewähren. (B.) Abg. Miquel: M. H., Herr Kollege- von Hoverbeck hat gemeint, wenn wir eine Kommission beschlössen, so dürfe das in keinem Falle dahin führen, daß das Gesetz selbst nicht zur Erledigung käme; ich bin aber gegen eine Kommission, weil ich eben noch nicht sicher weiß, wohin die Kommissionsberathungen führen werden. (S. r.!) M. H., was das Gesetz selbst betrifft, so glaube ich, ist es allerdings nach der finan­ ziellen Seite hin noch nicht vollständig erschöpfend motivirt; aber nichtsdestoweniger kann ich mit dem Kollegen von Hoverbeck doch darin kein erhebliches Bedenken finden, denn wir Alle theilen die Ueberzeugung des Herrn Kriegsministers von Roon: die Mittel sind vorhanden, und zweitens gehen wir von der Anschauung aus: sie müssen vor­ handen sein. Wir sind nicht reich genug wie die Franzosen, unseren Ruhm und unsere Ehrsucht zu bezahlen, aber wir sind reich genug und wohl im Stande, unsere Wichten gegen die Opfer eines großen nationalen Vertheidigungskrieges unter allen Umständen zu erfüllen. (Br.!) M. H., ich unterscheide dreierlei Kategorien, die wir vorzugsweise in der Behandlung und in der Dotirung unterscheiden müssen: erwerbsunfähige In­ validen, Halbinvaliden, die aber noch erwerbsfähig geblieben sind, und die Hinterblie­ benen. Was die ersten betrifft, die erwerbsunfähigen Invaliden, so sage ich, sie sind die wahren Schützlinge der Station; wir sind verpflichtet, ihnen eine auskömmliche und ihren bisheren Verhältnissen thunlichst entsprechende Existenz zu verschaffen; sie sind außer Stand gesetzt sich selbst zu helfen, sie haben vorzugsweise Anspruch darauf, daß die Nation ihnen hilft. Wir haben es hier mit einer wahren nationalen Pflicht zu thun. Wie der Krieg ein nationaler war, so ist auch die Pflicht, die Wunden zu heilen, eine Pflicht der gesummten Nation; wir dürfen unter keinen Umständen in dieser Beziehung rekurriren und uns verlassen auf die Hülfe von Privatvereinen, auch nicht auf die Hülfe von Gemeinden, von Kreisen und Provinzen; nicht der einzelne Staat , das ganze Volk hat hier die Pflicht kontrahirt und muß sie erfüllen. M. H., was die Halbinvaliden betrifft, diejenigen, die noch theilweise erwerbsfähig sind, so gebe ich zu, daß man hier im Interesse der Sache, im Interesse der wirthschaftlichen Thätig­ keit dieser Personen und im Interesse — ich muß es hier aussprechen — ihrer eigenen Moralität vorsichtig verfahren muß. Die Hauptaufgabe ist hier, es zu ermöglichen, daß ihnen zu einer wirthschaftlichen Thätigkeit, zu einer Arbeit, die sie noch leisten können, Gelegenheit gegeben wird, wir handeln in dieser Beziehung dann am besten im Interesse dieser Männer selber. (S. r.!) M. H., ich würde diejenigen Invaliden­ vereine, die es sich vorzugsweise zur Aufgabe machten, den Halbinvaliden eine solche wirtschaftliche Thätigkeit zuzuwenden und zuzusichern, welche ihren Kräften noch gewachsen ist, diese Vereine würde ich am allersegensreichsten halten; solche Vereine bestehen bereits, namentlich wirkt unter dem Vorsitze unseres Kollegen Schwarze im Königreiche Sachsen mit großem Segen ein solcher Verein, und ich ergreife gern diese Gelegenheit, um die Nation auf diesen nach meiner Meinung außerordentlich wichtigen Punkt aufmerksam zu machen. M. H., was die dritte Kategorie betrifft, so halte ich auch schon jetzt die Dotation der Vorlage für durchaus unzureichend, und ich möchte in dieser Beziehung nur einen Gesichtspunkt anführen. Da nämlich, wo es sich um Beihülfe für Erziehungsgelder handelt, da ist kein Mißbrauch leicht möglich, namentlich wenn in dieser Beziehung ja doch fast in allen Fällen die betreffenden Kinder unter Vormundschaft besonnener Per­ sonen stehen; da gilt aber der allgemeine Satz: was für Erziehung und Ausbildung und Schule aufgewandt wird, das trägt hundertfältige Zinsen, m. H., es trägt nicht blos hundert­ fältige Zinsen für die Kinder selber, sondern auch für die ganze Nation; in dieser Beziehung darf man nicht kargen, da tritt neben der Pflicht auch das nationale Interesse ein, und ich würde es daher gern sehen, wenn in dieser Beziehung noch etwas mehr gethan würde. — M. H., lassen Sie mich schließlich hier noch eines großen Omissums er-

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wähnen, welches ich in der Vorlage finde, und ich erwähne es in voller Ueberzeugung, obwohl ich nicht weiß, wie die Vertreter der Bundesregierungen dazu stehen, in der vollen Ueberzeugung, daß wir es hier zur Sprache bringen müssen, auch dann, wenn darüber abweichende Ansichten im Bundesrath bestehen sollten. M. H., ich meine die Soldaten, die gefallen sind im Kriege gegen uns, von Elsaß und Lothringen. Ich glaube, sie müssen in gleicher Weise behandelt werden, auf gleichem Fuß, wie die Sol­ daten der deutschen Armee. M. H., sie haben gegen uns gekämpft, ihnen können wir das aber nicht zur Last legen; eine traurige historische Nothwendigkeit hat diese deut­ schen Lande unter fremde Botmäßigkeit gebracht, und sie waren verpflichtet, lange hinter dem Siegeswagen des fremden Triumphators, heute allerdings die Niederlage zu theilen. — Wie man sich stellen will zu den Offizieren der französischen Armee, die allerdings vielfach nach ihrer Nationalität, nach ihren Gesinnungen, nach ihren Absichten für die Zukunft anders stehen, diese Frage mag der Erwägung anheimgestellt werden; ich habe darüber noch keine bestimmte Ansicht, ich bin zu wenig über die hier in Betracht kom­ menden Dinge unterrichtet, und ich wage darüber keine bestimmte Meinung auszusprechen. — M. H., gehen wir also an die Berathung dieses Gesetzes im Plenum, gehen wir einfach von der Meinung aus, wir sollen so rasch als möglich hier eine nationale Pflicht erfüllen. Wir wollen den Beweis liefern, daß wir in keinem Moment zögern werden, unsererseits unsere Schuldigkeit zu thun, wo diejenigen, um die es sich handelt, in so großartiger Weise ihre Schuld gegen die Nation abgetragen haben. (Lebh. Br.!) Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Staatsminister von Roon erklärt, daß von Seiten des Bundesraths einem so großmüthigen Anträge, wie solchen der Vorredner gestellt, nicht prinzipiell widersprochen werden wird. Auf die Anfrage des Abg. von Hennig welchen finanziellen Einfluß es auf das Gesetz haben dürfte, wenn die Berücksichtigung von Elsaß und Lothringen in das­ selbe hineingezoyen werden soll, erklärt Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Staatsminister von Roon: Die verschiedenen Fragen, die in der Aeußerung des Herrn von Hennig an mich gerichtet worden sind, zu beantworten, bin ich außer Stande. Wenn er sagt, er wisse Dies oder Jenes nicht, so muß ich sagen: ich bin in derselben Lage. (H.) Es ist in diesem Augenblicke überhaupt nicht zu wissen, wieviel Elsässer und Lothringer in der französi­ schen Armee gedient haben: ich glaube, die Franzosen wissen es selber nicht; (H.) ich meine aber, daß es sich darum auch gar nicht handelt, sondern allein darum, wie viel deutsche Mitbürger, die in Elsaß und Lothringen ihren Wohnsitz haben, durch das Jnvalidengesetz berücksichtigt werden müssen. Abg. Graf von Moltke: Ich wollte hinsichtlich der Elsässer nur auf einen Punkt noch aufmerksam machen. Das ist der, daß eine große Zahl derselben sich als Franktireurs an dem Kriege betheiligt hat, die heute auf unsere Soldaten schossen, morgen das Gewehr versteckten und als Civilisten herumgingen. Ich glaube, daß da ein Unterschied zu machen ist. (S. r.!) Abg. Lasker meint, man könne nicht wissen, in welchem Grade Frankreich sich für verpflichtet halten wird, für die eigenen Kämpfer selbst dann, wenn das Land an Deutschland abgetreten ist, zu sorgen. Die Zeit eile ja nicht, und werde sehr leicht in der nächsten Session durch ein Spezial-Gesetz für die neuen Mitbürger in Elsaß und Lothringen gesorgt werden können. Die Vorlage wird zur 2. Berathung ins Plenum verwiesen.

Zweite Berathung am 5. Juni 1871. Abg. Probst: M. H., ich bedauere, die Herren gleich zum Eingänge dieser Be­ rathung mit einer Ansicht bekannt machen zu müssen, welche, wie mir scheint, nur wenige Anhänger in diesem Saale finden wird. Es ist zwar in letzter Zeit davon die Rede gewesen, daß ein Antrag darauf eingebracht werden solle, es müßte dieses Gesetz in zwei Theile zerlegt, das gewöhnliche, für ordentliche Zeiten bestimmte Pensionsgesetz

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daraus abgesondert und auf die Bestimmungen über die Befriedigung und Entschädigung der Invaliden des letzten Krieges oder aber des Krieges im Allgemeinen beschränkt werden. Dieser Antrag ist aber nicht gestellt. Ich, m. H., bin der Ansicht, daß diese Unterscheidung allerdings hätte erfolgen müssen, und kann mich leider nicht oazu ver­ stehen, dem Gesetz, wie es jetzt vorgeschlagen ist, meine Zustimmung zu ertheilen, weil diese Unterscheidung nicht gemacht worden ist, und die Grundsätze, welche fit die ge­ wöhnliche Pensionirung darin aufgestellt sind, mit den meinigen so wenig harmoniren, daß ich nicht glaube, mittelst Amendirung zu meinem Ziele gelangen zu kennen. — Ich hätte gewünscht, daß das Gesetz uns jetzt nicht so vorgelegt worden wäre; ich gebe zu, daß es nicht wohl möglich gewesen ist, in diesem Hause die Ausscheidung vor­ zunehmen, es wäre aber die Aufgabe des Bundesraths gewesen, das Gesetz zu theilen und nur den einen Theil jetzt vorzulegen. — Nun, m. H., müssen Sie mir gestatten, nach der materiellen Seite hin einige Blicke zu werfen, und erlauben Sie mir zunächst, meine Stellung zu dem Pensionsgesetze überhaupt kurz zu erwähnen. (Zm weiteren Verlauf seiner Rede wird der Abg. Probst vom Präsidenten bedeutet, daß dieselbe eine mit dem Charakter der 2. Berathung unverträgliche generelle Wendung nehme, die auf die 3. Berathung verwiesen werden müsse. Redner verzichtet auf die Fortsetzung unter Verwahrung.) Mit großer Majorität wird § 1 angenommen. Auf § 2 bezieht sich der Antrag der Abgg. Dickert, Herz u. Gen. Abg. Herz: M. H., gestatten Sie mir wenige Worte zur Begründung unseres Abänderungsantrages, welcher dahin geht, daß der § 2, Absatz 1 des Gesetzes die Fassung erhalte: „Jeder Offizier und im Offizierrang stehender Militairarzt, welcher sein Gehalt aus dem Militairetat bezieht, erhält eine lebenslängliche Pension, wenn er nach einer Dienstzeit von wenigstens 10 Jahren in Folge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte zur Fortsetzung des aktiven Militairdienstes dauernd unfähig geworden ist und deshalb verabschiedet wird." Dies Amendement, m. H., verdankt seine Entstehung den Anregungen und Vor­ schlägen innerhalb der freien Kommission. M. H-, wir Alle theilen das Gefühl der Freude und des Stolzes auf unsere ruhmgekrönte Armee, auf die hervorragenden Leistungen der deutschen Offiziere im letzten Kriege. Allein, wenn es sich um die Berathung von Gesetzen handelt, da ist eine nüchterne, objektive und ruhige Erwägung der sich an das Gesetz knüpfenden Folgen unbedingt nöthig. Soll ein Zustand gesetzlich geregelt werden, so muß man auch gesetzliche Garantien dafür schaffen, daß die Willkür, das bloße Ermessen in möglichst enge Schranken gezogen werde. Dies bezweckt unser Antrag, indem er den Begriff der Dienstunfähigkeit zu definiren, gewisse verständige Grenzen zu ziehen und die Voraus­ setzungen festzustellen sucht, welche für die Pensionirung der Offiziere fortan maßgebend sein sollen. Unser Amendement bezweckt zunächst, daß der Offizier vor einer ungerecht­ fertigten, gegen seinen Willen erfolgenden Pensionirung sicher gestellt werde. Man fragt mit Recht, warum soll der Staatsdiener, der Beamte, nur in dem Falle pensionirt werden können, wenn er in Folge körperlichen oder geistigen Gebrechens zu seiner Dienst­ leistung unfähig ist, und warum wird es bei den Offizieren anders gehalten? — Das ist der eine Gesichtspunkt. Wenn wir aber auf der einen Seite den Offizier vor ungerechtfertigter Pensionirung schützen, so beabsichtigen wir auf der andern Seite, auch den Staat vor der Pensionirung derjenigen zu schützen, welche die Pensionirung wünschen, obwohl sie nicht pensionsreif sind. Ist es, wie das leider so häufig vorkommt, nur gekränkte Eitelkeit, verletzter Ehrgeiz, was den Offizier dazu veranlaßt, um Pensionirung zu bitten, so meine ich: Wenn der präterirte Offizier wirklich untauglich zu einer höheren Charge ist, so sollten wir doch seine Untauglichkeit nicht förmlich prämiiren, wie es ge­ schieht, wenn wir ihm, weil er sich in Wirklichkeit ungerechtfertigter — nach seiner Meinung freilich gerechtfertigter Weise gekränkt fühlt, die Pensionirung gewähren. Solchen Aergerniß^gebenden Vorkommnissen, wodurch auch die Staatskasse schwer geschädigt wird

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und deren Beseitigung sehr im finanziellen Interesse des Staates gelegen ist, wollen wir durch unseren Antrag entgegentreten. Aber auch in dem anderen Falle, wenn der Offizier vielleicht auf unverdiente Weise zurückgesetzt, wenn seine Leistungsfähigkeit unterschätzt wird, hat er deshalb keinen Anspruch auf Pensionirung. M. H., wer verlangt, daß, weil man ihm nicht die höhere Charge einräumt, die er wünscht, die er vielleicht auch verdient, es ihm gestattet werde, die Hände ganz ruhig in den Schoß zu legen, der geht zu weit. Wer dieses Maß von Ehrgeiz besitzt, von dem darf man wohl fordern, daß er auch zugleich so viel Ehrgefühl besitze, um sich nicht dafür vom Staat bezahlen zu lassen, daß er nichts leistet. (S. r.! l.) — Ich komme nun auf einen weiteren Punkt. Es ist in dem Amendement auch vorgeschlagen, daß das Wort „dauernd" zwischen die Worte „aktiven Militairdienstes und unfähig" in dem ersten Absatz des § 2 eingeschaltet werde. Wenn man mir einwendet; das ist ja nicht nöthig, das versteht sich von selbst, daß eine dauernde Unfähigkeit zum Militärdienste als Voraussetzung der Pensionirung verlangt wird, so erwidere ich: Nun, dann füge man in Gottes Namen zum unschädlichen Ueberflusse, zur Beseitigung jedes Mißverständnisses, zur Klarstellung des ganzen Verhältnisses das kleine Wörtchen „dauernd" ein. Wendet man mir aber ein, daß das Wort „dauernd" absichtlich aus dem Gesetzesparagraphen weggelassen worden sei, so halte ich es meinerseits für ein Gebot der Gerechtigkeit, daß es eingesetzt werde; denn ich begreife nicht, wie und warum ein lebenslänglicher Pensionsgehalt einem Offizier bewilligt werden kann, der nur temporär dienstunfähig ist. Auch ich hätte eine Trennung des Gesetzentwurfes gewünscht. Man hat eine solche Trennung allgemein im Volke erwartet und gehofft. Man war der Ansicht, daß es sich jetzt, im Momente nur darum handele, die durch den Krieg geschlagenen Wunden zu heilen. (S. r.!) — Wollte die Regierung auf die Trennung nicht eingehen, wollte sie uns das Gesetz in der Form vorlegen, wie es vorliegt, dann war sie nach meinem Dafürhalten auch verpflichtet, die Vorlage früher fertig zu stellen, (s. w.) dann durfte sie dieses Gesetz nicht gewissermaßen vor Thoresschluß einbringen, es mußte vielmehr bei Beginn der Session uns vorgelegt werden; dann wären wir vielleicht im Stande gewesen, durch umfassende Studien und durch Besprechung mit Experten diejenigen Kenntnisse und Aufklärungen uns zu verschaffen, die nöthig sind, wenn ein so wichtiges Gesetz geschaffen werden soll, ein Gesetz, das so tief eingreifend ist und unsere Finanz­ lage in einer Weise berührt, wovon wir uns jetzt eigentlich noch gar keine bestimmte und klare Vorstellung zu machen im Stande sind. (S. r.! l.) Abg. vr. Wehrenpfennig: M. H., ich gebe zu, daß der Abg. Herz so gut wie jeder Andere erklären kann, er persönlich sei für die Trennung der beiden in diesem Gesetz verbundenen Elemente. Wie er aber dazu kommt, zu sagen, allgemein im Volke habe man diese Trennung gehofft, . . . (Ruf: ja wohl!) Sie sagen Ja, ich sage Nein, mein Nein gilt soviel wie Ihr Ja, und ich wiederhole mein Nein so lange, wie Sie Ihr Ja wiederholen. Ich lasse mir keine öffentliche Meinung aufoktroyiren, sondern behaupte, der Beweis dafür, daß das Volk im Allgemeinen die Trennung der beiden Materien gehofft hätte, läßt sich nicht führen. Ich behaupte das umsomehr, da die Frage der Trennung viel zu komplizirt ist, um ohne, das volle Material des Gesetz­ entwurfs so leicht vom Volke verstanden zu werden. (H.! h.! auf der äußersten L.) — Der Herr Abg. Herz hat damit begonnen zu sagen, daß er seinen Antrag gestellt habe ohne Mißtrauen gegen unsere Offiziere, wie er sich ausdrückte. Es freut mich, daß er dies am Schluß des großen Krieges 1870/71 vorausgeschickt hat. Ich glaube wohl, wir Alle Müssen anerkennen, daß die freie Bewegung, die diskretionäre Befugniß, welche in der preußischen Armee in Bezug auf die Pensionirung der Offiziere in den letzten Jahrzehnten unzweifelhaft geübt ist, zum Besten der Schlagfertigkeit der Armee und zu ihrer Verjüngung beigetragen hat, und ich meinerseits müßte mich verblenden vor den offensten Thatsachen, wenn ich das nicht anerkennte. Ich glaube, daß die Beurtheilung der Frage in keiner Weise, wie es früher vielleicht Tradition war, Sache einer einzelnen Partei ist.. Ich weiß wohl, daß in den früheren Zeiten es so gewesen ist, aber ich meine, düe Armee gehört dem Vaterlande und keiner Partei, und diese Armee, die

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die Einheit des Reichs, die Einheit des Vaterlandes geschaffen hat, die steht mir so nahe, wie irgend Jemandem aus der Rechten, und nur, soweit mein Verstand mir sagt: das ist Mißbrauch, das muß beseitigt werden — soweit werde ich dagegen kämpfen, nicht aber im Prinzip. (Br.!) — M. H., ich komme zu der Einfügung selbst, welche die Herren beantragen. Nun, m. H., das ist ja, wenn man will, ein sehr unschuldiger Zusatz; er ist genommen aus dem Bundes-Pensionsgesetzentwurf und steht in ähnlicher Weise im alten Civil-Pensionsreglement vom 30. April 1825. Es versteht sich ja, ganz abgesehen von den sonstigen Garantien, die für die Unabhängigkeit des Richters nöthig sind, ganz von selbst, daß bei ihm solche Einschränkungen, ja noch viel stärkere Ein­ schränkungen gemacht werden müssen. Nun frage ich Sie aber, wenn Sie denn glauben, daß die in einem gewissen Umfange diskretionäre Befugniß des Kriegsherrn beschränkt werden müsse, wenn Sie meinen, jene Befugniß gebe ungesunde Zustände, unsere Armee sei dadurch ungesund geworden, dann frage ich: ist denn dieser Zusatz das Heilmittel, wodurch Sie es ändern können? glauben Sie denn, daß auf Grund dieses Zusatzes eine Militärbehörde, die den einzelnen Fall zu beurtheilen hat, wesentlich anders urtheilen wird als heute? M. H., Ihr Zwischensatz ist eine weiße Salbe. Wer die Konsequenzen von dem ziehen will, was der Abg. Herz beantragt, der muß weiter gehen, der muß den Rechtsweg eröffnen über den Fall der Invalidität, den Rechtsweg über einen Fall, über den wir ihn Alle zusammen, wenigstens nach den Anträgen, die vorliegen, nicht eröffnen wollten. Ich bin der Meinung, m. H., daß wir wohl thun in Anbetracht der heutigen Verhältnisse, in Anbetracht der trefflichen Organisation unserer Armee, in An­ betracht, daß in keiner Weise bisher ein wirklicher Mißbrauch dieser Bestimmung — von Einzelheiten abgesehen, denn es ist nichts in der Welt vollkommen — nachgewiesen werden kann, (Gel. l.) ja, m. H., wenn das Lachen eine Widerlegung wäre, dann widerlegten Sie mich häufig, aber ich bin der Ueberzeugung, daß die große Majorität des Volkes — um in Ihrer Sprache zu reden und mir das auch anzueignen — der Ansicht ist, daß diese diskretionäre Befugniß von dem Kriegsherrn geübt ist in der Weise, wie es für eine schlagfertige und jugendfrische Armee gut ist, und ich bin der Meinung, das ist die öffentliche Stimmung, und es ist nicht wahr, daß Sie die öffent­ liche Stimmung vertreten. — Ich sage, was Sie erreichen wollen, erreichen Sie durch diesen Einschub nicht, er ist unwirksam, und schon deshalb, weil er unwirksam ist, rathe ich Ihnen, ihn abzulehnen. Abg. von Kardorff: M. H., wenn ich zum § 2 das Wort ergreife, so ge­ schieht es zunächst, um zu erklären, daß ich dem § 2 nach der Vorlage der Regierung zustimmen werde, obschon ich gegen den Inhalt dieses Paragraphen, nämlich gegen die Einführung der zehnjährigen Pensionsberechtigung an Stelle der bisher in Preußen be­ stehenden fünfzehnjährigen ganz erhebliche Bedenken habe. Ich komme meinerseits in der Erwartung über diese Bedenken fort, daß das durch die freie Kommission verein­ barte zum § 9 gestellte Amendement, welches die Steigerung der Pensionssätze von Veo auf Veo reduzirt, seine Annahme finden wird. M. H., der Gedanke ist ja vielfach in der öffentlichen Presse ausgesprochen worden, daß wir jetzt in einer gewissen gehobenen Stimmung durch die großen Siege, durch die großen Erfolge des Heeres wären, und daß man diese gehobene Stimmung benutzte, (h.! h.!) um nicht blos ein Gesetz zu schaffen für die Kriegsinvaliden, denen wir ja Alle gern die höchste Versorgung geben würden, sondern auch, um dauernde Institutionen ins Leben zu rufen, denen finanzielle und andere Bedenken entgegenständen. Ich meinerseits theile diese Ansicht nicht, ich halte es für ein Glück, daß wir auf diese Weise zu einem gemeinsamen Pensionsgesetze für das ganze deutsche Herr kommen. M. H., das deutsche Heer und die gemeinsame dertsche Wehrverfassung ist in meinen Augen ein eben so gesunder und guter Kitt der deutschen Stämme und ein eben solcher Repräsentant der deutschen Einheit, — im andern Sinne — wie unser deutsches Parlament; ich meine also, der Reichstag kann und darf sich dem Bedürfniß gar nicht entziehen, jetzt ein gemeinsames Pensionsgesetz für das dertsche Heer zu vereinbaren. — Wenn ich dieses Gesetz betrachte, so gehe ich bei der Betrachtung von zwei Gesichtspunkten aus: von dem: welche finanziellen Folgen hat dieses Gesetz?

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von dem andern: erreicht das Gesetz die Zwecke, die es verfolgt, oder stehen demselben in einzelnen Bestimmungen Bedenken gegenüber, welche es wahrscheinlich machen, daß es die Zwecke, die es zu erreichen sucht, verfehlt? Was den finanziellen Gesichtspunkt anbetrifft, so will ich nur gestehen, daß wir uns über den heute schwer klar zu werden vermögen. Viel wichtiger sind mir die weiteren Bedenken, die Bedenken nämlich, ob das Gesetz wirklich die Zwecke, die es verfolgen will: die Kriegstüchtigkeit der Armee noch zu verbessern und zu vergrößern, — ob es diesen Zweck durch die Bestimmungen, die es enthält, erreicht. Ich möchte an und für sich nicht exemplifiziren von den Civilbeamten auf die Offiziere und Militärbeamten; ich möchte aber allerdings darauf auf­ merksam machen, daß, wie heute die Dinge liegen, in der That die Gehaltsverhältnisse unserer Offiziere im Verhältniß zu den Civilbeamten außerordentlich günstige sind. (Redner führt dies aus.) — M. H., es scheint mir nun dieser Zustand militärisch nach zwei Richtungen hin eine bedenkliche Folge zu haben, einmal nämlich die Folge, daß ein Theil von den jungen Leuten dem Offizierstande zuströmt, der an und für sich nicht recht die Neigung und nicht recht die Fähigkeit hat, Offizier zu sein. Dieser Theil der jungen Leute muß naturgemäß mit der Zeit wieder aus dem Offizierstande ausgemerzt werden und fällt dann dem Staate zur Last. Die zweite Folge der günstigen Pensions­ verhältnisse der Offiziere, die ja durch dieses Gesetz noch erhöht werden, ist die, daß in der That die Verführung für diejenigen Offiziere, welche noch dienstbrauchbar und dienst­ fähig sind, immer größer wird, sich pensioniren zu lassen, sobald sie sich eine solche Pension erdient haben, daß sie mit derselben bequem leben zu können glauben. — Wenn ich mich gleichwohl bereit erkläre, derjenigen Erhöhung zuzustimmen, welche durch das Amen­ dement der freien Kommission zu § 9 herbeigeführt wird, so geschieht es in der That mit aus dem Grunde, weil ich darin ein Engagement des Herrn Reichskanzlers sehe, seinerseits sein ganzes Gewicht in die Wagschale zu legen, um uns zu diesen Organi­ sationen zu verhelfen. Wenn wir dann diese Organisationen haben, dann werden wir unsererseits ja bereit sein, auch auf diejenige Erhöhung der Militärpensionen einzugehen, welche die Regierungsvorlage hier in Vorschlag gebracht hat. Wenn wir aber heute Bedenken tragen, so mögen uns diese Bedenken nicht verargt werden. Nach den an­ nähernden Berechnungen würde die Mehrbelastung unseres preußischen Budgets durch diejenigen Sätze, welche die Regierungsvorlage in Vorschlag gebracht hat, immerhin 1,400,000 — 1,600,000 Thaler betragen. — M. H., ich wiederhole, ich halte dieses Gesetz, die gemeinsame Vorlegung des Kriegs- und Friedensgesetzes für ein vaterländisches In­ teresse, ich bin auch gern bereit, die Friedens-Pensionssätze gegen ihren bisherigen Stand zu erhöhen. Abg. Freiherr von Hoverbeck: Ich will zunächst meine Uebereinstimmung mit dem Herrn Vorredner darin zu erkennen geben, daß auch bei mir schwere Bedenken bestanden haben, die bisherige fünfzehnjährige Pensionsberechtigung auf zehn Jahre zu­ rückzuverlegen; dennoch bin ich mit ihm zu dem Entschluß gekommen, daß dies sehr wohl möglich ist, vorausgesetzt, daß in anderer Weise dafür gesorgt werde, daß nicht pensionirt wird, ohne daß gegründete Ursachen vorhanden sind. Ist aber Jemand nach zehn Jahren Dienstzeit pensionsberechtigt, dann, meine ich, sollte man aus dem Umstande, daß fünfzehn Jahre noch nicht erreicht sind, ihm eine bestimmte Schranke nicht ziehen, und man hat wohl das Recht, dann der Wohlthat der Pensionirung ihn auch früher theilhaftig werden zu lassen. Um so nothwendiger ist es aber, dafür zu sorgen, daß nicht pensionirt wird, wo keine Ursache vorhanden ist; denn ich kann mich den Ausführungen meines Freundes Herz anschließen: es ist im Volke eine sehr weit verbreitete Meinung, daß Pensionirungen stattfinden einzig und allein aus dem Grunde, weil die betheiligten Offiziere in dem Avancement übergangen sind. Wenn das ge­ schehen ist, so entdeckt der Offizier sogleich, daß es mit seiner körperlichen Qualität schlecht aussehe, und dann ist auch wunderbarerweise gewöhnlich ein Militärarzt vor­ handen, welcher ihm vollständig diese Meinung bestätigt, (s. r.I) er findet häufig das nöthige Attest, und wir sehen sehr bald, daß die Pensionirung allein oder hauptsächlich aus dem angegebenen Grunde eine thatsächliche geworden ist, nicht zum Heil des Staats-

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säckels. — Wenn der Herr Abg. Wehrenpfennig zweifelt, daß unser Amendement eine Bedeutung haben würde, wenn die höhere oder höchste Militärbehörde, die darüber zu entscheiden hätte, nicht direkt bei der Ausführung gebunden würde, so muß ich sagen, da zeigt er ein Mißtrauen, das uns noch nicht eingefallen ist, wodurch er sich aber wirklich in eine tief oppositionelle Stellung gegen die wirkliche Militärleitung setzt. (H.) Ich bin der Meinung, daß, wenn das Gesetz so lautet, auch die höheren und höchsten Militärbehörden sich an dieses Gesetz binden werden; während er glaubt, das wird nicht geschehen, wenn wir nicht besondere Vorsichtsmaßregeln ergreifen. Auf die Anfrage des Abg. Dr. Löwe, wie es kommt, daß die Überschrift nur auf „Offiziere und Militärärzte im Offiziersrange" lautet, und daß an dieser Stelle die Militür-Thierärzte fortgelassen sind, die in einigen Armeen des deutschen Reichs Offiziersrang besitzen, erklärt Königl. preußischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister von Roon: daß wenn sie Militär-Thierärzte sind, sie eben auch Militärärzte seien. Abg. Graf von der Schulenburg-Beetzendorf: M. H., ich glaube, es ist die vorliegende Frage eine eminent nationale, die die Liebe und Fürsorge aller Parteien gleichmäßig in Anspruch nimmt. Ich möchte nur auf Eines erwidern, was von anderen Herren Rednern gesagt worden ist, daß häufig Pensionirung eintrete bei Leuten, die doch wirklich gesund wären. Za, m. H., ganz gesund ist in diesem Leben wohl nie Jemand, und Jemand, der 10 Jahre Rekruten exerzirt hat und 10 Jahre hindurch alle Unbilden des Wetters und des Dienstes getragen hat, wird wirklich auch von einem gewissenhaften Arzte immer ein Attest extrahiren können, daß er nicht ganz gesund sei. Ich möchte nur noch erwidern auf das, was der Herr Abg. von Kardorff gesagt hat. Der Herr Abg. von Kardorff hat weitgehende Parallelen gezogen zwischen dem Civilbeamtenstande und dem Offizierstande. M. H., Parallelen und Vergleiche auf Gebieten, die ganz heterogener Natur sind, haben immer etwas Bedenkliches; denn solche Ver­ gleiche pflegen in der Regel etwas zu hinken. Ich will des Näheren nicht darauf ein­ gehen, ich will nur bemerken, daß, wenn der Herr Abg. von Kardorff gesagt hat, es sei ein bedenkliches Zeichen, es sei jetzt schon Mangel bei den Stellen in der Civilverwaltung vorhanden, ich dies nicht glaube; ich habe von einem solchen Mangel noch nichts gehört. Wenn aber die gebildete Jugend nach zwei und zwischen zwei großen Kriegen in vermehrtem Maße den Wunsch hat, in die Reihen der Armee einzutreten, um dort ihren Pflichten gegen das Vaterland nachzukommen, so glaube ich, daß das nicht ein bedenkliches Zeichen ist, sondern ich glaube, das ist ein gesundes Zeichen, und ich glaube, das auf der Erhaltung dieser nationalen Institution unserer Armee die Zukunft des geeinigten Deutschlands beruht. Abg. Lasker: M. H., wenn der Herr Abg. v. Kardorff die Furcht ausspricht, daß durch die vielen Emolumente und durch die äußere Stellung des Offiziers der Mangel im Civildienste noch mehr werde erhöht werden, so bin ich nicht ganz seiner Meinung. Thatsächlich ist jetzt der Andrang zu den Civilstellen nicht so bedeutend wie früher. Dies wird aber nicht bedingt durch die Konkurrenz des besseren Durchkommens im Militär­ stande: ich glaube, daß in denjenigen Kreisen, aus denen sonst der Civilbeamte sich rekrutirt hat, nicht zu großer Andrang zum Militärstande stattfindet. (S. w.!) — Ferner im Gegensatz zu Herrn von Kardorff halte ich die zehnjährige Dienstzeit für die Berechtigung zur Pension an Stelle der 15jährigen Dienstzeit an sich schon für eine Verbefferung: ich finde es ungerecht, wenn ein Beamter, der Jahre lang gedient hat und wirklich invalide geworden ist, keinen Anspruch auf Pension haben soll, weil er nicht 15 Jahre gedient hat. 15 Jahre ist ein großer Zeitabschnitt des Lebens. Die Zahl läßt sich sehr leicht aussprechen, aber im Leben bedeutet sie außerordentlich viel, und mir ist die Zeit von 10 Jahren wirklich reichlich bemessen, sofern man es mit Solchen zu thun hat, die wirklich invalide geworden sind. Und nun, m. H., komme ich zu einem sehr schwierigen Punkte dieses Gesetzes. Ich stimme nicht mit dem Herrn Abg. Dr. Wehrenpfennig darin überein, daß es gleichgültig sei, ob eine Definition von der In­ validität gegeben werde oder nicht. Er drückte sich dahin aus, daß, sofern wir nicht

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den Rechtsweg bei diesen Punkten einsühren, es gleichgültig sei, was wir in das Gesetz hineinschreiben. M. H., wenn wir bis auf diesen Zustand der Gewissenlosigkeit bei allen übrigen Behörden außer bei den Gerichten herabgesunken sein sollten, so wäre es zu Ende mit unsern öffentlichen Zuständen. (S. w.!) Zch bin sogar der völlig entgegen­ gesetzten Meinung, daß, wenn der Antrag Herz nicht angenommen wird, doch die Militär­ behörde nach wie vor, wenn sie Jemanden für invalide erklären soll, verlangen wird, daß er in der That dienstunfähig sei, und zwar in dem Sinne, wie der Antrag des Abg. Herz die Dienstunfähigkeit charakterisirt; nach den von mir eingezogenen Erkundi­ gungen soll in der Anerkennung wirklicher Invalidität die Praxis gar nicht leicht sein. Nun soll aber auch dies vorkommen, daß wenn einem Offizier das Hinaufrücken in eine höhere Stelle versagt wird, er nach den Ehrenregeln seiner Berufsgenossen sich gezwungen sieht, den Abschied nachzusuchen, und daß er, um Pension zu erhalten, in der Regel das Zeugniß der Invalidität sich verschafft. Der Herr Abg. Graf von der Schulen­ burg hat dieses Herkommen so geschildert, als ob jeder Mensch eigentlich nicht recht gesund sei, (H.) und wenn ein Offizier aus irgend welchen Gründen sich veranlaßt sieht, von der glücklichen Eigenschaft nicht voller Gesundheit Gebrauch zu machen, so geht er zum Arzt und derselbe bescheinigt ihm, was unter civilen Verhältnissen nicht bescheinigt wird. Dieser Ausspruch des Abg. Grafen Schulenburg, dessen Anschauungen in allen Punkten der Ehre ich gewiß gleichstellen muß den Anschauungen jedes anderen ehrenhaften Bürgers, beweist mir, daß doch in Beziehung auf den Offizierdienst andere Anschauungen vorherrschen, als man sie im gewöhnlichen Leben hat. Kein Civilbeamter wird je, weil er eine höhere Stelle nicht bekommen hat, sich der allgemeinen Lebensweisheit erinnern, daß er nach einem allgemeinen Naturgesetz eigentlich nicht ganz gesund sei, und kein Civilarzt wird sich für berechtigt halten, ein Attest auszustellen, welches man unter allen Umständen für unwahr und unrichtig halten würde. (S. w.! l.) Wenn gleich­ wohl nach dem Zeugniß des Abg. Grafen Schulenburg solche Dinge im Offizierstande vorkommen, so weiß ich hierfür nur die einzige Erklärung, daß dort durch jahrelange Uebung und Gewohnheit ein anderer Inhalt der Sitte und des Geziemenden sich her­ ausgestellt hat, als in den übrigen bürgerlichen Verhältnissen, und ich bedaure aufrichtig, wenn das Gesetz dazu Veranlassung gegeben haben sollte. Nach richtigen Begriffen be­ steht die eigentliche Ehre darin, daß Jedermann auf seinem Platze ausharrt und auf seiner Stelle seine Pflichten erfüllt, (s. w.!) und nicht darin, daß man nach einem ge­ wissen Zeitraum auf der Leiter der Bureaukratie, wenn ich diesen Ausdruck auf das Militär übertragen darf, eine höhere Staffel erreichen muß. Königl. preußischer Bundesbevollmächügter Staats- und Kriegsminister von Roon: Die Militärverwaltung ist nicht in der Lage, in jedem Falle, wo auf Grund eines Znvalidenattestes die Pensionirung nachgesucht wird, durch eine Superrevision die In­ validität nochmals feststellen zu lassen. Abg. Graf von der Schulenburg-Beetzendorf: Zch glaube, das Haus wird mit mir das Gefühl theilen, daß der Herr Abg. Lasker meine Aeußerungen vollständig mißverstanden hat, ein Umstand, der mich umsomehr überrascht, als dies der Schärfe der Auffassung und dem genauen Achtgeben des Herrn Abgeordneten in gewöhnlichen Fällen widerspricht. Zch habe gar nicht von dem Znpensiongehen der Offiziere überhaupt gesprochen, sondern ich habe nur in Folge einer Aeußerung des Herrn Abg. von Hoverbeck für die Aerzte plädirt, und den allgemeinen Grundsatz vorangestellt: ganz gesund ist überhaupt kein Mensch und am wenigsten einer, der zehn Jahre gedient hat. Mit den übrigen Auslassungen des Herrn Lasker habe ich mich durchaus nicht zu bemengen. Nachdem Königlich preußischer Bundesbevollmächügter Staatsminister von Noon erklärt, daß er insofern dem Amendement Herz nicht zustimme, weil es in seinen Kon­ sequenzen dahin führen würde, die Armeeleitung zu verhindern, über die Offiziere frei zu disponiren und ihnen eine Art von Znamovibilität zu sichern, wird bei der Ab­ stimmung der Antrag Herz gegen eine sehr starke Minorität (welche Gegenprobe nöthig macht) abgelehnt (dafür die Fortschrittspartei, der größte Theil des Centrums und der National-Liberalen). ReichStags-Repertorium I.

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Zu tz 3 befürwortet Abg. v. Winter den Antrag der freien Kommission (v. Bonin u. Gen.), welcher dahin geht, das Alinea 1 des 8 3 zu fassen: Als Dienstbeschädigungen (§ 2) gelten: a) die bei Ausübung des aktiven Militairdienstes im Kriege oder Frieden erlittene äußere Beschädigung, b) anderweite nachweisbar durch die Eigenthümlichkeiten des Militairdienstes, so rvie durch epidemische oder endemische Krankheiten, welche an dem zum dienstlichen Aufenthalt angewiesenen Orte herrschen, insbesondere durch die kontagiöse ÄugLN-

krankheit hervorgerufene bleibende Störung der Gesundheit, wenn durch sie — a und b — u. s. w. wie im Entwurf. Dieser Antrag wird mit großer Majorität angenommen (die Beschlußfassung über Alinea 2 bleibt für später ausgesetzt). Die §§ 4 und 5 werden unverändert angenommen. § 6 wird in der Fassung: „Die Höhe der Pension wird bemessen nach der Dienstzeit und dem pensions­ fähigen Diensteinkommen (§ 10) der mindestens während eines Dienstjahres innerhalb des Etats bekleideten Charge. Die Beförderung über den Etat, die bloße Charaktererhöhung während des Dienstes oder beim Ausscheiden aus demselben, sowie die vorübergehende Verwendung in einer höher dotirten Stelle gewähren keinen höheren Pensionsanspruch." ferner § 7 mit dem von Dr. Buhl beantragten Zusatze: „Soweit jedoch das früher bezogene höhere Diensteinkommen aus Dienstzulagen (§ 10) bestand, wird die Pension nur, je nachdem es für den zu Pensionirenden vorteilhafter ist, nach dem früheren höheren Diensteinkommen und der bis dahin zurückgelegten Dienstzeit oder nach dem zuletzt bezogenen Diensteinkommen und bet gesammten Dienstzeit berechnet." § 8 unverändert angenommen. Den § 9 beantragt die freie Kommission folgendermaßen zu fassen: „Die Pension beträgt, wenn die Verabschiedung nach vollendetem zehnten, jedoch vor vollendetem elften Dienstjahre eintritt, 2%o und steigt von da ab mit jedem weiter zurückgelegten Dienstjahre um 780 des pensionsfähigen Diensteinkommens. Ueber den Betrag von °%o dieses Einkommens hinaus findet eine Steigerung der Pension nicht statt. In dem im § 2 erwähnten Fall der Invalidität durch Beschädigung bei kürzerer als zehnjähriger Dienstzeit beträgt die Pension 2%o des pensionsfähigen Diensteinkom­ mens, in dem Falle des 8 5 höchstens 2%o derselben. Nachdem Abg. Bonin den Antrag begründet und mehrere Redner für denselben gesprochen, namentlich von allen Seiten betont worden, daß auch jedenfalls dafür ge­ sorgt werden müsse, durch diese Aenderung die Hauptleute 2. Klasse nicht schlechter zu stellen als bisher, wird derselbe mit großer Majorität angenommen. Auf 8 10 bezieht sich der Vorschlag der Abgg. v. Bonin u. Gen., der Lit. d die Fassung zu geben: d) für die Offiziere vom Hauptmann erster Klasse einschließlich abwärts eine Entschädigung für Bedienung. Dagegen beantragen Richter u. Gen. diese Lit. d ganz zu streichen.

Abg. Richter: M. H., mein Amendement bezweckt, den Friedens-Pensionsetat vor einer Belastung mit etwa 400,000 Thlr. jährlich zu schützen. Wir müssen an­ nehmen, daß wir künftig schon unter friedlichen Verhältnissen 8000 pensionirte Offiziere aus dem Etat haben werden. Wenn Sie für jeden dieser Offiziere den Werth der Bedienung durch einen Burschen mit 100 Thalern bei der Pensionsberechnung in Ansatz bringen, so wird das für jeden derselben die Pension mindestens um etwa 50 Thaler erhöhen. Auch wenn Sie dieses mein Amendement annehmen, und bei dem Beschlusse stehen bleiben, die Pensionssätze um nur 780 statt 7«0 zu steigern, so wird dieses Gesetz immer noch für die Friedenspensionen der Offiziere eine Erhöhung insgesammt von

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10 bis 15 Prozent zur Folge haben. Das Amendement der freien Kommission will nun zwar den Werth der Bedienung durch einen Burschen nicht für die Stabsoffiziere in Ansatz bringen, wohl aber für die Subalternoffiziere. Ich halte diese Unterscheidung für nicht gerechtfertigt; man kann allerdings sagen, für einen Stabsoffizier, der zwei und mehr Dienstpferde hat, kommt der Werth des Burschen für ihn persönlich nicht so sehr zur Geltung. Dasselbe würde aber auch bei Subalternoffizieren der Kavallerie sich sagen lassen, welche auch zwei oder mehrere Pferde haben; keinesfalls aber begreife ich, wie man für einen einfachen Znfanterielieutenant den Werth der Bedienung durch einen Burschen auf mehr als 100 Thaler jährlich veranschlagen kann, ich sage auf mehr als 100 Thaler: denn abgesehen von diesen 100 Thalern, die der Staat ihm anrechnet, muß er doch selbst aus seiner eigenen Tasche noch eine Zulage von ein paar Thalern monatlich seinem Burschen geben. Daß die Bedienung durch einen Burschen für die Subalternoffiziere nicht die Bedeutung hat, wie für die Stabsoffiziere, geht schon daraus hervor, daß in dem betreffenden Reglement das Kriegsministerium selbst bestimmt, daß nur die Burschen der Stabsoffiziere vollständig dienstfrei sein sollen, während es hin­ sichtlich der Burschen der Subalternoffiziere den Kompagnie- oder Eskadronchefs vor­ behalten bleibt, die Burschen zu Dienstleistungen heranzuziehen. Wenn die Regierung einmal nicht in der Lage ist, solchen Offizieren, denen ein Bursche zusteht, einen solchen zuzuweisen, so giebt sie dem Offizier eine Vergütung. Diese Vergütung beträgt aber nicht acht Thaler zehn Silbergrofchen, was dem Satz von 100 Thalern entsprechen würde, sondern höchstens, wie man mir gesagt hat, drei Thaler monatlich. (H., h.!) Allerdings für einen Hauptmann erster Klasse, der eine starke Familie hat, kann der Werth eines Burschen den Betrag von 100 Thalern weit übersteigen. Wenn hier der Offiziers­ bursche etwa verwendet wird, um der Frau den Marktkorb nachzutragen, die Kinder spazieren zu führen, wenn er in der Küche Holz klein machen, Wasser schleppen soll, und wenn man ihn sonst zu Ausgängen für die Wirthschaft verwendet, so kann, wenn nicht sogar das Kindermädchen, so doch mindestens das zweite Dienstmädchen für diese Familie erspart werden. Eine solche mißbräuchliche Verwendung der Offizierburschen werden wir doch aber hier nicht anerkennen wollen. Das Institut der Offizierburschen hat gegenwärtig, wo nicht nur jeder regimentirte Offizier, sondern auch jeder andere im Osfiziersrange stehende Offizier bis zum Regimentskommandeur aufwärts, außerdem jeder Zahlmeister, jeder Arzt einen Burschen zugewiesen erhält, eine solche Ausdehnung gewonnen, daß von etwa 260,000 Wehrpflichtigen, die sich im Frieden in den nord­ deutschen Kadres befinden 15,000 zu Offizierburschen verwandt werden. (H., h.!) Die Ausdehnung dieses Instituts ist nur einigermaßen erklärlich aus unserer übermäßigen Dienstzeit im Frieden. Fürchten Sie nicht, daß ich bei der Gelegenheit die Frage der Dienstzeit hier zur Diskussion bringen werde, aber zu der Zeit, als diese Frage in diesen Räumen gründlich erörtert wurde, hat man uns immer gesagt, das dritte Dienstjahr ist deshalb nothwendig, damit der Soldat nach seiner militairischen Ausbildung, nachdem er die kleinen Exercitien vollständig gelernt hat, sich als Soldat fühlen lerne, damit er in seinem militairischen Bewußtsein erstarke. Wie nun ein solcher armer Offizierbursche, der in Konkurrenz bald mit der Kindermagd, bald mit der Köchin häuslichen Dienst bald für den Herrn, bald für die Frau verrichten muß, den Zweck seines zweiten und dritten Dienstjahres erfüllt, in seinem militairischen Selbstbewußtsein, in seinem soldatlichen Gefühl bestärkt zu werden, das vermag ich nicht abzusehen. (S. g.!) Wir sind augenblicklich nicht in der Lage, die Mißbräuche dieses Instituts gänzlich zu beseitigen; aber hüten wir uns als Volksvertretung doch, sie dadurch zu bekräftigen, daß wir hier den Werth dieser Frohndienste gewissermaßen auf den Etat bringen. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Kriegsminister von Roon: Sobald der Reichstag das Land für reich genug hält, um den Offizieren die Gehaltsaufbesserung zu gewähren, welche diese Unterstützung durch die Dienstleistung der Burschen unnöthig macht, wird auch der ganze Mißbrauch abgestellt werden, den der Herr Vorredner ge­ rügt hat, mit allen seinen Konsequenzen. So lange das aber nicht der Fall ist und so lange man glaubt, das nach dieser Unterstützung bemessene Gehalt des Ossiziers auf 38*

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seiner bisherigen Höhe, so unzureichend es auch erscheinen mag, zu erhalten, so lange wird ihm auch die Unterstützung, die er durch den dienstfreien Burschen hat, als Dienst­ einkommen zu berechnen sein. § 10 wird in der vom Abg. von Bonin beantragten Fassung angenommen. Das Amendement Richter ist abgelehnt. Auf § 11 bezieht sich der Antrag der Abg. Dickert und Herz, statt „mehr als 4000" zu sagen: „mehr als 3000." Abg. Dickert: M. H., wir haben den Antrag für den zweckmäßigsten erachtet, den ich Ihnen vorschlage, weil dadurch nur die höheren Offizierchargen vom Regiments­ kommandeur ab betroffen werden, und weil diese Chargen den Verlust der ihnen dadurch beigefügt wird, am leichtesten ertragen können; denn ihre Pensionen werden, da bei Feststellung derselben die bedeutenden Dienstzulagen mit in Anrechnung kommen, auch nach unserem Vorschläge noch sehr hohe bleiben. Die Ersparniß, welche durch die An­ nahme unseres Antrages erzielt werden würde, dürfte sich auf die Summe von 100,000 Thaler und drüber belaufen, und glaube ich Ihnen denselben daher dringend empfehlen zu dürfen. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Staats- und Kriegsminister von Roon: M. H., ich bin der Sparsamkeit in keiner Weise abgeneigt, und wenn in billigen Vorschlägen das Interesse für den Staat, Ersparnisse herbeizuführen, hervortritt, so werde ich jedenfalls die Hand dazu bieten. Ich glaube aber, die Ersparniß, die eben von dem Abg. Dickert auf 100,000 Thaler berechnet ist, kann wohl nicht Platz greifen nach der Reduktion auf ’Ao, welche soeben von dem Hause beschlossen worden ist. Es würde, wenn beides angenommen würde, einer der unglücklichen Fülle vorliegen, in welchen ich das Zustandekommen des Gesetzes stark bezweifle. Abg. Dr. Buhl: Ich möchte nicht rathen, m. H., auf das Amendement tfer Herren Abg. Dickert u. Gen. einzugehen, und zwar aus dem Grunde: bei unseren ganzen Amendirungen dieses Gesetzes ist es unser Bestreben, keine Charge hinter die bisherigen Pen­ sionssätze zurückgehen zu lassen. Da nun durch das vorgeschlagene Amendement die höheren Offiziere allerdings hinter die bisherige Pension zurückgehen würden, so bitte ich, das Amendement nicht anzunehmen. Der Antrag der Abg. Dickert,- Herz u. Gen. wird abgelehnt. Der Paragraph in der ursprünglichen Fassung wird mit großer Majorität an­ genommen. § 12 wird in der vom Abg. v. Bonin u. Gen. beantragten Fassung statt: a, b und c zu setzen: a) wenn dieselbe 550 Thaler und weniger beträgt, um 250 Thaler jährlich, b) wenn dieselbe zwischen 550 und 600 Thaler beträgt, auf 800 Thaler jchrlich, c) wenn dieselbe zwischen 600 und 800 Thaler beträgt, um 200 Thaler jchrlich, d) wenn dieselbe zwischen 800 und 900 Thaler beträgt, auf 1000 Thaler jährlich, e) wenn dieselbe 900 Thaler und mehr beträgt, um 100 Thaler jährlich angenommen, § 13 — 16 mit unwesentlichen Modifikationen. Der Beschluß zu § 17 (Ausschluß des Rechtsweges betreffend) wird vom Hause bis zu dem in Aussicht stehenden Theil III der Vorlage ausgesetzt. § 18 wird angenommen. § 19 wird, von'der freien Kommission amendirt, in folgender Fassung angenommen: „Bei Berechnung der Dienstzeit kommt auch die Zeit in Anrechnung, während welcher ein Offizier oder im Offizierrange stehender Militärarzt a) im Militärdienst eines Bundes­ staates oder der Regierung eines zu einem Bundesstaate gehörenden Gebietes sich be­ funden oder b) mit Gehalt vorübergehend oder für die Dauer eines Jrhres zur Disposition gestanden hat." Desgleichen § 21: „Die Zeit, während welcher ein mit Pensionsansprüchcn aus dem aktiven Dienst geschiedener Offizier oder im Offizierrange stehender Militärarzt zu demselben wieder herangezogen worden ist und in einer etatsmäßigen Stellung Ver-

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Wendung findet, begründet bei einer Gesammtdienstzeit von mindestens zehn Jahren mit jedem weiter erfüllten Dienstjahre den Anspruch auf Erhöhung der bisher bezogenen Pension um V8o des derselben zum Grunde liegenden pensionsfähigen Diensteinkommens. Wenn jedoch denjenigen Offizieren oder im Offizierrange stehenden Militär­ ärzten, welche nach früheren Gesetzen oder Reglements pensionirt sind, nach Maßgabe der betreffenden Gesetze, Reglements oder Bestimmun­ gen der Anspruch auf eine höhere Pension zufteht, so verbleibt ihnen derselbe." Zu §§ 27 und 28 erklärt Abg. Lasker: M. H., ich bin eigentlich von der Ansicht ausgegangen, daß zu den §§ 27 und 28 bereits ein Antrag eingegangen sei, aber ich finde diesen Antrag in den Drucksachen nicht, nämlich statt der vierzigjährigen Dienstzeit das Lebensalter von sechszig Jahren zu setzen. Ich werde mir erlauben, ein solchen Antrag handschriftlich zu formuliren. — Das Dienstalter von 40 Jahren zu Grunde zu legen, scheint nicht ganz angemessen, weil dabei Ungleichheiten hervorgerufen werden. Daß der Nachweis der Invalidität erspart werde, liegt weniger in dem Dienst, der geleistet worden ist, als in der Annahme, daß von einem gewissen Lebensalter an, wegen des vermuthlichen Körperzustandes, wohl gestattet sei, den Dienst niederzulegen, ohne daß Invalidität erst nachgewiesen werden müßte. Nach dem gegenwärtigen Gesetze würden, da von dem Ende des 17. Jahres an die Dienstzeit gezählt wird, die 40 Jahre zu Ende sein, wenn ein Kriegsjahr nicht dazwischen liegt, mit dem 57. Lebensjahre. Da nun aber die meisten Offiziere gegenwärtig, wenn sie die drei Kriege mitgemacht haben, 1864, 1866 und 1870/71, vier Dienstjahre in Folge der Kriege zugelegt erhalten, oder, wenn sie einen oder mehrere dieser Kriege mitgemacht haben, demgemäß zu ihrer natürlichen Dienstzeit eins, zwei oder drei Jahre hinzutreten, so würde die Pensionirung ohne Jnvaliditätsnachweis selbst dann, wenn in Zukunft ein Krieg nicht mehr geführt werden sollte, wie wir hoffen, schon beginnen können mit zurückgelegtem 53., und weiter aufsteigend 54., 55. bis zum 57. Lebensjahre. Wir machen aber die erfreuliche Erfahrung, daß mehr noch, als in allen Lebensberufen, im Kriegsdienst grade vom 53. Lebensjahre ab noch die kräftigsten Lebensjahre folgen, wir haben deshalb die gemeinsame Grenze des zurückgelegten 60. Lebensjahres für besser gehalten. Irre ich nicht, so ist dieser Grundsatz in der fran­ zösischen Armee maßgebend, indessen dieses Beispiel wirkt nicht bestimmend auf mich ein. Abg. Graf Rittberg: M. H., ich habe schon früher auf diese Bestimmung auf­ merksam gemacht, wonach der Offizier, wenn er 40 Jahre gedient hat, gar nicht nöthig hat, seine Invalidität nachzuweisen. Weil von dem Bundesrathe aus mir nicht die Zu­ sicherung der Fonds für diese Pensionen gegeben wurde, so habe ich für.die Verminde­ rung der Pension von Veo auf 780 jährlich gestimmt. Nun glaube ich aber, daß der Antrag des Abg. Lasker doch eigentlich sich nicht empfiehlt, er ändert nicht viel; ein Militär wird selten vor dem 20. Jahre, kaum 1 oder 2 Jahre früher eintreten, — aber wenn er mit dem 20. Jahre eintritt und dient 40 Jahre, dann ist er 60 Jahre und diesen Zeitpunkt will auch der Abg. Lasker festhalten. Der Abg. Lasker setzt voraus, daß die Kriegsjahre doppelt gerechnet werden. Das ist ganz gewiß bei der Pensionirung der Fall, aber ich glaube, daß im Sinne dieses Paragraphen die Kriegsjahre nicht doppelt gerechnet werden; ich glaube, daß der Offizier im Sinne dieses Paragraphen wirklich 40 Jahre gedient haben muß, bevor er ohne Nachweis der Invalidität seine Pensioni­ rung nachsuchen kann. Bundesbevollmächtigter,. Staatsminister von Roon: Ich wollte nur bemerken, daß der Herr Abg. Lasker in seinem Bedenken vollständig Recht hat. Es ist in den Motiven ausdrücklich gesagt, daß bei der hier angegebenen Zahl von 40 Jahren die doppelt gerechneten mit eingeschlossen sind. Es kann also allerdings geschehen, daß, wenn Jemand mit dem 17. Jahre in die Armee eingetreten ist, er mit dem 53. Jahre seine Invalidität nachzuweisen nach diesem Paragraphen nicht mehr verpflichtet wäre. In­ zwischen muß ich bemerken, daß die ganze Frage, um die es sich hier handelt, doch durch den von Ihnen gefaßten Beschluß, die Ascension um 7bo und nicht um V6o ein-

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treten zu lassen, in eine ganz andere Lage gekommen ist, wonach also das Maximum der Dienstzeit, oder das Maximum der Pension dann nicht schon mit 40, sondern erst mit 50 Jahren erreicht würde. Im Uebrigen habe ich nur darauf Hinweisen wollen im Interesse der leichten Verständigung; ich will damit keineswegs gesagt haben, daß ich mich damit dem hier als Argument benutzten Beschlusse anschließe. Der Antrag Lasker wird angenommen, ebenso werden die §§ 29 — 31 an­ genommen. Bei § 32 macht Abg. v. Bernuth auf die darin liegende bedenkliche Abweichung vom deutschen Strafgesetzbuch aufmerksam, daß von einem Verlust der Pension in Folge einer Verurtheilung nichts weiß, und kündigt einen die Uebereinstimmung herstellenden Antrag für die dritte Lesung an. Die §§ 33 —38 werden angenommen.

Fortsetzung am 6. Juni 1871.

Zu § 39 frägt Abg. Herz an, ob unter dem Ausdruck „Eltern" überhaupt alle Ascendenten, also auch Großeltern, inbegriffen seien. Bundeskommissar v. Kirchbach verneint die Frage, worauf Abg. Herz zwischen den Worten „Eltern" und „Geschwistern" das Wort „Großeltern" einzuschalten be­ antragt, und mit dieser Einschaltung wird § 39 genehmigt. Zu § 41 beantragen 1) Abg. v. Bonin u. Gen. hinter den Worten: „im Wittwenstande bleiben" einzuschalten „und im Falle der Wiederverheirathung noch für ein Jahr". 2) Abg. Lucius (Erfurt) den Zusatz: „Wittwen, welche sich wieder verheirathen, erhalten den dreifachen Betrag ihrer jährlichen Pension als Gnadengeschenk". 3) Abg. v. Ketteler (Paderborn): Vor dem letzten Alinea zu setzen: „Die gleichen Beträge er­ halten die Eltern, deren Ernährer die oben genannten Offiziere oder im Offizierrange stehenden Militairärzte der Feldarmee waren." Im Laufe der nach Begründung dieser Anträge fich entspinnenden Debatte be­ antragt Abg. v. Mallinckrodt: Das Haus wolle beschließen, das Amendement v. Ketteler in folgender Fassung anzunehmen: Beihülfen bis zu den gleichen Beträgen und für die Dauer der Bedürftigkeit können auch den Eltern bewilligt werden, deren Ernährer die oben genannten Offiziere oder im Osfiziersrange stehenden Militairärzte der Feldarmee waren. Abg. Lasker schlägt vor: die Abstimmung über den v. Mallinckrodtschen Antrag, zu dessen Gunsten der Antrag der Abg. Freiherr v. Ketteler (Paderborn) u. Gen. zurück­ gezogen wird, bis zu § 95 auszusetzen. Der Antrag Lasker wird mit sehr großer Majorität angenommen, das Amendement Lucius verworfen, dagegen der Antrag der Abg. v. Bonin u. Gen. mit sehr großer Majorität angenommen. Zu § 42 beantragen Abg. v. Bonin u. Gen. vor „jährlich" einzuschalten „und wenn das Kind auch mutterlos ist oder wird, von 75 Thlr." Ferner beantragt Abg. Dr. Lucius (Erfurt) folgende Fassung: „Für jedes Kind der im § 41 bezeichneten Offiziere und im Offizierrange stehenden Militairärzte w:rd bis zum vollendeten 17. Jahre eine Erziehungsbeihülfe von 72 Thlr. jährlich und wenn das Kind zugleich auch mutterlos ist oder wird, eine solche von 100 Thlr. gewährt." Abg. v. Ketteler beantragt, daß über einen von ihm zu diesem Paragraphen ge­ stellten Antrag erst später berathen werde. Nach Ablehnung des Antrages Lucius wird der Antrag der Abg. v. Bonin u. Gen. mit großer Majorität angenommen. Die Abg. v. Bonin u. Gen. schlagen einen § 42a vor, welcher dahin lauten scll: „Die Zahlung der im § 41 und 42 bezeichneten Beihülfen erfolgt monatlich im Voraus. Die Beihülsen werden vom Ersten desjenigen Monats an gewährt, welcher euf den den Anspruch begründenden Todestag folgt."

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Die Majorität entscheidet sich für die Aufnahme dieses Paragraphen. § 43 wird ohne Debatte angenommen, nachdem Abg. von Bernuth auf das Bedürfniß eines Gesetzentwurfs über die Todeserklärung der Verschollenen hin­ gewiesen. Auf § 44 richtet sich ein Antrag der Abg. v. Bonin u. Gen., der aber bis zum dritten Theil ausgesetzt ist. Der § selbst wird angenommen. Zu § 45 frägt Abg. Freiherr v. Bunsen, ob die Ansprüche der sog. „patentirten Obersten" durch den § 45 oder das vorletzte Alinea des § 46 gedeckt sind. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Staats- und Kriegsminister v. Roon: Ich wollte nur mit zwei Worten sagen, daß die Besorgniß des Abg. v. Bunsen nach meiner Meinung nicht zutrifft. Es ist die ratio dieses Gesetzes, wohl erworbene Rechte nicht zu kränken, sondern dieses Gesetz nur für die Zukunft gelten zu lassen. Zu § 46 beantragen die Abg. v. Bonin u. Gen. vor dem letzten Alinea nach­ folgenden Zusatz aufzunehmen: „Für die im Offizierrang stehenden Militärärzte wird bei deren Pensionirung das chargenmäßige Gehalt nach den Sätzen für Infanterie-Offiziere (§ 10a) der ent­ sprechenden Militair-Charge als pensionsfähiges Diensteinkommen in Anrechnung gebracht." Der Antrag von Bonin wird angenommen und mit dieser Einschaltung der ganze § 46; ebenso § 47 und § 48, wo statt der Worte unter Ziffer 3: „der Werth" bis „Burschen" gesetzt wird: „eine Entschädigung sür Bedienung." Zu § 49 beantragt Abg. v. Bonin statt der „Ost- und Nordsee" zu setzen: „Europäischer Gewässer". Bundesbevollmächtigter v. Roon erhebt gegen dieses Amendement ein geographisches Bedenken. Der Begriff europäische Gewässer stehe keineswegs wissenschaftlich so fest, daß man daraufhin eine gesetzliche Bestimmung treffen könnte. Abg. v. Bonin zieht mit Rücksicht hierauf sein Amendement zurück, aber van Free den nimmt es wieder auf. Der Begriff europäische Gewässer sei seit längeren Jahren ein juristisch und gesetzlich feststehender. Eine Fahrt auf dem Mittelmeer sei bei Weitem weniger gefährlich, als eine Fahrt in der Nord- und Ostsee. Die erstere sei sogar gewöhnlich sehr bequem und interessant. Warum dafür doppelte Dienstzeit angerechnet werden soll, und für eine Fahrt in der Ost- und Nordsee nicht, sei völlig unerfindlich. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Staats- und Kriegsminister v. Roon: Ich meine, daß die ganze Besorgniß, die den Herrn Vorredner veranlaßt hat, dies Amendement festzuhalten, übersieht, daß es sich um dreizehn Monate handelt. Wenn nun die Entfernung und die Natur der Reise bedingt wird durch das Ziel, das dem Schiffe gesetzt ist, so schließt nothwendiger Weise der Umstand, daß sie sich dann dreizehn Monate lang aushalten müssen auf Stationen, die weniger für die Gesundheit günstig sind, jeden Mißbrauch aus. Hier liegt mir ein Votum für die Beantwortung vor, ob es gerechtfertigt sei, der Besatzung der Kriegsschiffe die Dienstzeit im Mittelländischen Meere ebenso wie bei allen anderen Fahrten bei der Pensionirung mit doppelter Dauer in Anrechnung zu bringen, und das ist begründet durch die Wahrnehmungen, die in der englischen Marine gemacht sind über die Zahl der Erkrankungen, welche auf den verschiedenen Stationen stattgefunden haben. Der Herr Vorredner will allenfalls die Sulinamündung und die Stationen im schwarzen Meere zu denjenigen Stationen rechnen, bei denen eine doppelte Anrechnung stattfinden könnte. Ich will allerdings ein­ räumen, das Mittelmeer ist ein angenehmes Meer zu gewissen Zeiten, und es ist ein Vergnügen zu fahren über einen glatten Spiegel, der von keiner Welle gekräuselt wird, ungefähr als ob man auf einem Havelsee führe; allein, das ist nicht zu allen Zeiten der Fall, und die Einflüsse, welche auf die Gesundheit nachtheilig einwirken, sind vielfach vorhanden. Ich will noch zwei Ziffern nennen: in England und auf den Postschiffen in England betrug die Zahl der Erkrankungen 893°/io von 1000 Mann innerhalb eines Zahres, und im Mittelmeer 1143 Krankheitsfälle innerhalb derselben Zeit. Ganz so

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gesund, wie das Mittelmeer manchmal aussehen kann, ist es daher keineswegs. Ich will, wie gesagt, diesen Streit nicht fortsetzen, weil ich im Grunde genommen wenig Werth daraus lege, da es sich hier immer um eine 13 monatliche Fahrt handeln wird, und dabei kommt es in der That weniger in Betracht, ob die Herren es so oder anders auffassen. Ich habe nur geglaubt, daß es rationeller wäre, wenn wir statt „europäische Gewässer" einen bestimmten Ausdruck gebrauchten. Bei der Abstimmung wird der § 49 mit dem Amendement Freeden an­ genommen. Die Abgg. von Winter und van Freeden beantragen § 51, Alinea 2 dahin zu fassen: Den Wittwen der durch Schiffbruch verunglückten, sowie der in Folge der oben gedachten Ursachen auf Seereisen oder innerhalb Jahresfrist nach der Rückkehr des Schiffes in dem ersten heimatlichen Hafen verstorbenen Offiziere, Aerzte und Unter­ offiziere sind — und dann so weiter wie in der Vorlage; — dem entsprechend § 93 Lit. c. dahin zu fassen: durch Schiffbruch verunglückt oder in Folge — Dieser Antrag wird angenommen. Zu § 53 beantragt Abg. van Freeden hinzuzufügen: „Steuerleuten und Kapitainen der Handelsflotte, welche als Offiziere in die Kriegsmarine ausgenommen sind, wird die Fahrzeit vom 18. Lebensjahre an bis zum Eintritt in die Marine zur Hälfte als pensionsfähige Dienstzeit angerechnet." Bundeskommissar Jacobs erklärt sich mit diesem Zusatze einverstanden; nur wünscht er folgende redaktionelle Aenderung: „Offizieren der Kriegsmarine, welche früher der Handelsflotte angehörten, wird die Fahrzeit u. s. w. Mit dieser Aenderung wird § 53 angenommen. Auf § 5G bezieht sich der Antrag der Abg. v. Bon in u. Gen.: Zeile 6 hinter „kaiserliche Marine" einzuschalten: „sowie die sonstigen Lootsenkommandeure und Oberlootsen, welche während des Krieges im Dienst der kaiserlichen Marine beschäftigt werden." Dieser Antrag wird mit großer Majorität angenommen. Ohne Debatte werden die §§ 57 — 69 inkl. genehmigt. Auf § 70 beziehen sich die Vorschläge der Abgg. v. Bonin u. Gen.: a. statt „durch Verwundung vor dem Feinde" zu setzen: „nachweislich durch den Krieg": b. statt „Verwundungszulage" zu setzen: „Pensionszulage". Abg. Dr. Buhl: M. H., indem wir Ihnen vorschlagen, in dem § 70 die Un­ teroffiziere und die gemeinen Soldaten den Offizieren gleich zu setzen, da es in dem § 12 der Vorlage, dessen Bestimmung wir hier aufnehmen, ausdrücklich heißt, daß die Kriegszulage allen durch den Krieg invalide gewordenen Offizieren gewährt wird, sind wir uns wohl bewußt, daß wir Ihnen hier einen Antrag empfehlen, der von sehr weit gehender finanzieller Bedeutung ist, indem die Zahl derjenigen Soldaten und Unter­ offiziere, die unter den Paragraphen fallen, eine sehr große sein wird. Aber, m. H., wenn wir die Strapazen des letzten Krieges betrachten, wenn wir die ganz außer­ gewöhnlichen Mühen und Schädigungen bedenken, denen die Soldaten während des Krieges ausgesetzt waren, wenn wir außerdem bedenken, daß der Vorschlag, den wir Ihnen hier machen, sich ganz ausschließlich blos auf die durch den Krieg Beschädigten bezieht, daß er also eine Erhöhung irgend welcher etatsmäßiger Ausgaben nicht enthält, so glauben wir Ihnen den Antrag warm zur Annahme empfehlen zu dürfen. Königlich preußischer Bundeskommissar Hauptmann v. Plötz: So sehr der Antrag sich von Seiten des Wohlwollens empfiehlt, so habe ich doch darauf aufmerksam zu machen, daß er auch manches Bedenkliche enthält. Die Verwundungszulage ist in Preußen erst durch das Gesetz vom 6. Juli 1865 überhaupt eingeführt, nachdem sie damals in Höhe auf 1 Thaler monatlich sestgestellt wurde in Erwägung des Umstandes, daß für die Offiziere seit dem Jahre 1825 durch dasselbe Reglement, welches jetzt in

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seinen Grundzügen ja auch im Wesentlichen nicht verbessert worden ist, doch eine Ver­ besserung wünschenswerth sei. Die Regierung brachte im Oktober 1866 diese Verbesse­ rung ein, und die damaligen Herren Volksvertreter hatten die Geneigtheit, die Ver­ besserungsvorschläge noch zu erhöhen, es wurden aus 100 Thaler in einzelnen Fällen 200 Thaler. Nachdem dieser Vorgang im Jahre 1866 gespielt hatte, wurde im Jahre 1867 die Pensionszulage durch das Gesetz vom 9. Februar 1867 erhöht. Bei dieser Gelegenheit hatten die Herren Volksvertreter reichlich Gelegenheit, die Verschieden­ heit der Verhältnisse zwischen den Offizieren und zwischen den Mannschaften zu würdigen. Diese Verschiedenheit der Verhältnisse besteht — ich brauche wohl nur darauf aufmerksam zu machen, daß man bei der Kompagnie, wenn man ins Feld rückt, etwa auf 50 Mann einen Offizier hat, daß aber die Verlustlisten, die notorisch sind, nachweisen, daß auf 15 todte Leute ein todter Offizier kommt. Das beweist, m. H., daß der Of­ fizier vielfach in einer ganz anderen Weise wie der gemeine Soldat das Ehrgefühl walten läßt, (M., gr. U. Oh! Oh!) und keine Strapazen scheut, um die Krankheit, die er vielleicht schon bei sich empfindet, doch zu überwinden. M. H., es sind that­ sächliche Beweise vorhanden. Ich habe ferner als Beweis anzuführen die Erfahrungen, die ich selbst während meiner Krankheit in den Militairlazarethen wegen Verwundung gemacht habe. Diese Lazarethe waren an unverwundeten Offizieren nicht überfüllt, wohl aber waren sie häufig überfüllt an unverwundeten Soldaten. Ich glaube, daß man jetzt in den Lazarethen dieselbe Erfahrung gemacht hat. Ferner habe ich zu be­ merken, daß, wenn ein Mann, der auf der Vorbereitung zum Kriege, auf dem Marsche erkrankt, mit einer Verwundungszulage bedacht werden soll, man kaum den Mann, der bei einer anderen Vorbereitung zum Kriege, beispielsweise beim Manöver sich eine Krankheit holt, schlechter stellen kann. Die Motive, die im Jahre 1865 für das Gesetz vorlagen, lauteten etwa: „Wenn der Soldat bewußt im Kampfe sein Leben einsetzt und bei Ausübung dieser höchsten militairischen Leistungen zu Schaden kommt, so ist er besonderer Anerkennung werth." Diese Motive waren bekannt, wie im Jahre 1866 das Gesetz für die Offiziere festgesetzt wurde; das Gesetz wurde damals festgesetzt, weil die Pensionen für die Offiziere im Allgemeinen für zu widrig gehalten wurden. Trotz­ dem erweiterte man im Jahre 1867 die Pensionszulage nicht auf alle Beschädigten. Auch das Königreich Bayern, welchem unser Gesetz bekannt war, und welches im Jahre 1868 ein dem norddeutschen Gesetz sehr entsprechendes Gesetz gemacht hat, hat diese Verhältnisse wohl gewürdigt, und hat es dabei gelassen, daß man nur die Verwundeten expreß berücksichtigen wolle. Abg. Dr. Wehrenpfennig: M. H., ich muß wohl annehmen, daß der Herr Regierungskommissar bei den Ausdrücken, die er gebrauchte, als er sagte: der Offizier habe das Ehrgefühl in ganz anderer Weise walten lassen wie der Gemeine, — ich meine, daß er die Wirkung, die dieser Ausdruck mit Recht haben würde auf dieses Haus, wohl vorher nicht ganz genau erwogen hat. Wenn der Herr Regierungskommissar gemeint hat, daß unsere Offiziere es verstanden haben, in den Tod zu gehen — so sehr ver­ standen haben, daß ja ihr oberster Kriegsherr ihnen sagen mußte, sie müßten sich we­ niger exponiren, damit er ein Ofsizierkorps behalte —: so wissen wir ja Alle das sehr wohl, und wir haben die höchste Anerkennung und Achtung vor ihrer Tapferkeit; im Allgemeinen aber von dem deutschen Krieger, von dem Gemeinen zu sagen, er lasse in geringerem Grade das Ehrgefühl walten als der Offizier, das scheint wir eine Sprache zu sein, die nicht zulässig ist. (S. r.! l.) Wenn der Herr Kommissar nun weiter aus­ geführt hat, daß man früher diese Zulage, um die es sich hier handelt, auf die wirklich Verwundeten beschränkt habe, so gebe ich ja zu, daß finanzielle Bedenken ernster Art diese Beschränkung früher hervorgerufen haben. Es ist ja auch von dem Herrn Abg. Buhl nicht geleugnet, daß dieser Paragraph manche Hunderttausende kosten kann; es kann möglich sein, daß es sich hierbei um ein Objekt von 6—800,000 Thaler handelt. Wenn nun der Herr Regierungskommissar, um uns von diesem Anträge abzurathen, weiter die Andeutung gemacht hat, daß die Lazarethe zwar von Gemeinen überfüllt ge­ wesen seien, aber niemals von Offizieren, so gestehe ich, daß auch diese Andeutung mich

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verletzt hat, nicht als ob die Thatsache selbst nicht habe vorkommen können; man darf aber aus solcher einzelnen Thatsache nicht eine allgemeine Regel ziehen und öffentlich aussprechen, die Lazarethe seien von Gemeinen angefüllt gewesen, aber nicht von Of­ fizieren — denn was das sagen will, das liegt ja zu Tage; — (Stimme l.: unverwun­ deten!) ja unverwundeten; die Thatsache läßt sich auf verschiedene Weise erklären. Es ist ja klar, daß der Gemeine sich vielfach weniger schützen kann vor den Strapazen, daß er weniger Gelegenheit hat, seine Kräfte wieder zu restauriren aus dein einfachen Grunde, weil er mittelloser ist als der Offizier. Ich sollte also meinen, daß zu einer Zeit, wo ja alle Welt die Vortrefflichkeit und kriegerische Tüchtigkeit unserer Offiziere anerkennt, wo aber auch alle Welt weiß, was unsere ganze Armee in allen ihren Gliedern geleistet hat, man sich hüten sollte, Derartiges auszusprechen. (S. w.!) M. H., wenn die vorgeschlagene Erweiterung auch ein erhebliches finanzielles Resultat ergiebt, so frage ich: nach welcher Gerechtigkeit soll der Soldat, der aus dem Kriege zurück­ gekehrt und verwundet worden ist, die bestimmte Erhöhung von 2 Thlr. bekommen, und nach welcher Gerechtigkeit soll der Soldat, der aus dem Kriege zurückkehrt, zwar ohne eine Verwundung, aber durch die Strapazen des Krieges elend und schwach geworden, — elend und schwach vielleicht viel mehr als jener Verwundete — leer ausgehen? Es fallen ja doch mehr oder mindestens eben so viele in Folge der Strapazen der Er­ werbslosigkeit anheim, als in Folge der Verwundung. Warum sollen nun diejenigen, die diesem ersteren vielfach traurigeren Loose verfallen, in diesem Paragraphen nicht berücksichtigt werden können? Wenn wir die Zahl von 120,000 Mann für den vor­ jährigen Krieg berechnen, die im Ganzen verwundet wurden, so gebe ich zu, es ist möglich, daß es vielleicht 30,000 sind, die in die Erweiterung fallen würden, welche wir zu machen wünschen, also, daß um den vierten Theil vielleicht der Betrag des Ganzen sich erhöht. Ich bin aber außer Stande zu sagen, mit welcher Gerechtigkeit wir diejenigen Leute ausschließen sollen, die durch den Krieg thatsächlich in eine ebenso unglückliche, vielleicht noch unglücklichere Lage gerathen sind als die Verwundeten. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Staats- und Kriegsminister v. Roon: M. H., ich befinde mich in der unangenehmen Lage, daß ich über ein Mißverständniß weiter sprechen muß, was offenbar hier stattgefunden hat und zwar nicht sowohl wegen der Töne der Mißbilligung, die während der Rede des Herrn Hauptmann von Plötz laut geworden sind, als vornehmlich wegen der, wie ich glaube, wohlgemeinten Be­ schönigungsversuche des Herrn Vorredners — ich glaube: wohlgemeinten Versuche, die Sache nicht so schlimm darzustellen, wie sie eigentlich einer großen Zahl von Mit­ gliedern des Hauses erschienen ist, und ich muß bemerken, daß, wenn ich auch gewünscht, hätte, daß Herr von Plötz eine andere Ausdrucksweise gewählt hätte, (h.!) nichts destoweniger die nackte Thatsache von Niemand wird geleugnet werden können, daß, wenn wir eine gleiche Anzahl von Mannschaften einer gleichen Anzahl von Offizieren gegen­ über stellen, doch offenbar das Kapital an Ehrgefühl auf der einen Seite größer sein wird wie auf der anderen. (W. l.) Wir sind doch noch nicht auf den Standpunkt angekommen, daß wir jeden, auch den letzten Mann, zum Offizier machen könnten, weder wegen seiner geistigen und wissenschaftlichen Ausbildung noch wegen der morali­ schen Steigerung, die wir für die ganze Nation wünschen, die aber bis jetzt wenig­ stens nicht in dem Maße eingetreten ist, daß man hier von ganz gleichen Gründen sprechen könnte! Ich habe das nur erklären wollen. Zch hätte gewünscht, Herr v. Plötz hätte nicht durch den allerdings nur sehr kurzen Ausdruck herausgefordert; allein ich muß mich zu seiner Ehrenrettung insofern auf seine Seite stellen, als der Gedanke, der ihn zu dem Ausdrucke veranlaßt hat, vollständig richtig ist. Abg. von Mallinckrodt: M. H., ich meinerseits vermag auch nicht einmal irgend welche Provokation zu erkennen; ich verstehe eigentlich nicht die Empfindlichkeit, die von einzelnen Seiten des Hauses laut geworden ist. Ich meine, daß es eine vollständig anerkannte und gewürdigte Thatsache ist, daß verhältnißmäßig der Verlust unter den Offizieren sehr viel größer war als der unter den Mannschaften, und wenn Sie nach den Ursachen fragen, dann läßt sich die Ursache zu einem Theile

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darauf zurückführen, daß die Offiziere in mancher Beziehung mehr exponirt sind als die Mannschaften. Es läßt sich aber eben so sehr und zu einem mindestens gleich großen Theile auch darauf zurückführen, daß sie sich mehr exponiren als die Mannschaften. (S. r.! r.) Das finde ich auch vollständig in der Ordnung. Zch bin der Meinung, der Offizier muß seiner Mannschaft mit gutem Beispiele vorangehen; er muß sich mehr exponiren! (S. w.! r.) Nennen Sie das Treibende dabei „Pflicht", nennen Sie es „Ehrgefühl" — darauf kommt es mir nicht an; aber es ist, wie man in gewöhnlicher Ausdrucksweise sagen würde, seine ganz verfluchte Pflicht und Schuldigkeit, und da sehe ich nicht ein, was Merkwürdiges dabei ist, wenn man das ausspricht. — Nun aber, um auf den eigentlichen Gegenstand zu kommen, der uns hier vorliegt, so weiß ich nicht, wie uns der § 70 überhaupt auf eine solche Parallele geführt hat zwischen dem Ver­ halten der Offiziere und dem Verhalten der Mannschaften. Mir scheint hier bei § 70 und bei dem Amendement von Bonin nur die Frage vorzuliegen: soll eine außergewöhn­ liche Zulage außer der normalmäßigen Pension noch gewährt werden im Falle der Verwundung? oder soll, wie Herr von Bonin vorschlägt, die außergewöhnliche Zulage in allen Fällen gewährt werden, wo während des Krieges die Invalidität entstanden ist? Ich für meine Person kann mich nicht dazu entschließen, dem Anträge von Bonin beizutreten; er greift etwas zu rvekt. Ich sehe nicht ein, warum derjenige, der während des Krieges in seiner Gesundheit Schaden leidet und dadurch Invalide wird, wesentlich günstiger gestellt werden soll als derjenige, der während des Friedens an seiner Gesundheit Schaden leidet; Beides geschieht im Militärdienst, Beides geschieht in der Pflichterfüllung. Man hat für die Invaliden bestimmte Pensionssätze festgesetzt und zwar in 5 Klaffen, man fügt außerdem noch in außergewöhnlichen Fällen von Verstümmelung Zulagen in namhaften Beträgen hinzu; wie soll man nun dazu kommen, überdem noch für — ich darf wohl sagen — alle Fälle der aus dem Kriege herrührenden Invalidität zu der Normal­ vergütung noch eine andere Vergütung hinzuzufügen. Abg. Miquel: M. H., ich will aus die peinliche Einleitung der Diskussion nicht weiter zurückkommen, ich glaube aber, den Bemerkungen des Herrn Kriegsministers gegenüber, die mißfälligen Laute, die sich hören ließen bei Gelegenheit der Rede des Hauptmann von Plötz, doch in Schutz nehmen zu müssen. Zch glaube, nach einem Kriege, wie wir ihn gehabt haben, wo alle Grade, Gemeine und Offiziere in jeder Beziehung ihre Schuldigkeit gethan haben, wo Jeder einen gleichen Grad von Tapfer­ keit, Vaterlandsliebe und Aufopferung bewiesen hat, war es jedenfalls peinlich zu hören, daß hier eine Untersuchung darüber angestellt wird, wer einen größeren Grad von Ehr­ gefühl hat. Die Zahlenstatistik in Bezug auf das Verhältniß der Verluste auf Seiten der Gemeinen und der Offiziere kann man doch ganz anders begründen, wie das hier mit Recht bereits geschehen ist, und man braucht dafür jedenfalls solche Gründe, selbst wenn man sie für richtig hält, was ich aber in dieser Beziehung bestreite, nicht anzu­ führen; es war also natürlich, daß dies peinlich empfunden wurde. Ich würde aber sehr bedauern, wenn über diesen Jncidenzsall die Sache selbst, nämlich der Antrag, der hier gestellt ist, in den Hintergrund träte. Ich glaube, es ist wichtig, daß wir uns so sachlich und eingehend wie möglich mit diesem meines Erachtens so höchst wichtigen und gerechten, durch die Verhältnisse gebotenen Antrag beschäftigen und nicht auf den Gegenstand noch weiter zurückkommen. M. H., ich würde gegen die §§ 64, 65, 66, 67 zu stimmen mich verpflichtet gehalten haben, wenn ich nicht die Hoffnung gehabt hätte, daß der Antrag, wie er zum § 70 gestellt ist, angenommen werden würde. Zch habe hei Gelegenheit der Generaldebatte über dieses Gesetz bereits gesagt, daß die ganze Nation die heilige Pflicht hat, diejenigen Soldaten, welche durch den Krieg vollständig erwerbsunfähig geworden sind, in jeder Beziehung zu schützen vor Noth und Elend, und daß wir es nach den Erfolgen dieses Krieges und nach dem Grade des Reichthums und Wohlstandes, den die Nation erreicht hat, unter keinen Umständen verantworten können, die vollständig Erwerbsunfähigen wieder mit der Drehorgel umherbetteln zu sehen; wir sind verpflichtet, ihnen einen anständigen Lebensunterhalt zu sichern. (Z.) Wenn nun aber die Invaliden der ersten und zweiten Klasse der gemeinen Soldaten

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hier mit zehn und sieben Thalern monatlich auch dann bedacht sind, wenn re völlig erwerbsunfähig sind, so sage ich, das ist viel zu wenig, wenn man nicht voraussetzt, daß andere Umstände ihnen noch Zulagen sichern. Denjenigen, die verstümmelt fund, hilft in den meisten Fällen der § 71; denjenigen aber, die ohne Verwundung ooch aus dem Kriege durch Epidemien, Ueberanstrengung u. s. w., vollständig erwerbsunfähig ge­ worden sind, wird nicht geholfen; es muß ihnen aber geholfen werden, denn oie Sätze von zehn und sieben Thalern sind faktisch zu niedrig, und wir würden in dieser Be­ ziehung unsere Schuldigkeit nicht thun. — M. H., nun kann man sagen: wir wissen ja gar nicht, welche Summe das ausmacht, wenn wir ein solches Amendement annehmen, und wir können doch nicht ins Blaue hinein Ausgaben bewilligen, deren Betrag wir nicht übersehen. Da sage ich aber wiederum: wenn ich auch nicht übersehen kenn, wel­ cher Betrag in Frage steht, so muß er doch, er mag so hoch oder niedrig sein, wie er wolle, aufgebracht werden, und, m. H., wenn wir eine Kriegsentschädigung wn sieben Milliarden bekommen, (H. Rus: Fünf!) so kann er auch jedenfalls aufgebracht werden; in allen Fällen aber sind- wir reich genug, selbst durch einen Steuerzuschlag diese Pflicht zu erfüllen. Ich möchte daher dringend bitten, dieses Amendement anzunehmm. Abg. Lasker: M. H., ich kann auch aus der freien Kommission bestätigen, daß mehrere ihrer Mitglieder Abstand genommen haben, 'bei den Sätzen im § 64 eine Er­ höhung zu beantragen, mit Rücksicht aus unsere Vorschläge zu § 70 und 71, die wir für sachgemäß hielten. Uns hat bei diesen Anträgen die Voraussetzung geleitet, daß selbst, wenn die Ganzinvaliden, die es durch den Krieg geworden sind, die Wohlthat des tz 70 durchweg erhalten, damit unsere Intention erreicht sein würde, denn wir wollen eigentlich allen Ganzinvaliden, die es durch den Krieg geworden sind, die Zu­ lage gewähren. Nur mit Rücksicht auf diese Erweiterung haben wir Abstand davon genommen, auch für die Friedenspensionen eine Erweiterung der Klassen in § 64 zu beantragen. Dann, m. H., glaube ich doch sachlich auf die Bemerkung zurückkommen zu müssen, die leider in bedauerlicher Form gemacht worden ist, auf den Unterschied zwischen Offizieren und Gemeinen. (U. u. M. r.) M. H., ich glaube doch darauf zurückkommen zu müssen. Es thut mir sehr leid, daß durch eine Sprechweise, die nicht parlamentarisch gewählt ist, die Sache vor das Publikum gebracht worden ist; aber sie ist doch nun einmal vor das große Publikum gebracht, und wir wünschen nicht, daß die andere Seite unvertreten ble'.be; Einzelne von Ihnen mögen dies vorziehen, indessen das Rederecht besteht darin, daß derjenige, der das Wort hat, das vertritt, was seine Ansicht ist, und nicht die Ansicht seiner Hörer. Also in dieser Beziehung habe ich noch anzuführen, daß es dem Herrn Vertreter der Bundesregierungen — ich meine, dem jüngsten Mitgliede — so ergangen ist, wie es Statistikern häufig geht, daß sie die rohen Zahlen schlecht verarbeiten und falsche Schlüsse daraus ziehen. Er hat nach einem, wie ich glaube, nicht richtigen Zdeengang die größere Verwundung und Beschädigung der Offiziere zurückgeführt auf ein größeres Maß von Ehrgefühl, und irre ich nicht, so war es nicht die Thatsache, die hier Ueberraschung hervorgerufen hat, sondern die Zu­ sammenstellung der Motive mit der Thatsache. (S. r.!) Der Herr hat vergessen, daß, selbst wenn die Offiziere, die in der Armee fochten, größeren Gefahren freiwillig sich aussetzen, andere Unterschiede Platz greifen, die mit dem von ihm bezeichneten krassen Unterschiede nichts zu thun haben. Einer dieser Unterschiede ist auch darin zu suchen, daß der Berufssoldat manche andere Gewohnheit pflegt, als derjenige, der vorübergehend aus dem Friedensstande in den Dienst berufen ist, und in dieser Beziehung müßten Sie die Unteroffiziere, die gleichfalls als Berufssoldaten dienen, in Vergleich bringen mit den Offizieren. Unter den Gemeinen haben wir glücklicherweise entweder gar keine oder nur sehr wenige als gediente Soldaten; wenn aber die Unteroffiziere mit den Offizieren zusammengestellt werden, so bin ich überzeugt, daß in jeder Beziehung gleiche Erscheinungen hervortreten, vielleicht sogar statistisch die Zahl der Verwundungen sich gleich stellt, — was ich in diesem Augenblicke nicht weiß. Sicher aber wird nicht be­ hauptet werden, daß der Eine nicht in dem gleichen Maße die Gefahr auf sich nimmt wie der Andere. Es ist also nicht richtig gewesen, aus dem Grad des Ehrgefühls

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einen Unterschied herzuleiten, sondern soweit ein solcher Unterschied existirt, ist er zum Theil auf die Pflichten und Eigenthümlichkeiten des Dienstes zurückzuführen und zum Theil auf den Unterschied, der zwischen den Berufssoldaten und Nichtberufssoldaten be­ steht. Zn keinem Falle war es nöthig, in diesem Hause eine Verschiedenheit zwischen den beiden Arten der Soldaten geltend zu machen und Anschauungen zu verrathen, welche, wie ich fürchte, nicht dazu beitragen würden, die versöhnliche Stimmung zu ver­ stärken, welche die Berathung dieses Gesetzes beherrscht. Ich freue mich aber, daß die Aeußerung von allen Seiten zurückgewiesen worden ist, und daß in diesem Hause eine Verschiedenheit der Meinung über die entgegengesetzte Ansicht nicht besteht. Die Anträge des Abg. v. Bonin werden mit großer Majorität angenommen. Auf § 71 bezieht sich die vom Abg. Graf Kleist beantragte Resolution: Der Reichstag wolle beschließen: „Das Gesetz genügt der Verpflichtung angemessener Fürsorge für die Opfer des jüngsten Krieges gegen Frankreich in allen den Fällen nicht, wo es sich um „Ver­ sorgung" solcher „Militärpersonen der Unterklassen, sowie deren Hinterbliebenen" handelt, welche dem Beurlaubtenstande bereits angehörig, nach Maßgabe ihrer Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft die Mittel zu ihrer Existenz durch die gesetzmäßigen Bewilligungen auch nicht annähernd empfangen. — Der Reichstag beschließt, den Herrn Reichskanzler an Stelle ausdrücklicher Ermächtigung zu ersuchen, im Verein mit den Militärbehörden des Reiches veranlassen zu wollen, daß den bezeichneten Militär­ personen der Unterklassen sowie deren Hinterbliebenen im Falle der Bedürftig­ keit die Beträge bewilligt werden, wie sie durch §§ 13 und 47 des Gesetzes als Pensionserhöhungen für Offiziere rc. des Reichsheeres und der Kaiserlichen Marine und durch §§ 41, 42 und 47 für die Hinterbliebenen der Hauptleute und Subaltern­ offiziere vorgeschrieben sind." und der Antrag der Abg. v. Bonin u. Gen.: § 71 Alinea 3 die Littr. d zu fassen wie folgt: „d. bei solchen schweren Schäden an sonstigen wichtigen äußeren oder inneren Körpertheilen, welche in ihren Folgen für die Erwerbsfähigkeit einer Verstümmelung gleich zu achten sind." Der Antrag wird mit großer Majorität angenommen, die Resolution abge lehnt. Auf § 77 bezieht sich der Antrag der Abg. v. Bonin u. Gen.: in Alinea 1 Zeile 1 hinter „Ganzinvalide" einzuschalten „mit ihrer Zustimmung". Bundeskommissar Hauptmann von Plötz: Ich habe zu erklären, daß es aller­ dings von Seiten der verbündeten Regierungen für selbstverständlich gehalten worden ist, daß ein Invalide ohne seinen Wunsch in ein Jnvalideninstitut nicht eingestellt werden kann, weil das eine Freiheitsentziehung sein würde, während der Invalide ja positiv aus allen Militärverhältnissen bereits ausgeschieden ist. Eine solche Andeutung ist auch in den Motiven enthalten, woraus sich ergiebt, wie die Regierung zu den Znvalideninstituten steht. Der Zusatz wird angenommen und mit ihm der § 77. Auf § 88 bezieht sich der Vorschlag der Abg. v. Bonin u. Gen. im Alinea 2 statt „durch Verwundung vor dem Feinde" zu setzen „nachweislich durch den Krieg." Diese Abänderung wird genehmigt. Auf § 89 bezieht sich der gleiche Antrag derselben: in Zeile 4 statt „durch Ver­ wundung vor dem Feinde" zu setzen „nachweislich durch den Krieg" und wird eben­ falls genehmigt. Die §§ 90, 91 und 92 mit der Einschaltung hinter „Marine" „und auf die sonstigen im Dienste der kaiserlichen Marine beschäftigten Lootsen", sowie § 93 werden angenommen. Es handelt sich noch um die Ueberschrist. Die Überschrift in der Vorlage lautet: „Unterstützung von Wittwen und Waisen." Statt dessen wird von den Abg. v. Bonin u. Gen. vorgeschlagen: „Unterstützung von Hinterbliebenen", von dem Abg. Freiherrn v. Ketteler u. Gen.: „Bewilligungen für Hinterbliebene."

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Abg. Freiherr von Ketteler (Paderborn): Ich ziehe meinen Antrag zurück. Abg. Lasker: Zch nehme den Antrag: „Bewilligung für Hinterbliebene" wieder auf. Nach Ablehnung des ersten Antrages wird der des Abg. v. Ketteler (Lasker) angenommen. Zwei Anträge der Abg. v. Bon in u. Gen. im § 93, Alinea 1 unter Littr. c nach den Worten „in Folge" und vor „der klimatischen Einflüsse" einzuschalten „einer militärischen Aktion oder" und am Schluß hinter den Worten „im Wittwenstande bleiben" einzuschalten „und im Falle der Wiederverheirathung noch für ein Jahr" werden an­ genommen. § 94 wird angenommen. Inmitten der Diskussion über § 95 vertagt sich das Haus. Fortsetzung am 7. Juni 1871. Es liegt zu § 95 vor: 1) Der Antrag des Abg. v. Mallinckrodt: Beihülfen bis zu den gleichen Beträgen und für die Dauer der Bedürftigkeit können auch den Eltern bewilligt werden, deren einzige Ernährer die oben genannten Offiziere oder im Offizierrange stehenden Militairärzte der Feld­ armee waren. 2) Der Antrag der Abg. v. Bonin u. Gen.: Eine Beihülfe in gleichem Betrage erhält der Hinterbliebene Vater und die Hinterbliebene Mutter, sofern der Verstorbene der einzige Ernährer derselben war und so lange die Hülfsbedürftigkeit derselben dauert. Der Abg. Graf v. Rittberg hat zu diesem Anträge ein Sousamendement in Antrag gebracht, des Inhalts: Dieselbe Unterstützung kann dem Hinterbliebenen Vater und der Hinterbliebenen Mutter im Falle ihrer Bedürftigkeit gezahlt werden. 3) Der Antrag des Abg. Bethusy-Huc, dem tz 95 als zweites Alinea hinzu­ zufügen: Hinterläßt der Verstorbene (§ 93) Stiefkinder, deren Ernährer er war, so er­ halten diese dieselbe Unterstützung, als die eigenen Kinder. 4) Der Antrag des Abg. Dr. Wehrenpfennig dem § 42 als zweites Alinea hinzuzufügen: Eine Beihülfe in gleichem Betrage wie das vaterlose Kind, erhält der Hinter­ bliebene Vater und die Hinterbliebene Mutter, sofern der Verstorbene der einzige Ernährer derselben war, und so lange die Hülfsbedürftigkeit derselben dauert. — Königlich preußischer Bundeskommissar Major von Blücher: Ich bin beauftragt, mich unter den gestellten Amendements für dasjenige zu erklären, welches erstens eine verhältnißmäßig gleiche Berücksichtigung der oberen und unteren Klassen einführt und welches zweitens die Bewilligungen, die hier stattfinden, zu fakultativen Bewilligungen macht. M. H., allen Bewilligungen, von denen hier die Rede ist, liegt die Unterstellung zu Grunde, daß das Vaterland, der Staat in die Pflichten als Ernährer, in die Pflichten als Erzieher der Hinterbliebenen eintrete; der Staat ist Erbe dieser Pflicht, der Staat kann dieser Erbschaft nicht entsagen aus ethischen Gründen; es ist das auf allen Seiten des Hauses in beredten und warmen Worten bereits anerkannt worden. Je. bereitwilliger aber der Staat diese Pflichten übernimmt und je weiter er seine Er­ bietungen ausdehnt, desto größer wird auch der Umfang der Anforderungen sein, die auf diesem Gebiete an ihn gemacht werden; es kann da kommen, daß Anfordemngen noch da gemacht werden, wo das Pflichtenerbtheil des Staates ein sehr geringes, selbst wo es ganz Null ist. Wenn Sie, m. H., die Bestimmungen, die Sie hier treffen, zu obligatorischen Bestimmungen machen, dann kann es sehr leicht kommen, daß Gewährungen stattfinden müssen, wo ein wirkliches Bedürfniß nicht vorhanden ist, während auf der andern Seite in Fällen des wirklichen Bedürfnisses die Unterstützungen versagt werden

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müssen. Es ist gestern oder vorgestern von einigen Seiten des Hauses gesagt worden, es sei bedenklich, den Regierungen eine diskretionäre Gewalt bei so bedeutenden Be­ willigungen einzuräumen. Ich gestatte mir zu bemerken, m. H., daß Sie mit einer solchen diskretionären Gewalt den Regierungen kein angenehmes Geschenk machen. Es ist weit bequemer, in allen Fällen die Schablone des Gesetzes anzulegen, als in jedem einzelnen Falle das wirkliche Bedürfniß gewissenhaft zu prüfen. Ich empfehle deshalb dringend, andere Unterstützungen als die an Wittwen und Kinder, die hinterblieben sind, nur zu fakultativen Unterstützungen zu machen. Abg. Herz: M. H.! Zn Konsequenz meines zu § 39 gestellten Antrages, der auch gestern zum Beschlusse des Hauses erhoben wurde, beantrage ich, als Alinea 2 des § 95 zu setzen: „Dieselbe Unterstützung erhalten der Hinterbliebene Vater und die Hinterbliebene Mutter, desgleichen die Großeltern, sofern der Verstorbene der einzige Ernährer derselben war." Abg. Graf Bethusy-Huc: M. H., ich glaube, daß, wenn Sie die Absicht des gegenwärtigen Gesetzes realisiren wollen. Sie mit Nothwendigkeit dem von mir gestellten Amendement, betreffend die Dotirung von Hinterbliebenen Stiefkindern, werden zustimmen müssen. Es kann die Absicht des Gesetzes nicht sein, den wirklichen Vater zu ersetzen; es kann die Absicht des Gesetzes ebensowenig sein, sich der gleich unmöglichen Aufgabe zu unterziehen, den moralischen Vater — verzeihen Sie den Ausdruck, aber ich glaube, er ist verständlich — zu ersetzen; die Absicht des Gesetzes kann sich lediglich darauf be­ schränken, diejenigen pekuniären Nachtheile, welche die Hinterbliebenen durch das Dahin­ scheiden ihres natürlichen und verpflichteten Ernährers treffen, auszugleichen. M. H., ich habe die Frage der Bedürftigkeit absichtlich aus meinem Amendement ausgelassen, weil ich die Staatsregierung von der immerhin schwierigen Prüfung derselben in ihrem eigenen Interesse befreien wollte. Ich möchte Sie auch darauf Hinweisen, daß, wenn Sie die Amendements, denen ich meinerseits herzlich zustimme, welche sich auf die Zuwilligung von Unterstützungen an hochbetagte Eltern beziehen, annehmen, diesen Amen­ dements ganz dieselbe ratio legis zu Grunde liegt, wie den von mir gestellten, da in beiden Fällen von' Staatswegen die Erbschaft der Verpflichtung anzutreten ist, welche der verstorbene Ernährer selbst erfüllen könnte, wenn er nicht auf dem Felde der Ehre geblieben wäre. Ich glaube also, daß die Herren Antragsteller von Amendements, welche sich auf die Eltern beziehen, und ich mit meinem Amendement gegenseitig moralisch verpflichtet sind, unsere beiderseitigen Amendements zu unterstützen, und ich bitte auch diejenigen Theile des Hauses, welche nicht solche Amendements gestellt haben, im Sinne des Gesetzes den von beiden Seiten gestellten Amendements zuzustimmen. (Der Antrag­ steller giebt jetzt seinem Anträge folgende Form: „Hinterläßt der Verstorbene (§ 93) Stiefkinder, deren Ernährer er war, so können diese dieselbe Unterstützung als die eigenen Kinder erhalten.) Abg. von Mallinckrodt: Mein Amendement unterscheidet sich wesentlich von allen denjenigen, die in Bezug auf die Eltern vorliegen, dadurch, daß ich vorschlage, den hinterbleibenden Eltern eine Beihülfe zu geben, die den Wittwenpensionen entspreche, während alle andern Anträge nur Beihülfen wollen, welche den Unterstützungen der Kinder, den Kinder-Erziehungsgeldern gleich sind. Es liegt also in Bezug auf die Höhe der Unterstützungen ein nicht unerheblicher Unterschied vor. Dann ist ein zweiter Unterschied der, daß ich vorgeschlagen habe, die wirkliche Bewilligung von der Beurtheilung des jedesmaligen Falles abhängig zu machen, sie also fakultativ zu stellen, während in andern Anträgen ein für alle Mal ausgesprochen ist: die Eltern haben das Recht, es unbedingt zu verlangen. Dies find meines Dafürhaltens die einzigen Gegensätze in Bezug auf die Eltern. Es ist durchaus nicht meine Meinung, daß, wenn beide Eltern überleben, man dem Vater den ganzen Betrag geben solle, und außerdem der Mutter auch noch einmal, also das Doppelte. Abg. Freiherr von Hov erb eck: M. H., ich will nur die Schwierigkeit hervor­ heben, in der wir uns bei der Verhandlung dieser ganzen Materie befinden. Wenn ich gefragt werde: soll für die Hinterbliebenen der in diesem Kriege Gefallenen

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Gesetzentwürfe.

Dies oder Jenes bewilligt werden? so werde ich ganz so weit gehen, wie die Vorschläge nur von irgend einer Seite gemacht werden. Zch glaube, die finanziellen Folgen können mich nicht verhindern; es ist das Geld dazu da, um diese Pflicht des Staates gegen die Hinterbliebenen zu decken, und ich glaube, wir würden in dieser Beziehung Alle einig sein. Nun aber ist unglücklicherweise der prinzipielle Fehler in dieser Gesetzes­ vorlage, daß das, was für die Invaliden und Hinterbliebenen dieses Krieges gelten soll, ganz allgemein gemacht wird, und deswegen sind wir immer in Verlegenheit, ent­ weder die Invaliden und Hinterbliebenen dieses Krieges zu berauben und finanziell für die Zukunft zu sorgen, oder uns für alle Zukunft eine Last aufzuladen, deren fernere Tragweite wir gar nicht übersehen können. Das ist ein Grundfehler dieses Gesetzes, und ich wollte nur noch einmal darauf Hinweisen. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter, Staats- und Kriegsminister von Roon: M. H., in Parenthese will ich, in Bezug auf die Vorwürfe, die dem Gesetz­ entwürfe gemacht worden sind, weil er die Offiziere, und daß er die Invaliden des jetzigen Krieges nicht von den Invaliden überhaupt gesondert habe, nur bemerken, daß die Regierungen mit ihrem Gesetzentwürfe einem Beschlusse des norddeutschen Reichs­ tages zu entsprechen geglaubt haben. Der Herr Präsident des norddeutschen Reichstages hat dem Bundeskanzler unter dem 10. Dezember mitgetheilt: Der Reichstag des norddeutschen Bundes hat in seiner heutigen Sitzung auf die Peti­ tionen — nun werden sie aufgezählt — fünftens vom Landrath des untern Taunuskreises wegen „Erhöhung des Unter­ stützungsbetrages, welcher durch das Gesetz vom 9. Februar 1867 für die Hinter­ bliebenen gefallener Krieger" festgestellt ist, den Beschluß gefaßt, die gedachte Petition dem Herrn Reichskanzler zur Erwägung und mit dem Ersuchen zu überweisen, dem nächsten Reichstage ein allgemeines Gesetz übereine anderweite Regulirung der Pension der Offiziere und Soldaten, sowie der Unterstützung der Wittwen und Waisen der gefallenen Krieger des gesammten deutschen Heeres vorzulegen. Zch kann nicht die Absicht haben, durch diese Mittheilung eine Diskussion hervorzurufen über die Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit der Vorlage. Sie hat nur den Zweck, zu erklären, wie man darauf gekommen ist, ein solches allgemeines Gesetz zu entwerfen. Man hat damit geglaubt, dem Beschlusse des Reichstages des norddeutschen Bundes zu entsprechen. Abg. Freiherr von Hoverbeck: M. H., ich bin bei dem betreffenden Beschlusse selbst mit dabei gewesen und kann wohl das konstatiren, daß eine große Zahl von Mit­ gliedern des Hauses, während sie diesen Beschluß faßten, keineswegs der Frage präjudiziren wollten, ob die zukünftigen Verhältnisse so geregelt werden sollten, daß ein für alle Mal nur das Gleiche bewilligt werde, oder ob eventuell nach einem glücklichen Kriege für die betreffenden Invaliden und Hinterbliebenen auch noch besonders in her­ vorragender Weise gesorgt werden könne. Zch glaube, es ist doch ein Unterschied, ob wir nach einem glücklichen Kriege fünf Milliarden für dergleichen Zwecke zur Verwen­ dung haben, oder ob, wenn ein Krieg einmal unglücklich ausfallen sollte — und davor find wir doch unmöglich ganz gesichert — wir 5 Milliarden statt dessen zu bezahlen gehabt hätten. Würden Sie in letzterem Falle auch ganz dieselbe Bewilligung aus­ sprechen wollen? - Abg. Ludwig: Erlauben Sie mir nur ein paar Worte, um meinen Standpunkt zum vorliegenden Paragraphen des Gesetzes zu beweisen. Ich wüßte keinen Paragraphen des Gesetzes, der auf mich, und so viel ich weiß auf einen großen Theil der deutschen Bevölkerung einen so unangenehmen Eindruck gemacht hätte, als gerade dieser § 95; nicht etwa blos aus dem Grunde, weil eine kleine Differenz zwischen den Bewilligungen für Offizierskinder und zwischen denen für Kinder der gewöhnlichen Soldaten vorhanden ist, sondern weil man es für nothwendig erachtet hat, die Erziehungsbeihülfe für die Offizierskinder bis zum 17. Jahre auszudehnen, für die Kinder der gewöhnlichen Sol-

baten nur bis zum 15. Jahre. Ich verstehe nicht, welchen Grund man zu dieser letzteren Einschränkung hat haben können; so viel ich weiß, sind die Kinder des Einen sowohl wie des Andern bis zum gleichen Alter hülfsbedürftig und nicht erwerbsfähig, es kann der Stand in dieser Beziehung keinen Unterschied machen. Irre ich nicht, so hat bereits der Herr Abg. Lasker in der freien Kommission ebenfalls den Grundsatz aufgestellt, beide Klassen der Bedürftigen gleich zu bedenken. Es ist ein besonderer Antrag nicht gestellt worden, ich werde mir aber für die dritte Lesung die Stellung desselben vorbehalten. Ich kann nicht glauben, das man es ohne weiteres vor seinem Gewissen verantworten kann, daß die Kinder derjenigen, die auf ein und demselben Felde der Ehre für ein und dieselbe große Sache des Vaterlandes durch den Tod vereint worden sind, in solcher Weise getrennt und in Klassen geschieden werden. Abg. Lasker: Zum Worte habe ich mich gemeldet, weil der Herr Abg. von Haver­ beck seinen Einspruch wegen der zukünftigen Kriege, die ich übrigens nicht gern erwähnen höre, an der unrichtigen Stelle angebracht hat. Bei dem Paragraphen, mit welchem wir es jetzt zu thun haben, handelt es sich um eine nothdürftige Unterstützung an die­ jenigen, welche in dem nächsten Verwandtschaftsverhältniß zu dem Gefallenen stehen, bis dahin von ihm ernährt worden sind und nun ihren einzigen Ernährer verloren Haben. Wenn irgend wo die Schuld des Staates vorhanden ist, die er unter allen Umständen bezahlen muß, er mag glücklich oder unglücklich kämpfen, so ist gerade in diesem Paragraphen die rechte Stelle. M. H., ich höre es überhaupt nicht gerne, wenn zur Motivirung dieses Gesetzentwurfs angeführt wird: wir haben 5 Milliarden erhalten und das Kriegsheer habe sich selbst diesen Preis erkämpft. Diese Anschauung ist für mich eine veraltete und mit den heutigen staatlichen Umständen unvereinbar. Der Soldat erkämpft nichts für sich. Die Entschädigung der 5 Milliarden ist gefordert aus dem Grunde, weil uns durch diesen ungerechten Krieg eine so große Beschädigung unseres volkswirthschaftlichen Wohlstandes herbeigeführt worden ist, daß vermuthlich der indirekte Schaden auch durch die 5 Milliarden nicht gedeckt wird. Aber gleichviel, ob ein Krieg glücklich oder unglücklich geführt wird; wem in dem nächsten Verwandten der einzige Ernährer genommen ist, dem werden Sie das Nothwendigste und Nothdürftigste nicht versagen können. Sollte, was Gott verhüten möge, je einmal ein solcher Zustand ein­ treten, daß wir diese Forderungen nicht befriedigen können, so erachte ich den Staat materiell für bankerott, und es ist bann nicht das Gesetz zu tadeln, welches derartige Zuwendungen giebt, sondern es würde durch einen Kriegszustand der Bankerott des Staates herbeigeführt sein, in welchem er dringende Schulden nicht mehr abzutragen im Stande wäre. (Z.) Man soll die Kriege mit äußerster Vorsicht vermeiden, besonders wenn der Staat auf ein Volksheer sich stützt. Wir sollen durch allgemeine Mittel, durch Bildung, durch alle Hülfsmittel unserer öffentlichen Verhältnisse darauf hinwirken, daß die Kriege sich vermindern, und so weit meine Einsicht reicht, ist von Deutschland seit Gedenken kein Angriffskrieg geführt, worden, sondern alle drei Kriege, die wir jüngst erlebt haben, waren Kriege im Namen der deutschen Nationalität, die wir nur als Ver­ theidigungskriege geführt haben, gleichviel ob die Form des Angriffs auf unserer Seite war. (IX.) Za, m. H., so lebt es auch im Herzen unserer Feinde, wenn man es auch in anderer Weise darzustellen sucht; wir sind gegen Dänemark, gegen Oesterreich und gegen Frankreich in der Abwehr gewesen für die Herstellung der gefährdeten und vorenthaltenen deutschen Einheit, und ich bin überzeugt, daß wir auch in Zukunft keinen andern Krieg führen werden. (S. r.!) Deswegen lasse ich mich auch nicht von der Besorgniß leiten, daß etwa ein unglücklicher Krieg uns für die Zukunft die Mittel ent­ ziehen sonnte, die wir zur Unterstützung der bedürftigsten Hinterlassenen aufwenden müssen. Nach meinem Urtheil war die Bemerkung des Herrn von Hoverbeck bei diesem Paragraphen an der unrechten Stelle angebracht. (Br.!) Abg. von Bonin: M. H., zunächst will ich den Anführungen gegenüber, die vorhin in Bezug auf die erforderliche Gleichstellung der Dauer der Unterstützung für die Kinder der Offiziere und Mannschaften gemacht sind, geltend machen, daß diese Frage allerdings in der sogenannten freien Kommission zur Erörterung gekommen ist. Neichstags-Nepertorium I. ZH

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Wer aber die Verhältnisse des Lebens in Wirklichkeit und aus der Erfahrung tonnen gelernt hat, der wird mir darin beistimmen, daß der Unterschied zwischen den Kimdern der Offiziere und den Kindern der Mannschaften in Beziehung auf den Eirrritck der Erwerbsfähigkeit ein so großer ist, daß der Unterschied zwischen dem 15. und 17. Jahre kaum ausreichen dürfte. (S. r.! r.) M. H., die Kinder der Mannschaften erlangen , im großen Ganzen und im Durchschnitt mit dem vollendeten 15. Jahre die Möglichkeit, sich selbst ihren Unterhalt zu erwerben; (W. l.) bei den andern ist dies in keiner Beisse der Fall. Das waren die Gründe, die uns bestimmt haben, den Vorschlägen der Rrgtorung, die der Auffassung, wie sie im Lande seit langer Zeit besteht, vollkommen enchprechen, in keiner Weise entgegenzutreten. — Was nun aber die Ausdehnung der verschiedenen Unterstützungen auf die Großeltern, Stiefkinder, Geschwister u. s. w. betrifft, !o lassen Sie uns doch, m. H., auch hier die Grenze einhalten, wie ich schon bei verschiedenen Gelegenheiten zu bitten mir erlaubt habe, die wirklich durch das Bedürfniß geboten ist. Lassen Sie uns diese Gelegenheit nicht ergreifen, die Staatskasse zn einer allgemeinen großen Versorgungskasse zu machen. Wir wollen uns darauf beschränken, so weit die Mittel des Staates dazu ausreichen, die unmittelbaren Folgen, die durch den Tod des Ernährers der Familie herbeigeführt werden, auszugleichen, theilweise wenigstens; aber weiter zu gehen, halte ich unter keinen Umständeu für geboten. — Ich bitte Sie daher, t Hallen Sie an den Anträgen fest, die die freie Kommission Ihnen zu unterbreiten sich' erlaubt hat, und lehnen Sie alle weitergehenden Anträge ab. (Br.!) Abg. Freiherr von Hoverbeck: M. H., die Unterscheidung, die Stet Arr Vor­ redner so eben vorgetragen, die Unterscheidung zwischen den Kindern der Mannschaften und den Kindern der Offiziere, höre ich bei der in unserem Volke geltenden allgemeinen Wehrpflicht, worauf ich besonders aufmerksam mache, fast eben so ungern, als die Unterscheidung zwischen dem Ehrgefühl der Offiziere und dem Ehrgefühl der übrigen Mannschaften. (S. w.!) Dem Herrn Abg. Lasker aber will ich nur sagen, wenn er meint, die volle Genehmigung dieser Forderungen sei ohnehin nothwendig, so stimme ich in dieser Beziehung mit ihm überein. Ich will füt diese Bewilligungen stimmen; aber ich habe davon gesprochen, daß wir im Allgemeinen fordern müssen, daß uns von Seiten der Regierung die finanzielle Tragweite dieser Amendements klar gestellt werde. Ganz aber kann ich darin nicht mit ihm übereinstimmen, daß das Gegentheil der Ban­ kerott wäre, sonst, m. H., haben wir uns bis zu diesem Augenblick in einem fortgesetzten Bankerott befunden. (Die Abstimmung wird ausgesetzt.) Zu § 96 liegt der Antrag Dr. Lucius (Erfurt) u. Gen. vor, die §§ 94a und 95 in dem Paragraphen hinter dem Wort 94 einzuschalten. Der Antrag bleibt in der Minderheit. § 96 wird so angenommen, wie ihn die Vorlage der verbündeten Regierungen enthält. — Auf § 97 bezieht sich der Antrag der Abg. vonBonin u. Gen., den Paragraphen zu fassen: Hinsichtlich der Unterstützung von Hinterbliebenen der im § 93 bezeichneten Personen finden die in §§39 und 40 enthaltenen Bestimmungen Anwendung. Er wird mit großer Majorität angenommen. Die Abgg. v. Bonin u. Gen. beantragen hinter dem § 111 einen dritten Theil unter der Ueberschrift „Allgemeine Bestimmungen" beizufügen.*) Ueber den Vorschlag zu Abschnitt III. wird eine allgemeine Diskussion eröffnet. Abg. Dr. Wagner: M. H., wenn ich es versuche, dieses Amendement zu recht­ fertigen, so spreche ich zunächst aus, daß es keineswegs die Absicht der Antragsteller gewesen ist, damit irgend etwas Neues zu schaffen. Es besteht der allgemeine Grund­ satz: vermögensrechtliche Ansprüche, seien sie auch gegen die Staatskasse gerichtet, und *) Dieselben werden zu den einzelnen Paragraphen weiter unten aufgeführt. bezieht sich auf die Einführung des Rechtsweges.

Das Ganze

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mögen sie auch aus publizistischen Rechtsverhältnissen entstanden sein, können im Rechts­ wege verfolgt werden. Diesen Grundsatz hat auch das preußische Recht, und eben so die Vorlage anerkannt. Der Gesetzentwurf selbst indirekt: denn an mehreren Stellen hat er ausgesprochen, daß in gewissen einzelnen Fällen eine Verfolgung im Rechtswege nicht statthaben, sondern daß die Entscheidung der Militair-Verwaltungsbehörden maß­ gebend sein soll. Wenn das Gesetz das ausspricht, so muß es nothwendig von der Voraussetzung ausgehen, daß im Uebrigen der Rechtsweg gestattet sein soll. Dasselbe hat die Vorlage direkt in den Motiven erklärt. Da ist mit dürren Worten gesagt, daß den Invaliden zur Verfolgung ihrer Pensions- und sonstigen Ansprüche der Rechts­ weg offen stehen soll; nur in militair-technischen Fragen habe er ausgeschlossen werden sollen. M. H., mehr hat auch das Amendement, um das es sich hier handelt, nicht gewollt. Es könnte nur die Frage entstehen: ist es auch nöthig, den Satz über die Zulassung des Rechtsweges und seine Konsequenzen in das Gesetz selbst aufzunehmen? — und dafür mußten sich nach reiflicher Erwägung die Antragsteller entscheiden. Denn diese Sätze sind so wichtig, daß sie eines expressen und direkten Ausdrucks bedürfen. Eine Verweisung auf die Motive konnte nicht genügend erscheinen; denn die Motive werden nicht mit dem Gesetze abgedruckt und gerathen, wenigstens für das größere Publikum, für das das Gesetz gilt, bald in Vergessenheit. — Die Antragsteller erwogen weiter, daß verwandte Gesetze, z. B. die in Preußen bestehenden Beamtengesetze, ferner das Bundesbeamtengesetz, welches dem norddeutschen Reichstage im vorigen Jahre vor­ gelegt wurde, ebenso den Rechtsweg ganz besonders behandelt haben; das, was dort geschehen ist, schien doch auch in diesem Falle geboten. Ganz besonders aber erwogen die Antragsteller: das vorliegende Gesetz ist hauptsächlich dazu bestimmt, in das Pensions­ wesen der gesammten Reichsarmee Konformität zu bringen. Wenn man nun über den Rechtsweg nichts bestimmte, so würde sich derselbe überall nach den einzelnen Landes­ gesetzen regeln, und schon diese Verschiedenheit der formellen Behandlung würde auch zu materiellen Verschiedenheiten führen, — möglicherweise aber auch dahin, daß zwischen den verschiedenen Landesgesetzen Kollisionen entständen. Das konnte unmöglich gewünscht werden. Ich komme nun auf die Frage, wie die Antragsteller versucht haben, ihre Auf­ gabe zu erledigen, und auch da muß ich wiederholen: man hat durchaus nichts Neues schaffen wollen. Da, wo die Legislative verwandte Gegenstände behandelt, ist es stets gerathen, in materie und in forma dieselbe Behandlungsweise anzuwenden. Denn dadurch wird das Verständniß und die Handhabung der Gesetze außerordentlich erleich­ tert. Das wollte man auch hier gelten lassen. Die Paragraphen, die die Antragsteller vorgeschlagen haben, sind entlehnt aus dem Entwurf eines Bundesbeamten - Gesetzes, welches im vorigen Jahre dem Reichstag vorgelegt wurde, und diese wieder aus der preußischen Gesetzgebung. Man ist sonach bemüht gewesen, auch in der Form, und in der Gedankenfolge das, was bereits gültig war, hier aufzunehmen. Das ist es, was ich im Allgemeinen zur Einleitung dieses letzten Amendements vorzutragen hatte. Es folgt Spezial-Diskussion. § 112 lautet (nach neuer Fassung): „Ueber die Rechtsansprüche auf Pension und Beihülfe, welche dieses Gesetz (Theil I. und II.) gewährt, findet mit folgenden Maßgaben der Rechtsweg statt. (Wird an­ genommen.) § 113 lautet: „Vor Anstellung der Klage muß der Instanzenzug bei den Militair-Verwaltungs­ behörden erschöpft sein. Die Klage muß sodann bei Verlust des Klagerechts inner­ halb 6 Monaten, nachdem dem Kläger die endgültige Entscheidung der Militair-Verwaltungsbehörde bekannt gemacht worden, angebracht werden. (Wird angenommen.) Auf §114 lautend: Die Entscheidungen der Militairbehörden darüber: a) ob und in welchem Grade eine Dienstunfähigkeit eingetreten ist, ob

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b) im einzelnen Falle das Kriegs- oder Friedensverhältniß als vorhanden anzuneh­ men ist, ob c) eine Beschädigung als eine Dienstbeschädigung anzusehen ist, ob d) einer der im § 44, Alinea 1 und 2 gedachten Fälle vorhanden ist, und ob 6) sich der Invalide gut geführt hat (§ 74), sind für die Beurtheilung der vor dem Gericht geltend gemachten Ansprüche (§ 112) maßgebend. bezieht sich ein neu übergebener Antrag des Abg. Freiherrn von Zedlitz, in der Lit. a des § 114 hinter dem Worte „Dienstunfähigkeit" einzuschalten: „oder Erwerbs­ unfähigkeit". Während der auf Begründung des Antrages folgenden Debatte bringt Abg. von Bonin einen Vorschlag zu ß 114 ein, zu den Buchstaben a, b, c, d, e, die der Paragraph im Druck enthält, als Lit. f hinzufügen: „welcher Pensionsklasse der Znvalide nach den §§ 65 bis 69 zu überweisen ist"; und erhofft dessen Annahme seitens der Regierung. Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Staats- und Kriegsminister v. Roon: M. H., der Begriff der Erwerbsfähigkeit ist von Seiten der Militairbehörden zu jeder Zeit als ein durchaus relativer betrachtet worden; gäbe es einen andern Maßstab für die Klassifizirung, so würde man ihn wählen. Wenn die §§ 65 bis 69 einmal von der Dienstzeit sprechen und dann von der Erwerbsfähigkeit bei der vorangegangenen mehr oder minderen Dienstunfähigkeit, so ist man eben zu diesem Nothbehelf gekommen, weil man in der That kein anderes Kriterium hatte, als den Begriff der Erwerbsfähig­ keit. Die Klassifizirung aber in die verschiedenen Klassen der Invalidität ist damit keineswegs in das Arbitrium irgend eines einzelnen Menschen gestellt worden, sondern es ist in dieser Beziehung ein Jnstanzenzug in Ausübung, der die Rechte der betreffen­ den nach besten Kräften und nach bester Einsicht zu wahren trachtet, und wenn ich auch durchaus nicht mit dem Herrn v. Zedlitz darin übereinstimme, daß die Militärbehörden in dieser Beziehung viel liberaler seien als die Civilbehörden, wenn ich ihn recht ver­ standen habe, so kann ich doch versichern, daß die Militärbehörden den Invaliden gegen­ über stets ihres patrimonialen Verhältnisses sich bewußt gewesen sind, und daß, wenn die Bestimmungen irgend zweifelhaft waren, die Auslegungen stets zu Gunsten der Invaliden gemacht zu werden pflegen. Das ist aber meines Erachtens keine Liberalität, sondern das liegt in dem Pflichtverhältniß, in welchem die Militairbehörden den In­ validen gegenüber sich befinden. — M. H., ich kann in dem Anträge keine Verbesserung erblicken, ich halte diese Einrichtung für außerordentlich unzweckmäßig und zugleich unvortheilhaft für die Finanzen des Staates. Die Geschäfte, die den Militär-Verwaltungs­ behörden obliegen, sind ohnehin fast überwältigend; sollen wir nun noch gleichzeitig Hunderte von Prozessen führen über die Klassifizirung, beruhend auf der verschiedenen Beurtheilung der Erwerbsfähigkeit, so ist das eine Sache, die die Militär-Verwaltung eigentlich gar nicht übernehmen kann. Was mich persönlich anbelangt, so würde ich allerdings, wenn die Sache nicht so außerordentlich unzweckmäßig und unvortheilhaft wäre, mich gern dafür entscheiden; denn die Verantwortung, wenn man in letzter Instanz über zuweilen sehr widersprechende Entscheidungen der Zwischen-Instanzen zu entscheiden hat, ist oft sehr peinlich und kostet viel Zeit. Ich könnte daher für mein Theil ganz zufrieden damit sein, wenn diese Angelegenheit dem richterlichen Arbitrium in letzter Instanz überlassen bleibt; ich muß mich aber dagegen erklären aus Zweck­ mäßigkeitsgründen, aus den finanziellen Rücksichten, die für das Land obwalten, inso­ fern durch solche Prozesse Entscheidungen herbeigeführt werden, die den öffentlichen Säckel belasten. Unter diesen Umständen kann ich nicht umhin, meinerseits zu erklären, daß ich zwar keine Befugniß habe, mich im Namen des Bundesrathes darüber ent­ scheidend zu äußern, daß ich indessen meinen immerhin geringen Einfluß anwenden werde, daß ein so gestaltetes Gesetz nicht zu Stande kommt. (H., h.! l. Br.! r.) Abg. Herz: M. H., die Bedenken, welche von Seiten des Herrn Kriegsministers gegen das Amendement, wie es aus den Berathungen der freien Kommission hervor-

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gegangen ist, geltend gemacht wurden, sprechen nicht gegen unser Amendement, sondern für dasselbe; denn wenn es wahr ist, daß schon bisher den Offizieren der Rechtsweg theilweise offen stand, so ist gewiß im Allgemeinen gegen die Eröffnung des Rechts­ weges vom militärischen Standpunkte nichts zu erinnern. Es hat auch der Herr Kriegs­ minister erklärt, daß er für seine Person nicht gegen die Eröffnung des Rechts­ weges sei. Nun gebe ich Ihnen aber doch zu bedenken, daß es sich hier um Wahrung eines wichtigen Prinzips handelt. Es wurde von dem Herrn Negierungskommissar gesagt, daß die Zahl der Invaliden sehr groß sei, es wurde auch auf die Menge der Prozesse hingewiesen, welche über die Frage der Erwerbsunfähigkeit entstehen könnten. Allein das Alles darf uns nicht abschrecken, wenn es sich darum handelt, ein Prinzip, das wir für richtig erkennen, konsequent durchzuführen. Ich glaube, m. H., wenn wir die Zuständigkeit der Gerichte ausschließen, wo es gilt, die Erwerbsunfähigkeit festzustellen, so wird der ganze dritte Theil, wie die freie Kommission ihn zur Wahrung der Rechts­ ansprüche dem Gesetze anzufügen vorschlägt, zur reinen Illusion. (H., h.! l.) Es wurde bereits hervorgehoben, daß wir die rein technisch militärischen Fragen den Mili­ tärbehörden zur Entscheidung überlassen wollen. Daß aber die anderen Fragen von den Gerichten entschieden werden, das scheint mir der einzige korrekte und logische Weg für die Lösung zu sein. — Ich bitte Sie, m. H., erwecken Sie bei den Militärpersonen und beim Volke keine leeren Hoffnungen. Wenn Sie das Amendement in der Weise nicht annehmen wollen, wie es die freie Kommission vorschlägt, dann lassen Sie lieber den dritten Theil des Gesetzes vollständig fallen, (s. r.! l.) dann haben wir wenigstens das erreicht, daß das Gesetz um vier Paragraphen kürzer wird, die unnöthig und inhalt­ leer sind. Wenn es sich um so wichtige Dinge handelt, soll man keine Komödie spielen. Königlich preußischer Bundeskommissar Geheimer Ober-Regierungsrath v. Puttkamer: M. H., es ist nicht meine Absicht, nochmals in den materiellen Theil dieser Diskussion zurückzugreifen; es wird nur dem hohen Hause erwünscht sein, zu erfahren, welche Stellung die verbündeten Regierungen dem zuletzt eingebrachten Amendement des Herrn Abg. v. Bonin gegenüber einzunehmen gedenken. Ich bin ermächtigt, zu erklären, daß die verbündeten Regierungen in diesem Amendement eine genügende Wahrung der militairischen Interessen erblicken und es annehmen würden. Nach dieser Erklärung zieht Abg. Freiherr von Zedlitz sein Amendement zu Gunsten desjenigen des Herrn von Bonin zurück. Die Frage: Soll den Litt, a, b, c, d, -e des § 114 nach dem Anträge des Abg. v. Bonin unter Lit. f hinzugefügt werden: „welcher Pensionsklasse der Invalide nach §§ 65 — 69 zu überweisen ist;" wird in namentlicher Abstimmung mit 129 gegen 96 verneint. § 114 wird in der neuen Fassung angenommen. Auf § 115 bezieht sich der Antrag des Abg. Dr. Bähr: hinter „Kontingentes" hinzuzufügen: Der Marinefiskus von dem Marineministerium, sowie der Antrag des Abg. v. Bernuth, der für diesen Paragraphen folgende Fassung vorschlägt: Zn Ermangelung einer anderen landesgesetzlichen Bestimmung wird der Militairfiskus durch die oberste Militairbehörde des Kontingentes, der Marinefiskus durch das Marineministerium vertreten und ist die Klage bei demjenigen Gericht anzubringen, in dessen Bezirk jene Behörde ihren Sitz hat. Der Antrag v. Bernuth wird angenommen. § 116 wird angenommen, betr. Aufhebung früherer Bestimmungen. Das Haus kommt nun zunächst auf diejenigen Paragraphen, in Ansehung deren die Beschlußnahme für den Augenblick vorbehalten war, wo die §§ 112—116 diskuürt sein würden. Das war zuerst 8 3, zu welchem die Abg. v. Bonin u. Gen. den Antrag gestellt haben, das Alinea 2 zu fassen: Die Beantwortung der Frage, ob eine Dienstbeschädigung vorhanden, erfolgt durch die oberste Militair-Verwaltungsbehörde des Kontingents.

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Das Alinea wird in dieser Fassung angenommen und der ganze § 3 mit düesein zweiten Alinea. Der zweite Paragraph ist § 17. Die Abg. v. Bonin u. Gen. habn vor­ geschlagen, im § 17 Zeile 4, die Worte „mit Ausschluß des Rechtsweges" zu sreicchen. Diese Worte werden fallen gelassen. Der dritte Paragraph ist § 44. Auch da ging der Antrag der Abg. v. Battin u. Gen. dahin, im Alinea 3 die Worte: „mit Ausschluß des Rechtsweges" zu sreüchen. (Geschieht.) Der vierte Paragraph ist § 104, in Ansehung dessen die Abg. von 8o»nin u. Gen. Vorschlägen, im ersten Alinea die Worte: „ohne prozessualisches Bewahren" und das zweite Alinea ganz zu streichen. Königlich preußischer Bundeskommissar Major von Blücher: Nachden durch die Abstimmung über den dritten Theil des Gesetzes auch in den Fällen des § 104 die Ausschließung des Rechtsweges in Wegfall gekommen ist, wird es nothwewig., an die Stelle der Worte: „ohne prozessualisches Verfahren" die Worte zu setzen: „ohne Rücksicht auf die wegen Zulässigkeit eines Abzuges sonst bestehenden Vorsckristen." Wenn diese Worte nicht in dem § 104 ausgenommen werden, dann tritt nach prerßischem Recht folgendes Verhältniß ein. Von Pensionen bis zum Betrage von 200 Thälern dürfen Abzüge nicht gemacht werden. Wenn also die Verwaltungsbehörde einen Abzug festsetzt und der Pensionär beschreitet dagegen den Rechtsweg, so wird auf Grind der preußischen Rechtsbestimmungen die Verwaltungsbehörde verurtheilt werden, das llbzugsverfahren einzustellen. Auf diese Weise wird also die Befugniß, welche der Behörde durch den § 104 beigelegt werden soll, einen Abzug anzuordnen, in den rneister Fällen vollkommen illusorisch. 2m Alinea 1 werden hierauf die Worte „ohne prozesiualisches Verfahren" ge­ strichen. Zu § 108 haben die Abg. v. Bonin u. Gen. vorgeschlagen, den zweitn Absatz zu streichen. Die Streichung wird angenommen. Zm § 95 handelt es sich im Ganzen um sechs Fragen. Erstens um die Frage des Betrages, den die Unterstützung für die Kinder erhalten soll. Es steht außer dem § 95 zur Abstimmung der Antrag v. Bonin u. Gen.: Doppelwaisen erhalten eine Erziehungsbeihülfe von 5 Thlrn. monatlich, und der Antrag des Dr. Lucius (Erfurt): Zn § 95 hinter die Worte „von 31/2 Thlr. monatlich" einzuschalten: und wenn das Kind zugleich auch mutterlos ist oder wird, eine solche von 5 Thlr. monatlich gewährt. Die zweite Frage ist, ob den Kindern — nach dem Anträge des Abg. Graf Bethusy-Huc — die Stiefkinder gleichgestellt werden sollen. Die dritte Frage ist, inwiefern Eltern resp. Großeltern neben den Kindern und Stiefkindern in dem Paragraphen erwähnt werden sollen, d. h. die Frage nach den Anträgen v. Mallinckrodt und v. Bonin, mit oder ohne den Zusatz des Abg. Herz, mit oder ohne den Zusatz des Abg. Grafen v. Rittberg. Die vierte Frage bezieht sich auf die Geschwister, in Ansehung deren nur der Antrag des Abg. Freiherrn von Kettel er (Paderborn) mit heut zugefügter Modifi­ kation vorliegt. Die fünfte Frage bezieht sich auf § 41, die sechste und letzte auf § 42. Zu der Frage wegen des Quantums der für die Kinder im Sinne des 8 95 zu gewährenden Erziehungsbeihülfe zieht Abg. Dr. Lucius seinen Antrag zu Gunsten des v. Boninschen zurück. Antrag v. Bonin wird mit großer Majorität angenommen. Zur zweiten Frage wird der Antrag des Abg. Grafen Bethusy-Huc ab­ gelehnt. Rücksichtlich der Frage der wegen Eltern hat der Abg. Herz vorgeschlagen: für den Fall der Annahme des von Boninschen Antrags hinter den Worten „der

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Hinterbliebene Vater und die Hinterbliebene Mutter" einzuschalten „desgleichen die G?ofe,ltern." Die Einschaltung der Worte „desgleichen die Großeltern" wird eventuell be­ schlossen. Ferner hat der Abg. Graf v. Rittberg vorgeschlagen, dem v. Boninschen — jetzt v. Bonin-Herzschen — Anträge folgende Fassung zu geben: Dieselbe Unterstützung kann dem Hinterbliebenen Vater und der Hinterbliebenen Mutter desgleichen den Großeltern im Fall ihrer Bedürftigkeit gezahlt werden. Der Antrag bleibt in der Minderheit. Der Antrag des Abg. v. Mallinckrodt: Beihülfen bis zu den gleichen Beträgen und für die Dauer der Bedürftigkeit können auch den Eltern und Großeltern bewilligt werden, deren einzige Ernährer die dien genannten Offiziere oder im Offizierrange stehenden Militairärzte der Feld­ armee waren; wird abgelehnt. Der von Boninsche Antrag einschließlich des Herzschen Amendements nunmehr so lautend: Eine Beihülfe in gleichem Betrage erhält der Hinterbliebene Vater und die Hinter­ bliebene Mutter, desgleichen die Großeltern, sofern der Verstorbene der einzige Er­ nährer derselben war, und so lange die Hülfsbedürftigkeit derselben dauert. wird mit großer Majorität angenommen. Es kommt jetzt der Antrag, der sich auf die Geschwister bezieht und den der Abg. Freiherr von Ketteler zu §.95 heute formulirt hat, wie folgt: Die gleiche Unterstützung kann den Geschwistern bewilligt werden, deren einzige Ernährer die im § 95 bezeichneten Militairpersonen waren. Der Antrag bleibt in der Minderheit. Der § 95 lautet also: Für jedes Kind der im,§ 93 bezeichneten Militairpersonen wird bis zum vol­ lendeten fünfzehnten Lebensjahre eine Erziehungsbeihülfe von 3% Thlrn. monatlich gewährt. Doppelwaisen erhalten «eine Erziehungsbeihülfe von 5 Thlrn. monatlich. Eine Beihülfe in gleichem Betrage erhält der Hinterbliebene Vater und die Hinter­ bliebene Mutter, desgleichen die Großeltern, sofern der Verstorbene der einzige Er­ nährer derselben war, und so lange die Hülfsbedürftigkeit derselben dauert. Nach Zurücknahme der Anträge der Abg. v. Ketteler u. Gen. zu § 41 und § 42 wird der Antrag des Abg. vr. Wehrenpfennig zu §42 lautend: Eine Beihülfe in gleichem Betrage wie das vaterlose Kind erhält der Hinterbliebene Vater und die Hinterbliebene Mutter, sofern der Verstorbene der einzige Ernährer derselben war, und so lange die Hülfsbedürftigkeit derselben dauert, mit Majorität angenommen. Es folgt die Abstimmung über § 98. Zn diesem Betracht handelt es sich zu­ vörderst um die Frage, ob in § 98 nach dem ersten Anträge der Abg. von Bonin u. Gen. im Alinea 1 hinter dem Worte „Waisen" eingeschaltet werden soll „und Eltern." Die Einschaltung wird angenommen. Die zweite Frage, ob, nachdem der Zusatz „und Eltern" beschlossen ist, nach dem Anträge des Abg. Freiherrn v. Ketteler hier eingeschaltet werden soll „und Geschwister" ist durch die früheren Abstimmungen erledigt. Es folgt die dritte Frage, ob in Alinea 2 nach dem Anträge von Bonin u. Gen. hinter „Zahlung" eingeschaltet werden soll „der Pensionen und Pensionszulagen" (wird angenommen.) Die Abg. von Bonin u. Gen. haben ferner vorgeschlagen, in § 98, in demselben zweiten Alinea das Wort „regelmäßige" vor „Anerkennung" zu streichen. Das Wort wird gestrichen.

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Endlich haben dieselben Herren Abgeordneten für das Alinea 3 folgende Fassung vorgeschlagen: Bei der ersten Zahlung werden die im Rückstände gebliebenen Pensionsbeträge seit dem Ersten des auf die Anmeldung des Anspruchs folgenden Monats nachgezahlt. Die Zahlung der Unterstützung für Wittwen, Waisen und Eltern beginnt mit dem Ersten desjenigen Monats, welcher auf den den Anspruch begründenden Todestag folgt. (Wird angenommen.) § 98 lautet sonach: Die Zahlung der Pensionen, Pensionszulagen, Wittwen-, Waisen- und ElternUnterstützungen erfolgt monatlich im Voraus; eine Berechnung von Tagesbeträgen findet nicht statt. Die Zahlung der Pensionen und Pensionszulagen hebt mit dem Ersten desjenigen Monats an, welcher auf die Anerkennung des Anspruchs durch die kompetente Be­ hörde folgt. Bei der ersten Zahlung werden die im Rückstände gebliebenen Pensionsbeträge seit dem Ersten des auf die Anmeldung des Anspruchs folgenden Monats nachgezahlt. Die Zahlung der Unterstützungen für die Wittwen, Waisen und Eltern beginnt mit dem Ersten desjenigen Monats, der aus den den Anspruch begründenden Todestag folgt. Dritte Berathung am 12. Juni 1871.

Abg. Freiherr von Aretin sucht in längerer Ausführung nachzuweisen, daß zwei Gegenstände in dem Gesetze vermengt sind, von denen einer Sache des Reiches ist, der andere aber der Kompetenz desselben in Bezug auf Bayern nicht unterliegt, und daß der Außerachtlassung des bayerischen Reservatrechts gegenüber die Umwickelung desselben durch Bestimmungen, denen auch jeder Bayer mit Freuden beistimmen wird, wohl den Zweck habe, die Pille zu versüßen und jeden Widerspruch dagegen zu beseitigen. Er und seine Gesinnungsgenossen würden deshalb gegen das Gesetz stimmen. Königlich bayrischer Bundesbevollmächtigter, Staatsminister der Finanzen von Pfretzschner. (Redner weist aus den Vertragsbestimmungen nach, daß das vorliegende Pensionsgesetz in Bayern vor dem 1. Januar 1872 nicht hätte in Wirksamkeit treten können, wenn Bayern dazu seine Zustimmung nicht gegeben hätte. Die Folge davon wäre aber dann einfach die gewesen, daß vorerst bayrische Invaliden auf 6 möglicher­ weise 7 Monate hinaus in einer weniger günstigen Lage gewesen wären, als die In­ validen der übrigen deutschen Staaten.) M. H., unsere deutschen Brüder haben zu­ sammen gestritten und gelitten, und wenn das Vaterland einen Theil des Dankes, welchen es seinen tapfern Kriegern abHutragen schuldig ist, wenigstens in materieller Beziehung durch dieses Gesetz abzutragen sucht, dann m. H., würden die bayrischen Vertreter es niemals mit ihren Gefühlen haben vereinigen können, den bayrischen Invaliden auch nur eine Stunde diejenigen Wohlthaten zu verzögern, die ihnen durch dieses Gesetz zu Theil werden sollen. (Br.!) Nun hat der Herr Vorredner noch eine andere Seite hervorgehoben, daß es nämlich möglich oder wenigstens wünschenswerth gewesen wäre, das Gesetz, wie vorhin erwähnt, in zwei Theile zu theilen. Ich will ihm auch auf diesem Wege folgen. Es sagt der Vertrag (Ziffer III.): „Bayern wird volle Uebereinstimmung mit den für das Bundesheer bestehenden Normen in Bezug auf Gebühren herstellen." Nun, m. H., steht doch mit den Gebühren die Pensionsfrage in einem so innigen Zu­ sammenhang, daß es ganz unmöglich wäre, die beiden Dinge von einander zu trennen, sofern man nicht in eine vollständige Ungleichheit, die ja zu beseitigen beabsichtigt ist, gerathen will. Wenn man nun mit dieser Bestimmung die unter I getroffene zusammen­ hält, in welcher gesagt ist: „Bayern behält zunächst seine Militärgesetzgebung bis zur verfassungsmäßigen Beschlußnahme über die der Bundesgesetzgebung anheimfalle n den Materien", so war die Lage der Verhältnisse nach unserer Anschauung nicht der Art, sich der verfassungsmäßigen Beschlußnahme über die vorliegende Materie zu entziehen;

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im Gegentheil, wir hatten dazu um so weniger Grund, als in diesem Falle das eigen­ thümliche Verhältniß eingetreten wäre, daß im Reichstage ein Gesetz zur Verabschiedung gelangt wäre, bei welchem wir nicht mitzuwirken gehabt hätten, und daß wir sodann, wenn die Gleichstellung der Gebühren in Bayern eintritt, ein bereits vereinbartes Gesetz, ohne dabei mitzuwirken, einfach und pure als ein fait accompli zu übernehmen gehabt haben würden. (S. r.!) Dieser Standpunkt war derjenige, von welchem wir ausgegangen sind und ich glaube, daß der Herr Vorredner sich in einem Mißverständniß über die bezügliche Bestimmung des § 5 Ziffer I befindet; wenigstens ist mir nicht ganz klar, in welchem Sinne die verfassungsmäßige oder vertragsmäßige Beschlußfassung verstanden worden ist. Meines Erachtens ist es ganz richtig, daß zur verfassungsmäßigen Beschlußfassung auch das Kriterium der Vertragsmäßigkeit gehört, und ich habe die Ueberzeugung, daß, wenn über einen bestimmten Punkt ein Reservatrecht ausbedungen ist, dann verfassungs­ mäßig eine entgegenstehende Beschlußfaßung über diesen Gegenstand nicht eintreten kann. Im Uebrigen kann ich unter „verfassungsmäßig" nichts anders verstehen, als die durch die gesetzgebenden Faktoren des Reiches in der verfassungsmäßigen Art und Weise erlassenen Gesetze. (S. r.!) Der Herr Vorredner hat einen Antrag nicht gestellt, ich bin daher nicht in der Lage, eine weitere Erklärung abzugeben, und muß mich darauf beschränken, ebenso wie der Herr Vorredner seinen Standpunkt wahren zu müssen ge­ glaubt hat, was ich vollkommen ehre, hier auch den meinigen gewahrt zu haben. (Lebh. B.) Die Generaldebatte über die Vorlage ist beendet. Für die Speeialdiscussion liegen zahlreiche Amendements vor, zunächst 30 Anträge der freien Kommission, welche Abg. v. Bernuth vertritt, meist redactionellen Inhalts, mit denen sich Bundeskommissar v. Puttkammer fast durchweg im Voraus einverstanden erklärt. Das Haus genehmigt sie von Paragraph zu Paragraph. Zu 8 2 erneuert Abg. Herz Namens der Fortschrittspartei den Antrag auf folgende Fassung: „Zeder Offizier und im Offizierrang stehender Militärarzt, welcher sein Gehalt aus dem Militäretat bezieht, erhält eine lebenslängliche Pension, wenn er nach einer Dienstzeit von wenigstens 10 Zähren in Folge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte zur Fortsetzung des activen Militärdienstes dauernd unfähig geworden ist und deshalb verabschiedet wird." Er wird nach kurzer Debatte abgelehnt. Dem Alinea 1 des § 6 wird auf Antrag des Abg. von Zedlitz zugefügt: „Tritt die Pensionirung in Folge von Dienstbeschädigung (§ 3) ein, so wird die Höhe der Pension nach der bei der eintretenden Pensionirung bekleideten Charge auch in dem Falle bemessen, wenn der Pensionair dieselbe noch kein volles Jahr bekleidet." Bei § 47 war in zweiter Lesung beschlossen, daß für die in Offizierrang stehen­ den Militärärzte bei der Pensionirung das chargemäßige Gehalt nach den Sätzen für Jnfanterieoffiziere der entsprechenden Militärcharge als pensionsfähiges Diensteinkommen in Anrechnung gebracht werden soll. Königlich preußischer Bundeskommissar Major von Kirchbach: Der § 47 hat eine Ergänzung im Interesse der Aerzte erhalten, indem denselben bei der Pensionirung das chargemäßige Gehalt nach dem Satze für die Jnfanterieoffiziere der betreffenden Militärchargen als pensionsfähiges Einkommen in Ansatz gebracht werden soll. Ganz in derselben Lage wie die Militärärzte sind aber noch zwei Chargen und zwar zunächst die Chargen der Stabsoffiziere, indem bei der Artillerie, dem Jngenieurkorps und beim Generalstabe es Majors mit dem Gehalt von 1300 Thalern giebt, ebenso befinden sich auch unter den Hauptleuten erster Klasse, solche, welche nur ein Gehalt von 1000 Tha­ lern beziehen. Damit nun die nicht schlechter gestellt werden als die Aerzte, so erscheint es erforderlich, daß § 47 thunlich noch eine Erweiterung im Interesse der ersteren er­ halte. Es würde den Absichten der Bundesregierungen entsprechen, wenn ein Antrag angenommen würde, dahin lautend: Stabsoffiziere, welche ein Gehalt von 1300, sowie Hauptleute erster Klasse, welche ein Gehalt von 1000 Thalern haben, werden nach den pensionsfähigen Dienstein­ kommen der Stabsoffiziere mit dem Gehalte von 1800, beziehungsweise der Haupt­ leute mit dem Gehalte von 1200 Thalern pensionirt.

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Wenn Jemand in dieser hohen Versammlung, welcher von der Richtigkeit dieser Auffassung überzeugt sein sollte, ein Amendement dieses Inhalts einbringen wollte, so würde das sehr willkommen sein. Die Abgg. Dr. von Buns en, Ziegler und von Bonin beantragen dem­ gemäß einen Zusatz: Stabsoffiziere, welche ein Gehalt von 1300 Thalern, sowie Hauptleute erster Klasse, welche ein Gehalt von 1000 Thalern beziehen, werden nach dem pensionsfähigen Diensteinkommen der Stabsoffiziere mit dem Gehalt von 1800 Thalern und der Hauptleute mit dem Gehalt von 1200 Thalern pensionirt. Es wird § 47 mit diesem Zusatz angenommen, ebenso § 48 und 49. Auf § 50 beziehen sich nun die Anträge der Abg. Schmidt (Stettin) und von Winter. § 50 beantragt Abg. Schmidt (Stettin) in folgender Fassung anzunehmen: „Bei Expeditionen der zur kaiserlichen Marine gehörigen Schiffe, welche außerhalb der europäischen Gewässer gehen, wird, wenn zwischen dem Verlassen des letzten europäischen Hafens und der Rückkehr in einen solchen eine Zwischenzeit von mindestens 13 Monaten liegt, der Besatzung diese Zwischenzeit anderthalbfach, und wenn diese über 2 Jahre beträgt, doppelt als pensionsberechtigte Dienstzeit angerechnet." Dagegen beantragt Abg. von Winter statt „europäischer Gewässer" zu setzen, wie in der Vorlage stand: „der Ost- und Nordsee". Das Amendement von Winter wird angenommen. Dem § 62 beantragt von Zedlitz zuzufügen: „Auf Antrag des Pensionirten findet eine Revision der über die Klassifizirung (§§ 66 —70) ergangenen Entscheidung durch die Ersatzbehörden in dem für das Erfatzgeschäft selbst vorgeschriebenen Verfahren und Jnstanzenzug statt." Abg. Dr. Bähr: M. H., ich fühle das Bedürfniß, meine Abstimmung von neulich und meine heutige zu motiviren. Ich habe bei der zweiten Lesung für die Eröffnung des Rechtsweges über die Frage der Erwerbsfähigkeit gestimmt, vor Allem deswegen, weil auch ich in Uebereinstimmung mit meinen Freunden will, daß Fragen dieser Art nicht einseitig im Verwaltungswege entschieden werden, indem in dieser Beziehung in der That zutrifft, daß Partei und Richter in einer Person sich vereinigen. Eine ganz andere Frage ist es, ob man für Fragen der vorliegenden Art (ich will sie später näher präzisiren) am besten den förmlichen Rechtsweg eröffnet, oder ob man Behörden schafft, welche unabhängig und frei von vorn herein technisch über die Frage entscheiden. Zch bin der Ansicht, daß das Letztere besser ist. Zch finde die Voraussetzung hierfür im Wesentlichen in dem Zedlitzschen Amendement gegeben und werde deswegen für dasselbe stimmen. — M. H., ich habe bis zum Jahre 1866 einem Lande angehört, in welchem der Rechsweg im weitesten Umfange zulässig war. Es war dort die Frage über den Werth dieses Gutes nicht eine Parteifrage; alle Parteien, bis auf eine ganz kleine Zahl der Verwaltungsbureaukratie, stimmten über den Werth des freien Rechtsweges überein. Und als in der Hassenpflugschen Periode der freie Rechtsweg wesentlich beschränkt worden, war es bei dem gänzlichen Darniederliegen der liberalen Partei vor Allem die konser­ vative Partei, die hessische Ritterschaft, welche für den reinen Rechtsweg eintrat nnd dessen Wiederherstellung zu erkämpfen suchte. Ich selbst, m. H., bin stets nach Kräften für das Prinzip des freien Rechtsweges eingetreten, und ich glaube auch sagen zu können, daß gerade nach der Rechtsprechung, die ich durchgemacht habe, mir eine Summe von Erfahrungen zu Gebote steht, wie vielleicht wenig Mitgliedern dieses Hauses. Dies hindert mich aber nicht zu sagen, daß für Fragen technischer Natur, die man nur aus unmittelbarer Anschauung der Verhältnisse genügend erkennen kann, und die sich in einer großen Anzahl von Verhältnissen gleichmäßig wiederholen, der formelle Rechtsweg vor den Gerichten besser durch eine freigestellte Behörde ersetzt wird, welche in quasi richterlicher Eigenschaft über die Frage erkennt. (S. r.! r.) (Redner schildert, wie ein Prozeß dieser Art vor sich geht.) M. H., bei den Schwierigkeiten, die der Rechtsweg in diesen Dingen bietet, bin ich der Ansicht, daß wir dem Bedürfniß nach Gerechtigkeit

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volle Befriedigung geben, wenn wir Behörden schaffen, die die Sache von vorn herein mit technischen Augen sehen und darnach die Sachen entscheiden. Eine absolute Ge­ rechtigkeit ist in solchen Fällen überhaupt nicht zu schaffen, es ist da Alles relativ, Nie­ mand steckt in diesen Begriffen darin. Niemand sieht in die Menschen hinein, weder die Sachverständigen noch die Richter. Es muß eben eine Entscheidung getroffen werden, und ehe man mit allen Mitteln das Recht zu Tode zu Hetzen sucht, sollte man lieber mit einer der Gerechtigkeit approximativ entsprechenden Entscheidung zufrieden sein. Auch hier trifft zu, daß das Beste der Feind des Guten ist. — M. H., ich bin nun der Ansicht, daß der Antrag des Abg. von Zedlitz, indem er die Ersatzbehörde zu einer technisch urtheilenden Behörde machen will, im Wesentlichen diesem Bedürfnisse ent­ spricht. Ich beklage, daß die ganze Frage nicht in einem früheren Stadium dieses Ge­ setzes zur Erörterung gekommen ist; es hätte möglicher Weise sich noch Manches in dieser Beziehung bessern, es hätte vielleicht die Selbstständigkeit dieser Kommission sich in höherem Grade feststellen lassen. Das ist nun allerdings nach der Lage der Sache nicht mehr möglich. Aber ich nehme keinen Anstand zu erklären, daß ich in Betracht aller der Schwierigkeiten und Widerwärtigkeiten, welche der Rechtsweg, nicht für die Militärbehörden, — die würden mir nicht so leid thun, — sondern für die Betheiligten selbst in sich trägt, den Zedlitzschen Antrag vor der Eröffnung des förmlichen Rechts­ weges den Vorzug gebe. (Br.! r.) Abg. v. Winter: M. H., fürchten Sie nicht, daß ich mich in einer langen Deduktion ergehen werde, über die Zulässigkeit des Rechtsweges. Sie haben bei der zweiten Berathung durch Vorführung des Erkenntnisses des Gerichtshofes für Kompetenz­ konflikte erfahren, daß der Rechtsweg nach der gegenwärtigen Verfassung in Preußen zulässig ist, und Sie werden darüber, ob in diesem Punkte das bestehende Recht geän­ dert werden soll, bei § 115 direkt und unmittelbar entscheiden müssen. Sie können um die Entscheidung dieser Frage durch die Annahme des Zedlitzschen Antrages nicht herumkommen. Die Frage muß positiv entschieden werden, namentlich in der Form, in der sie jetzt gestellt ist. Ich halte aber den Antrag des Herrn von Zedlitz an sich und seinem Inhalte nach, ganz abgesehen von der Frage über die Zulässigkeit des Rechtsweges, für unannehmbar, und deshalb, m. H., bitte ich Sie, den Antrag zu ver­ werfen. Die ursprüngliche Vorlage setzt bei § 61 fest, „daß die Invalidität und der Grad derselben sowohl für sich als in ihrem ursächlichen Zusammenhänge mit einer erlittenen Dienstbeschädigung auf Grund militärärztlicher Bescheinigung durch die dazu verordneten Militärbehörden festgestellt werden soll," und Sie haben aus dem Munde des Herrn Kriegsministers bei der zweiten Lesung gehört, daß diese Militär­ behörden sind: in erster Instanz der Bezirkskommandeur nach Anhörung des Bataillons­ arztes; in zweiter Instanz der Brigadekommandeur nach Anhörung des Negimentsarztes; in dritter Instanz der kommandirende General, der ebenfalls in der Lage ist, eine ärzt­ liche Superrevision eintreten zu lassen, und endlich der Kriegsminister selber. — Nun schlägt Ihnen der Abg. v. Zedlitz vor, Sie sollen die Entscheidungen dieser verordneten Militärbehörden auf Antrag des Pensionirten einer Revision durch die Ersatzbehörde in dem für das Ersatzgeschäft selbst vorgeschriebenen Verfahren und Znstanzenzug unter­ werfen. Ich frage nun, was kann man sich wohl für einen Erfolg davon versprechen, wenn man die Entscheidung des kommandiren Generals einer Revision durch die KreisErsatzkommission zuweist? (H.! l.) Einer Entscheidung durch die Kreis-Ersatzkommission, an deren Spitze als Vorsitzender der Bezirkskommandeur steht! (S. g.! I.) Ich kann das Amendement des Herrn v. Zedlitz gar nicht anders verstehen, als daß erst der Zn­ stanzenzug erschöpft sein muß, den die Regierungsvorlage anordnet, indem sie sagt: „die verordneten Militärbehörden entscheiden", und daß dann erst auf Antrag des Pensionsberechtigten eine Revision durch die Militärbehörden stattfinden soll. — Nun legt der Abg. v. Zedlitz einen ganz besonderen Werth auf die kollegialische Zusammen­ setzung der Kreis-Ersatzkommissionen. M. H., ich bin länger als ein Decennium Land­ rath gewesen und habe vielen Kreis-Ersatzkommissionen und Departements-Ersatzkom­ missionen beigewohnt, und weiß sehr gut, daß die Civilmitglieder dieser Kommission,

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wenn sie ihrem Amte gewachsen sind und ihm volles Interesse zuwenden, auch Gelegen­ heit haben, sich geltend zu machen; aber alle diejenigen Mitglieder dieses Hauses, die vielleicht selbst als Civilmitglieder einer Kreis-Ersatzkommission angehört haben, oder welche sonst Kenntniß von dem Einfluß, der der Regel-nach diesen Civilmitgliedern zusteht, werden bestätigen, daß das sehr häufig gebrauchte Wort, die Civilmitglieder seien „Zuvielmitglieder" (H. S. r.! l.) seine Begründung hat. Es ist eine Täuschung, zu glauben, daß die Geschäfte der Kreis-Ersatzkommissionen der Regel nach kollegialisch erledigt würden; das ist meistentheils nicht der Fall. Ich kann gar nicht glauben, daß der Herr Kriegsminister selber diesen Antrag acceptabel findet, ich glaube, er wird sich dagegen anssprechen müssen; denn ich halte es für undenkbar, daß eine Entscheidung, die die Militärbehörde in dem geordneten Znstanzenzuge getroffen hat, noch einer Re­ vision unterworfen wird durch die Kreis- oder Departements - Ersatzkommission. Mel eher scheint es mir doch von dem Standpunkt der Militärverwaltung zulässig zu sein, daß nach Erschöpfung des Znstanzenzuges der verordneten Militairbehörden eine Ent­ scheidung erfolgt durch den Richter. (Br.! l.) Königlich preußischer Bundesbevollmächtigter Kriegs- und Staatsminister d; Roon: M. H., ich glaube, die Verhandlungen in diesem Hause haben doch wesentlich den Zweck, daß wir uns verständigen, und wenn Mißverständnisse vorkommen, so ist es Pflicht eines Jeden, sie möglichst aufzuklären. Ich bin nun der Meinung, daß der Herr Vorredner sich in einem großen Mißverständniß bewegt in Beziehung auf das Zedlitzsche Amendement. Ich schicke das voraus, um in dieser Beziehung, was die Annehmbarkeit des Amendements anbelangt, durch mein Auftreten kein Präjudiz zu schaffen. Zch glaube zwar allerdings, daß das Zedlitzsche Amendement in gewissem Grade annehmbar ist; allein Sie werden begreifen, daß die Wiederherstellung der Re­ gierungsvorlage immer dasjenige ist, wofür von unserer Seite am meisten einzusetzen wäre. (Bew.) Der Herr v. Winter versteht das Amendement, wie ich glaube, un­ richtig; er ist selbst Landrath gewesen, er weiß, wie die Geschäfte verlaufen. Wenn das Amendent sagt: „Auf Antrag des Pensionirten findet eine Revision der über die Klassifizirung ergangenen Entscheidung durch die Ersatzbehörden in dem für das Ersatz­ geschäft selbst vorgeschriebenen Verfahren und Jnstanzenzug statt", so schlägt er damit vor, etwas gesetzlich festzustellen, was in der That praktisch schon so ist. Die Vor­ stellung begreife ich daher nicht ganz, die Herr v. Winter in Bezug auf die Entschei­ dungen des kommandirenden Generals und auf die etwanigen dagegen gerichteten An­ träge des Bezirkskommandeurs zu haben scheint. Es handelt sich ja dabei nicht um das Rechthaben, sondern um das Rechtthun; glaubt denn der Herr Vorredner nicht, daß der kommandirende General dafür dasselbe Interesse hat, wie Jeder in diesem Hause? Wenn er sich geirrt hat, und er wird durch einen Antrag des Bezirkskomman­ deurs und der betreffenden Ersatzkommission darauf aufmerksam gemacht, so wird er mit Freuden das Rechte thun, was er aus Mistverstand oder verleitet durch eine un­ richtige Beurtheilung des Falles bisher nicht gethan. Ich finde daher, jeder Zusatz, der etwa Bezug nimmt auf das dienstliche, auf das Anciennitätsverhältniß kann hier nicht Platz greifen, durchaus nicht. Run meine ich, das Mißverständniß dreht sich noch um einen andern Punkt. Wenn Herr von Winter, der selbst Landrath gewesen ist, (H.) sich dessen erinnert, was er in seinem damaligen Dienstleben erfahren hat, so wird er wissen, daß die Anerkennung der Invaliden einmal- erfolgt auf den Antrag des Truppenteils durch das Generalkommando. Wenn nämlich der Invalide, sobald er sich invalide fühlt, den Antrag während seiner Anwesenheit bei der Fahne durch seinen Kompagniechef resp, durch seinen Regimentskommandeur zur Geltung bringt, dann wer­ den die nöthigen Untersuchungen angeordnet, um zu konstatiren: liegt eine Dienstbeschädi­ gung vor? ist der Mann invalide? in welchem Grade ist er es? in welchem Grade ist er erwerbsunfähig? zu welcher Klasse der Jnvalidenpension hat er also ein Anrecht? Mit dieser Entscheidung verläßt er seine Garnison, er tritt in seine bürgerlichen Ver­ hältnisse. Nach einiger Zeit wird ihm deutlich gemacht oder es wird ihm durch eigenes Nachdenken deutlich — der erstere Fall ist der gewöhnliche —: man hat dir Unrecht

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gethan, du hättest müssen statt in die dritte, in die zweite Klasse kommen, du hättest statt 2 Thlr. 3 Thlr. oder 5 Thlr. bekommen müssen; — dann geht der Mann zu seinem Bezirkskommandeur, stellt den Antrag, wird beschieden zur Zeit der Sitzung der Ersatzkommission, um festzustellen, inwieweit die ärztlichen Atteste, aus denen-die erste Anerkennung beruhte, inzwischen durch die Veränderungen des körperlichen Zustandes etwa einer Modifikation bedürfen. Und, wie ich das schon neulich auseinandergesetzt habe, der Znstanzenzug ist damit nicht erschöpft. Wenn der betreffende Mann sich durch die Entscheidung des Arztes der Kreis-Ersatzkommission und der Kommission selbst nicht befriedigt findet, so hat er den Rekurs zunächst an die Departementskommission, die ähnlich zusammengesetzt ist wie die Kreis-Ersatzkommission, d. h. gemischt aus Militär und Civil, und wenn selbst diese Kommission ihn nach seiner Meinung nicht richtig beurtheilt, so hat er noch den Appell an das Generalkommando (Stimme l.: h., h.!) oder schließlich an den Kriegsminister. (Stimme l.: h., h.!) Wenn es sich nun aber um Pensionirungen handelt, die gar nicht beantragt wurden, so lange der Mann bei der Fahne war, so wird natürlicherweise das Generalkommando auch in seinen Ent­ scheidungen noch gar nicht engagirt sein, sondern der erste Antrag erfolgt dann von dem Wehrmann oder Reservisten an seinen betreffenden Bezirkskommandeur, und alsdann wird die Kreis-Ersatzkommission zunächst befinden. Ist der Mann mit der Anerkennung, die ihm von da ausgesprochen wird, zufrieden, so ist die Sache ja erschöpft; ist er es nicht, so geht er weiter. Der Grund und die Anerkennung seiner Erwerbsunfähigkeit, seiner Dienstbeschädigung wird ja, wie ich bemerke, in solchem Falle richtig gewürdigt, und das Generalkommando stellt nun fest, was dem Mann gebührt. Es ist bei seinen Entscheidungen also wesentlich angewiesen auf die Berichte der betreffenden Kreis-Ersatz­ kommission oder Departementskommission; Partei in der Sache ist es also unter allen Umständen nicht. Wird es als Beschwerde-Instanz angerufen, so wird eine Super­ revision angeordnet durch obere Militärärzte, welche nun den Grad der Erwerbsunfähig­ keit des betreffenden Mannes noch einmal feststellen, entweder im Widerspruch mit den vorliegenden Arbitrien oder in Uebereinstimmung damit, und es ist in jedem einzelnen Falle noch immerhin möglich, daß der Mann sich an das Kriegsministerium wendet, um sich über die Entscheidung, die seine Sache beim Generalkommando gefunden hat, zu beschweren, in welchem Falle freilich wieder nichts übrig bleibt, als ein Superarbitrium durch den Generalarzt des Armeekorps und durch eine ärztliche Kommission herbeizu­ führen; denn über die andern Fragen, die der § 115 dem Richter als solche bezeichnet, daß seine Entscheidung danach sich richten müsse, ist niemals Streit; niemals Streit darüber, ob der Mann eine Dienstbeschädigung erlitten hat oder davongetragen hat; darüber, ob der Mann invalide ist oder ob er es nicht ist, ist niemals Streit, sondern immer blos über den Grad der Invalidität, d. h. über den Grad der Erwerbsunfähig­ keit. Und wie gesagt, diese Verhältnisse würden, nach meiner Meinung, nun durch den Zedlitzschen Antrag gesetzlich geordnet werden, und, wenn ich auch gewünscht hätte, daß das Amendement in dieser Beziehung deutlicher, unzweideutiger, vollständiger ge­ wesen wäre, so muß ich doch auf der andern Seite bemerken, daß die Absicht des Amendements keine andere ist, als die Dinge, wie sie praktisch gemacht werden, nun gesetzlich festzulegen und zu regeln. So lange eine solche Regelung nicht stattgefunden hat, wird auch im Verwaltungswege dieser ganze Znstanzenzug möglicherweise geändert werden können; insofern also glaube ich, hat Herr v. Winter den Herrn v. Zedlitz nicht ganz verstanden. Ich habe das nur anführen wollen, damit nicht aus Mißverstand die vielleicht sonst vorhandene Uebereinstimmung der Absichten ausgeschlossen werde. Abg. Freiherr zur Rabenau: Als gewähltes Mitglied einer Kreis-Ersatzkom­ mission will ich dem Herrn Abg. für Marienwerder, der als Landrach einer KreisErsatzkommission angehört hat, erwidern, daß ich nicht seiner Ansicht bin, die gewählten Mitglieder — die Civilmitglieder — der Kreis-Ersatzkommission seien Zuvielmit­ glieder — vielleicht für die Herren Landräthe mitunter, dos gebe ich zu. (H. u. Z.) Ich habe selbst diese Erfahrung in der Praxis gemacht. Die gewählten Civilmitglieder der Kreis-Ersatzkommission, der anzugehören ich die Ehre habe, haben im Gegensatz zu

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den betreffenden Verwaltungsbeamten und den militärischen Mitgliedern der Kommission befunden und dem entsprechend Majoritätsbeschlüsse und Entscheidungen gefaßt. Das Verfahren bei dieser Kommission ist bekannt und sehr einfach. Vor der Kreis-Ersatz­ kommission erscheinen bei der Nekrutirung die Leute, die ausgehoben werden sollen. Der Arzt untersucht sie, hat jedoch kein entscheidendes Votum, er stellt die Leute der Kom­ mission vor, sagt, sie haben die und die Fehler, oder sind diensttauglich, und nun ent­ scheiden die Herren der Kommission, bestehend aus zwei Offizieren, einem Verwaltungs­ beamten und vier von dem Herrn Abgeordneten für Marienwerder sogenannten Zuvielmitgliedern; diese Kommission entscheidet per majora darüber, ob der betreffende dienstpflichtige Mann fähig ist, Soldat zu werden, oder ob er solche Fehler hat, die ihn dienstuntauglich machen rc. Wenn das Gesetz dieser Kommission die Befugniß giebt, resp, die Fähigkeit zutraut, in diesen Fällen zu entscheiden, so muß man der Kommission auch die Fähigkeit zutrauen, darüber zu entscheiden, wenn Pensionsansprüche kommen, wie die hier in Rede stehenden. Ich empfehle Ihnen deshalb den Antrag Zedlitz. (S. r.! l. u. im C.) Abg. Freiherr v. Dörnberg: Ich habe mich sehr gewundert, daß der Herr Abg. v. Winter auf seine landräthliche Thätigkeit zurückgegriffen hat, um uns die Er­ fahrungen mitzutheilen, die er dabei als Civilvorsitzender der Kreis-Ersatzkommission gemacht hat. M. H., wer ist denn der Vertreter des Civil-Elements in der Kommission? Das ist der Landrath. Ich habe mich wenigstens als Landrath immer für verpflichtet gehalten, in der Kommission auch die Herren zum Worte kommen zu lassen, die von der Kreisvertretung in die Kommission berufen find, und ich kann versichern, daß diese Mitglieder in denjenigen Kreis-Ersatzkommissionen, an denen ich Theil genommen habe, sich auch nicht den Mund haben verbieten lassen. Was nun die Zusammensetzung der Kommission anbetrifft, so will ich nochmals rekapituliren, daß die Kreis-Ersatzkom­ missionen zwei Vorsitzende haben, einen Civilvorsitzenden und einen Militärvorsitzenden mit vollständig gleicher Berechtigung. Dem Militärvorsitzenden steht nur ein Offizier mit Stimmrecht zur Seite; dagegen hat der Landrath vier Civilmitglieder zur Seite, in der Regel zwei ländliche und zwei städtische, die aus der Kreisbevölkerung gewählt sind. Wenn die Kreisvertretung Mitglieder zu dieser Kommission wählt, die sich kein Urtheil über Sachen zutrauen, die ihnen überwiesen sind, so ist das freilich schlimm. Es liegt das aber nicht in der Einrichtung an und für sich und mau fragt füglich: wo bleibt da unsere Selbstverwaltung? Was die zweite Instanz angeht, so besteht die­ selbe aus dem Brigadekommandeur und einem von der Regierung dazu delegirten Re­ gierungsrath, und letzterer hat den Landrath zur Seite, der aber kein Stimmrecht hat in der Kommission, und ein zweiter Arzt, der bei dieser Gelegenheit zugezogen wird, hat das Gutachten des ersten Arztes zu superrevidiren. Zn dritter Instanz ist es auch nicht blos die Militärbehörde, sondern es sind, wie ich dem Herrn Kriegsminister be­ merken muß, der kommandirende General und der Ober-Präsident zusammen, welche entscheiden. Das sind die drei Instanzen, welche vollständig definitiv entscheiden. Also, m. H., von einem Ueberwiegen des militärischen Elements oder einem Ueberwuchern der Büreaukratie ist in diesem Falle gar keine Rede. Wir hatten gemeint, daß eine solche Institution, wie wir sie vorzuschlagen uns erlaubt haben, auf der Seite den allermeisten Anklang finden würde, die für Geschwornengerichte, für Zuziehung von Laien-Elementen und für mündliches und öffentliches Verfahren bei der Rechtsprechung sich interessiren. (H. I.) Was die intellektuellen Garantien betrifft, welche die Kom­ mission geben soll, so sind sie in solchem Maße vorhanden, wie sonst bei keinem Ge­ richt. Die Kreis-Ersatzkommission ist hauptsächlich dazu bestimmt, über Reklamations­ gründe zu entscheiden, und diese Gründe hängen meistens von der Vorfrage ab, ob irgend ein Angehöriger oder sonst Jemand im Stande ist, die Familie oder sich selbst noch zu ernähren. Das sind die Begriffe, mit denen die Kommission bei jedem Zu­ sammenkommen in jedem Augenblicke operirt, die ihnen also vollständig geläufig sind. Sie werden doch nicht behaupten wollen, daß zur Entscheidung der Frage, ob ein Mann erwerbsfähig ist oder nicht, besondere juristische Kenntnisse und ein scharfer juristischer

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Verstand gehören. Das kann den gedachten Leuten anvertraut und von ihnen beant­ wortet werden, da sie aus der Bevölkerung hervorgegangen sind und meistens jahrelang mit dieser Art von Beschäftigung betraut sind. Ich glaube deshalb, das Amendement des Herrn Abg. von Zedlitz ist durchaus sachgemäß und auch ein solches, welches den neueren Prinzipien der Selbstverwaltung und der Scheidung der gerichtlichen Verwaltungsthätigkeit durchaus entspricht. (Br.! r.) Ich empfehle deshalb das Amendement dringend zur Annahme. Abg. Lasker: M. H., die Debatte über den Rechtsweg scheint mir eigentlich verfrüht zu sein, denn, irre ich nicht, so soll der Antrag zu § 115 nicht gleichzeitig zur Abstimmung gebracht werden mit dem Anträge zu § 62. *) Präsident: Der Abg. Freiherr v. Zedlitz hat allerdings die beiden Anträge zusammengefaßt, zu § 62 als Einschiebung und zu § 115 als Schlußsatz. Abg. Lasker: Zch wollte dies klar stellen, weil darüber im Hause ein Irrthum geherrscht hat, als ob der Antrag des Abg. von Zedlitz ein Verfahren eröffnen wollte, welches den Rechtsweg nicht ausschlösse; jetzt steht also fest, daß durch den Antrag von Zedlitz der Rechtsweg ausgeschlossen werden soll. Für sich allein würde der Antrag von Zedlitz ganz unschuldig sein; er würde nur, was die Verwaltungsbehörden jetzt schon gestatten, eine nochmalige Revision im Verwaltungswege eintreten lassen und würde in gar keiner Verbindung mit dem Rechtswege stehen. Run stimme ich in vielen Punkten mit den Herren überein, welche hier die Ansicht vertreten, daß für den Rechtsweg keines­ wegs besondere juristische Kennisse der Richter maßgebend, auch nicht der schwerfällige Weg unseres Gerichtsverfahrens für den Rechtsweg überall nothwendig sei, namentlich in dem, was der Abg. Dr. Bähr so trefflich entwickelt hat, wie schwerfällig ein Prozeß sich abwickelt; das werden gewiß die Herren, welche die künftige Prozeßordnung vor­ bereiten, sich merken und auf die Autorität des Abg. Bähr hin, sowohl die Verminde­ rung der Instanzen als die Erleichterung des Verfahrens zu bewirken suchen. Ich habe an anderen Stellen selbst mitgewirkt, daß die Bürgschaft des Rechtsverfahrens auf einem nicht gewöhnlichen Rechtswege gesucht werde, und ich habe bei diesen Gelegenheiten sowohl im preußischen Abgeordnetenhaus wie im norddeutschen Reichstage offen bekannt, daß ich überhaupt auf Laiengerichte an Stelle der juristischen Gerichte Hinstrebe, und daß ich viel weiter über die Ansicht des Abg. Bähr hinaus die Rechtsprechung in die Hand der Laien zurückgelegt wünsche. Aber ich verstehe unter dem Rechtswege nicht, daß gelehrte Juristen und ernannte Beamten den Streit entscheiden. Dies ist eine irrige Anschauung, verwirrt durch die Rechtsentwickelung der neueren Zeit, im Gegensatz zu der ursprünglich deutschen Rechtsübung, und wir sind jetzt dabei, die Entwickelung wieder auf den richtigen Weg zurückzulenken, daß das Recht aus der Mitte des Volkes entwickelt, gefunden und gesprochen werde, die gelehrten Juristen und Beamtenrichter aber nur im beschränkten Maße mitwirken. Aber das eigentliche Kriterium des Rechts­ weges fällt in die Regel, daß derjenige, der sich beschwert fühlt, als Partei einer anderen gleichberechtigten Partei gegenübertreten, die Thatsachen genau specialisiren kann, daß in genau vorgeschriebenen Formen diese Thatsachen erörtert, und durch Beweiserhebung zum Austrag gebracht werden. Ist irgend eine Spur dieses Vorganges in dem Anträge des Abg. v. Zedlitz enthalten? Nicht die mindeste. Ich sehe von der Zusammensetzung der Kommission ab; will man von einem Beweisverfahren sprechen, von einem Ver­ fahren vor der Behörde zwischen Partei und Partei, so muß man Regeln hinzufügen, in welcher Weise das Verfahren geleitet werden soll. Ich will das praktische Interesse gleich entwickeln. Nach dem jetzigen Verfahren begründen Sie die letzte Herrschaft der Militärärzte und deren endgültige Entscheidung, während oft Mißtrauen gegen den Militärarzt herrscht und die unzufriedene Partei einen anderen Arzt von größerer

*) Derselbe lautet: dem § 115 eine Schlutzalinea einzuschieben: „Dasselbe ist der Fall mit den nach § 62 Alin. 2 getroffenen Entscheidungen der Militair- resp. Ersatzbehörde."

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Autorität, von anerkannter Redlichkeit, von erprobter Strenge anruft und dessm Aus­ sage berücksichtigt wissen will; — ein Verfahren hierfür gewährt Ihr Antrcg wicht, wenigstens mit Zwang des Gesetzes. Diese Garantie des Verfahrens fordern nir, aber der Antrag v. Zedlitz gewährt sie in keiner Weise; selbst wenn die Personen, nnlchie die Kommissionen bilden, wirklich die Bürgschaft unparteiischer Richter geben, der zwiischen uns schwebende Streit wird nicht auf diesem Wege ausgeglichen. — Der Herr Abg. v. Dörnberg hat uns den Antrag Zedlitz dadurch als näher stehend bezeichnet, weil in ihm die Elemente der Selbstverwaltung liegen. Das ist der gewohnte Mißbrcuch des Wortes. Wenn ein Wort einmal Mode geworden ist, wird es bei allen unpassenden Gelegenheiten zu Tode gehetzt. Selbstverwaltung ist jetzt Mode, es klingt liberal.' und entspricht ja einer liberalen Forderung. Die freikonservative Partei hat es cuf ihre Fahne geschrieben, und wenn sie einen ihrer Vorschläge rechtfertigen will, gebrarcht einer ihrer Vertreter das Zauberwort. Aber Selbstverwaltung und Rechtsspruch snd zwei verschiedene Dinge. Ich wünsche auch die Feststellung des Rechts durch Laien, aber in Folge eines Rechtsspruches, und nicht in Folge der Verwaltung. Selbstverwaltmr; bezieht sich blos auf das Gebiet der Verwaltung, daß nicht bureaukratisch bestellte Behörden, sondern Personen aus dem Kreise der Betheiligten mit der Verwaltung beauftragt werden. Die Forderung des Rechtsweges aber bezieht sich auf das Verfahren, welches in ge­ wissen vorgeschriebenen Formen vollzogen werden soll, und gegen diese Forderung wollen wir nicht abgefunden werden mit der Phrase: „wir lieben Selbstverwaltung und wünschen die Betheiligung von Laien und verzichten auf das Verfahren." Wir haben diese Frage vielfach erörtert in den Verhandlungen über die Gewerbeordnung, später in len Ver­ handlungen über die Armenkommission, wo ich selbst — Sie wissen, daß von mir der Vorschlag herrührt — die Form der Laiengerichte für Streitfälle der Armenunterstützung entworfen und durchgesetzt habe, und die Zusammensetzung so wie das Verfahren der Armenkommission sind so geregelt, daß sie förmliche Verwaltungs-Gerichtshöfe darstellen. Jener Antrag ist von mir eingebracht, formulirt und durchgesetzt worden. Sie sehen, m. H., daß ich keineswegs an dem Juristenrechte sehr hänge, sondern daß ich Privat­ personen und Laien zugezogen' wünsche, die für das Recht sprechen. Aber dies hat nichts gemein mit dem Vorschläge, ein paar Personen zusammenzurufen, von denen Sie sagen: diese Personen ersetzen den Rechtsweg, weil sie die Selbstverwaltung üben. — Es herrscht nämlich auf Seite derjenigen, welche sich als Vertreter der Selbstverwaltung par excellence bezeichnen und unter Alles den Begriff der Selbstverwaltung bringen, eine eben so starke Abneigung gegen Alles, was Recht sprechen heißt. (W. des Abg. v. Kardorff.) — Ich beurtheile sie nach ihren Thaten und nicht nach ihren Worten, und daher weiß ich, daß, so oft von dem Rechtswege die Rede ist, namentlich von dem ver­ ehrten Mitglieds, das mir soeben „nein" zugerufen hat, mit großer Energie Widerstand geleistet wird. Ich wünsche, daß man uns auf die Forderung des Rechtsweges nicht mit Improvisationen antworte, sondern mit gut durchgearbeiteten Vorschlägen, wie das Juristenrecht zu ersetzen ist durch das Laienrecht; in solchen Fällen werden die Herren mich auf ihrer Seite finden, und ich habe hierfür den Beweis gegeben, indem ich selbst an passender Stelle ein förmliches Laiengericht hergestellt, mit dem Sie Alle zufrieden sind. Aber an Stelle von Laiengerichten einfache Kommissionen ohne Bürgschaften der Zusammensetzung und des Verfahrens lassen wir uns nicht aufdrängen, und wir lassen uns nicht irre machen, wenn Sie uns einreden wollen, dies sei ein Rechtsweg. Nehmen Sie doch lieber Abstand von dem ersten Theil des Zedlitzschen Antrages, und schlagen Sie uns einfach vor, was wir in der ersten Lesung abgelehnt haben. Das ist wenigstens klar und verwirrt die allgemeinen Begriffe nicht in dem Sinne, daß Sie das Publikum glauben machen, es sei eine Form des Rechtsverfahrens hergestellt, wo in Wahrheit gar kein Rechtsverfahren gegeben ist. In der Sache aber wünsche ich das Rechtsverfahren um deswillen, damit nicht die betroffenen Personen sich beschwert fühlen, als ob ihnen von den Verwaltungsbehörden ein unerhörtes Unrecht geschehen sei. Ich bin selbst der Ueberzeugung, daß in den meisten Fällen die Entscheidung der Verwaltungsbehörden die zutreffende sein wird. Sehr wahrscheinlich wird der Rechtsweg nur von wenigen

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ergriffet werden, wie wir das seit dem Jahre 1866 erfahren haben, aber durch die weniger Fälle, durch die Möglichkeit wird schon das allgemeine Bewußtsein befriedigt; es komnt nicht der Glaube auf, daß Einer, der einen Rechtsanspruch erworben hat, durch seine Gegenpartei, d. h. durch die Militärverwaltung in diesem seinen Rechtsanspruy verkürzt werde. Auf dieses allgemeine Bewußtsein, daß man in einem wohl­ geordneten Rechtsstaate lebt und daß die Querulanten von einem ordnungsmäßig be­ stellten Richter abgewiesen werden, nachdem der Beschwerdeführer ordnungsmäßig angehört und das Verfahren nach sicheren Vorschriften geleitet worden ist, lege ich großes Gewicht und aus diesem Grunde bitte ich bei der ersten Entscheidung zu bleiben. Ich bitte aber, diesen Ausspruch klar zur Abstimmung zu bringen und nicht unter der Maske des An­ trages des Abg. v. Zedlitz. Lbg. v. Kardorff: M. H., die Frage, auf die der Herr Vorredner eben näher eingegangen ist, die Frage nämlich, inwieweit ein Rechtsschutz eingeführt werden muß gegen die Entscheidungen und Verfügungen der Verwaltungsbehörden, diese Frage ist bei allen neuern Gesetzgebungen immer wieder zur Sprache gekommen, und sie ist in der Thct eine der wichtigsten und bedeutungsvollsten für unsere ganze nationale Ent­ wickelung und für unser gesammtes öffentliches Leben. Aber, m. H., wenn der Herr Abg. Lasker es gleichsam als ein Privilegium seiner Partei in Anspruch genommen hat, daß dieselbe allein diesen Weg gehen wollte, den Rechtsschutz zu schaffen gegen die Ver­ waltungsverfügungen, so muß ich ihm dazu das Recht auf das allerentschiedenste be­ streiten. Wir unsererseits sind jederzeit für den Rechtsschutz aufgetreten, wenn auch nicht in dem Sinne des Herrn Abg. Lasker, welcher seinerseits den Rechtsstaat permanent mit dem Richterstaat verwechselt, in welchem die Souveränetät des Kreisrichters etablirt werden soll. (W. l.) Wir unsrerseits haben nach zwei Richtungen Front gemacht — dessen sind wir uns wohl bewußt — nach dieser Seite (r.), sobald dort betont wurde: wir müssen die alten Maximen, lediglich den alten Jnstanzenzug der Verwaltungs­ behörden festhalten, wir wollen nichts daran ändern; so wie gegen diejenigen Herren von der anderen Seite, welche das gesammte öffentliche Recht der Adjudikatur des Kreis­ richters zuweisen wollen. Nach unserer Meinung, m. H., geben die Kreisgerichte nicht die nöthigen Garantien zur Beurtheilung der Verhältnisse des öffentlichen Rechts, nicht die Garantien der Sach- und Fachkenntniß, wie sie hierbei vorausgesetzt werden muß; und außerdem kürzt die Eröffnung des Rechtsweges nicht den Jnstanzenzug ab, an dessen Weitläufigkeit wir gegenwärtig so sehr laboriren, während diese Abkürzung durch Verwaltungsgerichtshöfe, die der Herr Abg. Lasker als seine Erfindung proklamirt hat, erledigt wird. Der Herr Abg. Lasker hat gesagt, er sei immer dafür gewesen, solche Verwaltungsgerichtshöfe ins Leben zu rufen und wäre da mit uns immer Hand in Hand gegangen. Er hat aus ein Beispiel hingewiesen, wo er einen ähnlichen Ver­ waltungsgerichtshof durch sein Amendement ins Leben gerufen hätte; ich will ihm dieses Beispiel koncediren, aber ich erinnere aus den Verhandlungen über die Kreisordnung und andere Verhandlungen im norddeutschen Reichstag daran, daß er jeder solchen Idee, wenn sie aus andern Kreisen hervorging, den lebhaftesten Widerspruch entgegen­ gesetzt und immer betont hat, daß die Rechtsprechung durch den Kreisrichter die alleinige Garantie und der wahre Schutz des öffentlichen Rechts sei. — M. H., der Herr Abg. Lasker hat in Bezug auf die Kreis-Ersatzkommissionen meiner Ansicht nach doch auch eine ganz entschieden unrichtige Vorstellung. Erstens meinte er, es wäre kein münd­ liches Verfahren vor den Kreis-Ersatzkommissionen. Ich muß das auf das Aller­ bestimmteste bestreiten. Ich gebe dem Herrn Abg. Lasker darin Recht, es existiren fest­ vorgeschriebene Normen für das mündliche Verfahren nicht; daß aber durch Herkommen ein solches existirt, haben schon alle die Herren anerkannt, die über ihre Erfahrungen in bett Kreis - Ersatzkommissionen gesprochen haben, und ich kann gegenüber den Aus­ führungen des Herrn Vorredners selbst das bemerken, daß er sich im Irrthum befindet, wenn er meint, daß der Militärarzt eine Stimme in der Kreis-Ersatzkommission habe; er hat nur sein Gutachten abzugeben, und auf Grund desselben entscheidet die Kom­ mission, von welcher die Mehrzahl Civilmitglieder sind, die sich daran sehr wenig kehren, Reichstags-Repertorium I.

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Gesetzentwürfe.

welche Meinung der vorsitzende Offizier und die militärischen Beisitzer haben, sondern nach ihrem besten Wissen und Gewissen den Fall entscheiden. M. H., mir find eine Menge Fälle bekannt, wo im direkten Widerspruch mit den militärischen Beisitzern und der Militärbehörde solche Entscheidungen der Kreis-Ersatzbehörde getroffen sind. — M. H., das will ich dem Herrn Vorredner zugeben, daß es vielleicht möglich gewesen wäre, den Antrag noch besser zu präzisiren, als es bei der Kürze der Zeit jetzt möglich war; aber ist denn eine künftige Aenderung, eine künftige gesetzliche Regelung aus­ geschlossen, wenn wir vorläufig diesen Antrag annehmen? Ich meinerseits bitte Sie dringend: nehmen Sie denselben an! Sie handeln dann sowohl im Interesse der In­ validen, wie auch namentlich im Interesse des Richterstandes, dem Sie, wenn Sie den Rechtsweg eröffnen, eine Menge Entscheidungen zuweisen, über die er in der That ein durchaus richtiges Urtheil nicht zu fällen vermag. Die Abstimmung erfolgt namentlich; von 260 Abstimmenden stimmen mit Za 114, mit Nein 146. Der Antrag des Abg. v. Zedlitz ist abgelehnt. § 62, wie er in der Zusammenstellung steht, wird angenommen. Es werden sämmtliche §§ 117 in der Beschlußfassung der zweiten Berathung mit Amendirungen der freien Kommissionen genehmigt, alle weiteren Abänderungsanträge abgelehnt. Für die Abstimmung über das Gesetz im Ganzen bedarf es einer neuen Zusammenstellung der Beschlüsse. Nachträglich weist Abg. v. Winter auf eine Lücke im Gesetz hin, indem diejenigen, welche im Kriege ihr Gehör verloren haben und dadurch erwerbsunfähig geworden sind, in § 72 nicht ausdrücklich unter denen aufgeführt sind, denen neben der Pension und eventuell neben der Verwundungszulage eine Ver­ stümmelungszulage von 6 Thaler monatlich gewährt werden soll. Da aber durch Lit. d. des § 72, welche das Haus zugefügt hat, schwere Schäden an wichtigen äußeren oder inneren Körpertheilen in ihren Folgen auf die Erwerbsfähigkeit einer Verstümmelung gleichgestellt sind, und da es nach der Geschäftsordnung unzulässig ist, nach dem Schluß der Berathung neue Zusätze zu einer Vorlage zu beantragen, was ausnahmsweise nur geschehen könnte, wenn kein Mitglied widerspricht, so verzichtet Abg. v. Winter auf jeden weiteren Antrag in der Voraussetzung, daß die Militärverwaltung die des Gehörs.Be­ raubten im Sinne des vom Hause ergänzten § 72 behandeln wird.

In der Sitzung vom 13. Juni 1871 wird das Gesetz fast einstimmig vom Hause genehmigt.

Nr. 21.

A-ditional-Artikel ZN dem am 21. Oktober 1867 Zwischen der Postverwaltung des Norddeutschen Sundes und der Postverwaltung der vereinigten Staaten von Amerika abgeschlaffeneu vertrage flir dir Verbesserung des Postdienstes Zwischen den beiden Ländern, sowie zn dem Additional-vertrage vom 7/23. April 1870. Wenn eine regelmäßige Dampfschiffs-Linie zwischen einem Hafen Deutschlands und einem Hafen der Vereinigten Staaten von Amerika zum Transport der Deutsch-Amerikanischen Posten

gegen eine solche Vergütung benutzt werden kann, daß die gesammten Beförderungskosten zwischen

den Grenzen der beiden Gebiete für jeden einfachen Brief ’/2 Silbergroschen nicht übersteigen: So

haben die Unterzeichneten, mit gehöriger Vollmacht von ihren Auftraggebern, resp, dem Deutschen Reiche und den Vereinigten Staaten von Amerika versehen, sich über folgenden Additional-Artikel zu dem Postvertrage vom 21. Oktober 1867 und zu dem Additional-Vertrag vom 7/23.April 1870

verständigt. Einziger Artikel.

Der einfache Briefportosatz bei der zwischen den beiden Verwaltungen mittelst der betreffen­ den Linie direkt ausgewechselten Korrespondenz wird, wie folgt, festgesetzt:

Erweiterungsbau für das Dienstgebäude des Reichskanzler-Amtes.

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1) Für Briefe aus Deutschland nach den Vereinigten Staaten: a) bei der Vorausbezahlung in Deutschland 2*/2 Silbergroschen, b) bei der Bezahlung in den Vereinigten Staaten 12 Cents. 2) Für Briefe aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland: a) bei der Vorausbezahlung in den Vereinigten Staaten 6 Cents, b) bei der Bezahlung in Deutschland 5 Silbergroschen. Dieser Additional-Artikel tritt an dem Tage der Abfertigung der ersten Post mittelst der be­ treffenden Linie in Kraft, und hat von da ab gleiche Dauer mit dem Vertrage vom 21. Oktober 1867 und mit dem Additional-Vertrage vom 7/23. April 1870. So geschehen in doppelter Ausfertigung und unterzeichnet in Berlin am 14. Mai Eintausend Achthundert Ein und Siebenzig, und zu Washington am 31. März Eintausend Achthundert Ein und Siebenzig.

Der Artikel wird in erster und zweiter Lesung in der Sitzung am 19. Mai 1871 nach kurzer Erörterung angenommen.

Dritte Berathung am 24. Mai 1871. Abg. Mosle schlägt eine Resolution vor: Der Reichstag wolle beschließen: den Herrn Reichskanzler zu ermächtigen, das Briefporto für den einfachen frankirten Brief von Deutschland nach den Vereinigten Staaten von Nordamerika und in entgegengesetzter Rich­ tung, überall da auf 2V2 Sgr. (resp. 6 Cents) zu normiren, wo die Ab­ machungen zwischen den Postanstalten und den Dampferlinien dies er­ möglichen. Bundesbevollmächtigter General-Postdirektor Stephan macht dem Hause die Mit­ theilung, daß unter Zugrundelegung der Seeporto-Berechnung nicht für den einzelnen Brief und die einzelne Briefrate, sondern einer Globalvergütung nach einem Gesammtgewichtssatze der Bremer Lloyd und die Hamburger Packetfahrt-Aktiengesellschaft sich aus freiem Antriebe dazu bereit erklärt haben, die Vorschläge des Reichs-Postamts unver­ ändert anzunehmen, denen zufolge das Prinzip der 2V2 Sgr. Portotaxe gelten solle. Der Artikel wird sammt der Resolution angenommen.

Nr. 22.

Gesetzentwurf, betreffend den Erweiterungsbau für das Üienstgebaude des Neichskanzler-Amtes. Wir Wilhelm re. Der Reichskanzler wird ermächtigt, zur Erweiterung des Dienstgebäudes des ReichskanzlerAmtes im Zahre 1871 als erste Kostenrate den Betrag von Einhunderttausend Thalern zu verwenden. Die Mittel zur Bestreitung dieser Ausgabe sind durch Beiträge der einzelnen Bundesstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung aufzubringen.

Der Entwurf wird nach kurzer Erörterung in erster Lesung am 1. Juni, in zweiter am 9. Juni und in dritter am 10. Juni angenommen.

Gesetzentwürfe.

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Nr. 23. Gesetzentwurf, betreffend die Entschädigung der deutschen Nhedrrri. Wir Wilhelm rc. Artikel I. Den Deutschen Eigenthümern und Deutschen Besatzungen der von Frankreich zenwmmenen Schiffe, beziehungsweise Ladungen, wird aus den bereitesten Mitteln der von Frankreich zm zahlen­ den Kriegs-Entschädigung nach folgenden Grundsätzen Entschädigung gewährt. § 1. Den Rhedern und den Ladungs-Eigenthümern der von Frankreich nicht zurückZegebenen Schiffe und Ladungen wird der Werth derselben vergütet. Haben zurückgegebene Schiffe und Ladungen während der Dauer der Wegnahme eine Werthsverminderung erlitten, so erhalten die Eigenthümer für diese Werthsverminderung Ersatz. § 2. Bei der Ermittelung des Werthes ist zum Grunde zu legen: a) für Schüsse der­ jenige Werth, welchen sie zur Zeit der Aufbringung gehabt haben. Die Schätzung des Schifffswerthes erfolgt — vorbehaltlich des Rechts des Schiffs-Eigenthümers zum Nachweise eines höheren Werthes — nach der anliegenden Tax-Skala; — b) bei Ladungen der Werth, welchen dieselben mit Zu­ rechnung der dafür bezahlten Seeversicherungs-Prämie am Einschiffungsorte zur Zeit des Abgangs des Schiffes gehabt haben. § 3. Den Rhedern, Ladungs-Eigenthümern und Schiffsbesatzungen werden die nachstehend bezeichneten Ausgaben und Verluste, soweit dieselben durch die Aufbringung der Schiffe oder die Wegnahme der Ladungen erweislich erwachsen sind, ersetzt: Hafengelder, Gerichts- und Notariats­ kosten, sowie ähnliche baare Auslagen, Verlust an Schiffsproviant, Aufwendung für den Unterhalt oder die Heimsendung der Schiffe, Ladungen und Besatzungen, die für die Versicherung d§r Schiffe gegen Seegefahr erweislich bezahlten, auf die Dauer der Wegnahme fallenden Prämien, die ver­ diente Distanzfracht der nicht mit Ladung zurückgegebenen Schiffe, die Heuer der Besatzungen für die Zeit ihrer Gefangenhaltung und die Verluste an der Habe derselben. Der Werth dieser Habe wird hierbei a) für einen Schiffsführer auf 400 Thlr., b) für einen Steuermann auf 200 Thlr., c) für einen Untersteuermann, Bootsmann, Zimmermann oder anderen Seemann gleichen Ranges auf 150 Thlr., d) für jeden sonstigen Schiffsmann auf 100 Thlr. angenommen. § 4. Für Verluste, welche durch Versicherung gegen Kriegsgefahr gedeckt sind, wird, außer dem Ersatz der gezahlten Versicherungsprämie, Entschädigung nicht gewährt. Artikel II. Aus der im Artikel I. erwähnten Kriegs-Entschädigung wird ferner den Rhedern derjenigen Deutschen Kauffahrteischiffe, welche durch feindliche Bedrohung in außerdeutschen Häfen zurückgehalten oder zum Einlaufen in solche Häfen genöthigt worden sind, für die Dauer ihres gezwungenen Aufent­ halts Ersatz der ihnen erwachsenen baarcn Auslagen für Heuer (ausschließlich Kaplaken) geleistet und außerdem Entschädigung für den Unterhalt der Besatzung nach den von der Liquidations-Kom­ mission (Artikel III.) festzustellenden Grundsätzen gewährt. Artikel III. Ueber die nach Maßgabe der vorstehenden Bestimmungen zu gewährende Entschädigung wird für jeden einzelnen Fall durch eine aus 6 Mitgliedern und 4 Stellvertretern bestehende Liquida­ tions-Kommission endgültig entschieden. Die Kommission wird vom Bundesrath ernannt. Sie wühlt ihren Vorsitzenden und einen Stellvertreter desselben aus der Zahl ihrer Mitglieder. Ihre Beschlüsse werden nach Stimmenmehrheit gefaßt; bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzen­ den. Die Kommissions-Mitglieder stimmen lediglich nach ihrer eigenen freien Ueberzeugung. Zur Beschlußfähigkeit der Kommission ist die Anwesenheit von mindestens 3 Mitgliedern, einschließlich des Vorsitzenden oder seines Stellvertreters, erforderlich. Im Uebrigen regelt die Kornmisston ihre Geschäftsordnung selbstständig. Die Kommission hat das Recht, die Behörden selbstständig zu requiriren, Zeugen eidlich zu vernehmen oder vernehmen zu lassen, eidesstattliche Versicherungen ab­ zunehmen oder abnehmen zu lassen, auch den Liquidanten präklusivische Fristen für dte Anmeldung und Begründung ihrer Forderungen zu bestimmen. M folgt Tax-Skalas

Gewährung von Beihülfen an die aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen.

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Motive. Die Französische Regierung ist während des letzten Krieges dem Vorgänge Deutschlands, welches die Französischen Handelsschiffe von der Aufbringung und Wegnahme durch seine Kriegs­ marine befreite, Verordnung vom 18. Juli v. I. (Bundesgesetz-Blatt Seite 485) — nicht gefolgt. Mehr als achtzig Deutsche Kauffahrteischiffe sind von den Französischen Kreuzern genommen worden und die Besorgniß vor gleichem Schicksal hat sehr zahlreiche Deutsche Schiffe während des Krieges in fremden Häfen zurückgehalten oder zum Einlaufen in solche Häfen genöthigt. Daß den Deutschen Eigenthümern und Deutschen Besatzungen der von Frankreich genomme­ nen Schiffe und Ladungen aus der von Frankreich zu entrichtenden Kriegsentschädigung Ersatz ge­ währt werde, entspricht mit Rücksicht auf die völkerrechtliche Schutzlosigkeit des Privateigenthums zur See der Billigkeit und der in früheren Fällen, z. B. nach dem letzten Deutsch-Dänischen Kriege geübten Praxis. Die zu leistende Entschädigung ist auf die Vergütung der direkt durch die Weg­ nahme erwachsenen Schäden und Verluste zu beschränken. Die Gewährung einer ausgedehnteren Entschädigung an die Rhederei 2 c. würde von Seiten anderer, durch den Krieg kaum minder hart betroffenen Geschäftszweige Ansprüche auf gleichartige Ersatzleistung Hervorrufen, welchen zu genügen nicht möglich wäre. Größer noch als derjenige Schaden, welcher durch die Aufbringung von Schiffen der Deutschen Handelsmarine zugefügt wurde, ist der Gesammtbetrag derjenigen Verluste, welcher durch das gezwungene Stillliegen zahlreicher Schiffe in außerdeutschen Häfen den betheiligten deutschen Rhedern erwachsen ist. Die letzteren befanden sich nach Ausbruch des Krieges in der Alternative, ihre Schiffsbesatzungen entweder trotz des Stillliegens während der Dauer des Krieges in ihrem Dienst, also in Lohn und Brod, zu behalten oder aber unter Auflösung des Heuervertrages auf Grund des Artikels 543 Nr. 4 des Handelsgesetzbuchs nach demjenigen Hafen, in welchem sie angeheuert worden, zurückzubefördern. In letzterem Falle wäre den Rhedern außer den oft sehr erheblichen Kosten der Heimschaffung die Nothwendigkeit erwachsen, nach Beendigung des Krieges zur Heim­ führung der Schiffe auf ihre Kosten Deutsche Mannschaften in's Ausland zu senden, sofern sie Be­ denken trugen, ihre Schiffe ausländischen, nicht immer zuverlässigen und ost nur für hohen Lohn zu gewinnenden Seeleuten anzuvertrauen. Mit Rücksicht auf diese mit der Heimsendung der Be­ satzungen verbundenen Nachtheile sowie auf die Ungewißheit der Dauer des Krieges haben die Rheder, welche überdies ihre Schiffe tut Auslande nicht ganz ohne Obhut lassen konnten, vielfach die erstere Alternative gewählt. Sie sind demgemäß genöthigt gewesen, für die beim Schiffe verbliebene Be­ satzung an Heuer und Kosten des Unterhalts bedeutende Beträge aufzuwenden. Daß den betheiligten Rhedern für diese letzteren direkt durch den Krieg ihnen veranlaßten baaren Ausgaben Vergütung aus der Kriegsentschädigung gewährt werde, erscheint durch Billigkeitsgründe gleichfalls gerechtfer­ tigt. re. re.

Der Entwurf wird in erster Lesung in der Sitzung am 2. Juni 1871 an­ genommen; ebenso in zweiter Lesung am 9. Juni mit dem Amendement Dr. Wolffson u. Gen., nach § 3 folgenden neuen Paragraphen einzuschalten: § 3 a. „Die nach Maßgabe dieses Gesetzes zu leistende Entschädigung für Schiff, Fracht oder Ladung tritt für die Schiffsgläubiger an Stelle derjenigen, zu deren Ersatz sie bestimmt ist." Die Anträge der Abgg. Büsing und van Freeden u. Gen. statt: „außerdeutsche" andere als Heimathshäfen — statt: „in solche Häfen" in Schutzhäfen zu setzen — werden abgelehnt. Der Entwurf wird auch in dritter Lesung am 10. Juni 1871 genehmigt.

Nr. 24. Gesetzentwurf, die Gewährung von Geihülfen an dir aus Frankreich ausgerviesrnen Deutschen betreffend. Wir Wilhelm rc. rc. Artikel 1. Zur Gewährung von Beihülfen an die während des letzten Krieges aus Frank­ reich ausgennesenen Deutschen wird außer den für diesen Zweck in Frankreich erhobenen besonderen

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Gesetzentwürfe.

Kontributionen eine Summe von zwei Millionen Thalern aus den bereitesten Mitteln der von Frank­

reich zu zahlenden Kriegs-Entschädigung verwendet. Artikel 2. Die Artikel 1 bestimmten Mittel werden den einzelnen Deutschen Regierungen überwiesen und unter dieselben nach dem Verhältnisse der jedem einzelnen Staate angehörigen Aus­ gewiesenen zur Gesammtzahl aller Ausgewiesenen vertheilt. Artikel 3. Die Negierungen bestimmen die den einzelnen Ausgewiesenen zu gewährenden Beihülfen, und sind berechtigt, die von ihnen etwa geleisteten Vorschüsse in Abzug zu bringen. Motive.

Während des letzten Krieges sind aus Frankreich und dessen Kolonien zahlreiche bis dahin dort wohnhafte Deutsche auf Anordnung der Französischen Negierung ausgewiesen worden. Diese Maßregel, welche mit den, von Frankreich bei dem Ausbruch des Krieges öffentlich ausgesprochenen Absichten nicht im Einklang sich befand und in vielen Fällen mit Härte ausgeführt wurde, hat für einen großen Theil der davon Betroffenen empfindliche Vermögensverluste zur Folge gehabt. Nicht allein die Lebensstellung, welche die einzelnen Deutschen in Frankreich sich zu erwerben gewußt Latten, und in der sie durch Thätigkeit ihren Unterhalt gewannen, ging ihnen durch die Ausweisung ver­ loren, sondern auch des Besitzes ihrer Habe wurden sie vielfach dadurch beraubt, daß ihnen weder zur Veräußeruug noch zur Fortschaffung derselben Zeit gelassen wurde. Sehr zahlreiche Gesuche um Entschädigung oder Unterstützung sind von den auf diese Weise Beschädigten, zum Theil in wirk­ licher Noth befindlichen Deutschen bei den Reichsbehörden und Landesbehörden angebracht worden. Wenn nun auch ein Rechtsanspruch der Vertriebenen auf Gewährung solcher Entschädigung weder gegen Frankreich noch gegen Deutschland als begründet anerkannt werden kann, so sprechen doch erhebliche Billigkeitsrücksichten dafür, den durch die Folgen des Krieges so hart betroffenen Deutschen wenigstens eine Beihülfe zur Erleichterung ihres ferneren Fortkommens zu gewähren. Zu diesem Zwecke sind bereits während des Krieges in den okkupirten Gebieten Frankreichs speciell für die vertriebenen Deutschen bestimmte Kontributionen ausgeschrieben und im Betrage von ungefähr sieben Millionen Franken eingezogen worden. Die Zahl der Vertriebenen ist indeß eine so große und der von ihnen erlittene Schaden ein so beträchtlicher, daß der gedachte Betrag eine zureichende Beihülfe zur Erfüllung des Zwecks nicht gewähren würde. Der Artikel l des vorliegenden Gesetzentwurfs will daher den Betrag jener Kontributionen noch um 2 Millionen Thaler aus den bereiten Mitteln der von Frankreich zu zahlenden Kriegsent­ schädigung erhöhen. Der Artikel 2 vertheilt die hiernach aus der Kontribution und den 2 Millionen Thalern be­ stehende Gesammtsumme je nach der Kopfzahl der jedem einzelnen Deutschen Staate angehörenden Ausgewiesenen unter die einzelnen Deutschen Regierungen, und der Artikel 3 überträgt den letzteren die Bemessung der Beihülfen für jeden einzelnen Fall, weil eben nur die Landesregierungen im Stande sind, die Verhältnisse ihrer Staatsangehörigen eingehend zu prüfen und richtig zu würdigen.

Erste Berathung am 2. Juni 1871. Berichterstatter Abg. v. Cranach berichtet über einige eingegangene Petitionen, die vorliegenden Gegenstand betreffen. . Abg. Freiherr v. Patow: M. H., wenn ich das Wort bei dieser Frage ergreife, so will ich nicht verhehlen, daß ich die Ehre habe, Mitglied des Comites zu sein, welches sich mit der Prüfung der Ansprüche der aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen be­ schäftigt; ich bin mir bewußt, daß diese meine Stellung keinen Einfluß auf meine An­ schauungen hat, daß sie vielmehr mir nur dazu behülflich gewesen ist, die Verhältnisse etwas näher kennen zu lernen, als ohne diese meine Stellung der Fall sein würde. M. H., ich erkenne vollständig an, daß den aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen ein etwaiger Entschädigungsanspruch gegen das Reich nicht zusteht; ich glaube aber auch andererseits, daß das Verfahren, welches französischerseits beobachtet worden ist, ein solches ist, daß dem deutschen Reiche das nobile officium, die Pflicht oblag, die Rechte dieser Ausgewiesenen Frankreich gegenüber wahrzunehmen. M. H., es war ja eine der traurigsten Seiten der früheren Zerrissenheit Deutschlands, daß jeder Engländer, jeder

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Franzose, jeder Amerikaner das sichere Gefühl haben konnte, daß er, auf welchem Punkte der Erde er sich auch befinden möge, sicher sein konnte, im Falle einer Rechtsverletzung von seiner Nation, von seiner Negierung vertreten zu werden, daß aber der Deutsche sich in fremden Ländern, namentlich in den weiter entfernten überseeischen Ländern, schutzlos und verlassen fühlte. Gerade in dieser Beziehung haben sich ja an die Wieder­ auferstehung des deutschen Reiches die freudigsten Hoffnungen geknüpft; diese Hoffnungen haben sich in Kundgebungen der Deutschen in Amerika, in Afrika, in Asien, in allen Welttheilen ausgesprochen, und ich würde daher glauben, daß wir es zu bedauern hätten, wenn diese Hoffnungen, diese Erwartungen da, wo sich die erste Gelegenheit zeigt, sie zu realisiren, unerfüllt bleiben sollten. M. H., daß in Fällen dieser Art von anderen großen Staaten Entschädigungen verlangt, daß, wenn sie nicht bereitwillig gewährt wurden, oft genug Kriege deshalb erklärt worden sind, und namentlich schwächeren Staaten gegenüber oft genug zu den schärfsten Maßregeln des Krieges geschritten worden ist, das bedarf in der That keiner Ausführung. Ich glaube daher, der natürliche Weg wäre gewesen, auch die Ansprüche der ausgewiesenen Deutschen Frankreich gegenüber geltend zu machen und dieselben direkt gegen Frankreich zu liquidiren. — Ich verkenne nicht die Gründe, welche es wünschenswerth gemacht haben, nicht in dieser Weise vor­ zugehen; es würde unzweifelhaft die Friedensverhandlungen, über deren raschen und glücklichen Abschluß wir ja Alle hoch erfreut sein müssen, sehr verwickelt und verzögert haben. Ja es würde sogar die Lage der ausgewiesenen Deutschen nach meinem Dafür­ halten verschlimmert haben, wenn sie mit ihren Ansprüchen direkt an Frankreich gewiesen worden wären, wenn Frankreich ihnen unmittelbar die ihnen zugebilligte Entschädigung hätte zahlen müssen. Ich billige also vollkommen den Weg, welcher eingeschlagen worden ist. Wenn man es aber unterließ, eine spezielle Liquidation der Schäden Frankreich gegenüber aufzustellen, um nöthigenfalls die Erfüllung dieses Anspruchs zu erzwingen, so, glaube ich, übernahm dadurch das Reich in der That die Verpflichtung, aus den Summen, welche aus verschiedenen Titeln in einem Pauschquantum an das deutsche Reich gezahlt werden, nun auch die Entschädigung den ausgewiesenen Deutschen in einigermaßen genügender Weise zu leisten. Es läßt sich allerdings wohl behaupten, daß im Falle eines Krieges jedem der kriegführenden Mächte das Recht zusteht, die in seinen Grenzen befindlichen Angehörigen des feindlichen Staats auszuweisen; ich will diesen Grundsatz nicht bestreiten, aber, auch wenn von diesem Rechte Gebrauch gemacht werden soll, dann ist doch die Ausübung desselben an gewisse völkerrechtliche Bestimmungen, an die Gesetze der Humanität ge­ bunden; und diesen völkerrechtlichen Bestimmungen, diesen Gesetzen der Humanität ist französischerseits in dem letzten Kriege auf das Entschiedenste Hohn gesprochen worden. Es darf ja nur daran erinnert werden, daß das Ausweisungsverfahren damit begann, daß die in Frankreich verweilenden Deutschen aufgefordert wurden, sich Aufenthalts­ karten zu lösen, daß sie zu dem Glauben verleitet wurden, es würde ihnen der längere Aufenthalt gestattet werden, und daß man gerade durch diese Aufenthaltskarten eine Garantie gegen etwaige Excesse gewähren wollte; daß aber wenige Tage darauf, nachdem diese Aufenthaltskarten erbeten worden, und man auf diese Weise zu einer vollständigen Uebersicht der vorhandenen Deutschen gekommen war, nun der Befehl der sofortigen Ausweisung erfolgte und mit vollster Strenge, mit Grausamkeit und Unmenschlichkeit durchgeführt wurde. (Redner führt ein Beispiel an.) Wäre in der ganzen Sache bisher nichts geschehen, dann, m. H., ließe sich ja noch darüber streiten, ob und in welchem Grade den Ansprüchen, die nach meinem Dafürhalten begründet sind, seitens der Regierung des deutschen Reiches Folge gegeben werden solle; aber wir dürfen doch nicht vergessen, daß nicht mehr res integra ist. Es sind ja von dem Reiche in den französischen Departements besondere Kontributionen ausgeschrieben worden, um die ausgewiesenen Deutschen mittelst dieser Fonds zu ent­ schädigen. Es liegt also in diesem Ausschreiben besonderer Kontributionen ein direktes und unzweifelhaftes Anerkenntniß eines vorhandenen Entschädigungsanspruches. M. H., es hat sich ferner hier ein Konnte unter den Augen der Behörden, der Ministerien ge-

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bildet. An der Spitze desselben steht der Polizei-Präsident von Berlin; es hat eine nicht offizielle, aber jedenfalls offiziöse Stellung eingenommen, es hat mit Behörden und Komites aller übrigen deutschen Staaten korrespondirt, es hat preußischerseits Geld­ mittel und recht bedeutende Geldmittel empfangen, um den dringenden Bedürfnissen abzuhelsen. Dadurch, daß alles dieses geschehen ist, mußte der Glaube erweckt werden, daß den verletzten Deutschen zu einer Entschädigung werde verholfen werden. Tie Ent­ schädigungsansprüche der Vertriebenen sind von dem in Rede stehenden Konnte geprüft worden; sie ergeben allerdings eine große Summe — ich will sie nicht nennen, um nicht zu erschrecken — aber das kann ich versichern, daß den als begründet nachgewiesenen Ansprüchen gegenüber die Entschädigung, welche hier dargeboten wird, eine sehr kleine, um nicht zu sagen, verschwindende ist, daß, wenn es bei dieser Art der Entschädigung verbleibt, einzelne der Ausgewiesenen in die Lage kommen können, nicht nur nichts weiter zu erhalten, sondern von dem, was sie vorschußweise erhalten haben, noch zurück­ zahlen zu müssen. Ich glaube daher, daß es unerläßlich sein wird, mehr zu thun, als der Gesetzentwurf beabsichtigt. — An zweiter Stelle glaube ich aber, welche Summe nun auch festgestellt werden möge, das Prinzip angreifen zu müssen, daß die Ent­ schädigungssumme auf die einzelnen Staaten nach der Zahl ihrer Ausgewiesenen vertheilt werden solle; ich halte dieses Prinzip für ein durchaus unzulässiges. (S. w.!) M. H., gerade aus den an Frankreich grenzenden Staaten ist ja die große Masse der Straßenkehrer, der Schornsteinfeger und aller derjenigen Deutschen hervorgezangen, welche in Paris auf gewisse gewerbliche Zweige fast ein Monopol hatten, während aus allen übrigen deutschen Staaten die Kaufleute, Fabrikanten, Gewerbetreibende jeder Art kamen. Ich glaube nun, es ist nicht übertrieben, daß der Verlust von tausend Aus­ gewiesenen jener Kategorie, welche ich vorhin bezeichnet habe, sich kaum so hoch belaufen wird, als der Verlust mancher einzelnen Individuen, die anderen Staaten angehören; daß also bei einer Vertheilung rein nach der Kopfzahl, auch bei der geringen Summe, auf gewisse Staaten zu viel fallen, dagegen auf die übrigen ein verschwindend kleiner Theil kommen würde. Ich glaube daher, wenn es auch wünschenswerth ist, diese Sache rasch zu erledigen, daß doch ein etwas komplizirteres Verfahren eingeschlagen werden muß. Die Entschädigungsansprüche des bei weitem größten Theils der ausgewiesenen Deutschen sind geprüft worden, theils von dem hiesigen Konnte, welches seine Wirk­ samkeit über ganz Deutschland ausgedehnt hat, theils von den Komites, welche sich in anderen Staaten und Städten gebildet haben. Die Prüfungen sind erfolgt nach über­ einstimmenden Grundsätzen und sind so ausgefallen, daß sie, ich will nicht sagen, ohne Weiteres zu Grunde gelegt werden können, aber doch eine vortreffliche Uebersicht ge­ währen. Nach meinem Dafürhalten müßte unter Anordnung eines kurzen Präklusiv­ termins eine Aufforderung erlassen werden, daß diejenigen, welche ihre Ansprüche noch nicht angemeldet haben, diese Anmeldung schleunigst nachzuholen haben, und daß diese Ansprüche in ähnlicher Form festgestellt werden, wie es mit allen denen, welche ihre Ansprüche bereits angemeldet haben, bereits geschehen ist. Wäre dieses Anmeldungs­ verfahren abgeschlossen, dann würde nach meinem Dafürhalten eine von Reichswegen, von Seiten der verbündeten Regierungen zu bestellende Kommission unter Beihülfe von Ausgewiesenen die Ansprüche zu prüfen, nach gewissen leitenden Grundsätzen zu ordnen, und zu reduciren haben. Auf diese Weise würde man zu einem ziemlich zuverlässigen Material gelangen. Wäre das Material in dieser Weise erlangt, so könnte nach den Summen, welche sich für jeden einzelnen Staat herausgestellt, die Vertheilung erfolgen uud das weitere Verfahren den einzelnen Staaten überlassen werden. Aber ich glaube, von Hause aus ist eine solche generelle Prüfung der Ansprüche geboten, wenn eben nicht schwere und empfindliche Verletzungen des Rechts und der Billigkeit eintreten sollen. Ich glaube daher, daß es nothwendig sein wird, in zweiter Lesung Amendements in dem von mir angedeuteten Sinne zu stellen, einmal dahin gehend, daß die Summe erhöht wird, und zweitens dahin, daß ein anderer Modus für die Feststellung der An­ sprüche und für die Vertheilung der Gesammt-Entschädigungssumme gefunden wird, wobei man wahrscheinlich dahin kommen würde, nach gewissen Kategorien höhere oder geringere Prozente des anerkannten Entschädigungsanspruchs zu gewähren.

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Reichskanzler Fürst von Bismarck: Es handelt sich hier nicht um eine Frage des gewöhnlichen Schutzes der Deutschen im Auslande, wie der Herr Vorredner im Anfang seiner Rede nachweisen zu wollen schien, nicht um einen Schutz der Art, wie man ihn etwa durch Androhung eines Krieges oder sonst eines Gewaltaktes ausüben kann, sondern es handelt sich um eine Maßregel, die ein Feind, mit dem wir bereits im Kriege uns befanden, mit der dieser Nation eigenthümlichen Grausamkeit und Gewalt­ samkeit gegen die deutsche Nation ergriffen hat. Dafür Gerechtigkeit zu üben gegen Frankreich, ist nach dem ganzen Verlaufe dieses Krieges noch weniger als sonst in anderen Fällen unsere Sache. Jede Regierung hat Recht und Gerechtigkeit innerhalb ihrer Grenzen zu üben; gegen Verletzungen des Rechtes außerhalb hat sie das Mittel der Kriegführung. Der Krieg war hier schon im Gange; was darüber hinaus an Ver­ geltung gehört, das sollen wir, m. H., der Gerechtigkeit Gottes überlassen, und diese hat fürwahr nicht auf sich warten lassen. Es war meines Erachtens nicht unsere Auf­ gabe, deshalb, weil Frankreich sich besonders grausam gegen die vertriebenen Deutschen bewiesen hatte — von Fällen, wie sie der Herr Vorredner in Bezug auf eine unglück­ liche Frau angeführt hat, könnte ich Ihnen Hunderte erzählen, und Sie kennen sie ja meistens aus den Zeitungen — es war also nicht unsere Aufgabe, sage ich, gerade aus diesem Titel Frankreich eine besondere Summe abzunehmen; sondern ich habe mich bei Feststellung der Kriegskontribution bemüht, diese Summe, die niemals die volle Schadloshaltung Deutschlands für alle Schäden, die wir durch den Krieg erlitten haben — denn so viel Geld hat Frankreich gar nicht, daß es uns vollständig entschädigen könnte — (s. r.) diese Summe so hoch in ihrer Gesammtheit hinauszubringen, wie es nach der Leistungsfähigkeit Frankreichs und nach den Traditionen und der Kenntniß des Geldmarktes möglich war. Es hätte ja dem Gefühl mehr entsprochen, die Entschädigung für die gekaperten Schiffe und die Entschädigung der Ausgewiesenen den Franzosen direkt zu überlassen. Es war dies aber nicht praktisch, die Titel würden uns viel höher angerechnet worden sein, als sie in Wirklichkeit ins Gewicht fallen, und daran sind zum Theil die ganz exorbitanten Ansprüche der einzelnen vertriebenen Deutschen Schuld. (Z. u. Bew.) Ich erschlaffte in meiner Theilnahme, als mir die Gesammtansprüche im Belaus von einer Milliarde angemeldet wurden; ich erhielt schriftliche Vorlagen mit angesehenen korporativen Unterschriften, aus der Kriegsentschädigung einstweilen eine Milliarde vorweg zu nehmen für die Entschädigung dieser Deutschen; die richtige Summe entzog sich jeder Berechnung. Eine solche Summe aber, die sich jeder Berechnung ent­ zieht, von Jemandem zu fordern, wird denjenigen, der sie zahlen soll, stets veranlassen, sie so hoch zu veranschlagen wie möglich, und die Franzosen haben ebenso sehr wie ich und die Betheiligten selbst sich eine noch viel höhere Vorstellung von dem allerdings sehr bedeutenden Schaden gemacht, den die sämmtlichen Vertriebenen erlitten haben. Es war also meines Erachtens praktisch und wir kamen im Ganzen zu einem besseren Re­ sultat, wenn wir von Frankreich eine runde, feste Summe forderten, und wenn wir die damals in keiner Weise auch nur annähernd bestimmbaren Summen der Entschädigung der Ausgewiesenen und der Rhederei direkt übernahmen, weil wir außer Stande waren, sie bestimmt zu definiren. Ich wollte dies nur deshalb erwähnen, um die Debatte nicht auf das Gebiet gelangen zu lassen, auf das der Herr Vorredner meines Erachtens im Begriff war, sie zu führen, auf das des Gefühls, was ja in diesen Fragen mit Recht einer hohen Reizbarkeit noch heute unterworfen sein darf nach den Grausamkeiten, die dort gegen unsere Landsleute begangen worden sind. Ich. möchte die Frage nur be­ handeln im trockenen geschäftlichen Wege: wie können wir den Betheiligten am praktischsten helfen, ohne die Auslagen des Reichs und seiner einzelnen Bestandtheile größer zu machen, als die Lage der Dinge mit sich bringt, oder mit anderen Worten, ohne unberechtigte Ansprüche zu berücksichtigen. Eine volle Entschädigung kann ja der Bürger eines Landes, der im Auslande Geschäfte treibt und durch kriegerische Ereignisse zu Schaden kommt, niemals beanspruchen, (s. w.I) er muß sich immer sagen, daß die Thätigkeit im Auslande mit mehr Risiko verbunden ist. (B.) Das ist ein Grundsatz, den wir vielfach in weiter entlegenen Ländern, wo der Rechtsschutz nicht so stark ist

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wie in den central-europäischen, haben geltend machen müssen; die Geschäfte sind in der Fremde oft lukrativer, werfen stärkeren Gewinn ab, aber bringen mehr Gefahren mit sich. Es handelt sich also meines Erachtens nicht um eine Verpflichtung, die das Reich oder seine Mitglieder erfüllen, sondern es handelt sich um eine Beihülfe, die einer ungewöhnlichen Kalamität einer bestimmten Klasse von deutschen Bürgern zugewandt wird bei einem Nothstand, der durch den Krieg, den das Reich geführt hat, indirekt veranlaßt worden ist, und wo wir thatsächlich, ich will nicht sagen, in Mitschuld sind, aber doch den Schaden mit verursacht haben dadurch, daß wir den Krieg geführt haben, — es war ein Theil der Kriegsleiden. Aber ebensowenig wie wir im Jnlande Alle entschädigen können, die durch den Stillstand ihrer Geschäfte gelitten haben, ebensowenig und noch weniger können wir denen, die seit 20 — 30 Jahren mit Deutschland keine weiteren Beziehungen haben, als daß sie den gesandtschaftlichen Schutz in Anspruch nehmen, alle Verluste entschädigen. Nun fragt es sich, wie kommen wir am wohlfeilsten und gerechtesten zu derjenigen Leistung, die wir uns überhaupt auferlegen wollen, — und da sind die verbündeten Regierungen der Ueberzeugung gewesen, daß diese Entschädigungen in der Hauptsache besser von den einzelnen Gliedern des Reiches würden getragen werden aus derjenigen meiner Berechnung nach erheblichen und überwiegend erheblichen Quote, welche aus den französischen Kontributionsgeldern, wenn sie, wie ich hoffe, alle eingehen, auf die ein­ zelnen Staaten vertheilt werden wird, und daß die Aufgabe des Reiches sich darauf beschränkt, bis diese Vertheilung erfolgt ist und die Regierungen die Mittel dazu in Händen haben, einen erheblichen Vorschuß zu leisten, der aus den gemeinsamen Mitteln herrührend zugleich die Aufgabe hat, das nationale Interesse, was die Gesammtheit der Deutschen an dieser Sache nimmt, zu bethätigen, damit nicht die Verzögerung der Ent­ schädigung der Betheiligten den Eindruck mache, als kümmere sich ihr Vaterland nicht in dem Maße um sie, wie ihre zum Theil sehr bedauerlichen Umstände und Leiden ihnen Anspruch darauf geben. Es ist dies einer von den Fällen, wo ich es für be­ denklich halte, die Zahlungen aus der allgemeinen Reichskasse zu machen, weil es meines Erachtens ganz unmöglich ist, die Begutachtung dessen, was zu zahlen sei, den Reichs­ behörden zu übertragen. Der Begutachtende wird dabei mit seinen Interessen einer andern Kasse angehören, als der Zahlende, und es tritt ja da zu leicht ein, und ist auch nicht zu sehr zu tadeln, wenn Zeder aus dem gemeinschaftlichen Topfe sich ver­ schafft, was er haben kann, und wenn der einzelne Lokalbeamte bei einem Anspruch, den er sonst zurückweisen würde, sich sagt: nun, es wird ja vom Reiche bezahlt und wir steuern dazu nicht nach Verhältniß bei. Ich will damit Niemanden anklagen. Das ist ja zu menschlich natürlich, ich glaube, wir würden in unseren Kreisen zu Hause ebenso verfahren; wir sind etwas freigebiger, wenn es auf Kosten der Gesammtheit geht, als wir aus unserer eigenen Kasse zu sein pflegen; (H.) und deshalb glaube ich, daß die Begutachtung der Ansprüche und die Disposition über die Kasse in einer und derselben Hand sein müssen. Begutachtet können diese Ansprüche meines Erachtens nur werden von den Lokalbehörden, von den Behörden der einzelnen Negierungen, die die Verhält­ nisse nach ihrer Kenntniß von dem ganzen Lebenslaufe und von der Stellung des ein­ zelnen Mannes in Paris, in seiner Heimathsgemeinde viel leichter zu erheben vermögen als wir hier im Mittelpunkte eines Reiches von 40 Millionen. Die Lokalbehörden sind die einzigen, die im Stande sind, sich ein einigermaßen der Wahrheit nahe kom­ mendes Bild von den Billigkeitsansprüchen, die dem Manne zur Seite stehen, machen können. Dem Reiche fehlen auch hier die Organe dazu, und es bleibt nichts anderes übrig als zu rekurriren auf die Landesbehörden. Ich möchte die Herren bitten, hier nur die geschäftliche Frage ins Auge zu fassens wird ein gern anerkannter Billigkeits­ anspruch sicherer, zweckmäßiger und gerechter befriedigt von den einzelnen Regierungen aus der Quote der Kontribution, die auf sie fallen wird, oder ist es nützlich, die volle Befriedigung und nicht blos den Vorschuß auf das Reich zu übernehmen? Das Mit­ gefühl mit unseren Landsleuten, die Entschlossenheit, sie zu schützen, wenn sie ungerecht beeinträchtigt werden, sie zu entschädigen, insoweit die Billigkeit und das Gesetz dem

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Bürger einen Entschädigungsanspruch an sein Vaterland zuweist, ist in beiden Fällen und auf beiden Wegen dieselbe, und die verbündeten Regierungen sind sich dieser Pflicht und dieses Berufes eben so bewußt wie der Herr Vorredner, sie wollen nur dieser Pflicht auf einem Wege genügen, der ihnen praktischer scheint, und ich möchte es im Interesse des Geschäfts selbst.empfehlen, daß Sie sich an das System der Vorlage halten. Die Summen, die darin vorgeschlagen sind, sind ja der Kritik unterworfen, und was hier nicht gemeinsam gegeben wird, kann aus den einzelnen Landeskassen ge­ geben werden. Die Kontributionen, die in Frankreich zu Gunsten dieser Ausgewiesenen schon im Kriege erhoben worden waren, werden ihnen nach der Vorlage direkt zugewiesen im Sinne des Vorschusses — nicht eines von Seiten der Negierungen zu erstattenden Vorschusses, sondern nur einer rascheren Leistung. Es waren dies ursprünglich 7 Millionen Francs. Wir halten in Frankreich das System angenommen, auf jedes Departement, welches in unsere Gewalt gerieth, eine Million auszuschreiben zur Entschädigung für die ausgewiesenen Deutschen. Zur Zeit, wo dies ausgeschrieben wurde, hatten wir die Gewalt erst in 7 Departements in Händen; als man nachher sah, daß die Ansprüche, die zu erheben wären, durch irgendwelche während des Krieges ausgeschriebene Kontri­ bution nie und nimmermehr erreicht werden würden, — und auch im Laufe der krie­ gerischen Ereignisse, welche die ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen — fand diese Maßregel eine weitere Durchführung nicht, und es blieb bei den 7 Millionen Francs, die einkamen, und die nun nach dem Vorschläge, den ihnen die verbündeten Regierungen machen, um 2 Millionen Thaler, wenn ich nicht irre, erhöht werden sollen, um auf diese Weise den Antheil des Reiches an der Zahlung zu konstituiren. Es waren jene 7 Millionen nicht sowohl eine Kontribution, die man erhob, weil man ein Recht auf Entschädigung anerkannte, sondern es war eine Repressalie und Kriegsmaßregel, und ein Mittel, die Ruchlosigkeit des Verfahrens, welche vorlag, den Franzosen und der europäischen öffentlichen Meinung zur Anschauung zu bringen. Ich erlaube mir, Ihnen nochmals die Annahme des Prinzips der Regierungsvorlage zu empfehlen. Abg. Dr. Bamberger: M. H., wenn irgend einem Mitglied dieses Hauses, so hat gerade mir die eigene Vergangenheit sowohl in weiten zurückliegenden Zähren, als auch in der neuesten Zeit Mittel und Aufforderung gegeben, die vorliegende Materie näher kennen zu lernen und mich mit den einschlagenden Verhältnissen vertraut zu machen, und ich halte es daher für meine Pflicht, von vornherein zu erklären, daß die Vorlage der Regierung im Ganzen meinen Erwartungen vollkommen entsprochen hat, höchstens würde ich über den Modus der Verkeilung mich mit ihr nicht in Ueberein­ stimmung befinden. M. H., die Begebenheit, an welche die gegenwärtige Gesetzes­ vorlage anknüpft, gemahnt allerdings an eine der häßlichsten Erscheinungen im ab­ gelaufenen Krieg; allein, wenn wir gerecht sein wollen, so müssen wir sagen, die letzten, die allerjüngsten Ereignisse, welche überhaupt ein so bedeutsames Licht auf die Begeben­ heiten des ganzen abgelaufenen Jahres zurückwerfen, haben in dieser Beziehung gewisser­ maßen die mildernden Umstände zu Gunsten der Angeklagten gepredigt. Als im An­ fang des Krieges unsere Landsleute in Deutschland Gegenstand der gehässigsten und wildesten Angriffe und Verdächtigungen waren, nahmen wir das gewissermaßen als eine objektive Bosheit, als speziell gegen die Deutschen als Feinde gerichtete Aus­ schreitungen; was wir aber jetzt in Frankreich erlebt haben in den letzten 2—3 Mo­ naten, m. H., das zeigt uns, daß diese Ausbrüche vielmehr subjektiver Natur waren, und wenn es uns erlaubt wäre, in einer so traurigen Materie eine etwas scherzhafte An­ spielung zu machen, so würde ich sagen, die Deutschen in Frankreich sind von den Franzosen nicht anders als brüderlich behandelt worden; denn Zene haben ihre eigenen Landsleute mit den­ selben Drohungen und Verdächtigungen und mit denselben wilden Mißhandlungen bedacht, ja noch viel schlimmer als die Deutschen, die unter ihnen gewohnt haben: es begegnen uns diesel­ ben Anklagen von Spionage, dieselben Anklagen von Verrath, dasselbe Bedürfniß, augen­ blicklich Rache zu nehmen, ohne nur irgendwie sich Rechenschaft zu geben von dem Zu­ sammenhang der Dinge und von Schuld und Unschuld. Alles was gegen die Deut­ schen anfänglich gespielt hat, hat ja in noch viel krasseren Maßen in den letzten drei

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Monaten bei den Franzosen unter sich mitgespielt. Es liegt eben in der Nctur: düeses Volkes, daß es in gewöhnlichen Verhältnissen wirklich äußerst gutmüthig, hrmam und gesittet sein kann, sowie aber seine krankhafte Eigenliebe ins Spiel kommt, ofwrt das Bedürfniß fühlt, an irgend einem Gegenstände die maßloseste Rache zu nehmn iimto zur Erklärung dieser Racheausübung dann auch überall Verrath, Treulosigkeit, Synomage und dergleichen wittern muß. Das ist mit zwei Worten die Geschichte der Arstreilbung der Deutschen, wie es auch in der Wesenheit die Geschichte der letzten krcssen Aus­ schreitungen in Paris war. M. H., diese Reflexion ist nicht ohne Einfluß auf die üegislative Maßregel, die wir hier zu diskutiren haben. Wer nach Frankreich ging uni) runter diesem Volke wohnte, der hat seine guten Seiten lange genossen, wenn er.ange dort war; er theilt auch jetzt die Nachtheile, die Schattenseiten dieses Charakters uwd kann nicht seine eigene Nation dafür verantwortlich machen, wenn er dadurch zr Schaden gekommen ist. (S. r.!) Wenn wir, m. H., die Mißhandlungen, welche die D-eutfchen in so entsetzlicher Weise zum Theil in Frankreich erlitten haben, heute noch nit großer Bitterkeit erwähnen müssen, so glaube ich, ist es doch auch unsere Pflicht, nich in (einen Fehler zu verfallen, der ja leider der menschlichen Natur so nahe liegt, daß ene einzige Kränkung sehr oft genügt, um Jahre lang empfangene Dienste, Freundschaft, Wohl­ thaten und dergleichen mehr im Augenblick mit dem Schwamme auszuwishen. Die Franzosen haben sich sehr schlecht gegen die Deutschen in Frankreich benommen, aber wir müssen doch anerkennen, daß, so lange diese krankhafte Eigenliebe nicht im Spiele war, sie auch das, was man einmal internationale Gastfreundschaft nennen kann und nennen muß, in liebenswürdigster Weise und im höchsten Grade geübt haben, und i(h hatte es für Menschenpflicht, das anzuerkennen, nicht mit Verdunkelung eines einzelnen Moments zu vergessen, daß Jahrzehnte und Menschenalter lang die Deutschen Gegenstand der voll­ kommensten Gleichberechtigung in Frankreich in jeder Weise waren, daß Gelehrte und Künstler dort gleich Franzosen geehrt und ausgenommen waren, ja manchmal noch mehr verhätschelt waren, weil sie Fremde waren. Das, m. H., halte ich für meine Pflicht, hier mit einfließen zu lassen. Was nun den gegenwärtigen Gesetzentwurf betrifft, so bin ich mit dem Prinzip vollständig einig: es kann von einer völkerrechtlichen Pflicht zur Ersetzung von Schaden, der im Kriege Fremden zugefügt worden ist, keine Rede sein, und der Entwurf hat vollkommen Recht, wenn er in Abweichung von den beiden anderen Nummern, nicht von Entschädigung spricht, sondern von Beihülfe. Und das muß auch maßgebend sein für die Ziffern, welche hier zu paß kommen. In einem Punkte habe ich die Er­ läuterungen des Herrn Reichskanzlers nicht deutlich verstanden, und haben sie mir we­ nigstens ein Novum gebracht. Nämlich ich hatte den Gesetzentwurf so verstanden, als sollte das Objekt mit dieser Vorlage erschöpft sein, als wären 7 Millionen Franken, die bereits ausdrücklich zu dem Zwecke erhoben worden, der Sache gewidmet, und sollten außerdem noch 2 Millionen Thaler aus der Reichskasse demselben Gegenstände gewidmet werden. Habe ich nun den Herrn Reichskanzler nicht falsch verstanden, so wollte er außerdem noch andeuten, daß prinzipiell anerkannt werde, die einzelnen Regierungen sollten aus den weiter noch ihnen aus der Kriegsentschädigung zufließenden Geldern andere Summen verwenden, je nachdem das Bedürfniß aus den noch anzustellenden Untersuchungen sich ergeben werde. Auf der einen Seite kann man ja sagen: auf alle Fälle haben die Regierungen dieses Recht; wenn wir ihnen die Summen später vertheilen, je nachdem wir sie eingenommen haben, so können sie in Uebereinstimmung mit ihren gesetzgebenden Faktoren festsetzen, daß noch einzelne Theile davon zur Entschädigung von ausgetriebenen Deutschen verwendet werden sollen. Aber auf der anderen Seite weiß ich doch nicht, wenn wir uns auf diesen Standpunkt stellen, was das überhaupt mit diesem Gesetze gemein hat; wir können es höchstens als eine Parenthese in die Besprechung setzen, daß, wenn ein einzelner Staat nicht zufrieden sein sollte, es ihm ja unbenommen bleibe, aus den ihm später noch in solle zufließenden Geldern Einzelnes dazu zu verwenden. Ich halte mich deshalb vorläufig nur an diese Gesetzesvorlage und will es den Legislaturen der einzelnen Länder überlassen, ob sie es für Recht finden,

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die Swmne, die außer den 2 Millionen Thalern und den 7 Millionen Franken zu dem gergerwärtigen Zwecke bestimmt sind, noch auf andere Weise zu vergrößern. Nun, m. H., bn ich in einem Punkte aber nicht einig mit der Gesetzesvorlage, und darin stimme ich mit dem Herrn v. Patow überein, nämlich, daß der Entwurf den einzelnen Ländern £en ganzen Dienst, die ganze Austheilung der Sachen überweisen will. Zch glaube dic Centralisation dieser Arbeit ist nöthig, um das Licht auf dieselbe zu werfen, welches so sehr unentbehrlich dabei ist, und auch unter den besten Umständen nur in ganz gerirgem Maße ihr zu Theil werden wird. Wir wollen ja Alle nicht verkennen, daß es arßerordentlich schwer sein wird, hier nach Gerechtigkeit zu handeln, daß die Unbescheidensten ihre Stimme am lautesten erheben werden und vielleicht die, die es am meisten verdienen am schlechtesten wegkommen; daß eine Menge von Angaben nöthig seir wird, die gar nicht mehr zu erhalten sind, und daß vielmehr mit Takt und Instinkt, als mit eigentlich strenger Untersuchung hier gehandelt werden kann. Nun, glaube ich, ist aber, wenn wir diesen Dienst auf eine einzelne Korporation, auf ein einzelne Korporation, auf ein einzelnes Kolleg centralisiren, viel eher dafür gesorgt, daß die nöthigen Aufklärungen überall zusammenfließen, und daß auch nach einem gleichartigm Maßstabe gehandelt wird. Die Kopfzahl der Ausgetriebenen zum Maßstab zu nehmen, wäre ja ganz entschieden falsch; die Fälle sind so außerordentlich verschieden. Zunächst also, wenn wir einmal an dem Prinzip der Beihülfe festhalten, scheint mir angenommen werden zu müssen, daß überhaupt Leute, die nicht unvermögend geworden sind durch den Krieg, auf diese Entschädigung keinen Anspruch haben sollen; sie soll zur Unterstützung derjenigen dienen, die in ihrer Existenz außerordentlich erschüttert worden sind, und eine solche Reichshülfe zum Wiederaufbau dieser Existenz nöthig haben. Zch will nur ein Beispiel anführen. Der bekannte Generalkonsul Schlenker in Lyon, dessen Bücher versiegelt, der gewaltsam fallit gemacht wurde durch das wilde Einschreiten der Behörden, die seine Bücher und Briefschaften untersuchten, um zu sehen, ob er nicht mit dem preußischen Generalstabe über den Kriegsplan korrespondire — ja, m. H., ich bezweifle sehr, ob dieser Generalkonsul Schlenker wirklich eine Reklamation auf Ent­ schädigung erheben wird. Zch glaube, daß solche Leute nicht Anspruch auf Entschädi­ gung erheben, sondern sich von selbst sagen werden, daß diese den Aermeren und Hülfsbedürftigeren gehören. Dann kommen einzelne Fälle, die gerade durch die unendliche Schmerzhaftigkeit der Opfer, die ihnen auferlegt worden, unserer vollen Sympathie be­ dürfen. Ich will nur den Fall nennen von der armen Frau, die in Metz gleich nach der Schlacht bei Wörth der Gegenstand der französischen Volkswuth wurde. Unmittelbar nach der Schlacht bei Wörth brach ein Volkshaufen in chren Laden ein, erklärte, ihr Mann, der ein Deutscher Namens Meier war, sei ein Spion der preußischen Armee gewesen, hängte den Mann vor der Ladenthür auf und zerschlug den Laden mit Allem, was darin war. Das ist ein Fall, der im höchsten Grade unsere Sympathie erweckt, in anderem Maße als bei vielen Andern, die Entschädigungen beanspruchen. Es wer­ den aber auch wieder die Mitglieder der Kommission vielen Täuschungen ausgesetzt sein, vor denen Jie sich in Acht zu nehmen haben. Z. B. habe ich einen Brief von einem Franzosen in Paris gesehen, der an einen ausgetriebenen Deutschen gerichtet ist. Der­ selbe schreibt: Während der Belagerung ist eine Bombe in unser Haus gefallen; bei Ihnen hat sie sehr wenig Schaden gethan, aber mir hat sie ein Klavier und eine Pendule zertrümmert: da Sie nun ja doch von Zhrer Heimath, Ihrem Reiche werden ent­ schädigt werden, so würde es nicht schaden, wenn Sie die 800 Francs, um die ich bei dieser Gelegenheit gekommen bin, mit in Zhren Entschädigungsanspruch aufnehmen wollten, und er hat sich gar kein Gewissen daraus gemacht, von dem Prussien das Geld wieder zu nehmen, was ihm die Bombe desselben Preußen weggenommen hat. Das sind kleine Unterscheidungen von unzähligen Fällen, die vorgekommen waren, und ich bin nicht der Ansicht, daß die Regierungen der einzelnen Länder gleichmäßig die Er­ leuchtung haben werden, um hier zu unterscheiden. Nehmen Sie dazu, daß die große Mengeder Ausgetriebenen solche waren, die seit vielen, vielen Zähren in Frankreich lebten, die ihrer Heimat fremd geworden sind, und über die die heimatliche Regierung gar

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keine Kontrole hat; es wird also viel mehr Licht gegeben werden können von denjenigen, welche in Paris und in übrigen Theilen von Frankreich gelebt haben, und welche viel mehr in der Lage sind, diese Informationen den einzelnen Centralpunkten zufließen zu lassen, als jeder einzelnen Regierung zu Diensten zu stehen. Es mag die Organisation eine solche werden, welche die Sache in eine Hand konzentrirt. Es ist durchaus nicht gesagt, daß die Informationen, welche den einzelnen Regierungen zukommen, aus­ geschlossen sein sollen, jede Regierung wird zu Diensten sein, jede hat Gesandtschaften in Paris gehabt, welche die Verhältnisse der Einzelnen zu beobachten Gelegenheit hatten, und sie wird so beitragen können zur Erleuchtung des Kollegiums. Ich glaube aber, damit systematisch und aufgeklärt gearbeitet werde, ist es viel besser, daß der Dienst in einzelner Hand konzentrirt werde. Betreffs des materiellen Schadens, der konstatirt werden kann, wird überhaupt gar nicht so viel vorkommen. Während der deutschen Belagerung — für die französischen haben wir nicht einzustehen — ist gar nicht so viel Privateigenthum beschädigt worden, der Schaden ist aus der Unterbrechung der Kund­ schaft, aus der Schließung der Läden rc., die man aber zum großen Theil nach der Belagerung wieder unbeschädigt vorgefunden hat, hervorgegangen. Es waren im Ganzen nach der letzten Zählung im Jahre 1867 35,000 Deutsche in Paris; nun soll aber die Anzahl noch etwas größer gewesen sein, da die Zählung nicht mit großer Sorgfalt vorgenommen war; aber wie Viele sind darunter, die nur mit ihrem Packet in der Hand fortgehen konnten, um gleich wieder ihr Leben und ihre Geschäfte wo anders fortsetzen zu können; da ist eine Unmasse von Kellnern, die Unmasse der Dienstboten, die vielleicht den dritten Theil der ganzen Bevölkerung ausmachen, da jede deutsche Herrschaft sich ein paar deutsche Dienstboten nachkommen läßt. Wie sollen wir da zu der Summe von 25 Millionen kommen, welche das Konnte nur als vorläufige An­ kündigung angenommen hat? Das weiß ich wirklich nicht. Wir haben es hier gewiß mit ganz exorbitanten Vorstellungen zu thun. Ich finde die Summe, wie die Sache gegenwärtig liegt, ungefähr richtig gegriffen, und bitte nur, von Seiten des Bundes­ tisches mir sagen zu wollen, ob man sich nicht dagegen opponirt, daß bei der zweiten Lesung in Bezug auf die Centralisation des Dienstes Amendements eingebracht werden. Reichskanzler Fürst von Bismarck: Ich muß mich entschuldigen, wenn ich durch .Ueberhäufung mit anderen Geschäften verhindert gewesen bin, die von uns vorgelegten Motive näher einzusehen. Nach Maßgabe der Berathungen im Schoße des Bundes­ raths kann ich aber die Zweifel, die der Herr Vorredner im Beginn seiner Aeußerungen anregte, dahin feststellen, daß die Bundesregierungen allerdings von der Voraussetzung ausgingen, daß mit dieser Leistung des Reichs die Beschädigungen und Unterstützungen nicht erschöpft sein würden, daß sie aber das darüber hinausgehende Maß, was ich^nach meinen bisherigen Eindrücken als das größere ansehe, der Erwägung der einzelnen Regierungen überlassen wollten, die mit den Verhältnissen der einzelnen Interessenten vertrauter sein dürften. Wir würden wahrscheinlich die Summe etwas höher bemessen haben, wenn wir der Meinung gewesen wären, daß es hiermit erschöpft wäre, eine Richtung, in der ich persönlich nicht im Stande gewesen sein würde zu votiren. — Was nun die zu stellenden Amendements anlangt, so bin ich außer Stande, heute schon mit einer bestimmten Aeußerung den Ansichten der verbündeten Regierungen darüber vorzugreifen, und vor allen Dingen müßte man den Wortlaut der Amendements erst kennen. Ich möchte aber doch davon abrathen, die Geschäfte der Centralbehörde des Reichs zu vermehren, wenn es nicht absolut durch die Natur der Geschäfte nothwendig ist. Wir sind im Augenblick in der Organisation unserer Centralbehörde nicht soweit vorgeschritten, daß wir Arbeitskräfte übrig hätten; im Gegentheil, das, was uns jetzt obliegt, namentlich durch die Verwaltung in Elsaß-Lothringen obliegen wird, ist nach den vorhandenen Kräften kaum zu leisten, und eine solche Aufgabe, die ihre Fäden über das ganze Reich zu spinnen hat, würde doch ohne neuen Anspruch an die Arbeitskräfte meiner viel beschäftigten Mitarbeiter kaum zu verwirklichen sein. Abg. Miquel: Ich bedauere, daß diese eben angeregte Finanzfrage durch die Erklärung des Herrn Reichskanzlers meines Erachtens nicht viel klarer geworden ist.

Gewährung von Beihülfen an die aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen.

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Wenn ich recht verstanden habe, so soll das, was das Reich hier leistet, nicht angesehen werden als ein Vorschuß, der den einzelnen Staaten zu gewähren ist, und welcher ihnen anzurechnen wäre auf denjenigen Betrag, der später aus der Vertheilung der Kriegs­ kontribution ihnen zufiele. Es enthält auch von dieser Andeutung, die in der ersten Rede des Herrn Reichskanzlers mir enthalten zu sein schien, das Gesetz nichts, sondern es ist hier lediglich von einer Leistung die Rede, welche das Reich übernommen hat, welche von der Gesammtheit zu leisten ist, und welche nachher einen bestimmten Vertheilungsmodus durch die einzelnen Staaten in Aussicht nimmt, aber nicht in der Weise, daß diese Beiträge nachher von den einzelnen Staaten, sei es direkt, sei es durch Kompensation an das Reich in Anrechnung auf die Theilnahme an der Kriegskontribu­ tion wiederzuerstatten sei. Es liegt nun also nach dem Gesetz und nach den letzten Erklärungen des Herrn Reichskanzlers die Sache so, daß ein Theil der für angemessen erachteten Entschädigung geleistet werden soll direkt für Lasten des Reiches aus Reichs­ mitteln ohne Berechnung auf die späteren Bezüge der einzelnen Staaten aus der Kriegs­ kontribution, und daß ein anderer davon völlig unabhängiger, lediglich in das Ermessen der einzelnen Staaten und in den guten Willen derselben gelegter Theil durch die Einzel­ staaten aus den ihnen übergebenen Mitteln zu prästiren ist. Für diesen Modus sehe ich keinen rechten Grund ein, ich halte ihn vielmehr für bedenklich. Ich theile die An­ sicht, welche der Herr Reichskanzler über die Beschaffenheit und Natur der zu leistenden Entschädigung oder besser gesagt der Beihülfe ausgesprochen hat; ich schließe mich in allen Beziehungen dem Herrn Kollegen Bamberger an; ich bin der Meinung, daß es sich in Wahrheit nicht um die Erfüllung einer naturgemäßen, nationalen Pflicht, die auf völkerrechtlichen Prinzipien beruht, handelt, sondern um eine Beihülfe für Menschen, die durch den Krieg in eine besonders große Kalamität gekommen; wenn nach meiner Idee die Bertheilung vor sich ginge, so würde ich den Wohlhabenderen, denjenigen, die längere Zeit in Frankreich gewesen sind und dort sich ein großes Vermögen erworben haben, auch wenn sie jetzt einen größeren Schaden erlitten haben, als die minder gut Situtirten, gar keine Unterstützung geben. Ich würde die Unterstützung vorzugsweise für die Bedürftigen, für solche, deren Existenz gefährdet worden ist durch die Austreibung, verwenden. (S. r.!) Ich habe auch Gelegenheit gehabt, mit sehr vielen solchen ver­ triebenen Deutschen zu sprechen, und ich habe darunter wirklich manche gefunden, die mehr Franzosen waren als Deutsche, sehr viele aber habe ich darunter gefunden, die mir wirklich haarsträubende Rechnungen vortrugen, und ich habe gefunden, daß die Idee bei ihnen wach war, daß diejenigen, welche längere Zeit in Frankreich sich aufgehalten haben, die längere Zeit dort ein Geschäft mit Vortheil betrieben haben, um so mehr Entschädigung haben müßten, weil ihr Schade ein größerer sei. Ich behaupte, es kommt nicht auf die Größe des Schadens an, sondern auf die persönliche Lage des Beschädigten. Daß die Vertheilung der Beträge nach der Kopfzahl in der hier eben in Betracht kom­ menden Weise an und für sich eine ungerechtfertigte und ungleichmäßige ist oder wenig­ stens sein kann, das bedarf keiner Ausführung. Daß aber auch ganz ungleichartige Grundsätze bei der Vertheilung selbst in den einzelnen Staaten statthaben werden, wenn nicht eine Centralbehörde vorhanden ist, die das Ganze überwacht und in der Hand hat, scheint mir ebenfalls zweifellos zu sein. Nun hat der Herr Reichskanzler uns davor gewarnt, die Thätigkeit der Reichsbehörden nicht zu sehr in Anspruch zu nehmen. — M. H., das eben berathene Gesetz wegen Entschädigung der Rheder ist nach meiner Meinung in seiner Durchführung weit schwieriger wie die Vertheilung der hier in Be­ tracht kommenden Unterstützungen. Wir haben es da zu thun mit der Ermittelung von vielen Verhältnissen im Auslande, in der ganzen Welt. Da sollen einzelne spezielle Nachweisungen geliefert werden über alle Schäden und alle Heuern, die gezahlt worden sind. Das ist eine ganz unverhältnißmäßig größere Arbeit als die Vertheilung der hier in Betracht kommenden 14 Millionen Franken. Dort ist nun aber eine Behörde ein­ gesetzt; es ist in dem Gesetze vorgesehen, daß eine Kommission des Bundesraths die ganze Ermittelung der zu leistenden Entschädigung haben solle. Wbnn das da möglich ist, so glaube ich, ist es hier viel leichter möglich, andererseits aber auch viel nothwen-

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diger. Nothwendiger um deswillen, weil dort im Gesetze bestimmte Grundsätze fest­ gestellt sind, und weil bestimmte Gegenstände, auf welche der Schadenersatz zu richten ist, ja ausdrücklich vorgeschrieben sind. Hier ist ja aber Alles der diskretionären Befugniß der Kommission überlassen; hier ist gar nicht unterschieden, ob direkter oder indirekter Schaden; es ist gar keine Andeutung darüber enthalten, was denn nun eigentlich zur Liquidation gebracht werden solle; Alles ist in Wahrheit der Diskretion der Kommission, der vertheilenden Behörde überlassen. Und wenn man das thun will, was ich im vor­ liegenden Falle auch für nothwendig halte, so muß man hier umsomehr eine besondere Kommission haben. — Ich hoffe aus allen diesen Gründen, daß es gelingen werde, den Bundesrath davon zu überzeugen, daß in diesem Falle die Centralisation das Richtige sei und auch im Großen und Ganzen am meisten Arbeit spare. Denn es ist viel leichter und mit viel weniger Arbeit zu leisten, wenn man mit einer Centralkommission für Deutschland das Ganze erledigt, als wenn man mit so und so viel Kommissionen von allen einzelnen Staaten dieselben Arbeiten und Erfahrungen durchmacht, die man in der einen Kommission gemacht hat und sich überall zu Nutze machen kann. Reichskanzler Fürst von Bismarck: Der Herr Vorredner hat mit der Klage begonnen, daß meine Auseinandersetzungen keine Klarheit in die Sache gebracht hätten; er hat aber sofort den Beweis des Gegentheils geliefert, indem er — allerdings mit mehr Klarheit, als mir eigen gewesen ist — meine Meinung genau und korrekt wieder gegeben hat. lH.) Es ist allerdings meine Ansicht gewesen, wie ich das auch schon, glaube ich, in meiner ersten Aeußerung hervorgehoben habe —, hiermit nicht einen Vor­ schuß — habe ich den Ausdruck gebracht, so ist es irrthümlich geschehen — von Seiten des Reiches zu leisten, sondern einen Beitrag zu leisten, gewissermaßen eine Abschlags­ zahlung, deren schleunige Prästirung dadurch bedingt wird, daß die einzelnen Staaten noch nicht in der Lage sind, die Aufgabe zu erfüllen, die wir ihnen zugedacht haben. Es ist auf diese Weise eine Theilung der Aufgabe der Unterstützung zwischen dem Reich und zwischen den einzelnen Staaten entstanden in dem System, wie der Bundesrath es stch gedacht hat, so daß ein Theil, -und zwar der am raschesten zu bezahlende, vom Reich getragen, die Verkeilung aber den einzelnen Staaten überlassen würde, daß aber dasjenige, was die einzelnen Staaten für ihre Unterthanen nach ihrer näheren Kenntniß der Sache außerdem noch für nothwendig halten, von ihnen geleistet würde. Ich halte dies auch für den bei weitem zweckmäßigeren Weg, trotz der Ausführungen des Herrn Vorredners. Ich würde von Hause aus dafür gestimmt haben, die ganze Sache den einzelnen Staaten zu Aberweisen,, wenn nicht der Vorgang mit den sieben Millionen Franks Kontributionen von Frankreich vorgelegen hätte; die hatten wir einmal für die Vertriebenen unter dem Titel erhoben, sie waren gewissermaßen erworben für die Leute burdj die Art, wie sie ausgeschrieben wurden, und deshalb wollten wir sie ihnen nicht wieder entziehen. Diese waren aber Reichsgeld und konnten ihnen nur vom Reiche her zufließen, sie waren aber unzulänglich, um den Zweck, den wir Alle haben — wir sind ja nur über die Modalität der Ausführung verschiedener Meinung — zu erfüllen. Ich hätte nun gewünscht, daß der ganze Ueberrest, der nicht schon in die Kasse des Reichs zu diesem Behuf eingezahlt war, den einzelnen Regierungen zur Deckung und Feststellung überwiesen worden wäre. Von einzelnen Regierungen wurde aber der Wunsch geltend gemacht, daß die Abschlagszahlung, die vom Reiche ausgehen soll, etwas ver­ stärkt werden möge, und wir sind den Wünschen dieser Regierungen dadurch entgegen­ gekommen, daß wir sie auch verstärkten, und wenn ich auch nicht an der Geringfügigkeit der Summe, welche das Reich leistet, das Interesse, welches das Reich für seine An­ gehörigen hat, bemessen will, so wird doch durch die Zahlung der Beweis geliefert, daß uns das Schicksal der Leute nicht gleichgültig ist. — Ich möchte doch abrathen, dem Herrn Vorredner darin Glauben zu schenken, daß die Arbeit wirklich leichter ist, wenn sie centralisirt wird, denn die centralisirte Arbeit wird ja erst beginnen, wenn die Arbeit im Einzelnen, die als Unterlage nöthig ist, geschehen sein wird; sie hat immer zur Unter­ lage die Arbeit, welche, wenn die einzelnen Staaten das Geschäft besorgten, an sich ge­ nügen würde, denn diese muß vorhergehen der Centralisation und der Schöpfung neuer

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Organe und Kommissionen. Wir würden gern die Sache übernehmen, wenn wir nicht das Gefühl hätten, daß uns die Organe fehlen; und wenn wir sie uns aus der Privat­ kommission zu verschaffen suchten, so glaube ich, gerathen wir auf die 25 MillionenThalerklippe, die vorher schon angedeutet wurde. Der Herr Redner widerlegt meine Klagen über Ueberarbeitung damit, daß wir ja außerdem schon recht erheblich mit der Rhederei zu thun haben und das noch obenein dazu nehmen könnten. (H.) Das finde ich nicht zutreffend. Grade weil wir dieses umfangreiche Geschäft schon übernommen haben und übernehmen mußten, wie ich gleich nachweisen werde, ist eine Vermeidung weiterer Aufbürdung zu wünschen. Die Rhedereiangelegenheit kann der einzelne Staat nicht besorgen, dazu hat er die Organe nicht, dazu sind die Reichskonsuln und Agenten, die überseeischen Organe des Reiches unentbehrlich. Außerdem ist diese Aufgabe des Reiches dort viel leichter, weil die Grundsätze schon festgestellt sind, und sie macht nicht so viel Arbeit, wie diese zweite Aufgabe, wo bei Ermangelung festgestellter Grundsätze die Willkür und in Folge deren der Zweifel und stets erneute Prüfung einen sehr be­ deutenden Spielraum haben. Im Uebrigen kommt es ja sachlich auf eins heraus, und ich bedaure meinerseits, daß ich wiederholt schon Ihre Zeit so in Anspruch genommen habe; gezahlt wird immer aus demselben Topf, und ich sage nur: die einzelnen Staaten haben sicherere und näher liegende Organe zur Feststellung und Erkundigung, um ein richtiges Urtheil zu gewinnen. Ich möchte daher nicht, daß der Beitrag des Reichs erhöht würde; den Entschließungen der einzelnen Staaten können wir nicht präjudiziren, die Voraussetzung, in der der Bundesrath gehandelt hat, daß nämlich die einzelnen Staaten die unvollkommene Wohlthat noch vervollständigen würden, ist ja zur Kenntniß der Re­ gierungen gelangt, da ihre hiesigen Organe die ganze Sache im Bundesrath mit verhandelt haben. Abg. Graf Kleist: M. H., ich stimme vollkommen mit Herrn Miquel darin über­ ein, daß der Maßstab allein in der Bedürftigkeit des Einzelnen gefunden werden kann; je mehr ich aber hinsichtlich des Maßstabes ihm zustimme, desto mehr meine ich, müßte Herr Miquel auch der Ansicht sein, daß die Bedürftigkeit nur da geprüft werden kann, wo der Mann heimathsberechtigt ist oder jetzt nach Umständen seine Heimathsberechtigung geltend machen wird. Ich glaube daher in der That, m. H., daß wir ein sehr unglück­ liches Experiment machen würden, wenn wir die Frage in der Weise reguliren wollten, daß wir eine große Centralisation einführten; ich stimme vielmehr vollkommen mit der Intention des Gesetzes darin überein, daß man die Vertheilung und Bemessung der Ansprüche lediglich den einzelnen Regierungen und den einzelnen Staaten überlassen kann. Die Vorlage geht zur zweiten Berathung ins Plenum. Zweite Berathung am 9. Juni 1871.

Es beantragen die Abgg. Dr. Bamberger und von Benda: Der Reichstag wolle beschließen: an die Stelle der Artikel 2 und 3 einen einzigen Artikel 2 zu setzen, welcher lautet: „Der Bundesrath ordnet die Vertheilung der im Artikel 1 bestimmten Mittel durch die einzelnen Deutschen Regierungen an. Die letzteren sind berechtigt, die von ihnen etwa geleisteten Vorschüsse in Abzug zu bringen." Abg. Dr. Bamberger: M. H., ich hoffe, daß die verbündeten Regierungen auch das Amendement zu diesem Gesetze werden annehmen können; ich glaube wenigstens, in der Weise, wie es gestellt worden ist, jedes Bedenken aus dem Wege geräumt zu haben, und habe es absichtlich so gestellt, daß es sich so wenig wie möglich von dem Gedanken der Vorlage entfernt. Ich wollte eigentlich nur nicht, daß wir Grund­ sätze ausdrücklich approbirten, gegen die Einwürfe vorliegen könnten, also zunächst, daß nach dem Gesetze die Regierungen gezwungen sein könnten, zur Grundlage der Ver­ keilung die Kopfzahl der Vertriebenen in den einzelnen Staaten zu machen. Es ist dem Bundesrath anheimgegeben, sich mit den Einzelregierungen zu verständigen; wir wollen aber von vornherein ein Princip, das, wie mir scheint, sich durchaus nicht der Zustimmung dieses hohen Hauses erfreut, nicht in dem Gesetz lassen. Es ist ja klar, ReichStagS-Repertorium I.

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weshalb dieses ganze Verfahren von dem Reichskanzler-Amte an andere Behörden gewiesen ist, nämlich an die einzelnen Regierungen. Es ist der faktische Grund in der Zeschäftsüberhäufung, und ich nehme es dem Reichskanzler-Amt um so weniger übel, daß es diese Rücksicht gegen sich übt, als es auch ein sehr lästiges mit vielem Queruliren ver­ bundenes Geschäft sein wird. Nun aber, m. H., wollen wir doch keine Mißverständnisse obwalten lassen. Der Gedanke, daß hier ein Vorschuß gemacht werden kannte, ist bereits beseitigt worden; aber auch den Gedanken, daß wir die betreffende (Summe nur als eine Zubuße ansehen sollen, zu der die Einzelregierungen noch zuzusteuern hätten, möchte ich nicht einmal als Motiv in der Besprechung des Gesetzes lassen, wie er arch in den Motiven der Vorlage gar nicht ausgesprochen war. Wenn das Reichskanzler-Amt von sich selbst die Unannehmlichkeit abweisen will, von den vielen Querulanten, die Anspruch an diese Entschädigung machen könnten, ausgesucht zu werden, dann soll es auch keinen Wechsel ziehen auf die einzelnen Regierungen, indem es sagt: ich gebe nicht gcnug, aber wenn ihr euch an die einzelnen Regierungen wendet, so werdet ihr noch mehr dazu bekommen. Das wollen wir um so weniger, m. H., als auch die Summe von 4 Mil­ lionen Thalern, wie sie hier festgesetzt wird, wohl genügen wird, um die Ansprüche, wie wir sie das letzte Mal charakterisirt haben, zu befriedigen. Ich bin verpflichtet, in dieser Beziehung der Kommission, die sich hier gebildet hat, die Genugthuung zu verschaffen, daß zufolge einer mir zugegangenen Rektifikation die angemeldeten Beträge nicht 25 Mil­ lionen betragen, sondern, wie ein Mitglied der Kommission sagt, nur 8 Millionen. Nun sagt er, daß auch bei 20,000, die sich gemeldet hätten dadurch auf den Kopf 250 Thaler kämen. Wenn Sie bedenken, wie viel Mägde, Kinder, Preise, Mütter bei einer Familie, wie viele Kommis, die nur wegzugehen brauchten, dabei sind, so werden Sie diese Summe von 250 Thalern per Kopf bei 20,000 Gemeldeten auch noch etwas exorbitant finden; und wenn ich auch die Zahl noch einmal um 10 pCt. bis auf 30,000 vermehre, so kommt bei mir eine Rechnung heraus, die sich bei guter Sichtung mit den 4 Millionen decken lassen wird. Zch glaube also aussprechen zu dürfen: wenn die einzelnen Regierungen es für gut finden, mehr zu geben, als aus dieser Summe her­ vorgeht, so mögen sie es nach der Untersuchung thun; aber einen Wechsel aus ihre Generosität sollen wir von hier aus nicht ziehen. M. H., noch einen Gesichtspunkt wollen wir geben, daß das Reichskanzler-Amt es nicht abweise, die Hand über diese Sache zu halten. Es ist ja eigentlich unser Prinzip, bei allen Dingen, die diesen Krieg und dessen Folgen betreffen, von Neichswegen zu handeln und es nicht den einzelnen Negierungen zu überlassen. Wenn wir hiervon abgewichen sind, so ist es eigentlich ein ganz excep­ tionelles Verfahren; nun wollen wir doch wenigstens die Möglichkeit haben, daß, wenn hinterher die Sache wieder in Betracht gezogen werden soll, davon auch hier im Reichstag die Rede sein kann und wir nicht an die separaten Regierungen verwiesen werden. Wir wollen ferner dafür Sorge tragen, daß gewisse allgemeine Gesichtspunkte hier von der Reichsregierung aus den einzelnen Regierungen empfohlen werden können, wie z. B. der bei den: anderen Gesetze in Anwendung gekommene Gesichtspunkt, daß Leute, die nach Frankreich zurückkehren- jedenfalls nicht in dem Grade der Berücksichtigung werth sind, wie die in Deutschland verbleibenden. Ferner kommt hinzu, daß einzelne Industrien aus Frankreich ausgewandert sind, die man durch Unterstützungsgelder in Deutschland hegen und fördern kann, was für die Industrie unseres Landes eine große Bedeutung haben kann. Es kommt unter Anderm der dritte Gesichtspunkt hinzu, daß Einzelne, welche in Frankreich den vertriebenen Deutschen mit großen Opfern Vorschüsse gemacht haben, reklamiren werden, um aus Grund dieses Gesetzes entschädigt zu werden, wie mir z. B. bekannt ist, daß einzelne Geistliche in Hafenstädten Ausgewiesenen mit großer Aufopferung im reichsten Maße Vorschüsse gegeben haben, um ihren Landsleuten zu Hülfe zu kommen. Das Alles sind Gesichtspunkte, über die jede einzelne Regierung abweichende Grundsätze haben kann, von denen es aber vielleicht gut ist, daß sie ihnen von Seiten des Reichs empfohlen werden. Und schließlich ist hier ein Material zu­ sammengebracht worden von der Kommission, die von 20,000 Reklamanten sehr voll­ ständige Bittschriften und Darstellungen erhalten hat, die auch nicht zu verachten sind.

Ersatz von Kriegsschäden und Kriegsleistungen.

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Kurz, ich glaube, daß Alles, was die Bundesbehörde wünscht, nicht ausgeschlossen ist durch das Gesetz, daß aber hier eine Erweiterung gegeben ist, mit der sie sich bequemer und vielleicht richtiger bewegen, kann. Ich bitte Sie daher, dieses Amendement an­ zunehmen. Präsident des Reichskanzler-Amts Staatsminister Delbrück: Nun, m. H., mit Rücksicht auf die Motivirung, welche das gestellte Amendement so eben von dem Herrn Antragsteller erhalten hat, habe ich meinerseits keinen Grund, diesem Amendement

entgegenzutreten. Abg. Miquel: M. H., ich hoffe noch immer, daß das Amendement v. Benda schließlich dahin führen wird, daß die Reichsregierung die Ausführung des Gesetzes selbst in die Hand nimmt. Ich habe mich mehr und mehr davon überzeugt, daß man in die größten Unzuträglichkeiten hineinkommen muß, wenn die Ausführung der Bertheilung dieser Gelder den einzelnen Staaten überlassen wird, und ich glaube, es wird, indem man der Ausführung näher tritt, indem man sich die einzelnen Maßregeln vergegen­ wärtigt, der Bundesrath sich noch mehr davon überzeugen und andererseits noch die Ueberzeugung gewinnen, daß die Ausführung durch den Bundesrath selbst, von der rechten Stelle aus, nicht so schwierig ist, wie man es sich vielleicht gedacht hat, und jedenfalls tausendmal leichter, als wenn Alles zersplittert wird in alle einzelnen Re­ gierungen. Ich möchte nun aber, was auch der Bundesrath beschließen möge, in dieser Beziehung noch die Bitte an denselben richten, jedenfalls eine rasche Entscheidung zu treffen. Ze länger die Unterstützung hinausgeschoben wird, desto werthloser wird sie für die Betheiligten werden, und selbst wenn man annimmt, daß die Beihülfe heute nur sehr knapp genügt, so wird man vollständig sicher sein, daß sie in einigen Monaten ein noch sehr viel weniger nützliches Resultat für die Betheiligten haben wird, als heute. Der Antrag der Abgg. Dr. Bamberger und von Benda wird ange­ nommen. Der Entwurf wird auch in dritter Berathung am 10. Juni 1871 an­ genommen.

Nr. 25.

Gesetzentwurf -rn Ersah von Urirgsschaden un- Hriegslristungen betreffend. Wir Wilhelm rc. rc. Artikel I. Für Schäden an Mobilien und Immobilien, welche im Laufe des letzten Krieges Seitens des Französischen oder Deutschen Heeres durch Beschießung in dem bisherigen Bundesgebiete oder in Elsaß-Lothringen belegener Orte oder durch Brandlegung zu miütairischen Zwecken in solchen Orten verursacht worden sind, wird aus den bereitesten Mitteln der von Frankreich zu zahlenden Kriegsentschädigung nach folgenden Grundsätzen Vergütung gewährt. 1) Die zerstörten Immobilien und Mobilien werden nach dem vollen Werth vergütet. Hat nur eine Beschädigung der Sachen stattgefunden, so wird für die hieraus erwachsene Wexthsverminderung Ersatz geleistet. ' 2) Unter dem in Nr. 1 gedachten Werthe ist derjenige zu verstehen, welchen die Sachen zur Zeit ihrer Zerstörung beziehungsweise Beschädigung gehabt haben. 3) Für Verluste, welche durch Versicherung gedeckt sind, wird Entschädigung nicht gewährt. 4) Der Anspruch auf Vergütung kann in Beziehung auf Immobilien vom Eigenthümer, in Beziehung auf Mobilien nur von denjenigen Beschädigten erhoben werden, welche zur Zeit der Verkündung dieses Gesetzes in Deutschland ihren Wohnsitz haben. Beschädigten, welche nicht Deutsche

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Angehörige sind, wird die Vergütung nur dann gewährt, wenn die Regierung ihres Hemalthlandes für den gleichen Fall die Gegenseitigkeit zusagt. Artikel II. Aus der in Artikel I gedachten Kriegsentschädigung werden ferne' diejenigen Kriegsleistungen vergütet, welche von den Bewohnern von Elsaß-Lothringen im Laufeders letzten Krieges auf Anordnung der Deutschen Militairbehörden und gegen Anerkenntniß der etzteeren ge­ leistet worden sind. Die Vergütung erfolgt nach Maßgabe der über die Vergütung von Kriegslestumgen im Norddeutschen Bunde bestehenden gesetzlichen Bestimmungen. Artikel III. Ueber die nach Maßgabe der vorstehenden Bestimmungen zu gewchremde Ver­ gütung wird für jeden einzelnen Fall durch Kommissionen endgültig entschieden, welye von der Landesregierung, in Elsaß-Lothringen vom Reichskanzler zu bilden sind. Die Beschlüss der Kom­ missionen werden nach Stimmenmehrheit gefaßt. Bei Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Vorsitzenden. Die Kommissionen haben das Recht, die Behörden selbstständig zu requirren,, Zeugen eidlich zu vernehmen oder vernehmen zu lassen, eidesstattliche Versicherungen abzunehnen oder ab­ nehmen zu lassen, auch den Liquidanten präklusivische Fristen für die Anmeldung oder 3e§ründung ihrer Forderungen zu Bestimmen. Artikel IV. Die Auszahlung der nach Artikel III festgestellten Vergütung an die Beith eiligten geschieht durch die Landesbehörden. Die Letzteren sind berechtigt, die von ihnen etroi gewährten Vorschüsse in Abzug zu bringen.

Motive. Während des letzten Krieges haben im bisherigen Bundesgebiete die Orte Kehl (S tadt und Dorf), Altbreisach und Saarbrücken durch Beschießung Seitens des Französischen §ee:e§ „ und in Elsaß-Lothringen zahlreiche Ortschaften durch Beschießung von Seiten des Deutschen Helres. Schaden erlitten. Aus Straßburg, Schlettstadt, Breisach und Thionville sind bis jetzt 57,7(0,000 Frcs. hierfür liquidirt. Ein Rechtsanspruch auf Vergütung dieses Schadens steht den Beteiligten nach Völkerrechtlichen Grundsätzen gegen die kriegführenden Theile allerdings nicht zu. Erhebliche Billigkeitsgründe sprechen indeß dafür, daß aus der von Frankreich zu zahlenden Kriegsmtschädigung eine Vergütung jener Schäden gewährt werde. In noch höherem Grade gilt dies vor denjenigen Kriegsleistungen, welche von den Bewohnern Elsaß-Lothringens im Laufe des letzten Krieges auf Anordnung der Deutschen Militairbehörden und gegen Anerkenntniß der letzteren ausge'ührt worden sind. Denn diese Leistungen sind dem Deutschen Heere unmittelbar zu Gute gekomnen und von Personen ausgeführt worden, welche durch Geburt oder Wohnsitz einem gegenwärtig Deutschen Lande angehören. Ueber die Vergütung der durch Beschießung entstandenen Schäden an Mobilirn und Im­ mobilien bestimmt der Artikel I. des vorliegenden Gesetzentwurfs. Diejenigen Zerstörungen, welche durch Brandlegung zu militairischen Zwecken herbeigeführt worden, sind den durch Beshießung ver­ ursachten Schäden gleich zu stellen, es bedarf jedoch kaum der Erwähnung, daß die etwa als Strafmaßregel angeordnete Niederbrennung von Häusern als zu militainschen Zwecken erfolgt nicht zu betrachten sein würde. Die Gewährung einer Vergütung für zerstörtes Eigenthum an Ausländer wird in Nr. 4 des Artikel I von der Zusage der Reziprozität Seitens der Regierung des Heimathsstaates der Betheiligten abhängig gemacht, während nach Artikel II. die Vergütung der Kriegsleistungen der Natur dieser Leistungen entsprechend ohne Rücksicht auf solche Gegenseitigkeit auch an Ausländer

erfolgen soll. Die nach Artikel III. einzusetzenden Kommissionen werden nicht blos über die Begründung und die Höhe des Anspruchs, sondern auch darüber, ob die einzelnen Liquidanten ihre AktivLegitimation im Sinne des Artikel I. Nr. 4 geführt, endgültig zu entscheiden haben.

Erste Berathung am 2. Juni 1871. Abg. Kiefer: M. H., gestatten Sie mir einige Worte zu dieser Vorlage. Sie schließt sehr erhebliche Interessen für zwei Städte meines Heimathlandes in sich, ins­ besondere für die Stabt Kehl, welche von Anfang der Ereignisse an im höchsten Maße den Schrecknissen des Krieges preisgegeben war. Ich weiß, daß ich eine Pflicht erfülle

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und im Sinne der betheiligten Landsleute handele, wenn ich bei dieser Veranlassung im Namen der Bewohner der Stadt Kehl und an Stelle meines in Urlaub abwesenden Freundes Eckhard, des Abgeordneten jenes Bezirkes, der hohen Reichsregierung für diese Vorlage den wärmsten Dank ausspreche. Ihnen aber, den Mitgliedern des hohen Reichstages, darf ich versichern, gerade weil ich selbst nicht der Abg. des Bezirkes Kehl bin: wenn Sie hier der Initiative der Reichsregierung folgen, so werden Sie ganz gewiß Ihre Freundlichkeit keinem Unwürdigen widmen. Ich muß zugeben, daß es wahr ist, was die Motive der Vorlage ausführen, daß ein formaler Rechtsanspruch für die Einwohner der Stadt Kehl nicht besteht; es ist also in der That eine Freundlichkeit, wenn auch eine durch die Billigkeit im hohen Maße gebotene Freundlichkeit, die hier geübt wird. Ich darf aber eben deshalb hervorheben, Sie werden diese Milde nur einer Stadt gegenüber üben, welche im Beginn wie im Verlauf des Krieges, unter den schwersten Bedrängnissen und Schrecknissen der Ereignisse der dunkelsten Zukunft preis­ gegeben, mit treuem und ganzem Herzen zur Sache Deutschlands stand, und Sie werden dadurch, daß Sie diesem Gesetzentwurf ihre Zustimmung verleihen, gerade diesen Be­ wohnern unserer bisherigen äußersten Westgrenze einen Beweis mehr dafür bringen, daß sie jetzt nicht nur durch das Schwert Deutschlands Schutz und Schirm gegen das Ausland gefunden haben, sondern, daß man mit gleicher Milde, mit gleicher Freund­ lichkeit und mit gleicher Gerechtigkeit auch diesem äußersten Grenzlande gegenüber denkt und handelt, daß man geschlagene Wunden ebenso zu mildern bestrebt ist, wie man es thun würde gegenüber den Bewohnern der inmitten dieses Reiches gelegenen Gebiete, oder irgend einer altpreußischen Provinz. Ich bitte Sie daher, folgen Sie dem Beispiel der Reichsregierung und geben Sie diesem Gesetzentwurf, der nicht karg, sondern mit ganzer Hand geben will, Ihre Zustimmung. Reichskanzler Fürst v. Bismarck: Ich möchte mir noch ein Wort erlauben, es ist die Bitte um möglichste Beschleunigung dieser Berathung. Wenn irgendwo das Wort wahr ist: „bis dat, qui cito dat,“ so trifft es hier zu. Bei der Störung aller Verkehrsverhältnisse, namentlich bei der gänzlichen Unterbrechung des Geldverkehrs ist es für die Betheiligten außerordentlich schwer, sich durch Kredit die Mittel zum Wieder­ aufbau zu verschaffen, und erst wenn für die Mittel gesorgt ist, wird an die Arbeit gegangen werden können. Es sind außerdem noch manche Vorarbeiten erforderlich, ehe es zur wirklichen Vertheilung der Gelder kommen kann, namentlich die Prüfung der Interessen der Hypothekengläubiger, damit nicht bei hochverschuldeten Grundstücken der Fall eintritt, daß Hypothekengläubiger bei zu hoher Auszahlung ausfallen können. Es wird also immer, wenn das Geld bewilligt sein wird, noch eine Zeit lang dauern, ehe wir zur definitiven Ausschüttung gelangen, wir würden einstweilen nur Vorschüsse zahlen können. Vorschüsse in kleinen Quantitäten aus Beständen, die sich in den dor­ tigen Kriegskassen befanden, habe ich mir erlaubt in der Hoffnung auf die In­ demnität, die Sie mir darüber unter diesen Umständen gewähren werden, schon anzu­ weisen auf bestimmte geringe Prozentsätze der angemeldeten und bereits oberflächlich ge­ prüften Forderungen, wobei ich erwähnen muß, daß die Summe von 57,000,000, die in den Motiven steht, die Sache nicht erschöpft, indem die großen Zerstörungen, in der Umgegend von Metz, wo ganze Ortschaften verschwunden sind, sich nicht darunter be­ finden. Der gänzliche Mangel an Geldverkehr hat zu vielfachen Klagen aus Elsaß be­ reits Anlaß gegeben, die französische Bank hat dort ihre Funktionen eingestellt und nicht wieder ausgenommen, dem Privatkredit scheint es nicht gelungen, die Lücke, welche die französische Bank läßt, auszufüllen, es ist deshalb in jenem Lande das Verlangen nach Hülse, nach Herstellung neuer, wenn auch nur provisorischer Geldinstitutionen vielfach laut geworden; die preußische Bank und ihre Interessenten haben volle Bereitwilligkeit gezeigt, ihrerseits die Zustimmung dazu zu geben, daß die Operationen der Bank vor der Hand in der Weise ausgedehnt würden, daß sie die Lücken im Geldzufluß, die sich in Elsaß-Lothringen fühlbar machen deckten. Die preußische Gesetzgebung stellt aber ein Hinderniß dem entgegen, indem wir ohne ein besonderes Gesetz in Preußen nicht be­ rechtigt sinb, die Operationen der Bank über die Landesgrenze auszudehnen. Es ist

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deshalb der preußischen Regierung, — und ich erwähne das hier, weil das Levchmlten der preußischen Regierung von den Bedürfnissen des Reichslandes hier nicht tnenmen ist, — der Gedanke nahe getreten, durch eine Verordnung mit Gesetzeskraft n diesem Falle bei dem Nothstände, der zwar direkt nur Elsaß betrifft, aber indirekt drrch) Hem­ mung des Geldverkehrs im Elsaß auf Preußens Verhältnisse zurückwirken kamn, — durch eine Verordnung mit Gesetzeskraft nach dem betreffenden Artikel der preußischen Verfassung die Berechtigung der Bank zu einer Ausdehnung ihrer WirksimLeit zu ergänzen. Abg. Miquel: M. H., wenn es sich hier um die Ermittelung von Schä'den in sehr verschiedenen deutschen Staaten handelte, so würde mir das Gesetz unannehmbar sein. Wenn hier einfach gesagt worden ist, die Ermittelung des Schadens, bi