Die revolutionäre Umwälzung in Mittel- und Osteuropa [1 ed.] 9783428477869, 9783428077861

147 29 16MB

German Pages 162 Year 1993

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Die revolutionäre Umwälzung in Mittel- und Osteuropa [1 ed.]
 9783428477869, 9783428077861

Citation preview

DIE REVOLUTIONÄRE UMWÄLZUNG IN MITTEL- UND OSTEUROPA

ABHANDLUNGEN DES GÖTTINGER ARBEITSKREISES Herausgegeben vom Göttinger Arbeitskreis

BAND 10

Die revolutionäre Umwälzung in Mittel- und Osteuropa

Mit Beiträgen von Dieter Bingen, Georg Brunner, WaIter Eggers, Fred Oldenburg, Roland Schönfeld und Günter Wagenlehner

Duncker & Humblot . Berlin

Die in dieser Reihe veröffentlichten Beiträge geben ausschließlich die Ansichten der Verfasser wieder.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die revolutionäre Umwälzung in Mittel- und Osteuropa / mit Beitr. von Dieter Bingen ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Abhandlungen des Göttinger Arbeitskreises ; Bd. 10) ISBN 3-428-07786-5 NE: Bingen, Dieter; Göttinger Arbeitskreis: Abhandlungen des Göttinger ...

Der Göttinger Arbeitskreis: Veröffentlichung Nr. 442 Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0720-6844 ISBN 3-428-07786-5

INHALT Der Systemwandel in Osteuropa und in der DDR als Folge der Perestrojka Von Dr. Günter Wagenlehner ...............................................................

7

Der politische Umbruch in Polen Von Dr. Dieler Bingen ...........................................................................

31

Die Wirtschaftsreform in Polen Von Dr. Wolfgang Eggers ......................................................................

59

Der politische Umbruch in Ungarn Von Prof. Dr. Georg Brunner .......................... .....................................

71

Die "samtene" Revolution. - Zur politischen und wirtschaftlichen Umwälzung in der Tschechoslowakei Von Dr. Roland Schön/eid ...................................................................

83

Der Zusammenbruch des SED-Regimes und das Ende der DDR Von Dipl. Pol. Fred O/denburg ............................................................

103

Dem vorliegenden Band liegen Referate der Wissenschaftlichen Fachtagungen des Göttinger Arbeitskreises von 1990 und 1991, ergänzt um einen Polen-Beitrag, zugrunde.

DER SYSTEMWANDEL IN OSTEUROPA UND IN DER DDR ALS FOLGE DER PERESTROJKA Von Günther Wagenlehner

Als Gorbatschow die Umgestaltung der Sowjetunion in Angriff nahm, war ihm sehr bald klar, daß sich dieser Prozeß nicht auf die Sowjetunion beschränken kann. Dieser Zusammenhang zwischen "revolutionärer Perestrojka", wie das Gorbatschow damals nannte, und dem Neuen Denken in der Außenpolitik wurde zum ersten Mal umfassend dargestellt von den Vordenkern Primakow und Bowin, nicht zufällig gleichzeitig am 10. Juli 1987 in der PRAWDA und am 11. Juli 1987 in der ISWESTIA. Gorbatschow hat den Faden im Februar 1989 wieder aufgenommen und in seiner Grundsatzrede in Kiew analytisch die Verknüpfung zwischen Innen- und Außenpolitik beschrieben1.

Der theoretischen Fixierung, in unzähligen Artikeln in der Sowjetpresse varüert, folgte dann der revolutionäre Prozeß in Osteuropa und in der DDR. Theorie und Praxis erlauben also den Schluß, daß der Systemwandel in Osteuropa und in der DDR, unabhängig davon, wie sich die Lage in der Sowjetunion außerhalb weiterentwickeln wird, eine Folge der sowjetischen Perestrojka ist. Das bisher erkennbare konkrete Resultat für Osteuropa und die DDR ist: Der Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe löst sich auf. Die Warschauer Vertragsorganisation ist mit dem formellen Austritt der DDR am 24.9.1990 und den Austrittsankündigungen der CSFR, Ungarns und Polens nach dem Vollzug der deutschen Einheit in das letzte Stadium getreten. Die sogenannte "engere sozialistische Gemeinschaft", der Sowjetblock ist zerbrochen. Die einst "sozialistischen Bruderländer" der Sowjetunion haben mit unterschiedlichem Tempo den langen Marsch zu Demokratie und Marktwirtschaft angetreten. Dies ist der Preis, den Gorbatschow bisher für die Bereitschaft der Sowjetunion zur friedlichen Zusammenarbeit mit den USA, der Europäischen Gemeinschaft und der NATO gezahlt hat. Ein hoher Preis, wie manche in 1

PRAWDA,24.2.89.

8

Günther Wagenlehner

der Sowjetunion meinen. Zu fragen ist, ob Gorbatschow von Anfang an bereit gewesen ist einen so hohen Preis zu bezahlen. Wir werden auf diese Frage zum Schluß zurückkommen.

I. Der gemeinsame sozialistische Ausgangspunkt Seit der Stalin'schen Verfassung vom Dezember 1936 galt der Sozialismus in der Sowjetunion zum Vorbild für alle Staaten, die den Weg zum Sozialismus einschlugen. Insbesondere galt dies für die europäischen Staaten, die im Krieg oder danach zum sowjetischen Hegemonialbereich stießen. Nach kürzerer oder längerer Übergangszeit entwickelten sie sich nach dem sowjetischen Modell. Abweichungen in Form "nationaler Wege zum Sozialismus" wurden unterdrückt, Aufstände gewaltsam niedergeschlagen. Das blieb auch so nach dem Tode Josef Stalins im März 1953. Unmittelbar danach verhinderte der Einsatz sowjetischer Truppen im Juni 1953 alle Ansätze zur Eigenentwicklung der DDR und stellte das Ulbricht-System sowjetischer Gefolgstreue wieder her.

Am 25. Februar 1956 hielt der sowjetische Parteichef Nikita Chruschtschow seine berühmte Geheimrede gegen Stalin. In der Sowjetunion breitete sich "Tauwetter" aus im Zeichen des Antipersönlichkeitskults. Auch die Führer der Länder im Sowjetblock schöpften Hoffnung. In Polen und Ungarn entwickelten sich Ansätze zu eigenständigen Formen. Aber ungeachtet des Anti-Stalin-Trendes in der Sowjetunion, bezog Nikita Chruschtschow eindeutig Stellung gegen jede Art von selbständiger Reform in den Satellitenstaaten. Die Aufstände in Polen und Ungarn im Jahre 1956 wurden blutig niedergeschlagen; in Ungarn mit brutaler Gewalt der Sowjettruppen. Nach dem Sturze Chruschtschows im Oktober 1964 begannen in der Sowjetunion die Reformversuche Kossygins und Breshnews und weckten wieder neue Hoffnungen in den Satellitenstaaten, vor allem in Polen und in der Tschechoslowakei. Als sich in der CSSR im Frühjahr 1968 Ansätze zu wirtschaftlichen und politischen Reformen bildeten, mischten sich die "Reformer" aus Moskau ein und stellten die Prager Genossen zur Rede. Im Sommer 1968 wurden die Streitkräfte des Warschauer Paktes an den Grenzen der CsSR konzentriert, die dann am 21. August den "Prager Frühling" durch ihre Intervention gewaltsam beendeten. Die Führer der kommunistischen Reform in der CSSR wurden verhaftet und nach Moskau verschleppt.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

9

Formell berief sich Breshnew auf die Verantwortung aller sozialistischer Staaten für die Bewahrung der sozialistischen Grundsätze in jedem einzelnen Land, im vorliegenden Fall in der CSSR. Diese Doktrin wird seitdem nach dem sowjetischen Generalsekretär Breshnew benannt. Sie beruht auf den sogenannten "objetiven sozialistischen Gesetzen", die auf Vorschlag der Sowjetunion im November 1957 von den zwölf regierenden Kommunistischen Parteien als verbindlich anerkannt wurden2. Später, im Dezember 1960 haben die meisten Kommunistischen Parteien der Welt (außer Jugoslawien) diese Gesetzmäßigkeiten in einer offiziellen Erklärung gebilligt. Der Text der neun sozialistischen Gesetze lautet: Aus der Erklärung der Beratung von Vertretern der kommunistischen und Arbeiterparteien der sozialistischen Länder (vom 14.-16.11.1957 in Moskau) Albanien, Bulgarien, China, DDR, Korea, Mongolei, Polen, Rumänien, Sowjetunion, CSSR, Ungarn, Vietnam Solche allgemeingültigen Gesetzmäßigkeiten sind: (1) die Führung der werktätigen Massen durch die Arbeiterklasse, deren Kern die marxistisch-leninistische Partei ist, bei der Durchführung der proletarischen Revolution in dieser oder jener Form bei der Errichtung der Diktatur des Proletariats in dieser oder jener Form; (2) das Bündnis der Arbeiterklasse mit der Hauptmasse der Bauernschaft und anderen Schichten der Werktätigen; (3) die Beseitigung des kapitalistischen Eigentums und die Herstellung des gesellschaftlichen Eigentums an den wichtigsten Produktionsmitteln; (4) die allmähliche sozialistische Umgestaltung der Landwirtschaft; (5) die planmäßige, auf den Aufbau des Sozialismus und Kommunismus und auf die Hebung des Lebensstandards der Werktätigen gerichtete Entwicklung der Volkswirtschaft; (6) die Verwirklichung der sozialistischen Revolution auf dem Gebiet der Ideologie und Kultur und die Heranbildung einer der Arbeiterklasse, dem schaffenden Volke und der Sache des Sozialismus ergebenen zahlreichen Intelligenz; (7) die Beseitigung der nationalen Unterdrückung und die Herstellung von Gleichberechtigung und brüderlicher Freundschaft zwischen den Völkern;

2 Deutscher Text bei Fritz Schenk "Kommunistische Grundsatzerklärungen 1957-1971", Köln 1972, S. 15-31 und S. 86-130.

10

Günther Wagenlehner

(8) der Schutz der Errungenschaften des Sozialismus gegen die Anschläge äußerer und innerer Feinde; (9) die Solidarität der Arbeiterklasse des gegebenen Landes mit der Arbeiterklasse der anderen Länder, das heißt der proletarische Internationalismus. Der XXII. Parteikongreß der KPdSU im Oktober 1%1 nahm die gemeinsame sozialistische Grundlage in das Parteiprogramm der KPdSU in der folgenden Formulierung auf:

''Es ist praktisch erwiesen und von allen marxistisch, leninistischen Parteien anerkannt, daß die Prozesse der sozialistischen Revolution und des sozialistischen Aufbaus auf einer Reihe von grnndlegenden Gesetzmäßigkeiten beruhen, die für alle Länder gelten, welche den Weg des Sozialismus einschlagen ,,3. Reduziert auf den Kern, handelt es sich bei den neun "Gesetzen des Sozialismus" um die MonopolsteIlung der Partei auf den wichtigsten Gebieten: 1.

Das Machtmonopol der Partei,

2.

das Eigentumsmonopol in der Wirtschaft; Planwirtschaft,

3.

das Informationsmonopol der Partei.

Diese MonopolsteIlung der Partei macht den "Sozialismus" aus. Aus Theorie und Praxis ergegen sich die entscheidenden Lehren aus der Geschichte: - Was Sozialismus ist, bestimmt die KPdSU. - Reformen in den sozialistischen Bruderländern bedürfen der Zustimmung der Sowjetunion. - Abweichungen von der Regel werden notfalls gewaltsam bereinigt. Vor diesem Hintergrund, d. h. der Erwartungshaltung im sowjetischen Bereich und auch im Ausland begann Gorbatschow die Reform der Beziehungen zu den sozialistischen Ländern. Er drückte das in seiner Rede in Kiew (PRAWDA, 24.2.89.) als sowjetischen "Neugestaltung der Beziehungen zu den sozialistischen Ländern" mit den Worten aus: "Bedingungslose Unabhängigkeit, völlige Gleichberechtigung, strikte Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, sowie eine Korrektur der Deformierungen und Fehler in Verbindung mit der früheren Periode der Geschichte des Sozialismus." Die Worte "Unabhängigkeit", "Gleichberechtigung" und "Nichteinmischung" kamen auch in früheren sowjetischen Erklärungen vor, ohne daß sie 3 Wagenlehner, "Kommunismus ohne Zukunft", Stuttgart 1962, S. 42.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

11

einklagbar gewesen wären. Daher fand Gorbatschow zunächst wenig Glauben, auch schon gar nicht im eigenen Bereich. Entscheidend würde es darauf ankommen, inwieweit sich die Sowjetunion an die eigenen Erklärungen hält. Das hat Gorbatschow, wie die Jahre 1989/90 gezeigt haben, getan. Im Verlaufe dieses Prozesses wurde der Entscheidungsspielraum der Akteure in Osteuropa und der DDR ständig größer, bis sie den sozialistischen Ausgangspunkt der früheren Jahre verlassen hatten. Die Reformen begannen nicht einheitlich und sie verliefen nicht im gleichen Tempo. Nur die Probleme, die zu überwinden waren, waren in allen sozialistischen Ländern aufgrund der gemeinsamen Gesetzmäßigkeiten dieselben. Die Uneinheitlichkeit in diesem Prozeß, Widersprüche und unterschiedliche Reaktionen haben ihren Ursprung in einem bedauerlichen, aber unabänderlichen Tatbestand: Es gibt unzählige Lehrbücher über den "klassischen" Weg vom Kapitalismus zum Sozialismus; aber nicht ein einziges Buch über den Weg vom Sozialismus zu Demokratie und Marktwirtschaft.

11. Synopsis der revolutionären Prozesse in Osteuropa und der DDR Ausgangspunkt der revolutionären Prozesse in Osteuropa und der DDR waren die von allen sozialistischen Ländern anerkannten Gesetzmäßigkeiten, unabhängig davon, ob und inwieweit diese neuen "objektiven Gesetze des Sozialismus" realisiert worden waren. In unserem Vergleich werden die nichteuropäischen Unterzeichnerstaaten der Erklärung von November 1957 ausgeklammert, ebenfalls Albanien, das erst am Beginn dieses Prozesses steht. Die Sowjetunion war dem Systemwandel in Osteuropa und DDR vorgeschaltet. In den meisten Bereichen haben die einstigen Bruderländer die Sowjetunion weit hinter sich gelassen; in einigen - wie Glasnost - nicht. Bei der Nennung der Staaten halten wir uns in etwa an die chronologische Reihenfolge der Entwicklung: Polen, Ungarn, DDR, CSSR (später CSFR), Bulgarien, Rumänien. Für die folgende Synopsis wurde die Reihenfolge der "objektiven Gesetze" verändert, weil der revolutionäre Prozeß in allen ehemals sozialistischen Ländern mit der Durchbrechung des Informationsmonopols der Partei begann. Unsere Reihenfolge ist:

12

Günther Wagenlehner

Reformbereitschaft, Informationspolitik mit dem entscheidenden Schritt aus der sozialistischen Vergangenheit - dem Gesetz zur Pressefreiheit. Wirtschaft mit der Entscheidung für Privateigentum an Produktionsmitteln. Macht mit dem Kennzeichen für Systemwandel - der Aufgabe des Monopols der Partei. Freiheitsrechte mit der Bestätigung durch den Beitritt zum Europarat. Sicherheitspolitik mit dem Systemwandel durch Austritt aus dem WP.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

13

Synopsis der Revolution in Ostmitteleuropa 1989/90 a) Reformbereitschaft Aktion seit in Demonstrationen Reformpolitik d. KP Kritik an Vergangenheit Rehabilitierung v. Abweichlern Glasnost / / Gesetz zur Pressefreiheit

v

DDR

CSSR Bulgarien Rumänien

9/89

11/89

2/90

12/89

11/89

12/89

11/89

8/90

1988 1988 11/89 1989 1989 7/90 Katyn akt 1956 1988 1987 11/89

11/89 12/89 Aug68 12/89

11/89 2/90

12/89

90

3/90

Polen Ungarn

1988

4/90

1988

2/90

1990

b) Wirtschaft Aktion seit in

Polen Ungarn

DDR

v

CSSR Bulgarien Rumänien

Reform der Planwirtschaft 1988/89 1988/89 Preisreform ab 88 ab 88 ab 90 Währungsreform 7/90 (1/91) Ansätze zur Marktwirtschaft 1989 1989 3/90 5/90 Streiks 1989 1989 7/90 7/90 / / Gesetz zu Privateigentum bzw. Verfügungsrecht 7/90 10/90 4/90 KooperationsSonderst. vertrag mit EG 9/89 9/1988 seit 57 3/91 EG-Assoziierung (1991) (1992) (1991) EG-Mitgliedschaft 10/90

1990

1990

3/90

7/90

5/90

10/90

Günther Wagenlehner

14

cl Macht v

Aktion seit in

Polen Ungarn

DDR

CSSR Bulgarien Rumänien

Rechtsreform Vereinsreform Verfassungsreform

1989 88/89

1989 1989

10/90 2/90

3/90 3/90

1989

1989

12/89 10/90

12/89

2/90

Wahlgesetz/ Mehrparteiensystem 1989 89/90 Auflösung/ Umbenennung d. KP 1/90 11/89 / / Aufgabe des Machtmonopols der Partei 1989 1989 Neuwahl des 6/89 3/90 Parlaments (3/91) Nichtkomm. Regierung 8/89 5/90 Nichtkomm. Präsident (11/90) 8/90 Umbennung in Rep.jEnde 10/89 10/89

1990

1990

2/90

1990

1990

12/89

1/90

4/90

1/90

11/89 3/90 (12/90)

12/89 6/90

6/90

5/90

4/90

7/90

10/90

12/89

10/90

4/90

8/90

d) Freiheitsrechte Aktion seit in

Polen Ungarn

DDR

v

CSSR Bulgarien Rumänien

Freizügigkeit 1986 1989 11/89 12/89 Menschenrechte 1989 1989 1990 1990 Beobachterstatus im Europarat 7/89 7/89 Antrag 3/90 Mitglied im Antrag (11/90) 10/90 Antrag Europarat Antrag als BRD

1/90 7/90

Antrag

15

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

e) Sicherheitspolitik Aktion seit in

Polen Ungarn

DDR

Nationale Armee 412.000 91.000 105.000 geplante Kürzung -100.000 -40.000 ab 10/90 zur Bundeswehr Sowjetische Streitkräfte Nord Süd West Gruppe 58.500 49.700 380.000 Stand 9/90 Vollständiger Abzug verein1994 bart bis 6/91 Breshnew-Doktrin offlz.aufgegeben 12/89 12/89 12/89 Bündnissystem WP WP geplanter Austritt aus Militärorganis. 12/90 geplanter Aus1991 tritt 9/90 vollzogen Künftiges NATO Bündnis

v

CSSR Bulgarien Rumänien 199.700 -50.000

117.500

171.00

WP

WP

Zentral 51.000 6/91 12/89 WP

12/90 1991

III. Reaktion der Sowjetunion Reformen in Osteuropa und der DDR gehörten zur sowjetischen Konzeption des Neuen Denkens in der Außenpolitik. Gorbatschow und seine Mitarbeiter haben folglich die Führer der Kommunistischen Parteien und der Staaten im Sowjetbereich zu solchen Reformen bei jeder Gelegenheit ermuntert. Die Kommunisten sollten die Initiative ergreifen und ihre Reformen sollten nach der Meinung Gorbatschows keineswegs zur Sprengung des Systems führen. Die Sowjetführer haben 1989/90 allerdings nicht wie ihre Vorgänger

Günther Wagenlehner

16

seit Stalin eingegriffen, wenn der Systemwandel im sowjetischen Hegemonialverband zu Abweichungen und Änderungen der sozialistischen Gesetze führten. Gewaltsame Einmischung in die Entwicklung der Bruderländer, auch wenn diese nicht im Sinne Moskaus war, gehörten nicht zu Gorbatschows Konzeption. Die sowjetischen Medien haben, abweichend von früher, die revolutionären Prozesse in Osteuropa objetiv berichtet. Überwiegend geschah das ohne Tendenz wie früher, als negative Meldungen meist verschwiegen und das Verhalten der Moskautreuen im besten Lichte gebracht wurden. In den Jahren 1989/90 gehörte das Wohlwollen der Sowjetmedien den Reformern. Auch wenn sich das Neue Denken in der Außenpolitik erst 1989 herausbildete, so war für Gorbatschow schon 1987 die Welt "wechselseitig miteinander verbunden, voneinander abhängig und bildet ein bestimmtes Ganzes,A. Spaltungen mußten überwunden werden. Allgemeine Normen des Völkerrechts, das Selbstbestimmungsrecht, die Menschenrechte sollten überall gelten, natürlich auch im Sowjetbereich. Welche Auswirkungen diese Überzeugungen für die "sozialistischen Bruderländer" haben sollten, wird nun in den einzelnen Bereichen: Selbstbestimmungsrecht, Nichteinmischung, Anerkennung der Reformer und Einheit Europas untersucht. Zu beachten ist dabei, daß dieses Neue Denken in der Außenpolitik nach dem Willen Gorbatschows "dem Sozialismus zu neuem Leben verhelfen" sollte5. In einem längeren Aufsatz "Die sozialistische Idee und die revolutionäre Umgestaltung" versuchte Gorbatschow Ende November 1989, die Frage: Was ist Sozialismus? aus aktueller Sicht zu beantworten6• Ein weiterer Rechtfertigungsversuch der "sozialistischen Perestrojka" fol~e im April 1990 anläßlich der jährlichen Gedenkfeier zu Lenins Geburtstag . "Wir werden nicht vom Sozialismus abgehen", verkündete Gorbatschow den Arbeitern in Swerdlowsk8. Es steht nicht zur Diskussion, inwieweit Gorbatschows Versuch, Demokratie, Marktwirtschaft und Sozialismus zu vereinigen, gelungen ist. Wir betrachten auch nicht das Resultat dieses Versuches in der Sowjetunion, sondern ausschließlich die Auswirkungen auf die sowjetischen Bruderländer von einst.

4

5 6

7

PRAWDA,2.11..87 PRAWDA,30.10.89. PRAWDA, 26.11.89 (Deutscher Text nach NEUES DEUTSCHlAND, 28.11.89.

KRASNAJA SWESDA, 21.4.90. 8 Radio Moskau It. ADN 26.4.90.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

17

1. Selbstbestimmungsrecht

In seiner Bilanz vor dem Volkskongreß am 31. Mai 1989 sagt Gorbatschow: "Das Neue Denken basiert auf der Anerkennung der Priorität gesamtmenschlicher Interessen und Werte: der allgemeingültigen ethischen Normen als unabdingbaren Kriterium jeder Politik, der sozialen und politischen Entscheidungsfreiheit, die eine Einmischung in die Angelegenheiten eines beliebigen Staates ausschließt und die Notwendigkeit einer Entideologisierung zwischenstaatlicher Beziehungen.,,9 Am 11. Juni schränkt Außenminister Schewardnadse in Ost-Berlin dieses Recht auf den Aufbau des Sozialismus ein: "Jedes Bruderland kann den Sozialismus in seinen Landesfarben gestalten. lO

In der Gemeinsamen Erklärung mit der BR Deutschland erkennt Gorbatschow für die Sowjetunion den Vorrang des Völkerrechts an ll : "Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten ...". In der Juli-Konferenz der Teilnehmerstaaten des Warschauer Vertrages wird das Selbstbestimmungsrecht ausdrücklich in der Abschlußerklärung verankert als "des Rechts eines jeden Volkes auf Selbstbestimmung, auf freie Wahl seines sozialpolitischen Entwicklungsweges, die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die vorbehaltlose Enthaltung von jeglicher Anwendung von Gewalt,,12. Solche Erklärungen hatte es auch früher gegeben. Neu war, daß sich die Sowjetunion bei den Abweichungen vom gewohnten Weg in Polen und Ungarn strikt daran hielt. Außenminister Schewardnadse konstatierte im November 1989 13: "Die in Europa bestehenden Realitäten werden sich zweifellos ändern ... es vollzieht sich eine Demokratisierung, eine Erneuerung des Sozialismus und die Realisierung des Rechtes der Völker auf freie Entscheidung".

9 PRAWDA (und ND) am 31.5.89. 10 ND, 11.6.89.

11 Bulletin der Bundesregierung Nr. 61/S. 537 vom 15.6.89. 12 PRAWDA,7.7.89. 13

TASS, 17.11.89.

2 Umwälzung

18

Günther Wagenlehner

2. Nichteinmischung Mit der Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts verband Gorbatschow im Juni 1989 in Bonn die Versicherung, daß sich die Sowjetunion in keiner Weise in die Reformprozesse in Polen und Ungarn einmischen werde. Kurz darauf kritisierten sowjetische Wissenschaftler die Intervention 1956 in Ungarn als "Fehler" und forderten die Öffnung der Archive 14. Vor dem Europarat in Straßburg erklärte Gorbatschow am 6. Juli feierlich: "Jede Einmischung in die inneren Angelegenheiten und alle Versuche, die Souveränität der Staaten einzuschränken, seien das Freunde und Verbündete oder nicht, sind unzulässig,,15. Nach der offIziellen Verdammung jeder Einmischung durch den Warschauer Vertrag Anfang Juli 1989 arbeitete die Sowjetunion ihre Interventionen in Ungarn, Polen und der CSSR auf. Die sowjetische Presse kommentierte wohlwollend das Verhalten der Regierung Imre Na~~. Herbst 1956 und die Rehabilition durch die neue ungarische Führung 6. Uberraschend für die Teilnehmer entschuldigten sich die Sowjetunion und die anderen Interventen für die militärische Intervention im August 1968 in der Tschechoslowakei. Die sogenannte Breshnew-Doktrin, d. h. das "Recht und die Pflicht" zur Aufrechterhaltung des Sozialismus in den sozialistischen Bruderländern, falls er bedroht erscheint, wurde Anfang Dezember 1989 von der WP-Konferenz annulliert 17.

3. Anerkennung der Refonner Seit dem Durchbruch zur Glasnost in den sowjetischen Medien im Frühjahr 1987 hat die Sowjetunion - im Gegensatz zu früher - jede Veränderung im Sowjetblock registriert und überwiegend positiv für Reformen kommentiert. Der Abgang der Parteiführer im Sowjetblock, die jahrzehntelang getreue Befehlsempfänger Moskaus gewesen waren, fand in den Sowjetmedien kein Wort des Bedauerns, sondern generelle Zustimmung. Die sowjetische Führung bestimmte den Ton mit ihren offIziellen Telegrammen. Gorbatschow hat seit seinem Amtsantritt der "alten Garde" Honecker, Schiwkow, Ceausescu, Husak usw. bei besonderen Anlässen die üblichen

14

ISWESI1A,4.7.89.

15 ND,7.7.89.

16

ISWESI1A, 18.7.89.,25. und 26.7.89. 17 ISWESI1A, 5.12.89., deutscher Text in EUROPA-ARCHIV 3/90, S. D 72

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

19

Telegramme geschickt; aber nie persönlich unterschrieben. Stets zeichneten das ZK, das Präsidium des Obersten Sowjets und der Ministerrat. Das muß bewußt geschehen sein; denn früher hatten die Sowjetführer persönlich unterschrieben. Die Amtsnachfolger der "alten Garde" hatten es besser. Ob Gregor Gysi oder der Regimegegner Vaclaw Havel, sie erhielten alle ein persönlich gezeichnetes Telegramm und wurden sehr schnell von Gorbatschow in Moskau empfan§en. Entsprechend war das Echo auf die Neuen in der sowjetischen Presse! . Besonders makaber nahm sich das im Falle Rumäniens aus. In keinem anderen Lande ist der Tod des Diktators und seiner Frau so detalliert und ausführlich beschrieben worden wie in der Sowjetunion. "Gericht über Nikolai und Elena Ceauescu" (PRAWDA)" "Rumänien nach der Hinrichtung Ceausescus" (ISWESTIA) und am nächsten Tag berichtete TASS, daß Generalsekretär Gorbatschow sofort am 27. Dezember 1989 ein längeres Telefongespräch mit dem Nachfolger Iliescu hatte l9 . Bemerkenswert war auch der Fall Honecker. Bruderkuß mit Gorbatschow zum 40. Jahrestag der DDR Anfang Oktober 1989. Die unterkühlte Meldung von TASS zehn Tage später vom Wechsel zu Krenz. Berichte in der Sowjetpresse über die "Vernehmungsprotokolle Honecker" im März 1990 und schließlich eine Erinnerung an den Besuch Honeckers in Magnitogorsk von Juli 1989, wo Erich Honecker zum Ehrenbürger ernannt wurde. Einige Abgeordnete im Stadtrat wollten den Ehrenbürger nach Magnitogorsk einladen, aber "in der Folge wurde die Stadt von einer Protestwelle überrollt". Niemand wollte Honecker haben20 •

4. Die Einheit Europas Nach der Anerkennung der Europäischen Gemeinschaften im Juni 1988 geriet die Sowjetunion ebenso wie ihre Bruderländer in den europäischen Sog, getrieben von der Angst, nach Vollendung des europäischen Binnenmarktes ausgeschlossen zu sein. Außenminister Schewardnadse benutzte ein Essen mit Botschaftern der EG in Moskau am 6. Februar 1989 zu ungewohntem Lob: So wie die Europäische Gemeinschaft die inneren Barrieren abgebaut habe, ohne sich nach außen abzuschirmen, sei sie ein "Modell für die gesamte europäische Eini18 Vgl. dazu PRAWDA, 8.5.89 und 7.10.89. (Honecker), PRAWDA, 11.12.89. (Gysi) sowie PRAWDA, 21.3.89., 8.7.89., 23.8.89., 9.9.89. und ISWESI1A, 5.12.89. 19 ISWESI1A und PRAWDA, 25. und 27.12.89., ISWESI1A, 14.1.90. u. 28.12.89. 20 MOSCOW NEWS Oktober 1990.

20

Günther Wagenlehner

gung". So könne man "in ganz Euro~a in dieser Weise verfahren" und neue Formen des Zusammenlebens finden 1. Gorbatschows Rede in Kiew im Februar 1989 gab das Signal. Nun hieß die Losung "Überwindung der Spaltung Europas". Der sowjetische Ministerratsvorsitzende Ryshkow appellierte im April 1989 in Luxemburg an Ost und West, statt der Logik der Konfrontation die "Logik der Zusammenarbeit zu erlernen,,22. Die sowjetischen Teilnehmer am ersten deutsch-sowjetischen Forum in Bonn begeisterten sich ebenso für die europäische Idee wie Gorbatschow bei seinem Besuch Anfang April 1989 in London23. "Muß Europa eine Zone der Kräftepole bleiben", fragte Schewardnadse vor dem Politischen Ausschuß des Europäischen Parlaments in Brüssel und antwortete, "was in diesen Tagen auf dem Kontinent abläuft", zeugt eindeutig dafür, daß Europa" "zu einer multizentralen Gemeinschaft der Völker und Staaten" werden wird24 . Das Fazit des Jahres 1989 zog Gorbatschow in seiner Silvesterbotschaft25 : "Im Jahre 1988 haben wir die Idee eines gesamteuropäischen Hauses als eine Art Utopie aufgefasst. Am Ausgang dieses Jahres wird davon als reale Perspektive gesprochen. Die Nachkriegsspaltung des Kontinents gehört der Vergangenheit an". Und er versprach den Freunden der Sowjetunion Solidarität: "Wellen der revolutionären Erneuerung gingen über Osteuropa hinweg. In den dramatischen Ereignissen, die in Berlin und Sofia, Prag und Bukarest stattfanden, fand die Notwendigkeit, Sozialismus und Demokratie zu vereinen, erneut mit ernormer Kraft ihre Bestätigung. Wir wünschen unseren Freunden Erfolg auf diesem Wege. Sie können immer auf unsere Solidarität bauen". Weltweit prophezeite Gorbatschow in seiner Botschaft an das amerikanische Volk26 : "Die 90er Jahre können zu einem Jahrzehnt werden, in dem Freiheit, Demokratie und Gleichheit im globalen Maßstab und unumkehrbar verankert werden".

21 PRAWDA, 7.2.89. 22 TASS, 19.4.89. 23 PRAWDA,8.4.89. 24 TASS, 19.12.89., deutscher Text in EURO PA-ARCHIV 5/1990 D 127-136. 25 PRAWDA, 1.1.90. 26 PRAWDA,2.1.9O.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

21

IV. Das Entstehen einer revolutionären Situation Um hinreichend zu verstehen, warum Gorbatschow seit seinem Amtsantritt neue Konzepte in der Innen- und Außenpolitik versuchte, muß man sich die Lage vergegenwärtigen, vor der die Sowjetführung damals stand. Nachträglich, aus heutiger Sicht wird das ganze Ausmaß der wirtschaftlichen und politischen Misere deutlich. Aufgrund ihres Meldeaufkommens aus den verschiedenen Quellen von Partei, Staat, Armee und Nachrichtendiensten muß die sowjetische Führung Mitte der 80er Jahre deutlich erkannt haben, daß der Sowjetblock einer revolutionären Situation entgegentreibt, wenn nicht vorher Reformen zur Besserung der Lage durchgesetzt werden. Was eine revolutionäre Situation ist und aus welchen "objetiven Merkmalen" sie zu erkennen ist, hat der Klassiker der Revolution, Lenin in seiner Arbeit "Zusammenbruch der 11. Internationale" 1915 beschrieben27 . Diese Kennzeichnung gilt im gesamten Sowjetbereich unumstritten. Sie gehört zum Rüstzeug jedes kommunistischen Funktionärs. Es handelt sich in der Lenin'schen Deflnition um drei Hauptmerkmale:

1. "Die Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form zu behalten ..." Für den Ausbruch der Revolution genüge es nicht, so Lenin, daß die Massen nicht mehr wie bisher leben wollen, sondern "daß man es oben nicht mehr kann". 2. "Eine außergewöhnliche Zuspitzung der Not und Armut der unterdrückten Klassen". 3. Eine "beträchtliche Erhöhung der Aktivität der Massen", die zum "selbständigen historischen Auftreten" befähigt werden, d. h. eine revolutionäre Organisation bilden. Dissidenten spürten als "gelernte Kommunisten" in den 70er und 80er Jahren genau, daß diese revolutionäre Situation im Sowjetblock heranreift. Milovan Djilas schrieb 1986: "Im Osten wächst ein großes Unruhepotential" und später in der Rückschau unter Berufunj auf Lenin über die Gründe für das Entstehen dieser revolutionären Lage2 . Westliche Geheimdienste erhielten seit Jahren entsprechende Mitteilungen aus dem Osten und gaben sie gelegentlich zur Veröffentlichung frei. So war schon in den 70er Jahren bekannt, daß in internen Meinungsumfragen der Sowjetunion, der DDR, Polens und

27 W. I. Lenin, Ges. Werke SAufl. russ. Moskau, Bd. 26, S. 218 28 DIE WELT, 18.10.86. und EURO PA-ARCHIV 7/90, S. 225-238

Günther Wagenlehner

22

der CSSR Unzufriedenheit großer Bevölkerungsgruppen mit dem Regime in zahlreichen Einzelfragen festgestellt wurden29 . Das gleiche bemerkten die westlichen Rundfunksender mit Ost-Programmen wie Deutsche Welle, Deutschlandfunk, BBC, RFE und RL in ihren Leserzuschriften. In ihrem gemeinsamen Forschungsinstitut führten Radio Free Europe und Radio Liberty mehr oder minder repräsentative Meinungsumfragen unter Besuchern aus Ungarn, der CSSR und Polen durch. Die Ergebnisse wurden in Einzelberichten seit den 70er Jahren unter dem Titel "East European Area Audience and Opinion Research" publiziert. Ein Beispiel aus dem Jahre 1981 mag für viele andere stehen30• 1981/82 wurden 4.024 gezielt ausgewählte Besucher aus der CSSR, Ungarn und Polen im Westen gefragt, welche Partei sie wählen würden, wenn es in ihrem Lande freie Wahlen gäbe. Bei wenig Meinungslosen entschieden sich für die Kommunistische Partei in der CSSR - 2-3%, in Ungarn - 6% und in Polen - 1%. In einer Gesamtauswertung kommen die Meinungsforscher zu dem Schluß, daß sich in den drei genannten Ländern entschieden 3%

für die Kommunistische Partei

40 %

für die Demokratischen Sozialisten

9%

für die Christdemokraten

9%

für die Bauernpartei

8%

für die Konservative Partei.

Auch wenn diese Erhebungen nicht repräsentativ sein konnten, waren sie doch ein Indiz für die Stimmung im Lande. Übrigens weichen sie gar nicht so sehr von den Wahlergebnissen der ersten freien Wahlen 1990 in den drei Ländern ab. Die veröffentlichten Meinungsumfragen sind damals mit Sicherheit den Parteiführungen bekannt geworden. Die jeweiligen Nachrichtendienste haben sie jedenfalls zu ihren Bewertungen herangezogen. Professor Daschitschew, der Verfasser zahlreicher kritischer Analysen, übergab später seine Denkschrift von April 1989 dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL, das sie im Februar 1990 veröffentlichte31 . Aus dieser der sowjetischen Führung vorgelegten Denkschrift ist zu erfahren: "Die frühere sowjetischen Führung wollte nicht bemerken, wie die Sowjetunion in den Augen der Bevölkerung der osteuropäischen Länder allmählich aus dem Befreier vom Faschismus zu einem Unterdrücker, zu einer 29 Interne Berichte, DIE WELT, 17.7.86. 30 vgl. RFE-RL "East European Area Audience and Opinion Research" Jan 83, June 83, Jan 85, Oct 85, March 87. 31 DER SPIEGEL 6/90, S. 142-158.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

23

überaus konservativen Kraft wurde, die bestrebt war, die Länder dieser Region unter sowjetischer Kontrolle zu halten, und die sich jedlichen Veränderungen dort wiedersetzten." "Infolgedessen verlor die Sowjetunion im Grunde die Hebel, um politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Einfluß auf diese Länder zu nehmen." Die zwingende Folgerung: "Zentrale Aufgabe der sowjetischen Außenpolitik für eine überschaubare Zukunft muß es sein, die Sowjetunion aus dem Zustand der Konfrontation gegen alle großen westlichen Länder herauszuführen." Das gilt auch für die deutsche Frage; denn die DDR kann sich nur mit Gewalt behaupten: "Angesichts einer solchen Perspektive ist ein neues Herangehen an die deutsche Frage nicht gar zu ketzerisch. Es geht davon aus, daß man ohne die Überwindung der Spaltung Deutschlands in ihrer jetzigen Form sich ein gemeinsames europäisches Haus nicht denken kann ... " "Das in der DDR entstandene Regime konnte und kann politisch und ökonomisch nur bei Isolierung von der BRD bestehen, gestützt auf Gewalt gegen die eigene Bevölkerung." Der Vorschlag des Instituts für die Wirtschaft des sozialistischen Weltsysterns lautet für Deutschland: "Realistischer erscheinen in der ersten Zeit die allmähliche Öffnung der Grenzen der DDR, die Vertiefung ihrer allseitigen Zusammenarbeit mit der BRD, die Sicherstellung des Rechts der Deutschen in West und Ost auf ungehinderte Kontakte." Außenminister Schewardnadse erläuterte in einem Interview mit der sowjetischen Jugendzeitung KOMSOMOLSKAJA PRAWDA32 : "Haben wir die Ereignisse in Rumänien vorausgesehen? Ich kann mit voller Verantwortung sagen, daß wir keinerlei Illusionen über die Art des Regimes Ceausescu und seiner "Popularität" hegten ... Die Informationen unserer Botschaft in dieser Hinsicht waren völlig objektiv und präzise." Und im Juli 1990 erklärte der Außenminister den Delegierten des XXVIII. Parteikongresses der KPdSU 33: "Wußten die Diplomaten, wußte die Führung, was geschehen wird und wie es vonstatten geht? Ich habe auf diese Frage nie geantwortet. Nun antworte 32 KOMSOMOLSKAJA PRAWDA,5.1.90. 33 PRAWDA,4.7.90.

Günther Wagenlehner

24

ich. Wir haben das alles vorhergesagt, wir haben es gespürt... Wir haben gewußt, wenn es keine ernsthaften Veränderungen gibt, dann kommt es zu tragischen Ereignissen. Wir haben im Prinzip gewußt, was kommt. Aber geleitet von den Prinzipien des neuen politischen Denkens haben wir uns nicht in fremde Angelegenheiten eingemischt. Und ich glaube, wir haben richtig gehandelt." Lakonisch urteilte die sowjetische NEUE ZEIT im Sommer 199034 : "Der Aufstand von 1989 sollte verhängnisvoll für das Regime in der DDR werden, weil es schon lange vor der November-Revolution zum Untergang verdammt war." Der Vorsitzende des sowjetischen Ministerrates Nikolai Ryshkow konstatierte, daß die Zeit reif für Veränderungen sei und mit Blick auf die Sowjetunion: "Alles hätte viel schlimmer ausgehen können, wie wir jetzt aus den Erfahrungen Osteuropas ersehen können,,35. Allein aus den zugänglichen und vorliegenden Quellen muß die Schlußfolgerung gezogen werden, die politischen Führer im Sowjetblock wußten seit vielen Jahren ganz genau, daß in ihren Ländern eine revolutinäre Situation im Lenin'schen Sinne heranreift: Die Massen wollten nicht mehr so weiter leben und "die oben" konnten nicht mehr so weiter regieren. Für den Ausbruch der Revolution fehlte nur noch der Anstoß und eine revolutionäre Organisation.

V. Die Perestrojka und die deutsche Frage Ab Juli 1990 stellte die sowjetische Führung den Prozeß der deutschen Einheit als logische Folge der sowjetischen Europapolitik dar. Im Rahmen der Überwindung der europäischen Spaltung mußte auch die deutsche Teilung überwunden werden, erklärte Schewardnadse dem zuständigen Parlamentsausschuß. "Man kann nur staunen, daß die unnatürliche Spaltung des größten europäischen Staates so lange gedauert hat", schreibt die Armeezeitung KRASNAJA SWEDSA36 • Das klingt zwar logisch, nur war es nicht die sowjetische Politik in der deutschen Frage, die jahrzehntelang auf die Erhaltung der deutschen Spaltung gerichtet war. Noch bis zum Frühjahr 1990 erschienen die Hindernisse 34

35

NEUE ZEIT, Moskau 32/90.

TASS, 15.2.90. 36 PRAWDA, 3.7.90. und KRASNAJA SWESDA, 18.7.90.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

25

größer als die Aussicht auf Einheit. Das sowjetische Umdenken in der NATO-Zugehörigkeit ist letztlich erst Mitte Juli 1990 beim Besuch von Bundeskanzler Kohl in Moskau und im Kaukasus erfolgt37. Etwas früher setzte dieser Prozeß im Hinblick auf die Berliner Mauer ein. Aber während Professor Daschitschew schon Stacheldraht und Mauer als "Überreste des Kalten Krieges" bezeichnete, kramte die NYA-Zeitschrift VOLKSARMEE genüßlich ein Zitat Gorbatschows hervor, der am 16. April 1986 beim Besuch der Mauer ins Ostberliner Gästebuch schrieb38 :

"Am Brandenburger Tor kann man anschaulich sehen, wieviel Kraft und welch Heroismus der Schutz des ersten sozialistischen Staates auf deutschen Boden vor den Anschlägen des Klassengegners verlangt." Im Juni 1989 bei seinem Besuch in Bonn war Gorbatschow vorsichtiger. Auf eine Frage nach der Vereinbarkeit der Mauer mit seinem "Europäischen Haus" antwortete er: "Nichts unter der Sonne ist ewig. Hoffen wir, daß wir auf dem richtigen Wege sind,,39.

Am Jahrestag des Mauerbaus, im AUg1.!st 1989 schrieb die PRAWDA noch: "Die Mauer, die den Frieden schützt,Äo. Als die Fluchtwelle aus der DDR nach Ungarn überschwappte, begannen die sowjetischen Medien eine Kampagne gegen Bundesregierung und Bundesrepublik. Die Stichworte waren: "Rechtsdruck der CDU", "Kohls riskantes Spiel", "Provokation gegen die DDR", "Menschenhandel", "verantwortungsloses Spiel", "Anschlag gegen die Entspannung", "unverholene Verletzung des Völkerrechts,.41 Mit der Ablösung Honeckers am 18. Oktober änderte sich der Grundtenor der sowjetischen Berichterstattung. Nun wurden die Forderungen nach Reformen in der DDR herausgestellt. Überschriften der PRAWDA: "DDR Kundgebung und Manifeste", "DDR - Stunde der Reformen" und der ISWESTlA: "DDR - Veränderungen mit jedem Tag,.42.

37 Das Beharren der Sowjetunion auf dem alten Standpunkt bis Juli 1990 bestätigen u. a. J. Dawydow und D. Trenin, "Die Haltung der Sowjetunion gegenüber der Deutschen Frage" in EURO PA-ARCHIV 8/90, S. 251-263 sowie Jochen Franzke, Potsdam, "Kurswechsel Moskaus in der deutschen Frage" in DEUTSCHlAND ARCHIV 9/1990 38 Das Gorbatschow-Zitat wurde zuerst in ISWESTIA, 11.6.87. veröffentlicht und von VOLKSARMEE (Redaktionsschluß 15.6.87), der Zeitschrift der NVA übernommen. 39 Pressekonferenz Gorbatschows FAZ, 16.6.89. 40 PRAWDA, 14.8.89. (ND, 15.8.89.) 41 Vgl. Radio Moskau 23. u. 31.8.89. PRAWDA, 31.8.89., 16.9.89., 23.9.89; ISWESTIA, 3.9.89., 12.9.89., 13.10.89.; SOWEfSKAJA ROSSlA, 20.9.89. 42 PRAWDA, 24.10.89., 25.10.89. und ISWESTIA, 13.11.89.

26

Günther Wagenlehner

Richtschnur für die Darstellung wurde nun die Antwort Gorbatschows am

1. November 1989 auf die Frage von Generalsekretär Krenz, wie sich die

Sowjettruppen verhalten werden? Gorbatschowantwortete: "Wenn die Bevölkerung in der DDR für Reformen demonstriert, dann werden die sowjetischen Truppen in den Kasernen bleiben. Wenn die Eigenstaatlichkeit der DDR gefährdet wird, dann werden wir sie schützen,,43. Krenz wußte damit, daß die SED nicht länger Reformen verhindern kann; denn das Volk mit Gorbatschow im Rücken war stärker. Im Grund hat die Antwort Gorbatschows das SED-Regime gelähmt und den Weg zu seiner Überwindung frei gemacht. Die Öffnung der DDR-Grenzen am 9. November wurde in der PRAWDA als "kühner und mutiger Schritt" gelobt. Ein gordischer Knoten sei durchschlagen. Nun bahne sich das neue politische Denken einen Weg. TASS erklärte: "Die faktische Zerstörung der Berliner Mauer ist eine positive und wichtige Tatsache,M. In den sowjetischen Medien wurde die Mauer nun zum "Denkmal der Vergangenheit, Denkmal des Mißtrauens und des Argwohns" und "Symbol des Kalten Krieges", der vorbei ist. Sogar in der Armeezeitung KRASNAJA SWESDA erschien ein Aufruf: "Kauf ein Stück von der Berliner Mauer!,.45. Gorbatschow stellte in seiner Grußbotschaft an die Delegierten des Parteitages der SED am 16. Dezember 1989 fest: "Kurz, geschehen ist das, was geschehen mußte,.46. In Kürze wurde das sowjetische Umdenken zu einem Erfolg des Neuen Denkens ausgebaut. Die PRAWDA brachte am 4. Februar 1990 eine dafür typische Karikatur: Eine große Kugel zertrümmerte die Berliner Mauer, befestigt an einem Hebekran mit der Inschrift "Neues Denken". Die Öffnung der Grenze der DDR sollte nach sowjetischer Meinung nicht der erste Schritt zur Wiedervereinigung Deutschlands bedeuten. Radio Moskau konstatierte am 14. November 1989: "Der in der DDR eingeleitete Erneuerungsprozeß ändert nicht an der Existenz von zwei souveränen deutschen Staaten". Egon Krenz erklärte im Sowjetischen Fernsehen: "Die Frage der Vereinigung von DDR und BRD stehe nicht und könne nicht auf der Tagesordnung stehen..47.

43 Die Antwort Gorbatschows wurde direkt übermittelt, im Kern bestätigt durch NEUE RHEIN-ZEITUNG, 95.90. 44 PRAWDA, 13.11.89 u. TASS 10.11.89. 45 ZSF 22.12.89., Radio Moskau, 13.8.90., KRASNAJA SWESDA, 10.6.90.

46

TASS, 16.12.90

47 Nach ND, 20.11.89.

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

27

Auch Michail Gorbatschow hielt noch Anfang Dezember 1989 an seiner früheren Auffassung fest, daß es weder rechtmäßig noch aktuell sein, "die Existenz zweier deutscher Staaten" infrage zu stellen48 . Diese Auffassung hatte er beim Besuch des Bundespräsidenten 1987 wie auch beim Staatsbesuch von Bundeskanzler Kohl im Oktober 1988 in Moskau deutlich zum Ausdruck gebracht. Alles andere sei "unrealistische Politik" und ein "unkalkulierbares und sogar gefährliches Unterfangen,,49. Von der Vorbereitung des 40. Jahrestages der DDR berichtete ADN Ende Juni 1989, daß nach Gorbatschow "die Existenz des sozialistischen deutschen Staates" einen positiven Einfluß auf die Lage in Europa und in der Welt ausübe und den Sozialismus insgesamt stärke50 . Auch in seiner offIziellen Rede am 6. Oktober zum DDR-Gedenktag verwies Gorbatschow alle Fragen, die die DDR betreffen, an sie: "Die DDR ist ein souveräner Staat". Das Politbüro der KPdSU billigte diese Haltung Anfang November 1989 mit dem Satz: "Es wurde hervorgehoben, daß das Bestehen einer stabilen, souveränen DDR ein wichtiger Faktor des Friedens und der Sicherheit in Europa bleibt,,51. Vor dem Politischen Ausschuß des Europäischen Parlaments unterstrich Außenminister Schewardnadse Mitte Dezember 1989 diesen Standpunkt, daß es zwei souveräne deutsche Staaten gäbe. "Bei einer Abweichung hiervon droht eine Destabilisierung in Europa". Aber er stellte an alle, die eine Änderung wollten sieben Fragen zur internationalen Problematik einer deutschen Einheit 2. Das war neu und ein Zeichen für die sowjetische Diskussionsbereitschaft.

s

Die Änderung des sowjetischen Standpunktes bahnte sich durch objektive Presseberichte über die unhaltbare Lage in der DDR an. Das Sowjetische Fernsehen berichtete am 29. Januar 1990. "Die Machtorgane der DDR sind der Selbstauflösung nahe". Am nächsten Tage erklärte Gorbatschow sibyllinisch: "Die Vereinigung der Deutschen wird niemals und von niemandem prinzipiell in Zweifel gezogen". Inzwischen waren die 2 plus 4-Verhandlungen anvisiert. Schewardnadse sprach sich zum Auftakt der Gespräche mit Kohl und Genseher für die "eventuelle Schaffung eines geeinten, friedliebenden, demokratischen Deutschlands" aus. Gegen den Willen der Deutschen in

48 Auf einer Pressekonferenz in Mailand am 4.12.89 (BPA/Ostinforrnationen) 49 PRAWDA, 27.10.88. VgJ. auch Wagenlehner, "Gorbatschow und die deutsche Frage" in DEUTSCHlAND ARCHIV 9/1989 50 ADN-Bericht über das Treffen Honeckers mit Gorbatschow in Moskau ND, 29.6.89. 51 PRAWDA,4.11.89. 52 TASS, 20.12.89.

Günther Wagenlehner

28

beiden Staaten und ihrer Regierungen wollte sich die Sowjetführung nicht stellen53 . In einem längeren Interview mit der PRAWDA legte Gorbatschow dar, daß die Sowjetunion stets an der Einheit Deutschlands festgehalten habe; aber für diesen konkreten Fall der Vereinigung als eine der verantwortlichen Mächte Garantien fordern muß, daß die deutsche Vereinigung im Einklang steht mit der Schaffung eines neuen Systems der europäischen Sicherheit54 . In der Sowjetunion wurde korrekt über die Volkskammerwahl im März

1990 berichtet. Kommentar von Radio Moskau am 19. März: "Das Volk der

DDR hat seinen Willen geäußert. Es ist halt so, wie es ist. Das heißt, man muß .... nach vorne schauen,,55. Aber die sowjetische Führung hatte noch eine Hürde für die Lösung der deutschen Frage aufgebaut, an der sie scheinbar unverrückbar festhielt: die vom Westen vorgeschlagene NATO-Zugehörigkeit Gesamtdeutschlands. "Dazu können wir unser Einverständnis nicht geben", erklärte Gorbatschow kategorisch: "Das ist absolut ausgeschlossen,,56. Schewardnadse dazu im April 1990 in Washington: "Eine umfassende Einschaltung des einheitlichen Deutschlands in die NATO ist für die UdSSR unakzeptabel". In gleicher Weise äußerte sich die Armeezeitung KRASNAJA SWESDA und Marschall Jasow am 8. Mai 1990 anläßlich des 45. Jahrestages des "Sieges über das faschistische Deutschland,,57. DDR-Minister Eppelmann glaubte noch Ende Juni 1990, daß die sowjetischen Militärs an ihrer Weigerung, die Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO zu akzeptieren, unverrückt festhalten werden. Der unerwartete Durchbruch zur Lösung dieses Problems wurde Mitte Juli 1990 beim Treffen Kohl/Gorbatschow erzielt. Schewardnadse erläuterte später dem Komitee für Auswärtige Angelegenheiten des Obersten Sowjets der UdSSR, die Sowjetunion habe insgesamt "ein optimales Ergebnis erzielt": Ende des Kalten Krieges, Änderungen der Militärdoktrinen, Transformation von Warschauer Vertrag und später auch NATO in neue, gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen, Verminderung der Rüstung, Ausschaltung der deutschen Gefahr - "Unter diesen neuen Bedingungen kann man an die deutsche Frage, unter anderem auch an ihre militärischen Aspekte, nicht mehr mit den alten Maßstäben herangehen. Die Um

53 PRAWDA, 30.1.90. 54

TASS, 20.2.90.

55 Radio Moskau, 19.3.90. 56 TASS, 6.3.90.

57 Z

B. KRASNAJA SWESDA, 15.3.90. und TASS, 8.5.90. (Jasow-Zitat).

Die Revolution in Ostmitteleuropa als Folge der Perestrojka

29

stände haben sich geändert. Und die Deutschen selbst haben sich geändert',s8. Die Logik der Überwindung der europäischen Spaltung hatte letztlich auch die deutsche Spaltung beseitigt. Aber dazu mußte Hürde für Hürde beiseite geräumt werden. Und das bedeutete im Gegensatz zu den früheren Äußerungen der sowjetischen Führung das Ende der DDR. Typische Schlagzeilen der sowjetischen Medien: "Wir haben keinen Grund zur Schadenfreude über die Lage in der DDR", "Abschied vom 'preußischen Sozialismus''', "Der DDR verbleiben noch zwei Wochen,,s9. Die sowjetische Politik gegenüber den Verbündeten stieß in der Führung auf Kritik. Der vom XXVIII. Parteikongreß der KPdSU abgewählte Ligatschow erhob Bedenken wie auch einige sowjetische Militärs. Außenminister Schewardnadse hielt vor den Delegierten des XXVIII. Parteitages dagegen60 : "Heute versucht man es so darzustellen, als wäre die Entscheidung über den Abzug unserer Truppen aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen, der Mongolei und der DDR hinter dem Rücken der Militärs gefallen. Das stimmt nicht. In allen Verhandlungen gaben die Genossen Militär den Ton an." Einige Militärs kamen ihm zuhilfe. Andere hatten schon früher das Recht auf Selbstbestimmung betont. Präsident Gorbatschow faßte die Kritik grundsätzlich zusammen und antwortete auf dem XXVIII. Parteikongreß Anfang Juli 1990 daraufi 1: "Wenn man sagt, das sei der Zusammenbruch des Sozialismus, dann stellen wir die Gegenfrage: Welches Sozialismus? Des Sozialismus der im Grunde eine Variante des Stalinschen autoritär-bürokratischen Systems war, das wir selbst aufgegeben haben? Man tadelt uns sogar dafür, daß wir dort 'kampflos abziehen'. Daraus folgt, man rät uns, zu dem Zuflucht zu nehmen, was wir früher entschieden verurteilten".

Schlußfolgerungen Wir kommen auf unsere Ausgangsfrage zurück: War Gorbatschow am Beginn seiner Konzeption des Neuen Denkens in der Außenpolitik bereit, 58 TASS, 20.9.90.

59 ISWESTIA, 29.8.90., Radio Moskau, 16.8.90., ISWESTIA, 21.9.90. 60

PRAWDA,4.7.90.

61 PRAWDA,3.7.90.

30

Günther Wagenlehner

für die Zusammenarbeit mit dem Westen den Preis der Auflösung des Sowjetblock zu zahlen? Drei Thesen bieten sich an: 1.

Gorbatschow hat die Entwicklung im Sowjetblock dem Selbstlauf überlassen.

2.

Gorbatschow hat sich die Reformen und davon stimuliert revolutionären Umwälzungen von den nationalen Führern der Blockstaaten abtrotzen lassen.

3.

Gorbatschow hat die Revolution von sozialistischem Staat zu Marktwirtschaft, Freiheit und Demokratie im Sowjetblock bewußt und gezielt vorangetrieben.

Für die These 1 gibt es keinen Beweis. Gegen These 2 sprechen die Fakten. Aber auch These 3 hat in der vorgegebenen Konsequenz keinen Bestand. Die Auswertung der verfügbaren Äußerungen und Fakten ergibt, daß Gorbatschow das Neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik konzipierte, um den kommunistischen Bruderparteien in klarer Erkenntnis der explosiven Lage in ihren Ländern die Macht zu erhalten. Die PERESTROJKA sollte verhindern, daß die Führungsrolle der KPen verloren geht und der Systemwandel zum Ende des Sozialismus führt. Unabhängig davon, wie die Sowjetunion sich weiter entwickelt und welche Rolle Gorbatschow dabei spielt, steht seine historische Bedeutung für die von der Sowjetunion abhängigen europäischen Staaten fest: Als deutlich wurde, daß die Völker nicht mehr im Sowjetblock mit seinen Bündnissen des Warschauer Paktes und des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe leben wollten, hat es Gorbatschow ihnen überlassen, wie sie ihre Zukunft gestalten wollen und die Auflösung der sowjetischen Paktsysteme in Kauf genommen. Dazu bedurfte es der Zustimmung der politischen und militärischen Führungsgremien in der Sowjetunion. Ohne die Zustimmung der sowjetischen Militärs wäre die Auflösung des Sowjetblocks und auch der Rückzug der sowjetischen Streitkräfte aus den Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes nicht möglich. Offenbar erscheinen NATO und EG mit einem durch Rüstungsverminderung und Truppenbegrenzung veränderten Deutschlands als kleineres Übel gegenüber dem früheren Zustand. Das Verhalten Gorbatschows und der sowjetischen Führung in der Sowjetunion selbst gegenüber dem Drängen einzelner Sowjetrepubliken nach Selbständigkeit und Selbstbestimmung zeigt, daß Neues Denken in der Aussenpolitik nicht unbedingt in der Innenpolitik angewandt werden muß.

DER POLITISCHE UMBRUCH IN POLEN Von Dieter Bingen I. Vorbemerkungen

Im Laufe des Jahres 1989 beschleunigte sich der Systemwandel in Polen mit einer Geschwindigkeit, die an der Jahreswende 1988/89 niemand vorausgesehen hatte. Genauso wenig wagte jemand vorauszusagen, daß die Frage des Jahres 1981, ob die Polen mit ihrem Drängen nach einem Systemwechsel auf absehbare Zeit die einzigen im Rahmen des Warschauer Pakts bleiben würden oder ob nicht vielmehr Polen ein Menetekel für das weitere Schicksal des gesamten "sozialistischen Lagers" an die Wand malte, so rasch und so eindeutig beantwortet würde. Zwar hatte es schon im Frühjahr 1988 geheißen: "Rien ne va plus", aber noch im April 1989 galt die Übernahme der Regierung durch eine bürgerliche Koalition als eine Perspektive für die 90er Jahre. Der frühere Erste Sekretär des Zentralkomitees der aufgelösten Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) und erste Präsident (Juli 1989-Dezember 1990) der Republik Polen, Wojciech Jaruzelski, bekannte im Februar 1990 in einem bemerkenswerten Gespräch mit dem Genfer Korrespondenten der Polnischen Presse-Agentur (PAP): "... kann ich zugeben, daß ich mir erst - sagen wir einmal - vor einem Jahr bewußt worden bin, daß das Dogma, die Doktrin von der führenden Rolle der Partei irrational ist, daß sie inakzeptabel ist, daß sie heute schlicht untauglich ist. Ich habe daran geglaubt, ich war überzeugt ... ".1

Wie ein Ereignis aus grauer Vorzeit stellt sich ein Geplänkel vom Januar 1988 dar, als der Historiker Jerzy Holzer in einem offenen Brief an den Staatsratsvorsitzenden J aruzelski und an den Vorsitzenden der illegalen "Solidarnosc" Lech Wal«sa die Aufforderung richtete, im Dienste der nationalen Versöhnung "in gemeinsamer Anstrengung und mit der moralischen Unterstützung, wie die Kirche sie sicher geben wird, das Rad der Geschichte zu wenden".2 Damals erntete er von dem Regierungssprecher Jerzy Urban nur eine arrogante Antwort: Als Historiker sollte Holzer doch zwischen dem 1

Trybuna Kongresowa, 9.2.1990. 2 List otwarty Jerzego Holzera (Offener Brief von Jerzy Holzer), in: Polityka, Nr.

3/16.1.1988.

32

Dieter Bingen

unterscheiden, was der Geschichte angehöre, und dem, was Gegenwart und wirklich existent sei. 3 Fünfzehn Monate später, am 18. April 1989, traf Jaruzelski mit dem Vorsitzenden der tags zuvor im Warschauer Wojewodschaftsgericht zum zweiten Mal legalisierten Gewerkschaft zusammen. Jaruzelski war der Verantwortliche für die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981, für die Delegalisierung der "SolidarnosC" und anderer unabhängiger gesellschaftlicher und künstlerischer Organisationen gewesen. Er wurde zugleich der Mann, der nach einem langen und quälenden politischen Lernprozeß in die Umwandlung des "sozialistischen" Polen in eine parlamentarische Demokratie einwilligte: einer der von Hans Magnus Eozensberger als "Helden des Rückzugs" bezeichneten Protagonisten, die "den Verzicht, den Abbau, die Demontage repräsentieren" und als non plus ultra der Kunst des Möglichen eine unhaltbare Position räumen.4 Mit dieser Bürde profilierte Jaruzelski sich als der erste polnische Nachkriegspolitiker, in dessen Regierungszeit zwei Demokratisierungsphasen (1981, 1989) fallen und der zwei systembedrohende Krisen überlebte: Die politische Krise 1981 und die paralysierende Stagnation in der zweiten Hälfte der 80er Jahre. Gemessen an allen seinen kommunistischen Vorgängern seit 1944 ist Wojciech Jaruzelski in einem gewissen Sinne der erste erfolgreiche Partei- und Staatschef gewesen. Daß die Verantwortung für den 13. Dezember 1981 schwer auf ihm lastet, machte die komplexe Persönlichkeit Jaruzelski vor dem Menschenrechtsausschuß in Genf zum Anlaß politisch-moralischer Erwägungen: "Niemand, der das kleinere Übel statt des größeren Übels wählt, kann mit Applaus rechnen. Das Übel bleibt immer ein Übel." Aber er setzte hinzu daß "in der historischen Perspektive die Schlußbilaoz ausschlaggebend ist".5 In seinen 1992 erschienenen Memoiren über das Jahr 1981 legte Jaruzelski die Ratio seines politischen Handelns nochmals in aller Breite dar. 6 Wo lagen die Ursachen dafür, daß eine politische Wende, die 1988 noch außerhalb der realistischen Vorstellungen der Repräsentanten der politischen Opposition lag, nach einem neunwöchigen Verhandlungsmarathon am "Runden Tisch" in Verfassungsänderungen und Gesetzesnovellierungen einmündete, die binnen kürzester Zeit die Fundamente für eine parlamentarische Demokratie und die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Prinzipien legen sollten? 3 Rzeczpospolita, 6.1.1988. 4 Hans-Magnus Enzensberger, Die Helden des Rückzugs, in: Frankfurter Allgemeine ZeitunJ' ?12.1989. Zycie Warszawy, 9.2.1990. 6 Wojciech Jaruzelski, Stan wojenny: Dlaczego ... (Kriegszustand. Warum ... ), Warszawa 1992.

Der politische Umbruch in Polen

33

Bei den folgenden Erwägungen wird im einzelnen davon abgesehen, darauf hinzuweisen, daß eine notwendige Grundbedingung für den Systemwandel und schließlich den Wechsel der politischen und wirtschaftlich-sozialen Ordnung Polens die grundlegende Veränderung der sowjetischen Osteuropapolitik nach dem Amtsantritt von Michail Gorbatschow gewesen ist. Moskau beanspruchte keine ideologische Sonderstellung mehr und wies jeder kommunistischen Partei das Recht zu, "souverän die Fragen der Entwicklung" des von ihr regierten Landes zu lösen? Dieses Recht beanspruchten zuerst Ungarns und Polens Kommunisten. Zugleich waren sie aber auch eines Bestandsschutzes beraubt, den ihnen in der Vergangenheit die sogenannte Breshnew-Doktrin von der beschränkten Souveränität der sozialistischen Länder geboten hatte. Nun waren sie allein dem inneren Legitimationsdruck im Lande ausgesetzt.

11. Die Streikwellen 1988: Auslöser der Wende "von oben"

Warnsignale hatte es nach einer kurzfristigen Entspannung im Herbst

1986 (Freilassung aller politischen Gefangenen und Ankündigung neuer Konsultationsorgane) im Jahre 1987 und in den ersten Monaten 1988 genug

gegeben. Die polnischen Massenmedien und die Meinungsforschungsinstitute registrierten eine von Monat zu Monat zunehmende Unzufriedenheit und Zukunftsangst in weiten Kreisen der Bevölkerung. In der Presse war die Rede von dem "Gefühl, von einer zivilisatorischen Degradation bedroht zu sein, dem Gefühl der Sinnlosigkeit und der Monetarisierung des Bewußtseins,,8 - eine Folge des dramatischen Kaufkraftverlustes der polnischen Währung. Die nach sechs Jahren weitgehend erfolglos gebliebener Wirtschaftsreform vorherrschende Gemütsverfassung sei Erschöpfung und Unruhe. Polen sei überhaupt ein erschöpftes Land geworden. Vor allem ermüde das Gefühl der Perspektivlosigkeit, konstatierte illusionslos die Wochenzeitung "Polityka" im Frühjahr 1988.9 In der repräsentativen Untersuchung "Polen '88" hieß es, daß Anfang 1988 über 84 Prozent der Befragten glaubten, "daß ein grundlegender Wandel zum Besseren in Polen nur erreicht werden kann, wenn die Autoritäten mit der Gesellschaft eine Übereinkunft fmden". Zugleich waren fast 70 Prozent pessimistisch mit Blick auf eine solche Variante, sie sahen "keinen Sinn

7 Siehe Fred Oldenburg, Moskau und der Zusammenbruch des Kommunismus in Ost europa, Köln 1990 (Berichte des 810st, 62-1990). 8 Mirosl'awa Marody, Awans i krach (Aufstieg und Zusammenbruch), in: POlityka, Nr. 18/30.4.1988. 9 Zm~czenie material'u (Materialermüdung), in: Polityka, Nr. 20/145.1988. 3 Umwllzuna

34

Dieter Bingen

darin, auf einen grundlegenden Wandel zu warten ... ".10 Der Historiker und Oppositions politiker Adam Michnik beschrieb die Situation im Sommer 1988 so, "daß die Regierung von den Reformgegnern unterstützt wird, während den Reformwillen Kräfte repräsentieren, die in Opposition zur Regierung stehen. Einfach gesagt: In Polen, genauso wie in der UdSSR, wird der Widerstand gegen die Reform von der Nomenklatura geleistet, einer breiten Klasse des bürokratischen Machtapparats"Y Ein alarmierendes Signal für die War schauer Führung waren die Ereignisse im April und Mai 1988 gewesen. Damals gab es zwar keinen Massenprotest, es streikten nicht Millionen Arbeiter, sondern nur einige Tausend. Aber die Lunte glimmte. Nach Preisanhebungen bei Nahrungsmitteln und Energieträgern zwischen 40 und 200 % hatten sich die Berichte über Arbeitsniederlegungen in den Betrieben gemehrt, die durch die Zusage von Lohnerhöhungen be endet werden konnten. Im April und Mai 1988 erreichten die Zeichen des Unmuts eine neue Qualität. Streikbereitschaft griff auf Großbetriebe über, die mit der Industrialisierung des Landes und zugleich mit den zyklischen Konflikten zwischen Partei und Arbeiterschaft in der Nachkriegsgeschichte Polens assoziiert werden und in denen die "Solidarnose" immer besonders stark war (Leninhütte in Nowa Huta, Leninwerft in Danzig, Ursus-Traktorenwerk bei Warschau). Im August 1988 kam es zur zweiten Streikwelle des Jahres. Begonnen hatte es am 15. August damit, daß 500 Bergleute der Nachtschicht in der oberschlesischen Steinkohlengrube "Manifest Lipcowy" (Juli-Manifest) in Jastrzt(bie bei Kattowitz ihre Arbeit nicht aufnahmen und einen Streik verkündeten. Die Organisatoren formulierten 21 Forderungen - wie die Danziger Streikenden im August 1980 - zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Bergleute. Ihr wichtigstes Verlangen war die Wiederzulassung der Gewerkschaft "Solidarnose". Die Streiks weiteten sich in den folgenden Tagen über das oberschlesische Kohlenrevier aus, in dem 12 von 68 Zechen bestreikt wurden. Am 17. August griff die Streikbewegung auf die Küste über. Mit dem Streik in der Danziger Lenin-Werft trat die "wilde" Streikbewegung am 22. August in eine für die Warschauer Führung gefährliche Phase.

10 Wladysl'aw Adamski u. a., Polaey '88. Konflikty i reformy (Polen '88. Konflikte und Reformen), in: Polityka, Nr. 30/23.7.1988. Während des Jahres 1988 stellte das Meinungsforschungsinstitut CBOS einen dramatischen Vertrauensverlust in die Institutionen und eine insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 1988 steigende Zustimmung zu der Forderung nach grundlegenden Systemveränderungen fest. (CBOS. Zestaw materialow. Numer n~ roczny/Materialzusammenstellung. Neujahrsnummer/(1989)). POlitbüromitglied Reykowski sprach im April 1989 davon, daß "die Radikalisierung der Meinungen in der Gesellschaft im Verlauf der letzten Monate gewaltig zugenommen" habe (Zycie Warszawy, 15.-16.4.1989). 11 Adam Michnik, "Polen steht vor der Wende". Die Kriegsrechts-Politik von General Jaruzelski ist gescheitert, in: Der Spiegel, Nr. 34/22.8.1988.

Der politische Umbruch in Polen

35

Die Streiks des August 1988 galten als Ausdruck der Verzweiflung über die hoffnungslose Wirtschafts- und Versorgungslage und des dramatischen Glaubwürdigkeitsverlustes der erfolglosen Regierung Messner - seit November 1985 im Amt - und von General Jaruzelski. Die Hoffnungen, die in der Bevölkerung im Herbst 1986 nach der Freilassung aller politischen Gefangenen und im Zusammenhang mit der Schaffung neuer Verfassungs- und Konsultationsgremien (Bürgerrechtsbeauftragte, Konsultativrat u. a.) keimten, waren im Sommer 1988 völlig zerstoben. Nach der Niederlage der Regierung Messner in dem Referendum über das Programm der wirtschaftlichen und politischen Reformen im November 1987, den Streiks im April/Mai 1988, der geringen Wablbeteiligung bei den Kommunalwahlen im Juni 1988 und der zweiten Streikwelle im August 1988 machte sich in der Warschauer Führung die Einsicht breit, daß mit Konsultationsmodellen ohne Elemente direkter politischer Mitentscheidung der pluralistischen Gesellschaft ein Ausweg aus der Dauerkrise nicht zu finden war. 12 Zuerst mußte jedoch der Staats- und Parteiapparat über seinen eigenen Schatten springen. Dabei halfen die katholische Kirche und ihr nabestehende Intellektuelle in der Tradition der vergangenen 30 J abre mit einem Vermittlungsangebot.

111. Positions bestimmungen

Als Vermittler zwischen dem Staatsapparat und den Streikenden bot sich Professor Andrzej Stelmachowski an, damals Vorsitzender des Warschauer Klubs der Katholischen Intelligenz (KIK), später Senats-Marschall und Erziehungsminister im Kabinett Olszewski. Nach einem ersten Gespräch zwischen Stelmachowski und dem zuständigen ZK-Sekretär J6zef Czyrek erteilte das Politbüro der PZPR dem Innenminister General Czeslaw Kiszczak den Auftrag, als demonstrativen Beweis des guten Willens der Führung ein Treffen mit Lech Wal«sa vorzubereiten. Am 31. August 1988 kam es zur Begegnung Wal«sa-Kiszczak, dem ersten Gespräch des seit 1982 als "Privatperson" bezeichneten Arbeiterführers mit einem Vertreter der Staatsrnacht seit November 1981, da