Religion und Konflikt: Grundlagen und Fallanalysen 9783666604409, 9783525604403, 9783647604404

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Religion und Konflikt: Grundlagen und Fallanalysen
 9783666604409, 9783525604403, 9783647604404

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525604403 — ISBN E-Book: 9783647604404

Research in Contemporary Religion Edited by Hans-Günter Heimbrock, Daria Pezzoli-Olgiati, Bryan P. Stone, Heinz Streib, Claire Wolfteich, Trygve Wyller In Co-operation with Sunhee Ahn (Seoul, Korea), Bärbel Beinhauer-Köhler (Frankfurt/Main, Germany), Wanda Deifelt (São Paolo, Brazil), Jaco S. Dreyer (Pretoria, S. Africa), Mehmet Emin Köktas (Izmir, Turkey), Bonnie J. Miller-McLemore (Nashville, USA), Siebren Miedema (Amsterdam, The Netherlands), Bradd Shore (Atlanta, USA), David M. Wulff (Norton, USA), Margaret Yee (Oxford, UK), Dale P. Andrews (Boston, USA), Hanan Alexander (Haifa, Israel), William Storrar (Princeton, USA), Carla Danani (Macerata, Italy)

Volume 8

Vandenhoeck & Ruprecht

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Ingolf U. Dalferth / Heiko Schulz (Hg.)

Religion und Konflikt Grundlagen und Fallanalysen

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-60440-3 ISBN 978-3-647-60440-4 (E-Book) © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Oakville, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Druck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort Die Beiträge dieses Bandes gehen im Kernbestand auf eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Religionsphilosophie zurück, die vom 12.–13. Oktober 2007 in Essen zum Thema Religion und Konflikt stattgefunden hat. Die dort begonnenen Diskussionen wurden in verschiedenen Zusammenhängen weitergeführt. Wir danken allen, die ihre Beiträge zur Publikation in diesem Band bereitgestellt haben. Wir danken unseren Mitarbeitern in Frankfurt und Zürich, die sich um die Drucklegung dieser Texte verdient gemacht haben. Und wir danken dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht für die Übernahme dieses Bandes in sein Verlagsprogramm. Ingolf U. Dalferth, Zürich/Claremont Heiko Schulz, Frankfurt a.M.

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Inhalt Inhalt INGOLF U. DALFERTH Einleitung: Religionen und Konflikte Konflikthermeneutische Vorüberlegungen ............................................

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I. Grundlagen: Zur Theorie religiöser Konflikte

HEIKO SCHULZ Sind Religionen konfliktfähig? Vorüberlegungen zum themenspezifisch relevanten Begriffsfeld ..........

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GESCHE LINDE Religion als implizite Sozialitätstheorie Eine handlungstheoretische Skizze .........................................................

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STEPHAN SELLMAIER Enger und weiter religiöser Dissens........................................................

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MATTHIAS JUNG Gewalt als Gewissheit – Deformationen religiöser Welterfahrung ........ 101 KNUT BERNER Gefährliche Gewissheiten Konfligierende Innenwelten und das Problem religiöser Letztbegründungen.................................................................................. 117 CLAUDIA WELZ The Self as Site of Conflicts Guilt, Recognition and Reconciliation.................................................... 137

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Inhalt

II. Fallanalysen: Zur Wahrnehmung und Bewältigung von Konflikten in und mit der Religion

FRANCESCA YARDENIT ALBERTINI/STEFAN ALKIER/ÖMER ÖZSOY Gott hat gesprochen – aber zu wem? Das Forschungsprojekt ›Hermeneutik, Ethik und Kritik heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam‹ ..................................... 165 HEIKO SCHULZ Patt Bemerkungen zum Konflikt zwischen Naturalismus und Theologie ..... 185 PETER STEINACKER Verändern die fremden Götter den christlichen Gott? Oder: Kann man fremde Gottheiten (Heilspotenzen) als solche anerkennen und dennoch Christ und Monotheist bleiben? ..................... 207 RALF KAROLUS WÜSTENBERG Schuld, Gerechtigkeit und Versöhnung Die politischen Umbrüche in Südafrika und Deutschland im theologischen Diskussionszusammenhang der Rechtsethik .................... 233 THORSTEN KNAUTH ›Dialog an der Basis‹ Eine Analyse dialogorientierter Interaktion im Religionsunterricht....... 257 HINWEISE ZU DEN AUTOREN ................................................................... 289 NAMENSREGISTER ................................................................................... 291

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Ingolf U. Dalferth

Religionen und Konflikte Konflikthermeneutische Vorüberlegungen Ingolf U. Dalferth Einleitung

I Mit Konflikten hatten Religionen immer schon zu tun. Religionen haben Konflikte ausgelöst, aus Konflikten sind Religionen entstanden, durch Religionen wurden Konflikte vermieden, verstärkt oder beigelegt. Längst schon sind alle denkbaren Konstellationen mehrfach durchgespielt worden. Manchmal ist zu wenig Religion der Grund dafür, dass Konflikte entstehen, und manchmal zu viel. Manchmal ist zu viel Religion der Grund dafür, dass Konflikte nicht beendet werden, und manchmal zu wenig. Eine einfache Regel zur Korrelation von Religion und Konflikt gibt es nicht: Die Antwort muss für jeden konkreten Fall gesondert gesucht werden, und in jedem konkreten Fall sieht sie anders aus. Konkrete Konflikte gibt es in vielerlei Gestalt in, zwischen, mit und um Religionen. Stets prallt dabei Unvereinbares aufeinander, das nicht zusammen wirklich sein kann. Unvereinbares ist mehr als nur Unterschiedenes, und Konflikte sind mehr als bloße Differenzen. Differenzen werden zu Konflikten, wenn es um Vollzüge geht, in denen sie sich nicht gleichzeitig realisieren lassen, wenn also in konkreten Praxis- oder Lebenszusammenhängen Unterschiede aktiv so aufeinander treffen, dass es durch Unvereinbarkeiten im Was (Sachkonflikte), Wie (Methodenkonflikte), Wegen (Begründungskonflikte), Wozu oder Wofür (Zielkonflikte) zur Behinderung oder Verhinderung der betreffenden Vollzüge kommt. Dann brechen Machtfragen auf, weil ein Vollzug nur möglich wird, wenn sich das eine gegen das andere oder ein Drittes gegen beides durchsetzt. Eine Religion steht dann gegen andere, eine Richtung innerhalb einer Religion streitet mit einer anderen, und die Ablehnung aller Religion kann sich als bessere Alternative gegenüber dem permanenten Streit der Religionen und religiösen Richtungen profilieren. Unvereinbarkeitskonflikte sind keine Probleme, die sich durch mehr Wissen oder bessere Vertrautheit lösen oder verhindern ließen. Keineswegs ist es so, dass Fremdheit zwischen den Religionen die Wahrscheinlichkeit von Konflikten steigert, oder die Nähe von Religionen die Tendenz zu Konflikten abschwächt. Sich gut zu kennen, ist keine verlässliche Strategie,

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Konflikte zu vermeiden. Das Gegenteil scheint häufig der Fall zu sein, wie nicht nur die europäische Geschichte belegt. Je näher man sich steht und je besser man sich kennt, desto heftiger und unversöhnlicher können die Dissense und Konflikte sein. Protestanten und Katholiken, orthodoxe und liberale Juden, Schiiten und Sunniten, Vishnuiten und Shivaiten, Theravada- und Mahayana-Buddhisten, aber auch jede dieser Richtungen jeweils untereinander, werden nicht müde, sich das gegenseitig zu bestätigen. Ähnliches ließe sich aus fast allen religiösen Traditionen belegen. »WE have just enough religion to make us hate, but not enough to make us love one another«, notierte Jonathan Swift im 18. Jahrhundert im Blick auf die Religionskonflikte in Großbritannien pointiert.1 Nicht von ungefähr zogen politische Denker der europäischen Aufklärung aus solchen Erfahrungen die Konsequenz, der Verzicht auf Religion, oder doch der Verzicht auf die politische Indienstnahme von Religion, dürfte unter diesen Umständen doch allemal der bessere Weg zum Frieden sein. Die ›New Atheists‹ (Dawkins, Dennett, Harris, Stenger, Hitchens) sind darüber nicht hinausgekommen: Die Welt wäre ein besserer Ort, wenn es keine Religionen gäbe.2 Swift war sich da nicht so sicher, wie er in An Argument to Prove that the Abolishing of Christianity in England May, as Things Now Stand Today, be Attended with Some Inconveniences, and Perhaps not Produce Those Many Good Effects Proposed Thereby (1708) mit der ihm eigenen beißenden Ironie gegenüber Freidenkern, Deisten, Antitrinitariern, Atheisten, Sozinianern und anderen sogenannten ›dissenters‹ ausführlich darlegte. Die Sache war seiner Ansicht nach erheblich komplizierter. Die Abschaffung des Christentums oder der Religion überhaupt dürfte die Neigung zu Konflikten unter den Menschen nicht etwa eindämmen, sondern nur dazu führen, dass diese ihre Konfliktsucht auf andere und noch weit schädlichere Weise austoben. Der Versuch, den Anlass und Grund konkreter Konflikte in und mit Religionen nicht in den Religionen zu suchen, sondern in den Menschen, die Religion praktizieren (oder nicht praktizieren), ist weit verbreitet. Aber er lässt viele Fragen offen. Immerhin macht er darauf aufmerksam, dass auch nach 9/11 und in den vielen Konflikten zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller und religiöser Traditionen in Europa, Asien, Afrika oder den Amerikas nicht die Religionen, oder bestimmte Religionen, das eigentliche Problem sein könnten, sondern dass unter der Oberfläche religiöser Gegensätze ganz andere Fragen zu Konflikten und oft gewaltsamen Auseinandersetzungen führen: politische, ökonomische, rechtliche, kulturelle Macht-, Gerechtigkeits- und Gleichheitsfragen etwa. ————— 1

J. SWIFT, Thoughts on Various Subjects, eBook@Adelaide 2004. Vgl. H. SCHULZ, Alter Wein in neuen Schläuchen oder der Siegeszug des Trivialen. Zur Kritik des sogenannten Neuen Atheismus, ThLZ 135 (2010), 3–19. 2

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Einleitung

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Religiöse Orientierungen mögen die in diesen anderen Fragen angelegten Konfliktanlässe und Konflikttendenzen verstärken oder einschränken, Öl ins Feuer oder Wasser in die Flammen gießen, aber sie sind nicht per se das eigentliche Problem in den gegenwärtigen Konfliktfeldern von Politik und Religion.

II Doch auch das dürfte eine übervereinfachende Fehleinschätzung sein. Das Religionsthema lässt sich nicht so ohne Weiteres aus diesen anderen Problemfeldern heraushalten. Es ist auf mannigfache Weise mit ihnen verquickt. Vor allem aber kommt es keineswegs erst dadurch zu Konflikten in und mit Religionen, dass diese in Kontexten gelebt werden, die durch Konflikte bestimmt sind. Religionen sind selbst Konfliktphänomene, und zwar nicht nur in ihrem äußeren Verhältnis zueinander, sondern auch in ihrer inneren Struktur. Konflikte beginnen nicht erst dort, wo es zu konkreten Auseinandersetzungen in Raum und Zeit kommt, sondern in den Köpfen. Schillers Wallenstein ist an diesem Punkt noch viel zu optimistisch: »Eng ist die Welt und das Gehirn ist weit. Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.«3 Selbst wenn Religionen bloße ›Gedankendinge‹ wären, wohnen sie in den Gehirnen der Menschen nicht ›leicht beieinander‹, so dass es nicht im Denken, sondern allein im Handeln zu Konflikten käme. Multireligiosität im Einzelleben ist noch nicht einmal als Denkprojekt ein besonders überzeugendes Programm. Es unterschätzt das intrinsische Spannungs- und Sprengpotential religiöser Orientierungen oder ist genötigt, es zu verharmlosen. Weil Religionen aufs Ganze gehen, und das tun fast alle Lebensorientierungen, die wir mit der Kategorie ›Religion‹ anzusprechen pflegen, treten sie unvermeidlich miteinander in Konflikt, wo sie nicht nur als Optionen betrachtet und als Studienobjekte untersucht, sondern als Lebensorientierungen ernst genommen und praktiziert werden. Natürlich gibt es Übernahmen, Angleichungen und Anpassungen zwischen Religionen, ein Lernen voneinander, auch in der Abgrenzung, und die Aneignung bestimmter Einzelaspekte einer religiösen Tradition in einer anderen. Aber dabei geht es in der Regel um die Ausbildung einer neuen bzw. neu bestimmten Einheit und Ganzheit, das Fortbilden einer Religion durch Einbeziehung von Elementen einer anderen oder um das synkretistische Formieren einer neuen religiösen Orientierung aus verschiedenen Aspekten anderer Traditionen. Dieser ›natürliche‹ ————— 3

Wallensteins Tod II, 2.

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Synkretismus ist eine Begleiterscheinung aller Religionen, auch wenn diese sich sehr verschieden dazu verhalten. Es gibt Religionsformen wie Buddhismus, Daoismus, Konfuzianismus oder Shinto, die man individuell kombinieren, nach eigenen Vorstellungen mischen, in verschiedenen Situationen praktizieren und deren Gottheiten man an ihren jeweiligen Heiligtümern abwechselnd verehren kann. Differenzen werden nicht als Konflikte und Konflikte nicht als Widersprüche gesehen, die in einem kohärenten Glaubenssystem aufzuheben sind, sondern praktisch durch Unterscheidung der Anlässe, Kulte, Riten und Praktiken gelöst. Monotheistische Religionen setzen demgegenüber stärker auf die interne Widerspruchsfreiheit ihrer Glaubenssysteme und damit auf Abgrenzung und wechselseitigen Ausschluss des nicht integrierbaren Differenten. In ihrem Fall kann man nicht gleichzeitig verschiedene religiöse Lebensorientierungen unverkürzt und konfliktfrei leben, nicht weil nicht jede für sich genommen gelebt werden könnte, sondern weil man sich nicht gleichzeitig auf sich gegenseitig ausschließendes verschiedenes Ganzes ganz einlassen kann. Sie mögen je für sich möglich sein, aber sie sind lebenspraktisch nicht kompossibel, wie Leibniz sagen würde. Das Problem ihrer Unvereinbarkeit liegt nicht in den Religionen, sondern im Leben. Auch wenn alle Religionen dem Frieden verpflichtet sind und es keinen Weltfrieden ohne Religionsfrieden geben mag, kann das nicht besagen, dass alle oder auch nur einige Religionen gleichzeitig ein Leben bestimmen und in einem Leben praktiziert werden können. Leben und leben lassen mag eine sinnvolle Regel für das Zusammenleben verschiedener Religionen in einer Gesellschaft sein, aber nicht für ihr vermischtes oder unvermischtes Beieinander im Leben eines einzelnen Menschen. Nicht von ungefähr werden Konflikte unvereinbarer religiöser Orientierungen in ein und demselben Leben in der Regel entweder situativ durch die Teilnahme an verschiedenen Kulten für unterschiedliche Anlässe gelöst (naturreligiöspolytheistische Lösungsstrategie), oder zeitlich durch Konversion und damit als ›Lebensabschnittsreligion‹ im Nacheinander der Zeit (ethischmonotheistische Lösungsstrategie): Was nicht gleichzeitig zusammen oder in anlassdifferenziertem Wechsel der Situationen polyphon gelebt werden kann, wird nacheinander in der Zeit praktiziert. Man wird geboren, als Christ in Köln in die katholische Kirche getauft, wechselt während des Zivildienstes in die evangelische Kirche, findet den Dalai Lama faszinierend und wird Buddhist, lernt eine Muslima kennen und tritt zum Islam über, wird auf einer Haitireise in den Bann des Voodookults gezogen und nimmt eine Stelle auf der Insel an, merkt nach drei Jahren, dass der Katholizismus doch irgendwie intellektuell befriedigender ist, erwägt, wieder katholisch zu werden, kommt ins Gespräch mit einer Kabbalistin aus den USA und schließt sich dieser mystischen Tradition des Judentums an, findet trotz

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Einleitung

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aller Bemühung keinen Zugang zu den spirituellen Welten und beginnt sich mit seinem inneren Selbst zu langweilen, tritt Greenpeace bei, um gegen den Walfang zu kämpfen, wird bei einer missglückten Aktion verhaftet und lernt im Gefängnis einen Quäker kennen, kehrt nach der Entlassung nach Frankfurt zurück und wird Hausmeister bei der Religiösen Gesellschaft der Freunde, wird von einem alten Freund aus Köln zur Scientology Kirche abgeworben, wird dort ehrenamtlicher Geistlicher (volunteer minister), weil man anderen helfen und die Welt zu einem bessern Ort machen möchte, stellt fest, dass das auch alle anderen wollen, beginnt die Bibel zu lesen und tritt einem Hauskreis bei, trifft in der Fußgängerzone zwei Mormonen, die einem eine neue Welt eröffnen, ist derzeit als Missionar der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in Polen unterwegs. Fast nichts von all dem lässt sich gleichzeitig zusammen leben oder auch nur einigermaßen konsistent in einem Gehirn zusammen denken. Aber nacheinander lässt es sich praktizieren, wenn man einmal davon absieht, dass nicht alle Religionen, deren Organisations- oder Lebensform man beitritt, es auch zulassen oder ermöglichen, dass man wieder aus ihnen austritt.

III Konflikte gibt es aber nicht nur zwischen Religionen, oder zwischen religiösen und nichtreligiösen bzw. naturalistischen Lebensorientierungen. Religionen sind in der Regel nicht nur in verschiedenen Hinsichten mit anderen Religionen oder der Ablehnung von Religion unvereinbar, im Denken oder im Leben, sondern sie sind auch selbst intern durch Spannungen strukturiert, die jederzeit zu Konflikten werden können. Ihre Grundfunktion kann geradezu darin gesehen werden, Strategien anzubieten, auf bestimmte Weise mit fundamentalen Konflikten des Lebens umzugehen – Strategien, deren Verständnis und rechte Handhabung ihrerseits in Religionen, zwischen Religionen und im nichtbeteiligten Verstehen von Religionen immer wieder Anlass zu Missverständnissen, Dissensen und Konflikten geben. Ich beschränke mich auf einige knappe Hinweise.4 So konfigurieren religiöse Symbolsysteme nicht nur kognitive Orientierungen in der Welt, sondern auch emotionale Einstellungen zur Welt. Sie symbolisieren eine in bestimmter Weise erlebte Welt, sie schematisieren dieses Welterleben in einer bestimmten symbolischen Ordnung, und sie leiten Menschen durch ihre Praxis, ihren Kult und ihre Lehren an, sich in der so ————— 4 Vgl. zum Folgenden I.U. DALFERTH, Leben angesichts des Unverfügbaren. Die duale Struktur religiöser Lebensorientierung, in: W. STEGMAIER (Hg.), Orientierung. Philosophische Perspektiven, Frankfurt a.M. 2005, 245–266.

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erlebten, verstandenen und symbolisch geordneten Welt zu verstehen und zu orten und sich diese Weltsicht und Lebenseinstellung emotional und kognitiv durch Mitvollzug anzueignen. Das eröffnet nicht nur einen prinzipiellen Spielraum zwischen der strukturellen Kontingenz der jeweiligen Ordnung und dem individuellen Ordnungsgebrauch dieser Ordnung im Leben eines Menschen. Mit jeder religiösen Lebensorientierung ist vielmehr auch die Möglichkeit zu ihrer Negation gegeben. Wo es Religion gibt, ist es auch möglich, sie zu negieren und nicht nur anders religiös, sondern auch nicht religiös zu leben; und wo es diese Möglichkeiten gibt, werden sie in der Regel auch realisiert. Wer religiös lebt, könnte im Prinzip (wenn auch keineswegs immer auch faktisch) eine andere oder gar keine Religion praktizieren. Religionen kennen nicht nur religiöse Alternativen, sondern auch die Alternative gar keiner Religion. Diese möglichen Alternativen können jederzeit zu wirklichen Konflikten werden, vor denen sich Religionen dadurch zu schützen suchen, dass sie Regeln zum Umgang mit diesen Möglichkeiten etablieren, die den Religionswechsel schwierig und den Austritt schwer oder unmöglich machen. Möglichkeit und Anlass für Konflikte gibt es aber nicht nur zwischen Religionen und ihren religiösen und nichtreligiösen Alternativen (diese Probleme lassen sich im Prinzip rechtlich regeln), sondern das Potential für Konflikte ist in diese selbst eingezeichnet (diese Problematik ist theoretisch und praktisch viel schwieriger zu handhaben). Betrachtet man Religionen als gesellschaftliche Phänomene, dann können sie als gemeinschaftlich praktizierte kulturelle Strategien beschrieben werden, auf geordnete Weise mit dem Ungeordneten umzugehen. So sieht Luhmann die zentrale Funktion von Religion darin, »die Bestimmbarkeit allen Sinnes gegen die miterlebte Verweisung ins Unbestimmbare« zu garantieren.5 Religionen leisten das, indem sie in ihren Symbolisierungsakten Transzendenz als permanente Rückseite der Immanenz in Erinnerung halten, das Vertraute also vor dem Hintergrund des Nichtvertrauten und das Nichtvertraute vom Vertrauten her thematisieren. Eben so machen sie symbolisch das ansprechbar, was Tillich sinnmetaphysisch als die Präsenz des Unbedingten im Bedingten beschrieben hat6 oder Waldenfels phänomenologisch als das, »was sich im Sichzeigen der Sache nicht zeigt«, was jedes Sichzeigen von etwas aber unabweisbar als Hintergrund begleitet und bestimmt, auch wenn es »nur da ist, ————— 5

N. LUHMANN, Die Religion der Gesellschaft, hg. v A. KIESERLING, Frankfurt a.M. 2000,

127. 6 P. TILLICH, Religionsphilosophie, in: DERS., Main Works/Hauptwerke, Bd. 4: Writings in the Philosophy of Religion/Religionsphilosophische Schriften, hg. v. J. CLAYTON, Berlin/New York 1987, 117–170, passim.

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Einleitung

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indem es sich entzieht«7. Sofern es ihnen darum geht, thematisieren Religionen auf jeweils kulturell kontingente Weise etwas, was an und mit allem (Wirklichen und Möglichen) ›da ist‹, auch wenn es nichts von dem ist, was jeweils konkret da ist, sich also als Phänomen manifestiert. Weil es nicht als Besonderes neben anderem in Erscheinung tritt, bedarf es in allen Religionen besonderer Anlässe, um auf die Anwesenheit des Nichtwahrnehmbaren aufmerksam zu werden. Diese Anlässe können einmalig sein und nur erinnert werden (Offenbarung), sie können sich phänomenal wiederholen (Mythos und Ritual) oder sie können an bestimmte Zeiten und Orte gebunden sein (sakrale Phänomene). Alle Religionen aber kennen Phänomene und Situationen, in denen sich deutlicher als in anderen die Anwesenheit des Nichtwahrnehmbaren erschließt, und sie halten diese als ihre Grundeinsicht, Offenbarung oder Urstiftung in Ritual und Lehre in Erinnerung.

IV Auch die Sprache der Religionen belegt diese fundamentale Spannung. Da sich das Unbedingte nicht als solches, sondern nur als Rückseite des Bedingten fassen lässt, und der Hintergrund, der alles Sichzeigende begleitet, nicht als solcher, sondern nur an und mit anderem in Erscheinung tritt, lässt er sich auch nicht direkt, sondern nur indirekt thematisieren. Indem sie das Nichtbestimmbare im Rekurs auf Bestimmtes und Bestimmbares zur Sprache bringen, generieren Religionen Differenzen, Unterscheidungen, Spannungen und Paradoxe, die nicht Unterscheidungen im Bestimmbaren und zwischen Phänomenen sind (dann wären sie im Prinzip auflösbar), sondern die die Grundunterscheidung zwischen bestimmbaren Phänomenen und dem Nichtbestimmbaren im Bestimmbaren (in der Sprache und in den Handlungsvollzügen des Kultes) symbolisieren und variieren. In der Sprache kann die Spannung dieser Grunddifferenz nur als nicht auflösbarer semantischer Konflikt (Paradox) und im Sprachgebrauch nur als nicht vermeidbarer pragmatischer Konflikt (Kult) zur Darstellung kommen. Sprache wird deshalb religiös nicht gewöhnlich, sondern ›symbolisch‹ gebraucht, meint also mehr, als sie dem Wortgebrauch nach sagt. Und Handlungen werden im Kult mehrfachkodiert vollzogen, zeigen also mehr, als sie für sich betrachtet tun. Paradoxe und Kulte sind so Sprach- und ————— 7 B. WALDENFELS, Phänomenologie der Erfahrung und das Dilemma einer Religionsphänomenologie, in: W.-E. FAILING u.a. (Hg.), Religion als Phänomen. Sozialwissenschaftliche, theologische und philosophische Erkundungen in der Lebenswelt, Berlin/New York 2001, 63–84, 75.84.

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Handlungskonflikte, in denen sich die Grundkonflikte manifestieren, um die es in Religionen geht. Der paradoxale, widersprüchlich erscheinende und Widerspruch provozierende Sprachstil vieler Religionen ist daher alles andere als zufällig. Religionen haben charakteristische Symbolisierungsstrategien entwickelt, um das Nichtbestimmbare am menschlichen Leben zu thematisieren, ohne es als ein ›Etwas‹ zu bestimmen: Bilder und Metaphern, Mythen und Märchen, urgeschichtliche Erzählungen und endgeschichtliche Erwartungen, die Rhetorik kalkulierter Absurditäten, kontrafaktischer Andeutungen und paradoxer Argumentation, das Ausmalen unmöglich erscheinender Möglichkeiten und das Verfremden von vermeintlich Vertrautem, indirekte Mitteilungsformen und negationstheologische Reflexionsformen u.v.a.m. Auf verschiedene symbolische Weise versuchen sie, die Bereiche des Unbestimmbaren, Unzugänglichen, Chaotischen, Sinnlosen, Unverfügbaren, Unfassbaren und nicht Kontrollierbaren an die Bereiche vernünftig bestimmter Ordnungen und sinnvoll verstehbarer Strukturen zurück zu binden, sie also als das Andere und als die für sich und als solche nicht fassbare Rückseite des Sinnvollen, Verfügbaren und Kontrollierbaren zu thematisieren. Kultur- und religionsphilosophisch betrachtet sind Religionen soziale Dauerexperimente, gemeinsam auf kontrollierbare Weise mit dem Unkontrollierbaren zu leben. Das muss keineswegs heißen, das Unverfügbare durch magische, kultische oder denkerische Praktiken verfügbar machen zu wollen, also nach Notwendigkeiten zu suchen, wo es keine gibt, und Sinn finden zu wollen, wo nur Sinnlosigkeit herrscht. Die Religionsgeschichte aller Zeiten bietet dafür zwar mannigfache Belege. Doch Religionen sollten nicht mit diesen Einseitigkeiten identifiziert werden. Ihre Pointe ist nicht, das Unkontrollierbare kontrollierbar zu machen, sondern es Menschen zu ermöglichen, auf kontrollierbare Weise mit Unkontrollierbarem zu leben. Folgt man den religiösen, rituellen und theologischen Selbstklärungsprozessen der Religionen, dann geht es ihnen darum, gerade angesichts des ganz und gar Sinnlosen und der Unvermeidbarkeit von Unverfügbarem Menschen zu ermöglichen, diesen Grundkonflikt auszuhalten und ein menschenwürdiges Leben zu führen, ihnen also zu helfen, angesichts des für sie nicht kontrollierbaren Einbruchs von Unkontrollierbaren und Unverfügbarem in das Leben lebenspraktische, kognitive und emotionale Strategien zu entwickeln, die ihnen weiterzuleben erlauben. Dabei ist keineswegs nur an negative Erfahrungen zu denken. Was unverfügbar und unkontrollierbar in das Leben hereinbricht und den Gang des Gewohnten unterbricht, kann als ein unerwartetes Glück oder als etwas undurchschaubar Sinnloses erfahren werden, als überraschende und beglückende Entdeckung oder als lebenslähmendes Der-Welt-Abhanden-Kommen. In all diesen Fällen erleben Menschen sich ihm passiv ausgesetzt. Sie

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können das, was über sie hereinbricht, nicht bewirken oder verhindern, sie können sich ihm aber auch nicht entziehen oder auf Dauer leben, ohne solche Erfahrungen des Unverfügbaren zu machen. Früher oder später geraten alle in den Konflikt zwischen der Kontingenz des Verfügbaren und der Unvermeidbarkeit des Unverfügbaren. Um mit diesen Konflikten leben zu können, brauchen Menschen Möglichkeiten, sich zu dem, was sie aufgrund seiner Unkontrollierbarkeit nicht fassen und kontrollieren können, auf geregelte Weise in ein geordnetes Verhältnis zu setzen. Die Grundkonflikte, denen sich Menschen in ihrem Leben ausgesetzt finden, gründen nicht in dem, was sie tun, sondern in dem, was ihnen widerfährt.

V Religionen sind nicht die einzigen, aber die wichtigsten Versuche, mit diesen Lebenskonflikten umzugehen, und sie haben dafür charakteristische Symbolisierungsstrategien entwickelt. Dabei gibt es durchaus Differenzen zwischen Religionen und zwischen verschiedenen Strömungen innerhalb einer Religion. Anlass für heftige Konflikte innerhalb religiöser Traditionen wird dabei immer wieder die Frage, ob ihr Zeichen-, Symbol- und Sprachgebrauch im Umgang mit Unkontrollierbarem und Unverfügbarem deskriptiv oder nicht deskriptiv zu verstehen sei. Das erste charakterisiert Formen transzendenzrealistischer Religion, in denen das Unverfügbare positiv bestimmt, beschrieben und vorgestellt wird, das zweite Formen kritischer Religion, in denen es nicht als Bestimmungsbegriff, sondern als kritischer Grenz- und Beurteilungsbegriff des Verfügbaren verstanden und gebraucht wird. Beide hermeneutische Tendenzen finden sich in den internen Konfliktgeschichten vieler Religionen. Sie – und nicht primär oder ausschließlich der Einfluss säkularer Lebensformen und westlicher Wissenschaft – sind einer der Hauptgründe für interne Religionskonflikte zwischen konservativen und ›modernen‹ Richtungen. Aber sie bieten auch immer wieder den Ansatzpunkt für religionskritische Infragestellungen nicht nur bestimmter Religionen, sondern aller Religion. So versuchen transzendenzrealistische Religionsformen, dem Unkontrollierbaren und Unverfügbaren einen Sinn zu geben, indem sie es positiv benennen und als eine transzendente Welt sui generis beschreiben. Sie entwerfen eine religiöse Gegenwelt zur aktuellen Welt. Sie bieten kultische Strategien an, sich zu dieser Gegenwelt ins Verhältnis zu setzen. Und sie entwickeln religiöse Sprach- und Denkformen, diese Gegenwelt mit den Zeichenmitteln dieser Welt zu thematisieren, vorzustellen und zu denken. Wo diese religiöse Gegenwelt als ganz und gar gut und positiv, die Erfahrungswelt dagegen einseitig als negativ und übel beschrieben wird, kommt

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es früher oder später zu Konflikten mit der Lebenserfahrung. Menschen machen im Leben sowohl positive wie negative Erfahrungen. Sie streben deshalb keineswegs nur ein Leben in der religiösen Gegenwelt an, sondern sie hängen durchaus und mit guten Gründen auch am Leben in der Erfahrungswelt. Doch Konflikte bestehen nicht nur zwischen der Erfahrungswelt und der religiösen Gegenwelt, sondern werden auch in diese selbst hineingetragen. So wird die ›andere Welt‹ häufig selbst als ein spannungsvolles Verhältnis des Positiven, Gewünschten und Erhofften (›Licht‹, ›Himmel‹) und des Negativen, Gefürchteten und Gefährdenden (›Dunkel‹, ›Hölle‹) bestimmt und im Blick auf ihren Streit um die Vorherrschaft als ein fundamentales Konfliktgeschehen bestimmt. Weil sie beide Seiten der ›anderen Welt‹ als Wirklichkeiten beschreibt, von denen die Erfahrungswelt bestimmt werden, ist die Semantik transzendenzdeskriptiver Religionen nicht nur ontologisch realistisch, sondern auch axiologisch wertend und methodisch strikt kontrastierend. Sie stellt das gegenwärtige Leben in das Licht einer Gegenwelt, die ihrerseits dual als ›Himmel‹ und ›Hölle‹ und als Grundgegensatz zwischen Licht und Dunkel konzipiert ist. Der Konflikt zwischen der Erfahrungswelt und der transzendenten Gegenwelt wird nicht entschärft, sondern gesteigert durch den Konflikt innerhalb dieser Gegenwelt. Apokalyptische Bewegungen aller Zeiten haben sich durch diese doppelte Konfliktstruktur dazu bewegen lassen, den Fundamentalkonflikt zwischen Licht und Dunkel in der religiösen Gegenwelt dadurch zur Entscheidung zu bringen, dass sie in der Erfahrungswelt rigoros und oft rücksichtslos für das eintreten, was sie für das Licht halten. In der Erfahrungswelt wird so der Kampf zwischen Licht und Dunkel in der religiösen Gegenwelt ausgefochten – mit allen unmenschlichen Konsequenzen, die auch unsere Zeit prägen. Immanenzkritische Religionsformen verfahren anders. Sie versuchen dem Unverfügbaren und Unkontrollierbaren keinen eigenen Sinn zu geben, sondern es als das Andere des Sinnvollen, Kontrollierbaren und Verfügbaren zu verstehen, indem sie es in Denkformen der Negation, Kritik und Kreativität an dieses binden bzw. darauf beziehen. Ihre Strategie ist nicht die symbolische Entfaltung einer religiösen Gegenwelt und die kultische Gestaltung des Zugangs zu ihr in den Ambivalenzen dieser Welt, sondern die Aufdeckung der unvermeidlichen Appräsenz des Sinnlosen im Sinnvollen, des Unverfügbaren im Verfügbaren und des Unkontrollierbaren im Kontrollierbaren. Weil sie den Hintergrund des Unbestimmbaren nicht für sich und als solchen thematisieren, sind sie auch nicht wie transzendenzrealistische Religionsformen genötigt, das Wünschenswerte und das Bedrohliche am unkontrollierbaren Hintergrund des Kontrollierbaren zu unterscheiden und wertend auf das Leben in dieser Welt zu beziehen. Sie sehen die Welt, in der wir leben, in ihren vielfältigen Wirklichkeits- und Möglichkeitsdimensionen sowohl durch das gefährdet als auch in dem

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Einleitung

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kreativ verwurzelt, was sich als unverfügbarer Hintergrund des Bestimmbaren sinnvoller Strukturierung und Kontrollierbarkeit systematisch entzieht. Ob dieser Hintergrund als drohende Gefährdung des Gewordenen oder als produktive Kreativität des Neuen zu verstehen ist, ist in jedem Fall neu zu entscheiden. Auf keinen Fall ist aber von vornherein von einem Konflikt auszugehen, vielmehr bleiben alle Konflikte eingebunden in den umfassenderen Zusammenhang dessen, dass das Kontrollierbare und Bedingte nie ohne das Nichtkontrollierbare und Unbedingte sein kann, und umgekehrt. Transzendenzdeskriptive wie immanenzkritische Religionsformen reagieren mit ihrer Rückbindung des Unverfügbaren und Unkontrollierbaren an das Verfügbare und Kontrollierbare auf den ontologischen Grundkonflikt, der die religiöse Grundangst auslöst: die nur als radikale Bedrohung des Lebens verstehbare Möglichkeit des absolut Chaotischen, Widervernünftigen, Unkontrollierbaren, Sinnlosen, Bösen. Wäre das Unkontrollierbare, Unverfügbare, Unbestimmbare und Sinnlose eine eigenständige Größe, bildete es einen lebensbedrohenden Gegensatz zu allem Bestimmten, Sinnvollen und Verfügbaren. Alles Sinnvolle wäre dann nicht nur vor dem Hintergrund des stets drohenden Sinnlosen und des möglicherweise hereinbrechenden Unverfügbaren zu verstehen, sondern stünde jederzeit in Gefahr, von diesem ausgelöscht, zerstört, vernichtet, ersetzt und verdrängt zu werden. Diesem Grundkonflikt wirken Religionen entgegen, indem sie das Sinnlose, Unverfügbare und Unkontrollierbare nicht etwa erklären und damit domestizieren, sondern in seiner Unerklärlichkeit auf vernünftig verstehbare Sinnstrukturen beziehen und als deren stets appräsenten Hintergrund an diese binden. Das gibt dem Sinnlosen keinen Sinn, aber es bannt die Gefahr des absolut Chaotischen und ermöglicht es, sich im Sinnvollen zum Sinnlosen zu verhalten und auf kontrollierbare Weise mit dem Unkontrollierbaren zu leben.

VI Religionen bezahlen dafür allerdings einen Preis: Sie können den ontologischen Grundkonflikt nur bannen, indem sie sich selbst als Konfliktprozesse entwerfen. Die praktischen (kultischen) und theoretischen (vorstellungsund denkförmigen) Strategien, mit denen sie das tun, sind verschieden. Das Ergebnis aber ist jeweils so, dass Religionen sich zwischen zwei Polen erstrecken, die sie nie völlig verleugnen können, ohne aufzuhören, als Religionen zu fungieren: dem Pol des Chaotischen, Unfassbaren, Unbestimmten, Unverfügbaren und Unkontrollierbaren, und dem Pol des Bestimmten, vernünftig Fassbaren, sinnvoll Geordneten und handelnd Verfügbaren.

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Keiner dieser Pole lässt sich dem anderen gegenüber absolut setzen, und keiner lässt sich auf nur eine Weise fassen und bestimmen. Stets ist der eine das Andere des Anderen, das Sinnlose also das Andere des Sinnvollen (und umgekehrt), das Widervernünftige das Andere des Vernünftigen (und umgekehrt), das Verstehbare das Andere des Nichtverstehbaren (und umgekehrt), das Unverfügbare das Andere des Verfügbaren (und umgekehrt) usf. Sie lassen sich daher auch immer nur im funktionalen Bezug aufeinander bestimmen, und je nach dem, wie die Struktur des Sinnvollen, Vernünftigen, Verstehbaren und Verfügbaren gefasst wird, wird auch das darauf bezogene Andere dieser Struktur als das Sinnlose, Widervernünftige, Nichtverstehbare und Unverfügbare thematisiert und bestimmt. Religionen haben so stets eine nichtrationale und eine rationale Seite, und sie thematisieren die nichtrationale stets von der rationalen her und nicht umgekehrt. Damit ist in die Struktur von Religion eine Spannung eingezeichnet, die ein Konfliktpotential enthält, das sich nicht entschärfen lässt, ohne die Funktion von Religion aufzuheben. Natürlich muss die Spannung zwischen der rationalen und nichtrationalen Seite nicht zu Konflikten führen. Sie tut es aber immer wieder. Um das zu verhindern, kommt es regelmäßig zu typischen Verkürzungen von Religion, indem eine der beiden Seiten der anderen gegenüber überbetont wird. Wird die nichtrationale Seite abstrakt auf Kosten der rationalen in den Vordergrund gestellt, degeneriert eine Religion zum Hort des Un- und Widervernünftigen in einer Gesellschaft. Wird allein die rationale Seite auf Kosten der nichtrationalen entwickelt, ist das Resultat eine rationalistische Verharmlosung von Religion durch ihre Beschränkung auf das, was sich vernünftig verstehen lässt. So oder so hört eine ›Religion‹ auf, ihre Funktion als Religion erfüllen. Um dieser gerecht zu werden, muss sie stets beide Aspekte aufweisen. Sie ist die kultisch und vorstellungsförmig praktizierte Verknüpfung des Nichtrationalen mit dem Rationalen, die Beziehung des Unbestimmbaren auf das Bestimmte, in der das Bestimmte gegen den Hintergrund des Unbestimmbaren und das Unbestimmbare vom Bestimmten her in den Blick gerückt wird. Gegen Tendenzen, das Leben ganz auf das Rationale zu beschränken, ist Religion so die störende Erinnerung an die Appräsenz des Nichtrationalen im Rationalen. Und gegen umgekehrte Tendenzen, allein das Nichtrationale als Quellgrund des Kreativen im Leben zu feiern, ist sie die nicht weniger störende Erinnerung an das Rationale als die Bedingung der Möglichkeit, mit Nichtrationalem leben und Rationales wie Nichtrationales thematisieren zu können. Diese duale Struktur von Religion lässt sich auf allen Ebenen der Beschreibung religiöser Phänomene nachzeichnen. Mit ihr ist jede Religion durch Spannungen bestimmt, die sich nicht überwinden lassen, ohne sie als Religion zu zerstören. Diese Spannungen bilden ein Konfliktpotential diesseits aller äußeren Konfliktmöglichkeiten, die zwischen verschiedenen

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Einleitung

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Religionen und zwischen Religionen und ihren mannigfachen Bestreitungen bestehen. Religionen gibt es nicht ohne dieses interne Konfliktpotential. Mit Konflikten haben sie es nicht nur kontingent und zur Zeit, sondern wesentlich und immer zu tun.

VII Die Beiträge dieses Bandes nähern sich diesem Tatbestand auf verschiedenen Wegen. In einer ersten Gruppe werden Grundfragen einer Theorie religiöser Konflikte diskutiert. Das Spektrum reicht von der Frage nach der Konfliktfähigkeit von Religionen (H. Schulz) über die Dissens- und Gewaltthematik (S. Sellmaier, M. Jung) und das Konfliktpotential religiöser Gewissheiten (K. Berner) bis zur Analyse des Selbst als Ort der Konflikte und ihrer Überwindung (C. Welz). Immer wieder wird dabei versucht, die Konfliktstruktur von Religion nicht aus deren gesellschaftlicher Funktion heraus zu verstehen, sondern diese ihrerseits anthropologisch zu begründen. So macht K. Berner – um nur ein Beispiel zu nennen – darauf aufmerksam, wie abwegig es ist, die spannungsvolle Abgründigkeit von Religionen auf das zu reduzieren, was in einer auf political correctness abhebenden Kultur akzeptabel erscheint. Während in Rudolf Ottos Das Heilige »das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen« dazu nötigte, in der Analyse religiöser Erfahrung zentral von Furcht und Schrecken zu reden, lässt die »pejorativ aber zutreffend etikettierte Wellnessreligion [...] nur noch das als zivilisiert gelten, was inhaltlich Rudolf Ottos Darlegungen diametral entgegengesetzt ist.« Das »fascinosum et tremendum« ist ein »nicht mehr integraler Bestandteil der Begegnung mit dem Heiligen«, sondern wird, wenn überhaupt, erst wieder im »suicide bomber« wahrgenommen, »der gegen alle Ideale der Wellnessreligion verstößt« (96). Das Ausbrechen solcher äußeren Konflikte ist für Berner aber mehr als nur ein irregulärer Zufall und eine religiöse Entgleisung. Der Ermöglichungsgrund solcher Konflikte ist »in anthropologisch grundlegenden Disproportionalitäten zu suchen«: »Menschliches Dasein lässt sich als Sein im Konflikt beschreiben« (99). Diese These kann mit breiter Zustimmung rechnen. Aber mit ihr ist noch nicht beantwortet, warum dann gerade das Religionsthema mit der Konfliktfrage enger verknüpft zu sein scheint als andere Themen, und warum es weiterführender sein soll, »auf Distanz zu eigenen gefährlichen Gewissheiten zu gehen und sich zuversichtlich im Modus des Hoffens auf das auszurichten, was noch aussteht« (114). Die Konfliktstruktur des Anthropologischen scheint diese Hoffnung eher unwahrscheinlich zu machen, und der Rückgang ins Anthropologische kann eine Analyse der besonderen Konfliktstruktur von Religion(en) nicht ersetzen.

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Im zweiten Teil des Bandes werden daher Fallanalysen zur Wahrnehmung und Bewältigung konkreter Konflikte in und mit Religionen vorgetragen. Diese sind zwangsläufig selektiv und können nur einige Phänomene gründlicher analysieren. Jeder der vorgestellten Fälle stellt aber ein zentrales Thema aus den gegenwärtigen Diskussionen ins Zentrum: die Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam (F.Y. Albertini, S. Alkier, Ö. Özsoy), das Naturalismusproblem (H. Schulz), die Frage der Heilspotenz fremder Gottheiten für das christliche Heils- und Gottesverständnis (P. Steinacker), der Umgang mit Schuld, Gerechtigkeit und Versöhnung in Südafrika und Deutschland (R. Wüstenberg) und die Analyse dialogorientierter Interaktion im Religionsunterricht (Th. Knauth). Diese analytischen Konkretionen lassen auf je ihre Weise deutlich werden, dass sich am Detail entscheidet, welche Fragen das Verhältnis von Religion und Konflikt genau aufwirft und wie diese philosophisch und theologisch weitergedacht werden könnten. Nicht Antworten, sondern Analysen stehen daher im Zentrum dieses Bandes. Denn ohne genaue, geduldige und kritische Wahrnehmung, Analyse und Reflexion konkreter Probleme werden Antworten vorschnell generalisierend und tragen eher zur Verstärkung der vielschichtigen Probleme des Verhältnisses von Religion und Konflikt bei als zu deren Lösung.

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Heiko Schulz

Sind Religionen konfliktfähig? Vorüberlegungen zum themenspezifisch relevanten Begriffsfeld Heiko Schulz Sind Religionen konfliktfähig? Der Obertitel des vorliegenden Textes mag auf den ersten Blick den Eindruck des bloß Rhetorischen erwecken – ein Eindruck, der sich zwanglos mit der Vermutung verbindet, dass die dort gestellte Frage lediglich dazu dienen soll, Aufmerksamkeit zu erregen: Denn dass Religionen in dem Sinne konfliktfähig sind, dass sie Konflikte in weitestem Sinne mit hervorrufen oder zumindest in irgendeiner Form selber an ihnen teilhaben können, scheint ebenso unwiderleglich wie trivial. Sollte der Eindruck des Rhetorischen den genannten Aufmerksamkeitseffekt tatsächlich erzielen, so wäre mir dies, wie ich gern einräume, keineswegs unerwünscht, und ich will auch nicht leugnen, dass ihn zu erzielen durchaus in meiner Absicht lag. Gleichwohl ist die Frage nach der Konfliktfähigkeit von Religionen hier de facto nicht rhetorisch, sondern im Gegenteil durchaus ernstgemeint. Dass sich dies so verhält, wird zumindest denjenigen kaum überraschen, der bereits über die Unklarheit des Ausdrucks ›konfliktfähig‹ gestolpert ist. Denn dieser hat offenbar einen – hier ganz bewusst in Dienst genommenen – Doppelsinn: Dass Religionen konfliktfähig sind, kann zum einen bedeuten, dass sie Konflikte hervorrufen oder mit hervorrufen, zumindest aber, auf welche Weise auch immer, in sie verwickelt sein können. Würden wir, metaphorisch gesprochen, Konflikte mit Krankheiten vergleichen, dann wären Religionen nach diesem Verständnis des Wortes genau dann konfliktfähig, wenn sie die Disposition zur Konfliktkrankheit besäßen, diese zumindest befördern oder sogar zu ihrem Ausbruch beitragen könnten. In diesem Sinne spreche ich von ›Konfliktfähigkeit 1‹ (KF1). Als konfliktfähig bezeichnen wir jedoch zweitens auch Individuen oder Gemeinschaften, die, obschon möglicherweise selbst in einen Konflikt verwickelt, zugleich die Fähigkeit besitzen, mit diesem, und zwar auf angemessene oder konstruktive Weise umzugehen, d.h. ihn einer Lösung zuzuführen. In diesem Sinne steht der Ausdruck gewissermaßen für eine Therapieform oder therapeutische Kompetenz und weniger für eine Krankheitsdisposition. Ich spreche hier von ›Konfliktfähigkeit 2‹ (KF2). Beurteilen wir also, nochmals gesagt, Konflikte als Krankheitsform, dann sind Religionen genau dann und in dem Maße konfliktfähig (im Sinne von KF1), wie sie sich die wie immer spezifizierbare Konfliktkrankheit

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zuziehen bzw. deren Ausbruch verursachen oder jedenfalls mit verursachen können. Steht der Ausdruck (im Sinne von KF2) hingegen für das entsprechende Therapievermögen, dann zeichnen sich Religionen genau dann und in dem Maße durch Konfliktfähigkeit aus, wie sie im Blick auf jene Krankheit als heilungskompetent gelten können. Mit dieser sprachlich-semantischen Vorklärung ist das Verhältnis der beiden Formen von KF natürlich noch ganz offen. So wäre, um nur ein Beispiel für eine derartige Verhältnisbestimmung zu nennen, durchaus denkbar, dass KF2 nur derjenige besitzen kann, der über KF1 verfügt oder von derjenigen Krankheit de facto selbst befallen ist, zu deren Heilung er beiträgt. Unter dieser Voraussetzung müsste genau genommen von Selbstheilungskräften gesprochen werden, die als solche das Verhältnis zwischen Krankheit und Heilung in ein genuin dialektisches Licht rücken. Keine Religion könnte, mit anderen Worten, Konflikte lösen, wenn sie nicht selber in sie verwickelt wäre oder jedenfalls gewesen wäre. Gleichfalls denkbar ist freilich auch eine diametral entgegengesetzte These, wonach die Faktizität von KF1 die Unmöglichkeit von KF2 hinreichend bedingt, mit anderen Worten die Konfliktunfähigkeit einer Religion (im Sinne von KF2) zwingend nach sich zöge: Keine Religion, die sich in Konflikte verwickelt sähe, würde als solche imstande sein, diese von sich aus zu lösen oder zu einer solchen Lösung auch nur beizutragen – ja selbst der Versuch, dies zu tun, wäre am Ende nichts weiter als ein Ausdruck eben jener Krankheit, zu deren Lösung beizutragen die betreffende Religion vergeblich beteuern würde. Ob eine dieser beiden Erklärungsalternativen im Blick auf die Beantwortung meiner Titelfrage als tragfähig gelten kann – oder aber eine oder mehrere andere –, wird sich, soviel dürfte nach diesen knappen Vorüberlegungen klar sein, nicht mit Gründen entscheiden lassen, solange wir uns nicht wenigstens in Umrissen darüber verständigt haben, was wir unter Konflikt und was wir unter religiösem Konflikt zu verstehen haben. Von daher legt sich die Gliederung meiner nachfolgenden Überlegungen in drei Abschnitte zumindest nach Maßgabe einer heuristisch wohlwollenden Leserdisposition zwanglos als plausibel nahe: I. Was ist ein Konflikt? II. Was ist ein religiöser Konflikt? III. Sind Religionen (im Sinne von KF1 und/oder KF2) konfliktfähig?

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I. Was ist ein Konflikt? 1. Vom bloßen Wortlaut her kann das lateinische Nomen conflictio mit ›Debatte‹ oder ›Streit‹, aber auch – ähnlich wie conflictus – mit ›Zusammenstoß‹ sowie ferner mit ›Kampf‹ oder ›Schlacht‹ übersetzt werden. Dementsprechend bedeutet confligere erstens ›streiten‹, zweitens ›zusammenstoßen‹ und drittens ›kämpfen‹ oder ›in einen Kampf verwickelt werden‹:1 Auch Planeten können mithin, zumindest nach lateinischem Sprachgebrauch, in Konflikt geraten, nämlich indem sie miteinander kollidieren. Für Menschen gilt das Gleiche – sie können aber darüber hinaus Wortgefechte austragen und ebenso gewaltsame Auseinandersetzungen. 2. Allen Konfliktformen ist zweitens und im Sinne ihres Herkunftsbereiches gemeinsam, dass es sich um Ereignisse handelt. Planeten konfligieren im Medium raum-zeitlich bestimmter Ereignisse simpliciter, Menschen im Medium von Handlungsereignissen – oder spezifischer: in Form von Ereignissen, die gewaltsam und/oder bewusst herbeigeführt werden. Grundsätzlich trifft allerdings beides zu: Wir ›werden in Konflikte verwickelt‹ und wir ›tragen Konflikte aus‹. Im ersten Fall liegt der Akzent auf dem als konfliktträchtig interpretierten Ereignis selbst bzw. unserem Dadurch-betroffen-Sein, im zweiten auf der Art und Weise, wie wir im Medium zielgerichteten Handelns mit beidem umgehen. Dasselbe trifft im Prinzip auch dann zu, wenn wir von ›inneren Konflikten‹ ein und derselben Person sprechen: Diese verhält sich – im Medium des sprachlich-reflexiv vermittelten Bewusstseins – zu sich selbst als einer intern spannungsvollen, d.h. entgegengesetzte Bedürfnis- und Handlungs-Impulse generierenden Einheit, der als solcher zugleich die Wahrnehmung der Aufgabe entspringt, jene Spannung zu lösen, um so den inneren Konflikt zu beheben. 3. Bezüglich seiner Spezifika kann ein Konfliktereignis nicht zustandekommen, wenn und solange die beteiligten Parteien nicht von gegenläufigen Interessen, Bedürfnissen und/oder Werthaltungen bestimmt sind. Der Begriff ›gegenläufige Interessen‹ bedarf dabei allerdings der Erläuterung. Die erste und naheliegende Auskunft, gemeint seien konträr entgegengesetzte Interessen, greift hier offensichtlich zu kurz, wie ein einfaches Beispiel zeigt:

————— 1

Vgl. J.M. STOWASSER, Lateinisch-deutsches Schulwörterbuch, Wien 1994, 110.

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(1) Peter hat am Samstagabend das Bedürfnis, den Fernseher einzuschalten, während seine Frau Sabine zu diesem Zeitpunkt ein Buch lesen möchte. Hier liegen konträre, aber trivialerweise keine gegenläufigen Interessen, mithin auch kein Konflikt vor – jedenfalls nicht im Blick auf eine Kollision der genannten Bedürfnisse. Aussichtsreicher scheint ein zweiter Vorschlag: Danach würden wir genau dann von gegenläufigen Interessen sprechen, wenn es sich um konträr entgegengesetzte Interessen handelt, die entweder aus prinzipiellen Gründen nicht gemeinsam oder zumindest nicht zum gleichen Zeitpunkt realisiert werden können. Auch dieser Vorschlag ist nicht hinreichend, wie sich am Leitfaden eines zweiten Beispiels zeigen lässt: (2) Peter hat das Bedürfnis, am Samstagabend im Fernsehen das Länderspiel Deutschland-Brasilien anzusehen, das um 20.15 Uhr beginnt. Parallel hierzu läuft auf einem anderen Kanal Das große Frühlingsfest der Volksmusik mit Florian Silbereisen, für das (und den) Sabines Herz schlägt. Irrtümlich glaubt sie aber, das von ihr favorisierte Programm werde erst am Sonntagabend ausgestrahlt. Das Beispiel macht zunächst klar, dass der genannte Explikationsvorschlag nicht einmal hinreichende Verständnisbedingungen für die Möglichkeit von Konflikten zur Verfügung stellt. Denn wir haben es hier mit zwei Bedürfnissen oder Interessen zu tun, die zwar einerseits nicht zum selben Zeitpunkt realisiert werden können, als solche aber gleichwohl nicht in einen Konflikt zwischen den beiden Bedürfnissubjekten münden bzw. münden müssen. Man beachte, dass dies selbst dann der Fall wäre, wenn wir annehmen, dass Sabine ein zweiter Fernseher zur Verfügung steht: Unter den genannten Voraussetzungen ist auch in diesem Fall ihr Bedürfnis nicht zum selben Zeitpunkt erfüllbar wie das von Peter – ohne dass sich dadurch irgendetwas im Blick auf die Bedingungen der Konfliktkonstitution ändern würde. Auch der Hinweis, dass bestimmte Bedürfnisse oder Interessen aus prinzipiellen Gründen niemals gemeinsam realisiert werden können, reicht als mindestens hinreichende Konstitutionsbedingung für die Möglichkeit des Verständnisses konfligierender qua gegenläufiger Interessen nicht aus. Nehmen wir den Literalsinn des bekannten Satzes ›you can’t have your cake and eat it, too‹. Natürlich ist denkbar, dass im gegebenen Fall zu ein und demselben Zeitpunkt zwei – sei’s gleich, sei’s unterschiedlich starke – Bedürfnisse vorliegen: das Bedürfnis, den Kuchen zu verzehren, und das Bedürfnis, ihn unversehrt zu behalten. Aber es ist klar, dass diese beiden Bedürfnisse nicht nur zu keinem Zeitpunkt, sondern auch auf keine (zumin-

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dest physisch) mögliche Weise gemeinsam realisiert werden können. Indes: Aus der prinzipiellen Unmöglichkeit einer gemeinsamen Realisierung dieser gegenläufigen Interessen folgt keineswegs die unvermeidbare Kopräsenz jener, in der Tat gegenläufigen Interessen oder Bedürfnisse selbst, die der bezeichneten Unmöglichkeit ihrerseits zugrunde liegen – und mithin ebenso wenig die Unvermeidbarkeit eines (hier: inneren) Konfliktes. Eben diese gegenläufigen Interessen aber sollten ja ex hypothesi die Eigenart von Konflikten verständlich machen. Die Tatsache, dass zwei oder mehrere Interessen sich nicht zu ein und demselben Zeitpunkt, ja möglicherweise sogar prinzipiell und unter keinen Umständen gemeinsam realisieren lassen, reicht also nicht aus, um die Gegenläufigkeit jener Interessen und damit die Eigenart von Konflikten verständlich zu machen. Strenggenommen fungiert dasselbe Kriterium jedoch nicht einmal als notwendige Bedingung für die Möglichkeit (des Verständnisses) solcher Interessenkonflikte. Dies lässt sich leicht zeigen, wenn wir das bereits angeführte Beispiel wie folgt modifizieren: (3) Peter hat Interesse an einer Fernsehsendung, die am Samstagabend um 20.15 Uhr beginnt; eine andere Sendung, die Sabine anschauen möchte, beginnt am Sonntagabend um dieselbe Zeit. Irrtümlich glaubt sie aber, das von ihr präferierte Programm werde zeitgleich mit dem von Peter favorisierten ausgestrahlt. Obwohl hier an sich beide Interessen zugleich verwirklicht werden könnten, entsteht ein Konflikt. Er würde übrigens auch dann entstehen, wenn Peter den wahren Sachverhalt kennt und Sabine darüber aufklärt; oder wenn beide zwar anfänglich im Irrtum sind, in der Folge aber – ob zufällig oder aufgrund gezielter Nachforschungen – auf die tatsächlichen Zusammenhänge stoßen. Der Konflikt ist hier gewissermaßen immer schon schneller als jene Richtigstellung, die ihn nachträglich als überflüssig erscheinen lässt. Dies beweist aber, dass die tatsächliche Unvereinbarkeit der simultanen Interessensverwirklichung für die Gegenläufigkeit, ergo Konfliktpotenz der betreffenden Interessen überhaupt keine oder allenfalls eine rein zufällige Rolle spielt. Ausschlaggebend im Sinne einer mindestens notwendigen Gegenläufigkeits-, ergo Konfliktbedingung ist demgegenüber die Tatsache, dass mindestens eines der beteiligten Interessenssubjekte glaubt, dass sich sein eigenes Interesse oder Bedürfnis nicht verwirklichen bzw. befriedigen lassen wird, wenn, weil und solange ein anderes Subjekt ein simultanes Interesse verfolgt, dessen Verwirklichung die Befriedigung des eigenen vereiteln würde. Der bloße Glaube, dass ein derartiges Interessengeflecht vorliegt, ist mithin für die Faktizität seiner Gegenläufigkeit zumindest mit konstitutiv, damit zugleich aber auch für die Konstitution von Konflikten als solchen.

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Die Quintessenz der beiden angeführten Beispiele (2 und 3) macht dies hinreichend deutlich: Im ersten Fall lassen sich die de facto entgegen gesetzten Interessen A und B in der Tat nicht gemeinsam realisieren; gleichwohl sind sie in Wahrheit nicht gegenläufig, ergo konfliktträchtig, und zwar schlicht deshalb nicht, weil sie nicht als entgegengesetzte Interessen wahrgenommen werden. Im zweiten Fall werden sie als solche wahrgenommen und sind eben damit als gegenläufig, ergo konfliktträchtig bestimmt, und dies, obwohl sie an sich, d.h. unabhängig von der entsprechenden Einschätzung beider Betroffenen, gemeinsam realisiert werden könnten und daher in Wahrheit gar nicht entgegengesetzt sind!2 4. Mit der Einsicht in diesen Sachverhalt haben wir ein wichtiges Zwischenergebnis erreicht: Ein Konflikt liegt erstens immer und nur dann vor, wenn von gegenläufigen Interessen zweier oder mehrerer Personen oder Parteien – oder im Falle von internen Konflikten: von zwei oder mehreren gegenläufigen Interessen innerhalb ein und derselben Person – die Rede ist. Die Bedingung gegenläufigen Interesses wiederum ist zweitens nur dann erfüllt, wenn mindestens eine der konfligierenden Parteien glaubt, dass eine zweite Partei Interessen verfolgt, deren Durchsetzung die Verwirklichung ihrer eigenen (d.h. die der ersten) Partei vereiteln würde. Oder im Falle interner Konflikte: wenn der Betreffende glaubt, dass die Realisierung seines Bedürfnisses oder Interesses A die seines eigenen Bedürfnisses oder Interesses B unmöglich macht, und umgekehrt. Dabei lassen sich für den Fall zweier oder mehrerer Konfliktparteien erneut zwei Varianten unterscheiden: Entweder nimmt der Betreffende die Vereitelung des Kontrahenteninteresses zur Durchsetzung eigener Interessen lediglich billigend in Kauf, oder er setzt sich diese bewusst (zumindest unter anderem) zum Ziel. Im Beispiel: (4) Sabine beharrt Peter gegenüber auf der Durchsetzung ihres eigenen Interesses, und zwar im Glauben, dass Peter ein Interesse verfolgt, dessen Verwirklichung die Durchsetzung ihres Interesses vereiteln würde. Beim Versuch der Durchsetzung dieses Interesses nimmt sie die Vereitelung der Verwirklichung von Peters Interesse billigend in Kauf.

————— 2 Natürlich ist diese Glaubens- qua Bewusstseinsabhängigkeit des Konfliktes im Blick auf rein physische Konfliktereignisse (s.o.: zwei Planeten kollidieren) aufgehoben. Oder genauer: Wer diese Abhängigkeit konstatiert, tut dies, phänomenologisch gesehen, so, dass er deren Unhintergehbarkeit nur für diejenigen Konfliktinstanzen unterstellt, die – wie er selbst – eine Erste-PersonPerspektive einnehmen können, Instanzen also, für die ein Ereignis immer mehr und anderes ist als ein Ereignis simpliciter.

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(5) Sabine beharrt Peter gegenüber auf der Durchsetzung ihres eigenen Interesses, und zwar im Glauben, dass Peter ein Interesse verfolgt, dessen Verwirklichung die Durchsetzung ihres Interesses vereiteln würde. Beim Versuch der Durchsetzung dieses Interesses zielt sie (ob ausschließlich, primär oder unter anderem) bewusst auf die Vereitelung der Verwirklichung von Peters Interesse. Im Falle von (5) fungiert Sabines Glaube als integrales Moment ihres Motivs zur Vereitelung der Durchsetzung von Peters Interesse, in Variante (4) wird diese Vereitelung zwar billigend und mit Bewusstsein in Kauf genommen, aber nicht eigens intendiert. Hier würde Sabines Verhalten einzig und allein vom Wunsch nach der Verwirklichung ihres eigenen Primär-Interesses (d.h. dem Interesse, ein bestimmtes Fernsehprogramm anschauen zu können) dominiert. Im letzteren Fall würde sich dagegen ein spezifisches Sekundärinteresse als motivierend oder zumindest mitmotivierend zur Geltung bringen: das Interesse nämlich, die Durchsetzung von Peters Interesse zu vereiteln.3 4.1 Auf dieses Zwischenergebnis wird noch zurückzukommen sein. Im Blick auf die gesuchten Konstitutionsbedingungen von Konflikten stellen sich an diesem Punkt zunächst zwei weitere Fragen. Erstens: Richtet sich der konfliktinduzierende Glaube notwendig auf ein reziprokes Interessengeflecht? Zweitens: Muss der konfliktinduzierende Glaube notwendig auf seiten beider Konfliktparteien vorhanden sein, damit ein Konflikt entstehen kann? Erst die Beantwortung dieser beiden Fragen wird uns instand setzen zu entscheiden, ob abgesehen von den genannten Interessen der Glaube im bislang qualifizierten Sinne die Möglichkeit von Konflikten notwendig und hinreichend oder lediglich notwendig bedingt. Zunächst also: Muss es sich um (den Glauben an) reziproke Beziehungsund Interessestrukturen handeln, wenn ein Konflikt zustandekommen können soll? Auch diese Frage kann erst dann beantwortet werden, wenn wir das Gemeinte durch Ausschluss irreführender, weil diesbezüglich irrelevanter Alternativen präzisieren. Hierzu ist zunächst an eine Einsicht des Philosophen Josiah Royce zu erinnern, der zufolge menschliche Reflexion in genau drei, ihrerseits irreduziblen Formen auftreten kann. Erstens: Subjekt A reflektiert auf A, d.h. auf sich selbst. Zweitens: Subjekt A reflektiert auf B (d.h. auf etwas, das als Non-A vorgestellt wird, wobei B selber von der Seinsart eines Subjektes sein und als solches vorgestellt werden kann). Drittens: Subjekt A reflektiert auf Subjekt B, als auf A reflektierend (d.h. A bezieht sich auf ein anderes Subjekt, und zwar als ein ————— 3 Dass damit eine weder psychologisch noch ethisch unerhebliche Distinktion ins Spiel kommt, weiß jedes Ebay-Mitglied.

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solches, das sich wiederum reflektierend auf A zurückbezieht). Alle darüber hinaus denkbaren Formen sind (potentiell unendlich) iterierende Modifikationen des dritten Typs, z.B.: Subjekt A reflektiert auf Subjekt B, als auf A’s Reflexion auf B reflektierend. Es leuchtet unmittelbar ein, dass wir es nur im Falle der dritten Variante (bzw. ihrer Modifikationen und Erweiterungen) mit genuin reziproken Beziehungen zu tun haben. Am Leitfaden unseres Ausgangsbeispiels scheiden daher die obengenannten BeziehungsVarianten (4) und (5) als nicht-reziprok aus. Für das Verständnis von Eigenart und Variationsbreite möglicher Konfliktformen ist der Aufweis der ihnen eigentümlichen Motivationsstruktur sicherlich von Bedeutung; er trägt aber nichts zur Beantwortung der Frage nach der notwendigen und/oder möglichen Reziprozität von Konflikten aus. Denn in den genannten Fällen liegt weder de re noch de dicto Reziprozität vor: Keine der beiden Fallbeschreibungen setzt ja voraus, dass Peters Versuch der Durchsetzung seiner Interessen von irgendeiner Reflexion auf Sabines Verhalten oder die ihm zugrunde liegenden Interessen und Glaubensannahmen bestimmt wird; umgekehrt ist laut Versuchsanordnung auch Sabines Glaube, soweit er sich auf Peters Versuch zur Durchsetzung seiner Interessen bezieht, gänzlich frei von jeder Reflexion darauf, ob dieser Versuch seinerseits irgendeine Reflexion der Interessen Sabines sowie deren Konfliktpotential von seiten Peters einschließt. Genuin reziproker Art sind dagegen folgende Konstellationen: (6) Sabine beharrt Peter gegenüber auf der Durchsetzung ihres eigenen Interesses, und zwar im Glauben, dass Peter sein Interesse im Bewusstsein und mit Billigung der Tatsache verfolgt, dass dessen Verwirklichung die Durchsetzung ihres eigenen Interesses vereiteln würde. Beim Versuch der Durchsetzung ihres Interesses nimmt sie die Vereitelung der Verwirklichung von Peters Interesse billigend in Kauf. (7) Sabine beharrt Peter gegenüber auf der Durchsetzung ihres eigenen Interesses, und zwar im Glauben, dass Peter sein Interesse im Bewusstsein und mit dem Ziel verfolgt, mit seiner Verwirklichung die Durchsetzung ihres eigenen Interesses zu vereiteln. Beim Versuch der Durchsetzung ihres Interesses nimmt sie die Vereitelung der Verwirklichung von Peters Interesse billigend in Kauf. (8) Sabine beharrt Peter gegenüber auf der Durchsetzung ihres eigenen Interesses, und zwar im Glauben, dass Peter sein Interesse im Bewusstsein und mit Billigung der Tatsache verfolgt, dass dessen Verwirklichung die Durchsetzung ihres eigenen Interesses vereiteln würde. Beim Versuch der Durchsetzung ihres Interesses zielt sie

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(zumindest unter anderem) auf die Vereitelung der so interpretierten Verwirklichung von Peters Interesse. (9) Sabine beharrt Peter gegenüber auf der Durchsetzung ihres eigenen Interesses, und zwar im Glauben, dass Peter sein Interesse im Bewusstsein und mit dem Ziel verfolgt, mit seiner Verwirklichung die Durchsetzung ihres eigenen Interesses zu vereiteln. Beim Versuch der Durchsetzung ihres Interesses zielt sie (zumindest unter anderem) auf die Vereitelung der so interpretierten Verwirklichung von Peters Interesse. 4.2 Die hier am Beispiel präzisierte Eingrenzung genuin reziproker Glaubensinhalte einer potentiellen Konfliktpartei bringt uns einer Antwort auf die Frage näher, inwieweit diese ihrerseits zur Konfliktkonstitution als solcher beitragen. Anders gefragt: Genügen zur (bzw. zum Verständnis der) Konfliktgenese Faktorenbündel, die den Beispielvarianten (4) oder (5) entsprechen, oder ist hierzu die Erfüllung von Mindestvoraussetzungen im Sinne von (6)–(9) erforderlich? Und muss unabhängig davon ein entsprechender Glaube auf Seiten beider Parteien vorhanden sein, wenn ein Konflikt zwischen ihnen entstehen können soll? Meine Antwort lautet, erstens und negativ formuliert: Entscheidend ist nicht, ob ein Glaube im Sinne von (4) bzw. (5) einerseits oder (6)–(9) andererseits vorliegt; de facto kann nämlich jeder dieser Glaubensinhalte (zusammen mit dem entsprechenden Interesse des Glaubenden sowie dem Wunsch nach Durchsetzung dieses Interesses) in einer Konfliktsituation leitend sein. Ob hier jeweils ein reziproker oder nicht-reziproker Glaube vorliegt, bedingt die Möglichkeit intersubjektiver Konflikte de facto nur zufällig – auch wenn nicht zu leugnen ist, dass die genuin reziproken Varianten (6)–(9) hier vermutlich eher die Regel als die Ausnahme sein dürften. Für ausschlaggebend halte ich hingegen zweitens und positiv formuliert, dass sich beide Konfliktparteien im Zuge des Wunsches bzw. des Strebens nach Verwirklichung ihrer jeweiligen Interessen von konfliktinduzierenden Glaubensannahmen im Sinne von (4)–(9) leiten lassen. Greifen wir zur Erläuterung und Begründung dieser Doppelthese zunächst auf Variante (9) zurück: Immer dann, wenn Peter und Sabine die dort angegebenen Interessen tatsächlich haben und auch durchzusetzen geneigt sind; und wenn sie ferner ihr Handeln von den entsprechenden Glaubensannahmen leiten lassen, wird es unweigerlich zum Konflikt kommen. Freilich nicht nur dann: Denn zum Konflikt würde es auch kommen, wenn beide im Sinne von Variante (4) oder (5) handeln – ein Handeln, das zwar seinerseits spezifische Glaubensannahmen voraussetzt, aber eben keine reziprok akzentuierten.

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Umgekehrt kommt ein Konflikt solange nicht zustande, wie die entsprechenden Voraussetzungen nicht auf seiten beider Konfliktparteien erfüllt sind – auch dann nicht, wenn es um Variante (6)–(9) geht. Als Beleg hierzu nur ein Beispiel, wiederum am Leitfaden von Variante (9): Peter glaubt, dass sein Versuch der Durchsetzung eines gegebenen Interesses mit dem von Sabine kollidieren würde. Er ist sich ferner bewusst, dass Sabine ihr Interesse reziprok, und d.h. hier im Bewusstsein und mit dem Ziel, verfolgen würde, mit der Verwirklichung dieses Interesses die seines eigenen (d.h. Peters) Interesse zu vereiteln. Indes, de facto hat Peter im vorliegenden Fall gar kein so geartetes Interesse. Oder alternativ: Ein entsprechendes Interesse ist vorhanden, aber Peter verzichtet freiwillig auf den Versuch seiner Durchsetzung – oder mindestens auf den Versuch seiner Durchsetzung ›um jeden Preis‹, und d.h. hier auf Kosten von Sabine. In all diesen (und anderen, gleichfalls denkbaren) Fällen kommt es zu keinem Konflikt. 4.3 Grundsätzlich und über die bereits genannten Momente hinaus schließt jede Konfliktgenese ein Moment von Freiheit und Kontingenz ein – jener Kontingenz, die ja im übrigen auch dem Eintreten eines Ereignisses als solchen anhaftet. Ein Konflikt entsteht immer und erst da, wo zwei oder mehrere potentielle Konfliktparteien sich unversehens und aus freien Stücken ›in der Uneinigkeit einig‹ werden, miteinander konfligieren zu wollen. Beide Parteien sind unter dieser Voraussetzung nicht nur darin einig, dass sie, sondern auch in welcher Weise (nämlich in der des Konfliktes) sie uneins sind und sein wollen. Ein Krieg muss erklärt und diese Erklärung als solche akzeptiert werden. Ebenso kann ein Konflikt nur als solcher ent- und bestehen. Beide Parteien müssen sich ›den Schuh des Streites anziehen‹, indem sie sich auf einen gemeinsamen und dabei moralisch durchaus als anfechtbar vorverstandenen und zumindest latent anerkannten Boden der Auseinandersetzung begeben. Der innere Stachel eines jeden Konfliktes und ein Grund für dessen oft unverhältnismäßige Heftigkeit besteht daher in der vorzugsweise unterdrückten Einsicht, sich mit dem anderen in einer basalen Hinsicht gemein gemacht, ja freiwilligunfreiwillig solidarisch erklärt zu haben. Denn dass Peter etwas zum Anlass des Konfliktes nimmt heißt, dass er Sabine auf dem Boden derjenigen (die fragwürdige Bereitschaft zur Durchsetzung eigener Interessen auf Kosten des anderen einschließenden) Strategie begegnet, von der er möglicherweise ganz zu Unrecht unterstellt, dass diese sie bereits eingeschlagen und ihm im übrigen ›aufgenötigt‹ hat. Nimmt Sabine sein vermeintliches Angebot an, indem sie in den Konflikt eintritt und so gewissermaßen den Fehdehandschuh aufhebt, hat sie sich ihrerseits bereits potentiell kompromittiert, indem sie sich auf eben jenen, moralisch durchaus zweifelhaften Boden der Auseinandersetzung begibt, von dem sie ebenfalls nach Möglichkeit zu

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Unrecht postuliert, dass Peter ihn – und überdies als erster – betreten hat. In einen Konflikt einzutreten heißt nicht nur, nolens volens unterstellen zu müssen, dass der andere (durch welche Handlungsinitiative auch immer) ein persönliches Interesse auf meine Kosten durchzusetzen versucht, sondern auch und zugleich, dass ich bereit bin, dasselbe nunmehr ihm gegenüber zu tun. Die Heftigkeit der Aggression beim Erwachen des Konflikts ist dabei der Heftigkeit des Unwillens zum Eingeständnis proportional, dass sich dies so verhält. Ärger und Wut sind selbst-referentiell, darin liegt ihr Inzitament und ihr innerer Stachel: Denn der Ärger schließt das Bewusstsein seiner eigenen Nutzlosigkeit ein, insofern er immer auch Ärger über die undelegierbare Freiheit des Sich-im-Ärger-Entgangenseins und mithin darüber ist, sich selbst gegenüber immer schon ›zu spät‹ zu kommen. So aber auch jeder Konflikt, der – als solcher – mit dem (in der Regel geleugneten) Geärgertwerden oder der Wut darüber einhergeht, das Verhalten des Gegenübers aus freien Stücken zum Anlass des Konfliktes genommen und diesen als solchen folglich selber mit verschuldet zu haben.4 Die unfreiwillige Solidarität mit der jeweils anderen Konfliktpartei geht aber noch weiter, und in ihrer versuchten Leugnung liegt ein zusätzlicher Grund für die bisweilen unverhältnismäßige Heftigkeit von Konflikten: Um mit jemandem streiten bzw. in Konflikt geraten zu können, müssen wir nolens volens einräumen, dass der jeweilige Kontrahent uns selber in vielerlei Hinsicht ähnlich ist – nicht nur in physischer und psychischer, sondern auch in weltanschaulich-geistiger sowie nicht zuletzt in moralischer Hinsicht. Vor allem müssen wir unterstellen, ihn als menschliches Gegenüber verstehen und ferner an sein Verständnis unserer appellieren zu können – und sei es auch nur zu dem Zweck, ihn unter der Durchsetzung unserer Interessen leiden zu lassen. Wir können mit Tieren, Pflanzen oder unbeseelten Dingen nicht in Konflikt geraten – es sei denn auf der Basis und mit Hilfe animistisch-anthropomorphisierender Strategien, kraft derer wir sie und ihr ›Verhalten‹ zum Gegenstand des Verstehens und der Unterstellung von Gründen statt der reinen Erklärung unter Voraussetzung bloßer Ursachen machen.5 Um aber den Anspruch erheben zu können, den ————— 4

Derselbe Zusammenhang hat aber noch eine weitere Pointe: In Konflikt geraten kann man wie gesagt nur mit demjenigen, von dem man voraussetzt bzw. voraussetzen muss, dass er einem in einer konfliktspezifisch relevanten Weise ähnlich ist – mit der Folge, dass es einen gemeinsamen Boden der Auseinandersetzung gibt oder zumindest geben kann und soll. Das heißt aber: dass man den anderen verstehen kann. Verstehen kann man den anderen aber nur unter der Voraussetzung des Glaubens, dass vieles von dem, was er glaubt, wahr ist. Das ist ein weiterer geheimer Stachel des Konflikts: Der andere ist einerseits mein Bruder und mir ähnlicher, als mir lieb ist; andererseits kann ich eben dies nicht zugeben, muss es vielmehr – vor mir und anderen – leugnen. 5 Und dass wir dies in der Tat häufig genug tun, beweist unser gewöhnliches Verhalten im Falle eines ›Konflikts‹ mit den Dingen in der ersten obengenannten Bedeutung, d.h. im Sinne

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Anderen zu verstehen, müssen wir – wie Donald Davidson bündig gezeigt hat – nolens volens voraussetzen, dass vieles von dem, was er glaubt, mit dem übereinstimmt, was wir selber (ob zu Recht oder Unrecht) für wahr halten. Sinn- und Bedeutungszuschreibung im Denken und Verhalten anderer sind, mit anderen Worten, unauflöslich an die Wahrheitsunterstellung im Blick auf dasjenige gebunden, was hier als potentiell sinnvoll verstanden wird.6 So gesehen gilt auch im Blick auf zwischenmenschliche Konflikte, was man frei nach Paul Tillich so formulieren kann: Es gibt nichts absolut Fremdes in der Welt. 4.4 Kehren wir nach diesem Exkurs in Sachen Konfliktpsychologie zurück zu einer letzten Frage im Blick auf dessen Konstitutionsbedingungen: Gehört zu diesen (mindestens notwendigen) Bedingungen auch der Umstand, dass beide Konfliktparteien nicht nur im bezeichneten Sinne glauben, sondern dass ihr Glaube auch berechtigt, und zwar deshalb berechtigt ist, weil er, und sei es kontingentermaßen, der Wahrheit entspricht? In einer Hinsicht ist dies in der Tat der Fall, und zwar bezogen auf die basale Annahme, dass im gegebenen Fall tatsächlich ein Konflikt vorliegt. Denn hier gilt: Kein Konflikt ohne den Glauben, dass ein Konflikt vorliegt, und umgekehrt kein solcher Glaube ohne die Faktizität des Konflikts. Konflikte gehören in die Klasse derjenigen ›Beziehungsereignisse‹, die als solche eben jene Kategorialität auszeichnet, die für die Eigenart des menschlichen Daseins überhaupt charakteristisch ist: So wie man nur als solcher Mensch sein kann, ebenso sind auch menschliche Konflikte nur als solche möglich. Allerdings schließt bereits die bloße Faktizität dieses Glaubens dessen eigene Wahrheit analytisch ein, so dass diese de facto keine synthetischkontingente Zusatzbedingung darstellt: Wann immer X glaubt, mit Y in Konflikt zu sein – und umgekehrt –, kann die Geltungsfrage, d.h. die Frage danach, ob sich das Geglaubte auch tatsächlich so verhält, auf die der Genese reduziert werden. Anders gesagt: Das Faktum jenes Glaubens ist notwendig und hinreichend für die Wahrheit dessen, was er glaubt. In einem Konflikt zu sein oder in ihn zu geraten heißt nichts anderes als etwas als Konflikt zu erfahren bzw. im Kontext der vorausgesetzten Interessestruktur zu glauben, in ihn verwickelt oder geraten zu sein. Das schließt natürlich trivialerweise nicht ein, dass auch die Deutung dieses Konfliktes –

————— eines physischen ›Zusammenstosses‹ mit diesen. Umgekehrt ist dasselbe Faktum ein Beleg für die Richtigkeit meiner Hypothese bezüglich der Möglichkeitsbedingungen von Konflikten. 6 Vgl. in Kürze: D. DAVIDSON, Art. Davidson, Donald, in: S. GUTTENPLAN (Hg.), A Companion to the Philosophy of Mind, Oxford 21995, 230–236, bes. 232ff.

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im Blick auf dessen Eigenart, Ursachen, Gründe, Ansprüche, Folgen u.ä. – ebenfalls irrtumsresistent wäre.7 Nur in der genannten, kategorial grundsätzlichen und als solcher präzise begrenzten Hinsicht ist die Wahrheit des Glaubens konfliktgenetisch konstitutiv, wobei sie hier de facto als analytisches und insofern notwendig und ausnahmslos vorauszusetzendes Implikat dieses Glaubens auftritt. In zwei weiteren Hinsichten fungiert jene Wahrheit umgekehrt als synthetischkontingentes, dafür aber konfliktgenetisch zufälliges Moment. Das lässt sich nochmals exemplarisch an Beispiel (9) klarmachen: Hier spielt es erstens keine oder jedenfalls keine konfliktgenetisch wesentliche Rolle, ob Peter sein Interesse tatsächlich ›im Bewusstsein und mit dem Ziel verfolgt, mit seiner Verwirklichung die Durchsetzung ihres eigenen Interesses zu vereiteln‹. Sabine kann mit Peter in Konflikt geraten, obwohl sie sich in eben jener Handlungsmotivation ihres Gegenübers faktisch irrt, die umgekehrt ihre eigene Konfliktbereitschaft allererst generiert oder zumindest mit motiviert (s.o.). Zweitens ist es im Blick auf die Möglichkeits- und Entstehungsbedingungen des Konfliktes völlig unerheblich, ob Sabine mit der Unterstellung recht hat, dass mit der Verwirklichung von Peters Interesse tatsächlich die Vereitelung ihres eigenen einhergehen würde. Auch hier genügt der (wie gesagt: möglicherweise irrige) Glaube an die bezeichnete Folge und Wirkung völlig, um Sabines Konfliktbereitschaft zu stimulieren und mit dieser den Konflikt de facto entstehen zu lassen. Das ist das gewissermaßen ironische, bisweilen durchaus auch tragikomische Moment in jeder Konfliktgenese: Der Konflikt mag sich im nachhinein als müßig und völlig grundlos herausstellen! Entscheidend ist mithin einzig und allein, dass beide Konfliktparteien erstens ein bestimmtes Interesse durchzusetzen versuchen (oder wenigstens geneigt sind, dies zu tun) und dieser Versuch sich zweitens durch gewisse Glaubensannahmen im Blick auf die Bedingungen der Vereitelung oder der Durchsetzbarkeit ihres Interesses durch die jeweils andere Konfliktpartei leiten lässt. Dieser Sachverhalt kann abschließend in einer zehnten (wohlgemerkt: hier nur exemplarischen und keineswegs alternativlosen) Variante wie folgt reformuliert werden: (10) Sabine beharrt Peter gegenüber auf der Durchsetzung ihres eigenen Interesses, und zwar im Glauben, dass Peter sein Interesse im Bewusstsein und mit dem Ziel oder zumindest mit Billigung der Tatsache verfolgt, mit seiner Verwirklichung die Durchsetzung ihres eigenen Interesses zu vereiteln. Beim Versuch der Durchsetzung ihres Interesses zielt sie (zumindest unter anderem) auf die Vereitelung der ————— 7 Vor allem auf das Moment der im Zuge eines Konfliktes implizit oder explizit erhobenen Ansprüche wird noch einmal zurückzukommen sein.

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so interpretierten Verwirklichung von Peters Interesse, oder sie nimmt diese Vereitelung mindestens billigend in Kauf. Entsprechendes gilt für Peter im Verhältnis zu Sabine.

II. Was ist ein religiöser Konflikt? 1. Es ist zweifellos der Mensch selbst, der den Menschen vom Tier unterscheidet. Der Vollzug dieser Selbstunterscheidung gehört mit anderen Worten zur Eigenart des Menschen hinzu und ist als solche Ausdruck einer für diesen unvermeidbaren kategorialen Selbstabgrenzung von allem NichtMenschlichen. Kraft dieser Selbstunterscheidung aber erfasst er sich zunächst und vor allem als zur Klasse der ›ideierenden‹ Lebewesen gehörig – jener Lebewesen also, die erstens sind, indem sie (etwas als) ihr Dasein bewusst vollziehen, und die dieses Dasein zweitens vollziehen, indem sie zugleich nach der Idealität, der letztgültigen Bedeutung, dem Sinn und der Berechtigung des jeweiligen Vollzuges im Rahmen eines übergeordneten Lebensentwurfs fragen, in dessen Realisierung sich dieses ihr Selbst- und Menschsein, als ein solches, erfüllen würde. Diesen doppelten Grundzug habe ich im Vorhergehenden durch den Satz ›Menschsein ist nur als solches möglich‹, d.h. durch die Behauptung einer unhintergehbaren Kategorialität menschlicher Lebensvollzüge zum Ausdruck zu bringen versucht. In die so verstandenen Vollzüge samt deren kategorialer Selbstauslegung gehen mindestens drei Phänomenebenen ein: zum einen die leib-seelische, zum anderen die geistige, schließlich die kulturell-expressive. Erstens ist jeder genuin menschliche Lebensvollzug bewusster Vollzug. Als solcher besitzt er nicht nur eine kognitive, sondern auch eine irreduzibel affektive bzw. emotionale Seite und damit zugleich ein physisches bzw. physiologisch beschreibbares Korrelat. Die Einordnung dieses Lebensvollzugs in den Rahmen eines vor- und übergreifenden Entwurfs gelingenden Selbstseins geschieht zweitens – mit einem Ausdruck der idealistischen Tradition – im Medium des (sprachlich, reflexiv und volitiv verfassten) Geistes. Drittens vollzieht der Mensch das, was er im Kontext eines lebensorientierenden Daseinsentwurfs im ganzen sein oder werden zu sollen glaubt, in kulturspezifisch geprägten, freilich zugleich historisch variablen Formen. Anders und abgekürzt gesprochen: Menschen haben nicht nur Ideen, Gefühle, Bedürfnisse; sie generieren auch lebensorientierende Einstellungen; und sie bringen diese sowie die in sie eingegangenen Primärformen bewussten Lebens – und damit immer auch: (etwas als) ›sich selbst‹ – im Medium kulturbedingter und zugleich kulturprägender Formen auf vielfältige Weise zum Ausdruck: zunächst mimisch und gestisch, sodann sprach-

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lich-reflexiv und symbolisch, schließlich rituell-, kultisch- und institutionell-praktisch. 2. Religiöse Lebensvollzüge und Lebensformen sind Paradigma für die hier beschriebenen Zusammenhänge – und damit zugleich Prüfstein für die Sachgemäßheit dieser Beschreibung an sich. Vor deren Hintergrund kann zumindest nicht überraschen, dass man an Religionen generell und diesseits der notorischen Definitionsfrage stets zweierlei unterschieden hat: den rituell, kultisch und institutionell verfassten ›Außenaspekt‹ von Religion, der als solcher, vor allem im Medium der Religionswissenschaften, in der Perspektive der dritten Person zugänglich ist, und den ›Innenaspekt‹ der religiösen Einstellung selber in der Perspektive der ersten Person, wobei diese für jeden Dritten zunächst allenfalls hermeneutisch, d.h. als verstehender Nachvollzug der Selbstauslegung jener, die sich selbst als religiös bezeichnen, zugänglich ist. Jüngst hat etwa Hermann Deuser in diesem Sinne zwischen Religiosität (= Einstellungsaspekt) und Religionen (= institutioneller Aspekt) unterschieden.8 Während letztere, extensional gesehen, die Gesamtheit aller ›positiven‹ Welt- und Stammesreligionen bezeichnen, steht der Ausdruck ›Religiosität‹, hier bezogen auf seine Intension, für eine bestimmte ›Haltung‹, eine Haltung, die »die gesamte Lebenseinstellung eines Menschen«9 in spezifischer Weise prägt und formt.10 Folgt man Ingolf Dalferth, so wurzelt diese Haltung in einer spezifischen Differenzerfahrung: der Erfahrung jener allgegenwärtigen, wenngleich häufig nur latent bewussten Präsenz des Sinnlosen, Ungeordneten und Irrationalen im vermeintlich durchgängig Sinnhaften, Geordneten und Vernünftigen der Welt, in der das Sinnlose so als »Rückseite«11 des Sinnvollen selbst erscheint. Religionen – jedenfalls diejenigen, die man mit Dalferth reflektierte Religionen nennen kann – machen dabei »das Sinnlose nicht sinnvoll, sondern ermöglichen es, sich im Sinnvollen zum Sinnlosen zu verhalten.«12 Und da Sinn und Sinnlosigkeit Kategorien sind, die den Verweisungszusammenhang unserer ————— 8 Vgl. H. DEUSER, Religion und Politik – Zur theologischen Kritik des religiösen Fundamentalismus, in: S. ALKIER u.a. (Hg.), Religiöser Fundamentalismus. Analysen und Kritiken, Tübingen 2005, 1–9, hier 2f. 9 Ebd., 3. 10 H. DEUSER stellt dabei ausdrücklich in Rechnung, dass Religiosität ohne Religion nicht denkbar ist (vgl. ebd., 3) – ob auch das Umgekehrte gilt, bleibt allerdings offen – anders als z.B. bei Paul Tillich, für den Kultur (analog bei Deuser: Religion) bekanntlich nicht nur als Form der Religion (analog bei Deuser: Religiosität), sondern umgekehrt diese auch stets und notwendig als Substanz der Kultur auftritt: Vgl. z.B. P. TILLICH, Die religiöse Substanz der Kultur. Schriften zur Theologie der Kultur (Gesammelte Werke, hg. v. R. ALBRECHT, Bd. IX), Stuttgart 21975, 84. 11 I.U. DALFERTH, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 87. 12 Ebd.

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Lebensvollzüge im ganzen betreffen und qualifizieren, kann man, nochmals mit Hermann Deuser gesprochen, Religion als – wenn auch gebrochenen – Ausdruck von Religiosität, mithin als etwas begreifen, das »existentiell ernst genommen wird und […] die gesamte Lebenseinstellung eines Menschen beeinflusst«13. Mit Paul Tillich würde man vom Ergriffensein durch das, genauer: durch etwas als das (hier: sinnfunktional spezifizierte) Unbedingte sprechen.14 Für diese Sinnfunktion, verstanden als religiöse Befähigung zur Bewältigung der inmitten allen Sinnes ›appräsenten‹ Sinnlosigkeit, könnten binnenchristlich z.B. die Makarismen in Mt 5 als Beispiel angeführt werden. Sie trösten – und zwar im Sinne einer realisierten Eschatologie: Selig ist, und zwar bereits im Hier und Jetzt, jeder, freilich auch nur der, der (a) ›hungert‹, freilich nicht nach irgendetwas, sondern (b) nach ›Gerechtigkeit‹, wobei er (c) in eben dem Bewusstsein nach Gerechtigkeit hungert, dass sein Hunger gestillt werden wird. Dies ist christlich gesprochen der einzige und der einzig wahre Trost, der im Hier und Jetzt gegeben werden kann: nur der, aber auch jeder, der so hungert, wird gesättigt werden. Eine notwendige Ermöglichungsbedingung dafür, diesen Trost sowohl spenden wie auch von ihm ergriffen werden zu können, ist indes die Verweigerung, in ihm und durch ihn Sinn herzustellen. Eschatologisch trösten kann nur, was kein Sinnbedürfnis befriedigt – hierbei wird die Sinnlosigkeit nicht domestiziert, verklärt oder in ein Sinnvolles transformiert, sondern kraft des Trostes in das Dasein des Glaubenden integriert.15 Eben diese Eigenart und Funktion kommt jeder und nur der Religion zu – so wie hier am Beispiel des Christlichen veranschaulicht. 3. Mir scheint nun allerdings, dass eine Verarbeitung der von Dalferth beschriebenen Differenzerfahrung erst dann im strengen Sinne religiös genannt zu werden verdient, wenn der Betreffende sie selber explizit als etwas deutet und anerkennt, das nach seiner Auffassung in die Klasse des Religiösen fällt. Jeder Mensch macht ja im Sinne meiner anthropologischen Vorbemerkungen Erfahrungen, die ihn – in der Regel auf schmerzhafte Art und Weise – zur Ausbildung von Lebenseinstellungen und -deutungen nötigen, in deren kulturspezifisch präformierten Ausdrucksformen sich das Spannungsverhältnis von Faktizität und Sinn in irgendeiner Form reflektiert. Religiös verdienen diese Einstellungen und deren Ausdrucksformen allerdings erst dann genannt zu werden, wenn der Betreffende sie selber als ————— 13

H. DEUSER, Religion und Politik, 3. Vgl. z.B. P. TILLICH, Die religiöse Substanz der Kultur, 86. 15 Vgl. dazu im Detail: H. SCHULZ, Genügt die Hoffnung? Über Aids als Problem der theologischen Ethik, in: S. ALKIER/K. DRONSCH (Hg.), HIV/Aids – Ethische Perspektiven, Berlin/New York 2009, 299–322, bes. 313–320. 14

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solche interpretiert. Mag auch jede Religion als ›Erfahrung mit der Erfahrung‹ (E. Jüngel) beschrieben werden, so ist doch – schon auf der rein phänomenologischen Ebene – nicht jede Erfahrung mit der Erfahrung als solche religiös zu nennen. Als Religion darf mithin phänomenologisch nur dasjenige gelten, was als Ausdruck oder im Namen von etwas als Religion (alternativ: Gott, Christentum, wahrem Glauben oder ähnliches) gedeutet, gesagt oder getan wird. Religion ist wie viele andere genuin menschliche Lebensäußerungen Ausdruck von ›Geist‹ (s.o.) und muss als solcher kategorial verstanden werden: So wie man nur als solcher Mensch sein kann, ebenso kann man, phänomenologisch geurteilt, auch nur als solcher bzw. im Namen von etwas als Religion religiös sein. Nur so, aber auch: immer dann? Genügt, mit anderen Worten, die Auskunft eines islamistischen Selbstmordattentäters, er handle aus strikt religiösen Motiven und d.h. hier ›im Namen und Auftrag Allahs‹, um sein Verhalten als tatsächlich religiös zu begreifen und zu beurteilen? Zumindest epistemisch gesehen genügt diese Auskunft keineswegs. Denn wir müssen im menschlichen Verhalten sowie in dessen Selbstauslegung prinzipiell zwischen Grund und Ursache unterscheiden: Nicht alle Gründe sind Ursachen (und übrigens auch nicht alle Ursachen Gründe). Will sagen: Das, was wir als Motiv oder Grund für unser Verhalten und unsere Einstellungen benennen – und analog: als Kern oder zumindest integrierendes Element unserer weltanschaulich orientierenden Leitvorstellungen, die jenem Verhalten und jenen Einstellungen zugrunde liegen –, mag in manchen, vielleicht in vielen Fällen nicht mit dem identisch sein, was unser Verhalten sowie die ihm zugrunde liegenden Einstellungen und weltanschaulichen Orientierungen tatsächlich prägt, leitet und generiert. Freilich ist dies andererseits kein methodologischer Freibrief für das, was man mit Wayne Proudfoot ›deskriptiven Reduktionismus‹16 nennen kann. Ein solcher Reduktionismus liegt z.B. dann vor, wenn wir das Handeln von Peter, der aus Furcht vor etwas, das er irrigerweise für einen Bären hält, die Flucht ergreift, während es sich in Wahrheit um einen Baumstamm handelt, mit den Worten beschreiben ›Peter ergreift vor einem Baumstamm die Flucht‹. Erklären setzt hier Verstehen voraus, und das heißt: Um sachgemäß sein zu können, muss ein (an sich legitimer) ›explikativer Reduktionismus‹, der als solcher Peter klarmachen würde, dass das, was er für einen Bären hielt, in Wahrheit nur ein Baumstamm war, verstehend ansetzen – d.h. beim Nachvollzug der Selbstbeschreibung jener Erfahrung aus der Perspektive der ersten Person. Denn Peter ist wie jeder Mensch ebenso unfehlbare wie unbedingte Autorität in der Entscheidung darüber, ob das, was er als X zu ————— 16

Vgl. W. PROUDFOOT, Religious Experience, Berkeley, CA 1985, 196f.

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erfahren vorgibt, de facto als X erfährt oder erfahren hat. In Zweifel gezogen werden kann seine Autorität lediglich explikativ – d.h. angesichts der Frage, ob das, was er unzweifelhaft als X erfahren hat, tatsächlich X ist. Man kann folglich17 nicht mit Gründen bezweifeln, dass jene Muslime, die behaupteten, die Kopenhagener Karikaturen strikt religiös und d.h. hier als etwas auffassen zu müssen, das Allahs Zorn erregt, tatsächlich als ein so Bestimmtes auffassen zu müssen glaubten. Bezweifeln lässt sich allerdings, dass diese Karikaturen de facto Allahs Zorn erregten – oder dass es gerechtfertigt und/oder sinnvoll ist, überhaupt von Allahs Zorn zu sprechen. Erst hier, d.h. nochmals gesagt: auf geltungstheoretischem Boden, kann und muss gestritten werden, ein Streit mit bis auf weiteres offenem Ausgang, wie sich an der sattsam bekannten psychoanalytischen Variante des explikativen Reduktionismus leicht zeigen lässt: Wer glaubt und vorgibt, bei Gottes Liebe Zuflucht suchen zu müssen vor Gottes Heiligkeit und Zorn, mag de facto nur vor seinen eigenen unverarbeiteten Vaterkomplexen fliehen. Entsprechendes gilt freilich auch im Blick auf die säkulare Selbstinterpretation: Wer seine inneren Konflikte auf einen nicht verarbeiteten Vaterkomplex zurückführen zu müssen glaubt, mag in Wahrheit vor Gott davonlaufen.18 In beiden Fällen betrifft diese Zweideutigkeit aber wie gesagt erst und allein die epistemische oder die Geltungsfrage, die als solche von der phänomenologischen oder der Verstehensfrage unterschieden werden muss.19 Fazit: Epistemisch ist nur, aber nicht all das Religion, was sich so nennt bzw. in ihrem Namen auftritt. Phänomenologisch verhält es sich umgekehrt. 4. Diesseits der epistemischen oder kritisch-explikativen Frage tun wir also zumindest prima facie und bis auf weiteres gut daran, diejenigen beim Wort ————— 17 NB: unter Voraussetzung eines Hintergrundwissens, das ausschließt, dass uns die Betreffenden als notorische Heuchler (d.h. Lügner mit Blick auf die eigenen mentalen Zustände und Einstellungen) bekannt sind. 18 Gesetzt, beide konträren Hypothesen sind mindestens in sich kohärent und überdies erklärungslogisch hinreichend, dann mündet die Auseinandersetzung bezüglich ihrer Geltung bis auf weiteres in eine epistemische Pattsituation. Ob eine der beiden Hypothesen sich als wahrscheinlicher oder durch Beibringung notwendiger Erklärungsbedingungen der beschriebenen Phänomene sogar als alternativlos erweisen wird, kann und muss dann die kritische Überprüfung im einzelnen zeigen. 19 Wobei übrigens Fälle denkbar sind, in denen ein geltungstheoretisch relevanter Unterschied zwischen Verstehen und Rechtfertigen sinnvoll nicht mehr gemacht werden kann, und zwar schlicht deshalb nicht, weil die beschriebene und beurteilte Meinung, Einstellung oder Handlung mindestens aus pragmatischen Gründen eo ipso als gerechtfertigt bzw. rational zu gelten hat – vielleicht liegt hier auch ein möglicher Einsatzpunkt für eine pragmatische oder besser: pragmatistische Rechtfertigung der Religion: »In itself, prayer to a God about whose existence on is doubtful is no more irrational than crying out for help in an emergency without knowing whether there is anyone within earshot.« (A. KENNY, What I Believe, London/New York 2006, 64.)

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zu nehmen, die ihre Erfahrungen bzw. die ihnen entspringende Einstellung als religiös bezeichnen, jeden hingegen als nichtreligiös zu respektieren, dessen Selbstauffassung und -beschreibung ohne Verwendung von etwas auskommt, das er oder sie selber als Ausdruck von Religion und/oder Religiosität auffassen würde. Trägt dieser Befund zu einer Antwort auf die Frage bei, unter welchen Bedingungen wir genötigt und/oder berechtigt sind, von genuin religiösen Konflikten zu sprechen? In der Tat. Allerdings nur unter einer Voraussetzung: der Voraussetzung, dass die Wahrheit konfliktgenerierender Glaubensannahmen auch für die Konstitution der Eigenart des betreffenden Konfliktes unerheblich ist. Dies anzunehmen haben wir aber vor dem Hintergrund der einleitenden Phänomenologie allen Grund: Wenn nämlich erstens die Wahrheit des Glaubens an die NichtRealisierbarkeit und/oder Inkompatibilität zweier oder mehrerer faktisch bestehender Interessen die Möglichkeit eines Konfliktes zwischen den beteiligten Interessenssubjekten nur zufällig, die Faktizität dieses Glaubens dieselbe Möglichkeit hingegen notwendig bedingt; und wenn zweitens der Glaube an die (hier: religiöse) Eigenart des bezeichneten Konfliktes und damit zugleich an den Grund der bestehenden Interessenskollision in jenen ersteren Glauben als ein diesem lediglich funktional zu- und untergeordneter Sekundärglaube eingeht, dann fungiert auch die Wahrheit dieses letzteren Glaubens als lediglich zufällige Bedingung für die Konstitution der Eigenart des fraglichen Konfliktes. Und das besagt in der Konsequenz, dass wir, einstweilen mit dem vollen Recht zur Vernachlässigung der epistemischen Frage, bereits und zumindest aus pragmatischen Gründen immer dann die Pflicht und/oder das Recht haben, von religiösen Konflikten zu sprechen, wenn diese unter Berufung auf Beschreibungen und Bewertungen einer Sachlage entstehen und ausgetragen werden, von denen mindestens eine Konfliktpartei behauptet, dass es sich um genuin religiöse Beschreibungen und Bewertungen handelt. Religiöse Konflikte zeichnen sich mithin dadurch aus, dass mindestens eines der konfligierenden Individuen oder eine der konfliktinvolvierten Gruppen die Verwirklichung von Interessen bedroht sieht, die sie selbst als genuin religiöse, d.h. mit Ingolf Dalferth gesprochen als irreduziblen Ausdruck des Interesses an der Möglichkeit, sich im Sinnvollen zum Sinnlosen zu verhalten, interpretieren und als solchen zu verteidigen bereit sein würde. Um einer konkreten Auseinandersetzung den Anstrich des religiösen Konfliktes zu geben, ist hierbei nicht erforderlich, dass beide Konfliktpartner ihre Auseinandersetzung als religiöse austragen. Es genügt, dass mindestens einer dies tut. Von religiösen Konflikten dürfen und müssen wir also nicht nur dann sprechen, wenn ein (z.B. interkonfessioneller) Streit zwischen Angehörigen ein und derselben Religion ausbricht, oder wenn dies im Blick auf Vertreter verschiedener Religionen der Fall ist. Dieselbe Sprachregelung ist vielmehr

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auch dann nötig und legitim, wenn ein religiöses Selbstverständnis nur auf seiten einer einzigen Konfliktpartei als gegeben vorausgesetzt werden kann.

III. Sind Religionen konfliktfähig? 1. Die Titelfrage meines Textes verspricht zum Glück Aufklärung allein im Blick auf die Faktizität der Konfliktfähigkeit von Religionen – sie stellt hingegen keine detaillierten Aufschlüsse über die Bedingungen in Aussicht, unter denen Religionen in Konflikt geraten bzw. mit diesen umgehen können. Zu Unrecht würde man daher auch eine Auskunft darüber von mir erwarten, welche Religionen nach meiner Auffassung als konfliktfähig bezeichnet zu werden verdienen – und welche nicht. Diesen weitergehenden Erwartungen entsprechen zu sollen würde mir auch deswegen Unbehagen bereiten, weil ich mich vor dem Hintergrund der anfangs eingeführten Distinktion zwischen Konfliktfähigkeit 1 und 2 (KF1/KF2) in der Pflicht sähe, entsprechende Aufschlüsse ›in beiderlei Gestalt‹ zu geben. Ich hoffe, dass meine in der bezeichneten Weise eingeschränkte Analyse gleichwohl auch als solche legitim und sinnvoll ist. Doch zurück zur Leitfrage: Sind Religionen konfliktfähig im Sinne von KF1? Nicht a priori und in jedem Fall. Wenn man einen Religionsbegriff zugrunde legt, wie Hermann Deuser ihn vertritt, muss die Antwort lauten: Nein, Religionen können unmöglich – oder genauer: sie können unmöglich als solche – miteinander (oder mit nicht-religiösen Weltanschauungen) in Konflikt geraten. Denn nach Deusers Semantik sind Religionen nichts als kulturgebundene und kulturprägende Ausdrucksformen dessen, was er Religiosität nennt, Sedimentierungen des objektiven Geistes gewissermaßen, die als solche und die allein in der wissenschaftlichen Außenperspektive hinreichend präzise beschrieben werden können. Dogmatische Lehrsätze wären ein Beispiel für derartige Sedimentierungen, etwa die Aussage ›Jesus ist der Christus, d.h. der den Juden verheißene Messias oder der Retter der Welt‹. Gesetzt, wir finden in einem jüdischen Text die Behauptung ›es trifft nicht zu, dass Jesus der Christus ist‹, dann stehen diese beiden Sätze nicht ohne weiteres im Verhältnis des Konfliktes und a fortiori auch nicht in dem des Konfliktes zweier Religionen zueinander. Genauer: Sie stehen nicht als Bestandteil von Religionen als solchen miteinander in Konflikt, sondern allein als Bestandteil von Religionen, insofern diese als Manifestation von Religiosität erscheinen. Das heißt, es muss vorausgesetzt werden, dass sich mit ihnen – wie eingangs gezeigt – ein Geltungsanspruch (mithin ein Interesse und ein Fürwahrhalten) verbindet, ein Geltungsanspruch, der selber dem Standpunkt der Frömmigkeit oder Religiosität entspringt und

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entspricht. Natürlich können die beiden Sätze nicht nur vom Standpunkt der Religiosität, sondern auch von dem des Philosophen aus konfligieren, und auch in diesem Fall ist ein Geltungsanspruch Voraussetzung. Allerdings sieht sich dieser nicht zwangsläufig der Wahrheit eines der beiden Sätze bzw. dessen Eigenschaft als Manifestation des Unbedingten verpflichtet, sondern möglicherweise nur dem Interesse an der Wahrheit generell bzw. der einer zutreffenden Verhältnisbestimmung beider Aussagen im Sinne der Kontradiktion. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierungen ist die Frage nach der Konfliktfähigkeit von Religionen (im Sinne von KF1) zu bejahen: Religionen sind – wie im übrigen wohl auch die Erfahrung weitläufig belegt – in der Tat konfliktfähig: nicht an sich zwar, wohl aber insofern sie als Ausdruck religiöser Geltungsansprüche firmieren, in denen als solchen das unbedingte Interesse und der Glaube an diejenige Gestalt wahren Lebens sich reflektieren, deren Vollzug im Schatten der Sinnlosigkeit und Bedingtheit Unbedingtheit und letzten Sinn verheißt. 2. Sind Religionen im Sinne von KF2 konfliktfähig? Ich sehe keinen Grund, dies zu bestreiten; allerdings gelten auch hier zunächst die im Blick auf KF1 formulierten Einschränkungen. Darüber hinaus möchte ich an dieser Stelle der Erklärungsdiät, für deren Sinn und Recht ich zu Beginn dieses Abschnitts geworben habe, vorübergehend abschwören und stattdessen den üppigeren Genüssen der Bedingungsanalyse frönen, allerdings nur in einem einzigen und wie mir scheint entscheidenden Punkt. Meine These lautet: Konfliktfähigkeit im Sinne von KF2 setzt als notwendige Ermöglichungsbedingung KF1, d.h. die Faktizität und/oder das Vermögen des (hier: religiösen) Konfliktes voraus. Begründung: Einen gegebenen Konflikt lösen kann nur, wer faktisch oder zumindest der Möglichkeit nach in ihn selber verwickelt ist – so jedenfalls lehrt die Grammatik des Begriffs Konfliktfähigkeit (im Sinne von KF2). Es gibt demnach, um die zu Beginn bereits benutzte Krankheitsmetapher noch einmal zu bemühen, »keine unmittelbare Gesundheit des Geistes«,20 wie Kierkegaard formuliert. Die Krankheit (hier: die des Konfliktes) geht als notwendige Bedingung desjenigen Vermögens oder Vollzuges, der sie selber aufhebt, mit in diesen ein. Geistig gesprochen ist Gesundheit nur als fortwährende Heilung möglich, d.h. als eine mit sich selbst als solcher vermittelte Krankheit. Dieser Umstand hat weitreichende Konsequenzen, vor allem diese: Um religiös oder interreligiös konfliktfähig (im Sinne von KF2) zu sein, muss das religiöse Subjekt einen unbedingten – und als solchen möglicherweise ————— 20 Vgl. S. KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode. Der Hohepriester – der Zöllner – die Sünderin (Gesammelte Werke, hg. v. E. HIRSCH, 24./25. Abt.), Düsseldorf 21957, 21.

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unberechtigten – Wahrheitsanspruch erheben, und zwar im Bewusstsein, eben dies zu tun. Das sei abschließend in Kürze erläutert. Dasjenige, wonach jedes religiöse Bewusstsein als solches strebt, ist – in der Terminologie Hermann Deusers – die Einheit von Religion und Religiosität, von Objekt und Subjekt, von Bedingtem und (Tendenz zum) Unbedingten etc. Im Rückgriff auf Luther, Tillich und auf seine Weise Ingolf Dalferth könnte man auch sagen: die unbedingte Einheit von Vertrauensbereitschaft und Vertrauenswürdigkeit oder von Sinnverlangen und Sinn im Schatten der Sinnlosigkeit. Die Möglichkeit dieser Einheit ist als streng dialektische oder als wechselseitiges Bedingungsverhältnis zu explizieren: So wie jedem, freilich auch nur dem Unbedingten unbedingt vertraut werden kann, ebenso kann sich jedes und nur dasjenige, dem man unbedingt zu vertrauen vermag, als ein Unbedingtes zu erkennen geben und bewähren. Vor dem Hintergrund der unaufhebbaren Diskrepanz von Religion und Religiosität bleibt es indessen bei der unvermeidlichen Doppelfrage: Vertrauen wir unbedingt? Und: Was ist das Unbedingte – bzw. ist dieses mit eben demjenigen identisch, das ich als ein solches behaupte und in dessen Namen ich rede und zu handeln beanspruche? Religiöse Geltungsansprüche zu erheben heißt daher streng genommen, sich in einem Widerspruch zu bewegen: Einerseits können diese Geltungsansprüche nur als unbedingte vertreten werden; andererseits könnten sie selbst dann, wenn sie zu Recht bestünden, schon deshalb nicht als solche bzw. als Ausdruck des Unbedingten einsichtig sein, weil die Form, in der sie geltend gemacht werden, dem Bereich des Bedingten – in Deusers Terminologie: der Religion – entstammen. Stets bemühen wir notgedrungen Elemente aus dem Bereich des Bedingten qua Religion, um das unbedingte Anliegen unserer religiösen Existenz als solches zum Ausdruck und zur Geltung zu bringen. Wenn man jedoch, wie wir gesehen haben, einen unbedingten Geltungsanspruch für etwas möglicherweise nur Bedingtes hat erheben müssen, um in einen religiösen Konflikt zu geraten, und wenn man in einen Konflikt geraten sein muss, um ihn austragen und lösen zu können, dann muss man nolens volens einen unbedingten Geltungsanspruch – und zwar für etwas möglicherweise Bedingtes – erhoben haben, um denjenigen religiösen Konflikt austragen und lösen zu können, der aus jenem Geltungsanspruch allererst hervorging. Die Konsequenz und Pointe dieser Überlegungen liegt also nicht darin, dass man religiöse oder interreligiöse Konflikte nur dann lösen kann, wenn man absolute oder unbedingte Wahrheitsansprüche gar nicht erst erhebt. Die Pointe liegt darin, dass man sie in einer spezifischen Weise suspendiert, nämlich im Bewusstsein, sie de facto zu erheben, erhoben zu haben und erheben zu müssen, sie aber gleichwohl mit Recht selbst dann nicht erheben oder erhoben haben zu können, wenn sie faktisch zu Recht bestehen oder

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bestanden. In formalisierter Kürze kann diese Überlegung abschließend durch folgenden Syllogismus wiedergegeben werden: (1) Zu Recht bestehen kann der Geltungsanspruch religiöser Behauptungen nur in der Suspendierung dieses Anspruchs durch dessen Subjekt. (2) Diesen Anspruch kann das religiöse Subjekt nur im Bewusstsein suspendieren, ihn – möglicherweise zu Unrecht – erhoben zu haben. (3) Dieses Bewusstsein kann nur generieren, wer den in Rede stehenden Anspruch faktisch erhoben hat. (4) Ergo kann das religiöse Subjekt den Anspruch rechtzuhaben nur suspendieren, und überdies nur dann rechthaben, wenn es den Anspruch rechtzuhaben faktisch erhoben hat. Quod erat demonstrandum. Moral: Konfliktfähig im Sinne von KF2 ist jeder und nur der im recht verstandenen Sinne Demütige.

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Gesche Linde

Religion als implizite Sozialitätstheorie Eine handlungstheoretische Skizze Gesche Linde Religion als implizite Sozialitätstheorie Konflikte sind unterschiedlichster Art. Sie können Einzelne involvieren oder Kollektive; sie können mild verhandelt werden oder erbittert; sie können sofort wieder erlöschen oder von Generation zu Generation weitervererbt werden; sie können auf die Beteiligten (oder auch die Umstehenden) anregend wirken oder ermüdend. Und sie können – das ist die hier zunächst vorausgesetzte Leitdifferenz – sprachliche Gestalt annehmen oder nichtsprachliche: Die einen zanken, die andern prügeln sich. Im folgenden werde ich mich nicht dafür interessieren, wie Konflikte sprachlich ausgetragen werden oder jedenfalls ausgetragen werden sollten: nämlich durch Verständigung zwischen den betroffenen Konfliktparteien in Gestalt eines Austauschs von Argumenten (oder zumindest Erläuterungen), das heißt: unter Angabe eines Grundes für die vertretene Auffassung und in der Bereitschaft, den eigenen Grund gegen den des anderen abzuwägen. Stattdessen werde ich fragen, wie Konflikte sich im Handeln niederschlagen, und zwar im nicht-begrifflich organisierten Handeln, im folgenden auch ›Tun‹ genannt. Dazu werde ich – äußerst rudimentär – eine semiotische Handlungstheorie skizzieren, im Rahmen derer ›Tun‹ als sogenannter Interpretant bzw. Interpretantenfolge aufgefasst werden kann, und von dieser ausgehend den Konfliktbegriff definieren. Daran anschließend möchte ich in einem zweiten Schritt die These aufstellen, dass Religionen, indem sie für eine spezifische Ausgestaltung von Interpretanten sorgen, implizite Sozialitätstheorien bereitstellen und insofern als Konfliktregulierungsinstrumente fungieren (was nicht zwangsläufig heißt: als Konfliktschlichtungsinstrumente). Dieser Vorschlag – Religionen als implizite Sozialitätstheorien zu betrachten – ist möglicherweise nicht atemberaubend neu (man denke etwa an die These Émile Durkheims, dass »die Idee der Gesellschaft die Seele der Religion ist«1), aber in Anbetracht der Tatsache, dass nicht erst seit dem 11. September 2001 zunehmend solche Voten öffentlich Gehör finden, die in »ausnahmslos alle[n] Religionen« nichts anderes als den »Grund für unendliches Leid, ————— 1 É. DURKHEIM, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, aus dem Französischen übers. v. L. SCHMIDTS, Frankfurt a.M. 2007, 614.

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für Massenmorde und ungeheuerliche physische und psychische Gewalt« sehen, um den portugiesischen Literaturnobelpreisträger José Saramago zu zitieren2 –, ist es vielleicht doch nicht ganz unangebracht, darauf hinzuweisen, dass das Bild dessen, was Religion sei oder Religionen seien, differenzierter gezeichnet werden kann und muss. Dabei beanspruche ich, nicht zur Selbstinterpretation einer bestimmten Religion beizutragen (also: Theologie, nämlich christliche bzw. evangelische Theologie, zu betreiben), sondern etwas über die Struktur von Religion überhaupt auszusagen (also: religionsphilosophisch zu argumentieren). (Die bekannten theoretischen Probleme des Religionsbegriffs – kulturbedingte Voraussetzungshaftigkeit und Unschärfe – nehme ich dabei mangels eines besseren Begriffs in Kauf.)

I. Tun als Interpretieren 1. Mit dem ›nicht-begrifflich organisierten Handeln‹ oder ›Tun‹, von dem soeben die Rede war, ist vorläufig – nämlich auf der Ebene einer (vagen und durchaus anfechtbaren) Phänomenbeschreibung – gemeint: ein sich als Bewegung manifestierender Akt, mit dem derjenige, der die Bewegung ausführt, die räumliche Position oder Konfiguration seines Leibes in Verbindung mit einer Absicht verändert. Wer sich die Schuhe zubindet oder den Mantel anzieht, um das Haus zu verlassen, wer Blumen gießt, damit sie nicht vertrocknen, oder Wäsche zum Trocknen aufhängt, wer zur Nachrichtenzeit das Radio einschaltet oder wer den Telefonhörer abnimmt, wenn es klingelt, der tut etwas. ›Nicht-begrifflich organisiert‹ nenne ich dieses Handeln aus zwei Gründen: Zum einen soll es von einem begriffsverwendenden Handeln in Gestalt eines Sprechens unterschieden werden. Denn obwohl die spätestens mit der Sprechakttheorie aufgekommene Einsicht unhintergehbar ist, dass auch Sprechen ein Handeln ist, und obwohl Sprechen stets Bewegung involviert (nämlich die Bewegung von Zwerchfell, Stimmbändern, Zunge und Lippen, ersatzweise von Händen oder Füßen etc.), stellt das Sprechen aus verschiedenen Gründen doch einen besonders komplexen Fall des Handelns dar: Sprechen ist ein Handeln, das mit der Absicht verbunden ist, einem anderen etwas zu verstehen zu geben. Zum anderen soll das nicht-begriffliche Handeln, d.h. das Tun, zusammen mit seinem komplizierteren Zwilling, dem begriffsverwendenden Handeln, d.h. dem Sprechen, von einem begriffsproduzierenden Verstehen – einem Verstehen, das sich wesentlich begrifflich artikuliert, d.h. einem ›Denken‹ – abgegrenzt werden: Denken ————— 2 J. SARAMAGO, Im Namen Gottes ist das Schrecklichste erlaubt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 2001/220 (21.9.2001), Feuilleton, 52.

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kann auch jemand, der geknebelt und an einem Küchenstuhl festgebunden ist, aber tun kann er dann eben gar nichts mehr. Tun im Sinne von absichtsbegleiteter Bewegung im Raum wird hier also als ein Fall von Handeln betrachtet und als solcher dem Sprechen beigesellt, während beide wiederum vom begriffsproduzierenden Verstehen unterschieden werden. Alle drei jedoch, Tun/Sprechen (zusammengefasst als ›Handeln‹) und begriffsproduzierendes Verstehen (›Denken‹), sollen im folgenden gleichermaßen als Bestandteile eines Interpretationsvorgangs behandelt werden: Wer etwas tut oder spricht oder wer etwas versteht, ist stets in einem Prozess des Interpretierens begriffen. Die Basisstruktur, die ich mit Charles Peirce einem jeden Interpretationsvorgang unterstelle, ist so geartet, dass ein sogenanntes ›Zeichen‹ auf ein sogenanntes ›Objekt‹ bezogen wird und auf diese Weise ein Interpretationsresultat erzeugt, einen sogenannten ›Interpretanten‹. Grundsätzlich kann das, was sich als Tun beschreiben lässt – überhaupt ein jedes Handeln (also auch ein Sprechen) und übrigens ebenso das Verstehen –, an allen der drei genannten Funktionsstellen des interpretatorischen Prozesses auftreten; und dementsprechend sind es prinzipiell stets mehrere analytische Perspektiven, von denen aus ein Tun beleuchtet werden kann. Tun kann erstens unter dem Aspekt der Zeichenfunktion betrachtet werden: Dann lautet die Frage, worauf eine – extern beobachtete – Handlung (Zeichen) bezogen wird (Objekt) und was sie auf seiten des Interpretierenden nach sich zieht (Interpretant). Die Antilopenherde, die bemerkt, dass eine ihrer Herdengenossinnen zur Flucht ansetzt, und daraufhin ihrerseits in Bewegung verfällt, auch ohne bereits die Löwin gesichtet zu haben, wertet die Flucht der Antilope als Zeichen für etwas, nämlich eine ihr nahende Gefahr (Objekt), und reagiert entsprechend (Interpretant). Tun kann zweitens unter dem Aspekt der Interpretantenfunktion betrachtet werden: Dann lautet die Frage, worauf (Objekt) ein gegebenes Tun (Interpretant) in welcher Weise (Zeichen) Bezug genommen hat, wie also etwas einem Interpretierenden erschienen ist, damit es jenes Tun veranlassen konnte. Die Antilope, die – um bei ein und demselben Beispiel zu bleiben – sich jäh davonmacht (Interpretant), hat möglicherweise eine sich anpirschende Löwin gesehen (Zeichen) und als Zeichen für eine Bedrohung ihrer selbst (Objekt) gewertet. Und schließlich kann Handeln drittens unter dem Aspekt der Objektfunktion betrachtet werden: Dann lautet die Frage, welches Zeichen auf dieses Objekt mit welchem Resultat bzw. Interpretanten aufmerksam gemacht hat. Der Zoologe, der zusammen mit einem Kollegen die Flucht der Antilope beobachtet hat, sodann den Kollegen ›Löwin‹ murmeln hört und darauf nun zustimmend reagiert, hat die Äußerung ›Löwin‹ auf die beobachtete Flucht der Antilope bezogen, sie also als ein Zeichen für ein Objekt herangezogen, und daraufhin einen

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Interpretanten geformt, der sich ungefähr wie folgt paraphrasieren ließe: ›Jawohl, die Antilope ist vor der Löwin geflohen (und nicht etwa vor einem Krokodil)‹. (Tatsächlich sind begriffsproduzierende Verstehensprozesse wesentlich komplexer strukturiert als soeben angedeutet; doch reicht es hier festzuhalten, dass es sich bei einem begriffsproduzierenden Verstehen um einen Interpretanten anderen Typs handelt als bei einem Handeln bzw. Tun.) Im folgenden soll das Tun ausschließlich unter dem Aspekt der Interpretantenfunktion betrachtet werden: Im Prozess des Interpretierens soll das Tun als das – gewissermaßen ›stromabwärts‹ gelegene (um mich einer nützlichen Metapher Robert Brandoms zu bedienen) – Resultat eines – ›stromaufwärts‹ stattgefundenen – Vorgangs gelten; und dieser Vorgang besteht darin, dass etwas, verstanden als Zeichen, zu etwas anderem, verstanden als Objekt, ins Verhältnis gesetzt wird. Das Tun soll also als Abschluss eines Interpretationsprozesses betrachtet werden. Das widerspricht der Idee vom (eigenen) Tun bzw. Handeln als einem schlechterdings freien ›Anfangen‹; vielmehr wird hier behauptet, dass dem Tun stets etwas vorausliegt: dass es veranlasst sowie auf etwas bezogen ist. Des weiteren ist in der Theorieentscheidung zugunsten des Interpretations- bzw. Interpretantenmodells impliziert, dass Tun weder als Konklusion im Rahmen eines praktischen Syllogismus oder Enthymems noch als nichtinferentieller Diskursausgangszug bzw. als »Anwendung von Begriffen«3 zu behandeln ist: Wer seine Hand auf eine warme Herdplatte legt und sie wegzieht, sobald sie ihm zu heiß wird, hat dazu jedenfalls nicht erst einen Begriff ›heiß‹ herangezogen, dem er entnommen hätte, dass Hitze zu Verbrennungen führt. Das, was dem Tun (als Interpretanten) vorausgeht (das Zeichen und das Objekt), wird hier also weder in jedem Fall als propositional strukturierter Prämissenbestand aufgefasst noch in jedem Fall als implizite Norm. 2. Wenn Tun als Interpretant analysiert werden kann, der per definitionem ein Zeichen und ein Objekt zueinander ins Verhältnis setzt, und wenn das, was einen solchen Interpretationsvorgang in Gang setzt, als Zeichen fungiert, was ist dann das im Tun repräsentierte Objekt? Auf was also wird im Tun, und zwar in einem jeden Tun, Bezug genommen? Da ich hier wie erwähnt voraussetze, dass das Tun, als Interpretant betrachtet, dem begriffsproduzierenden Verstehen (dem Denken) verwandt ist,4 sofern auch ————— 3 R. BRANDOM, Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus, Frankfurt a.M. 2001, 106. 4 ›Tun‹, ›Sprechen‹ und ›begriffsproduzierendes Verstehen‹ sind Begriffe, die beobachtbare Tatsachen – dass wir uns bewegen; dass wir reden; dass wir etwas verstehen, indem wir es in Begriffe, Urteile und Argumente umsetzen – zusammenfassen sollen, während ›Zeichen‹, ›Objekt‹

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dieses als Interpretant analysiert werden kann, bzw. dass das Tun das begriffsproduzierende Verstehen sogar strukturell vorbereitet – da ich also voraussetze, dass die Flucht der Antilope vor der Löwin oder die Flucht der Antilopenherde auf Signal der fliehenden Antilope hin sich strukturell nicht grundsätzlich vom Verstehen des Zoologen unterscheidet –, frage ich zunächst nach der Struktur derjenigen Interpretanten, in denen sich ein begriffsproduzierendes Verstehen manifestiert, um diese Struktur sodann auf nicht-begriffsproduzierende Interpretanten, wie im Tun manifest, zu übertragen. (Dieses Verfahren ist insofern legitim, als im Rahmen des Interpretationsmodells der Umgang mit Begriffen keinen grundsätzlich exponierten Phänomenbereich darstellt bzw. dem Begriff des Begriffs keine modellfundierende Funktion zukommt.) Für diejenigen Interpretanten, die für ein begriffsproduzierendes Verstehen relevant sind, gilt, dass der Interpretierende, an dessen leiblichem Ort die Interpretanten sich bilden, das Zeichen – beispielsweise eine zu verstehende sprachliche Äußerung eines Sprechers – nicht nur auf ein, sondern auf zwei Objekte beziehen und diese darüber hinaus explizit zueinander ins Verhältnis setzen muss. Erstens muss der Interpretierende erfassen, was das Zeichen – die Äußerung des Sprechers – meint: Dies ist das sogenannte ›unmittelbare Objekt‹. Zweitens muss der Interpret dieses gemeinte Objekt innerhalb seines eigenen Erfahrungshorizontes aufsuchen: Dies ist das sogenannte ›dynamische Objekt‹. Am schnellsten lässt diese Unterscheidung (bzw. die Notwendigkeit einer solchen) sich anhand sogenannter Indexwörter (indexicals) erläutern (sie funktioniert jedoch auch für andere Begriffsklassen – besser gesagt: Sie konstituiert diese sogar erst, und zwar je nach Art der Relation zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt). Wer in einer einen Tag alten Zeitung den Satz liest: ›Gestern durchreiste Dr. Dolittle das Königreich Jolliginki‹, der weiß, dass mit dem ›gestern‹ der Tag vor dem Erscheinen der Zeitung gemeint ist, also das Gestern der Sprecher-Instanz – unmittelba-

————— und ›Interpretant‹ reine Strukturbegriffe darstellen und analytische Funktion haben. Die einen liegen also nicht auf derselben Ebene wie die anderen. Den umständlichen und unschönen Terminus ›begriffsproduzierendes Verstehen‹ wähle ich, weil es dabei nicht einfach nur um ein Sprachverstehen geht: Sprachverstehen ist auch in der Befolgung einer sprachlich geäußerten Aufforderung in Gestalt eines bloßen Tuns involviert; und umgekehrt sind es nicht nur sprachliche, sondern auch nichtsprachliche Zeichen, die in Begriffe umgesetzt werden können. Anders als das Tun vollzieht das begriffsproduzierende Verstehen sich jedoch mit dem ultimativen Ziel einer begründeten Zustimmung oder Ablehnung zu einer präsentierten Zeichen-Objekt-Relation; es ist also wahrheits- bzw. gewissheitsorientiert.

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res Objekt –; zugleich weiß er aber auch, dass es sich dabei um sein eigenes Vorgestern – dynamisches Objekt – handelt.5 Ebenso, wie es nicht nur ein Objekt ist, sondern zwei, auf die das Zeichen beim begriffsproduzierenden Verstehen bezogen wird, ist es auch nicht nur ein Interpretant, der dabei ausgebildet wird; es sind auch nicht einmal nur zwei, sondern es sind gleich drei. Der erste, basierende Verstehensprozess, der den Interpretierenden das Zeichen auf dessen unmittelbares Objekt beziehen lässt – also: der ihn unter dem Ausdruck ›gestern‹ das Sprecher-Gestern verstehen lässt –, ist der sogenannte ›unmittelbare Interpretant‹. Die dann einsetzende Suchbewegung nach dem dynamischen Objekt, die Berechnung des räumlichen oder zeitlichen Vektors, der von der Sprecher-Instanz zu ihm selbst als dem Interpretierenden führt – also: die Kalkulation, die den Interpretierenden berücksichtigen lässt, dass zwischen der Sprecher-Äußerung und seinem eigenen Verstehensvorgang die zeitliche Differenz von einem Tag liegt –, ist der sogenannte ›dynamische Interpretant‹. Die abschließende begriffliche Umsetzung des so gefundenen Objekts – also: die Übersetzung des in der Zeitung von gestern gelesenen ›gestern‹ in den Ausdruck ›vorgestern‹ – ist der sogenannte ›normale Interpretant‹. Diese Struktur, die ebenso propositional oder argumentativ gegliederte Verstehensresultate steuert (wenngleich in ausdifferenzierterer Weise), lässt, so lautet hier der Vorschlag, sich auch im Tun wiederfinden, allerdings in reduzierter Form: reduziert, sofern das Tun – als eines, dessen Interpretanten sich nicht begrifflich manifestieren – nicht mehr in die Kategorie des normalen Interpretanten fallen kann. Ein Tun involviert zwar, wie das begriffsproduzierende Verstehen, stets einen unmittelbaren und einen dynamischen Interpretanten; es endet aber mit letzterem: Es führt nicht mehr zu der Formierung eines Begriffs oder eines Urteils oder eines Arguments – es ist nicht wahrheitsorientiert bzw. involviert keine bewusste Billigung einer Aussage oder auch Begründung seitens des Interpretierenden –, sondern es erschöpft sich in dem leiblichen Umgang des Interpretierenden mit etwas oder jemandem: einem Umgang, in dem zwar immer auch die Existenz dessen anerkannt wird, mit dem umgegangen wird, in dem aber nicht über das, mit dem umgegangen wird, auch noch nachgedacht wird. Das Gießen der Blumen ist nicht identisch mit der Reflexion über das Problem, wieviel Gießen die Blumen wohl vertragen können; und das Anziehen des Mantels ist nicht dasselbe wie die Erwägung der Frage, ob der Mantel auch warm genug sei, selbst wenn ein und dasselbe Individuum ————— 5 Der hier praktizierte Umgang mit den Peirceschen Unterscheidungen weicht von der üblichen Peirce-Auslegung, wie sie beispielsweise in dem von F.Y. ALBERTINI/S. ALKIER/ Ö. ÖZSOY vorgelegten Beitrag zu diesem Band vorausgesetzt wird, gezielt ab.

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in ein und demselben Moment jeweils beide Arten von Tätigkeit zugleich ausführen, also etwa beim Gießen der Blumen durchaus über die richtige Wassermenge nachdenken kann. Was also ist nun, um auf die eingangs des Abschnitts gestellte Frage zurückzukommen, das Objekt, auf das in einem Tun, betrachtet als Interpretant bzw. Interpretantenfolge, Bezug genommen wird, bzw. was sind die Objekte? Das illustrieren am deutlichsten diejenigen Interpretanten, die sich in der Folge eines als Aufforderung verstandenen Sprachzeichens bilden. Eine Äußerung wie ›lies!‹ wird von einem (des Deutschen mächtigen) Interpretierenden zunächst als Aufforderung seitens eines Sprechers verstanden werden, er solle lesen. Das in diesem Verstehensresultat – im unmittelbaren Interpretanten – repräsentierte unmittelbare Objekt ist nicht etwa die Tätigkeit des Lesens ›an sich‹, auch nicht die Person des Sprechers als eine solche, die zum Lesen auffordert, sondern die eigene Person des Interpretierenden wie durch den Sprecher konzipiert, nämlich als eine lesende. Falls der Interpretierende sodann der Aufforderung nachkommt, indem er tatsächlich das Buch nimmt und zu lesen beginnt, so bildet er auf diese Weise einen dynamischen Interpretanten aus, in dem als dynamisches Objekt ebenfalls die eigene Person repräsentiert ist, nun allerdings wie durch ihn selbst konzipiert: nämlich wiederum als eine lesende. Falls er sich andererseits der Aufforderung verweigert, dann bildet er einen dynamischen Interpretanten aus, in dem als dynamisches Objekt die eigene Person, konzipiert als eine nicht-lesende, repräsentiert ist. Dasselbe Muster lässt sich auch für ein Tun postulieren, das nicht auf eine sprachliche Äußerung folgt, sondern auf ein nichtsprachliches Zeichen. Wer gemerkt hat, dass es regnet (Zeichen), und daraufhin den Schirm aufspannt (dynamischer Interpretant), der hat als unmittelbaren Interpretanten die Einsicht ausgebildet, dass er dabei ist nasszuwerden, und das in dieser Einsicht repräsentierte unmittelbare Objekt ist er selbst wie durch den Regen affiziert: als nasswerdend. Das in dem Schirm-Aufspannen als dynamischem Interpretanten repräsentierte dynamische Objekt ist wiederum er selbst: diesmal jedoch als die Nässe abwehrend. Ebenso hat die Antilope, die vor der Löwin die Flucht ergreift, die also versucht, sich der Löwin räumlich zu entziehen, begriffen (wenngleich vielleicht auch nur in Gestalt einer Furchtempfindung), dass die Löwin eine Gefahr für sie darstellt – unmittelbarer Interpretant –; und mit ihrer Flucht – dynamischer Interpretant – setzt sie ein Konzept ihrer selbst um, nach dem sie eben nicht von der Löwin gefressen wird. Vermutlich wird die Selbstkonzeption der Antilope weniger komplex ausfallen als die des Spaziergängers, doch gemeinsam haben beide Fälle, dass die jeweils eigene Person (sofern man bei der Antilope von einer solchen sprechen kann) als Leib im Raum repräsentiert wird. (Aus dem Gesagten geht hervor, dass ich den Ausdruck

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›(eigene) Person‹ hier nicht im hochstufigen Kantischen Sinne eines vernünftigen – und damit seiner selbst bewussten – Wesens verwende, sondern als Sammelbezeichnung für das, worauf im degeneraten dynamischen Interpretanten in Form des degeneraten dynamischen Objekts Bezug genommen wird, ganz gleichgültig, wie diese Bezugnahme semantisch ausfällt: gleichgültig also, ob sie nur auf einen Eigenleib abstellt oder aber eine ganze – begrifflich strukturierte – Erzählung umfasst, und gleichgültig, ob sie mit einem elaborierten ›Selbstbewusstsein‹ verbunden ist oder nicht.) Die Beispiele des Schirm-Aufspannens und der fliehenden Antilope illustrieren, dass sowohl das unmittelbare als auch das dynamische Objekt eines Zeichens, das durch ein Tun interpretiert wird, strenggenommen als Relationen zu betrachten sind. Das unmittelbare Objekt besteht in der Relation zwischen dem Interpretierenden und dem durch das Zeichen materialiter Aufgerufenen; es ist die Person des Interpretierenden in seiner durch das Zeichen erzeugten Qualifizierung als etwas: als durch die Löwin bedroht; als nasswerdend; als unter der Erwartung eines Sprechers stehend, er möge lesen. Hingegen besteht das dynamische Objekt in der Person des Interpretierenden, wie diese angesichts des Zeichens durch ihn selbst konzipiert oder ›gewollt‹ oder ›gesetzt‹ wird: Indem die Antilope angesichts der Löwin flieht, konzipiert oder ›will‹ oder ›setzt‹ sie sich als nicht von der Löwin gefressene; indem der Spaziergänger angesichts des Regens den Schirm aufspannt, konzipiert oder ›will‹ oder ›setzt‹ er sich als nicht durch den Regen durchnässt; und indem der Leser auf die Aufforderung hin zum Buch greift, konzipiert oder ›will‹ oder ›setzt‹ er sich als gemäß dem Wunsch des Sprechers Lesender. Nicht die Löwin als solche ist es also, die zur Flucht der Antilope führt, und nicht der Regen als solcher ist es, der den Spaziergänger zum Schirm greifen lässt, sondern die Löwin in ihrer Konsequenz für die Antilope, nämlich als Gefahrenquelle, und der Regen in seiner Konsequenz für den Spaziergänger, nämlich als unangenehme Nässe mit sich bringend. Die Löwin und der Regen ›an sich‹ werden erst durch die Begriffe der Löwin und des Regens thematisiert, denn Begriffe erweitern die Selbstbezugnahme, wie sie im Tun erfolgt, indem sie (wie im Beispiel der Umrechnung des ›gestern‹ in ein ›vorgestern‹) das dynamische Objekt durch eine Verschaltung der Perspektive des Interpretierenden mit der Perspektive des Sprechers (bzw. den Perspektiven möglicher anderer Interpretierenden) erzeugen und so erstere zunehmend verallgemeinern bzw. die jeweils eigene Person sukzessive aus dem dynamischen Objekt ausschalten oder neutralisieren. Ebenso trifft, wer die Aufforderung ›lies!‹ verstanden hat und infolgedessen liest, damit nicht etwa eine Aussage über den Sprecher (etwa der Art: ›vom Sprecher gilt, dass er mich zu lesen auffordert‹), sondern er konzipiert sich selbst so, dass er den Wunsch des Sprechers, er möge lesen, zu seinem eigenen macht.

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An dieser Stelle ergibt sich für solche dynamischen Interpretanten, die auf ein Sprachzeichen Bezug nehmen, offenkundig die Notwendigkeit einer weiteren Differenzierung: Wer der Aufforderung ›lies!‹ nachkommt, der hat das ›lies!‹ nicht nur als Aufforderung zu etwas verstanden, nämlich zu lesen, sondern auch als Aufforderung von jemandem. Dementsprechend ist das unmittelbare Objekt des Zeichens ›lies!‹ nicht einfach nur die Person des Interpretierenden als eine lesende, sondern die Person des Interpretierenden als eine lesende wie vom Sprecher gewünscht oder gefordert. Im unmittelbaren Interpretanten wird vom Interpretierenden verstanden, dass der Sprecher gewissermaßen einen Anspruch auf ihn erhebt, dass er etwas von ihm verlangt. Indem er im dynamischen Interpretanten der Aufforderung gehorcht oder sich ihr verweigert, verhält er sich stets auch gegenüber dem Sprecher. Dementsprechend ist das im dynamischen Interpretanten repräsentierte dynamische Objekt auch nicht einfach die eigene Person als eine dem eigenen Wunsch gemäß lesende oder auch als eine nicht lesende, sondern als eine, die damit zugleich dem Wunsch des Sprechers entspricht oder nicht entspricht. Einiges lässt sich dafür ins Feld führen, die Unterscheidung zwischen verschiedenen Sorten von solchen dynamischen Interpretanten, die auf Sprachzeichen Bezug nehmen, daran zu orientieren, wie der Interpretierende den Sprecher behandelt – als einen beliebigen unbestimmten Sprecher, so dass die Befolgung der Aufforderung nicht von der Autorität des Sprechers abhängt, sondern allein von der Befindlichkeit des Interpretierenden (Lust und Unlust, sozusagen); als einen bestimmten Sprecher, so dass die Befolgung oder Nichtbefolgung der Aufforderung stets eine Stellungnahme gegenüber dem Sprecher impliziert; als jeden möglichen Sprecher, so dass die Befolgung oder Nichtbefolgung der Aufforderung unabhängig vom jeweiligen Sprecher und insofern regelhaft geschieht –, aber dieses Thema soll hier nicht weiter verfolgt werden. An den bisher gewählten Beispielen lässt sich erkennen, dass der dynamische Interpretant in Gestalt von Bewegung sich nicht nahtlos an den unmittelbaren Interpretanten anschließt, sondern gewissermaßen vorbereitet wird: dass ihm also nicht nur der (stets auf das unmittelbare Objekt bezogene) unmittelbare Interpretant vorangeht, sondern auch ein solcher – gleichfalls auf das dynamische Objekt bezogener – dynamischer Interpretant, der zunächst für den Abgleich zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt sorgt. Ich nenne diesen vorbereitenden dynamischen Interpretanten hier in der Terminologie Peirce’ den ›degeneraten‹ dynamischen Interpretanten; und das dynamische Objekt, wie es durch diesen degeneraten dynamischen Interpretanten konstituiert wird, nenne ich ›degenerates‹ dynamisches Objekt. Im degeneraten dynamischen Interpretanten erfolgt die Integration des unmittelbaren Objektes in das degenerate dynamische Objekt – das dynamische Objekt, wie es bisher bestanden hat bzw. besteht –,

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oder aber eine solche Integration wird umgekehrt unterbunden. Im degeneraten dynamischen Interpretanten tritt das degenerate dynamische Objekt also als Bedingung des unmittelbaren auf. Durch die ›Addition‹ des unmittelbaren Objekts wird das degenerate (das schon bestehende) dynamische Objekt bestätigt oder verändert, nämlich erweitert oder eingeschränkt. Erst in dieser bestätigten oder veränderten Form wird es – dann als genuines dynamisches Objekt – im voll ausgebildeten dynamischen Interpretanten repräsentiert, der aus diesem Grund (und ebenfalls in Peircescher Terminologie) hier ›genuin‹ heißen soll. In eine Beschreibung auf psychologischer Ebene übersetzt: Im degeneraten dynamischen Interpretanten findet die Entscheidung statt, ob von der Basis der je bestehenden Selbstkonzeption aus der Vorschlag oder die Aufforderung, wie sie im unmittelbaren Interpretanten verstanden worden ist, akzeptiert oder abgelehnt wird: ob der Interpretierende sich so ›will‹, wie im unmittelbaren Interpretanten vorgesehen oder vorgeschlagen, ob er also die Möglichkeit, die mit dem unmittelbaren Objekt eröffnet wird, umsetzt oder nicht. Die Antilope wählt vor dem Hintergrund ihrer bereits bestehenden Selbstkonzeption, ob sie gefressen werden möchte oder nicht, ob also das Gefressenwerden zu ihrer bestehenden Selbstkonzeption passt oder nicht, und ihr Tun wird sich an dieser Entscheidung orientieren. Der Spaziergänger entscheidet auf der Basis seines Selbstverständnisses (einschließlich seiner gegenwärtigen Befindlichkeit und Laune), ob er sich nassregnen lassen möchte oder nicht. Und der Adressat des ›lies!‹ erwägt, ob es sich mit seinem Selbstverhältnis vereinbaren lässt oder nicht, wenn er der Aufforderung zu lesen Folge leistet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der dynamische Interpretant insgesamt – nämlich: in beiden Formen, der degeneraten wie der genuinen, und gleichgültig, ob im Zusammenhang von Tun oder von Denken – in einer Selbstpositionierung des Interpretierenden in Raum und/oder Zeit besteht. Im Tun nimmt diese Selbstpositionierung die Gestalt von Bewegung im Raum an, mit der die eigenen Raum-Koordinaten im Verhältnis zu anderem verändert werden. Im Denken nimmt sie die Gestalt einer Berechnung des räumlichen und bzw. oder zeitlichen Verhältnisses zwischen dem Interpretierenden und dem Sprecher an. (Diese unübersehbare Strukturanalogie ist übrigens das entscheidende Argument dafür, Tun und Denken wie hier vorgeschlagen im Rahmen ein und desselben Modells zu analysieren, also gleichermaßen als Fälle von Interpretation auszuweisen und das Tun dabei als den strukturellen Vorläufer des Denkens zu behandeln.) Alle dynamischen Interpretanten jedoch, sowohl die des Tuns als auch die des Denkens, teilen zwei Voraussetzungen. Das Zeichen, erstens, wird als eine Art von Aufforderung aufgefasst: Wer handelt (oder auch ein bestimmtes Handeln verweigert) oder wer, um etwas zu verstehen, sein Verhältnis zu

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einem anderen bestimmt, der wähnt sich dazu aufgefordert. Das dynamische Objekt, zweitens, ist im dynamischen Interpretanten als etwas leiblich Existierendes konzipiert: Im degeneraten dynamischen Interpretanten wird es als etwas leiblich Existierendes von einer bestimmten qualitativen Beschaffenheit konzipiert, die darüber entscheidet, ob das unmittelbare Objekt integrierbar ist oder nicht; und im genuinen dynamischen Interpretanten wird es als in zumindest faktischer Relation zu anderem Existierenden stehend konzipiert6 – sonst wäre im Falle des Tuns keine leibliche Bewegung erforderlich, um dieses Verhältnis zu verändern, und sonst wäre im Falle des Denkens kein Abgleich zwischen Interpretierenden- und Sprecherperspektive erforderlich, um sich zu diesem Verhältnis in Gestalt des Verstehens zu verhalten. 3. Das hier skizzierte semiotische oder interpretationstheoretische Modell ist mit einer Reihe von handlungstheoretischen Implikationen verbunden, von denen hier nur sechs knapp angedeutet werden sollen. Erstens: Die Topoi des Ziels bzw. der Zielwahl und des Mittels bzw. der Mittelwahl, die seit Aristoteles und seinem in der Nikomachischen Ethik verwendeten Bild des erst anvisierenden und dann den Pfeil abschießenden Bogenschützens die Ethik bzw. Handlungstheorie über weite Strecken dominiert, entfallen. Stattdessen wird die Funktionsstelle des Ziels gewissermaßen durch unmittelbares und dynamisches Objekt bzw. durch die Relation beider zueinander eingenommen (das postulierte oder vorgeschlagene ›Ziel‹ erscheint im unmittelbaren Objekt, das akzeptierte oder selbstgewählte im dynamischen Interpretanten); und die Funktionsstelle des Mittels wird durch den genuinen dynamischen Interpretanten (das tatsächliche Tun) besetzt. Das Panorama, das auf diese Weise gezeichnet wird, sieht also nicht so aus, dass der Handelnde zuerst (rational kontrolliert) ein Ziel ins Auge fassen und dann, in einem nachgeordneten Moment, das passende Mittel wählen würde (so dass es infolgedessen die Aufgabe der Ethik wäre, Ziel- und Mittelwahl zu normieren). Es sieht auch nicht so aus, dass der Handelnde zunächst einen Willensakt vollziehen und diesen sodann in eine Bewegung umsetzen würde (so dass es infolgedessen Aufgabe der Ethik wäre, den Willensakt zu beurteilen). Das Panorama sieht vielmehr so aus, dass mit dem Tun als einem Interpretationsresultat bereits ein bestimmtes ›Ziel‹ gewählt, das heißt: eine bestimmte Selbstpositionierung vorgenommen worden ist. Außerhalb eines solchen Interpretationsresultates oder ————— 6 D.h. im Zusammenhang des zehntrichotomischen Zeichenklassifikationssystems von CH.S. PEIRCE (vgl. z.B. Collected Papers, ed. A.W. BURKS, vol. 8, Cambridge, MA 1958, §§363–375), in der hier von mir vorausgesetzten Lesart: als concretive (2. Unterscheidung der 3. Trichotomie) – das abstractive (1. Unterscheidung der 3. Trichotomie) bildet im Höchstfall einen degeneraten dynamischen Interpretanten aus.

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unabhängig von diesem kann von einem ›Ziel‹ schlechterdings nicht gesprochen werden: Das dynamische Objekt ist immer nur mit oder in einem dynamischen Interpretanten gegeben, durch den es repräsentiert wird. Jenseits einer solchen Repräsentation in Form eines Interpretanten kann auch nicht von einem Objekt gesprochen werden. Zweitens: Das, was wir im strengen Sinne als ›Gründe‹ bezeichnen, gehört schlechterdings nicht in den dynamischen Interpretanten, sondern in den normalen und insofern ins Denken, nicht ins Tun. Als Gründe dienen Sachverhalte, die durch propositional strukturierte Sätze – Begründungen – repräsentiert werden. Derartige Sätze erfordern seitens dessen, der sie vorträgt, einen vorangegangenen Akt der Zustimmung; und der, der sie vorträgt, unterstellt seinerseits, dass auch andere zustimmen könnten. Ein Grund wird demnach angeführt, um ein bestimmtes Urteil intersubjektiv zu rechtfertigen oder zu bestreiten, ebenso, um eine artikulierte Absicht vorgreifend zu plausibilisieren – ›ich werde/sollte den Schirm aufspannen, denn es regnet‹ – oder um ein bereits erfolgtes Tun nachträglich zu rechtfertigen – ›ich habe den Schirm aufgespannt, denn es regnet‹ –, also: um Zustimmung zu einem angekündigten oder bereits als durchgeführt beschriebenen Tun einzuwerben. Das Tun selbst jedoch erfolgt keineswegs aus einem Grund, sondern aus einem Interesse: Wer den Schirm aufspannt, der hat ein Interesse an sich selbst dergestalt, dass er trotz des Regens trocken bleiben möchte. Und wer es umgekehrt für durchaus angebracht hält, den Schirm aufzuspannen, wenn es regnet, mag den Schirm dennoch unter Umständen geschlossen halten: nämlich dann, wenn er einer Selbstkonzeption folgt, in der Nasswerden, jedenfalls in diesem Moment, präferiert wird. Damit wird hier einer uneingeschränkten Parallelisierung von Denken und Tun, beispielsweise in Gestalt einer Parallelisierung sogenannter ›Basissätze‹ mit sogenannten ›Basishandlungen‹, widersprochen: Zwar haben Gründe und Interessen gemeinsam, dass sie beide Manifestationen – oder vielleicht besser: Funktionen – dynamischer Objekte sind – Interessen sind für das Tun das, was für das Denken Gründe sind, und Interessen können durchaus zu Gründen werden –, aber Gründe sind eben auf dynamische Objekte beschränkt, wie sie von normalen Interpretanten konstituiert werden, während Interessen dynamischen Objekten zuzuordnen sind, wie sie durch dynamische Interpretanten konstituiert werden. Ebenso sind die dynamischen Interpretanten des Denkens mit denen des Tuns zwar grundsätzlich strukturanalog, doch fallen erstere komplexer aus als letztere. Drittens: Der ›Wille‹, insofern er üblicherweise als psychisches Phänomen aufgefasst wird, spielt im vorliegenden Modell keine Rolle. Die Funktionsstelle, die der ›Wille‹ in einigen Arten von Handlungstheorie besetzt, wird hier durch den degeneraten dynamischen Interpretanten eingenommen, in dem der Abgleich zwischen unmittelbarem und dynami-

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schem Objekt erfolgt (indem diese beiden als identisch behandelt werden oder als miteinander vereinbar oder als unvereinbar), so dass das degenerate dynamische Objekt auf diese Weise ggf. einem Veränderungsprozess unterzogen wird. Das Motiv, den ›Willen‹ durch Reduktion auf eine handlungstheoretisch bestimmbare Funktion zu entpsychologisieren, hat einen – entfernten – Vorläufer bei Immanuel Kant, demzufolge der – sofern an Gesetzen orientierte – »Wille nichts anders als praktische Vernunft«7 sei. Viertens: Auch wenn der ›Wille‹ im vorliegenden Modell keine Rolle mehr spielt, so ist damit nicht gesagt, dass er etwa in ein Tun aufgelöst worden wäre, wie es der logische Behaviourismus vertritt. Stattdessen werden eben hier degenerater und genuiner dynamischer Interpretant unterschieden; mehr noch, es wird unterstellt, dass es Interpretationsprozesse gibt, die in einem degeneraten dynamischen Interpretanten enden, die also kein Tun mehr nach sich ziehen, und dass es überdies Interpretationsprozesse gibt, deren dynamisches Objekt so strukturiert ist, dass sie mit einem degeneraten dynamischen Interpretanten enden müssen und eines genuinen dynamischen Interpretanten gar nicht mehr fähig sind. Fünftens: Gar nicht in den Kontext einer semiotischen Interpretationsbzw. Handlungstheorie gehören ›Ursachen‹; sie haben hier schlicht keinen Ort. Der Begriff der Ursache ist ein erst materiales Resultat bestimmter Interpretationsprozesse: zweifellos ein außerordentlich nützliches, aber keines, das erklären würde, wie Interpretationsprozesse als solche funktionieren. Ein Tun durch Rekurs auf Ursachen zu erklären, ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Oder, umgekehrt: Was immer durch den Rekurs auf Ursachen erklärt werden kann, kann jedenfalls nicht auch gleichzeitig als Tun bzw. als Interpretant beschrieben werden. Sechstens: Die Tier-Beispiele (Antilopen und Löwinnen), die unter methodischem Aspekt natürlich mit Fragezeichen versehen werden müssen, sind hier deshalb gewählt worden, um zweierlei zu behaupten bzw. deutlich zu machen: ›Subjektivität‹ muss im Rahmen einer langen Abfolge verschiedenartiger Prozesse verstanden werden und bildet sich graduell heraus; dabei spielt der eigene Leib, wie er in den dynamischen Interpretanten in Form des dynamischen Objekts repräsentiert ist, bzw. die Bezugnahme auf denselben durch den Interpretierenden eine wesentliche Rolle. Die sachlogische Reihenfolge verläuft also vom Tun hin zu einem voll ausgebildeten ›Selbstbewusstsein‹, nicht andersherum: Nicht setzt Tun zwingend ›Selbstbewusstsein‹ voraus, sondern umgekehrt. Und: Einige jener Prozesse sind ————— 7 I. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 36; zitiert nach: Kants Werke. Akademie-Textausgabe. Unveränderter photomechanischer Nachdruck des Textes der von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1902 begonnenen Ausgabe von Kants gesammelten Schriften, Bd. IV, Berlin 1968, 412, Z. 29f.

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so strukturiert, dass postuliert werden darf, dass sie bei weniger ausdifferenzierten (bzw. bei nicht-begriffsverwendenden Lebewesen) zumindest auftreten könnten. Eine scharfe Abgrenzung begriffsverwendender von nicht-begriffsverwendenden Lebewesen (wie man sie v.a. in Kantischer Tradition und jüngst besonders pointiert bei Brandom findet) wird hier also abgelehnt. 4. Konflikte können im Rahmen des vorliegenden Modells so beschrieben werden, dass sie aus Kollisionen zwischen dem unmittelbaren und dem degeneraten dynamischen Objekt eines Zeichens erwachsen. Damit sind sie primär im degeneraten dynamischen Interpretanten verortet. Denn wo das degenerate (das bestehende) dynamische Objekt keine Integration des unmittelbaren Objekts erlaubt, dort bildet sich ein Konflikt heraus, und zwar zwischen dem Interpretierenden einerseits, wie in Form des degeneraten dynamischen Objekts konzipiert, und seinem mit dem unmittelbaren Objekt gesetzten aktualen Korrelat andererseits: der Löwin im Falle der Antilope, dem Regen im Falle des Spaziergängers, dem Sprecher im Falle des zum Lesen Aufgeforderten. Dieser Mechanismus gilt sowohl für die degeneraten dynamischen Interpretanten des Tuns als auch für die des Denkens. Im Denken tritt der Konflikt zwischen dem Interpretierenden und dem Sprecher auf, indem der Interpretierende die von dem Sprecher vorgetragene Aussage verneint: indem er nämlich zwischen dem Zeichen und dem degeneraten dynamischen Objekt eine andere oder sogar kontradiktorisch entgegengesetzte Beziehung herstellt als zwischen dem Zeichen und dem unmittelbaren Objekt, also: indem er das degenerate dynamische Objekt anders qualifiziert als durch den Sprecher vorgeschlagen (›dieser Schirm ist trocken‹ – ›nein, dieser Schirm ist doch nass‹). Im Tun tritt der Konflikt zwischen dem Interpretierenden und seinem das unmittelbare Objekt mitkonstituierenden Koreferenten auf, indem der Interpretierende die durch das Zeichen mit seinem unmittelbaren Objekt eröffnete Möglichkeit nach Maßgabe des degeneraten dynamischen Objektes ablehnt: indem er also die Fremdkonzeption der eigenen Person vor dem Hintergrund einer bestehenden Selbstkonzeption zurückweist. Die Antilope, die angesichts der Löwin flieht, hat zuvor entschieden, dass der ›Vorschlag‹, der mit dem Auftreten der Löwin verbunden ist, nämlich dass sie, die Antilope, gefressen werde, mit ihrer eigenen ›Vorstellung‹ von sich selbst inkompatibel ist, so dass sie in Konflikt mit der Löwin geraten ist. Der Spaziergänger, der den Schirm aufspannt, hat zuvor entschieden, dass der ›Vorschlag‹ nasszuwerden, der mit dem Auftreten des Regens verbunden ist, mit seiner eigenen Vorstellung von sich selbst inkompatibel ist, so dass er – gewissermaßen – in Konflikt mit dem Regen geraten ist. Und der Leser, der die Aufforderung zu lesen nicht befolgt, hat zuvor entschieden, dass diese

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Aufforderung mit seiner eigenen Vorstellung von sich selbst inkompatibel ist, so dass er in Konflikt mit dem Sprecher geraten ist. Im genuinen dynamischen Interpretanten eines Tuns, in dem das durch den degeneraten dynamischen Interpretanten transformierte genuine dynamische Objekt repräsentiert wird, schlägt ein solcher Konflikt sich in Gestalt von Bewegung gegenüber dem Konfliktpartner nieder: Zu ihm wird räumlicher Abstand (im Fluchtfall) oder (im Angriffsfall) räumliche Nähe gesucht. Die Flucht der Antilope besteht darin, dass sie Strecke zwischen sich und die Löwin bringt; das Schirm-Aufspannen läuft darauf hinaus, dass der Spaziergänger zwischen sich und dem Regen eine Trennwand aufbaut. Oder es werden bestimmte Bewegungen anstatt ausgeführt einfach unterlassen: Wenn der zum Lesen Aufgeforderte sich entschieden hat, nicht zu lesen, so lässt er das Buch eben liegen. In jedem Fall sind Konflikte nicht erst im genuinen dynamischen Interpretanten angesiedelt, sondern schon im degeneraten. Auch Gewalt beginnt nicht erst mit tatsächlichen Kampfhandlungen (mit einem Tun), sondern damit, dass eine von außen herantretende Fremdkonzeption so vital mit der bestehenden eigenen Selbstkonzeption kollidiert ist, dass diese Selbstkonzeption schließlich in Richtung einer tatsächlichen Feindschaft zum anderen bzw. eines tätlichen Angriffs auf den anderen, von dem die Fremdkonzeption ausgeht, erweitert oder verändert wird (genuiner dynamischer Interpretant). Was eine solche Ausübung von Gewalt betrifft, so ist diese stets nicht-reziprok (und insofern problematisch): Denn der Interpretierende verweigert, indem er seinen Konfliktpartner zu schädigen oder zu beeinträchtigen versucht, diesem das Recht, das er sich selbst nimmt: das Recht auf ungehinderte Durchsetzung seiner Selbstkonzeption in Form eines genuinen dynamischen Interpretanten.

II. Religion als implizite Sozialitätstheorie 1. Auch wenn unmittelbare, dynamische und normale Interpretanten systematisch unterschieden werden müssen, sofern sie je unterschiedlich strukturierte Verstehensresultate darstellen, findet ab einer bestimmten Komplexitätsstufe dennoch eine Rückkoppelung vom normalen zum unmittelbaren und zum dynamischen Interpretanten statt. Denn sowohl unmittelbares als auch degenerates dynamisches Objekt können in den Interpretanten in klassifizierter Gestalt auftreten: Sie können als etwas erscheinen und sind dann begrifflich strukturiert. Das heißt: Der Interpretierende versteht sowohl sich selbst (degenerates dynamisches Objekt) als auch den Sprecher, der mit einem Anspruch oder einer

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Aufforderung an ihn herantritt (unmittelbares Objekt), im Rahmen von Allgemeinbegriffen: Er versteht sich als Bruder des anderen oder den anderen als Stammesgenossen seiner selbst; er versteht sich als Nachbarn des anderen oder den anderen als Fremden; er versteht sich als Feind des anderen oder den anderen als seinen Freund, etc. Diese Allgemeinbegriffe oder Klassifikationen steuern den Abgleich oder die Vermittlung zwischen dem degeneraten dynamischen Objekt und dem unmittelbaren Objekt, wie sie im degeneraten dynamischen Interpretanten vorgenommen werden: Versteht der Interpretierende den Sprecher als seinen Feind, wird er kaum geneigt sein, das unmittelbare Objekt in das degenerate dynamische Objekt zu integrieren, also seine Selbstkonzeption um die ihm durch den Sprecher angebotene Konzeption seiner selbst zu erweitern. Versteht er ihn umgekehrt als Freund, wird er vielleicht sogar geneigt sein, eine solche Konzeption seiner selbst zu akzeptieren, die er seitens eines anderen ablehnen würde. Das genuine dynamische Objekt – das Objekt, wie es im genuinen dynamischen Interpretanten repräsentiert ist – ist erst das Ergebnis dieses Prozesses: die im Tun realisierte Selbstkonzeption, die sich auf dem Boden des bisherigen Selbstverständnisses des Interpretierenden ergibt und zugleich der neuen Situation bereits angepasst ist. Eine derartige begrifflich konfigurierte Selbstkonzeption kann – das ist eine der Leistungen der Aufklärung gewesen – so allgemein ausfallen, dass sie zuletzt mit dem Begriff einer Menschheit operiert, durch die der Interpretierende sich mit seinem Gegenüber in jeder möglichen Situation vermittelt weiß. Paradigmatisch ist dieser Vorschlag bei Kant formuliert, der – im Kontext einer Unterscheidung von Zwecken und Mitteln – die Entwicklung einer »Vorstellung dessen« verlangt, »was notwendig für jedermann Zweck ist«: »[...] die vernünftige Natur existirt als Zweck an sich selbst. So stellt sich nothwendig der Mensch sein eignes Dasein vor; so fern ist es also ein subjectives Prinzip menschlicher Handlungen. So stellt sich aber auch jedes andere vernünftige Wesen sein Dasein zufolge eben desselben Vernunftgrundes, der auch für mich gilt, vor; also ist es zugleich ein objectives Prinzip [...].« Die Anerkennung nicht nur des jeweils anderen, sondern eines jeden überhaupt möglichen anderen als eines solchen, der zu derselben Gattung vernünftiger Wesen gehört wie man selbst, bzw. die Wiedererkennung der eigenen Person in einer jeglichen anderen und damit die Subsumption beider unter eine gemeinsame Obermenge, die alle vernünftigen Individuen umfassen soll, erlaubt nicht nur, sondern verlangt sogar die Formulierung einer allgemeinen Maxime, die für jeden gilt bzw. von jedem akzeptiert werden können soll: »Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß

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als Mittel brauchst.«8 Die Konsequenz dieses Vorschlags ist eine grundsätzliche Konfliktvermeidung oder zumindest -entschärfung: Denn wenn der Interpretierende sein jeweiliges Gegenüber immer schon als quasi identisch mit sich selbst betrachtet, bedeutet das auch, dass es zumindest nach Maßgabe der Vernunft keine unauflöslich widerstreitenden Interessen geben kann. Darin liegt die Pointe des Kategorischen Imperativs: Wenn der mein eigenes Tun leitende Wille immer schon zur allgemeinen Regel werden können soll, die nicht nur in jeder anderen analogen Situation für mich selbst, sondern gleichermaßen auch für mein Gegenüber zu gelten hätte, dann ist keine Situation denkbar, die es rechtfertigen bzw. überhaupt noch erfordern würde, dass ich meine eigenen Interessen gegen die des anderen in Stellung brächte, weil ich, indem ich die Interessen des anderen wahrnehme, eben immer auch meine eigenen verfolge. »Denn das Subject, welches Zweck an sich selbst ist, dessen Zwecke müssen, wenn jene Vorstellung bei mir alle Wirkung thun soll, auch, so viel möglich, meine Zwecke sein.«9 Die politische Konsequenz, die Kant daraus ganz folgerichtig zieht, besteht in der Forderung eines föderalen Bundes republikanisch verfasster Staaten, eines globalen Völkerstaats oder einer »Weltrepublik«10, die ihren untereinander gleichgestellten Bürgern – den ›Weltbürgern‹ – ›ewigen Frieden‹ garantieren soll. 2. Was nun haben – um nach all diesen Ausführungen über die zugrunde gelegte Rahmentheorie endlich zum Leitthema des Bandes zu gelangen – Konflikte mit Religion zu tun? Oberflächlich betrachtet liegt die Antwort auf der Hand: Religion kann die Motive oder Anlässe liefern, die Konflikte entstehen lassen; sie kann den Gegenstand abgeben, um den Konflikte sich drehen; sie kann die Ziele liefern, um deretwillen Konflikte ausgekämpft werden; und zuweilen liefert sie sogar die Mittel, um Konflikte auszutragen. Unleugbar bietet allein schon die christliche Religionsgeschichte Europas und Vorderasiens einen überreichen Fundus an Fällen, von den Christenverfolgungen der Antike und Gegenwart bis zu den von Christen ihrerseits organisierten Zwangstaufen, Kreuzzügen oder Judenverfolgungen des Mittelalters, den Religionskriegen der frühen Neuzeit, dem jahrhundertelang schwelenden Irland-Konflikt oder auch den biblischen Rechtfertigungen des zweiten Golfkrieges durch George W. Bush und Teile seiner Administration. Und so weiter. ————— 8 Alle bisherigen Zitate in diesem Absatz: I. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 66, zitiert nach: Ebd., 429, Z. 2–7.10–12. 9 I. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 69; zitiert nach: Ebd., 430, Z. 24–26. 10 I. KANT, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, BA 37; zitiert nach: Ebd., Bd. VIII, 357, Z. 14.

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Die hier jedoch zu vertretende These lautet: Religion schleust in das degenerate dynamische Objekt einzelsituationsunabhängige bzw. -externe Faktoren ein – Kräfte, Ahnen, Geister, Götter, Gott, das Universum etc. –, welche, indem sie über die Integration des unmittelbaren Objekts entscheiden, die Funktion von Allgemeinbegriffen übernehmen. Religiös ist eine Selbstkonzeption demzufolge dann, wenn der Interpretierende sich zu einem solchen situationstranszendierenden Faktor in Beziehung setzt, von dem sodann die Reaktion auf Fremdkonzeptionen der eigenen Person abhängig gemacht wird. (Religion setzt darum voraus, dass der Interpretierende sich als zeitlich und räumlich stabiles bzw. mit sich identisches Selbst weiß und sowohl über Erinnerungen an die eigene Person verfügt als auch im Blick auf diese Zukünftiges antizipieren kann.) Der Einbau eines solchen situationstranszendierenden Faktors in das degenerate dynamische Objekt kann zunächst grundsätzlich auf zweierlei Weise erfolgen. Er kann erstens erfolgen, indem der Interpretierende seine eigene Person so konzipiert, dass sie selbst als mit jenem Faktor verbunden erscheint bzw. mit ihm zur Einheit zusammengezogen wird. Im Falle einer Kollision zwischen degeneratem dynamischen und unmittelbarem Objekt wird der resultierende Konflikt zwischen dem Interpretierenden und seinem Konfliktpartner durch den situationstranszendierenden Faktor reguliert, indem dieser Faktor als die eigene Person und deren Verhalten bestimmend gedacht wird: Beispielsweise weiß in einem solchen Konflikt der Interpretierende sich gegenüber seinem Konfliktpartner durch die Gottheit vertreten, oder er wähnt sich dem Einfluss der Gottheit ausgesetzt. Das entspricht insofern der Funktion eines Allgemeinbegriffes, als dem situationstranszendierenden Faktor seine verhaltensbestimmende Wirkung nicht nur in der jeweils gegenwärtigen Situation, sondern potentiell auch in anderen Situationen zugestanden wird. Und zweitens kann der Einbau des situationstranszendierenden Faktors in das degenerate dynamische Objekt erfolgen, indem der Interpretierende sich als immer schon zur beliebigen Person eines anderen in Beziehung stehend konzipiert und dabei nicht seine eigene, sondern eben die Person des anderen als mit jenem situationstranszendierenden Faktor verbunden versteht. Im Falle einer Kollision zwischen degeneratem dynamischen und unmittelbarem Objekt wird der resultierende Konflikt zwischen dem Interpretierenden und seinem Konfliktpartner durch den situationstranszendierenden Faktor reguliert, indem dieser Faktor – wiederum wie ein Allgemeinbegriff – gewissermaßen als Vorzeichen fungiert, das vor die leere Variable des je anderen gesetzt wird und somit reguliert, wie im konkreten Fall mit dem anderen umgegangen werden soll. Auf diese Weise stellt Religion – gleichgültig, um welche von beiden Varianten es sich handelt – dem Interpretierenden gewissermaßen eine Sozialitätstheorie zur Verfügung, die das Verhältnis zum anderen durch die

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Bezugnahme auf jenen situationstranszendierenden Faktor ordnet. (›Theorie‹ ist in diesem Zusammenhang niederstufig gemeint, in dem Sinne, in dem beispielsweise im Angelsächsischen von theory of mind gesprochen wird: nämlich als einer zwar propositional formulierbaren, aber zumeist unformuliert bleibenden Unterstellung oder Überzeugung oder Grundannahme, aufgrund derer ein bestimmtes Handeln erfolgt.) Die Bezugnahme auf einen situationstranszendierenden Faktor kann – und das wäre schließlich ein dritter Typ von Religion – ihrerseits explizit gemacht werden, nämlich dann, wenn sie als solche es ist, die für die Selbstkonzeption in Anspruch genommen wird: wenn also das degenerate dynamische Objekt so erscheint, dass die eigene Person als auf jenen situationstranszendierenden Faktor Bezug nehmend (als ›glaubend‹) erscheint, und über die Integration des unmittelbaren Objektes auf dieser Basis entschieden wird. 3. Illustriert werden soll diese These im folgenden anhand von einigen Beispielen, in denen das degenerate dynamische Objekt eines im Zusammenhang eines Tuns auftretenden degeneraten dynamischen Interpretanten jeweils unterschiedlich ausgestaltet wird. Ich füge ausdrücklich hinzu, dass keine Sozialgestalt von Religion exklusiv mit einem bestimmten Typus von Religion im hier skizzierten Sinne zu identifizieren ist, sondern dass in ein und derselben Sozialgestalt von Religion sich unterschiedliche Typen manifestieren können (und offenbar zumeist auch manifestiert haben). Die Belege, die im folgenden angeführt werden, sollen also nicht so sehr spezifische positive Religionen oder Konfessionen, sondern vielmehr eben Typen von Religion bezeugen, die ihrerseits durchaus kumuliert auftreten können. (1a) Ein Beleg für den ersten Typ von Religion ist bei Homer artikuliert. Sobald in der Ilias Situationen geschildert werden, in denen das Verhalten des Protagonisten zu seinem jeweiligen Gegenüber durch Affekte umgelenkt wird, kommen die Götter ins Spiel, und zwar so, dass sie die Selbstkonzeption des Betreffenden in Gestalt seiner affektiven Grundeinstellung zu seinem jeweiligen Konfliktpartner verändern: Der Akteur steht mit den Göttern derart in Verbindung, dass diese über sein seelisches Gefüge bestimmen. So heißt es gleich in der achten Zeile des ersten Gesangs, nachdem Achill und Agamemnon eingeführt sind, die, obwohl sie im Kampf gegen Troja ja eigentlich als Verbündete auftreten sollten, nun aneinandergeraten sind: »Wer von den Göttern reizte sie auf zu feindlichem Hader?«11 Die Antwort, die in der nächsten Zeile gegeben wird, lautet: der Sohn Letos mit Zeus, also: der Gott Apollon, der bekanntlich auf der Seite Trojas steht. ————— 11 HOMER, Ilias. Griechisch und deutsch. Mit Urtext, Anhang und Registern, übers. v. H. RUPÉ, Düsseldorf 132008, 7.

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Nur wenige Verse später ist es wieder eine Göttin, nämlich Hera, die Achill, als dieser angesichts des von Apoll angerichteten Massensterbens im Heereslager eine Versammlung einberuft, plötzlich dafür plädieren lässt, entgegen der ursprünglichen Absicht doch lieber wieder abzuziehen: »Also bewegte sein Herz die lilienarmige Here«12. Die dann folgende Episode hat Bruno Snell kommentiert: »Gleich am Anfang der Ilias, als der Streit zwischen Agamemnon und Achill entbrannt ist, verlangt Agamamnon von Achill die Herausgabe der Briseis und reizt Achill so sehr, daß dieser nach seinem Schwert greift und sich überlegt, ob er es gegen Agamemnon ziehen soll. Da erscheint Athena (sie erscheint, wie ausdrücklich gesagt wird, dem Achill allein); sie hält ihn zurück und ermahnt ihn, seinem Zorn nicht nachzugeben; schließlich würde es doch sein Vorteil sein, wenn er sich jetzt zurückhielte. Sofort folgt Achill der Mahnung der Göttin und stößt sein Schwert in die Scheide zurück. [...] [D]aß er nicht gegen Agamemnon losstürzt, ließe sich auch aus seinem Inneren erklären: das Eingreifen der Athena stört für uns eher die Motivation, als daß es sie plausibel macht. Aber für Homer ist hier die Gottheit notwendig. Wir würden hier eine ›Entscheidung‹ Achills einsetzen, seine eigene Überlegung und seine eigene Tat. Aber bei Homer fühlt sich der Mensch noch nicht als Urheber seiner eigenen Entscheidung: das gibt es erst in der Tragödie. Bei Homer fühlt sich der Mensch, wenn er nach einer Überlegung einen Entschluß gefaßt hat, bestimmt durch die Götter. [...] Es fehlt bei Homer das Bewußtsein von der Spontaneität des menschlichen Geistes, d.h. das Bewußtsein davon, daß im Menschen selbst Willensentscheidungen oder überhaupt irgendwelche Regungen und Gefühle ihren Ursprung haben. Was für die Geschehnisse im Epos gilt, gilt auch für das menschliche Fühlen, Denken und Wollen: es hat seinen Anfang bei den Göttern. [...] [W]as später als ›Innenleben‹ interpretiert wird, stellte sich ursprünglich als Eingriff der Götter dar.«13 Auf diese Weise ist die Ilias von Anfang bis Ende von den Interventionen der Götter durchzogen; und sie schließt mit der Schilderung im 24. Gesang, wie, als der alte Priamos in das Feldlager Achills gefahren kommt, um zwölf Tage Kampfaufschub für die Totenklage über Hektor zu erwirken, und dort, inmitten seiner Feinde, in aller Seelenruhe übernachten zu können meint, es der Gott Hermes ist, der ihn aus dem Schlaf hochschreckt, um in ihm berechtigte Angst vor Agamemnon wachzurufen und ihn so zur heimlichen Rückkehr ins sicherere Troja anzutreiben.14 In der Odyssee wird die einstellungskonfigurierende und dadurch verhaltenssteuernde Einwir————— 12

HOMER, Ilias I,55; zitiert nach: Ebd., 9. B. SNELL, Die Entstehung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 71993, 35f. – Vgl. HOMER, Ilias I,188–222; zitiert nach: DERS., Ilias, übers. v. H. RUPÉ, 17. 14 Vgl. HOMER, Ilias XXIV, 682–689; zitiert nach: Ebd., 855. 13

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kung der Götter auf den Interpretierenden dadurch noch überboten, dass dieser den durch die Gottheit hervorgerufenen Sinneswandel an sich selbst bemerkt und ihn als Indikator für das Eingreifen jener heranzieht. So etwa Telemach, der zu Beginn der Odyssee die Göttin Athene in der Gestalt des Gastfreundes Mentes begrüßt und ihr seine Verzweiflung über das Verschollensein des Vaters, die desolate wirtschaftliche Situation des Hofes und das Erpresserverhalten der Freier klagt: »Athene mit Augen der Eule, / Flog aber auf wie ein Vogel. Doch senkte sie Kraft ihm und Kühnheit / Tief ins Gemüt, daß er mehr noch als früher des Vaters gedenke. / Wunderlich ward ihm zumut, er versank in Denken und Sinnen, / Ja, er ahnte, es sei eine Gottheit gewesen.«15 Die Homerische Vorstellung ist also die, dass in einer Situation, in der ein Interpretierender sich einem anderen gegenübergestellt findet, die affektive Beziehung des ersteren zum letzteren durch das direkte Eingreifen der Gottheit verändert wird. Durch dieses Eingreifen kann ein bestehender Konflikt entschärft oder auch umgekehrt überhaupt erst hervorgerufen werden. Es ist demnach nicht so sehr der dynamische Interpretant in seiner genuinen, sondern in seiner degeneraten Form, der hier thematisiert wird: derjenige Interpretant, in dem von einem degeneraten dynamischen Objekt aus – einer bestehenden Selbstkonzeption (der erbberechtigte Sohn und Haushaltsvorsteher [im Fall Telemachs]; der Krieger mit dem Anspruch auf Beute [im Fall Achills]) – über die Akzeptanz oder Ablehnung des unmittelbaren Objekts – der angebotenen Fremdkonzeption (der vaterlose und darum entrechtete und ausgelieferte Sohn; der um seine Beute Briseis Beraubte) – entschieden wird. Die Selbstkonzeption impliziert dabei, dass der Interpretierende in einer Beziehung zu den Göttern steht derart, dass diese ihn jederzeit seelisch ›angreifen‹, also seine Affektlage verändern können; sie impliziert eine gewisse Wandelbar- und Geschmeidigkeit (oder Flexibilität) des Interpretierenden in seiner Beziehung zum jeweiligen Konfliktpartner, die eben auf die Götter zurückgeführt wird. Konflikte werden also nicht oder jedenfalls nicht nur durch die Einhaltung oder Brechung von Regeln entfacht oder beigelegt, sondern im Gegenteil zuweilen eben auch auf Grundlage einer gewissen Regellosigkeit und Unberechenbarkeit ausgetragen, und diese Unberechenbarkeit verdankt sich den Göttern. (1b) Ein etwas anders gelagertes Beispiel kann den Studien des britischen Anthropologen John Middleton entnommen werden, der sich von 1949 bis 1952 als Gast beim afrikanischen Volk der Lugbara aufhielt (beheimatet im Grenzgebiet zwischen Sudan, Uganda und Kongo-Zaire). ————— 15 HOMER, Odyssee I,319–323; zitiert nach: DERS., Odyssee. Griechisch und deutsch, übers. v. A. WEIHER, Düsseldorf 132007, 23.

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Die Lugbara fühlen sich nach eigener Auskunft Geistern – das heißt: besonders ausgezeichneten Ahnen – verbunden, jedoch im Unterschied zu den Helden der Ilias nicht so, dass sie in ihrem inneren, emotionalen Haushalt von diesen abhängig wären, sondern so, dass sie von den Geistern extern, also anderen gegenüber, direkt und aktiv vertreten werden. Im Falle eines Konflikts, in dem es – nach Darstellung Middletons – üblich ist, die Geister anzurufen, konzipiert der Interpretierende sich so (degenerates dynamisches Objekt), dass er die Regelung der Beziehung zu seinem Konfliktpartner bzw. die faktische Austragung des Konflikts an die Geister delegieren kann. Es kommt also nicht mehr zur Ausbildung eines genuinen dynamischen Interpretanten – zu einer Tat bzw. Bestrafung des Konfliktpartners durch den Interpretierenden selbst –, sondern dieses Ereignis ist, wenn es denn erfolgt, eben Tat der Geister. Eine solche Tat der Geister besteht darin, dass letztere dem von dem Interpretierenden für schuldig gehaltenen Konfliktpartner Ungemach schicken. Middleton zitiert einen seiner Lugbara-Gesprächspartner wie folgt: »It is good that an elder invokes his ghosts against his disobedient ›sons‹, who do not follow his words. A man stands in place of his (dead) father, and if a wife or child does him ill he will cry to that father and trouble will seize that child. This is good. [...] It is bad for a man to strike with his hand, or with his spear; now the ghosts strike on his behalf.«16 Unter anderem schildert Middleton einen Fall, in dem ein junger Mann namens Abaloo sich als lokaler Führer bzw. Regierungsvertreter installiert und dadurch nicht nur die Ältesten insgesamt beleidigt habe, sondern im besonderen auch seinen Onkel Ozua, den Bruder seines verstorbenen Vaters, und dadurch wiederum diesen verstorbenen Vater selbst. In dieser ————— 16 J. MIDDLETON, Lugbara Religion. Ritual and Authority among an East African People. New introduction by TH. BEIDELMAN (Classics in African Anthropology), Hamburg/Oxford 1999, 39. – Aus strukturidentischen oder -analogen Weltanschauungen heraus erklären sich die offenbar weitverbreiteten und von Lucien Lévy-Bruhl zusammengetragenen Fälle aus dem Kongo und Namibia, aber auch aus Neuguinea, Sumatra, den Fidji-Inseln und sogar der Arktis, in denen jeweils Autochthone nach ›Inanspruchnahme‹ von ›Dienstleistungen‹ seitens allochthoner (westlicher) Ärzte, Schullehrer etc. von diesen (zu deren Unverständnis) weitere Unterstützung bzw. Geschenke erwarteten. Lévy-Bruhl erläutert dieses Verhalten damit, dass durch den vitalen Ein- oder besser gesagt Übergriff des Fremden der Einheimische »von den Mächten getrennt [wird], ohne die er nicht leben kann. Es steht also zu befürchten, daß von nun ab die für ihn zuverläßlichen Partizipationen geschwächt und vielleicht zerbrochen sind. Was wird also die Lage eines Eingeborenen sein, [...] wenn [...] der Weiße, der die Ursache dieser Entfernung ist, das Interesse an ihm verliert? Er ist von einer Isolierung bedroht, die unerträglich und für ihn schlimmer ist als der Tod. [...] Also muß derjenige, der so tief aus eigener Initiative in sein Leben eingegriffen hat, alles geben, was er verlangt: Seine Großmut muß auch in Zukunft unerschöpflich sein. Wenn er sich dem entzieht oder sich weigert, so ist das mehr als Geiz. [...] Es ist ein Verrat, fast ein Mord.« L. LÉVY-BRUHL, Die geistige Welt der Primitiven, aus dem Französischen übers. v. M. HAMBURGER, Darmstadt 1966 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe München 1927), 334f.

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Situation, schreibt Middleton, oblag es dem älteren bzw. höherstehenden Blutsverwandten – also dem gedemütigten Ozua –, seine Geister anzurufen. Ein solches Anrufen geschieht stumm und unter Umständen sogar unabsichtlich, nämlich durch die bloße emotionale Einstellung, wie sie von der Situation provoziert wird (degenerater dynamischer Interpretant), so dass letztlich erst von dem nachträglichen Ereignis aus, also dem Unglück des Konfliktpartners, auf den Vorgang des Anrufens geschlossen werden kann. Der Fall von Ozua und Abaloo wurde dementsprechend von einem Angehörigen des Lugbara-Volkes folgendermaßen kommentiert: »Now Abaloo has shamed his ›father‹ on many occasions. Now Ozua has gone to the ghost shrines to cry to the ghosts and to Abaloo’s father, his brother. So Ozua has not yet told people because at first you hide those words.«17 Dazu erläutert Middleton: »I have asked men who were in the position of Ozua whether they intended to invoke the ghosts, and have been told ›perhaps; it is good that I should do so‹, but since a man does not know whether he has suceeded in invoking the ghosts over a specific offence until the sickness appears [...], it is clear that some such answer is the only one possible. A man later remembers that he had been thinking about the offence and concludes that he had invoked the ghosts, but he cannot know at the time of his anger whether or not he has succeeded in doing so.«18 Insgesamt unterscheiden die Lugbara zwischen einem solchen heimlichen Anrufen, das lediglich zu Krankheit führt, und einem lauten Anrufen am Schrein der Geister, das die Todesfolge nach sich ziehen kann. Im Falle direkter ElternKind- bzw. Vater-Sohn-Konflikte, so wurde Middleton berichtet, gilt darum: »To say words with the mouth at the shrines is bad. If a man, or an elder says words thus, his child will surely die. If he does not say words the child becomes sick and learns to obey his father, but he will not die.«19 Auf diese Weise können die Lugbara die Ahndung von Regelverstößen bzw. die Austragung von Konflikten so auf die Geister verlagern, dass einerseits das gerechte Gleichgewicht innerhalb der Gemeinschaft erhalten bleibt, ohne letztere andererseits zu schädigen. (2a) In der Religion der Lugbara ist, folgt man den Berichten Middletons, auch der zweite Typus von Religion vertreten, von dem oben die Rede war: also der Typus, in dem in das degenerate dynamische Objekt an der Funktionsstelle desjenigen, zu dem die eigene Person immer schon in Beziehung steht, der situationstranszendierende Faktor eingetragen wird. Denn die normale bzw. religiös normierte Selbstkonzeption eines Lugbara beinhaltet nicht nur die Vorstellung von einer stabilen Beziehung zwischen ————— 17 18 19

J. MIDDLETON, Lugbara Religion, 37. Ebd. Ebd., 36.

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dem Interpretierenden und seinen Geistern, sondern impliziert zugleich eine Selbstabgrenzung des Interpretierenden als eines solchen, der mit seinen Geistern in Verbindung steht, von Außenseitern, die nicht zum eigenen Clan gehören, in der Terminologie Middletons: clients. Außenseiter, clients, haben nämlich keine Geister, zu denen sie in Beziehung stehen und auf die sie darum die Regelung von Konflikten abschieben könnten: »See, a client« – so geht die bereits oben zitierte Gesprächsaufzeichnung weiter – »cannot invoke the ghosts; he has no clan.«20 Eben darum sind clients als solche gewissermaßen auch nicht sozialitätstauglich. Clients dürfen darum so behandelt werden wie Sachen; und sie dürfen infolgedessen auch umgebracht werden. In den Worten Middletons: »A client [...] is a man without a lineage, a refugee from elsewhere. Before acceptance by a host or sponsor he has no kin, and is a ›thing‹. [...] he may be killed as a ›thing‹, without fear of vengeance.«21 Und dennoch kennen die Lugbara eine religiöse Instanz, die in Anspruch genommen wird, nicht um sich von den clients abzugrenzen, sondern um das Verhältnis zu ihnen positiv zu regeln: Gott. Denn: »God is ›the creator of men‹ [...], who long ago created the world.« »Although most of Lugbara ritual is concerned with the dead, God is nevertheless asociated with almost every relationship between living and dead.« Darum gilt, dass, wenngleich erst die Ahnen die spezifische Gesellschaft der Lugbara geschaffen haben, Gott doch »the ultimate fountainhead of all power and authority, of all sanctions for orderly relations between men« ist. Dementsprechend sieht die Selbstkonzeption eines Lugbara gegenüber einem client so aus, dass, auch wenn ein solcher keine Geister hat, er doch zumindest wie man selbst als Geschöpf Gottes gelten darf und offenbar aus diesem Grund als jedenfalls potentiell gemeinschaftsfähig. »[...] [H]e is still regarded as a creature of God, and indeed as a Lugbara, even though his clan is unknown or unrecognized. God even made the Europeans.« »When he is accepted he becomes a kinsman.«22 »[...] [H]is descendants may in time be accepted as cognates.«23 Auf diese Weise wird die (im einzelnen äußerst komplizierte) Gesellschaftsstruktur der Lugbara durch ein religiöses System begründet und gestützt, das dazu anleitet, in unterschiedlichen Sozialverhältnissen sich selbst und den anderen jeweils in bestimmter Weise zu konzipieren – als in Relation zu Geistern, Ahnen oder Gott stehend – und diesen unterschiedlichen Konzeptionen entsprechend die Beziehung zum jeweiligen Konflikt————— 20

Ebd., 39. Ebd., 27. – Ebd., 270: »[...] a client comes into a lineage territory as a ›thing‹, not as a ›person‹. He has no kin.« 22 Alle bisherigen Zitate in diesem Absatz ebd., 27. 23 Ebd., 9. 21

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partner zu steuern, bzw. umgekehrt überhaupt erst aufgrund solcher unterschiedlicher Konzeptionen der eigenen Person und des anderen unterschiedliche Sozialverhältnisse mit unterschiedlichen Regeln der Konfliktbewältigung zu etablieren. (2b) Ein besonders deutliches, da weit ausgreifendes Beispiel für den zweiten Religionstypus findet sich im Alten Testament bzw. im Tanakh. Die allererste Aussage, die hier über den Menschen getroffen wird, ist die, dass Gott denselben nach seinem Bilde geschaffen habe. Die exegetische Diskussion um die Bedeutung der rätselhaften Textstelle Gen 1,26f hat, wenn ich recht sehe, in christlicher Lesart zur Herausbildung von, grob gesagt, drei Positionen bzw. Deutungsvorschlägen geführt: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen besteht – erstens – in »eine[r] wirkliche[n] Vewandtheit des äußeren Aussehens«24 zwischen Gott und Mensch; sie liegt – zweitens – in einer natürlichen »Überlegenheit des Menschen über die Tierwelt [...], wonach der Mensch zum Herrscher über die Tiere bestimmt ist«25, bzw. beruht darauf, dass der Mensch »ein seiner selbst mächtiges (selbstbewusstes und sich aus sich selbst bestimmendes) und eben deshalb über alle anderen irdischen Geschöpfe erhabenes Wesen ist«26; sie basiert – drittens – auf der »Sprachlichkeit der menschlichen Gattung«, nämlich dem »Vermögen, sich sprachlich auszudrücken und die Welt zu benennen, aber gewiß auch umgekehrt« in der »Fähigkeit, Sprache zu vernehmen«27. Im rabbinischen Midrasch wiederum kann die Gottebenbildlichkeit als Fähigkeit zur Entscheidung, zur Beherrschung böser Triebe und insofern zur Hinwendung zu Gott aufgefasst werden.28 Was der Text jedoch m.E. meint, ist nicht einfach, dass der Mensch das Bildnis Gottes, sondern, dass das – und zwar einzige – Bildnis Gottes der Mensch sei: Nicht Standbilder aus Ton, Holz oder Metall sind die geeigneten Kandidaten für Gottesbildnisse, sondern ausschließlich Menschen. Was macht ein Gottesbildnis aus? In Anbetracht der Tatsache, dass Bildnisse stets Bildnisse von etwas für jemanden sein wollen, ist für die Beantwortung dieser Frage zweitrangig, ————— 24

W. ZIMMERLI, 1.Mose 1–11: Urgeschichte (Zürcher Bibelkommentare: AT: 1,1), Zürich 1991, 73. – Ähnlich G. VON RAD, Das Erste Buch Mose. Genesis (Das Alte Testament Deutsch 2,4), Göttingen/Zürich 121987, 37: »Das Wunder der leiblichen Erscheinung des Menschen ist von dem Bereich der Gottebenbildlichkeit keineswegs auszunehmen.« 25 B. OCKINGA, Die Gottebenbildlichkeit im alten Äypten und im Alten Testament (Ägypten und Altes Testament 7), Wiesbaden 1984, 154. 26 F. DELITZSCH, Neuer Kommentar über die Genesis. Mit einem Geleitwort von S. WAGNER, Giessen/Basel 1999 (ND Leipzig 51887), 65. 27 K. KOCH, Imago Dei – Die Würde des Menschen im biblischen Text. Vorgelegt in der Sitzung vom 7. Juli 2000 (Berichte aus den Sitzungen der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften e.V., Hamburg, Jg. 18,4), Göttingen 2000, 30. 28 So Genesis Rabba 8,12 (Midrash Bereshit Rabba. Critical Edition with Notes and Commentary, ed. J. THEODOR/CH. ALBECK, Vol. I, Berlin 1912–1936, 65). – Für hilfreiche Auskunft danke ich meiner Frankfurter Kollegin Dr. W. ZUMBROICH. 5

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was die dem Bildnis unterstellte Ähnlichkeit mit Gott für das Bildnis selbst bedeuten mag. Relevant ist vielmehr, was diese Ähnlichkeit für den bedeutet, der mit dem Bildnis umzugehen hat: Wer mit einem materiellen Gottesbildnis konfrontiert ist, hat, wie zumindest altorientalische Leser oder Hörer sehr wohl gewusst haben, dieses jedenfalls bis zu einem gewissen Umfang so zu behandeln, als handele es sich um die Gottheit selbst. Die Textstelle Gen 1,26f wird demnach missverstanden, wenn man sie auf eine exklusive Relation zwischen Mensch und Gott bezieht und sich infolgedessen zu fragen hätte, worin denn nun die Ähnlichkeit zwischen diesen beiden bestehen möge. Vielmehr geht es um die Relation zwischen Mensch und Mensch bzw. die Relation dieser Relation zu Gott. Die Pointe des Gottebenbildlichkeitstopos liegt darin, dass man dem je anderen so begegnen soll, als sei er Gott oder jedenfalls so ähnlich wie Gott, und zwar ganz unabhängig von irgendwelchen Volks-, Religions- oder Kulturzugehörigkeiten: dass man also ehrerbietig (bzw. distanzwahrend) und zugleich liebevoll mit ihm umzugehen habe.29 Das und nichts anderes ist der sachliche Grund dafür, weshalb V.27 gleich im allernächsten Atemzug davon spricht, dass Gott den Menschen als Mann und Frau geschaffen habe: als zwei Wesen nämlich, die miteinander umgehen bzw. umgehen müssen (und wollen) und diesen Umgang trotz ihrer unterschiedlichen Geschlechtlichkeit eben im Sinne der Gottebenbildlichkeit des jeweils anderen betreiben sollen. Zur durch die Genesis anempfohlenen Selbstkonzeption des Interpretierenden gehört also, dass er immer schon in Beziehung zu Mitmenschen stehe und ihm in diesen Gott selbst – und zwar ein konkurrenzloser Gott – begegne. Auch unter den in Gen 3 geschilderten ungünstigen nachparadiesischen Umständen – in denen das faktische Verhältnis des Mannes zur Frau durch Misstrauen, das Verhältnis der Frau zum Mann durch deren Unterjochung und das Verhältnis beider zu ihren Kindern durch die Mühen der Arbeit und der Schwangerschaft bzw. Geburt dauerhaft belastet ist und ————— 29 Ganz in diesem Sinne übrigens die bei Strack-Billerbeck zitierten rabbinischen Auslegungen von Lev 19,18, dem Gebot der Nächstenliebe, wie sie im frühen 2. Jh. n.Chr. einsetzen. P. BILLERBECK/H.L. STRACK, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. I: Das Evangelium nach Matthäus, München 81982, 358: »[...] Ben Azzai [setzt] an die Stelle des ›Nächsten‹ den ›Menschen‹ [...]: du sollst jeden nach Gottes Bild Geschaffenen lieben. [...] In der Tat kann ja der Gedanke, daß hinter jedem Menschen Der steht, nach dessen Bild jener erschaffen ist, unter Umständen eine objektivere u. umfassendere Richtschnur für das gegenseitige menschliche Verhalten bilden, als der mehr von subjektiven Stimmungen u. Auffassungen abhangende Grundsatz: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. [...] Ben Azzai dürfte der erste Lehrer der alten Synagoge sein, der für das Verhalten gegen Nichtisraeliten dieselbe Norm aufstellt wie für das Verhalten gegen einen nichtisraelitischen Volksgenossen: bedenke bei deinem Tun u. Lassen, daß jeder Mensch, gleichwie du, nach Gottes Bild geschaffen ist.« Weitere Belege und Erläuterungen ebd., 359.

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insofern immer wieder zu Konflikten führen muss – soll diese Selbstkonzeption erhalten bleiben; und eben das ist der Grund dafür, weshalb nur ein Kapitel später, in Gen 4, Kain für den begangenen Brudermord, das wohl schlimmste Verbrechen in einer Stammesgesellschaft, nicht einfach abgeschlachtet werden darf, sondern trotz aller Strafe doch durch das Kainszeichen Gottes geschützt bleibt. (3a) Der dritte Religionstyp macht die Bezugnahme auf einen situationstranszendierenden Faktor durch den Interpretierenden als Vorgang selbst explizit, so dass das Verhältnis des Interpretierenden zum je anderen als durch den Umstand jenes Bezugnehmens bestimmt erscheint. Nicht das Korrelat zur eigenen Person – entweder Geister, Götter, Gott etc. oder aber der andere als ein durch Geister, Götter, Gott etc. vertretener – wird thematisiert, sondern die Relation zwischen diesen beiden als solche. Das degenerate dynamische Objekt, das über die Integration des unmittelbaren Objektes entscheidet, ist also nicht mehr die eigene Person, wie sie mit Gott etc. liiert wäre, auch nicht die eigene Person, wie sie einem anderen gegenübertritt, der seinerseits mit Gott liiert wäre, sondern es ist die eigene Person, wie sie eben dadurch qualifiziert ist, dass (und ergo auch wie) sie auf Gott Bezug nimmt. Mit anderen Worten: Die eigene Person wird als ›glaubende‹ (im weiteren Sinne) konzipiert. So scheint beispielsweise die Pointe etlicher Koransuren darin zu bestehen, dass der Interpretierende sich als jemand konzipieren soll, der sich selbst auf Gott bezieht und damit zugleich in Verbindung mit all solchen steht, die diese Selbstkonzeption teilen. Verbunden damit ist die Selbstunterscheidung von der Gruppe derer, denen jene Selbstkonzeption fehlt. Damit kann das Verhalten des Interpretierenden zu seinem Gegenüber von dessen jeweiliger Gruppenzugehörigkeit und insofern von der Art des Gottesverhältnisses abhängig gemacht werden: »Gott (allein) ist euer Freund, und sein Gesandter, und (mit ihnen alle) die, die glauben, – die das Gebet verrichten, die Almosensteuer geben und sich (wenn sie beten) verneigen.«30 Umgekehrt gilt: »Und kämpft um Gottes willen gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen!«31 Das degenerate dynamische Objekt ist also der Interpretierende als sowohl in Relation zu seinesgleichen als auch zusammen mit seinesgleichen in Relation zu Gott stehend, wobei diese Relation offenbar als – da Gott als ewiger Gott gedacht wird – zeitlich unbeschränkt vorgestellt wird: »Die Sünder lachten (zeitlebens) über die Gläubigen. Wenn sie ihnen begegneten, zwinkerten sie sich (verkniffen) zu. ————— Sure 5:55; zitiert nach: Der Koran, übers. v. R. PARET, Stuttgart 102007, 85. Sure 2:190; zitiert nach: Ebd., 30. – Vgl. z.B. Sure 3:28: »Die Gläubigen sollen sich nicht die Ungläubigen anstatt der Gläubigen zu Freunden nehmen. Wer das tut, hat keine Gemeinschaft (mehr) mit Gott. Anders ist es, wenn ihr euch vor ihnen (d.h. den Ungläubigen) wirklich fürchtet. (In diesem Fall seid ihr entschuldigt.) Gott warnt euch vor sich selber.« Zitiert nach: Ebd., 45. 30 31

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(Erst) wenn sie dann zu ihren Angehörigen heimkamen, fühlten sie sich (wieder) wohl [...]. [...] Heute (d.h. am Tag des Gerichts) lachen nun (umgekehrt) die Gläubigen über die Ungläubigen, während sie (behaglich) auf Ruhebetten (liegend) ihre Blicke (überall) umherschweifen lassen [...]. Haben die Ungläubigen (jetzt) nicht ihren Lohn erhalten für das, was sie (in ihrem Erdenleben) getan haben?«32 Für die Frage der Konfliktregulierung heißt das mehreres. Zunächst kann es keinen ultimativen Konflikt mit jemandem geben, der zur eigenen Gruppe gehört. Insofern stellt die aufgrund der Gottesvorstellung bewirkte Transformation des degeneraten dynamischen Objektes – die Erweiterung der Konzeption der eigenen Person als zu einer Familie, einem Stamm, einem Volk etc. gehörend hin zu einer Konzeption der eigenen Person als Mitglied des einen Gottesvolkes – einen Mechanismus der Konfliktentschärfung oder sogar -vermeidung dar, weil die eigene Gruppe über die Familie, den Clan, den Stamm, das Volk etc. hinaus ausgedehnt wird: zur umma, zum Volk Israel, zur Kirche etc. Sodann kann im Konflikt mit der gegnerischen Gruppe die Verteidigung der eigenen Person als durch Gott übernommen oder zu übernehmend gedacht werden: »Gott sorgt für die Verteidigung derer, die glauben.«33 Und schließlich kann das Kriterium des ›Gläubigseins‹ (im beschriebenen Sinne) als Kriterium der Binnendifferenzierung angewendet werden, um innerhalb der eigenen Gruppe zwischen wahrhaft ›Gläubigen‹ einerseits und ›Heuchlern‹ andererseits zu unterscheiden, also den Pool der möglichen Konfliktpartner zu reorganisieren: »Die heuchlerischen Männer und Frauen gehören zueinander (und bilden eine Gruppe für sich). Sie gebieten, was verwerflich ist, und verbieten, was recht ist, und halten ihre Hand geschlossen (anstatt mit offener Hand zu spenden). Sie haben Gott vergessen, und nun hat (auch) er sie vergessen.« »Und die gläubigen Männer und Frauen sind untereinander Freunde (und bilden eine Gruppe für sich). Sie gebieten, was recht ist, und verbieten, was verwerflich ist, verrichten das Gebet, geben die Almosensteuer und gehorchen Gott und seinem Gesandten. Ihrer wird sich Gott (dereinst) erbarmen.«34 »Verkünde den Heuchlern, daß sie (dereinst) eine schmerzhafte Strafe zu erwarten haben, (sie) die die Ungläubigen anstatt der Gläubigen sich zu Freunden nehmen!«35 ————— 32

Sure 83:29–36; zitiert nach: Ebd., 424f. Sure 22:38; zitiert nach: Ebd., 234. – Vgl. z.B. Sure 8:45: »Ihr Gläubigen! Wenn ihr mit einer Gruppe (von Ungläubigen) zusammentrefft (und es zum Kampf kommt), dann seid standhaft und gedenket Gottes ohne Unterlaß [...]! Vielleicht wird es euch (dann) wohl ergehen.« Zitiert nach: Ebd., 129. 34 Sure 9:67 u. 71; zitiert nach: Ebd., 138f. 35 Sure 4:138f.; zitiert nach: Ebd., 74. 33

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(3b) Ein Beispiel, in dem der dritte Religionstyp potenziert vorliegt, findet sich in der Theologie Martin Luthers. Luther wirbt – zunächst ganz ähnlich wie die zitierten Koransuren – für eine solche christliche Selbstkonzeption, derzufolge der Interpretierende stets in zwei Relationen zugleich steht, zu Gott und zum anderen, wobei die erste dieser beiden Relationen – diejenige zu Gott – die zweite – diejenige zum anderen – determiniert. Die Pointe allerdings liegt darin, dass im Rahmen dieser Selbstkonzeption beide Relationen als Anerkennungsverhältnisse gefasst werden sollen und es sich bei der ersten um ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis handeln soll: Der Interpretierende soll Gott als einen solchen anerkennen, der seinerseits ihn selbst anerkennt oder ›rechtfertigt‹; und indem und sofern er diese Anerkennung Gottes als des ihn selbst anerkennenden oder ›rechtfertigenden‹ vollzieht, soll er sich seinerseits als von Gott anerkannt oder ›gerechtfertigt‹ betrachten dürfen. Demnach besteht – das besagt diese Selbstkonzeption – die eigene Gerechtigkeit darin, dass man Gott gerecht wird, indem man an dessen Gerechtsprechung der eigenen Person glaubt. Die Bezugnahme auf den situationstranszendierenden Faktor, die für Religion konstitutiv ist, wird also im vorliegenden Fall dadurch expliziert, dass sie in Gestalt der Bezugnahme auf ein reziprokes Verhältnis zwischen zwei Relaten erfolgt, der eigenen Person und Gott. Die Reziprozität besteht darin, dass das, was durch den Interpretierenden geglaubt werden bzw. was Inhalt seines Glaubens sein soll – die Rechtfertigungsbeziehung Gottes zu ihm selbst –, als ausschließlich im und durch den Akt des Glaubens selbst realisiert gedacht wird, insofern Gott seinerseits so vorgestellt wird, dass er sich allein durch das Anerkanntwerden als Gott – und zwar als rechtfertigender Gott – Gerechtigkeit widerfahren lassen will. Im sog. Freiheitstraktat bringt Luther dieses einigermaßen komplizierte – und noch dazu dynamische – Gegenseitigkeitsverhältnis auf die knappe Formel: »glaubstu, so hastu, glaubstu nit, so hastu nit«36. Die Relation zu Gott schließlich – der Glaube – soll in der Selbstkonzeption des Interpretierenden die Relation zum anderen fundieren. Denn wenn Gott so gedacht wird, dass er die Rechtfertigung der je eigenen Person allein vom Glauben und nicht mehr von Leistungen bzw. ›guten Werken‹ abhängig macht, dann ist die eigene Person zugleich davon entbunden, den anderen als Adressaten eigener ›guter Werke‹ zu missbrauchen, ihn nämlich als Mittel zum Zweck der eigenen ›Belohnung‹ zu degradieren – und ihm gerade damit unrecht zu tun. Weil und sofern der Interpretierende sich also von heteronomen Verpflichtungen dem anderen gegenüber entbunden weiß, kann er diesem nun genau diejenige Anerkennung entgegenbringen, von der ————— 36 M. LUTHER, Von der Freiheit eines Christenmenschen, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. VII, Weimar 1897, 20–38, hier 24, Z.13f.

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er meint, dass sie ihm selbst seitens Gottes zuteil werde, und von der er zugleich meint, dass er sie in diesem Sinne – als zweckungebundene Liebe – dem anderen von Gott her schuldig sei. Der andere erscheint prinzipiell »so, als wäre man es selbst«37, wie Luther formulieren kann; und umgekehrt tritt die eigene Person dem anderen »gewissermaßen als Christus«38 gegenüber, wie es im lateinischen Text der 27. These des Freiheitstraktates heißt. Das Verhältnis von Eigen- und Nächstenliebe soll also so verwandelt werden, dass letztere eine Form der ersteren wird; und darin werden beide, in ihrer Überlagerung oder Verschränkung, als mit der Liebe Gottes zum Menschen strukturidentisch gedacht. Für die Frage der Konfliktregulierung ergeben sich aus der skizzierten Konstellation zunächst zwei Folgen. Zum einen wird in dieser ›evangelischen‹, nämlich zwischen den Polen ›Gesetz‹ und ›Evangelium‹ sorgfältig auszutarierenden Selbstkonzeption die Variable des anderen im höchsten Maße verallgemeinert: Sie soll von jedem ausgefüllt werden können, der im konkreten Fall dem Interpretierenden als ein solcher anderer begegnen mag. Damit entfällt – ähnlich wie später bei Kant – die Idee einer Sonderbehandlung je nach Gruppenzugehörigkeit. Zum anderen erscheint der andere zwar als Vertreter meiner selbst, dies aber nicht so – und darin divergiert Luther von Kant –, dass die eigene Person und der andere durch die Idee einer gemeinsamen Klasse (die der ›Menschheit‹) miteinander vermittelt wären und infolgedessen die »Achtung für eine Person [...] eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit etc.)«39 wäre, sondern so, dass der andere gewissermaßen als ›Urbild‹ der eigenen Person auftritt, nämlich indem er von dieser, ganz im Sinne von Mt 5,38–42,40 im Konfliktfall grundsätzlich bevorrechtet wird. Der Abgleich zwischen dem unmittelbaren und dem degeneraten dynamischen Objekt – die Entscheidung über Übernahme oder Ablehnung der Fremdkonzeption – sieht also so aus, dass das unmittelbare Objekt vollständig in das degenerate dynamische Objekt integriert wird: nicht im Sinne der bedingungslosen Befolgung einer jedweden beliebigen Aufforderung, sondern im Sinne eines solchen Einverständnisses mit dem anderen, das vom Gedanken an dessen Wohl geleitet ————— 37 38 39

Ebd., 37, Z.33f: »[...] das ein yglicher sich seynis nehsten also annehm, als were erß selb.« Ebd., 66, Z.27: »quendam Christum«. I. KANT, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 16, Anm.; zitiert nach: Ebd., 401,

Z.35f. 40 »Ihr habt gehört, daß geboten worden ist: ›Auge um Auge und Zahn um Zahn!‹ Ich dagegen sage euch: Ihr sollt dem Bösen keinen Widerstand leisten; sondern wer dich auf die rechte Wange schlägt, dem halte auch die andere hin, und wer mit dir einen Rechtsstreit anfangen und dir den Rock nehmen will, dem überlaß auch noch den Mantel, und wer dich zu einer Meile Weges nötigt, mit dem gehe zwei. Wer dich bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab!« Zitiert nach: Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, übers. v. H. MENGE, Stuttgart 1984 (ND der 11. Aufl.), darin: Das Neue Testament, 12.

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ist und diesem Wohl, auch zu eigenen Lasten, den Primat einräumt. Die so modellierte Konfliktregulierung zielt also nicht so sehr auf Konfliktverunmöglichung – vom ›ewigen Frieden‹ ist bei Luther nirgends die Rede – als eher auf eine grundsätzliche Konfliktentschärfung oder -umsteuerung oder -deeskalierung: eine solche Deeskalierung, welche die mit einer Konfliktsituation gesetzte Zumutung hic et nunc nicht einfach hinwegverallgemeinert, sondern sie als solche anerkennt. Dieses Motiv der Deeskalierung wird selbst dadurch nicht konterkariert, dass auch in der Theologie Luthers die Glaubenden als ›Kirche‹ von den Nichtglaubenden institutionell unterschieden werden und dass sich hier gleichfalls die bereits unter (3a) erwähnte Binnendifferenzierung innerhalb der eigenen Gruppe, der ›Kirche‹, infolge der Anwendung des Glaubenskriteriums auf dieselbe findet: In der Gruppe der ›sichtbaren‹ Kirche sammeln sich Nichtglaubende und Glaubende, aber nur letztere gehören zur eigentlichen, zur ›unsichtbaren‹ Kirche. Zugleich jedoch wird die Selbstabgrenzung des Glaubenden vom Nichtglaubenden dadurch höchst wirkungsvoll unterlaufen, dass jene Binnendifferenzierung radikalisiert wird, indem konsequenterweise das Glaubenskriterium primär auf die jeweils eigene Person bezogen wird: Zur Selbstkonzeption des Interpretierenden gehört immer auch die eigene Person wie erinnert und wie antizipiert, nämlich als eine, die ihres Glaubens verlustig gegangen ist und vermutlich auch in Zukunft immer wieder verlustig gehen wird. Die Unterscheidung zwischen Glaubendem und Nichtglaubendem verläuft also zuallererst durch die eigene Person. Daraus resultiert die Dynamik eines falls mit anderen, dann auch schon mit sich selbst in Konflikt liegenden und nur durch den Rechtfertigungsglauben bzw. durch Gott stets aufs neue zu befriedenden Ich (eine Problematik, auf die in diesem Band Claudia Welz eingeht). 4. Mit dem Religionsbegriff wie hier skizziert ist eine Reihe von Implikationen verbunden, von denen hier nur sechs knapp angedeutet werden sollen. Erstens: Bei der präsentierten Strukturthese handelt es sich nicht um eine Entwicklungs- oder Hierarchiethese. Sachlogisch setzt der dritte Typ von Religion zwar den ersten oder zweiten Typ voraus; das heißt aber jedenfalls nicht, dass er den beiden letzteren ›überlegen‹ wäre. Schon gar nicht wird im Blick auf positive Religionen hier die These vertreten, die Friedrich Schleiermacher in der fünften seiner Reden entfaltet hat: dass nämlich das Christentum – selbstverständlich in Gestalt des deutschen Protestantismus – »die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet, und so gleichsam eine höhere Potenz derselben ist«41. Allenfalls kann, was die drei Religions————— 41 F.D.E. SCHLEIERMACHER, Über die Religion (2.–)4. Auflage, Monologen (2.–)4. Auflage (KGA I,12), hg. v. G. MECKENSTOCK, Berlin/New York 1995, 286, Z.27f.

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typen betrifft, von einem Lutherischen oder Kantischen Standpunkt aus die Überzeugung geltend gemacht werden, dass solche Religionsgestalten, in denen der andere universalisiert wird, nicht nur (sofern diese Universalisierung mit einer Auf- statt einer Abwertung verbunden ist) sympathischer, sondern auch konsequenter erscheinen als solche, die in die Variable des anderen allerlei Unterscheidungen eintragen. Doch zu einer solchen – konfliktentschärfend wirkenden – Universalisierung kann es im Rahmen eines jeden der drei Religionstypen kommen. Wer sich selbst so mit Gott verbunden wähnt, dass er sich zur Befolgung von dessen Geboten angehalten fühlt, der kann diesen Gehorsam ggf. auch auf das Liebesgebot ausdehnen, wie es das Vaticanum II in der Pastoralkonstitution Gaudium et spes fordert: »Christi Lehre [...] dehnt das Gebot der Liebe, das der Auftrag des Neuen Bundes ist, auf alle Feinde aus«42. »[..] [J]ede Form einer gesellschaftlichen oder kulturellen Diskriminierung in den Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muß überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht.«43 Oder der kann, wie Franz von Assisi wirbt, aus eigener Liebe zur Liebe Gottes Feindesliebe praktizieren: »Jener jedenfalls liebt seinen Feind wahrhaftig, der [...] um der Liebe Gottes willen wegen der Sünde seiner Seele entbrennt. Und er möge ihm in Werken Liebe erweisen.«44 Wer in dem anderen den von Gott Geschützten erblickt, der kann, wie Leo Baeck, den Begriff des Mitmenschen entwickeln, der »die Grenzen, welche die Völker und die Rassen, die Stände und die Kasten, die Kräfte und Gaben abstecken wollen«45, überschreitet: »Nicht unser Wohlwollen oder unsere Bereitwilligkeit schenkt es jetzt dem andern, daß er unser Mitmensch ist, und nicht eine gesellschaftliche Einrichtung oder eine staatliche Anordnung gibt es ihm, sondern er ist es kraft Gottes. Der eine Gott hat ihn dazu gemacht, und niemand kann es ihm daher nehmen oder mindern. [...] Was wir dem anderen gewähren, ist [...] sein Recht.«46 Oder der kann sogar, wie Emmanuel Lévinas, für den anderen das drastische Bild des Geiselnehmers finden, in dessen Geiselhaft sich die eigene Person begibt, insofern sie Verantwortung für ihn übernimmt und sich ihm verpflichtet weiß: »Der ————— 42 H. DENZINGER, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, unter Mitarbeit v. H. HOPING übers. u. hg. v. P. HÜNERMANN, Freiburg i.Br. 371991, 1297, Nr. 4328. 43 Ebd., Nr. 4329. 44 FRANCISCUS ASSISIENSIS, Ermahnungen (Admonitiones) II,9; zitiert nach: L. HARDICK/ E. GRAU, Die Schriften des heiligen Franziskus von Assisi, Kevelaer 2001, 104. 45 L. BAECK, Die Schöpfung des Mitmenschen, in: DERS., Briefe, Reden, Aufsätze (Werke, Bd. VI), hg. v. M.A. MEYER in Zusammenarbeit mit B. SUCH, Gütersloh 2006, 112–117, hier 113. 46 Ebd., 114.

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Stand der Geisel ist der Grund dafür, daß es in der Welt Mitleid, Teilnahme, Verzeihen und Nähe zu geben vermag.«47 Und wer schließlich durch den Glauben ein verändertes Selbstverhältnis gewinnt, der wird, wie dies unter II.3.(3b) als Luthers Überzeugung skizziert wurde, diesen Glauben so umsetzen, dass er das Wohl des anderen dem eigenen vorordnet. Zweitens: Bei der präsentierten Strukturthese – die auf eine inhaltliche Sortierung von Religionen (z.B. in: Offenbarungsreligionen vs. natürliche Religionen; Orthodoxie vs. Orthopraxie; weltabgewandte vs. weltzugewandte Religionen; Religionen mit personalem Gott/Göttern vs. Religionen ohne personalen Gott/Götter; Monotheismus vs. Polytheismus etc.) vollständig verzichtet – handelt es sich nicht um eine Ursprungsthese: Es wird nicht behauptet, dass Religion sich ursprünglich aus dem Tun – bzw. der Struktur eines solchen – entwickelt und sich dann erst im Denken festgesetzt habe. Was behauptet wird, ist zum einen, dass Religion sich stets auch im Tun niederschlägt, genauer gesagt: in solchen degeneraten dynamischen Interpretanten, die zwar genuine dynamische Interpretanten nach sich ziehen können, jedoch nicht mehr von normalen Interpretanten gefolgt werden. Religion, die sich nicht auch in Gestalt eines Tuns manifestiert, ist keine Religion. Aus dieser Perspektive wäre der Feststellung Durkheims rechtzugeben: »[...] [S]ie [die Gläubigen, G.L.] fühlen in der Tat, daß die wahre Funktion der Religion [...] darin besteht, [...] uns zum Handeln zu bringen und uns helfen zu leben.«48 Was zum anderen behauptet wird, ist, dass Religion – eben weil sie sich als bestimmte Art der Ausgestaltung degenerater dynamischer Objekte manifestiert, auf deren Basis über Akzeptanz oder Ablehnung der unmittelbaren Objekte und damit auch über das Verhältnis der eigenen Person zum je anderen entschieden wird – es immer auch und sogar wesentlich mit der Steuerung von Konflikten zu tun hat: und zwar indem sie dem Interpretierenden Schemata vorgibt, nach denen die je eigene Person und der ihr begegnende andere verstanden und in die sie eingepasst werden können bzw. sollen. (Selbstverständlich können solche Schemata gegen Konkurrenten unterliegen und dann eben ausfallen.) Aus diesem Grund, das wäre hinzuzufügen, hat Religion eine gewissermaßen natürliche Affinität zum Recht. Denn auch das Recht zielt letztlich auf die Normierung sozial relevanter Selbstkonzeptionen, wie sie sich sodann im Tun bemerkbar machen: Die tatsächliche Befolgung einzelner Regelungen – z.B. das Zahlen von Steuern – ist (jedenfalls dort, wo keine sofortigen Sanktionen drohen) davon abhängig, dass der Interpretierende ————— 47 E. LÉVINAS, Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, übers., hg. u. eingeleitet v. W.N. KREWANI, Freiburg/München 31998, 320. 48 É. DURKHEIM, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, 610.

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sich zuvor als rechtskonforme d.h. gemeinschaftstaugliche Person konzipiert hat und somit für die eigene Person dieselben Ansprüche seitens der Gemeinschaft gelten lässt wie für alle anderen innerhalb derselben auch. Diese Affinität – die sich an ausgesprochen vielen Religionen beobachten lässt – ist auch dort vorhanden, wo (wie der Jude Jesus und der Protestant Luther es tun, wie es aber auch hie und da im Koran angedeutet zu werden scheint und wie es offenbar die Lugbara praktizieren) aus religiösen Motiven (d.h. unter Bezugnahme auf Gott als dem eigentlichen Rechtsvertreter der eigenen Person) zum Rechtsverzicht, zur Adikie, aufgefordert wird. Drittens: Die präsentierte Strukturthese läuft im Blick auf die eben angesprochene Ursprungsfrage auf folgende Behauptung hinaus: Wenn Religion ein Produkt von solchen Interpretationsprozessen ist, in denen das degenerate dynamische Objekt in bestimmter Weise ausgestaltet wird, dann kann Religion in verschiedenartigen Interpretationsprozessen wirksam werden: nämlich in allen jenen, in denen degenerate dynamische oder (diese inkludierende) genuin dynamische und normale Interpretanten ausgebildet werden. Religion kann sich demnach in unterschiedlichen Interpretationsvollzügen auswirken oder festsetzen; sie ist nicht auf eine einzige Klasse derselben beschränkt. Umgekehrt heißt das, dass Religion sich Strukturen zunutze macht, die in einem jeden Tun und in einem jeden Denken zum Tragen kommen: dass sie also nicht eo ipso ein entlegenes oder absurdes Produkt eines irregegangenen menschlichen Geistes darstellt, sondern dass sie eine spezifische Ausgestaltung von Interpretationsprozessen bildet, die unausweichlich mit jeder menschlichen Existenz verbunden sind. Man muss nicht die sarkastische Irritation des Anthropologen Pascal Boyer teilen, dass unsere »mentalen Strukturen [...] es fertig bringen, einem unwirklichen Nichts Wohnstatt und Namen zu geben«49, um ihm dennoch darin beipflichten zu können, dass es »keinen religiösen Trieb [gibt], keinen gesonderten Hang, keine bestimmte Veranlagung zu religiösem Denken, kein eigenständiges Religionszentrum im Gehirn«50, sondern dass »Religion im Rahmen jener Systeme erklärt« werden muss, »die sich im Denken aller Menschen vorfinden und dort alle möglichen unschätzbaren und interessanten Arbeiten verrichten, aber nicht von sich aus dazu da sind, religiöse Ideen oder Verhaltensweisen hervorzubringen«51. Viertens: Wenn Religion ein Produkt von solchen Interpretationsprozessen ist, in denen das degenerate dynamische Objekt in bestimmter Weise ————— 49 P. BOYER, Und Mensch schuf Gott, aus dem Englischen übers. v. U. ENDERWITZ u.a., Stuttgart 2004, 398. 50 Ebd., 396f. 51 Ebd., 396.

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ausgestaltet wird, dann ist damit jedenfalls ausgeschlossen, dass Religion sich in solchen Interpretationsprozessen manifestiert, die mit einem unmittelbaren Interpretanten enden: mit einem Interpretanten also, in dem lediglich ein unmittelbares Objekt repräsentiert ist, wie es für das reine ›Fühlen‹ unterstellt werden muss. Auch degenerate dynamische Interpretanten können sich psychologisch als Gefühle manifestieren – man denke an das Beispiel der Antilope, die beim Anblick der Löwin Furcht entwickelt –, aber dann sind diese bereits intentionaler Natur, während unmittelbare Interpretanten, die keine dynamischen Interpretanten mehr nach sich ziehen, als ausschließlich qualitativ bestimmte Zustände vorzustellen wären, in denen der Interpretierende noch nicht zwischen sich und einem anderen unterscheidet. (An dieser Stelle kann keine Auseinandersetzung mit Schleiermacher geführt werden, der zwar das Gefühl – bzw. das unmittelbare Selbstbewusstsein – als originären Sitz der Frömmigkeit in Anspruch nimmt, der aber das Gefühl immer zugleich auch mit einem objektivierenden, begrifflich strukturierten Bewusstsein verbunden und im Gefühl stets schon einen Keim zum Tun angelegt sieht.) Fünftens: Die strukturelle Zuordnung der Religion zum Tun, wie hier vorgenommen, besagt nicht, dass etwas, was geglaubt wird und damit von propositionaler Form wäre, die Prämisse für ein Tun als Konklusion abgäbe. Die in den degeneraten dynamischen Interpretanten eines Tuns repräsentierten degeneraten dynamischen Objekte, auf deren Grundlage die Entscheidung über die Integration der unmittelbaren Objekte fällt, können nicht als Propositionen repräsentiert sein. Propositionen sind zunächst Formen normaler Interpretanten – wo über Wahrheit oder Falschheit geurteilt wird, wo etwas bejaht oder verneint wird, ist ein normaler Interpretant ausgebildet worden, der sich eo ipso als Denken manifestiert, nicht als Tun –; und wo solche Propositionen ihrerseits als dynamische Objekte auftauchen, handelt es sich bei den entsprechenden normalen Interpretanten um Argumente. Insofern besteht keinerlei direkter Zusammenhang zwischen einem Etwas-für-wahr-Halten und einem Tun, nämlich: keinerlei Zusammenhang, der durch ein und denselben Interpretationsprozess gestiftet würde. Ebenso gilt für das religiöse Für-wahr-Halten: Weder ein Tun, das eine Mehrheit vermutlich begrüßen würde (z.B. karitativer Art), noch ein Tun, das eine Mehrheit vermutlich ablehnen würde (z. B. terroristischer Art), kann als direkte Folge einer religiösen Überzeugung mit propositionalem Gehalt betrachtet werden. Der Zusammenhang zwischen einer religiösen Überzeugung mit propositionalem Gehalt und einem Tun sieht vielmehr so aus, dass eine solche Überzeugung – ein normaler Interpretant – in einem nachfolgenden Interpretationsprozess an die Funktionsstelle entweder des Zeichens oder aber des degeneraten dynamischen Objektes treten kann: Es handelt sich also um einen indirekten

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Zusammenhang. Tritt eine religiöse Überzeugung an die Funktionsstelle des degeneraten dynamischen Objekts, dann verliert sie ihre propositionale Form und fungiert nur noch als Qualifizierung der eigenen Person, indem die eigene Person nun als ein durch eine bestimmte Eigenschaft ausgezeichnetes Ding erscheint. Tritt eine religiöse Überzeugung an die Zeichenstelle, dann erfolgt die Entscheidung über die Integration oder NichtIntegration des unmittelbaren Objektes eben auf der Basis bzw. unter der Voraussetzung eines degeneraten dynamischen Objektes: also einer bereits bestehenden Selbstkonzeption, welche die Übernahme der Fremdkonzeption zulässt oder nicht (hier wäre der Zwiespalt zwischen Sollen und Wollen zu verorten, den Kant in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten beschreibt), welche aber die eigene Person im degeneraten dynamischen Interpretanten so repräsentiert sein lässt wie gerade beschrieben, nämlich als ein näherbestimmtes Ding. Weil der Zusammenhang zwischen Überzeugung und Tun nur ein indirekter ist, lässt sich aus der Tatsache, dass jemand etwas – und zwar durchaus aufrichtig – für wahr hält, keine Prognose im Blick auf sein Verhalten ableiten, sondern nur umgekehrt vom Verhalten auf die Selbstkonzeption schließen. (Auf diesen von den Pragmatisten akzentuierten Sachverhalt zielt die Melanchthonische Unterscheidung zwischen notitia und fiducia, aber ebenso Luthers Diktum, dass der Baum an seinen Früchten erkannt werde und nicht umgekehrt.) Das heißt für die bekannte These Jan Assmanns, die den Monotheismus mit einer spezifischen Form von Gewalt in Verbindung bringt – nämlich »eine[r] neuen[n] Form von Haß: [...] Haß auf Heiden, Ketzer, Götzendiener und ihre Tempel, Riten und Götter«52 –: Auch wenn dem, historisch betrachtet, kaum zu widersprechen ist (abgesehen von dem Hinweis darauf, dass in jedem Monotheismus zugleich ausgeprägte gewaltentschärfende Universalisierungstendenzen angelegt sind), so muss doch zugleich daran erinnert werden, dass kein Glaubenssatz, sei er monotheistisch oder nicht, direkt bzw. notwendig zur Gewaltausübung durch denjenigen führen kann, der einen solchen Glaubenssatz für wahr hält. Das gilt selbst für offene Aufforderungen zur Gewalt, für die es so viele traurige und entsetzliche Beispiele gibt, etwa: »Eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen«53, oder: »Was wollen wir Christen nu thun mit diesem verworffen, verdampten Volck der Jueden? [...] Ich wil meinen trewen rat geben [...], das man jre Synagoga oder Schule mit feur anstecke [...]. Und solchs sol man thun, unserm Herrn und der Christenheit zu ehren damit Gott sehe, das wir ————— 52 J. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung oder Der Preis des Monotheismus, München/Wien 2003, 29. 53 Ex 22,17; zitiert nach: Die Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments, übers. v. H. MENGE, darin: Das Alte Testament, 101.

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Christen seien und solchs oeffentlich liegen, fluchen und lestern seines Sones und seiner Christen wissentlich nicht geduldet noch gewilliget haben. [...] Nu wirs [...] wissen, und solten darueber, frey fur unser nasen, den Jueden ein solch Haus schuetzen [...], Das were eben so viel, als thetten wirs selbs [...]. Mose schreibt [...], das, wo eine Stad Abgoetterey triebe, solt man sie mit feur ganz verstoeren [...]. Und wenn er itzt lebete, So wuerde er der erste sein, der die Jueden Schulen und Heuser anstecket.«54 Jede Befolgung einer derartigen Aufforderung, auch der eindringlichsten, erfolgt nicht voraussetzungslos, sondern erfordert zuerst, dass der Interpretierende seine eigene Person als eine hasserfüllte oder gewaltbereite konzipiert hat: als eine, die Gewaltanwendung, jedenfalls in bestimmten Fällen, für gutheißt. Keine Aufforderung wird umstandslos in ein Tun übersetzt, sondern sie muss zuvor in ihren Implikationen für den Interpretierenden von letzterem akzeptiert worden sein. Wahrheitsansprüche – die Assmann mit dem Monotheismus intrinsisch verbunden sieht – werden im Denken aufgestellt, geprüft und verhandelt – in normalen Interpretanten –, im Tun hingegen – in dynamischen Interpretanten – werden Selbstkonzeptionen sichtbar. (Interessanterweise wird dieser Struktur gerade bei Luther Rechnung getragen, indem er sie in Theologie, nämlich in Rechtfertigungstheologie umsetzt: Das durch die Bezugnahme auf Gott vermittelte Selbstverhältnis – in Luthers Sprache: die ›Seele‹ – geht jedem Außenverhältnis – dem ›Leib‹ – voraus und dirigiert es.) Religionen sind nicht deshalb gefährlich, weil und sofern sie Wahrheitsansprüche aufstellen; sondern sie können deshalb gefährlich werden, weil sie strukturell immer auch im Tun verankert sind: und aus demselben Grund können sie sich eben auch segensreich auswirken. In jedem Falle sind es nicht Religionen, die miteinander in Konflikte geraten, schon gar nicht in handgreifliche, sondern Personen; und diese bleiben es, die auf die Konsequenzen ihrer jeweiligen Selbstkonzeptionen – auf ihr Tun – hin anzusprechen sind. Sechstens: Für alle drei Religionstypen gilt, dass die religiösen Qualifizierungen der eigenen Person mit anderweitigen Qualifizierungen, ob schon vorliegenden oder noch zu erwerbenden, vermittelt werden müssen. Solche Vermittlungsprozesse erfolgen wie skizziert in den degeneraten dynamischen Interpretanten. Insofern bilden diese den Ort, an dem die Wahrheitsfrage wenngleich noch nicht auftaucht, so doch schon vorbereitet wird: vorbereitet nämlich durch das Bemühen des Interpretierenden um Integrität, wie diese sich sodann im Tun manifestiert. Wahrheitsansprüche im eigentlichen Sinn hingegen müssen formuliert werden; und sie werden vor allem dort formuliert, wo nicht so sehr Gott als vielmehr, wie beim dritten ————— 54 M. LUTHER, Von den Juden und ihren Lügen, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. LIII, Weimar 1920, 417–557, hier 522, Z.29–523, Z.16.

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Religionstyp der Fall, der eigene Glaube an Gott als relevante Bezugsgröße auftritt. Denn ein solcher Glaube kann der nüchternen Prüfung durch den Interpretierenden selbst unterzogen werden; und ebenso kann er anderen vorgetragen werden, ja, er kann sogar inhaltlich geradezu mit der Forderung verbunden sein, dass er anderen kommuniziert werde. In all diesen Fällen äußert er sich in einem Sprechakt seitens des Interpretierenden, so dass das Gesprochene nun seinerseits, ob von ihm selbst oder von anderen, interpretiert und bejaht oder verneint, also auf Wahrheit hin geprüft werden kann. Umgekehrt heißt dies: Wahrheitsansprüche können nur sprechend durchgesetzt werden. Wo man meint, religiöse Wahrheitsansprüche stattdessen mit Gewalt verfechten zu können, wie es immer wieder vorgekommen ist und immer wieder vorkommt, liegt nicht nur ein ethisches Problem vor, sondern auch ein gravierendes Selbstmissverständnis.

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Enger und weiter religiöser Dissens Stephan Sellmaier Enger und weiter religiöser Dissens Ich habe an anderer Stelle eine ›Ethik der Konflikte‹1 ausgearbeitet, die geeignet ist, ethisch angemessene Lösungsvorschläge für eine normative Pattsituation wie den ethischen Dissens anzugeben. In diesem Aufsatz möchte ich mich mit religiösem Dissens beschäftigen, den ich bislang ohne weitergehende Differenzierungen als einen Fall von ethischem Dissens betrachtet habe. Unter bestimmten sozialpolitischen Umständen, in denen unklar ist, welchen normativen Anweisungen der verschiedenen an der Entscheidungssituation involvierten Religionen Folge zu leisten ist, kann es zu ethischen Entscheidungssituationen kommen, in denen nach ausgewogener Überlegung die am Disput beteiligten Religionen zu verschiedenen Einschätzungen kommen. Entscheidungskonflikte dieser Art treten gehäuft in pluralen Gesellschaften auf, für die religiöse Vielfalt typisch ist. Sie verdanken sich dem Fehlen eines eindeutigen und allgemein akzeptierten Bewertungsmaßstabs. Nun führt Pluralität im Religiösen nicht notwendig zu einem normativen Patt. Die friedliche Koexistenz verschiedener Religionen liegt nicht jenseits unserer Erfahrung und Vorstellungskraft. Dennoch kann es unter bestimmten Umständen zu Situationen kommen, in denen die soziale Gemeinschaft allgemeingültige Lösungen für normative Herausforderungen finden muss, für die es keine gemeinsame religiöse Bewertung gibt. Vielzitierte Beispiele sind alle ethischen Konflikte, die um den Lebensbeginn oder das Lebensende von Personen kreisen. Unterschiedliche Religionen verfechten zum Teil verschiedene ethische Positionen und Lösungen für derartige Entscheidungskonflikte. Moralische Entscheidungskonflikte bilden in der Regel den Startpunkt ethischer Überlegungen. Wir erwarten von ethischen Theorien, aber auch Religionen genau dann handlungsrelevante Anleitung, sofern unsere alltäglichen Überzeugungen nicht mehr hinreichend eindeutig sind. Das soll nicht heißen, dass Ethik und Religion für unser alltägliches Entscheiden keine Rolle spielen, ganz im Gegenteil orientieren wir uns im Alltag an unseren Wertüberzeugungen, sofern das theoretische Räsonieren über ————— 1 Die in diesem Aufsatz dargestellten Überlegungen sind eine Anwendung meiner Theorie Ethik der Konflikte (S. SELLMAIER, Ethik der Konflikte. Über den moralisch angemessenen Umgang mit ethischem Dissens und moralischen Dilemmata, Stuttgart 2008) auf religiöse Konfliktsituationen. Die theoretischen Details und die dazugehörigen Literaturhinweise bitte ich den interessierten Leser deshalb dort nachzuschlagen.

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moralische Entscheidungskonflikte nicht unser alltägliches Geschäft darstellt. Eine wesentliche Voraussetzung für die angemessene Lösung derartiger Konflikte ist aber deren genaue Analyse.2 Nur sofern man sowohl die exakte Struktur als auch den exakten Inhalt des Problems erkannt hat, kann man moralisch sinnvolle Lösungsvorschläge machen. Ich werde deshalb einige Zeit dafür verwenden, um diejenigen normativen Konflikte zu charakterisieren, die ich einen religiösen Dissens nennen möchte und die man überdies hinaus sinnvoll als ethische Pattsituationen analysieren kann. Bislang habe ich den oftmals impliziten normativen Kern einer Religion funktionell mit einer ethischen Theorie gleichgesetzt. Religionen stellen immer – wenn auch oft implizit – Kriterien für moralisch angemessenes Verhalten auf und geben Personen einen Bewertungsmaßstab für ihr Handeln an die Hand. Betrachtet man Religionen aus dieser eingeschränkten Perspektive, dann scheint es durchaus plausibel, dass in pluralen gesellschaftlichen Kontexten verschiedene Religionen zu unterschiedlichen normativen Einschätzungen hinsichtlich eines ethischen Entscheidungsproblems kommen. Die Aufgabe einer ›Ethik der Konflikte‹ liegt dann in der Bereitstellung moralisch angemessener Lösungsvorschläge für derartige Entscheidungssituationen, sofern alle Beteiligten bereit sind, den am Diskurs beteiligten Religionen dieselben Rechte zuzugestehen. Religionen zeichnen sich aber nicht ausschließlich durch die ihnen innewohnenden normativen Bewertungsmaßstäbe aus, sondern machen darüber hinaus noch eine Fülle weitergehender Annahmen, wie z.B. über das Jenseits. Die für meine Belange und die Diskussion von religiösen Dissensen wichtigen zusätzlichen Annahmen bezeichne ich im folgenden als metaphysische Hintergrundannahmen von Religionen, da sie im Gegensatz zu den impliziten Bewertungsmaßstäben keinen zumindest ersichtlichen unmittelbaren Einfluss auf die normative Bewertung einer Entscheidungssituation haben, aber maßgeblich für die angemessene Charakterisierung des zu untersuchenden Entscheidungsproblems sind. In der Ethik der Konflikte habe ich bewusst von allen Hintergrundannahmen abstrahiert, da ich mich ausschließlich mit Konflikten, die einen rein normativen Ursprung haben, beschäftigen wollte und ich gezielt eindeutig charakterisierbare Entscheidungsprobleme untersucht habe. Ich ging also immer davon aus, dass es eine allgemein akzeptierte Beschreibung des zu analysierenden Entscheidungsproblems gibt und der Konflikt sich nicht um die adäquate Beschreibung dreht. Diese Einschränkung – so ————— 2 Der hier vorgestellte Ansatz ist ein entscheidungstheoretischer Ansatz moralischer Konflikte. Er besitzt den Vorteil, dass die fraglichen normativen Entscheidungsprobleme ihrer Struktur nach genau erfasst und charakterisiert werden können, ist aber dementsprechend weit von unserer alltäglichen intuitiven Entscheidungspraxis entfernt.

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sinnvoll sie auf der Ebene philosophischer Ethiken ist – macht, wie sich zeigen wird, für religiösen Dissens keinen Sinn. Ich werde deshalb im folgenden zwei verschiedene Typen unterscheiden: religiösen Dissens im engen und weiten Sinn. Religiöser Dissens im engen Sinn ist eine Unterart des ethischen Dissenses, für den ich in meiner Ethik der Konflikte Lösungsvorschläge erarbeitet habe und den ich hier kurz zusammenfassend darstellen werde. Welche Voraussetzungen und Charakteristika für ihn bestehen, werde ich kursorisch darlegen. Vom engen religiösen Dissens unterscheide ich den weiten religiösen Dissens. Er betrifft nicht ausschließlich normative Wertdifferenzen, sondern umfasst die schwierigen und komplexen Probleme der richtigen Erfassung und Beschreibung konkreter Entscheidungssituationen, für die metaphysische Hintergrundannahmen maßgeblich sind. Ihnen wende ich mich im zweiten Teil zu.

I. Religiöser Dissens im engen Sinn Ein religiöser Dissens im engen Sinne liegt vor, sofern ein redliches, religiös gründlich durchdachtes und mit einem Wahrheitsanspruch versehenes normatives Urteil einer Religion mit einem ebensolchen Urteil einer anderen Religion hinsichtlich einer konkreten und klar bestimmbaren Entscheidungssituation im Widerspruch steht. Ein aktualer religiöser Dissens im engen Sinn liegt genau dann vor, wenn sich der soziale Geltungsbereich mindestens zweier solcher Urteile überschneidet. In diesem Fall schließen die Urteile einander wechselseitig aus, was zu einer dringlichen Entscheidungssituation führt, einer Situation, in der Nichtstun in der Regel die weitaus schlechtere Option darstellt. Die Situation hat deshalb moralische Brisanz, da wir es mit einer Handlungssituation zu tun haben, für die wir verschiedene religiös angemessene Handlungsoptionen besitzen, wir aber in einer konkreten Situation nur einer folgen können. Für den medizinischen Alltag müssen wir uns beispielsweise für eine praktikable und für alle hinreichend ähnlichen Kontexte gleiche Verwendung eines Kriteriums für den Lebensbeginn entscheiden und können dies nicht der Entscheidungsfreiheit der involvierten Akteure überlassen. Das geht deshalb nicht, da wir nicht davon ausgehen können, dass sich diese immer auf eine Umgangsweise einigen werden. Aktualer religiöser Dissens im engen Sinn tritt vor allem in pluralen Gesellschaften auf, in denen keine Religionsgemeinschaft dominiert und als allgemein akzeptiert gilt. Divergierende Urteile – z.B. über die beste Eissorte – führen nicht notwendig in einen Dissens. So können wir ohne weitere Einschränkung

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akzeptieren, dass andere Personen eine andere Lieblingseissorte haben als wir selbst. Geschmacksurteile sind subjektiv und haben in der Regel keinen weiteren objektiven Anspruch. Sie können widerspruchsfrei nebeneinander bestehen. Inwieweit religiöse Urteile mit Geschmacksurteilen zu vergleichen sind, hängt von den metaethischen und ontologischen Annahmen der involvierten Religionen ab.3 Festzustellen ist aber, dass religiöse Urteile ohne Wahrheitsanspruch in keinen religiösen Dissens führen können, da sich die Gültigkeit ihrer Urteile – analog zu den erwähnten Geschmacksurteilen – nicht überschneidet und nicht wechselseitig ausschließt. Für einen Dissens ist der wechselseitige Ausschluss der Urteile aber unerlässlich, da nur dann der für einen Dissens typische normative Konflikt und der damit einhergehende Entscheidungsbedarf besteht. Da ich an dieser Stelle keine besondere Wahrheitstheorie voraussetzen möchte, zähle ich zu dem Wahrheitsanspruch der vorgebrachten religiösen Urteile einen weiteren Aspekt hinzu, damit divergierende religiöse Urteile sich wechselseitig ausschließen können: Der Geltungsbereich d.h. die sie einschließenden und betreffenden sozialen Geltungsbereiche beider religiösen Urteile müssen sich überschneiden. Sind in einem konkreten Fall die dargelegten Bedingungen an den religiösen Dissens im engen Sinn erfüllt, dann erscheint es sinnvoll, sofern sich die beteiligten Konfliktparteien wechselseitig dieselben moralischen Rechte zugestehen, nach einer gemeinsamen ethisch angemessenen Lösung für das normative Entscheidungsproblem zu suchen. Die ›Ethik der Konflikte‹ kann, da verschiedene Religionen mit gleichwertigem Anspruch involviert sind, nicht ergänzend bzw. erweiternd auf einer der involvierten Religionen aufbauen. Denn oberste Priorität muss neben dem Wunsch nach einer gemeinsamen ethisch rechtfertigbaren Bewältigung des religiösen Dissenses die allgemeine Akzeptierbarkeit der erarbeiteten Lösung haben. Die kann aber nur erreicht werden, sofern alle Beteiligten in ihren Interessen, aber auch moralischen und religiösen Überzeugungen, gleichermaßen anerkannt werden. Eine ›Ethik der Konflikte‹ muss deshalb jegliche Parteinahme vermeiden und die wechselseitige Akzeptanz der sich ausschließenden vorgetragenen Positionen voraussetzen. Dennoch kommt man nicht ohne ein gemeinsames Wertfundament aus. Ohne dieses wäre eine ethisch rechtfertigbare Bewältigung der Konflikte gar nicht möglich. Diese minimale Basis muss von allen Betroffenen akzeptiert werden und hängt, das macht ihren dynamischen Charakter aus, von der normativen Verschiedenheit der vertretenen Positionen ab. Ohne eine minimale gemeinsame Basis kann man nicht sinnvoll von einem wechsel————— 3 Ich gehe im Folgenden ohne weitere Begründung von einer realistischen Interpretation religiöser moralischer Urteile aus. Die religiöse Praxis legt diese Lesart nahe.

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seitigen Verstehen und Akzeptieren der normativen Position des anderen sprechen. Die wechselseitige Akzeptanz der moralischen Positionen ist eine Grundvoraussetzug für die ›Ethik der Konflikte‹. Fehlt sie, dann suchen die Beteiligten auch keine gemeinsame moralische Lösung für ihren Entscheidungskonflikt, sondern weichen auf andere Methoden der Konfliktbewältigung aus. Für den religiösen Dissens im engen Sinn ist die Vorgehensweise der Ethik der Konflikte deshalb zweistufig: (1) Die vollständige Analyse des Entscheidungsproblems deckt alle für die Bewältigung wichtigen normativen Faktoren und Festlegungen auf. (2) Der anschließende strukturierte Einigungsprozess ermöglicht den Konfliktparteien die Auswahl einer Handlungsalternative. Der im zweiten Schritt angestrebte Einigungsprozess ist ein Aushandlungsprozess, in dem die beteiligten Konfliktparteien als Gleichgestellte eine gemeinsame, für alle tragbare und akzeptable Lösung finden müssen. Die Möglichkeit, den Einigungsprozess zu einem Ergebnis zu führen, hängt unter anderem wesentlich von den psychologischen Voraussetzungen der Konfliktparteien ab. In vielen Fällen sind für die Bewältigung eines religiösen Dissenses harte Kompromisse zwischen den Konfliktparteien nicht zu vermeiden. Inwieweit diese tatsächlich realisiert werden können, kann sich nur im konkreten Alltag zeigen. Die wesentliche Aufgabe der ›Ethik der Konflikte‹ liegt im Falle des religiösen Dissenses in der notwendigen begrifflichen Analyse. Die Aufgabe der Philosophie kann nicht die faktische Einigung sein, sondern liegt in der Bereitstellung eines normativen Instrumentariums, das jede dieser faktischen Einigungen benutzen muss, um eine moralisch plausible und rechtfertigbare Einigung zu erzielen. Das Ziel der ›Ethik der Konflikte‹ liegt in der Bewältigung eines moralischen Entscheidungsproblems im Rahmen der strukturellen und normativen Eigenschaften des zugrunde gelegten religiösen Dissenses. Je weiter in einem konkreten Fall die moralischen Positionen voneinander entfernt sind, desto wahrscheinlicher werden sub-optimale Lösungen, die als Kompromisse zwischen den Extremen verstanden werden können. In der ›Ethik der Konflikte‹ muss deshalb bei der Bewältigung eines religiösen Dissenses der Bereich der moralisch möglichen Handlungsalternativen erweitert werden. In den Fokus der Betrachtung kommen deshalb auch Handlungsoptionen, die aus der Sicht der entsprechenden Religionen sub-optimal sind und deshalb nicht gefordert wurden. Prinzipiell lassen sich für einen religiösen Dissens zwei Extrema denken:

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(1) Die einander wechselseitig ausschließenden religiösen Urteile fordern einander ähnliche Handlungsalternativen. (2) Die einander wechselseitig ausschließenden religiösen Urteile fordern diametral entgegenstehende Handlungsalternativen. Irgendwo in diesem Spektrum an Gegensätzlichkeit wird sich jeder religiöse Dissens im engen Sinn einordnen lassen. Je weiter die moralischen Positionen in einem konkreten Fall voneinander entfernt sind, desto wahrscheinlicher wird ein Kompromiss zwischen beiden Positionen. Ausschließlich bei ähnlichen Urteilen kann die Auswahl einer der fraglichen Optionen ein probates Mittel sein. Die Unterscheidung verschiedener Ausprägungen des religiösen Dissenses entlang dieser Dimension ist für die Auswahl der sinnvollen Bewältigungsstrategien unerlässlich. Um diese Unterscheidung begrifflich charakterisieren zu können, führe ich den Begriff der Wertdifferenz ein. Die Wertdifferenz zweier religiöser Werturteile ermittelt sich aus der wechselseitigen Bewertung der fraglichen Handlungsoptionen. Um die Wertdifferenz zwischen verschiedenen an einem religiösen Dissens beteiligten Werturteilen sinnvoll ermitteln zu können, muss unter der Verwendung der entsprechenden Religionen eine ordinale Ordnung aller möglichen Handlungsalternativen erstellt werden. Das heißt, man ordnet für jede der am Diskurs beteiligten Religionen alle für eine spezifische Situation in Betracht kommenden Handlungen in Bezug auf ihre religiöse Angemessenheit. Obwohl für den Begriff ›moralisch‹ kein Komparativ sinnvoll ist, ist ein Vergleich der unterschiedlichen Handlungsalternativen bezüglich ihrer Angemessenheit immer möglich. Dazu genügt die Unterscheidung zwischen einer moralisch richtigen, einer moralisch neutralen, das heißt weder richtigen noch falschen, und einer moralisch falschen Handlung, die in der Regel jede Religion ermöglicht. Die Differenzierungen der fraglichen Handlungen gestattet die Ordnung aller in Frage kommenden Handlungsoptionen nach aufsteigender Moralität. Die Einteilung der fraglichen Handlungen in die Klassen der moralisch richtigen, neutralen und falschen Handlung liefert eine ordinale Ordnung, die es gestattet, alle Handlungen wechselseitig bezüglich ihrer Moralität zu vergleichen. Manche Handlungen sind dann im unmittelbaren Vergleich moralischer als andere; manche unterscheiden sich nicht bezüglich ihrer Moralität. Dieser erste Verfahrensschritt führt für jede am Diskurs beteiligte Religion zu einer Reihung der Handlungsoptionen, an deren Spitze die jeweils normativ ausgezeichnete Handlung steht. An einem konkreten Beispiel verdeutlicht, lassen sich für den vereinfachten Fall einer Entscheidungssituation mit fünf Handlungsoptionen (A, B, C, D, E) folgende Anordnungen denken:

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Religion 1: A, C, B, D, E Religion 2: B, C, A, D, E Nachdem für jede involvierte Religion eine ordinale Ordnung der möglichen Handlungsoptionen erstellt wurde, lässt sich die (ordinale) Wertdifferenz der fraglichen Handlungsoptionen innerhalb einer Religion bemessen. Da eine kardinale Ordnung aller Handlungsoptionen für Religionen schon aus methodischen Gründen nicht zu erwarten ist, kann die mittels einer ordinalen Ordnung ermittelte Wertdifferenz auch nur ein heuristisches Mittel der Unterschiedsbestimmung sein.4 Dennoch erlaubt eine ordinale Ordnung erste wichtige Schlussfolgerungen für eine moralisch akzeptable Bewältigung des religiösen Dissenses. Ist der ordinale Abstand zwischen den, den religiösen Dissens bestimmenden, besten Optionen sehr groß, dann liegt ein sinnvoller Kompromiss aus der Perspektive der ›Ethik der Konflikte‹ zwischen diesen beiden Extrema. Welche dieser in einigen Fällen vielfältigen Handlungsoptionen sich als ein sinnvoller und tragbarer Kompromiss herausstellt, hängt von den ordinalen Ordnungen der Handlungsalternativen der dem religiösen Dissens zugrunde liegenden Religionen ab. Nimmt man aus beiden ordinalen Ordnungen diejenigen Teilsequenzen, die durch die jeweils moralisch ausgezeichneten Handlungsoptionen begrenzt werden, dann bestehen zwei denkbare Durchschnittsmengen: (1) Bei der Durchschnittsbildung der für jede der beteiligten Religionen ausgezeichneten sinnvollen Kompromisshandlungen bleiben nur die beiden ursprünglich ausgezeichneten Handlungsoptionen übrig.5 (2) Bei der Durchschnittsbildung der für jede der beteiligten Religionen ausgezeichneten sinnvollen Kompromisshandlungen bleiben neben den beiden ursprünglichen Handlungsoptionen weitere Alternativen übrig.6 Jeder sinnvolle und tragfähige Kompromiss für einen religiösen Dissens muss aus dieser Durchschnittsmenge kommen. Dieser Schritt erweitert also die Menge der in Betracht kommenden Handlungsoptionen, indem er den Bereich der sub-optimalen Lösungen erweitert. Damit ist allerdings auf der Reflektionsebene der ›Ethik der Konflikte‹ noch keine für jedes Handeln notwendige Eindeutigkeit erreicht, da die Durchschnittsmenge neben den ————— 4 Eine ordinale Ordnung ist kein geeignetes Mittel zur Bestimmung eines genauen, intersubjektiv gültigen, durch eine Maßzahl beschreibbaren objektiven Wertabstands. 5 An einem Beispiel verdeutlicht: Religion 1: A, [K, L, M], B, C, ....; Religion 2: B, [X, Y, Z], A, C, ....; Durchschnitt [A-B]Rel1šRel2: A, B. 6 An einem Beispiel verdeutlicht: Religion 1: A, C, D, E, F, [K, L, M], B, G, ....; Religion 2: B, F, D, C, E, [X, Y, Z], A, G, ....; Durchschnitt [A-B]Rel1šRel2: A, B, C, D, E, F.

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beiden den Dissens bestimmenden Handlungsoptionen noch weitere enthalten kann und aus diesem Grund keine Einermenge ist. Im letzten und entscheidenden Schritt muss die notwendige Eindeutigkeit hergestellt werden. Für die eben skizzierte Methode der Durchschnittsmengenbildung möglicher Kompromisshandlungen lassen sich folgende drei Konstellationen unterscheiden: (1) In beiden Religionen ergibt sich unter der Zuhilfenahme der entsprechenden ordinalen Ordnungen eine wechselseitig große ordinale Wertdifferenz zwischen den fraglichen Handlungsalternativen.7 (2) In beiden Religionen ergibt sich unter der Zuhilfenahme der entsprechenden ordinalen Ordnungen eine wechselseitig kleine ordinale Wertdifferenz zwischen den fraglichen Handlungsalternativen.8 (3) In beiden Religionen ergibt sich unter der Zuhilfenahme der entsprechenden ordinalen Ordnungen aus der Perspektive einer Theorie eine große, aus der Perspektive der anderen Religion eine kleine ordinale Wertdifferenz zwischen den fraglichen Handlungsalternativen.9 Je kleiner die ordinale Wertdifferenz zwischen den ursprünglichen Handlungsoptionen ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Durchschnittsmenge der möglichen Kompromisshandlungen nur die beiden Ausgangsoptionen enthält. Nun muss für jede nachvollziehbare Bewältigung eines religiösen Dissenses der wichtige Unterschied zwischen der zweiten und der dritten möglichen Konstellation berücksichtigt werden, da die beiden oben angesprochenen Extrema der Durchschnittsbildung auf verschiedene Weise zustande kommen können. Nur in der zweiten Konstellation stehen sich die beiden Ausgangsalternativen wechselseitig ordinal nah. In der dritten Konstellation stehen sich die Ausgangsalternativen einmal ordinal nah und einmal ordinal fern. Die Durchschnittsbildung erfasst aber diesen Unterschied nicht. Dieser Unterschied kann aber bei der Aushandlung eines Kompromisses von Bedeutung sein. Bleiben in der zweiten Konstellation nur die beiden Ausgangshandlungen übrig, dann muss eine gleichberechtigte Auswahl aus diesen getroffen werden, da jede andere Handlungsalternative einen Beteiligten überproportional benachteiligt. ————— 7 An einem Beispiel verdeutlicht: Religion 1: A, C, D, E, F, [K, L, M], B, G, ....; Religion 2: B, F, D, C, E, [X, Y, Z], A, G, ... 8 An einem Beispiel verdeutlicht: Religion 1: A, [X], B, C, ....; Religion 2: B, [Y], A, C, ... 9 An einem Beispiel verdeutlicht: Religion 1: A, C, D, E, F, [K, L, M], B, G, ....; Religion 2: B, [X], A, G, ...

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In derartigen Fällen kann man auf Entscheidungshilfen zurückgreifen und beispielsweise den Zufall entscheiden lassen. Ist man mit dynamischen Kontexten beschäftigt, bietet sich auch eine Kombination aus Zufallsentscheid und Rotation an. Kommt die Zweiermenge aber durch die dritte Konstellation zustande, dann darf nicht notwendig eine gleichberechtigte Auswahl zwischen beiden Ausgangshandlungen getroffen werden. Denn aus der Perspektive einer der beiden Religionen sind sich beide Optionen ordinal nah, während sie aus der Perspektive der anderen Religion ordinal fern sind. Einigt man sich gleichberechtigt durch einen Zufallsentscheid auf eine der beiden Optionen, dann geht diejenige Person, deren ordinale Wertdifferenz der Handlungsalternativen groß ist, ein unverhältnismäßig großes Risiko für einen sehr harten Kompromiss ein. Es ist deshalb notwendig, dass ein tragfähiger Kompromiss diese Ungleichheit der Bewertung berücksichtigt. Ein letzter Fall bleibt noch zu besprechen: In der ersten Konstellation bleiben in der Regel bei der Durchschnittsbildung zusätzlich zu den Ausgangsoptionen andere Handlungsalternativen übrig. Aus dieser Menge muss dann durch den bereits angesprochenen Aushandlungsprozess ein tragfähiger Kompromiss gefunden werden. Dieser mögliche Kompromiss hängt aber wesentlich von der Bereitschaft der Beteiligten ab, auch schmerzliche Abstriche von der eigenen Position zu machen. Besteht auf dieser Ebene keine Kompromissbereitschaft, dann kann die Ethik der Konflikte keine Eindeutigkeit herbeiführen, da die Menge der möglichen Kompromisshandlungen aus ihrer Sicht nur gleichwertige Optionen enthält. Eine wichtige Einschränkung des von mir charakterisierten Verfahrens der ordinalen Wertdifferenz muss unbedingt beachtet werden: Die ordinale Ordnung der Handlungsoptionen wird mit Hilfe der Einteilung in moralisch richtige, moralisch neutrale und moralisch falsche Handlungen herbeigeführt. Die von mir verwendete Rede der ordinalen Nähe greift aber nur auf den ordinalen Abstand und primär nicht auf die Klassenzugehörigkeit der moralisch richtigen, neutralen oder falschen Handlungen zurück. Diese erfassen aber im eigentlichen Sinn die moralische Nähe verschiedener Handlungsoptionen. So kann die unmittelbare Nachbarschaft in der ordinalen Reihenfolge beispielsweise ausschließlich moralisch richtige, aber auch moralisch richtige und moralisch falsche (beziehungsweise neutrale) Handlungen betreffen. Hinsichtlich der Moralität ist aber der Übergang von moralisch richtigen zu moralisch falschen Handlungen bedeutsamer. Letztlich bleibt das ganze von mir skizzierte Verfahren nur ein heuristisches Verfahren, das es gestattet, den notwendigen Aushandlungsprozess sinnvoll zu strukturieren. Heuristisch ist dieses Verfahren deshalb, da man mit der Hilfe einer ordinalen Wertdifferenz nicht zuverlässig und intersubjektiv überprüfbar den Wertabstand zweier Handlungsoptionen bestimmen

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kann. Nur wenn das möglich ist, kann man feststellen, ob eine ordinal kleine Wertdifferenz auch tatsächlich kardinal klein ist. In dem von mir skizzierten Verfahren bin ich stillschweigend von dieser Äquivalenz ausgegangen. Dass diese Annahme oft nicht der Realität entspricht, kann im skizzierten Verfahren nur der offene und kompromissbereite Diskurs zwischen den beteiligten Religionen aufdecken. Eine kardinale Wertdifferenz, die aus dem heuristischen Verfahren ein zwingendes machen würde, kann zum einen nicht jede an dem Dissens beteiligte Religion anbieten, zum anderen scheint sie mir generell in moralischen Kontexten außerordentlich unplausibel zu sein. Mehr als ein heuristisches Verfahren zur moralisch angemessenen Bewältigung eines aktualen religiösen Dissenses kann es meiner Überzeugung nach nicht geben. Die Angabe dieses Verfahrens stellt aber für den konstruktiven Umgang mit normativen Pattsituationen, die den Ausgang für diese Überlegungen gebildet haben, ein hilfreiches und womöglich effektives begriffliches Instrumentarium zur Verfügung. Ob die Menschheit zu derartigen Kompromissen tatsächlich fähig ist, kann nur die Praxis zeigen.

II. Religiöser Dissens im weiten Sinn Religiöser Dissens im engen Sinn ist sehr voraussetzungsreich und in politischen Entscheidungskontexten bislang selten anzutreffen. Voraussetzungsreich ist er deshalb, weil sich alle am Diskurs beteiligten Religionen als gleichwertig und gleichberechtigt ansehen müssen, was in der Regel nicht der heutigen sozialen und religiösen Praxis entspricht. In religiösen Kontexten ist mit Sicherheit der religiöse Dissens im weiten Sinn weitaus häufiger anzutreffen. Er ist ein Dissens über die angemessene Darstellung und Erfassung eines ethisch relevanten Sachverhalts und hat viele Facetten: Ein Aspekt betrifft die richtige und vollständige Erfassung aller relevanten Faktoren eines normativen Entscheidungsproblems. Hat eine Person wichtige Faktoren übersehen oder in ihren Überlegungen übergangen, dann betrifft der dadurch möglich gewordene Dissens keine ethischen, sondern ausschließlich empirische Fragen. Dies ist die harmlose Variante des Beschreibungsproblems in der Entscheidungstheorie, da man übersehene wichtige Informationen gerne und ohne lange Überzeugungsarbeit zu berücksichtigen bereit ist. Beschreibungen lassen sich aber leider nicht eindeutig und klar von Bewertungen trennen. Der Mythos des Gegebenen ist vor allem in normativen Situationen ein Mythos. Der Zusammenhang zwischen Beschreibung und Bewertung ist komplex und betrifft aufgrund der vielfältigen metaphysischen Annahmen, die Religionen

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machen, den religiösen Dissens im besonderen Maße. Jede Beschreibung normativer Situationen bedarf der Verwendung wertender Begriffe, setzt metaphysische Hintergrundannahmen voraus und kann deshalb Gegenstand einer Auseinandersetzung werden. Sowohl bei der Beschreibung von möglichen Handlungsalternativen als auch bei der Beschreibung der entsprechenden Konsequenzen unseres Handelns müssen wir auf wertende Begriffe zurückgreifen. In der zeitgenössischen Ethik wird deshalb zwischen inhaltsreichen ethischen Begriffen wie beispielsweise ›feig‹, ›brutal‹, ›harmlos‹ und ›selbstverschuldet‹ und theoretischen Begriffen wie ›moralisch gut‹, ›gerecht‹ und ›richtig‹ unterschieden. Bei der bloßen Beschreibung normativer Entscheidungsprobleme können und sollen wir auf die theoretischen Begriffe jeder ethischen Theorie und Religion verzichten, um die verschiedenen ethischen Lösungsvorschläge besser gegenüberstellen zu können. Da die theoretischen Begriffe die Urteilsebene repräsentieren, sollten sie erst nach der Analyse des zu bewertenden Problems zur Verwendung kommen. Auf ethisch inhaltsreiche Begriffe können wir jedoch bei der Beschreibung einer konkreten ethischen Situation nicht verzichten, da sie wesentliche Charakteristika der zu analysierenden Situation darstellen. Es macht einen großen Unterschied für die ethische Bewertung – also das normative Urteil –, ob es sich um einen brutalen oder harmlosen Diebstahl handelt. Wie wir im ersten Teil gesehen haben, setzt ein ethischer Dissens ein gemeinsames normatives Problem voraus, das allen weiterführenden ethischen Überlegungen zugrunde liegt. Kann man sich nicht auf die Beschreibung eines gemeinsamen Entscheidungsproblems einigen, dann kann auch kein Dissens über das richtige moralische Verhalten in dieser Situation entstehen, da man sich auf verschiedene Entscheidungsprobleme bezieht. Dass es sich um keinen wirklich ethischen Dissens handelt, kann man daran ersehen, dass die beteiligten normativen Positionen (ethische Theorien oder Religionen) für dieselbe Entscheidungssituation dieselben Bewertungen vorschlagen könnten, ohne dass dadurch ihr Konflikt gelöst würde. Der Konflikt dreht sich ja gerade nicht um die Bewertung einer Situation, sondern um die richtige Erfassung derselben. Dieser Fall ist deshalb interessant, da im Gegensatz zu ethischen Theorien Religionen sehr viel weitreichendere metaphysische Hintergrundannahmen machen, die oft mit einer spezifischen Weltsicht verbunden sind. Die für ethische Theorien bestehende Möglichkeit der Abstraktion von derartigen Festlegungen gelingt für Religionen eigentlich nicht, da religiöse Gemeinschaften sich gerade durch ihre geteilte Weltsicht auszeichnen. Für ethische Theorien hingegen lässt sich das Bewertungskriterium, also der Maßstab für moralisch richtiges bzw. falsches Handeln, isoliert angeben. Das Nutzenprinzip des Utilitarismus oder der kategorische Imperativ der Kantischen Ethik

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charakterisieren aus der je eigenen Perspektive moralisch richtiges bzw. falsches Handeln. Bei der Anwendung dieser Kriterien auf konkrete Entscheidungssituationen spielen metaphysische und ontologische Annahmen keine entscheidende Rolle. Man kann von ihnen deshalb abstrahieren. Darüber hinaus lassen sich verschiedene ontologische und metaphysische Interpretationen einer ethischen Theorie angeben und werden auch vertreten. So gibt es eine realistische und anti-realistische Interpretationen des Utilitarismus, aber auch eine naturalistische bzw. intuitionistische Lesart.10 Die Möglichkeit der Entflechtung verschiedener philosophischer Ebenen und Aspekte ethischer Theorien steht Religionen leider nicht in diesem Maße zur Verfügung. Für Religionen ist das Zusammenspiel der angesprochenen philosophisch unterscheidbaren Ebenen ein sie wesentlich auszeichnendes Charakteristikum. Eine Abstraktion von ihnen macht insofern keinen Sinn, als das typisch Religiöse bei der isolierten Betrachtung ihrer impliziten normativen Bewertungen verlorenginge. Akzeptiert man dies, dann ist die Möglichkeit und die Häufigkeit eines religiösen Dissenses im weiten Sinn ein weitverbreitetes Phänomen. Ich möchte dies an einem konkreten Beispiel verdeutlichen: Die im hinduistischen11 Indien weit verbreitete Karmalehre, die nicht nur die beständige Wiedergeburt aller belebten Natur behauptet, sondern auch die uns Menschen von Geburt an zugewiesene soziale Stellung in der Gesellschaft durch die in unseren Vorleben vollbrachten Taten erklärt, lässt uns verstehen, warum die so erworbene soziale Stellung angemessen und gerecht ist. Für den gläubigen Hindu ist die Kaste in erster Linie kein soziales oder wirtschaftliches Faktum, sondern die Auswirkung des Karmas und der Wiedergeburt. Menschliche Ungleichheiten – die soziale Stellung, aber auch die persönlichen Talente – sind nicht das Ergebnis göttlicher Entscheidung, sondern entspringen dem eigenen Handeln. Je nachdem, wie man sich in den vergangenen Leben benommen hat, wird man im dem aktuellen Leben in eine höhere oder niedrigere Kaste oder selbst in eine nichtmenschliche Daseinsform hineingeboren. Jeder Hindu ist für seine gesellschaftliche Stellung durch sein erworbenes Karma verantwortlich, hat aber die Möglichkeit, diese durch entsprechendes Verhalten im Hier und Jetzt, aber auch den möglichen zukünftigen Leben zu verändern. Der Gestaltungsspielraum des menschlichen Lebens bewegt sich demnach zwischen der durch die Geburt festgelegten Kastenzugehörigkeit, die zunächst den Rahmen festlegt, und der individuellen Lebensführung. Das ————— 10

W.H. SHAW, Contemporary Ethics. Taking Account of Utilitarianism, Oxford 1999. Auch wenn ich im folgenden immer von der hinduistischen Karmalehre spreche, lässt sich das Gesagte ohne Einschränkung auf den Buddhismus übertragen. In beiden Religionen spielt die Karmalehre eine wichtige Rolle. 11

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persönliche Schicksal ist eine Kombination aus individueller Lebensführung und im Diesseits nicht verschiebbaren Rahmendaten. Ich betrachte im folgenden die Karmalehre als typisches Beispiel für eine metaphysische Hintergrundannahme, die ein zentrales und wesentliches Merkmal des Hinduismus ist.12 Der an diesem Beispiel entscheidende Punkt ist, dass soziale Ungleichheiten, die beispielsweise aus christlicher Sicht vermieden und, wenn vorhanden, ausgeglichen werden sollten, da die soziale Stellung eben keine selbst zu verantwortende ist, aus der hinduistischen Perspektive, der der Karmalehre, kein Gerechtigkeitsproblem darstellen. Die betroffene Person hat ihre soziale Stellung selbst zu verantworten, weshalb ihr auch kein durch eine gerechte Gesellschaft auszugleichendes Unrecht widerfahren ist. Die metaphysischen Annahmen der Karmalehre führen also zu einer anderen Beschreibung und Erfassung angeborener sozialer Ungleichheiten, als dies beispielsweise eine christliche Weltsicht tut.13 Soziale Ungleichheiten sind also nicht per se ungerecht und zu vermeiden, sondern sind ein integraler Bestandteil der hinduistischen Weltsicht. Daraus folgt nicht, dass es keine anderen für den Hinduismus akzeptablen moralischen Gründe gibt, um das Elend der niedrigsten Kasten zu bekämpfen und zu lindern, sondern nur, dass dies aus hinduistischer Sicht kein Gerechtigkeitsproblem darstellt.14 Dieses Beispiel verdeutlicht die komplexen und außerordentlich schwierigen Beschreibungsprobleme, die mit normativen Entscheidungssituationen einhergehen. Ludwig Wittgenstein schreibt in seinem Buch Über Gewissheit: »Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe, auch nicht weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommende Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.«15 Eine analoge Funktion möchte ich den metaphysischen Hintergrundannahmen verschiedener Religionen zuweisen. Sie bilden den überkommenen Hintergrund, auf dem normative Bewertungen aufbauen, also mit Hilfe der impliziten normativen Annahmen zwischen moralisch richtigem und falschem Handeln entschieden wird. Sie sind Voraussetzungen für die ————— 12 Ich enthalte mich jeglicher Bewertung der diskutierten metaphysischen Hintergrundannahmen und werde sie ausschließlich als mögliche und sinnvolle charakterisieren. Im modernen Indien sind die Kastenvorrechte politisch abgeschafft. 13 Ein Beispiel: »Hans lebt in armen Verhältnissen und kann deshalb nicht studieren.« »Dass Balram in armen Verhältnissen lebt, hat er selbst zu verantworten. Er kann deshalb nicht studieren.« 14 Aufgrund der Art der Beschreibung findet die (implizite) Theorie der Gerechtigkeit des Hinduismus keine Anwendung. 15 L. WITTGENSTEIN, Über Gewißheit, Frankfurt a.M. 1970, §94.

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Anwendung normativer Regeln, da sie die Voraussetzung für die adäquate Erfassung des normativen Problems darstellen und nichts mit ihrer Bewertung zu tun haben. Sie legen wie in dem diskutierten Beispiel den Rahmen, in dem sich Gerechtigkeitsfragen stellen, fest, denn gilt es, eine konkrete Situation zu beschreiben, dann soll zwar – wie bereits betont – nach Möglichkeit die Verwendung theoretischer ethischer Ausdrücke wie z.B. ›ungerecht‹ vermieden werden, aber inhaltsreiche ethische Ausdrücke wie z.B. ›zu verantworten‹, ›selbstverschuldet‹, ›der Person zuzuschreiben‹ oder ›von ihr verursacht‹ können und dürfen nicht übergangen werden. Daraus folgt nicht, dass es keine anderen moralischen Gründe gibt, Mitgliedern unterer Kasten zu helfen, sondern nur, dass der Raum, in dem sich sinnvollerweise z.B. Gerechtigkeitsfragen aufwerfen lassen, ein anderer ist. Denn hat die Person ihre soziale Stellung selbst zu verantworten, dann rückt ihre spezifische Situation nicht in den Fokus der Gerechtigkeitsproblematik.16 Religiöser Dissens im weiten Sinn verdankt sich also weitreichenden Annahmen, die nicht ausschließlich für die Bewertung normativer Situationen bestimmt sind. Der daraus resultierende Konflikt ist deshalb nicht rein normativer Natur und aus eben diesen Gründen auch nicht mit rein normativen Mitteln zu lösen. Er ist kein Gegenstand einer ›Ethik der Konflikte‹. Um ihm gerecht zu werden und die Sicht des anderen verstehen zu können, müssen die beteiligten Akteure ein hohes Maß an Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen mitbringen. Sie müssen fähig sein, die Welt durch eine andere, für sie ungewohnte Brille zu betrachten, um die damit einhergehende Sichtweise zu verstehen. In der zeitgenössischen Ethik verwendet man deshalb, sobald alle sinnvollen Differenzierungen ausgereizt sind und dennoch keine rechtfertigbare Lösung in Sicht ist, prozedurale Verfahren. Sie stellen sicher, dass die durch sie gefundenen Lösungen, auch wenn sie nicht an und für sich moralisch rechtfertigbar sind, aufgrund der Art und Weise, wie sie gefunden wurden, moralisch akzeptabel und deshalb in konkreten Situationen verwendbar sind. Auch wenn wir nicht wissen und moralisch begründen können, welchem von zwei gleichermaßen geeigneten Patienten wir das eine zur Verfügung stehende Transplantationsorgan geben sollen, können wir als prozedurales Verfahren den Zufall zwischen beiden entscheiden lassen und diese Lösung als angemessen empfinden, da sie die moralischen Ansprüche beider gleichermaßen zur Geltung kommen lässt. Prozedurale Verfahren sind prinzipiell auch für religiöse Kontexte denkbar. So könnte man beispielsweise vorschlagen, zwischen allen sinnvollen ————— 16 Die Unterscheidung zwischen inhaltsreichen ethischen Begriffen und theoretischen Begriffen ist also nicht so trennscharf, wie von vielen behauptet. An dem von mir diskutierten Beispiel lässt sich die Verwobenheit der Beschreibungs- und Bewertungsebene gut erkennen.

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und möglichen metaphysischen Hintergrundannahmen von Religionen, die zu einem Beschreibungsproblem in normativen Kontexten führen, eine zufällig auszuwählen, um das für den religiösen Dissens im weiten Sinn ursächliche Beschreibungsproblem zu lösen. Dieser Vorschlag ist aber insofern ungeeignet, da der Verhandlungsgegenstand – in dem von mir diskutierten Fall die Karmalehre – eigentlich nicht zur Disposition steht, weil er eine zentrale und wesentliche Annahme des Hinduismus ist. Gibt man sie auf, dann gibt man einen wichtigen Teil des hinduistischen Weltbilds auf. Von keinen Konfliktparteien kann aber in Konfliktsituationen die Revision ihres nicht unvernünftigen Weltbildes erwartet werden, auf dessen Hintergrund sie ihre normativen Entscheidungen fällen. Dennoch müssen plurale Gesellschaften mit dem skizzierten Problem des weiten religiösen Dissenses umgehen.17 Sie können dies tun, indem sie von jeglicher Parteinahme zugunsten einer spezifischen Weltsicht abstrahieren. Eine neutrale, von allen Annahmen abstrahierende Weltsicht kann es aber nicht geben. Auch der Versuch, von allen religiösen Hintergrundannahmen abzusehen, kann nur etwas anderes dagegensetzen. Die naturwissenschaftliche, metaphysikkritische Weltsicht ist bei genauer Betrachtung eben auch nur eine von den vielen möglichen und sinnvollen Weltsichten. Erhebt man sie über alle anderen, erliegt man dem methodischen Fehler, aus der Menge legitimer Weltsichten eine herauszugreifen und über die anderen zu erheben. Dennoch kann die naturwissenschaftliche und metaphysikkritische Weltsicht insofern als vermittelnd angesehen werden, als sie keiner der am religiösen Dissens beteiligten Religion einen nicht zu verteidigenden Vorrang einräumt und deshalb für eine gleichwertige Berücksichtung aller sorgt. Aus diesem Grund erscheint die staatliche Neutralität gegenüber verschiedenen religiösen Weltsichten in pluralen Gesellschaften ein legitimes und wünschenswertes Ziel.

————— 17 Religiöse Gesellschaften, die sich nur einer Religion verpflichtet fühlen, stehen nicht vor diesem Problem.

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Matthias Jung

Gewalt als Gewissheit Deformationen religiöser Welterfahrung Matthias Jung Gewalt als Gewissheit – Deformationen religiöser Welterfahrung Je aktueller ein Thema ist, desto größer ist auch die Gefahr, seine wesentlichen Züge zu verkennen, weil der nötige Abstand fehlt. Die Rede von religiös motivierter Gewalt macht hier keine Ausnahme. Ich werde deshalb prophylaktisch eine grundsätzlichere Perspektive einnehmen und dafür auch in der Zeit zwei große Sprünge nach hinten machen. Dies geschieht in der Hoffnung, durch eine Kombination evolutionsanthropologischer, symboltheoretischer und geschichtstheoretischer Überlegungen einen begrifflichen Horizont zu finden, in dem sich das prekäre Verhältnis von Religion und Gewalt aus einer philosophischen Perspektive fruchtbar erörtern lässt. Mit der Zeit werde ich dabei großzügig umgehen und erst etwa 2500, dann aber gleich 40000 Jahre tief in die Vergangenheit hinabtauchen. Als Führer für die erste Zeitreise dient mir Shmuel Eisenstadt, für die zweite halte ich mich an Merlin Donald. Es geht nun also zunächst 2500 Jahre in die Vergangenheit. Wir befinden uns damit in einer Epoche, die seit Karl Jaspers gerne ›Achsenzeit‹ genannt wird und die ich mit Shmuel Eisenstadt, einem der führenden Autoren der einschlägigen Debatten, wie folgt charakterisiere: »In dieser Zeit entstanden neue ontologische Visionen, Vorstellungen von einer Spannung zwischen der transzendenten und der weltlichen Ordnung, und dies in vielen Teilen der Welt: im alten Israel, im Judentum des zweiten Tempels und im Christentum; im alten Griechenland; nur teilweise im zarathustrischen Iran; im frühen kaiserlichen China; in Hinduismus und Buddhismus; und, schon nach der eigentlichen Achsenzeit, im Islam. Die Entstehung dieser Kulturen kann man als eine Reihe großer revolutionärer Durchbrüche ansehen, die den Lauf der Menschheitsgeschichte veränderten. Das Neue, das sie brachten, waren Vorstellungen von einer Kluft zwischen der transzendenten und der weltlichen Ordnung.«1 Das Deutungsschema ›Achsenzeit‹ wird keineswegs einheitlich verwendet2 und auch Eisenstadts makrosoziologi————— 1 SH. EISENSTADT, Die Achsenzeit in der Weltgeschichte, in: H. JOAS/K.WIEGANDT (Hg.), Die kulturellen Werte Europas, Frankfurt a.M. 22005, 40–68, hier 40. 2 Einen Überblick über die Breite der Ansätze und den aktuellen Diskussionsstand bietet: R. BELLAH/H. JOAS (Hg.),The Axial Age and its Consequences for Subsequent History and the Present, Chicago 2010 (in Vorbereitung).

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scher Ansatz kontrovers diskutiert: Kritiker, etwa Stefan Breuer3, werfen ihm vor, die Rolle der religiösen gegenüber der politischen Ordnung und damit die Bedeutung der religiösen Eliten zu überschätzen; andere gewichtige Einwände zielen auf seine massiven chronologischen Stilisierungen, auf den exklusiven Charakter des achsenzeitlichen ›Transzendenzclubs‹ etc. Als heuristische Kategorie beweist die ›Achsenzeit‹ aber dennoch erhebliche Anziehungskraft. Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass sich hier der Knoten zahlreicher Debatten aus so unterschiedlichen Bereichen wie der Religionsphilosophie, der Soziologie der Globalisierung und Modernisierung, der evolutionären Anthropologie und der kulturvergleichenden Moralphilosophie schürzt. Für meinen Argumentationsgang entscheidend ist hier in erster Linie der empirisch gestützte Gedanke einer mehr oder minder simultanen ›Entdeckung der Transzendenz‹ in vielen, nicht allen Zivilisationen. Religiöse Transzendenz stellt nur eine, wenngleich zentrale Komponente dieses hochkomplexen Prozesses dar, der u.a. semiotische, kognitionspsychologische, ethische, politische und epistemische Voraussetzungen und Konsequenzen hat. Und meine These lautet nun, dass dieser weltgeschichtliche Vorgang sowohl einen neuen und in unserer Gegenwart virulenten, aggressiven Typus von religiösen Konflikten als auch neue Möglichkeiten zum humanen Umgang mit Konflikten, religiösen und anderen, hervorgebracht hat, einschließlich solcher, die mit achsenzeitlichen Entwicklungen gar nicht spezifisch zusammenhängen. Die Entdeckung der religiösen Transzendenz ist also ein zutiefst ambivalentes Geschehen, von dem Entwicklungspfade zum Fanatismus und zum Toleranzgedanken gleichermaßen hinführen. Diesen Punkt werde ich in Auseinandersetzung mit Jan Assmanns These vom intoleranten Monotheismus entwickeln. Zuvor will ich aber mein Verständnis der Achsenzeit präzisieren, indem ich dieser eine anthropologische Auslegung gebe. Sie stellt einen inneren Zusammenhang zwischen dem achsenzeitlichen Durchbruch und Prozessen her, die nach gegenwärtigem Wissensstand ungefähr vor 40000 Jahren begonnen haben dürften. Ich steige also nochmals in den Brunnen der Vergangenheit, es geht tiefer hinab. Dabei folge ich dem Experimental- und Evolutionspsychologen Merlin Donald. Er hat ein vieldiskutiertes Dreiphasenmodell der menschlichen Kulturentwicklung vorgestellt, auf dessen religionswissenschaftliche

————— 3 Vgl. S. BREUER, Der Staat. Entstehung – Typen – Organisationsstadien, Reinbek b. Hamburg 1998, 100ff.; eine ausführliche Diskussion der Position Eisenstadts und eine Erörterung der Breuerschen Kritik findet sich bei W. KNÖBL, Spielräume der Modernisierung. Das Ende der Eindeutigkeit, Weilerswist 2001, Kap. 5 (zu Breuer vgl. 252, Anm. 23), dem ich den Hinweis auf Breuer entnommen habe.

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Bedeutung erst jüngst auch Robert Bellah aufmerksam geworden ist.4 Donald zufolge ist die Evolution der menschlichen Kognition und Kultur durch drei Phasen gekennzeichnet, deren Ausgangspunkt die kognitiven Fähigkeiten von Primaten bilden. Einer ersten, von Donald ›mimetisch‹ genannten Phase folgt ein Übergang zur mythischen Kultur, die bereits über symbolische Sprache verfügt. Vor ungefähr 40000 Jahren beginnt dann ein weiterer tiefgreifender Wandel, der Übergang zur theoretischen Kultur, die symbolische Speichermedien kennt und anspruchsvolle Formen der Reflexion entwickelt.5 Dabei ist das Adjektiv ›theoretisch‹ zunächst nicht in dem engeren, erst von den Griechen geprägten Sinn systematischer Theoriebildung zu verstehen, sondern als Ausdruck der Ablösung kognitiver Akte von ihrem unmittelbaren Entstehungskontext. Dies leistet die Kommunikation mithilfe symbolischer Zeichen, insbesondere dann, wenn diese mittels externer Speicherungsmedien wie Schrift und Malerei verfügbar gemacht und auf Dauer gestellt werden. Im Prozeß der Hominisation entsteht damit erstmals die Möglichkeit, Referenz in Kommunikationsprozessen nicht mehr, wie auf den früheren Entwicklungsstufen, die Donald beschreibt, direkt zu etablieren, also durch physische Präsenz und kausale Interaktion, sondern indirekt, durch den Verweis des Zeichens auf einen Zeichenzusammenhang, innerhalb dessen es erst eine Bedeutung erlangt.6 Die semiotisch zentrale Eigenart des Symbolischen – hier folge ich Peirce – besteht eben gerade darin, Bedeutung durch die horizontale Vernetzung der Zeichen und nur noch indirekt durch vertikale Referenz auf Außersprachliches zu stabilisieren. Anthropologisch hat der Übergang zum Symbolgebrauch revolutionäre Folgen: Er ermöglicht nämlich eine Distanzierung der Symbolverwender vom Hier und Jetzt der Verwendung und von ihrer persönlichen Perspektive, an die sie doch andererseits als Organismen in einer Umwelt immer gebunden bleiben. Damit können so entscheidende ————— 4

Vgl. R. BELLAH, Introduction, in: R. BELLAH/S.M. TIPTON (Hg.), The Robert Bellah Reader, Durham/London 2006, 7f. – In Bellahs aktuellem Buchprojekt über ›Religious Evolution‹ spielt Donalds Schema eine entscheidende Rolle. 5 Vgl. M. DONALD, Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge, MA/London 1991; M. DONALD, A Mind So Rare. The Evolution of Human Consciousness, New York/London 2002, bes. 260, Table 7.1. 6 Genaugenommen beginnt die Umstellung von der direkten Referenz vorsprachlicher Kommunikationssysteme zur indirekten Referenz bereits in der von Donald so genannten ›mythischen‹ Kulturphase, die ja bereits sprachlich verfasst ist. Für ein genaueres Verständnis der ›Achsenzeit‹ stellt die Beziehung der theoretischen zur mythischen Kultur dementsprechend eine zentrale Fragestellung dar. Dass die ›Entdeckung der Transzendenz‹ aber kulturprägende Wirksamkeit entfaltet, setzt nach meiner Überzeugung jedoch den Entwicklungsstand der theoretischen Kultur voraus, weshalb ich im Rahmen meiner Fragestellung hier nicht weiter auf das Verhältnis des Mythischen zum Theoretischen eingehen werde. Vgl. aber M. JUNG, Embodiment, Transcendence and Contingency – Anthropological Features of the Axial Age, in: R. BELLAH/H. JOAS (Hg.),The Axial Age.

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Dinge entstehen wie die für Sozialität konstitutive Fähigkeit der Rollenübernahme im Sinne Meads, das für die Handlungsplanung unerlässliche Durchspielen von Handlungsfolgen und schließlich auch ein klares Bewusstsein von der eigenen Sterblichkeit. Indem die Verfügung über symbolische Kommunikationsmedien die Zeichenverwender aus der unmittelbaren Abhängigkeit von den Formen direkter Referenz befreit, ermöglicht sie aber auch ein Bewusstsein dessen, dass Bedeutung und Zeichenträger unvermeidlich auseinanderfallen – dass sie nicht über eine natürliche Beziehung verbunden sind. Etwas überspitzt könnte man sagen: Was in Saussures ›arbitraire du signe‹ explizit geworden ist – und dann die Exzesse des Strukturalismus ermöglicht hat –, ist in der Eigenschaft symbolischer Referenz bereits angelegt, indirekt zu sein, also nicht über kausalen Kontakt mit dem Bezeichneten zu funktionieren. Wie hängt dieser prähistorisch-semiotische Exkurs nun aber eigentlich mit der Thema dieses Beitrags zusammen? Meine vorgreifende Antwort: Die Typik religiöser Konflikte in der Gegenwart ist achsenzeitlich geprägt, die Entwicklungsprozesse der achsenzeitlichen Zivilisationen sind aber ihrerseits nur vor dem Hintergrund einer noch viel weiter ausholenden geschichtlichen Perspektive verständlich zu machen, die eben nach der anthropologischen Bedeutung von Symbolizität fragt. Mit dem Durchbruch zur symbolischen Kultur vor ca. 40000 Jahren ist aber, so lautet meine These, der Durchbruch der Achsenzeit bereits präfiguriert. Was bedeutet das? Dass die achsenzeitliche Entdeckung der Transzendenz im religiösweltanschaulichen Sinn eine Möglichkeit explizit macht, die implizit in der Form symbolischer Kommunikation bereits angelegt ist: die Transzendenz des Bezeichneten über das Zeichen. Es ist unerlässlich, hier semiotische von inhaltlicher Transzendenz zu unterscheiden. Die semiotische Transzendenz besteht darin, dass symbolische, im Unterschied zu bloß ikonischer oder indexikalischer Kommunikation, einen Gehalt nicht präsentiert, sondern repräsentiert, ihr also die Unterscheidung des Symbols vom Symbolisierten eingeschrieben ist. Michael Moxter hat in höchst einleuchtender Weise diesen Zugewinn im Rahmen der Cassirerschen Unterscheidung von Mythos und Religion dargestellt.7 Werden nun die durch semiotische Transzendenz verfügbar gewordenen kommunikativen Mittel genutzt, um religiöse Erfahrungen zu artikulieren, kann ein inhaltlicher Transzendenzbegriff entspringen. Dabei sollte der Weg vom Erleben zu seiner sprachlichen Bestimmung nicht als Einbahnstrasse verstanden werden, so als ob religiöse Erfahrungen intrinsisch vorsprachlich wären und erst ex post in eine sprachliche Fassung ————— 7

Vgl. M. MOXTER, Kultur als Lebenswelt, Tübingen 2000, 141.

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gebracht würden.8 Ich behaupte nun, dass sich die achsenzeitlichen Zivilisationen als solche verstehen lassen, in denen es zu einem solchen bewussten Durchbruch der Transzendenz kam, also eine Möglichkeit explizit gemacht und reflexiv ergriffen wurde, die phylogenetisch mit der Evolution symbolischer Kommunikationsmedien bereits lange vorher gegeben war. Ob es tatsächlich dazu kommt, dass die konstitutive Differenz des Zeichens vom Bezeichneten auch als solche ergriffen und als die Transzendenz des Weltsinns – sei dieser nun personal oder unpersönlich gedacht – über die Welt nun ihrerseits folgenreich symbolisiert wird, ist das Resultat pfadabhängiger, historisch ungeheuer komplexer Entwicklungen und insofern kontingent. Dass es aber dazu kommen kann, verdankt sich einer Entwicklung, deren operative Bedeutung ihrer reflexiven Ausarbeitung vermutlich um mehrere zehntausend Jahre vorausgegangen ist, eben der Evolution symbolischer Kompetenzen. Vor diesem Hintergrund möchte ich nun eine Deutung der achsenzeitlichen Religionskonflikte entwickeln. Die Ambivalenz der inhaltlichen Transzendenzerfahrung als einer Realisierung der semiotischen Transzendenzstruktur wird dabei die entscheidende Rolle spielen, denn sie erlaubt es mir, die gewaltsamen Deformationen religiöser Erfahrung als den Versuch zu verstehen, inhaltliche Transzendenz an der semiotischen vorbei, und nicht durch diese hindurch, zu ergreifen. Das wird noch auszuarbeiten sein. Eine Bemerkung möchte ich aber vorausschicken: Meine symbolanthropologische Deutung von religiösen Konflikten ist natürlich weder als Ersatz für die empirische Analyse im Einzelfall noch in einem monokausalen Sinn noch als Leugnung modernitätspezifischer Bedingungsfaktoren religiöser Konflikte zu verstehen. Ob es sich bei Konflikten und Gewaltausbrüchen allerdings überhaupt um genuin religiös motivierte oder um überwiegend ethnische, politische oder wirtschaftliche Interessenkonflikte handelt, die nur sekundär religiös semantisiert wurden, ist eine ohnehin nur durch empirische Analysen zu beantwortende Frage. Hans Kippenberg hat jüngst in einer brillanten Studie gezeigt, dass etwa im Fall des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern vermutlich das zweite zutrifft.9 Zurück zur Achsenzeit und dem Typus religiöser Konflikte, der mit ihr die Welt kommt. Meine These lautete ja, dass sich in den achsenzeitlichen Zivilisationen eine utopische Kluft zwischen Sein und Sollen, Erde und Himmel, Mensch und Gott auftut, die zumindest auch Ausdruck eines ————— 8 Ein Strukturmodell religiöser Erfahrung, das qualitative Unmittelbarkeit und symbolische Formung in einen Wechselbezug bringt, entwickelt M. JUNG, Erfahrung und Religion. Grundzüge einer hermeneutisch-pragmatischen Religionsphilosophie, Freiburg/München 1999. 9 Vgl. H.G. KIPPENBERG, Die Entsäkularisierung des Nahostkonflikts. Von einem Konflikt zwischen Staaten zu einem Konflikt zwischen Religionsgemeinschaften, in: H. JOAS/ K. WIEGANDT (Hg.), Säkularisierung und die Weltreligionen, Frankfurt a.M. 2007, 465–507.

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evolutionär viel früheren Durchbruchs zur symbolischen Kommunikation ist. Symbolizität verleiht den im Hier und Jetzt situierten Erfahrungen Einzelner und sozialer Gruppen einen strukturell universalistischen Zug, bezieht sie auf einen Sinnzusammenhang, der sich vom aktualen Vollzug der Kommunikation ablöst, einer Identifizierung der Wirklichkeit mit dem lokal Zugänglichen, in Ritus, Sitte und Mythos Verkörperten also entgegenarbeitet und in der Moderne von Peirce bis Apel die Vision einer grenzenlosen, idealen Kommunikationsgemeinschaft wachgerufen hat. Der universalistische Zug, der mit symbolischer Kommunikation in die Welt gekommen und mit der achsenzeitlichen Entdeckung der Transzendenz auch als solcher bewusst geworden ist, hat aber auch eine dunkle Kehrseite. Was ist nämlich, wenn die anderen meine ja notwendig partikulare Version des Universellen nicht teilen? Dann entstehen Konflikte prinzipieller Art, und aus dem symbolischen Universalismus wird schnell die universelle Eskalation von Gewalt. Sie ist in der semiotischen Dialektik reflexiver Symbolisierung angelegt: Aus der Perspektive des Universalismus erscheint die bunte Vielfalt der Kulte und Weltdeutungen als kontingent. Diese kontingente, weil universalistisch überholbare Kontingenz kann aber nur um den Preis einer neuen und radikaleren Erfahrung von Kontingenz überwunden werden: der notwendigen Kontingenz des symbolisch Intendierten über die Akte seiner Symbolisierung. Sobald also unter dem Eindruck der Transzendenzerfahrung das Göttliche oder das kosmische Gesetz von solchen lokalen Verkörperungen gelöst wird, sind Konflikte unvermeidlich, weil sich dann konkurrierende Universalismen auf Augenhöhe gegenüberstehen, die für alle wahr sein wollen, denen aber gleichzeitig die Kontingenz des Symbolischen anhaftet. Was das für Europa bedeutet hat, lässt sich in Michael Borgoltes großer Monographie Christen, Juden, Muselmanen10 nachlesen. Borgolte hat dort die für Europas Geschichte konstitutive Bedeutung dieser Entwicklung nachgezeichnet, die von der polytheistischen Kulteinheit Roms zur monotheistischen Pluralität von Christentum, Judentum und Islam hinüberführt. Er sieht die Konfliktgeschichte Europas, aber auch die europäische Genesis des Toleranzgedankens durch eine welthistorisch einmalige achsenzeitliche Überdeterminiertheit gekennzeichnet, die mit dem Zündstoff, wenn diese platte Metapher erlaubt ist, zugleich das Löschwasser bereitstellt. Darauf werde ich gleich noch zurückkommen. Zunächst möchte ich aber, wie angekündigt, mit Jan Assmann auf die dunkle Seite des achsenzeitlichen Durchbruchs zu sprechen kommen. Assmann arbeitet bekanntlich, wenn es ihm um die sogenannte »mosaische ————— 10 Untertitel: Die Erben der Antike und der Aufstieg des Abendlandes 300–1400 n.Chr. (Siedler Geschichte Europas), München 2006.

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Unterscheidung«11 des Monotheismus geht, mit der scharfen Trennung von primären Religionen, die sich durch Partikularität, Kultzentriertheit und Polytheismus auszeichnen, von solchen sekundären Typs, die sich von den primären schroff und herabsetzend abgrenzen, indem sie sich selbst gleichzeitig als monotheistisch, universalistisch und schriftzentriert profilieren. Diese Disjunktion kann natürlich weitgehend mit der makrosoziologischen Unterscheidung zwischen vor- und nachachsenzeitlichen Zivilisationen parallelisiert werden, denn in der Achsenzeit wird mit der Transzendenz des Göttlichen ja gerade herausgestellt, dass es sich eben nicht in partikularen Riten, Symbolen und einer ebensolchen Gemeinschaft religiöser Praktikanten einfangen lässt, sich vielmehr in der Differenz zu allen Ausdrucksmitteln immer auch entzieht. Assmann spitzt nun das achsenzeitliche Schema der Transzendenz auf eine parallele Reihe von Disjunktionen hin zu: Glaube/Unglaube, wahr/ falsch, gut/böse usw. Die mosaische Unterscheidung, deren Wurzeln er bekanntlich vor die eigentliche Achsenzeit nach Ägypten – genauer: in die Licht- und Sonnenreligion Atons, wie sie Echnaton von Armana im 14. Jh. v.Chr. entwarf – zurückverlegt,12 besteht also ihm zufolge in einem scharfen Dualismus zwischen der eigentlichen und der uneigentlichen Realität, dem gegenüber sogar die Unterscheidung von Poly- und Monotheismus sekundär ist. Und es ist für Assmann eben dieser Dualismus, der Intoleranz, Gewalt, Ausgrenzung anderer zwar nicht auf die Welt gebracht, aber doch in einer historisch einmaligen Weise verschärft und mit einem manichäisch guten Gewissen versehen hat. Für die kulturhistorisch positive Bedeutung der monotheistischen Wende ist Assmann keineswegs blind, streicht aber in einer sehr deutlichen Weise ihre dunklen Aspekte heraus. Und ich denke, er hat hier etwas gesehen, das sich nur sehr gewaltsam leugnen ließe. »Der Monotheismus«, so schreibt Assmann im Blick auf die »den biblischen Texten eingeschriebene Semantik der Gewalt«, »erzählt die Geschichte seiner Durchsetzung als eine Geschichte der Gewalt in einer Serie von Massakern.«13 Es führt hier zu wenig, nun etwa darauf hinzuweisen, dass diese Gewalt gar keine historisch reale war, dass es Gegenströmungen gab etc. Das trifft zwar zu, ändert aber gar nichts an dem entscheidenden Punkt, der eben in der Gewalt- und Konfliktträchtigkeit des monotheistischen Universalismus besteht, für die unsere Gegenwart ja weiterhin die überzeugendsten Beispiele liefert. Der Glaube an den einen, transzendenten Gott für alle betritt die weltgeschichtliche Bühne in der Gestalt von Universali————— 11 So der Titel seines bekannten Buches: J. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. 12 Vgl. ebd., 54–59. 13 Ebd., 36f.

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sierungen partikularer Erfahrungen, die das Partikulare als Partikulares universal gelten lassen wollen und dafür auch Gewalt in Kauf nehmen. Darin besteht eine Dimension der achsenzeitlichen Transzendenzentdeckung, aber eben nicht die einzige. Was Assmann nämlich außer acht lässt, ist die Aufwertung von individueller Erfahrung in ihrer Pluralität. Sie stellt ein geschichtlich hochbedeutsames, antifundamentalistisches Moment der Kulturentwicklung dar und wird sichtbar, wenn man die Genese der mosaischen Unterscheidung vor ihrem symbolanthropologischen Hintergrund untersucht: Die inhaltliche Aneignung des Transzendenten in religiösen Weltbildern setzt ja nach meiner Argumentation die anthropologische Erschließung des Symbolischen voraus, und zwar so, dass die Strukturlogik symbolischer Kommunikation die Gehalte der Welterfahrung von ihrer Bindung an die partikularen Umstände ihrer Artikulation emanzipiert. Damit gibt sie den Zeichenverwendern die Möglichkeit, semiotische Transzendenz, also die Differenz des Bezeichneten zu seinem Zeichen, zu erfahren. Anthropologisch ist diese Möglichkeit eine conditio sine qua non inhaltlicher Transzendenzvisionen, religionsgeschichtlich markiert sie den Übergang vom Mythos zur Religion. In der Achsenzeit wird Symbolizität demnach als Symbolizität bewusst und damit die Transzendenz des Göttlichen über seine Ausdrucksformen. Dieser Prozess kann sich in religiösen Visionen niederschlagen, in denen nun gerade die spezifische Symbolisierung der Andersheit des Göttlichen Anlass einer partikularistischen Aggressivität gegenüber konkurrierenden Symbolisierungen wird. Damit entsteht der weltgeschichtlich neue Konflikttypus konkurrierender monotheistischer Universalismen, von dem Borgolte gezeigt hat, wie er die Gestalt Europas prägte. Gegen Assmann möchte ich aber betonen, dass die Erfahrung semiotischer Transzendenz eben nicht nur die Entstehung eines neuen und besonders konfliktiven Symbolisierungstyps, sondern auch die Anerkennung des eigenen Symbolismus als partikularer Darstellung von Universalität möglich gemacht hat. Dass die Beziehung des Zeichens auf das Bezeichnete strukturell kontingent ist, ermöglicht, wenn es denn ins Bewusstsein dringt, einen differenzbewussten, ›demütigen‹ Umgang mit universalistischen Sinnsystemen. Hier wird dann sichtbar, dass es nicht genügt, Merlin Donalds Evolution von der mythischen zur theoretischen Kultur als Übergang von der Präsentation zur Repräsentation zu verstehen. Repräsentation ist strukturell ja immer noch Isomorphie, strukturerhaltende Abbildung, und der semiotische Fortschritt gegenüber der mythischen Präsentation besteht daher zunächst nur darin, dass das Zeichen vom Bezeichneten klar unterschieden wird. Auf der Linie dieser Argumentation könnte das biblische Bilderverbot über die Dimensionen des Piktorialen hinaus vielleicht auch als Warnung zu verstehen sein, dass jeder abschlusshafte Symbolismus an der Transzendenz

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des Gemeinten über das Gesagte scheitern muss. Folgt die Symbolisierung der Transzendenz hingegen der Logik der Repräsentation, besteht immer noch die Möglichkeit, eine bestimmte Symbolgestalt als den einzig gültigen Ausdruck der objektiven Wahrheit Gottes aufzufassen. Bild und Sache werden dann zwar unterschieden, aber als Abbild und Urbild: Erhalten bleibt die Idee einer objektiven Repräsentation.14 Die reflexive Wendung der semiotischen Transzendenz birgt aber andererseits auch die Möglichkeit, den persönlichen oder gruppenspezifischen Anteil des Symbolisierungsprozesses als solchen ans Licht zu heben und damit zu realisieren, dass der Universalismus immer nur in der prismatischen Brechung lokaler Erfahrung symbolisiert werden kann. Ich schlage daher vor, zwei Verarbeitungsweisen der achsenzeitlichen Transzendenzerfahrung zu unterscheiden, zwei Weisen einer symbolischen Verarbeitung von Symbolizität. Die erste steht bei Assmann im Zentrum. Sie richtet den Blick auf die Offenbarung einer symboltranszendenten Wirklichkeit im Medium einer privilegierten Repräsentation, die als Heiliger Text nun kanonisiert und der humanen Kontingenz der Symbolproduktion entrückt wird. Die zweite Verarbeitungsweise deutet Offenbarung als die Artikulation inhaltlicher Transzendenz im Medium semiotischer Transzendenz. In diesem Fall ist ein Bewusstsein davon vorhanden, dass der symbolische Weltzugang die Bindung des Symbols an lokale, verkörperte Erfahrung sowenig wie die semiotische Differenz von Zeichen und Bezeichnetem aufhebt. Für dieses Argument ist meine zweite Zeitreise in die Phylogenese von homo sapiens entscheidend, denn es stellt die Praxis symbolischer Kommunikation als semiotisch-anthropologische Voraussetzung der Entdeckung religiöser Transzendenz heraus. Symbolische Zeichen transzendieren kraft ihrer inferentiellen Vernetzung zu holistischen Zeichensystemen die Bindung an lokale Praktiken und erlauben so die Erfahrung von Universalität. Im selben Zuge und kraft derselben Struktureigenschaften stoßen sie aber den Zeichenbenutzer auf die Kontingenz ihrer Zeichenproduktion, weil die inhaltliche Transzendenz des Universellen über das Lokale eben zugleich den unumgänglich lokalen und partikularen Charakter jedes Sprechaktes hervorhebt. ————— 14 Dieser Punkt kommt in der Darstellung von M. MOXTER, Kultur als Lebenswelt, zu kurz. Dort heißt es (141): »Das religiöse Bewusstsein konstituiert sich [im Unterschied zum Mythos, M.J.] in Differenz zu der im Zeichen gemeinten Gottheit. Als Differenzbewußtsein etabliert es im Gebrauch der Zeichen Freiheit. Nicht die Präsenz, sondern allein die Repräsentation ermöglicht ein religiöses Verhältnis zum Anderem [sic!].« Erst dann aber, so möchte ich behaupten, wenn auch die isomorphe Logik der Repräsentation zugunsten der Einsicht überwunden ist, dass religiöse Sprache Erfahrungen artikuliert, nicht abbildet, ist die semiotische Transzendenz wirklich eingeholt.

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Durch diese Verkoppelung kann auch das Individuelle, letztlich die ›Vielfalt religiöser Erfahrung‹ völlig anders ins Bewusstsein treten als in der mythischen Konkreszenz von Akt und Gehalt. In mythischen Weltbildern spielt die notwendig im Plural daherkommende Erfahrung vieler genausowenig eine prägende Rolle wie in jenen achsenzeitlichen Religionen, die Transzendenz ausschließlich unter dem Schema der Repräsentation symbolisieren. Überall dort aber, wo inhaltliche Transzendenz in ihrer Vermitteltheit durch semiotische Transzendenz erfahren wird, stellen persönliche Perspektiven und ihr kreativer Ausdruck ein zentrales Moment religiöser Praxis dar. Die Entdeckung der Transzendenz ist, vor dem Hintergrund ihrer symbolanthropologischen Voraussetzungen betrachtet, uno actu die Entdeckung von Individualität – eine Einsicht, die in sozialpsychologischer Hinsicht bereits von George Herbert Mead ausgearbeitet worden ist. Damit entsteht die Möglichkeit eines dritten Weges zum Umgang mit religiösen Konflikten. Polytheistische Pluralität lässt agonale Konflikte zumindest solange nicht aufkommen, wie die sozialintegrative Rolle eines gemeinsamen Kultes, wie im Römischen Reich, nicht gefährdet wird. Die monotheistische Vorstellung einer universalen, isomorphen Repräsentation universeller Transzendenz entspricht strukturell jenem Typus aggressivunversöhnlicher Antagonismen, auf den Assmann so beredt aufmerksam gemacht hat. Die kontingenzbewusste Idee einer partikularen Artikulation von universeller Transzendenz hingegen verbindet strukturell den konfliktträchtigen Geltungsanspruch ›für alle‹ mit dem deeskalierenden Bewusstsein, dass dieser Anspruch immer nur in der Form einer Universalisierung partikularer Erfahrungen gedacht und erhoben werden kann. Ich meine nun, dass ein solches Verständnis von Transzendenz und Universalität zumindest prinzipiell eine Verbindung von Universalitätsanspruch und Pluralismus erlaubt. Wenn das Universale nämlich nur als eine riskante und fallible Artikulation lokaler Erfahrungen gewonnen werden kann, dann kann auch der Andersdenkende allein dadurch überzeugt werden, dass er sich auf dem Weg einer in eigener Person und zwanglos zu vollziehenden Universalisierung seiner eigenen Erfahrungen von der Gültigkeit meines Deutungsangebots überzeugt. Dazu wird er freilich nur dann bereit sein, wenn ich im selben Zug umgekehrt willens bin, mir seine Deutung der Transzendenzerfahrung als dasjenige ansinnen zu lassen, vom dem er überzeugt ist, es würde auch meine eigenen Erfahrungen besser artikulieren als mein gegenwärtiger Glaube, wenn ich mich denn darauf einließe. Idealiter kann damit aus dem Huntingtonschen ›clash of civilisations‹ eine offene, zivilisierte Auseinandersetzung um diejenige partikulare Artikulation des Transzendenten werden, die sich alle aus der Perspektive ihrer eigenen Lebenserfahrung aneignen können und die in diesem Betracht also

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nicht bloß inhaltlich, sondern auch qualitativ und semiotisch universell genannt werden kann. Wie stellen sich aber die Dinge bei einer weniger begrifflichen als realgeschichtlichen Betrachtungsweise dar? Hier ist zumindest zu beobachten, dass mit dem Durchbruch der Transzendenzerfahrung tatsächlich ein Ausbruch aus dem mythischen Deutungskollektiv verbunden ist. Dies hat wenigstens drei verschiedene Konsequenzen. Erstens treten nun in China und Indien, Israel, Griechenland und anderswo charismatische Individuen auf – Religionsstifter, Propheten, Philosophen. Zweitens setzen, zeitlich etwas verschoben, auch auf der sozialstrukturellen und volksreligiösen Ebene deutliche Individualisierungsprozesse ein, wie dies Jörg Rüpke jüngst für die römische Spätantike gezeigt hat.15 Und drittens entsteht mit der Erfahrung der symbolischen Differenz auch die Möglichkeit mystisch geprägter Formen von Religion mit ihrem eigentümlichen Schulterschluss zwischen individuellem Erleben und gesteigerter Transzendenz (›hen kai pan‹). Ein Junktim zwischen der Betonung von Transzendenz und Universalität und der gesteigerten Bedeutung von Individualität lässt sich also empirisch bestätigen. Doch während die bottom-up sich vollziehenden Prozesse der Diversifizierung und Individualisierung ebenso wie die antidogmatische Betonung persönlichen Erlebens dem clash der Religionen entgegenarbeiten, ist dies im Falle der charismatischen Religionsstiftungen anders. Die Individualität der Religionsstifter figuriert hier nicht etwa als Durchbruch zu einem Pluralismus der Perspektiven, sondern folgt einer Exklusionslogik, im Sinne der Offenbarung einer allein gültigen Repräsentanz des Universalen. Insofern hat Jan Assmann wiederum völlig recht, wenn er darauf besteht, dass die Mosaische Unterscheidung einen neuen Typus von Wahrheit eingeführt habe, die »absolute, geoffenbarte, metaphysische oder Glaubenswahrheit«16. Transzendenzerfahrungen werden objektiv von Individuen formuliert, die sich scharf gegen den Hintergrund bisheriger Praktiken und Überzeugungen abheben (›ich aber sage euch‹); diese Tatsache spielt aber in der Selbstdeutung der betreffenden Individuen und ihrer Gefolgsleute nicht nur keine Rolle, sie wird charismatisch von einem Pathos unpersönlicher Universalität überformt. Anders formuliert: Der symbolanthropologische Zusammenhang von Individualität und Universalismus ist zwar in der Achsenzeit operativ, wird aber als solcher noch nicht wahrgenommen. In Mystik und religionspraktischer Individualisierung wirkt er deeskalierend, in der Form charismatischer Stifter bzw. der nachfolgenden Verschriftlichungs- und Kanonisierungsprozesse meist konfliktverschär————— 15 16

Vgl. J. RÜPKE, Religion of the Romans, Cambridge 2007, besonders Kap. 10. J. ASSMANN, Die Mosaische Unterscheidung, 28.

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fend. Und doch handelt es sich in allen drei Fällen um Formen individueller religiöser Erfahrung, die also ihre Karriere wenigstens zweieinhalbtausend Jahre vor ihrer Formulierung als theoretisches Konzept und eben gerade nicht als religiöse Erfahrung begonnen hat. Das sollte uns aber weiter nicht wundern, denn der zeitliche Versatz zwischen anthropologisch operativen Strukturmomenten und ihrer reflexiven Einholung ist vermutlich eine anthropologische Konstante. Zudem stellt es eine sozialstrukturelle Erfolgsbedingung von Religionsstiftungen dar, ihre Genese in individuellen Erfahrungen charismatisch durch Unterdrückung ihrer Kontingenz zu stilisieren und damit Konflikte zu Antagonismen zu verschärfen. Vermutlich vollzieht sich dieser Stilisierungsprozess weniger in den primären Semantisierungen religiöser Erfahrungen durch die Stifterfiguren selbst und stärker in der sekundären Bearbeitung durch Gefolgsleute, die Gruppenidentität durch Abgrenzung sichern möchten und in deren Traditionsbildungen wir ohnehin den alleinigen Zugang zu den mutmaßlichen Biographien der Stifter finden. Ich fasse den bisherigen Gedankengang nun nochmals kurz zusammen: In den achsenzeitlichen Zivilisationen, so hatte ich argumentiert, kommt es historisch zur Explikation eines Strukturmoments menschlicher Erfahrung, das seit dem Durchbruch zur symbolischen Kommunikation objektiv als Möglichkeit gegeben war, aber eben nur pfadabhängig-kontigent Wirklichkeit wurde: der Transzendenz. Sie hat zwei Seiten: als inhaltliche Transzendenzerfahrung akzentuiert sie den Sinnüberschuss des Gemeinten über alle konkreten Akte seiner Symbolisierung und alle lokalen Loyalitäten und ermöglicht so die Entstehung von Universalreligionen. Als semiotische Transzendenzerfahrung akzentuiert sie die Individualität und Kontingenz eben dieser Symbolisierungsakte. Wird inhaltliche Transzendenz von der semiotischen isoliert, dann dominiert ein repräsentationales Verständnis, das konfliktverschärfend wirkt. Wo aber semiotische Transzendenz als Vermittlerin der inhaltlichen gesehen wird, kann sich die deeskalierende Strukturlogik religiöser Erfahrung entfalten. Diese ermöglicht gerade in unserer Gegenwart einen friedlichen Umgang mit religiöser Pluralität und damit mit religiös motivierten Konflikten, weil sie erstens universelle Geltungsansprüche erhebt und sich damit im Unterschied zu neomythischen Strömungen auf postaxialer Augenhöhe bewegt, zweitens aber realisiert, dass diese Ansprüche einer falliblen Generalisierung historisch konkreter Erfahrungen entsprungen sind. Entsprechend können sie Anerkennung durch andere nur in dem Maße erwarten, als diese anderen aus ihrer unvertretbar persönlichen Perspektive die Wahrheit des von mir angesonnenen Deutungsangebots akzeptieren können. Hier drängt sich eine Parallele zu der aktuellen Diskussion über ›multiple modernities‹ in der Makrosoziologie auf. Wie vor allem Wolfgang Knöbl

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Gewalt als Gewissheit – Deformationen religiöser Welterfahrung

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jüngst gezeigt hat,17 kann die westliche Moderne längst nicht mehr als der einzige Weg zur Modernität begriffen werden; vielmehr sind pfadabhängig mehrere Entwicklungsvarianten denkbar und auch historisch realisiert worden, die gleichwohl den Ländern, in denen sie verwirklicht worden sind, einen vollen Zugang zur Moderne öffnen – einer Moderne, die damit auch gleichzeitig bereichert und von ihren eurozentrischen Engführungen befreit wird. In ähnlicher Weise lässt sich m.E. ein Dialog der ›postaxialen‹ Offenbarungsreligionen denken, wenn sie denn die Bereitschaft mitbringen, ihre Symbolisierungen von Transzendenz mit der semiotischen Transzendenzerfahrung zu verbinden. Dann werden ›multiple universalisms‹ denkbar: ein konflikthaftes, aber nicht mehr antagonistisch-aggresives Ringen um die universelle Verkörperung von Universalität. Ob aus dieser realen Möglichkeit interreligiöse Wirklichkeit wird, steht auf einem anderen Blatt und wird nicht von abstrakten symbolanthropologischen Überlegungen entschieden. Dass aber die reflexive Aneignung von Transzendenz sowohl den universalistischen Ausgriff als auch die kontigenzbewusste Einsicht in die Partikularität von Erfahrung ermöglicht, war der Kern meines Arguments. Und die lange Entstehungsgeschichte des Toleranzgedankens in Europa vor dem Hintergrund konfligierender Universalismen lässt sich zumindest teilweise auch in der von mir vorgeschlagenen Richtung deuten, als Etablierung eines anthropologischen Kontingenzbewusstseins, von dem als notwendiges Komplement universalistischer Entwürfe ein humanisierender Effekt ausgeht. Zum Ende meines Beitrags möchte ich nun die Frage stellen, warum die dogmatisch-intoleranten Aspekte des religiösen Universalismus dennoch faktisch oft den Sieg davongetragen haben. Ich will dabei nicht als Amateurpsychologe dilettieren und genausowenig soziologische Expertise vorschützen, sondern auf meinen eigenen Terrain, der Philosophie, verbleiben. Es geht also hier wirklich nur um die symbolanthropologische Dimension der Sache. Dazu borge ich mir von John Dewey ein handlungstheoretisches Denkmotiv aus, die ›Suche nach Gewissheit‹. In seinem gleichnamigen Buch von 192918 rekonstruiert Dewey die abendländische Geistesgeschichte unter dem leitenden Aspekt dieser Suche, die angesichts der Kontingenz des Handelns zwar stets illusionären Charakter trägt, sich aber gerade deshalb in Theorien des Unwandelbaren flüchtet. Dewey geht zwar überwiegend von praktischen Handlungsproblemen aus, sein Gedankengang lässt sich aber auch auf primär symbolisches Handeln beziehen. Wie ————— 17 Vgl. W. KNÖBL, Spielräume; DERS., Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt a.M./New York 2007. 18 J. DEWEY, The Quest for Certainty. A Study on the Relation of Knowledge and Action; deutsch: Die Suche nach Gewißheit. Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln, Frankfurt a.M. 1998.

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eng beides ohnehin verkoppelt ist, wird schlagartig deutlich, wenn man sich klarmacht, dass Platons Ideenlehre, der abendländische Archetyp dualistischer Abwertung des Wandels, zumindest teilweise aus der dramatischen Erfahrung von Handlungskontingenz in Gestalt der Verurteilung des Sokrates 399 hervorgegangen ist. Ich schlage nun vor, zwischen der religiösen Suche nach Gewissheit und der achsenzeitlichen Bewusstwerdung semiotischer Transzendenz einen Zusammenhang herzustellen. Dass Religionen starr-dogmatische Züge annehmen und sich als exklusive Manifestationen absoluter Gewissheit verstehen können, lässt sich symbolanthropologisch nämlich als Reaktion auf die verunsichernde Erfahrung semiotischer Transzendenz verstehen. Diese Erfahrung ist genuin ambivalent, weil sie das Individuelle und das Transzendente in einer Weise prekär verbunden zeigt, die vor den achsenzeitlichen Durchbrüchen nicht einmal vorstellbar war. Wer reflexiv Symbole gebraucht, realisiert, dass das Göttliche sich nicht im Lokalen erschöpfen kann und doch die Symbolsysteme Referenz überhaupt nur durch direkten Kontakt mit der Wirklichkeit erhalten können, durch ikonische und indexikalische Zeichen, in denen sich individuelle Erfahrung verkörpert. Die Suche nach Gewissheit im Sinn der methodisch-systematischen Durchgestaltung von Weltdeutungen kommt deshalb keineswegs zufällig im Zusammenhang mit der Achsenzeit auf, sie reagiert vielmehr auf die ungeheure Verunsicherung der Kontingenzentdeckung. So entstand damals ein neuer Typus kognitiver Dissonanzen. Mit Blick auf die praktische Bewältigung des Alltags sind solche Dissonanzen natürlich auch in mythischen Weltbildern nicht vermeidbar und treten immer dann auf, wenn Naturbeherrschung an kausaler Unkenntnis scheitert. Damit es aber auch zu einer bewussten kognitiven Dissonanz zwischen individueller und universaler Perspektive kommen kann, muss die semiotische Differenz als solche erfahren worden sein. Das geschieht in der Achsenzeit – präziser: wird in den ›axialen‹ Zivilisationen kulturell dauerhaft wirksam – und erzeugt nach meinem Deutungsvorschlag im selben Zug mit den transzendenten Visionen des Universalen eben auch die verunsichernde Möglichkeit, diese selbst als riskant und kontingent zu erfahren. Wo aber Kontingenzerfahrung jederzeit eine interne Möglichkeit der Universalreligionen darstellt, kann auch die externe Konfrontation mit alternativen Symbolisierungen leicht eine agonale Form annehmen, weil die äußere Konkurrenz nun auf eine innere Verunsicherung stößt und so einen letzten Ernst gewinnt. Ihrer symbolischen Bedeutung nach kann religiöse Gewalt mithin als ein Akt versuchter Kontingenzauslöschung verstanden werden, als die äußerste und verzweifeltste Form der Suche nach Gewissheit, ausgelöst von jenem zutiefst irritierendem Junktim von Individualisierung und Universalisierung, das mit der achsenzeitlichen Symbolisierung

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semiotischer Transzendenz in die Welt gekommen und seitdem nicht mehr verschwunden ist. Wenn man der pragmatistischen Maxime von William James im Will to Believe folgt, kann »willingness to act«19 als Indikator für Überzeugtheit gelten, und gewaltsames Handeln indiziert dann ihren maximalen Grad. Freilich macht James im selben Text seinen Lesern klar, dass Handeln immer die Modalstruktur der Entscheidung für eine von mehreren Möglichkeiten aufweist, die als lebendige Optionen dem Handelnden vor Augen stehen. A fortiori gilt dies natürlich von den pluralistischen Gesellschaften der Moderne, in denen sich die Handlungsoptionen ins Unabsehbare vermehrt haben. Gewaltsam erzeugte Gewissheit flüchtet aus dem modalen Gefälle des Handelns mit seiner doppelten Kontingenz in die fiktive Sicherheit einer kontingenzfreien Transzendenzvision. So unterläuft sie die symbolische Form religiöser Erfahrung. Dass dabei ihr gewaltsamer Charakter immer aufs neue das bezeugt, was sie gerade bestreitet, nämlich ihren Ursprung in individuellen Akten der Symbolisierung, ist ein etwas schaler Trost und macht die Welt nicht friedlicher. Die Doppelgesichtigkeit religiöser Erfahrung, dem Individuellen und dem Universellen gleichzeitig zugewandt zu sein, ist aber auch die symbolanthropologische Voraussetzung für den friedlichen Umgang mit Konflikten. ›Tolerant‹ zum Beispiel kann nur derjenige sein, der aus einer universalistischen Perspektive heraus andere Lebensformen und Geltungsansprüche als mit den eigenen konfligierend wahrnimmt, gleichzeitig aber ein Bewusstsein davon entwickelt hat, dass der jeweils eigene Ausgriff auf Universalität die fallible symbolische Generalisierung lokaler Erfahrungen darstellt. Ich schließe daher diesen Beitrag, indem ich der These Rainer Forsts widerspreche, in religiös begründeter Toleranz lauere stets die Intoleranz Gottes.20 Forsts Toleranzbegriff basiert auf Habermas’ scharfer Unterscheidung des Richtigen vom Guten. Es sollte nun aber deutlich geworden sein, dass es – als begriffliche und als historisch realisierte Möglichkeit – auch eine Form von Toleranz geben kann, die gerade auf der internen, aber kontingenzbewussten Universalisierung von Visionen des Guten basiert. Um auf der Augenhöhe der Moderne religiös tolerant sein zu können, müssen sich religiös Gläubige also nicht etwa zwangsläufig in einen misslichen double-bind zwischen universalistischer Diskursethik und einer kognitiv weniger differenzierten substantiellen Sittlichkeit begeben. Die Aufgabe besteht darin, universelle Geltungsansprüche und die historische ————— 19 W. JAMES, The Will to Believe, in: DERS., Writings 1878–1899, ed. G.E. MYERS, New York 1992, 457–479, hier 458. 20 Vgl. R. FORST, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a.M. 2003, §5: Das Janusgesicht christlicher Toleranz (69–95), und 65f.

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Kontingenz ihrer Genese gleichzeitig ernstzunehmen. Die anthropologischen Voraussetzungen, sie anzugehen, sind von den achsenzeitlichen Kulturen in die Welt gebracht worden. Vor dieser Aufgabe versagt, wer sich gewaltsam Gewissheit verschaffen will.

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Knut Berner

Gefährliche Gewissheiten Konfligierende Innenwelten und das Problem religiöser Letztbegründungen Knut Berner Gefährliche Gewissheiten

I. Interna In seiner 1917 erstmals publizierten Abhandlung über Das Heilige1 forderte Rudolf Otto seine Leser auf, sich Situationen zu vergegenwärtigen, in denen sie selber starke religiöse Ergriffenheit verspürt hätten. Wer dies nicht könne, möge von der weiteren Lektüre absehen. Denn zum Verständnis dessen, was Religion und insbesondere die Kategorie des Numinösen bezeichne, sei die Besinnung auf Momente eigener Ergriffenheit unverzichtbar. Die erfolgreich vollzogene Introspektion ermögliche den Zugang zur Erfassung der »Kontrast-Harmonie«2, jener double-bind-Erfahrung des Göttlichen als einer archaisch-schrecklichen und gleichwohl unwiderstehlich anziehenden Macht, die den Menschen in Bann ziehe und ihm seine Nichtigkeit vor Augen führe. Zu dieser Sichtweise lassen sich in der Gegenwart Parallelen und Veränderungen finden: Die Forderung, sich in religiösen Angelegenheiten dem eigenen Erleben zuzuwenden, hat sich behauptet und sogar eine Radikalisierung erfahren. Zumindest für die auf Autonomie und Privatsphäre bedachten Angehörigen der Industriegesellschaften ist eine Tendenz zur Individualisierung des religiösen Lebens unverkennbar, wobei die kategorischen Imperative lauten, erstens nur noch das für akzeptabel zu halten, was sich dem inneren Selbst als wahr darstellt,3 und es zweitens darauf anzulegen, die persönliche Identität abseits äußerer Zwänge und heteronomisierender Autoritäten zu gestalten. Thomas Luckmann schreibt: »Da der ›innerliche‹ Mensch ja nun wirklich eine unbestimmbare Einheit ist, macht seine vermeintliche Entdeckung ein lebenslanges Suchen erforderlich. Das Individuum, das die Quelle ›letzter‹ Bedeutung auf der subjektiven Seite seiner Biographie vermutet, strebt nach ————— 1 Vgl. R. OTTO, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1979, 7ff. 2 Vgl. ebd., 42. 3 Vgl. dazu CH. TAYLOR, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002, 90.

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Selbstverwirklichung, ein zwar nicht unablässig verfolgtes Ziel [...], das aber sicher unerreichbar bleibt«4. Auch der inversiv gesteuerte Autonome unterliegt dabei bewusst oder unbewusst den Dogmen seiner Zeit. Die pejorativ aber zutreffend etikettierte Wellnessreligion5 lässt nur noch das als zivilisiert gelten, was inhaltlich Rudolf Ottos Darlegungen diametral entgegengesetzt ist. Statt des auf Furcht und Zittern basierenden wird ein optimistisches Gottesbild präferiert. Statt des tiefen Erschreckens vor der Macht des Numinösen und der Erfahrung eigener Nichtswürdigkeit werden Zuversicht und Geborgenheit angestrebt, und die richtige Einstellung zum Göttlichen lässt sich insgesamt ablesen an einer Steigerung des gesamtexistentiellen Wohlbefindens. Eine Innenwelt ohne Konflikte wird also angestrebt, gereinigt vom Einfluss äußerer Autoritäten und dirigiert vom ganzheitlich-positiven Denken, das Harmonie ohne Kontrast als Ideal hochhält. Von daher ist verständlich, dass in diesem Modell das fascinosum et tremendum nicht mehr integraler Bestandteil der Begegnung mit dem Heiligen ist. Furcht und Schrecken stellen sich allerdings da ein, wo ein ganz anderes Individuum in den Blick kommt und den Angehörigen westlicher Industriegesellschaften der Heilige Krieger mit brachialer Aufdringlichkeit vorstellig wird, wo sich den von unkalkulierbaren Gewalteruptionen affizierten potentiellen Opfern die Dynamik einer ganz anderen Religiosität offenbart, die aus einer zumindest dem Anschein nach gänzlich anders eingerichteten Innenwelt hervorgeht. Dem Thema ›Religion und Konflikt‹ tut es gut, wenn es vom Extrem her in den Blick genommen wird, und das Extrem ist zweifellos der suicid bomber, der gegen alle Ideale der Wellnessreligion verstößt und doch letztlich trotz seiner Abhängigkeit von äußeren Autoritäten, die ihm seinen Märtyrerstatus offiziell attestieren müssen, auf seine Weise ebenfalls Individualist ist, da auch er sich seinen ganz eigenen Weg ins Paradies sucht und sich darin von den Möglichkeiten des Kollektivs absetzt. Wenngleich die neuere Terrorismusforschung6 herausgearbeitet hat, dass Religion nicht immer und schon gar nicht ausschließlich die treibende Kraft dieser Form von Gewaltanwendung darstellt, es sich vielmehr um Mischmotivationen handelt, in denen neben politischen, moralischen und soziokulturellen Einflussfaktoren eben auch Transzendenzorientierungen als Tarnung und Verstärkung von Gewalt dienen, so muss doch als beson————— 4

TH. LUCKMANN, Die unsichtbare Religion, Frankfurt a.M. 1991, 154. Vgl. dazu die Beiträge in: H.-M. GUTMANN/C. GUTWALD (Hg.), Religiöse Wellness. Seelenheil heute, München 2005. 6 Vgl. vor allem TH.G. SCHNEIDERS, Heute sprenge ich mich in die Luft – Suizidanschläge im israelisch-palästinensischen Konflikt. Ein wissenschaftlicher Beitrag zur Frage nach dem Warum, Berlin 2006; P. WALDMANN, Terrorismus, Provokation der Macht, München 1998, vor allem 98ff. 5

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deres Vermögen von Religion herausgestellt werden, im Konfliktfall den Menschen so im Innersten ergreifen zu können, dass er selbst seinen natürlichen Selbsterhaltungstrieb zugunsten seiner Heilserwartung überwinden kann. »Nur der einzelne Glaubenskrieger kann hoffen, durch einen Akt extremer Hingabe den unmittelbaren Zugang zum Paradies zu erlangen. Der Gemeinschaft qua Kollektiv ist diese Möglichkeit verwehrt. [...] Doch kann sich daraus möglicherweise eine gewisse Zieldivergenz zwischen dem Gewalthandeln kollektiver und individueller Akteure ergeben«7. Konfligierende Innenwelten: Während der Anhänger der Wellnessreligion so seinem Innersten folgt, dass er bei seiner Suche nach Zuversicht und Harmonie mit sich und anderen Gleichgesinnten möglichst nicht in Konflikt gerät und sogar den Tod als Stimulans zum positiven Denken, zur Intensivierung des diesseitig orientierten Wohlfühlens begreift, markiert der terroristisch operierende Glaubenskrieger das andere Extrem. Er sieht sich als Teil eines Dauerkonfliktes mit einer Vielzahl von Feinden, die als Ungläubige etikettiert werden, und setzt Todessehnsucht an die Stelle von Lebenslust, Jenseitsverlangen an die Stelle behaglicher Diesseitsorientierung. Was ihn im Innersten bewegt, erschließt sich nicht der Beobachterperspektive, wie überhaupt aufgrund der letztlich nur ansatzweise kommunizierbaren, weil unzugänglichen Wirkmechanismen jeglicher Innenwelt diejenigen Analytiker nachhaltiger irritiert sein müssten, die Suizidattentäter etwa durch Rekurse auf die für alle Menschen bedeutsamen narzisstischen8 Kränkungen verstehen wollen und dabei nicht berücksichtigen, dass die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, im Abendland überschätzt wird. Trotz dieser nur begrenzt möglichen Zugangsweisen lohnt es sich jedoch, angesichts des Themas ›Religion und Konflikt‹ den Blick auf die Relevanz der Innenwelt zu lenken und eine ontologische Zugangsweise zu wählen, die zugunsten der Präferierung von Außenperspektiven auf Religion oft vernachlässigt wird. Angesichts dessen ist zunächst daran zu erinnern, dass die Existenz einer Innenwelt gattungsspezifisch Signum der Besonderheit des Menschen ist, die zugleich seine interne Konfliktstruktur bedingt. Ein Mensch ohne forum internum wäre wie einer der Protagonisten in Kafkas Schriften, gänzlich von einem forum externum abhängig, ohne dessen Wirkmechanismen ergründen zu können. Ferner geht es bei der Zuwendung zu Innenwelten nicht primär, wie Rudolf Otto meinte, um das, was vom eigenen Erleben her nachvollziehbar ist. Sondern um das Fremde, ————— 7 P. WALDMANN, Wie religiös ist der ›religiöse Terrorismus‹? In: R. HEMPELMANN/J. KANDEL (Hg.), Religion und Gewalt. Konflikt- und Friedenspotentiale in den Weltreligionen, Göttingen 2006, 103. 8 Vgl. W. SCHMIDBAUER, Psychologie des Terrors. Warum junge Männer zu Attentätern werden, Gütersloh 2009.

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Unzugängliche, das wir verstehen wollen, ohne es zu können, aber mit dessen Eruptionen zu rechnen und zu leben ist, wie es eben der Suizidattentäter vorführt. Religion hat nun einmal mit dem Innersten des Menschen zu tun und setzt dort auch Irrationales frei, innerhalb eines kaum abgrenzbaren Raum des Imaginären, in dem Deutungsarsenale gebildet werden, die sich handlungsrelevant auswirken, wie es der epistemologische Grundsatz zweier Chicagoer Soziologen zum Ausdruck bringt: »If man define situations as real, they are real in their consequences«.9 Situationsdefinitionen basieren natürlich auf multiplen Einflussfaktoren, die für das Subjekt selber nicht vollständig eruierbar sind, zu denen aber jedenfalls die emotionalen Komponenten stärker zählen, als eine auf die Relevanz der Vernunft konzentrierte Religionsphilosophie manchmal wahrhaben möchte. Reflexionen zum inneren Menschen können sich auch an Luthers allerdings dezidiert offenbarungstheologisch fundierter Einschätzung orientieren, derzufolge »der äußerliche Mensch bis zum Jüngsten Tag dem innerlichen Menschen simultan sei, dann aber vergehen wird [...], während umgekehrt der innerliche Mensch der neu gewordene Mensch ist und insofern auch neuer Mensch genannt zu werden verdient«10. Vielleicht gewinnen Analysen zu konfligierenden Innenwelten zusätzlich durch die Tatsache an Bedeutung, dass es nach dem Ende der realistischen Ontologie11 jedenfalls nicht leichter geworden ist, die Existenz einer Außenwelt schlüssig zu beweisen. Epistemologische Zurückhaltung hat sich allerdings mit aufdringlichen neuen soziokulturellen und nicht zuletzt militärischen Faktizitäten auseinanderzusetzen, und somit wird mit der Fokussierung des inneren Menschen natürlich nur eine der möglichen Zugangsweisen zur Erhellung des Verhältnisses von Religion und Konflikt in den Blick genommen, wobei aber intendiert ist, eine universal gültige interne Konfliktstruktur rational zu erhellen, in die sich die jeweils individuellen Applikationen des Religiösen einzeichnen lassen, deren präreflexiven und bisweilen irrationalen Komponenten eine entscheidende Bedeutung bei den Inszenierungen sekundärer Konflikte zukommt. ————— 9 Vgl. D.S. THOMAS/W.I. THOMAS, Das Kind in Amerika, in: W.I. THOMAS, Person und Sozialverhalten, hg. v. E.H. VOLKART, Neuwied a.Rh./Berlin 1965, 102–116, hier 114. 10 So E. JÜNGEL, Von der Freiheit eines Christenmenschen. Eine Erinnerung an Luthers Schrift, München 31991, 74f. 11 Vgl. dazu S. WEBER, Die Dualisierung des Erkennens. Zu Konstruktivismus, Neurophilosophie und Medientheorie, Wien 1996, 228: »Die Frage, ob es jenseits unserer sozial-kognitiv zugänglichen Welt (Wirklichkeit(en) 1, Innenwelt(en)) eine sozial-kognitiv unzugängliche Welt der ›ultimate reality‹, der ›Dinge an sich‹ (Wirklichkeit 2, Realität, Außenwelt) gibt, kann so gar nicht beantwortet werden. Denn jede Aussage (über die Existenz und/oder über die Erkennbarkeit) der Wirklichkeit 2 würde diese in die existierende(n)/erkennbare(n) Wirklichkeit(en) 1 transformieren«.

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Meine etwas längeren Grundthesen, die ich im folgenden plausibilisieren möchte und die auch die Gliederung bedingen, lauten nun: Menschliches Dasein lässt sich als Sein im Konflikt beschreiben. Wie es in der Regel ratsam ist, sich bei der medizinischen Diagnostik nicht auf das Phänotypische zu konzentrieren, sondern unter der Oberfläche die Ursachen einer Krankheit im Streit innerer Organe zu suchen, so ist es sinnvoll, Gründe für das Ausbrechen äußerer Konflikte in anthropologisch grundlegenden Disproportionalitäten zu suchen, ohne der Meinung zu verfallen, man könne durch deren Analyse der Dinge letztlich habhaft werden. Die ontologische Konfliktstruktur verhindert, dass Menschen tragfähige Gewissheiten und Sinn aus sich heraus erlangen können, auch wenn subjektivitäts- und diskurstheoretische Deutungen dies suggerieren (II.). Religion verspricht ein Definitivum, und ihre Inanspruchnahme erscheint daher geeignet, den Umgang mit drohender existentieller Zerrissenheit zu erleichtern. Religion als umfassendes, auf kognitive, praktische und emotionale Disproportionalitäten beziehbares Referenzsystem, das zugleich situations- und kontextspezifisch applizierbar ist, gewinnt aufgrund seiner soteriologischen Funktion solche Bedeutung, dass Menschen nun um der Religion willen neue Konflikte in Kauf nehmen oder sogar mutwillig inszenieren, um den Allein- und Letztgültigkeitsanspruch der von ihnen präferierten Variante individueller Sinnstiftung zu behaupten und zu verteidigen (III.). Heilsgewissheiten ohne Anfechtung können dabei existentielle Konflikte negieren, wie es in der Wellnessreligion intendiert wird. Sie können auch zur Überspielung des eschatologischen Vorbehaltes führen und eine Radikalauflösung individueller Konflikte anstreben, wie es der Suizidattentäter intendiert, der schon heute – und zwar alleine – ins Paradies eingehen möchte. Religion, die dazu verleitet, das Vorletzte mit dem Letzten zu verwechseln und zu vergessen, dass auch das Böse aus Gewissheit resultieren kann, hat ethisch gesehen die Tendenz, alle Fragen zu letzten Heilsfragen zu stilisieren und epistemologisch nicht hinlänglich zwischen Glaube und Welt zu unterscheiden (IV.).

II. Disproportionalitäten und Diskurse Die Einsicht, dass der Mensch mit sich selber nicht in Übereinstimmung lebt, sondern in somatisch-psychischen und geistigen Spannungsverhältnissen existiert, hat an sich nichts Revolutionäres, sondern ist der philosophischen Anthropologie ebenso wie der allgemeinen Lebenserfahrung seit langem vertraut. Umstrittener ist die Frage, welche Konsequenzen aus dieser ontologischen Misere zu ziehen sind. Eine optimistische Schau wird

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darauf abheben, dass es dem existierenden Dasein möglich ist, aus eigenem Vermögen diese Grundspannungen zu überwinden. Auf nichts anderes zielt etwa die Existentialontologie Martin Heideggers,12 der zufolge es dem in die Welt geworfenen Dasein faktisch möglich ist, seiner mit dem Verfallensein an das ›Man‹ gegebenen Uneigentlichkeit durch das Hören auf den einzig im Schweigen erfolgenden Ruf des Gewissens zu entkommen. Wobei dem Tode die positive Funktion zuerkannt wird, dem zu ihm gedanklich vorlaufenden Sein eine Existenz in Eigentlichkeit zu ermöglichen, die von Entschlossenheit13 gekennzeichnet ist. Nicht immer mit adäquater Tiefsinnigkeit, dafür erheblich praxisorientierter versuchen seriöse wie obskure medizinisch-psychologische Therapieangebote ebenso wie eine kaum noch übersehbare Ratgeberkultur, Menschen zur erfolgreichen Bearbeitung ihrer Konflikte mit dem Ziel abschließender Überwindung anzuleiten – dabei kommt eine Palette zum Einsatz, die von medikamentöser Behandlung bis zu Appellen an die Selbstheilungskräfte reicht. Gegenüber diesen hier nur kurz angerissenen Konfliktbewältigungsstrategien ist es aus meiner Sicht das bleibende Verdienst der transzendentalen Reflexionshermeneutik von Paul Ricœur, die Fehlbarkeit des Menschen als konstitutionelle und deshalb gerade nicht aus eigener Kraft überwindbare Schwäche konzise herausgearbeitet zu haben. Die Disproportionalitäten werden anhand der Modalitäten des Erkennens, des Handelns und des Fühlens vorgestellt.14 In theoretischer Hinsicht wird an der Dinglichkeit des Gegenstandes die Endlichkeit des Menschen als Perspektivität offenbar. Die vorfindliche Sache zeigt sich ihm je anders und daher als Gesichtspunkt, der gleichwohl im Akt der Kommunikation überschreitbar ist. Denn der sinnstiftende Sprechakt verleiht einer perspektivischen Sichtweise Bedeutung und zielt auf ein intersubjektiv-verifizierendes Einverständnis, das die endliche Perspektive prinzipiell ins Unendliche transzendiert. Das konstatierbare Spannungsverhältnis zwischen ›Blick‹ und ›Verb‹ verweist aber zurück auf das synthetisierende Bindeglied zwischen Verstand und Empfindung, die reine transzendentale Einbildungskraft. Diese allerdings stiftet zwar die Vermittlungen zwischen den Dualitäten, ist jedoch in ihrem intelligiblen Charakter rätselhaft und kann im synthetisierenden Bewusstsein nicht lokalisiert werden. Der Mensch als Vermittler zwischen Sein und Nichts bleibt in epistemologischer Hinsicht zerbrechlich, weil ausgeliefert. Die ————— Vgl. M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 151984. Vgl. ebd., 296f: »Diese ausgezeichnete, im Dasein selbst durch sein Gewissen bezeugte eigentliche Erschlossenheit – das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein – nennen wir die Entschlossenheit«. 14 Vgl. zum folgenden P. RICŒUR, Die Fehlbarkeit des Menschen. Phänomenologie der Schuld, Bd. I, Freiburg i.Br./München 21989. 12 13

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Synthese zwischen Wort und Erscheinung wird primär nicht von ihm gesetzt, phänomenologisch eruierbarer Perspektivität zufolge wurzelt die synthetisierende Apperzeption in der Intentionalität der Sache selber, die sich zu erkennen gibt und den Menschen affiziert und zur Erkenntnis treibt. Die Auszeichnung der Objektivität des Objektes als »das wahre lumen naturale«15 setzt sich in praktischer Hinsicht fort. An die Stelle der ontisch zuhandenen, dinglichen Phänomene rückt hier die Menschlichkeit der vorfindlichen Person. Sie evoziert im rezipierenden Anderen die Achtung als ethisch angemessene Haltung. Diese aber ist zerbrechlich aufgrund der auch in praktischer Hinsicht aufweisbaren anthropologischen Disproportion, die sich in der Begrenzung durch den jeweiligen Charakter einerseits und die diese Begrenztheit transzendierende Suche nach Glück andererseits manifestiert. Der Mensch gehört zur Sinnenwelt und ist doch Teilhaber der intelligiblen Welt: »In dieser doppelten Zugehörigkeit ist die Möglichkeit einer Mißstimmigkeit eingenistet, gleichsam der existentielle Spalt, der die Zerbrechlichkeit des Menschen ausmacht.«16 Dem Menschen als anthropologischem Mischwesen gibt sich die Achtung als Paradox ins Selbstbewusstsein, die Personhaftigkeit des Menschen wird als erst zu realisierende vorgestellt und damit zur Aufgabe der Ethik. Der bis hierhin vorangetriebenen zweistrahligen Reflexion stellt Ricœur nun eine Analyse der affektiven Zerbrechlichkeit an die Seite. Ausgehend vom Begriff des Gemüts untersucht er die Unruhe des Herzens als Ort der Konfliktstruktur des inneren Menschen. Und dies nicht nur aus Gründen der Vollständigkeit, sondern mit eindeutiger Akzentsetzung, denn der uranfängliche Zwiespalt des Menschen mit sich selber bildet den Wurzelgrund aller Konflikte, wenngleich auch das Herz von externen Objekten affiziert und gerade so in seinem Charakter offenbar wird. In einem für meine eigenen Ausführungen zentralen Passus hebt Ricœur hervor: »Es kommt nun zum Vorschein, daß der Konflikt von der uranfänglichen Verfassung des Menschen herrührt; das Objekt ist Synthesis, das Ich ist Konflikt [...]. Selbst wenn die konkreten Konflikte, die die Geschichte des Gefühls markieren, im eigentlichen Wortsinn Zufälle sind, Zusammenstöße zwischen unserem Bemühen, unserem Behauptungsvermögen und den Mächten der Natur, des familiären, sozialen, kulturellen Milieus, bleibt dies doch bestehen, daß alle diese äußeren Konflikte nicht verinnerlicht werden könnten, wenn nicht ein latenter Konflikt, der uns mit uns entzweit, ihnen vorausginge, sie auffinge ————— 15

Ebd., 63. Ebd., 104. Vgl. vor allem zum Problem der Achtung die Kant-Exegese, in: P. RICŒUR, Das Selbst als ein Anderer, München 1996, 263f., insbesondere die Einsicht in den perfiden Sachverhalt, »[...] dass der Hang zum Bösen die Willkür auf derselben Ebene beeinflusst, auf der die Achtung selbst eine spezifische Beeinflussung ist, nämlich die [...] Beeinflussung der Freiheit durch das Gesetz«. 16

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und ihnen die Kennzeichnung der Innerlichkeit verliehe, die von jeher die seine ist.«17 Das Ich konfligiert beständig zwischen den Erfordernissen des geistigen und des organischen Lebens hin und her. In der Innenwelt werden diese irreduziblen Spannungen fühlbar, die theoretische wie die praktische Zerbrechlichkeit und die Spaltung von mir zu mir. Hier überschneiden sich auch Beobachter- und Teilnehmerperspektive, erstere ermöglicht Einsicht in die anthropologisch-universale Struktur, deren jeweilige konkretgeschichtlichen Objektivationen letztere singulär affizieren. An dieser Stelle sind zwei Hinweise notwendig, die für das Thema ›Religion und Konflikt‹ relevant sind: Erstens lassen Paul Ricœurs Ausführungen Raum zum Denken von Interdependenzen zwischen äußeren und inneren Konflikten. Geht die phänomenologische Methode von der epistemologischen Leitfunktion der Zeigekraft und Sagbarkeit des Objektes aus, so ist klar, dass Interna beständig durch Externa konstituiert bzw. neu konfiguriert werden, weil Menschen als Umgebungswesen ständig wechselnden sozialen, politischen oder militärischen Einflüssen ausgesetzt sind. Diese externen Faktizitäten sind in ethischer Hinsicht keineswegs neutral, werden allerdings auf der Basis des inversiv-fundamentalen Grundkonfliktes rezipiert, der den Humus für die akute Unruhe des Herzens bildet. Zweitens und damit zusammenhängend ist es wichtig zu sehen, dass der Kommunizierbarkeit der Innenwelt zwar aufgrund des privaten Charakters des Erlebens enge Grenzen gesetzt sind, dort jedoch im Spannungsfeld zwischen Wünschen und Hoffen essentielle Auseinandersetzungen über Menschen- und Gottesbilder ablaufen, die in den Diskursen häufig implizit erkenntnisleitend sind, ohne dass sie wenigstens partiell zur Sprache gebracht würden. Im diskurstheoretischen Modell von Jürgen Habermas18 etwa werden klare Abstufungen vorgenommen bezüglich des auch dort präferierten Dreiweltenmodells. Diskurse werden als Konfliktbearbeitungsszenarien verstanden, insofern problematisch gewordene vorhandene Geltungsansprüche einem Universalisierungstest unterworfen werden. Dem dünnen Band der Sprache wird dabei zugetraut, individuelle Beschränkungen der Erkenntnis und der Partizipation durch herrschaftsfreie Kommunikation zu überwinden, allein aufgrund des Zwanges des besseren Argumentes soll Gewissheit erzeugt werden über das, was Geltung beanspruchen kann. Die Konsensustheorie der Wahrheit aber traut nur dem theoretischen Diskurs ————— 17

P. RICŒUR, Die Fehlbarkeit des Menschen, 172. Vgl. zum folgenden vor allem J. HABERMAS, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. I, Frankfurt a.M. 1981, 126ff.; zur Interpretation K. BERNER, Gesetz im Diskurs. Konsequenzen theologisch-philosophischer Wirklichkeitsdeutung, Neukirchen-Vluyn 1997, 16ff. 18

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über Entitäten Wahrheitsfindung im strengen Sinne zu, der praktisch ausgerichteten Normenprüfung wird die demgegenüber abgeschwächte Möglichkeit des Feststellens von Richtigkeit zugebilligt. Als dritten Geltungsbereich nennt Habermas die dem Subjekt privilegiert zugängliche Innenwelt. Diese soll einerseits alles umfassen, was nicht in der Welt der Tatsachen und Normen vorfindlich ist, zugleich aber den intersubjektiven Umgang mit ihr bestimmen. Andererseits werden aufgrund eben ihres privaten Charakters ihre Inhalte als nicht universalisierbar betrachtet, weshalb allenfalls dem sprechenden Subjekt Wahrhaftigkeit unterstellt werden kann. Mit Waldenfels kann man daran die Überfrachtung und Porösität kritisieren, »[...] die gesamte Außenwelt drängt in die subjektive Welt hinein und übervölkert sie derart, daß von einer abgegrenzten Innenwelt eigener Erlebnisse wenig übrigbleibt«19. Gewichtiger ist die Einsicht, dass substantiell-subjektive Vorgaben nicht nur unabdingbar dafür sind, dass ein Individuum sich für intersubjektive Kommunikation interessiert und öffnet, sondern dass solche normativen Implikationen in das Gesicht der Verfahrensethik selber eingezeichnet sind. Denn die Bearbeitung konfligierender Geltungsansprüche im theoretischen und praktischen Bereich geht untrennbar einher mit Betrachtungen darüber, wer wir als Menschen sein wollen. Wenngleich also zugestanden werden muss, dass die Arsenale der Innenwelt nicht universalisierbar sind, so ist dies kein Grund, sie pejorativ zu behandeln. Denn utilitaristisch gesehen nützen alle auf theoretisch-praktische Objektivitäten bezogenen diskursiven Konfliktbearbeitungen nichts, wenn das unruhige Subjekt mit seinen Belastungen sich selbst überlassen bleibt. Theoretische Diskurse können dann zwar for the time being und also relativ bis zum stets möglichen Aufkommen neuer Ansichten die perspektivisch bedingte Disproportionalität des einzelnen Menschen ausgleichen, aber nicht prinzipiell überwinden, denn die intersubjektive Zusammenführung begrenzter Perspektiven schafft im Ergebnis keine Basis für absolute Gewissheit. In praktischer Hinsicht vermögen Diskurse das Problem konfligierender Normansprüche zu bearbeiten, sie können jedoch von sich aus keine moralischen Innovationen hervorbringen und auch das Motivationsproblem nicht lösen, das darin besteht, ob Alter Ego als Person anerkennen und achten möchte oder nicht. Bereits Kant20 hat damit gerechnet und darauf hingewiesen, dass die hierfür notwendige Liebe ebenso wie eine Empfänglichkeit des Gemüts für Pflichtbegriffe in einer deontologisch konzipierten ————— 19

B. WALDENFELS, In den Netzen der Lebenswelt, Frankfurt a.M. 1985, 105f. Vgl. dazu J. SIMON, Die Religion innerhalb und außerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: I.U. DALFERTH/H.-P. GROSSHANS (Hg.), Kritik der Religion. Zur Aktualität einer unerledigten philosophischen und theologischen Aufgabe, Tübingen 2006, 4. 20

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Ethik immer schon vorausgesetzt sein müssen, es für das tatsächliche Vorhandensein aber keine Garantien gibt. Solange die Innenwelten im Diskurs drittrangig behandelt werden, wird zwar ein wissenschaftlicher Objektivitätsanspruch aufrechterhalten. Dies aber um den Preis lediglich solipsistischer Auseinandersetzungen mit Wünschen und Hoffnungen durch Individuen, die nach Anerkennung und Gewissheit suchen, aber mit sich selber im unreinen sind und es ontologisch gesehen bleiben müssen. Ich bin nicht sicher, ob die Empfehlung von Lévinas21 daran etwas ändern kann, wenn er auf Gewissheitsorientierung ganz verzichten möchte zugunsten einer alternativen Hervorhebung der Bedeutung von Nähe, in der der Andere radikal gegenwärtig und der Verantwortung zugänglich wird. Begegnungen aber garantieren noch keinen Frieden, und zu intensive Nähe kann Konflikte erst recht heraufbeschwören. Was bleibt also als Fazit dieser Überlegungen? Wird die in unterschiedlicher Ausprägung aber letztlich alle betreffende Unausweichlichkeit des unruhigen Herzens geleugnet oder zugunsten optimistischer Szenarien heruntergespielt, dann suchen sich Individuen abseits des proklamierten herrschaftsfreien Diskurses Möglichkeiten, interne Konflikte nach außen zu tragen und dort Aufmerksamkeit zu finden. Nicht zuletzt bieten sich dafür Mitgliedschaften in religiösen Organisationen mit eigenen Diskursregeln oder die Verfolgung militanter Strategien an, explosiv vor allem in der Kombination beider, wie sie nicht wenige Suizidattentäter demonstrieren.

III. Konfliktpotentiale und Lösungsstrategien: Gewissheit – Sinn – Religion Die Analyse der anthropologisch basalen Disproportionalitätsproblematik sowie der Chancen und Grenzen ihrer diskursiven Bearbeitung respektive Überwindung zielten darauf ab, die Unvermeidbarkeit von Konflikten ontologisch zu fundieren. Weil Dasein eben nicht nur perspektivisch begrenzt, sondern intrinsisch konfligierend existiert, realisiert es sich auf schwankendem Fundament und als rumorende Kampfzone, die weder vom eigenen Selbst noch von Anderen aus eigener Kraft befriedet werden kann, da diese Anderen ja ebenfalls in Fehlbarkeiten verstrickt sind, wenn auch nicht zu jeder Zeit in gleicher Art und Weise. Zeichnet man in die bisherige Analyse Tillichs Überlegungen zu den ontologischen Polaritäten ein, so ergibt sich, dass in deren Vorhandensein zwar die Endlichkeit jedes ————— 21 Vgl. E. LÉVINAS, Jenseits des Seins oder Anders als Sein geschieht, Freiburg i.Br. 21998 (Studienausgabe), 267.

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Menschen repräsentiert ist, aber ihre Problematik individuell und soziokulturell unterschiedlich wahrgenommen wird. Nicht jede Polarität wird zur Spannung, nicht in jeder Gesellschaft leiden Menschen gleich stark an den Polaritäten von Individuation und Partizipation oder von Dynamik und Form, was auch für die Beziehung von Religion auf die ontologisch eruierbaren Spannungsverhältnisse relevant ist. Insbesondere für die Polarität von Freiheit und Schicksal gilt, dass sie zu verschiedenen Zeiten und Anlässen unterschiedlich bedrohlich wahrgenommen wird. Tillich schreibt: »Unsere gegenwärtige Situation ist durch ein tiefes und verzweifeltes Gefühl der Sinnlosigkeit gekennzeichnet. Einzelmenschen und Gruppen haben jeden Glauben an ihr Schicksal, den sie vielleicht hatten, wie jede Liebe zu ihm, verloren. Die Frage ›Wozu?‹ wird zynisch beiseite geschoben. Die essentielle Angst des Menschen über den möglichen Verlust seines Schicksals ist in existentielle Verzweiflung über das Schicksal als solches übergegangen«22. Das mag in nichtindustriellen, eher traditionellen Kontexten, in denen der Freiheit des Individuums zugunsten von Kollektivorientierungen geringere Bedeutung beigemessen wird, als Problem verdrängt oder geleugnet werden, und entsprechend wird die dort praktizierte Religion in diesem Spannungsfeld kaum konfliktregulierende Potentiale entfalten. Worauf es aber ankommt, ist die Einsicht, dass es aufgrund der sich konstant auswirkenden Fehlbarkeitsstruktur und des variabel ausgeprägten, aber qua Endlichkeit irreduziblen Angegangenwerdens von der Problematik ontologischer Polaritäten niemandem möglich ist, auf natürlichem Wege Varianten von Gewissheit und Sinn zu eruieren, die gegen Zweifel und Anfechtungen immun wären. Eben dieses für die anthropologische Behandlung des Themas ›Religion und Konflikt‹ fundamentale Misstrauen gegenüber den Kapazitäten des natürlichen Erkenntnisvermögens muss aber nun mit konkurrierenden und diese Problematik im Ansatz zu entschärfen trachtenden Konzepten konfrontiert werden. Eine subjektivitätstheoretische Lesart kann auch von präreflexiv unmittelbarer Selbsterschlossenheit23 sprechen und ein epistemologisches Urvertrauen veranschlagen, das der Person zutraut, über das natürliche Erkenntnisvermögen nicht nur relative, sondern absolute Gewissheit über sich selbst als zum Handeln bestimmtes Wesen, über die Welt und die in ihr objektiv geltenden Regeln und über Gott als die von allem ————— P. TILLICH, Systematische Theologie, Bd. I, Stuttgart 81984, 235. So der Ansatz von E. HERMS, Art. Gewissheit, II.: Fundamentaltheologisch, in: RGG4 III, Tübingen 2000, Sp. 908ff. Ähnlich formalisierend und interessiert an der ›Innerlichkeit der reinen Gewissheit‹ zeigt sich R. BARTH, Die Krise des theologischen Wahrheitsbegriffs. Das Verhältnis von logischem und metaphysischem Wahrheitsbegriff in der Tradition Thomas v. Aquin, Kant, Fichte, Frege, Tübingen 2002, 333. 22 23

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Gewählten unterschiedene wählende Instanz zu erlangen. Alle drei Gewissheiten werden ›Glaube‹24 genannt, und ihre Vergegenwärtigung geschieht im Erleben, das in diesem Konzept mit Offenbarung gleichgesetzt wird und die Passivität des Vorgangs gewissheitsschaffenden und gewissheitsbestimmenden Erleidens bezeichnet. Das führt zu der These: »Nicht nur unser Freisein als Personen im Verhältnis zu unserer Welt wird durch Erleben zum Inhalt unserer entscheidungs- und handlungsleitenden Gewißheit, sondern auch die schlechthin passive Konstitution dieses unseres Freiseins im Verhältnis zu unserer Welt, die Notwendigkeit dieses Freiseins für uns. Damit aber auch die radikale Abhängigkeit dieses unseres Freiseins von seinem transzendenten Ursprung und seine bleibende Angewiesenheit auf ihn.«25 In diesem harmonistischen Menschenbild ist kein Raum für Skepsis und kein rechter Platz für Konflikte, da es sich auf subjektive Unmittelbarkeit und ihre Angewiesenheit auf eine Ursprungsmacht konzentriert und dabei das Erlangen von Gewissheiten problemlos für möglich, ja unausweichlich hält. Ferner wird in der Identifizierung von Erleben und Offenbarung, von Gott und nicht näher bestimmter transzendenter Ursprungsmacht eine formale Basis aller Religionen postuliert. Der gegenüber erscheint dann die Beschäftigung mit ihren divergierenden Inhalten als zweitrangig, woran die Beteuerung der Unverzichtbarkeit sekundärer Vergewisserungen nichts ändert. Zu Recht hat Jörg Dierken gefragt, »ob humane Subjektivität sich nicht eher in skeptischer Zersetzung objektiver Gewißheitsgehalte ergeht, wenn sie ihrer eigenen ›Erschlossenheit‹ unmittelbar und mithin ungebrochen inne wäre. Für ihr Erleben könnten objektive Gehalte nur den inferioren Status heteronomer Setzungen haben«26. Wie auch immer: Die Behauptung der Möglichkeit des Erlebens absoluter Gewissheiten ist gefährlich, weil sie die Innenwelt entproblematisiert und entleert,27 zugleich aber das Subjekt vereinsamt, das Begegnungen mit Anderen nur für nachrangige Vergewisserungsprozesse braucht. Ferner ————— 24

Vgl. E. HERMS, Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 457ff. 25 E. HERMS, Offenbarung und Wahrheit, in: W. BRÄNDLE/G. WEGNER (Hg.), Unverfügbare Gewißheit. Protestantische Wege zum Dialog der Religionen, Hannover 1997, 62. 26 J. DIERKEN, Über Gewissheit und Zweifel im Gespräch mit Paul Tillich. Die religiöse Bedeutung skeptischer Reflexion, in: K.-M. KODALLE/A.M. STEINMEIER (Hg.), Subjektiver Geist. Reflexion und Erfahrung im Glauben (FS T. KOCH), Würzburg 2002, 169. 27 I.U. DALFERTH, Die Wirklichkeit des Möglichen. Hermeneutische Religionsphilosophie, Tübingen 2003, 382, formuliert zugespitzt: »Wollen Wesen wie wir Menschen, die ›ich‹ sagen können, sich selbst erkennen und mit sich selbst vertraut werden, dann dürfen sie sich gerade nicht auf den Weg ›der Innerlichkeit der reinen Gewissheit‹ ihrer selbst machen, weil es auf diesem Wege nichts zu finden gibt«. Dieser Einschätzung kann jedoch der erforderliche Hinweis zur Seite gestellt werden, dass sich nicht nur in der Begegnung mit konkreten Anderen, sondern in der Innenwelt selber das Selbst als ein Anderer erfährt.

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sieht dieses Konzept davon ab, dass das Böse28 auf der Basis ungebrochener, fragloser Gewissheiten getan werden kann. Ist es nicht die deprimierende Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass die größten Verbrechen aufgrund von unhinterfragten Überzeugungen und verabsolutierten guten Gewissheiten verübt wurden? Schon deshalb müsste es eher den Religionen zugeschrieben werden, dass sie die Gewissheiten allererst vermitteln, die hier dem natürlichem Welterleben zugeschrieben werden, und dass sie damit auch Konfliktpotentiale freisetzen, die hier apriorisch als tendenziell überflüssig deklariert werden. Die Intention, Religion subjektivitätstheoretisch von Selbstdeutungsprozessen aus zu verstehen und ihr Sinnstiftungsleistungen zu attestieren, muss auch in einem Konzept als Verkürzung gewertet werden, in dem sich zwar ein Bewusstsein intern konfligierender Formelemente erhalten hat, die aber in folgenden Reflexionsschritten aufsteigend überwunden und entproblematisiert werden: »[…] im Fall der Bewußtwerdung der eigenen Geschöpflichkeit als Überschritt von Unmittelbarkeit in Andersheit, im Falle des Sündenbewußtseins als Überschritt von Andersheit in Widerstreit, im Falle der Gewahrung eigener Erlösungsbedürftigkeit als Überschritt von Widerstreit in Vermittelbarkeit und in der Form der Heilsgewißheit als Überschritt von Vermittelbarkeit in Teilhabe. So zeigt sich der Gesamtprozeß religiöser Selbstdeutung als kategorial gestufter, sukzessiver Reflexionsfortschritt.«29 Die explizite Kritik30 an spezifisch religiösen Lehrinhalten zeigt in diesem doch deutlich von christlichem Gedankengut imprägnierten Konzept an, dass zur Erlangung von Sinnsynthesen und letztlich von Heilsgewissheit keine materialen Auseinandersetzungen für nötig gehalten werden. Religiöser Selbstdeutung, die dazu keines Anstoßes eines ihr gegenüber externen ›Ganz Anderen‹ bedarf, wird die Überwindung von Konfliktpotentialen mittels Reflexionsstrategien zugetraut – zweifellos stellt dies auch ein Entschärfungsprogramm dar, das Innenwelten zu nicht notwendigerweise konfligierenden erklärt und bei den avisierten Transformationsprozessen stark mit den Ressourcen des Menschen und seinem natürlichen Hang zur Teilhabe am Unbedingten rechnet. Demgegenüber möchte ich noch einmal und diesmal im Anschluss an Helmuth Plessner hervorheben, dass die bei Pflanzen und Tieren nicht vorhandene Selbstständigkeit einer Innenwelt zwar die gattungsspezifische Menschlichkeit des Menschen verbürgt, ihm aber zugleich aufgrund seiner exzentrischen Positionalität eine konstitutive Wurzellosigkeit verschafft, da ————— 28 Vgl. als Kontrast den eindrücklichen Auftakt bei P. STRASSER, Theorie der Erlösung. Eine Einführung in die Religionsphilosophie, München 2006, 11ff. 29 U. BARTH, Was ist Religion?, in: ZThK 93/4 (1996), 556. 30 Vgl. ebd., 59.

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dem Menschen im Gegenüber zu den Außendingen sein Leben wesentlich problematisch ist, weil er nie in der Position verweilt, in der er sich gerade befindet: »So erwacht er zum Bewußtsein der absoluten Zufälligkeit des Daseins und damit zur Idee des Weltgrundes, des in sich ruhenden notwendigen Seins, des Absoluten oder Gottes. Nur ist dieses Bewußtsein nicht von unerschütterlicher Gewißheit. Wie die Exzentrizität keine eindeutige Fixierung der eigenen Stellung erlaubt [...], so ist es dem Menschen nicht gegeben, zu wissen, ›wo‹ er und die seiner Exzentrizität entsprechende Wirklichkeit steht. [...] Eins bleibt für alle Religiosität charakteristisch: sie schafft ein Definitivum. Das, was dem Menschen Natur und Geist nicht geben können, das Letzte: so ist es –, will sie ihm geben.«31 Die Sehnsucht nach und der Zweifel am Transzendenten bedingen sich in der Heimatlosigkeit des Menschen. Von daher, nicht von seinem natürlichen Vermögen, sondern von seinem natürlich-künstlichen32 Verlangen her, erklärt sich, dass der Mensch, dem seine Religion die Gewissheiten bringt, die er qua Menschsein nicht erlangen kann, diese seine Religion in der für ihn passenden Ausprägung nicht nur individuell präferiert, sondern sie angesichts konkurrierender Konzepte verteidigen und in ihrer Letztgültigkeit erweisen will. Wer könnte dies nicht nachvollziehen? Menschen hängen generell an ihren mehr oder weniger fundierten Lebensgewissheiten. Ein gefundenes Definitivum aber wird in einem Geflecht aus diesen die Lebensvollzüge eben nur relativ fundierenden Überzeugungen nicht leicht wieder preisgegeben. Zumal Religion im Unterschied zu Sexualität, Familialismus oder anderen sinnstiftenden Lebensvollzügen der Nimbus anhaftet, nicht nur umfassend Daseinsvollzüge zu erleuchten und nicht notwendig mit Macht und Herrschaft verflochten zu sein, sondern unter Umständen sogar Möglichkeiten freizusetzen, um die Todesgrenze zu transzendieren. Eine zu formale Sicht von Religion lenkt davon ab, dass konkrete Individuen sich durchaus materiale Vorstellungen von diesen Möglichkeiten der Arbeit am Unverfügbaren33 machen, die nicht zugunsten der Konstruktion einer diese Konkretionen angeblich fundierenden Einheitsreligion nivelliert werden können. Angesichts der existentiellen Bedeutung von Religion sind Konflikte vorprogrammiert, wenn Differenzen vorschnell verkleinert werden, die aus der Teilnehmerperspektive gerade besonders gewissheitsverbürgend und damit lebensgeschichtlich besonders relevant sein können. ————— 31 H. PLESSNER, Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie (Gesammelte Schriften Bd. IV), Frankfurt a.M. 1981, 419f. (Hervorhebung K.B.). 32 Zum Ausdruck vgl. ebd. und dazu die Analyse bei P. FISCHER, Philosophie der Religion, Göttingen 2007, 207. 33 Vgl. dazu I.U. DALFERTH/PH. STOELLGER (Hg.), Hermeneutik der Religion, Tübingen 2007, 18.

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Wie die Marginalisierung, so ist aber auch die kommunikative Reflexion divergierender Glaubensinhalte mit Gefahren verbunden. Denn sie offenbart irreduzible Konkurrenzen zwischen den Grundannahmen der Religionen, deren Vergegenwärtigung alles andere als harmlos ist. Es kann ja nicht alles gleichermaßen Gültigkeit haben: Das Weltbild traditionaler Religionen, die gar keine ontologische Misere kennen34, sondern Brüche in der alltäglichen Lebenswelt, durch deren rituelle Bearbeitung die Harmonie wieder hergestellt werden kann, steht gegen die in den Weltreligionen verankerte Überzeugung einer grundsätzlichen Entfremdung zwischen Gott, Mensch und Schöpfung. In der Eschatologie35 konkurriert die islamische Vorstellung von einem Endgericht, in dem der Einzelne nach seinen Werken Lohn oder Strafe erhält, mit der christlichen Vorstellung des in der die Werke relativierenden Rechtfertigungsperspektive vollstreckten Gerichtes über alle Völker. Zusätzliche Irritationen gibt es gerade in diesem Bereich noch dadurch, dass die individualistische Eschatologie des Islam sich schwer verträgt mit der diesseitigen Beschwörung der Relevanz der umma, des Glaubenskollektivs, während umgekehrt das zumindest protestantische Insistieren auf der Bedeutung des Individuums eine Kollektivorientierung in der Eschatologie nicht unbedingt erwarten lässt. Ganztod oder Seelenwanderung, Synergismus im Erlösungshandeln oder apokatástasis pantón – das sind Konfliktstoffe eigener Art. Kurz: Religion verspricht ein Definitivum. Aber die Existenz konkurrierender Vorstellungen führt den Individuen die bedrängende Tatsache vor Augen, dass ihre Heilserwartungen sich als letztlich verfehlt herausstellen könnten, was im Bereich dessen, was einen unbedingt angeht, zu existentieller Dramatik führen kann. Dass niemand Gott je gesehen hat, macht die Konfliktsituation nicht einfacher. Da es sich in der Religion wesentlich um Beziehungen zum Unsichtbaren handelt, wird an ihr die Disproportionalität des menschlichen Erkenntnisvermögens besonders schmerzhaft bewusst, da das Erkenntnis fundierende Sich-Zeigen des externen Objektes hier gerade entfällt beziehungsweise nur gebrochen vorhanden ist, da Offenbarung stets mit Verborgenheit des Göttlichen zusammenfällt. Wo die Anschauung fehlt, wuchert die Macht der inneren Bilder. Imagination ist aber nach Sartre stets eine Verbindung von Realem und Irrealem: »Das Irreale wird außerhalb der Welt hervorgerufen durch ein Bewußtsein, das in der Welt bleibt, und weil er transzendental frei ist, stellt der Mensch vor.«36 ————— 34 Für diese Hinweise danke ich Dr. Andreas Grünschloß, Professor für Religionswissenschaften an der Universität Göttingen. 35 Vgl. dazu P. STEINACKER, Absolutheitsanspruch und Toleranz. Systematisch-Theologische Beiträge zur Begegnung der Religionen, Frankfurt a.M. 2006, 167ff. 36 J.-P. SARTRE, Das Imaginäre. Phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, Hamburg 1980, 289.

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Nicht zwei Menschen haben allerdings exakt dieselbe Vorstellung vom Göttlichen, selbst wenn sie eine verbindliche Bildmetaphorik eines gemeinsamen normativ etablierten Glaubenssystems applizieren. Denn jedes geistige Auge ist gebunden an sein biographisch bestimmtes Vorstellungsmaterial und daher bei aller Kreativität zugleich konservativ. Es ist viel gewonnen, wenn sich beim prinzipiell sinnvollen Austragen religiöser Konflikte die Teilnehmenden darüber im klaren sind, dass sie perspektivisch begrenzt bleiben und Vorstellungen eines Bewusstseins applizieren und verteidigen, das ›in der Welt bleibt‹.

IV. Letztbegründungen im Vorletzten? Religion trifft den gläubigen Menschen im Innersten und ist doch als Lebensvollzug schwer verständlich. Außenstehende können zwar religiöse Praktiken beobachten, erfahren dadurch aber noch nichts darüber, wie diese von den Akteuren selber rational verstanden oder affektiv erlebt werden. Gläubige selber können darüber nur begrenzt schlüssig Auskunft geben, da sich zwar habitualisierte religiöse Inhalte in abstracta kommunizieren lassen, die Zusammenhänge der konkreten Modi ihrer inversiven Repräsentation und der von ihnen geleiteten Lebensvollzüge aber nur ansatzweise erkennbar und rudimentär zur Sprache zu bringen sind. Als homo absconditus ist der Mensch sich selber nicht durchsichtig. Und ein guter Grund dafür, sich mit der wissenschaftlich suspekten, weil nicht objektivierbaren Kategorie ›Innenwelt‹ zu beschäftigen, liegt darin, dass eben im Inneren individuell-biographisch und sozialhermeneutisch relevante Überzeugungen ausgebildet werden, ohne dass im mindesten Anlass zu der optimistischen These bestünde, die dazu führenden Mechanismen erhellen zu können. Kaum kann man den Anteil des Unbewussten bei mentalen Operationen ermessen, die sich selber als rational oder autonom vorstellen und doch von arkan bleibenden Konfigurationsprozessen flankiert werden, die das Ich nicht Herr im eigenen Haus sein lassen. Kaum kann man sich der doch beunruhigenden Einsicht Immanuel Kants entziehen, dass wir zwar in der Ethik vorhandene Maximen einem Verallgemeinerungstest unterziehen sollen, die einzelne Person aber, selbst wenn sie meint, nur dem Gebot der Pflicht zu folgen, sich niemals sicher sein kann, ob dies tatsächlich der entscheidende Beweggrund ihres Handelns ist, denn den Vorgang der Maximenbildung »kann man nicht beobachten, sogar nicht allemal in sich selbst«37. ————— 37 I. KANT, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, BA 5f., in: DERS., Werke in zehn Bänden (Studienausgabe), hg. v. W. WEISCHEDEL, Bd. VII, Darmstadt 1983, 666.

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Auch für den Bereich der Religion gilt schließlich, dass Konfusionen entstehen können zwischen den allzumenschlichen Wunschvorstellungen und den ihnen vielleicht zum Verwechseln ähnlichen, aber offenbarungsadäquaten Bildmaterialien, aus denen sich die Hoffnung nährt. Und es könnte ja sein, dass die ganze Vorstellung eines ›Cogito‹ und damit einer individuell kontrollierbaren Innenwelt illusionär ist, sich dort eine Vielheit von Subjekten bekämpft und zu epistemologisch frustrierenden Erkenntnissen führt. »Ich halte« – sagt der unbequeme Nietzsche – »die Phänomenalität auch der inneren Welt fest: alles, was uns bewußt wird, ist durch und durch erst zurechtgemacht, vereinfacht, schematisirt, ausgelegt – der wirkliche Vorgang der inneren ›Wahrnehmung‹, die Causalvereinigung zwischen Gedanken, Gefühlen, Begehrungen, wie die zwischen Subjekt und Objekt, uns absolut verborgen – und vielleicht reine Einbildung. Diese ›scheinbare innere Welt‹ ist mit ganz denselben Formen und Prozeduren behandelt, wie die ›äußere‹ Welt. Wir stoßen nie auf ›Thatsachen‹: [...] Die ›Ursächlichkeit‹ entschlüpft uns; zwischen Gedanken ein unmittelbares ursächliches Band anzunehmen, wie es die Logik thut – das ist Folge der allergröbsten und plumpsten Beobachtung. Zwischen zwei Gedanken spielen noch alle möglichen Affekte ihr Spiel: aber die Bewegungen sind zu rasch, deshalb verkennen wir sie, leugnen wir sie [...]«38. Das Rechnen mit derart konfligierenden Innenwelten, in denen sich Chaos und Gewissheiten paaren, kann ins Positive gewendet argumentativ gegen jegliche Selbstverabsolutierungen und insbesondere gegen religiöse Letztbegründungsansprüche verwandt werden. Das gilt gerade für implizite Letztbegründungen, für die Fraglosigkeit, mit der Individuen die von ihnen präferierten Gewissheiten versehen, die vielleicht keinem intersubjektiven Diskurs mit transzendentalpragmatischem Letztbegründungsanspruch standhalten würden, aber als präreflexive oder schlicht lebenstaugliche Maximen den Status des Unanfechtbaren haben. Dem Aufweis der Aporien theoretischer, vor allem subjektivitätsphilosophischer Versuche zur Untermauerung religiöser Letztbegründungssansprüche, die auf unbedingte Freiheitsfundierungen, letztgültige Sinnorientierungen und aprioristisch orientierte Selbstbewusstseinskonzeptionen rekurrieren, soll hier keine Variante39 ————— 38 F. NIETZSCHE, Nachgelassene Fragmente (Kritische Studienausgabe Bd. XIII), München 1980, 53f. 39 Vgl. I.U. DALFERTH, Die Wirklichkeit des Möglichen, 429: »Die zu ziehende Lehre ist vielmehr, auf Letztbegründungsversuche und damit die Suche nach argumentativ unhintergehbaren Gewissheiten, letzten Identitäten und unhinterfragbaren Sachverhalten ganz zu verzichten, weil sie überhaupt nicht benötigt werden. Zum einen bedarf es keiner unhintergehbaren Letztbegründung, um etwas vernünftig zu begründen. Zum andern lebt religiöser Glaube nicht von rationalen Begründungen, sondern diese sind im besten Fall rationale Explikationen eines Sachverhalts, der auch ohne sie Bestand [...] hat«.

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hinzugefügt werden. Wichtiger ist angesichts des Themas ›Religion und Konflikt‹ ein doppeltes: einerseits das In-Rechnung-Stellen irrationaler, in konfligierenden Innenwelten hausender, sich jeglicher Diskursivität und damit rationaler Kontrolle entziehender Letztorientierungen, die sich vehement, bei Fanatikern sogar militant auswirken können. Andererseits darf man sich m.E. von Strategien Fortschritte versprechen, die in interreligiösen Dialogen erkennbare Tendenzen zu Letztbegründungen argumentativ aufzugreifen und abzuwehren suchen. So notwendig nämlich die Bearbeitung von Konflikten um religiöse Selbst-, Welt- und Gottesbilder schon aufgrund ihrer situationsdefinierenden und daher handlungsrelevanten Dynamik ist, so gewiss kann ein Insistieren auf der religiös motivierten Selbstbegrenzung der Gläubigen dazu verhelfen, Konflikte zu relativieren, die sich aus falschen Grenzziehungen ergeben. Ist Religion »gelebtes Differenzbewusstsein«40, so muss sie zuerst eine Kultur der Übereinstimmung bezüglich des Unterschiedes zwischen Endlichem und Unendlichem anstreben und damit denen die hermeneutische Legitimationsgrundlage entziehen, die sich zur Verteidigung ihrer Religion perspektivisch in die Position Gottes versetzen oder zumindest als seine Stellvertreter agieren wollen. Sich demgegenüber intersubjektiv die eigene Endlichkeit zu vergegenwärtigen geht idealerweise nicht nur einher mit der prinzipiellen Erhellung und akuten Beachtung der eigenen Disproportionalitäten, sondern zugleich mit adäquaten Differenzierungen zwischen letzten und vorletzten Gewissheiten. Damit sind Zumutungen verbunden. Der Vollzug solcher Unterscheidungen tendiert nämlich dazu, den erhofften definitiven Charakter religiöser Orientierungen obsolet zu machen und damit ihre Anhänger wieder in die Welt epistemischer Unsicherheiten zu entlassen, die sie gerade zu transzendieren wünschen. Jedoch kann der Gewinn nur als beträchtlich bezeichnet werden, wenn zwischen wirklich existentiell unverzichtbaren Lebensorientierungen und demgegenüber weniger wichtigen, verhandelbaren und eher marginalen Problemen unterschieden wird. Das, was im Sinne der Heilsgewissheit als das wahrhaft Unverzichtbare aufleuchtet, kann zugleich mehr Gelassenheit gegenüber den von daher als solche erkennbaren Adiaphora befördern. Eine kritische Haltung zur Sakralisierung vorläufiger Dinge, die gerade daraus ihre Würde ziehen, dass sie in ihrem weltlichen Charakter Relevanz beanspruchen dürfen. Es dürfte kaum übertrieben sein, wesentliche Brandherde für die religiös motivierten Inszenierungen oder Intensivierungen von Konflikten daraus ————— 40 J. DIERKEN, ›Religion‹ als Thema Evangelischer Theologie. Zur religionstheoretischen Bedeutung einer konfessionellen Disziplin, in: NZSTh 43 (2001), 253ff.

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abzuleiten, dass die sich im Abendland grundsätzlich bewährt habende Unterscheidung von Glaube und Politik erodiert wird. Religion, die merkwürdigerweise Krieg41 und Frieden42 zu befördern vermag, entwickelt dann destruktive Potentiale, wenn gerade in Zeiten des Umbruches soziale Probleme, politische Neuordnungen und kulturelle Verunsicherungen fundamentalistisch überhöht und pseudoreligiös kodiert werden. Alle Fragen werden dann zu Heilsfragen stilisiert, die mit der existentiellen Dramatik des Religiösen zu behandeln sind. Diesseitiges Wohlergehen wird nicht mehr von jenseitiger Erlösung unterschieden, Ambivalenzen werden nicht ausgehalten, sondern einem Homogenitätsverlangen subsumiert, Anfechtungsresistenz verbindet sich mit der Selbstautorisierung zur Proklamation von Verwerfungen aller Art. Gründe dafür sind nun allerdings nicht allein in kontextspezifischen und soziokulturellen Systemunterschieden, sondern auch in anthropologischen Bedürftigkeiten zu sehen: in der Angst vor Verletzungen, Kränkungen und dem Wunsch nach Anerkennung, im Sicherheitsstreben und vor allem in einem offenbar irreduziblen personalen Gewissheitsverlangen. Der Begriff ›Gewissheit‹ weist aber eine besondere Ambivalenz43 auf, indem er sich gleichermaßen auf subjektives Für-wahr-Halten wie auf objektive Legitimation eines Erkenntnisinhaltes bezieht. Angesichts des Aufeinandertreffens divergierender religiöser Wahrheitsansprüche kommen Personen kaum daran vorbei, ihr subjektives Für-wahr-Halten mit einem dieses zwar objektiv fundierenden, aber dialektischen Offenbarungsverständnis zu konfrontieren. Dieses erkennt die Einheit von Sich-Zeigen und Sich-Entziehen des Göttlichen, was zwar nicht die Setzung eines Hiatus zwischen dem Deus revelatus und dem Deus absconditus erfordert, aber eben Reflexion darüber, dass Gott sich in der Welt verständlich macht, ohne seine Unbegreiflichkeit dadurch zu verlieren. Wo dies verstanden ist, müssen konfligierende Innenwelten nicht negiert oder für überwindbar gehalten, sondern sie können ausgehalten werden. Ferner kann sich die Differenzierung anschließen zwischen der religiösen Innenperspektive, nach der sich die Wahrheit in einem Medium verbindlich gezeigt hat, und der alle Gläubigen unterschiedlichster Coleur auf die Hoffnung verweisenden Tatsache, dass die letztgültige Durchsetzung der Offenbarung und damit der definitive Wahrheitserweis noch aussteht. ————— 41 Vgl. etwa V.N. MAKRIDES/J. RÜPKE (Hg.), Religionen im Konflikt. Vom Bürgerkrieg über Ökogewalt bis zur Gewalterinnerung im Ritual, Münster 2005. 42 Vgl. etwa M.A. WEINGARDT, Religion macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Stuttgart 2007. 43 Vgl. G. RUDOLPH, Art. ›Gewissheit‹, in: HWPh, hg. v. J. RITTER, Bd. III, Darmstadt 1974, 592.

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Knut Berner

Konflikte zwischen Religionen entstehen dann, wenn Menschen vergessen, dass ihr Gott mit gleicher Intensität und Intimität auch der Gott aller anderen Geschöpfe ist, und wenn sie unter Umgehung des eschatologischen Vorbehaltes im Hier und Jetzt ihre konstitutionelle Heimatlosigkeit definitiv kognitiv oder affektiv meinen hinter sich lassen zu können. Weiterführender ist es, auf Distanz zu eigenen gefährlichen Gewissheiten zu gehen und sich zuversichtlich im Modus des Hoffens auf das auszurichten, was noch aussteht, was »allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat«44.

————— 44

E. BLOCH, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt a.M. 1985, 1628.

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Claudia Welz

The Self as Site of Conflicts Guilt, Recognition and Reconciliation Claudia Welz The Self as Site of Conflicts When we find ourselves in conflicts, we have to deal not only with differing claims concerning matters of fact, but also with different ways of understanding ourselves. The self becomes a site of conflicts even for itself – through conscience, the inner witness and judge of deeds, decisions and deliberations. In the »mirror« of conscience we see ourselves through our emotions, through sentiments of approbation or condemnation, which are sometimes in confrontation with what others see in us. As junction between the inner and the outer, the self and the other, conscience can serve as medium of self-disclosure or become a source of self-deception. At risk in the struggle for recognition and reconciliation is personal identity. The works of Shakespeare, Hegel, Kierkegaard and Ricœur on the one hand and Nazi self-portrayals on the other are of special interest in this context. In what follows, I will first describe the role of conscience in the experience of conflicts. Hereafter, I will turn to the ambiguities that endanger personal identity and outline ways of conflict management. Finally, I will examine selfhood as a conflictual process of becoming oneself, which contains conflicts that resist their resolution.

1. The Self in Conflicts and the Role of Conscience 1.1 Shakespeare: Conscience Making Cowards of Us All To be, or not to be: that is the question: Whether ‘tis nobler in the mind to suffer The slings and arrows of outrageous fortune, Or to take arms against a sea of troubles, And by opposing end them?1

Shakespeare’s Hamlet raises an existential question. Is life worth living despite the conflicts into which we are drawn? Hamlet tries to convince ————— 1 Hamlet, Prince of Denmark (Act III, Scene I), in: W. SHAKESPEARE, The Complete Works, trans. W.J. CRAIG, London 1993, 886.

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himself that »to die« is just »to sleep« and to end his sorrows. Yet, what will be after death? Would his troubles really be ended by suicide? No traveller has returned from this »undiscover’d country« – should we »rather bear those ills we have« than »fly to others« we don’t know? Hamlet could not convince himself that death would solve his problems and concludes, »Thus conscience does make cowards of us all.«2 However, is it correct to call it cowardice to continue one’s life? If Hamlet would continue to live only because he does not dare to put an end to himself, he would indeed be a coward. It seems, however, that in his case it requires more courage to live within the conflicts he is part of than to flee from them. Hamlet’s personal conflict consists in a moral dilemma: the ghost of his assassinated father ordered him to avenge the murder.3 Yet, how could Hamlet do so without tainting his own mind and without harming his mother, the Queen of Denmark, who is married with his uncle, the usurper of his father’s throne? The task is impossible, and Hamlet’s conscience fights back. Change of play and scene. The motif of conscience that »makes a man a coward«4 can also be found in the tragedy of King Richard III. Here, it has the positive power to deter a man from becoming a murderer, although his colleague swears at him and calls him a coward.5 King Richard himself, this unscrupulous man, is finally haunted by the ghosts of all his victims who wish he would die in terror of his guiltiness.6 Richard comes to hate himself for the hateful deeds he has committed, desperately trying to accept his guilt while already condemned by his conscience, which tells him relentlessly that he is the villain he does not want to be. In fear of the battle that will be the last of his life, he exclaims, »O coward conscience, how dost thou afflict me!«7 Richard ends just as tragically as Hamlet. What roles does conscience play in Shakespeare’s tragedies? The justmentioned examples reveal its ambivalence. On the one hand, it can successfully warn someone against doing something wrong and accuses the offender. On the other hand, it can easily be ignored and suppressed. If it is correct that conscience makes cowards of us all, it does so in different respects. Judging past and future acts, it makes one person aware of the fact that he or she will not be able to bear the consequences and makes him or her refrain from these acts, while it provokes another person to act against the pangs of conscience, to take a decision, and to carry it out. In the first case, the cowardice consists of shrinking back from risks and the inability ————— 2 3 4 5 6 7

Ibid. Cf. ibid., 877 (Act I, Scene IV). Ibid., 605 (The Tragedy of King Richard III, Act I, Scene IV). Cf. ibid., 607. Cf. ibid., 631–632 (Act V, Scene III). Ibid., 632. Cf. K. OHM, Shakespeare und das Gewissen, Wiesbaden 1975, 28–34, 46–54.

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to face feelings of guilt and shame; in the second case, it consists of the unwillingness to give up one’s pride and to see oneself soberly in the light (or rather the shadow) of the evil one has willed and done, i.e., the unwillingness to see one’s own mistakes and weaknesses. In both cases, the judgment of conscience loads the acts upon the agent and links up one’s doing with one’s being. Apparently, conscience thereby causes inner conflicts in addition to the outer conflicts and paralyses rather than energizes the agent. But could conscience not also encourage us in the work of resolving conflicts within and around us? In order to clarify this question, let us first consider how conscience connects the inner and the outer. 1.2 Forum and Tribunal: Conscience as Junction of Inner and Outer, Self and Other Although conscience is often associated with bad conscience, it is surely not reducible to something like the »moral department« of the mind. Already the Greek and Latin etymologies (syneidesis, conscientia) suggest that conscience is a knowing-with (con-science) in a double sense.8 First, it can be a knowledge shared with another, knowledge about an action one has witnessed. If one has approved of a forbidden or reproachable behavior, one’s con-science becomes equivalent with connivance.9 Second, one’s con-science can be the consciousness of one’s own behavior. As an inner witness of one’s thoughts, decisions, actions and affections, it is integral with self-awareness and can be hidden from others. However, while it can be hidden from others, it cannot be independent of them. Curiously enough, this is implied in the structure of autonomy itself, regardless of whether it is defined as self-position or self-determination. A subject can posit itself only in presupposing itself – as already presupposed. Further, it can determine itself only if it is already related to something else that allows it to determine itself in another way.10 The subject that wants to take itself as its point of departure must transcend itself. It cannot understand itself in isolation. In order to get to know itself, it has to distance itself from itself and encounter others. It can only relate to itself in relating to others. Hence subjectivity cannot be understood in and by itself alone. The ————— 8

Cf. H. REINER, Gewissen, in: HWPh III (1974), 574–592, here 575–576. Regarding the first sense of the word (traced back to syneidénai tiní), Reiner refers to the following examples: XENOPHON, Memor. II, 7, 1; SOPHOKLES, Antigone 265–266 and CICERO, Ad Q. fr. 2, 14, 2; regarding the second sense of the word (traced back to syneidénai heauton), he refers to PLATON, Symp. 216b and SENECA, Dial. 10, 13, 2; Benef. 7, 6, 2. 10 Cf. A. GRØN, Subjektivität: Begriff und Problem, in: I.U. DALFERTH/PH. STOELLGER (eds.), Krisen der Subjektivität. Problemfelder eines strittigen Paradigmas, Tübingen 2005, 317–332, here 323. 9

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imaginative »borderline« between the self and the other is not only to be drawn between »I« and »Thou,« but also within the self that comes to understand itself as another: soi-même comme un autre, as Paul Ricœur has put it.11 Accordingly, he defines conscience as »the place of an original form of the dialectic between selfhood and otherness« (OA 341). Conscience gives a voice to the crossing of different perspectives. As self-inherent relation to otherness, it is equally self-attestation and an injunction by another (cf. OA 340, 351). In the response to another, the attestation of the self takes place, namely of the self as responsive, called-on, invited and requested by another.12 In this line, one could say that conscience is the innermost exteriority of ourselves, the forum where one’s self-understanding is »negotiated,« where the inner meets the outer, and where this very distinction is turned inside out since whatever is »in« ourselves can be touched by that which happens »out« there in the world. It is directed towards it, and intertwined with it. In the same vein, Kant’s metaphor of the inner tribunal could be taken up, though not limited to a juridical context, but in the broader sense of one’s answering and being-answerable to others. Conscience would then be the »locus« where the self relates to its own deeds and to foreign claims as well. Due to our embodied being, we cannot completely dismiss the spatial imagery; yet, conscience cannot be localized concretely. There is no organ of the body, no faculty of the mind, and no specific place to which it would be tied exclusively. Still, the fact that conscience is, as it were, a »fleeting« appearance without a stable residence, does not necessarily entail that it is no-where, u-topian, a ghost-like hallucination or personification of restlessness. It does, however, entail conscience’s catachrestic character, catachresis being the trope or necessary metaphor that fills in where no proper term or literal foundation is to be had.13 To its figurative representations corre————— 11

Cf. P. RICŒUR, Oneself as Another, trans. K. BLAMEY, Chicago/London 1994 (= OA). Cf. B. LIEBSCH, Bezeugung und Selbstheit. Soi-même comme un autre als Antwort auf Sein und Zeit, in: A. BREITLING u.a. (eds.), Das herausgeforderte Selbst. Perspektiven auf Paul Ricœurs Ethik, Würzburg 1999, 163–183, here 173–174. 13 Cf. K.S. FELDMAN, Binding Words. Conscience and Rhetoric in Hobbes, Hegel, and Heidegger, Evanston 2006, 3–5. Feldman begins her book with the observation that both our philosophical and everyday conceptions of conscience come to us by way of a tradition of wildly incompatible figures and images, which mix qualities of corporeality and spirituality, spatiality and agency, organism and event. They include, e.g., figures of activities, such as seeing, hearing, telling, judging, biting, strangling, gnawing, punishing, and torturing; spatial and architectural figures, as of the heart, a courtroom, an inner hell, and a church building; and heterogeneous images of conscience as spark, worm, natural light, inscription, an internalized set of norms, an ineluctable gazing eye, and feeling. 12

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sponds an epistemological lacuna: how can conscience be claimed to exist concretely? Its existence is testified to by experiences of conscience that are made and expressed by someone.14 Conscience’s »whereabouts« cannot be clarified apart from the movements and the being-moved of the self that has or rather is conscience. In Biblical tradition, Luther identified conscience with the very core, the heart of the person.15 Since conscience displays the self in all its relations to others and to otherness and thereby involves all cognitive and perceptual, volitional and emotional capacities of consciousness, it can also be described as an instance of self-phenomenalization, through which the self experiences itself – as another and vis-à-vis the other(s). 1.3 The Epistemological, Ethical and Religious Role of Conscience Thus, through conscience, the self can experience itself as the site of conflicts, because it inevitably becomes affected by what happens, be it that it becomes aware of others’ quarrels and sufferings, or that it becomes involved in them and has to position itself in this scenario. Conscience can play different roles and serves several functions. In what follows, I would like to highlight three of them: its epistemological, ethical, and religious function. 1.3.1 (Im)Mediate Self-Understanding through Conscience: Affection, Perception and Reflection First, it can promote our self-understanding. Self-understanding through conscience has the character of mediated immediacy. Any immediate being-one-with-oneself is interrupted. The self becomes a question to itself. This happens on different levels of experience: a) Affection: In conscience we experience ourselves through the emotions we feel. On the one hand, we have not planned to feel them; rather, we are passively affected by them. On the other hand, we become actively and intentionally directed towards ourselves when we experience them. Our ————— 14 K.S. FELDMAN, Binding Words, 8–9, raises the question of whether and how rhetorical figures and gestures are not only representative of that which they represent, but also in some binding fashion represent into existence that which they represent. At stake in her examination of the intertwining of the epistemology with the ontology of conscience are the bonds between saying and doing: is conscience not only represented, but also produced and performed by speech acts? My investigation does not aim to answer this question, and it does not claim to clarify the ontological status of conscience. Instead, I will explore the different dimensions of self-experience that are expressed in various figurations and representations of conscience. 15 Cf. W. JOEST, Ontologie der Person bei Luther, Göttingen 1967, 210–231: Luther uses the terms conscientia, cor, voluntas, intellectus as synonyms denoting the moving and being-moved of the self.

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own emotions can make us experience ourselves in a yet unknown way and thereby provide us with a new access to the persons we are and have been. Mediated by what and how we feel, we might be or become familiar with ourselves, or we might suddenly become estranged from what these emotions reveal about us. b) Perception: The metaphor of the voice or the call of conscience refers to a perceptual experience. Being-addressed and listening to the call – a call that may well remain silent, »heard« only by myself – contains a voluntary and an involuntary moment. As Heidegger16 has written, the call is not prepared for, but calls against one’s expectations, coming »from me, and yet over me« (BT 254; SZ 275). It reaches the self in its always-alreadyunderstanding-itself and summons it. However, the call of my conscience can also be provoked by the actual and audible voice of another person, or the ringing telephone, may be reminding me of something I neglected, of what I am supposed to do, or where and for whom I should be present. c) Reflection: If we speak of conscience as reflecting the self, conscience functions like a mirror. In self-reflection, we can become confronted with self-images we do not want to see. We then cannot maintain the way we thought about ourselves before. Is it best to see oneself from an »outside« second- or third-person perspective, or do we understand ourselves best when seeing ourselves from an »inside« first-person perspective? In fact, this cannot count as an alternative. When we try to see ourselves, we see ourselves also »with other eyes,« i.e., we see ourselves also from the point of view of others. Why is it impossible to see ourselves immediately? The word »perspective« gives us a clue. It is derived from per-spicere, which literally means »to look through.« It refers to a distance between the eye of the seer and that which is seen, to a medium through which or by which the sight is made possible, and to positionality in the double sense of being positioned and of being able to take a position in moving and letting oneself be moved. Note that perspectivity is not only a feature of visual or intellectual experience. We can »see« (sense and evaluate) ourselves also through the emotions that move us. All the different dimensions of experience, roughly distinguished on a conceptual plane, are usually experienced simultaneously in a unity of interrelated reflection, perception and affection. Selfunderstanding involves their synaesthetic interplay, mediated by body and mind. Conscience as medium of self-understanding could metaphorically be termed as the »acoustic mirror« of the sensitive self and its relations to others – with one reservation: the metaphor seems appropriate only on the ————— 16 M. HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 171993 (= SZ); M. HEIDEGGER, Being and Time. A Translation of Sein und Zeit, trans. J. STAMBAUGH, Albany, NY 1996 (= BT).

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condition that the mirror is not taken as a static »installation,« but as the dynamic performance of mirroring the self during the events of its being called, its listening and responding. Conscience is to be conceived of as an ongoing process of affective, perceptual and self-reflexive self-mediation and self-(re)presentation. By means of its mediation, immediate response patterns can be transformed. In addition to conscience being a medium of self-understanding, other things, signs and symbols can serve to mediate its message, for example the bloody knife that reminds of the murder(er) in Shakespeare’s Macbeth.

1.3.2 Conscience in the Context of Communication and Social Interaction: Impression and Expression Second, self-understanding is influenced by social interaction in the visible world where we relate to the way we see each other. In lifeworldly encounters and contexts of understanding, the perception of others interacts with the experience of being perceived by them. We see each other with friendliness, trust or mistrust, appreciation or contempt. And we keep relating to the way how others see us and to what they see in us. Seeing is acting and re-acts on both the seeing person and the persons he or she is seeing. In this process of seeing each other we experience the reversibility of the look. My seeing or overlooking of another person can be seen by this person. Thereby, both seers lose their position as observers and become involved and concerned by how they see themselves being seen by the other. Expression and impression interact. The self mirrored in conscience is not just an object of perception, but also the partner of an ongoing communication with others. The self-image seen in this mirror speaks to the one seeing him- or herself precisely because it reflects what has become of this person in playing specific roles in society. Consequently, our way of seeing is of ethical significance since it shapes our relations. We are responsible for our way of seeing ourselves and others, and conscience can make us aware of that responsibility. As a judging and a motivational force, conscience can orient, direct and correct our action.

1.3.3 Conscience as Experiential Indicator of the God-Relationship Third, conscience can function as an experiential indicator of the Godrelationship. The self then sees itself as being seen by God, as a self living in God’s presence, »before God« or coram deo. As Luther describes it, conscience is a highly ambivalent phenomenon. On the one hand, it is on the side of sin, death and the devil, tormenting and

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troubling;17 on the other hand, the peace of conscience can be mentioned in a line with eternal life and bliss.18 Conscience is between heaven and hell, terror and consolation. The double mode of self-disclosure corresponds with opposites like God’s wrath or God’s grace, i.e., with the duplicity of the intentional referents of emotion. There cannot be salvation or condemnation in se; it is only if it is received and experienced as such by the person whose God-relationship is revealed by the respective emotions. The opposition between bad and good conscience finds its parallel in the opposition between trust and mistrust towards God.

2. Conscience and its Ambiguities Conscience is not neutral but »subjective« in a promising and a problematic sense, namely as medium of self-disclosure and as source of self-deception. 2.1 Nazi Self-Portrayals: Conscience as Medium of Self-Disclosure and as Source of Self-Deception The German-Jewish history offers sad examples, as shows the following quote: »At any rate, I act in the way that my conscience as a national socialist prescribes.«19 This statement questions the idea that conscience judges unerringly. If it is committed to norms one has internalized, it can be wrong. Then the mirror of conscience becomes a distorting mirror that will also show a tendentious self-portrait. This can be illustrated by Gitta Sereny’s dialogues with Franz Paul Stangl.20 He was the only Kommandant of a Nazi extermination camp who ————— 17

M. LUTHER, D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (Weimarer Ausgabe), vol. 1–73, Weimar 1883–2009 (abbreviated: WA, quoted with the number of volume, page and line). Cf. WA 42, 255, 31–32: »illa scilicet spiritualia mala, quae conscientiam exercent et cruciant: Lex, Peccatum, Mors ipsa.« Cf. WA 42, 364, 6–7: »Quanto autem difficilius conscientia consolationem admittit, quae iram Dei et terrores mortis experta est?« 18 Cf. WA 4, 265, 5: requies tua is explained by aeterna vita, pax et securitas conscientiae. Cf. WA 40/III, 281, 7–10 and 282, 12–283,2: »quando conscientia venit et mit einer nadelspitzen, est tod [...] Si leta conscientia et secura de favore et benedictione dei, illi eterna letitia [...].« 19 Cf. the quote in the title of the following essay: F. BAJOHR, ›Im übrigen handle ich so, wie mein Gewissen es mir als Nationalsozialist vorschreibt‹: Erwin Ettel – vom SS-Brigadeführer zum außenpolitischen Redakteur der Zeit, in: J. MATTHÄUS (ed.), Deutsche, Juden, Völkermord: der Holocaust als Geschichte und Gegenwart (Konrad Kwiet zum 65. Geburtstag gewidmet), Darmstadt 2006, 241–255. 20 Cf. G. SERENY, Into that Darkness: From mercy killing to mass murder, Worcester/London 1974, 13–14, 16. Sereny is a writer and journalist of Hungarian-Austrian extraction. In April and June 1971, she talked 70 hours with Stangl, Police Superintendent of the Euthanasia Institute, Schloss Hartheim (November 1940–February 1942), Kommandant of Sobibor (March 1942– September 1942) and Treblinka (September 1942–August 1943). Sereny spent another eighteen

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had been brought to trial. The interviews took place in Düsseldorf remand prison where Stangl was awaiting the result of appeal against a life sentence for co-responsibility in the murder of 900,000 people. Sereny notes that Stangl only once acknowledged guilt in a direct way. This happened when he spoke about the beginnings of his Nazi career during Austria’s Anschluss, its union with Germany. Stangl suddenly burst out and said that he hated the Germans for what they pulled him into: »I should have killed myself in 1938.«21 Sereny comments that she felt that Stangl wanted and needed to say »I am guilty« but could not pronounce the words when speaking of the murder of hundreds of thousands of people – and yet consent to remain alive. In the last interview, Stangl wondered what a man can do to achieve a goal he called God. Call attention to the conversation that followed: »Don’t you think it differs for each man? In your case, could it be to seek truth?« »Truth?« »Well, to face up to yourself? Perhaps as a start, just about what you have been trying to do in these past weeks?« His immediate response was automatic, and automatically unyielding. »My conscience is clear about what I did, myself,« he said, in the same stiffly spoken words he had used countless times at his trial, and in the past weeks, when we had always come back to this subject, over and over again. But this time I said nothing. He paused and waited, but the room remained silent. »I have never intentionally hurt anyone, myself,« he said, with a different, less incisive emphasis, and waited again – for a long time. For the first time, in all these many days, I had given him no help. There was no more time. He gripped the table with both hands as if he was holding on to it. »But I was there,« he said then, in a curiously dry and tired tone of resignation. These few sentences had taken almost half an hour to pronounce. »So yes,« he said finally, very quietly, »in reality I share the guilt. … Because my guilt … my guilt … only now in these talks … now that I have talked about it all for the first time. …« He stopped. He had pronounced the words »my guilt«: but more than the words, the finality of it was in the sagging of his body, and on his face. After more than a minute he started again, a half-hearted attempt, in a dull voice. »My guilt,« he said, »is that I am still here. That is my guilt.« »Still here?« »I should have died. That was my guilt.« »Do you mean you should have died, or you should have had the courage to die?«

————— months studying records, and seeking out men and women in several corners of the world who were involved in one way or another with the story Stangl told, for example his family in Brazil. 21 Ibid., 39.

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Claudia Welz »You can put it like that,« he said, vaguely, sounding tired now. »Well, you say that now. But then?« »That is true,« he said slowly, perhaps deliberately misinterpreting my question. »I did have another twenty years – twenty good years. But believe me, now I would have preferred to die rather than this. …« He looked around in the little prison room. »I have no more hope,« he said then, in a factual tone of voice; and continued, just as quietly: »And anyway – it is enough now. I want to carry through these talks we are having and then – let it be finished. Let there be an end.«22

Stangl died nineteen hours later, of heart failure. He had not committed suicide. Sereny thinks »he died because he had finally, however briefly, faced himself and told the truth« and ends the chapter with the words, »it was a monumental effort to reach that fleeting moment when he became the man he should have been.«23 2.2 Conscience in-itself or for-others: Between Individuality and Universality Note the ambiguity of Stangl’s explicit reference to conscience: it is the confession of a mass murderer not to have had a bad conscience – the assurance that he acted conscientiously! This is also a lesson on the limits of language that allows for the lie just as for the truth and that rooms all sorts of contradictions between what we mean to say, what we actually say, and what we accomplish in saying it. Furthermore, it points to the discrepancy between one’s failure to live up to one’s convictions, which is privately registered by one’s conscience, and the public presentation of one’s conscientiousness. Hegel has elaborated on this ambiguity in his Phenomenology of Spirit.24 He argues that language »is self-consciousness existing for others; it is selfconsciousness which as such is there immediately present, and which in its individuality is universal.« (PhM 660) Yet, the communication of more or less conscientiously considered thoughts and acts is the limit case in which the opposition of individuality to universality shows up. Conscience initself can differ from conscience as it is presented to others. When assuming the attitude of conscience, moral consciousness »finds its truth to lie in the direct certainty of itself« (PhM 648). Truth then becomes capricious (cf. ————— 22

Ibid., 364–365. Ibid., 366. 24 Cf. the chapter Das Gewissen, die schöne Seele, das Böse und seine Verzeihun, in: G.W.F. HEGEL, Phänomenologie des Geistes, ed. H.-F. WESSELS/H. CLAIRMONT, Hamburg 1988 (= PhG), 415–442; G.W.F. HEGEL, The Phenomenology of Mind, trans. J.B. BAILLIE, New York/Evanston 1967 (= PhM), 642–679. 23

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PhM 654). The German word Gewissen evokes immediate certainty rather than the shared knowledge of con-science. Yet the Gewissheit of the selfcertain Gewissen is undone as soon as its individual character disjoins it from the universal duty that it claims as binding upon itself.25 Since it takes itself as immediately bound to a duty that is universal, conscience requires the recognition of other consciences. Conscience in the best sense of the word, as it should be, is »the moment of being recognized by others [das Moment des Anerkanntwerdens von den anderen]« (PhM 650; PhG 420). Yet, how can we know whether the conscience of a specific individual is morally good or wicked (cf. PhM 659)? Hegel also addresses this problem in Grundlinien der Philosophie des Rechts.26 When conscience appeals only to itself for a decision and determines from within itself alone what is good, it is directly at variance with what it wishes to be, namely the rule for a mode of conduct that is universal. If conscience is independent self-certainty and autonomous arbitrariness, it is »on the verge of slipping into evil« (PhR §139, 48). Therefore, Hegel subordinates morality (Moralität) to ethical life (Sittlichkeit). While moral consciousness remains shut up within its inner life, the language of the ethical spirit is law (cf. PhM 661, 675). However, the attempt to fulfill the law creates new problems. Conscience falls into hypocrisy when attempting to win recognition through public declaration, while clinging to its particularity. Yet, the judging universal consciousness that unmasks this hypocrisy is itself hypocritical, for it only makes a »show« of duty in passing off its condemnation on the acting consciousness, while itself remaining pure thought and poor talk, making duty a matter of mere words without any deeds. 2.3 Passionate (Mis)Understanding The ambiguities of conscience in a social context can also be spelled out in terms of ambiguities in understanding or misunderstanding oneself. Far from implying epistemological, ethical or religious indifference, (mis)understanding always involves passion. Let us first turn to the emotions of self-assessment felt in conscience.

————— 25

Cf. K.S. FELDMAN, Binding Words, 48–79. Cf. especially §§136–139. The quotes refer to the following translation: G.W.F. HEGEL, The Philosophy of Right. The Philosophy of History, trans. T.M. KNOX/J. SIBREE, Chicago 1952 (= PhR). 26

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2.3.1 Emotions of Self-Assessment: Pride and Humility, Shame and Guilt Pride and humility as well as shame and guilt are examples of emotions of self-assessment.27 They can be avenues of self-knowledge just as paths of a passionate misunderstanding of the self. The self is the »object« of these emotions. In experiencing them, one believes of oneself that one has altered one’s standing in the world. One provides the stage as well as the dramatis personae as an actor. In trying to find out why one feels pride or humility, shame or guilt on this or that occasion one may make discoveries that may change one’s outlook on the whole. a) Pride and humility:28 Someone who is proud values him- or herself highly on account of rank, position or possessions, while someone who is humble will not exalt him- or herself above others, nor will he or she be complacent about him- or herself. Therefore, the humble person will not suffer from the blindness towards both the worth of others and his or her own defects, which is characteristic of pride that goes before a fall. b) Shame:29 Sometimes we feel shame on the grounds that we have thought or done something we regard as bad. At other times we feel shame because we think of ourselves as being seen on an occasion when being seen is an intrusion of one’s privacy. Yet, there needs not be any question of moral censure. Shame introduces the notion of an audience, for feeling shame is connected with the thought that eyes are upon one, including the agent’s own eyes. A person who is ashamed has become aware of the discrepancy between his or her own assumption about his or her state or action and a possible detached observer-description. That is the reason why he or she believes herself to be defective and degraded. Shame requires a sophisticated type of self-consciousness and includes a reversal of perspectives. From being an actor absorbed in a task, a person suddenly becomes self-critical, shifts viewpoints, compares him- or herself with others and comes to judge him- or herself adversely. ————— 27 This section builds on G. TAYLOR, Pride, Shame, and Guilt: Emotions of Self-Assessment, Oxford 1985, 1 and 16. 28 Cf. ibid., 17, 52. See also C. WILLIAMS (ed.), Personal Virtues: Introductory Essays, New York 2005, especially the chapters by N.E. SNOW, Humility (ibid., 73–89) and by T. SMITH, The Practice of Pride (ibid., 90–116). 29 Cf. G. TAYLOR, Pride, Shame, and Guilt, 53–54, 59, 66–68. To select some more recent studies, I would recommend F. TERONI/J.A. DEONNA, Differentiating shame from guilt, in: Consciousness and Cognition 17 (2008), 725–740; PH. HUTCHINSON, Shame and Philosophy: An Investigation in the Philosophy of Emotions and Ethics, New York 2008; R. LEYS, From Guilt to Shame: Auschwitz and After, Princeton 2007; C.-M. BAMMEL, Aufgetane Augen – Aufgedecktes Ange- sicht. Theologische Studien zur Scham im interdisziplinären Gespräch (Öffentliche Theologie 19), Gütersloh 2005; G.H. SEIDLER, Der Blick des Anderen. Eine Analyse der Scham, Stuttgart 1995.

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c) Guilt:30 Guilt, unlike shame, is not only a psychological but also a legal concept. A person who feels guilty accepts that he or she has not performed duties or not fulfilled obligations or has done something forbidden, which puts the person into a position where he or she is liable to punishment. He or she thereby accepts the authority of who- or whatever forbids or commands something. Guilt is related to the (at least causal) responsibility for what one does. The guilty agent thinks that he or she is directly instrumental in having brought about a state of affairs that should better have been avoided. Unbearable guilt leads to self-alienation and dissociation from oneself, in extreme cases to suicide. The thought of the guilty concentrates on him- or herself as the doer of a deed. Having brought about this deed, the agent might or might not have harmed others, but in any case he or she has disfigured and so harmed him- or herself. The ambiguity of all emotions of self-assessment is due to the difficulty that the self-image portrayed by them can hardly be controlled with reference to a »reality« that would be more »real« or »true« than that which is felt by the one who has assessed and acknowledged or condemned him- or herself. Again, the subjectivity of conscience becomes problematic. Feelings cannot simply be corrected with reference to »facts,« since these »facts« are also »colored« by our feelings – be it that we see the world through rose-tinted »glasses« or that we always look on the dark side of things, persons and relations. Now, if objectivity in the strict sense of the word is not available regarding oneself, the subject in question, could, then, inter-subjectivity perhaps become a means of self-correction? 2.3.2 Self-Images, Counter-Images and the »Blind Spot« of Reflection: The First-Person Perspective Not only emotions, but reflection, too, can be ambiguous. The metaphor of the »mirror« of conscience is not supposed to suggest that we only have to look into that mirror and then know everything about ourselves. It is no-one else than the self itself that sees itself in this mirror, with all its relations to others, but all is seen from its own point of view. Conscience is not neutral, not a »view from nowhere« but a view from somewhere and from somebody. Is it in the eyes of another that the self could find another, better, more adequate, if not a complete picture of itself? This is unlikely since the other person is just as bound to a certain standpoint at a certain time and place as the self itself. Therefore, the other also sees only part of the picture. There is no-one who could refrain from his or her first-person perspective. It can at best be combined with other perspectives, and the self-image can be confronted with counter-images. Still, there ————— 30

Cf. G. TAYLOR, Pride, Shame, and Guilt, 85, 87, 91–92, 95.

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remain the points that elude the reflection: the standpoints of the seers. It is conspicuous that we cannot cancel the »blind spot« that is due to the perspectival givenness of anything we see. In which direction shall we look, if we, as situated selves, want to see our own seeing? If we want to see it not only partly but completely, there seems to be only one solution: we have to look away from ourselves and look into a mirror reflecting not only the present image of ourselves but also our self-images of the past. This would have to be a mirror that shows not only the reflected image of ourselves according to our own self-reflections but also the image of others’ reflections, not only one aspect but all at once – a permanent spherical mirror around us, reflecting from all angles how we look at every moment. Joking aside, we are lucky that such a totalitarian mirror does not exist. Instead, we have to cope with the limits of possible self-transparency. Moreover, we have to accept that our self-understanding remains incomplete, an open-ended fragment, even if all the »snapshots« should be seen in succession like in a »film.« The most brilliant autobiographical story-teller cannot obscure the fact that the overview of the plot is not given as long as the story is not finished. Further, our self-understanding is selective and forgetful. The omitted parts are often the decisive parts. If we should overlook precisely the limits of understanding, we will not understand more but less of ourselves. 2.3.3 Sin and the Servile Will, Mirrors and Mistaken Authority: Man the Measure? But what about references to God – couldn’t he provide us with what we cannot give to ourselves: limitless and flawless understanding of ourselves? Couldn’t God’s authority offer an authoritative interpretation of what and who we are? Well, it surely would not make the picture much more pleasant. After all, it is human self-awareness of being a sinner that corresponds to the experience of being before God. Although it indicates the situation of all human beings before God, whether they know it or not, sin also signifies the self-deception about it. We do not want to be the sinners we are told to be. We rather want to have our will, independent also of God, and thereby we risk the self-enslavement of our will. We, for example, become the slaves of our own ambitions. If these ambitions are religious, they are all the more ambiguous. Ricœur presents an intriguing analysis of religious literature in La symbolique du mal.31 He describes an inner-biblical development that surprises. ————— 31 This book is part of the trilogy Philosophie de la volonté, which embraces the volumes Le volontaire et l’involontaire (1950) and Finitude et Culpabilité: I. L’homme faillible, II. La

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The penitential Psalms typify its beginning and the Saul in the apostle Paul its end. Regarding its beginning, Ricœur observes an equilibrium of »the absolute measure, represented by the sight of God, who sees the sins there are, and the subjective measure, represented by the tribunal of the conscience, which appraises any guilt that becomes apparent« (SE 104). Finally, for the delicate conscience of the scrupulous man and his selfcondemnation, man is guilty as he feels himself guilty – and guilt has become a modality of man the measure. In the personal imputation of evil, the individualization of guilt breaks with the communal confession of sin (cf. SE 105, 107). It ultimately leads into self-righteousness (SE 143) and the vain attempt to justify oneself (SE 148) while ignoring God. »To become oneself the tribunal of oneself is to be alienated.« (SE 145) The estrangement from God coincides with the estrangement from oneself. Thus, there is good reason to be sceptical against one’s conscience if it pretends to speak with the voice of God. However, there might be an indirect and insidious vision that deceives one’s ownmost self-deception. Let us have a look into Kierkegaard’s mirrors:32 a) The mirror of possibility: Kierkegaard’s pseudonym Anti-Climacus refers to imagination as »mirror of possibility« that must be used with caution, »for in the possibility of itself the self is still far from or is only half of itself.« (SUD33 37) That seeing oneself in this mirror is not always the same as recognizing oneself is exemplified by some descriptions of dysfunctional selves and their failure of self-recognition. The most striking example is the story about the peasant who bought himself new pairs of stockings and shoes and then got drunk and fell asleep in the middle of the road. »A carriage came along, and the driver shouted to him to move or he would drive over his legs. The drunken peasant woke up, looked at his legs and, not recognizing them because of the shoes and stockings, said: ›Go ahead, they are not my legs.‹« (SUD 53) Here the self-continuity necessary for responsible agency is not attained. The difference between seeing oneself and seeing »only a human being« consists in a certain selfreferential orientation to the seen. The mirror of possibility is like a doubleedged sword: it can open up new options, but it can also lead us away from concrete cares and tasks to be accomplished today. ————— symbolique du mal (1960). My quotes refer to P. RICŒUR, The Symbolism of Evil, trans. E. BUCHANAN, Boston 1967 (= SE). 32 For the following section see P. STOKES, Kierkegaard’s Mirrors: The Immediacy of Moral Vision, in: Inquiry 50 (2007), 70–94, here 71–73, 77–83, 87–88. 33 S. KIERKEGAARD, The Sickness unto Death. A Christian Psychological Exposition for Upbuilding and Awakening, ed. and trans. H.V. HONG/E.H. HONG, Princeton 1980 (= SUD).

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b) The mirror of the ethical: Kierkegaard’s pseudonym Johannes Climacus uses the mirror metaphor to specify the ethical character of selfrecognition (cf. CUP 1,34 153f). The observing self does not remain unchanged by ethical reflection. For the perfected moral agent, vision becomes co-extensive with volition and action. We are familiar with the embeddedness of evaluation in looking into a mirror from our everyday, non-moral use of mirrors. Though mediated on a physical level, through glass surfaces, the evaluative experience of seeing oneself in a mirror normally is immediate on the subjective level: I simply see myself, rather than the image of a person who looks terribly tired – an image that I would then recognize to be that of myself, finally concluding that it must be me who should go to bed. The looking, the recognition, the evaluation and its enactment are experienced as a unitary moment. Yet, there remains a tension between volitional and non-volitional aspects in perception and decision. We do not always have the courage to see ourselves, we are not always ready to recognize ourselves in what we see, and we do not always want to act accordingly. c) The mirror of the word: Answering to the just-mentioned problems, Kierkegaard himself recommends a technique of mirroring whose success is not based on immediate self-recognition. Rather, it leads the observer into a process in whose course he or she can slowly learn to recognize him- or herself. While the listener might defensively reject a direct address, moral claims can better be communicated via an ostensibly unrelated discourse: One tells him a story. This now puts him completely at ease, because he understands well enough that since it is a story the discourse is not about him. A few words are introduced into this story that perhaps do not immediately have their effect but sometime later are suddenly transformed into a question of conscience. (CD35 235)

Kierkegaard finds a biblical model for such a sort of indirect communication in the parable told by the prophet Nathan to King David. What seems to be a story about the slaughtering of sheep turns out to be a story about David’s crimes. David at first fails to see that the story is about himself and spontaneously condemns the figure in the story – before Nathan’s interpretative postscript »thou art the man« makes him aware of his involvement. Kierkegaard takes it as the essential meaning of Scripture that it is not only to be interpreted but to be acted upon. Thus, the meaning conferred by the image of oneself that is seen in the mirror of the word is not to be found in ————— 34 S. KIERKEGAARD, Concluding Unscientific Postscript to Philosophical Fragments, vol. 1, ed. and trans. H.V. HONG/E.H. HONG, Princeton 1992 (= CUP 1). 35 S. KIERKEGAARD, Christian Discourses. The Crisis and A Crisis in the Life of an Actress, ed. and trans. H.V. HONG/E.H. HONG, Princeton 1997 (= CD).

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its direct content but in the viewer’s engagement therewith, for »it takes a personality, an I, to look at oneself in a mirror; a wall can be seen in a mirror, but a wall cannot see itself or look at itself in a mirror« (FSE36 43f). Self-recognition requires both an active looking at oneself and an attitude of receptivity to see oneself. In order to see ourselves in the mirror of conscience it is necessary that we want to have conscience and are willing to adopt the attitude of openness to the experience, regardless of what we will actually be seeing. However, subjectivity remains ambiguous as long as the subject itself is the measure of its moral vision. Is it truth or untruth that it sees when seeing itself? The subjective self-image is more likely to remain deceptive if it is not questioned by another image that is also of the self – seen from another’s angle. It becomes more difficult to deceive oneself about oneself if one is mirrored not only by one’s own imaginative and more or less ethical self-reflection but also by a word that is not one’s own and not at one’s disposal.

3. Identity at Risk What is at stake in these ambiguities, illusions and disillusions is personal identity. Identity is not just »homemade« or self-made, nor is it just »given.« Identity is something we receive – and something we can miss or lose. We are who we are and become what we become not only in virtue of ourselves but also thanks to others who accept or reject, respect or disrespect our being and becoming. 3.1 The Quest for Respect and Reciprocity: Receiving Oneself from the Other Let us, for a moment, return to Sereny’s interviews with Stangl. She asked him whether he, in all these years, had never talked with someone about his past: »Did your children know?« His face went scarlet; it was the second time he showed real anger at a question (the first time had been when I asked him, with reference to his conduct in Treblinka, whether it wouldn’t have been possible for him, in order to register his protest, to do his work a little less well. »Everything I did out of my own free will,« he had answered, »I had to do as best as I could. That is how I am.«)

————— 36 S. KIERKEGAARD, For Self-Examination and Judge For Yourself!, ed. and trans. H.V. HONG/E.H. HONG, Princeton 1990 (= FSE).

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Claudia Welz »My children believe in me,« he said now. »The young all over the world question their parents’ attitudes. Are you saying that your children knew what you had been involved in, but never asked questions?« »They … they … my children believe in me,« he said again. »My family stands by me.« And he cried.37

The interview with Renate, Stangl’s middle daughter (33 years old), confirms that. Having read what had been written about her father, she nevertheless said that he was »the best father, the best friend anyone could ever have had« and that nothing on earth would make her believe »that he has ever done anything wrong.«38 Theresa Stangl, his wife, reported that her husband had followed the Eichmann trial and read everything that was said about it in the newspapers, but they never spoke about it; »it was taboo.«39 When she visited him in prison, often he would hardly talk to her but chat with the guards. Sereny comments that Stangl knew that by this time she had read everything about the trial and him. He desperately wanted her there – she was allowed to kiss and hug him – but he dreaded her questions and, by his nervous chatter with the guards, was avoiding them at all cost. […] in the end the only thing that mattered to him was her and his children’s continued loyalty and love, although he was aware of his wife’s profound aversion to what he had done. He was not sufficiently perceptive to realize how thin the line was – for her too – between rationalization of what he had done and accepting it, and living up to her own fundamental principles – and condemning him. He could only think, with real dread, of the possibility – or, as by that time, he probably knew, the probability – of her rejecting him.40

It was first when he realized that even if he ever got out of prison, life with his family would be impossible, that he decided to talk with Sereny. Some remarks by Ricœur might illuminate Stangl’s behavior. According to Ricœur, behind the passion of honor is the quest for respect and worth in the eyes of another, a desire to exist not only through an affirmation of oneself but also through the favor of another’s recognition (cf. FM41 120). The quest for recognition and reciprocity is neither satisfied by relations in the context of having, which are relations of mutual exclusion, nor by the relations in the context of power, which are asymmetrical and hierarchical relations. It can be satisfied only in relations of mutual esteem. »My ›Self,‹ ————— 37 38 39 40 41

G. SERENY, Into that Darkness, 349. Ibid., 349–350. Ibid., 352. Ibid., 359. P. RICŒUR, Fallible Man, trans. C.A. KELBLEY, New York (1986) 62002 (= FM).

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it may be said, is received from the opinion of others« (FM 121). Hence, self-esteem is an indirect relation that passes through the valorizing regard of another. Note that the value of the self cannot be seen in the literal sense of the word; it can be »seen« only if it is believed. »Insofar as I am affected by it, this belief, this credence, this trust, constitutes the very feeling of my worth.« (FM 124) Self-worth is felt only if worth is identified in the self and ascribed to it by other selves who hold it in high regard. Accordingly, in his latest book Parcours de la Reconnaissance (2004), Ricœur maintains that mutual recognition is a question of identification. Being recognized is for everyone »to receive the full assurance of his or her identity« (CR42 250). 3.2 Becoming Oneself: Self-Alienation and the Narrative Detour to SelfRecognition So the self can be itself only in becoming itself, and it becomes itself through processes of recognition, in which it is recognized by others and recognizes itself. Since conscience is not just the consciousness of present but also of past emotions, actions and events, it involves memory, imagination and the linguistic detour of representation. Rather than being literal recordings of reality, autobiographical memories are tied to the construction of narratives through which we seek to interpret our lives and orient ourselves toward the future. Still in progress, self-understanding and selfinterpretation remain incomplete as long as we live. However, the dynamic character of identity is not equivalent with a complete lack of continuity. Ricœur differentiates between idem-identity (sameness, numerical identity) and ipse-identity (ipseity, selfhood or qualitative identity) (cf. OA 116). Although a person does not remain the same over the years, he or she is one entity and can be characterized by typical traits. Ricœur speaks of two models of permanence in time: character, i.e., the set of lasting dispositions by which a person is recognized, and keeping one’s word, which expresses self-constancy (cf. OA 118, 121, 123). While the first is not only an achievement of the respective person, the second is clearly dependent on his or her commitment, effort and devotion. All acts of language – not only narratives, making a life story a fictional history or historical fiction (cf. OA 114, n. 1), but performative locutions as well – contribute to the constitution of the self and include an expectation of the approbation of others (cf. CR 255). Now, there is no ethically neutral narrative (cf. OA 115). Promises can be kept or broken, and the approbation of others can never be assured. What about the breaks in a biography, what about fatal mistakes and serious ————— 42

P. RICŒUR, The Course of Recognition, trans. D. PELLAUER, London 2005 (= CR).

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changes of personality that disfigure the self almost beyond recognition – can they simply be glossed over and patched up by means of nice narrations or the telling of a however horrible story? Personal identity is established over time, and the discontinuities occurring in the course of time can, without doubt, threaten self-coherence. Tragic discontinuities can hardly remain covered up. As Ricœur points out, self-deception means not only »to mis-take oneself, to take oneself for what one is not« but entails also that we are »mistaken about others and our relations with them« (CR 257). In addition to deceptive forms of self-alienation that manifest themselves in distorted narratives, there are also traumatic forms of estrangement that resist their symbolization in narration. Prior to any attempts to make sense of the seemingly senseless is silence. Or crying, screaming. Explanations are out of place here. It might take decades to find words for a horror without words. How can the hurt be healed, and how can the shattered self and its broken life become a whole again? 3.3 Fragility and Integrity, Assessment and Re-Assessment Integrity (integritas) is another word for wholeness. It can be destroyed not only from outside but also from inside, from the self itself that breaks up the continuity with itself. The above-mentioned negative emotions of selfassessment are warning signals, signs of the fragility of integrity. Whether or not a moral agent preserves his or her identity depends on whether or not he or she possesses integrity, the wholeness which makes that choices and actions of this person are truly his or hers. It involves the virtues of conscientiousness like honesty, fairness, truthfulness, and being a person of one’s word. Such a person must be capable of evaluating him- or herself and of taking responsibility for his or her values, whereas the person who deceits him- or herself mis-represents him- or herself to others.43 A person is corrupt and hypocritical if he or she identifies with competing and mutually undermining values, separating his or her inner from the outer life and deeds from words. What this person says and does contradicts what ›feels right‹ and what he or she really wants to identify with. Without some integrity there would be no self to respect. Shame is felt about injury to, or loss, or lack of self-respect. When feeling guilty, the agent sees him- or herself as the doer of a wicked deed and so as alien to him- or herself. In shame and guilt, there is the danger of a split.44 What is at stake is not just an approval or rejection of an agent’s conduct but also of the responsible agent him- or herself, since the integrity of a ————— 43 44

Cf. G. TAYLOR, Pride, Shame, and Guilt, 109, 118, 122–124. Cf. ibid., 129–131, 134–136.

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person depends on the consistency between (inter)action and identity.45 This can be illustrated by the last encounter of Sereny with Stangl’s wife. Sereny told Frau Stangl that she needed to ask her an extremely difficult question which she wanted her to think about deeply before attempting to answer, and her reply would determine the degree of her own guilt. She suggested that, before replying, she should leave her for a while, lie down, and think about it. The question was: if she had confronted her husband with an absolute choice – either he would get out of this terrible thing, or else she and the children would leave him – which would he have chosen? After more than an hour, Frau Stangl came back and confessed, »I believe that if I had ever confronted Paul with the alternatives: Treblinka – or me; he would … yes, he would in the final analysis have chosen me.«46 Sereny comments that she felt strongly that this was the truth. If Stangl’s wife had commanded the courage and the moral conviction to force him to make a choice, it is true they might all have perished, but in the most fundamental sense, she would have saved him. However, the next morning she received a letter, written by Frau Stangl in the middle of the night, denying her previous answer, saying that her husband »would never have destroyed himself or the family« and that she herself had »always lived honorably.«47 Sereny asked her later what she would like her to do. Frau Stangl didn’t know. However, she consented that the letter would be added to the book. It would only show what we all know, namely that the truth can sometimes be »too terrible to live with.«48 The equilibrium of the self is disturbed by something going wrong, and the emotions of guilt and shame react to that. The experience of these emotions has a useful function: it operates as a pressure on the self to maintain or return to the equilibrium. Their painfulness is occasioned by the perceived contrast between what the agent has done and ought to have done, or by the contrast between who he or she is and ought to be. Yet, feelings might be misdirected and ill-founded, for example in the forms of false shame or irrational guilt. In such cases, feelings can become destructive and may be taken as a reminder that the tacit evaluations they entail are not data to be accepted as given but may also be in need of reassessment.49

————— 45 Cf. K.R. MONROE, The Hand of Compassion: Portraits of Moral Choice during the Holocaust, Princeton/Oxford 2004. 46 G. SERENY, Into that Darkness, 361. 47 Ibid., 362. 48 Ibid. 49 Cf. G. TAYLOR, Pride, Shame, and Guilt, 140–141.

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4. Conflict Management in a Kierkegaardian Style Conscience is not only the characteristic of a person who feels accountable for what he or she does and becomes. Conscience not only passes a judgment on this person and about his or her integrity. Conscience is also the event or process of self-direction and self-correction. As such, it is the witness of our conflicts and of our conflict management. Let us have a closer look at Kierkegaard’s approach to the theme. 4.1 Emotional Work: Love Translating Evil into Good Conflict management in a Kierkegaardian style begins with oneself. It is, first of all, emotional work. In Kierkegaard’s view, the only adequate means to stop the proliferation of evil is to become a loving person. As he has written already in 1843, love is the »power from above that translates evil into good« (EUD50 61). In Kjerlighedens Gjerninger,51 Kierkegaard explains that only the person who loves can »see« the good, that is, he or she can believe in it, even if it is far from obvious. According to Kierkegaard, what we see of or in the other is always already determined by how we see the other.52 How we see another person with our eyes depends on how we see with our heart. For example, it makes a difference whether we see with love or with mistrust. The eyes of the distrustful »are sharpened and armed,« his outlook becomes prejudiced so that »he sees evil in everything, impurity even in the purest« (WL 286). Seeing is also observing, evaluating, comparing, and judging. Kierkegaard stresses that to see the good and to believe in it is not »a cognitive conclusion, but a choice« (WL 234). To believe in the good or not, to love or not to love is a choice of ethical significance. Love not only determines the way we see reality; it is also a power to transform it. Love is associated with actuality and with potentiality. Even though the opposite is seen, the one who loves presupposes that it is there and thereby loves it forth and builds up love in another person where it seems to be lacking (cf. WL 216–221). Kierkegaard eulogizes love, because love and the lack of evil belong together. »Oh, have not many crimes been averted, many evil intentions frustrated, many desperate resolutions consigned to oblivion, many sinful ————— 50 S. KIERKEGAARD, Eighteen Upbuilding Discourses, ed. and trans. H.V. HONG/E.H. HONG, Princeton 1990 (= EUD). 51 The quotes refer to the following translation: S. KIERKEGAARD, Works of Love, ed. and trans. H.V. HONG/E.H. HONG, Princeton 1995 (= WL). For this section cf. C. WELZ, Love’s Transcendence and the Problem of Theodicy (RPT 30), Tübingen 2008, 144–146. 52 Cf. A. GRØN, Ethics of Vision, in: I.U. DALFERTH (ed.), Ethik der Liebe. Studien zu Kierkegaards »Taten der Liebe« (RPT 4), Tübingen, 111–122, here 113, 115, 121–122.

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thoughts halted on the way to becoming action, many rash words suppressed in time because love did not give the occasion!« (WL 299) But, apart from prevention, what is to be done if bad things have happened and hard words have already been spoken? Kierkegaard considers the case that a breaking-off could not be avoided. He evokes the voice of the one who has broken the relationship: »I will never see that person anymore; our paths are forever separated; the chasmic abyss of hate is between us.« (WL 308) Yet, the one who loves abides, and be it for years, and never falls away from the love which binds him or her to the other. By abiding in love, he or she »transforms what in and through the past is a break into a possible relationship in the future« (WL 305). What the other calls a break appears like a sentence that is not yet finished for the one who sees it from the perspective of the future. This way, the end can become a new beginning. If the other returns, he or she will find the former friend still waiting, ready for communication and reconciliation. Where the other says »I am not speaking with that person anymore,« the one who loves says, »I abide; in this way we are still speaking with each other, since silence also belongs in conversation at times.« (WL 306) 4.2 Speech and Silence: Reconciliation by Means of Indirect – Communication The emotional attitude and silent gesture is just as important as speech. Another Kierkegaardian way of dealing with conflicts is reconciliation by means of indirect communication. The classic example of indirect communication, Nathan’s parable, has already been mentioned (cf. 2.3.3). The crucial thing in reconciliation is not to destroy the continuity with the other. This does not just mean that the other should not be condemned explicitly but also that he or she is not to be humiliated implicitly. The presupposition for success in this tricky task is that the dignity and equality of human beings is acknowledged. Kierkegaard takes it as a work of love to win the overcome and dedicates one of his discourses to this theme, i.e., to the victory of the conciliatory spirit that struggles to win the overcome, the one who is in need of forgiveness. Note that it is the one who does not need forgiveness who offers reconciliation (cf. WL 336). The danger to be avoided is to become proud and self-important because one has repaid evil with good (cf. WL 337). The difficulty is that it must nonetheless become clear to the offender how irresponsibly he or she has acted. It would be a treachery and not love that would make the offender believe that he or she was right in the evil he or she did. Yet, to be one who has been overcome is a humiliating feeling (cf. WL 338).

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Kierkegaard’s solution is that a third party must mediate between the two so that both are humbled and no-one feels superior. Who could be capable of being the mediator? According to Kierkegaard, it is, ideally, not a third person but the good and the true itself, or the God-relationship (cf. WL 339ff). The reason is the following: »The thought of God’s presence makes a person modest in relation to another person, because the presence of God makes the two essentially equal.« (WL 342) Seeing oneself in the sight of God is precisely the point of view of conscience (cf. WL 148, 377). Before God, arrogance is out of place. Accordingly, Kierkegaard calls our attention to the fact that the overcome is won not by being overwhelmed but by being lifted up so that the two persons who have been parts of the conflict can speak at eye level again where none of them looks down on the other. 4.3 (Im)Possible Mediations – Remember the Future! Still, there are extreme cases in which this sort of mediation has become impossible, for example in cases in which there is no opportunity for reconciliation any more, since one party has been killed by the other. Reconciliation cannot be conceived as the remedy against all damage. Sometimes the damage is irreparable. Kierkegaard has developed his strategies of conflict resolution in regard to everyday situations and could not think of anything like the Holocaust. His position should not be misused for an advocacy of forgiveness in the sense that, for example, the relatives of Jewish victims were expected to forgive the Nazi offenders and their offspring – in the name of love and in the name of the Christian God of love. Kierkegaard would denounce such expectations as selfish, unloving and cynical. The love he advocates is an asymmetrical love of neighbor that does not demand reciprocation. It is of an unconditional nature. No matter if it is requited or not, it continues and will never turn into hate of the beloved. Accordingly, I myself should offer forgiveness rather than demand if from another, and if I should be on the side of the offenders, I should be all the more cautious about preaching forgiveness and reconciliation. At this point, a weakness of Kierkegaard’s approach to conflicts comes into view. He works with highly stylized figures that seem to catch the best and the worst conceivable rather than the ordinary cases of inter-personal conflicts. Usually, both parties have to struggle with mixed emotions, and both parties are in need of forgiveness. Normally, the borderline between love and hate, guilt and innocence, victims and offenders cannot be drawn clearly between these parties but becomes blurred within them. However, while Kierkegaard might not offer correct depictions of actual constellations, behaviors and feelings, the ideals, the models and examples he envisions might offer orientation in confusing situations – or at least make us aware of our own contribution to the confusion.

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Kierkegaard’s approach to conflicts aims first and foremost at preserving the possibility of mediation and reconciliation. The emphasis is placed on conflict prevention, be it on a small or a large scale. There shall be no repetitions or variations of past disasters, they shall never happen again. The imperative »remember the future!« is to be read in this line. A catastrophic past shall never gain power over future possibilities, i.e., these possibilities shall not become impossible due to what has happened. This implies the goal of acting with foresight, both looking back and ahead.

5. The Self as Site of Conflicts So far, we have seen that »external« conflicts correspond to »internal« conflicts as soon as conscience comes into play. As junction of the »inner« and the »outer,« conscience creates an awareness of how oneself is concerned by a certain conflict – be it that conscience intra-personally reflects an inter-personal conflict, or that it increases a conflict »out there« by »inner« feelings of guilt and shame, be it that a moral conflict felt in conscience finds its counterpart in social interactions and institutions. The metaphor of conscience as »tribunal« is telling in this context. 5.1 Naming the Tension: Synthesis, Dialectic, Non-Coincidence (Kierkegaard, Hegel, Ricœur) The (inter)subjective bearing of conscience implies that one could not become aware of conflicts one has with others if one would not be a selfrelating self that exists as a site of conflicts. Kierkegaard, Hegel and Ricœur have spelled out this existential situation in different ways. a) Kierkegaard defines the human being as spirit, spirit as the self, and the self as an in-finite relation »that relates itself to itself or is the relation’s relating itself to itself in the relation« (SUD 13). Note that the self is not identified with a relation between opposites, with the synthesis or unity of the infinite and the finite, of freedom and necessity, or of the psychical and the physical. Rather, the spirit (Aand) is seen as a third that relates itself to the relation of soul and body, which is already there and thereby enacts the synthesis of these heterogeneous elements. In and through this process of relating to itself, the self becomes what it is not yet, and it grows together with the self it is already. The indissoluble tension between the already given and the still developing self permits to preserve the insight that the self is more than that into which it can make itself and also more than that which it has been made into by others.53 The self remains a task for itself – a ————— 53

Cf. A. GRØN, Subjektivitet og negativitet: Kierkegaard, Copenhagen 1997, 15–20.

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task that is pre-given and yet to be achieved. As a complex unity in process, it is never fully identical with itself but must first of all become what it is supposed to be: itself. b) As we could learn already from his account of conscience (cf. 2.2), Hegel operates with conflicting forms of consciousness, for example with the contradiction between consciousness acting individually and consciousness judging universally. What he describes in Phänomenologie des Geistes is the metamorphosis of conscious selfhood. Through a dialectical development, antitheses culminate in mutual recognition and reconciliation. Absolute spirit is this antithesis existing as a unity, seeing itself in its opposite, seeing universality in self-absorbed individuality and the equality of two equally one-sided moments of itself.54 As proclaimed by its original title, the Phenomenology of Spirit is »Science as the Experience of Consciousness.« Hence it is not separate from the becoming of spirit that it (re)presents and performs in a linguistically mediated movement. Unfolding the process of the spirit’s becoming-other in successive forms, the subject of this phenomenology is, at its end, not the same subject as it was to begin with. Its intrinsic conflict is, as it were, the motor and promoter of its selftransformation. c) For Ricœur, it is feeling – the unity of an intention toward the world and an affection of the self – that reveals human fragility as conflict.55 The self is a »between-two,« stretched between organic and spiritual life, bios and logos (cf. FM 89, 106f, 132). Feeling unites the intentionality, which throws the self out of itself, to the affection through which it feels itself existing. Yet, »by interiorizing all the connections of the self to the world, feeling gives rise to a new cleavage, of the self from the self« – living in the duality or disproportion of reason and sensibility (FM 131). External conflicts can be interiorized because this latent conflict within the self precedes them; that it does not coincide with itself is at once the fallibility of the self and the human limitation (cf. FM 132–134, 140). Taking up both Kierkegaard’s and Hegel’s descriptions, Ricœur speaks of the fragile »synthesis of man« and of the »dialectic« that discloses this synthesis as »the becoming of an opposition« (FM 141). In his view, the human being is a »mixture« of originating affirmation and existential negation, a finite creature whose desire reaches beyond its finitude. »Man is the Joy of Yes in the sadness of the finite.« (FM 140) Feeling reveals this non-coincidence of ————— 54

Cf. K.S. FELDMAN, Binding Words, 71–72, 77. In my article »Identity as Self-Transformation: Emotional Conflicts and their Metamorphosis in Memory« (forthcoming in: Continental Philosophy Review), I have elaborated on the difficulties of Ricœur’s account that describes the self as a conflict in person. Without doubt, one’s life can become a self-rupturing conflict, but it is problematic to claim that selfhood is always already self-rupture. 55

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self to self. It reveals that »man as primordial conflict« remains torn and »suffers disunion.« (FM 141) Mediation is only aimed at, just as the self itself »is aimed at rather than experienced,« being a project and an ideal of humanity rather than the consciousness of a humane self for itself (FM 69). 5.2 Resolving the Tension? It is, of course, self-evident that we should strive to resolve the conflicts around and among us. But what shall we do about the conflicts within ourselves, the conflicts we embody, the conflicts we are? Shall we resolve the existential tension within us, and what would that mean? Kierkegaard, Hegel and Ricœur agree that this tension is partly due to temporality and the dynamics of development. If we develop at all, what we will be in the future cannot be the same as what we were in the past. This tension will be there as long as we live. If we would try to resolve it, it would be something like an Endlösung, putting an end to the living persons themselves. Thus, the solution must be a way of dealing with this existential tension that will not break off the way on which we move forward: the path through life. However, the three aforementioned accounts of selfhood as a conflictladen process of becoming oneself also show that there is more to the tension we are. It is not merely an innocent ontological structure. In addition to that, there is also a normative tension between the way we are and the way we want to be, between the self as it is and the self as it ought to be. This is a tension that involves omission, failure and offence. If Ricœur rightly characterizes the human condition as fallibility, then we cannot easily say that this tension is to be avoided or dissolved as soon as it is there, for it shows up unavoidably and will inevitably recur after its preliminary dissolution. Yet, it would also be wrong just to »take it easy« because it is about our own shortcomings in relation to the goal of our own existence. It is worth the effort to struggle with oneself and not to give up too early. To understand selfhood as a task means to strive for that wholeness which is integrity and for a form of self-identity that can, in all its changes to the better or the worse, be recognized and respected. Thus, a complete resolution of the conflicts of which our selves are the site is neither possible nor desirable. The best way of dealing with our conflictual condition is trying to balance the tension and to learn to live with and despite the conflicts within and around us. 5.3 Conscience Making Subjects of Us All Let us finally return to the question posed in the beginning. Is it true that conscience does make cowards of us all – or does it rather encourage us to engage bravely in processes of self-direction and -correction?

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This cannot be stated in general. It would already be a gain if we would have the courage to stand the occasions in which we have not been brave. This would require the decision to want to have conscience, to listen to its voice, to look into its mirror and to stand what one feels, and even if it be guilt and shame. It requires what Heidegger called Gewissen-haben-wollen (SZ 288; BT 265). This formulation interprets conscience in a double way. On the one hand, conscience is taken as a »natural« phenomenon that is already given by nature; on the other hand, it is taken as a »cultural« phenomenon that is still to be cultivated. If one claims that it is »natural« for human beings to be »cultural« and applies this claim to the ambiguities of conscience, one will be faced with difficulties. Sometimes it seems most natural to ignore what is given. Further, although we know very well that it would be cultured to receive, to acquire and to refine the given, this also makes us familiar with the limits of our nature, which is an unwelcome part of cultural achievements just as it is an unwelcome feature of human nature. In the epilogue to her book, Sereny confesses her belief in »an as yet illdefined, little-understood essential core to our being« which emerges when, at whatever age, »we begin to be in charge of and increasingly responsible for our actions« – and »each other.«56 Conscience confronts us with the conflicts of our lives, it can ask the most awkward questions, and it appears itself questionable when it begins to display the dangers of conscientiousness. Conscience makes life even more complicated than it would be without it. On closer acquaintance, we may prefer not to have become acquainted with it. However, preferring to ignore conscience is preferring cowardice to courage. If we want to have it, conscience does not make cowards of us all. If we want to have it, conscience does make subjects of us all57 – subjects that accept their responsibility and culpability.

————— 56

G. SERENY, Into that Darkness, 367. Alluding to the title of an essay by J. BUTLER, who pretends to quote Shakespeare’s Hamlet: ›Conscience Doth Make Subjects of Us All,‹ in: Yale French Studies 88 (1995), 6–26. 57

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Gott hat gesprochen – aber zu wem? Das Forschungsprojekt ›Hermeneutik, Ethik und Kritik heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam‹ Francesca Yardenit Albertini/Stefan Alkier/Ömer Özsoy Gott hat gesprochen – aber zu wem?

I. Religion im Dialog Der Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt arbeitet seit einigen Jahren gemeinsam mit dem dortigen Fachbereich Katholische Theologie und dem Institut für Religionsphilosophische Forschung am Thema ›Religion im Dialog‹. Der Singular ist dabei zu beachten. Es handelt sich um ein religionstheoretisches Projekt, das nach Grundlagen und Bedingungen fragt, unter denen das Thema Religion gegenwärtig kommuniziert wird, sei es im Dialog mit den Naturwissenschaften, sei es im interreligiösen Dialog. Das Forschungsprojekt ›Hermeneutik, Ethik und Kritik Heiliger Schriften in Judentum, Christentum und Islam‹ verstehen wir als Teilprojekt der fächerübergreifenden Thematik ›Religion im Dialog‹. Francesca Yardenit Albertini ist jüdische Religionsphilosophin am Institut für Religionswissenschaft der Universität Potsdam, Stefan Alkier ist Neutestamentler am Fachbereich Evangelische Theologie der GoetheUniversität, Ömer Özsoy ist Stiftungsprofessor für Islamische Religion mit dem Schwerpunkt der Koranauslegung an der Goethe-Universität. Wir sind Wissenschaftler und als solche an einem Forschungsprojekt interessiert, das Grundlagen, Bedingungen und Grenzen der Möglichkeit gelingender Dialoge untersuchen möchte. Wir wollen damit einen Beitrag zum friedlichen Zusammenleben der verschiedenen in freiheitlichen, pluralen Gesellschaften leisten, die ihre Konflikte offen, argumentativ und ohne Einsatz physischer, psychischer oder wirtschaftlicher Gewalt zu erkennen und zu bearbeiten wissen. Wir sind aber nicht nur Wissenschaftler, sondern auch emotional und praktisch in unseren Glaubenstraditionen verankert. Wir sehen durchaus Gemeinsamkeiten unserer Traditionen, in denen wir leben und mit deren Augen wir die Welt und uns selbst begreifen. Wir sehen aber auch Unterschiede, die uns trennen. Wir glauben nicht dasselbe. Wir nehmen wahr, dass das, was der eine unverzichtbar als wahr empfindet, der andere ganz

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anders sieht. Dass Gott Jesus aus dem Tod am Kreuz in sein ewiges göttliches Leben erweckt hat, bestreiten Juden und Muslime gleichermaßen. Dass Muhammad eine göttliche Offenbarung erhalten hat, die nun im Medium schriftlicher Zeichen normativ für alle als Koran nachzulesen sei, glauben Juden und Christen nicht. Dass Gottes Wort allein in den Heiligen Schriften Israels gültig zu finden sei, akzeptieren Christen und Muslime nicht. Was uns aber eint, ist der Respekt vor der Frömmigkeit des Anderen. Wir sind davon überzeugt, dass die jeweils andere Glaubensüberzeugung aus aufrichtiger Wahrheitssuche und dem Wunsch nach heilvollem Leben für alle erwächst. Was uns gemeinsam erschüttert, ist, dass Religion – gestern wie heute – mitverantwortlich ist für Angst, Gewalt und Terror. Wir sind empört über die menschenverachtende, zum Töten bereite terroristische Benutzung der Religion und wollen mit unserem Projekt zeigen, dass ein gewaltfreier, argumentativer und der Wahrheit verpflichteter Dialog der Verschiedenen möglich ist, ohne Anbiederung an die jeweils andere Tradition, ohne simplifizierende und deshalb nicht tragfähige Floskeln wie die von den ›abrahamitischen Religionen‹. Abraham bedeutet für Juden etwas anderes als für Christen und wieder etwas anderes für Muslime. Wir glauben nicht dasselbe, aber wir sind davon überzeugt, dass die plurale Gesellschaft einen unverzichtbaren Teil ihrer emotionalen Basis in gelebter Religiosität findet, diese aber auch ein gefährliches Konfliktpotential darstellt, wenn sie ihre kreative Kraft nicht in solidarischen, konstruktiven und kultivierten Bahnen auslebt. Plurale Gesellschaften brauchen deshalb Theologie als kritische Reflexion der je eigenen Glaubenstraditionen und -praktiken und konfessionsfreie Religionswissenschaft, die in vergleichender Systematisierung dem Phänomen der Religiosität als anthropologischer Konstante und Religionen als kulturbildende Komponente in ihren verschiedensten Ausprägungen erforschen. Ein theologisch und religionswissenschaftlich informierter und zugleich emotional tragfähiger Trialog der drei monotheistischen Weltreligionen trüge erheblich zu einem qualitativen Pluralismus bei, dessen Qualität darin bestünde, auf geistreiche, kultivierte und solidarische Weise wirklich verschiedenen Positionen Raum zum Streit um die Wahrheit zum Wohl für alle zu geben. Wir wollen zeigen, dass unsere Theologien in der Lage sind, das Fremde als Fremdes zu respektieren, ohne das Eigene aufzugeben. Dabei wollen wir aber vermeiden, woran so mancher Dialog bzw. Trialog krankt. Häufig wird den jüdischen, christlichen, muslimischen Gesprächspartnern die Rolle der allumfassenden Repräsentantinnen bzw. Repräsentanten ihrer Religion zugeschrieben, und nicht selten wird diese Zuschreibung angenommen. Judentum, Christentum und Islam sind aber

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keineswegs so statische Traditionsblöcke, wie das nicht nur Fundamentalisten, sondern auch manche Vertreter der Massenmedien gern hätten, um die Komplexität von Religionsgesprächen auf die Kurzformate zu reduzieren, mit denen sie so gern arbeiten. Die Komplexitätsreduktion mündet dann allzu häufig in verzerrende, zuweilen sogar gefährliche Simplifizierungen. Die Vielfalt innerhalb jüdischer, christlicher und islamischer Traditionen werten wir hingegen nicht als Schwäche der jeweiligen Religion, sondern als Zeichen ihrer Vitalität, ihrer tiefen Verwobenheit in das individuelle und kulturelle Leben, das sie prägen und von dem sie ebenso geprägt werden. Es gibt nicht das Judentum, das Christentum und den Islam. Und es gibt innerhalb der Religionen nicht nur lebendige Vielfalt und den Streit der Interpretationen um angemessene Auslegungen, sondern auch gewalttätige Auseinandersetzungen bis hin zu tödlichen Konflikten. Juden verfolgen Juden, Christen verfolgen Christen, Muslime verfolgen Muslime, nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in unserer Gegenwart. Hinzu kommt, dass sich das Spektrum von Frömmigkeitshaltungen quer durch die scheinbar so leicht abgrenzbaren monotheistischen Weltreligionen zieht. Eine aufgeklärte religiöse Praxis einer Jüdin, eines Christen und eines Muslims sind sich sicher näher als die eines aufgeklärten Christen und eines fundamentalistischen Christen. Die Lehre, die wir aus dieser realistischen Komplexitätslage ziehen, lautet, dass wir die Rolle der Repräsentantin bzw. des Repräsentanten der eigenen Religion nur gebrochen übernehmen können. Unsere Trialogbereitschaft ist bereits Teil eines spezifischen Verständnisses unserer jeweiligen Religion und auch der der anderen. Wir wissen, dass unser jeweiliges Verständnis der eigenen und der anderen Religion keineswegs alle teilen. Allerdings haben wir den Anspruch, dass unsere jeweilige Interpretation der eigenen Religion sowohl der wissenschaftlichen Prüfung als auch den Bedürfnissen lebendiger Frömmigkeit standhält. Unsere Auffassungen sind sicherlich nicht die einzig möglichen, aber sie ermöglichen, mit dem theologischen Konflikt der drei monotheistischen Weltreligionen auf friedliche Weise umzugehen, ohne diesen Konflikt dreier Wahrheitsansprüche harmonistisch zu entschärfen. Wir wollen für unsere Interpretationen werben, weil dann die religiös begründete Gewalt gegen andere sich nicht nur theologisch als unnötig, sondern sogar als blasphemisch erweisen wird und damit die Gewalt gegen andere ungeschminkt als das zum Vorschein kommt, was sie ist: ein hässliches Verbrechen ohne jeden Glanz, eine Beschmutzung der Religion, Sünde gegen Gott.

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II. Der kommunizierende Gott und das hermeneutische Problem der Offenbarung Gottes Die drei monotheistischen Weltreligionen teilen eine Grundüberzeugung: Gott hat gesprochen. Er teilt sich mit. Er wendet sich an seine Geschöpfe, und seine Geschöpfe dürfen sich an ihn wenden. Die drei monotheistischen Weltreligionen verstehen ihren Gott als einen Gott, der in Beziehungen lebt. Er lässt seine Geschöpfe nicht im Unklaren darüber, wie sie leben sollen, damit sie ihrer Geschöpflichkeit gemäß im Frieden mit Gott und den Mitgeschöpfen gut leben können. Gott legt offen, wer er ist, wer seine Geschöpfe sind und wie die angemessene Beziehung zwischen Gott und seinen Geschöpfen gestaltet werden soll. Gott offenbart sich und seinen Willen zum Wohlergehen und zum Heil seiner Geschöpfe. Gottes Offenbarung ist göttliche Kommunikation von Schöpfer zu Geschöpf. Schöpfer und Geschöpf kommunizieren aber mit unterschiedlichen Bedingungen. Gottes Wort ist volles Wort, was er sagt, gilt. Gottes Wort ist kreativ. Er schafft Realität mit seinem Wort. Wenn Gott spricht, wird es hell. Gottes Sprache braucht keine Zeichen, die für etwas anderes stehen, was sie selbst nicht sind. Gott ist so sehr in seinem Wort, dass sein Wort und er eins sind. Gottes Wort ist daher Wahrheit. Gott lügt nicht. Zur Lüge bedarf es einer Sprache, die auf Zeichen angewiesen ist. Menschliche Sprache, sei es gesprochene, geschriebene, gestikulierte, bildhafte, elektronische usw., ist auf Zeichen angewiesen, die nicht selbst das sind, was sie bedeuten. Auch menschliche Sprache ist kreativ, aber nicht im vollen Sinn wie die Sprache Gottes. Menschliche Sprache ist nämlich immer mehrdeutig, interpretationsbedürftig, zur Lüge fähig, und sie drückt selbst im besten Fall gelingender Kommunikation niemals die ganze Wahrheit aus, weil sie immer perspektivisch, ausschnitthaft und situativ ist. Im Akt der Offenbarung selbst liegt die Notwendigkeit hermeneutischer, kritischer und interpretationsethischer Reflexion begründet. Offenbarung ist nämlich göttliche Kommunikation im Medium menschlicher Zeichensprache. Gottes Offenbarung ist als Gottes Offenbarung ganz wahr, kreativ, heilvoll. Sie ist aufgrund ihres Eintritts in die Bedingungen menschlicher Kommunikation wie jede andere menschliche Kommunikation den formalen Bedingungen zeichenhafter Kommunikation unterworfen. Wenn Gott spricht, wird es hell. Wenn er aber zu den Menschen in ihrer zeichenförmigen Sprache spricht, müssen sie interpretieren. Juden, Christen und Muslime stimmen darin überein, dass Gott verständlich mit den Menschen gesprochen hat, und sie stimmen darin überein, dass

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er sich auf die Kommunikation mit den Menschen eingelassen hat, aber sie streiten darüber, an wen er sich gewendet hat und auf welche Weise. Im Tanakh spricht Gott zum ersten Mal bei der Schöpfung des Lichts (»Und Gott sprach: Es werde Licht«, Gen 1,3), nämlich bei der Schöpfung des Prinzips, welches das Leben auf Erde ermöglicht (vor der Schöpfung des Lichts war die Erde noch »öd’ und wüst«, Gen 1,2). Trotz der wichtigen Mitteilung an Abraham, um ihn über die Auserwähltheit seines Nachkommens zu informieren, und trotz der genauso wichtigen und unterschiedlichen Mitteilungen an die Propheten ist die Botschaft Gottes am Berg Sinai, die Botschaft an Moses diejenige, in der sich die theo-ontologische Kraft des göttlichen Wortes ausdrückt: »Ehye asher ehye« (Ex 3,14). Um diesen Ausdruck richtig übersetzen zu können, benötigte man ein Tempus, das zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Verbs ›sein‹ im Sinne von ›existieren, vorhandensein‹ ausdrückt. Diese Verbalkonstruktion vermittelt die überzeitliche Vollkommenheit eines Existierenden, der sich jedoch nicht außerhalb der Zeit bekannt macht, so dass die Möglichkeit einer Kommunikation zwischen ihm und seinen Geschöpfen offenbleibt. Christen teilen mit Juden die Auffassung, dass sich Gott in der Geschichte des jüdischen Volks immer wieder mitgeteilt hat und seine durch die Propheten vermittelten Botschaften bleibende Gültigkeit haben. Sie erkennen ausdrücklich die Erwählung des jüdischen Volks als Gottes besonderes Volk an, aber sie behaupten, dass Gott mit dem Leben Jesu von Nazareth, seinem Kreuzestod und seiner eschatologischen Auferweckung in das göttliche Leben hinein seine Verheißung an das jüdische Volk, den Messias als Retter und Friedensstifter für die Juden und die ganze Schöpfung zu senden, bereits erfüllt hat. Für Christen ist deshalb Jesus von Nazareth, der auferweckte Gekreuzigte, das letztgültige Wort Gottes. Christen können Gott, seine Geschöpfe, den ganzen Kosmos und auch sich selbst nur noch aus der Perspektive der Jesus-Christus-Geschichte verstehen. Gott ist nicht irgendein Gott, sondern er ist genau der Gott und kein anderer, der den durch menschliche Gewalt ermordeten Jesus von Nazareth vom Tod in das ewige Leben Gottes hinein auferweckt hat und sich seitdem nur noch am Kreuz finden lässt als derjenige Gott, der solidarisch mit den Opfern ist. Christen glauben an den Gott Israels, wie er sich in der JesusChristus-Geschichte ein für allemal zu verstehen gegeben hat, sie glauben nicht an den Gott der Juden, der seinen Messias immer noch nicht in die Welt gesendet hat, und nicht an den Gott der Muslime, weil sie nur an den Gott glauben, der am Kreuz aus der Tragödie menschlicher Gewalt ewiges Leben zum Heil für alle geschaffen hat, die sich vom Geist der JesusChristus-Geschichte angesprochen wissen. Für Muslime beginnt Gottes Mitteilung mit seiner Schöpfung, wobei er alle Menschen seine Existenz bezeugen ließ und schon vor ihrem irdischen

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Dasein darauf verpflichtete, zu bekennen, dass es den einzigen Gott gibt (Sure 7:172). Durch diese mythologische Szene wird im Koran begründet, dass der Glaube der Menschen an Gott allen geschichtlichen Ereignissen enthoben ist. Die Muslime glauben, dass Gott sich neben dieser prähistorischen Offenbarung auch in der Geschichte durch seine Gesandten immer wieder mitgeteilt hat, wenn die Botschaft in Vergessenheit geraten war, um die Menschen an ihr ursprüngliches Bekenntnis, den Urvertrag, zu erinnern und ihnen mitzuteilen, dass sie dementsprechend leben sollen. So teilen die Muslime die jüdisch-christliche Auffassung, dass Gott sich und seinen Willen auch in der Geschichte Israels mitgeteilt hat, ferner teilen sie mit Christen die Auffassung, dass Jesus von Nazareth der von Gott gesandte Messias ist, verstehen ihn aber als einen Geist von ihm, der seine göttliche Botschaft wieder belebte (Sure 4:171). Sie erkennen an, dass die durch Jesus und durch die früheren Propheten Israels vermittelten Botschaften bleibende Gültigkeit haben, aber sie behaupten, dass Gott seine von früheren Propheten verkündigte frohe Botschaft, sein Licht in der Welt zu vollenden und seine einzige Religion zu vervollkommnen, durch die Sendung Muhammads (Sure 5:42–49) erfüllt hat. Für Muslime ist deshalb Muhammad das Siegel der Propheten und der Koran die letztgültige Manifestation des Gotteswortes, der die göttliche Botschaft der früheren Schriften zusammenfasst, bestätigt und von Missverständnissen und Verfälschungen reinigt, sie also nicht für ungültig erklärt. Da der Glaube der Muslime nicht in einer Heilsgeschichte, sondern in der von Gott geschaffenen menschlichen Natur gründet, ist die Offenbarung Gottes mit seiner Schöpfung identisch (Sure 30:30). Denn der Gott, der die Menschen anspricht, ist gerade der Gott, der sie bereits erschuf. Die Muslime sehen daher den Menschen von Natur her in der Lage, Gott, seine Geschöpfe, den ganzen Kosmos und auch sich selber zu verstehen und zu begreifen. Sie glauben, dass es nur einen einzigen Gott gibt, aber Menschen unterschiedliche Vorstellungen von ihm haben. Daher erkennen sie an, dass Juden und Christen gemeinsam mit ihnen an den einzigen Gott glauben, der der Gott aller Geschöpfe ist, auch wenn sie ihn anders begreifen (Sure 2:163).

III. Tanakh, Bibel und Koran als Interpretanten göttlicher Kommunikation Die Notwendigkeit, über Bedingungen und Grenzen der Kommunikation zwischen Gott und Mensch nachzudenken, wird vervielfältigt durch den Gebrauch schriftlicher Medien, die einen normativen Status erhalten. Tanakh, Bibel und Koran beanspruchen mit normativer Geltung die

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Offenbarung Gottes, wie sie die jeweilige Religion sieht, auf vollständige, angemessene und gültige Art und Weise zu überliefern. Dennoch haben sie nicht dieselbe Stellung innerhalb ihres jeweiligen religiösen Gesamtzusammenhangs, und gerade in der Auffassung der theologischen Funktion der jeweiligen Schrift gibt es erhebliche Differenzen auch innerhalb der drei monotheistischen Weltreligionen. Für Juden ist der Tanakh das schriftliche Wort Gottes, während die Mischna und die Gemara, aus denen der Talmud, nämlich die rabbinische Lehre, besteht, das mündliche Wort sind. Die Rabbinen sind zuerst Juristen, welche die Funktion haben, das Gesetz Gottes zu interpretieren, um es auf konkrete Fälle des menschlichen Lebens anzuwenden. Nur Christen haben eine Bibel. Seit dem Kirchenvater Chrysostomos (gest. 407) wird die Sammlung von grundlegenden Schriften, die als Richtschnur christlichen Glaubens im Gottesdienst verlesen und ausgelegt werden, ›die Bücher‹1 genannt. Die griechische Bezeichnung ›ta biblia‹ ließ erkennen, was das deutsche Wort ›Bibel‹ verdeckt: Die Bibel ist ein Buch der Bücher. Die Bücher, die sie enthält, wurden nicht für sie geschrieben. Sie stammen von ganz verschiedenen Verfassern aus unterschiedlichen Zeiten, Räumen und Kulturen. Sie wurden bereits in verschiedenen Sprachen geschrieben und in viele weitere Sprachen übersetzt, bevor sie dann von Christen für das Buch der Bücher ausgewählt und zusammengestellt wurden. Aber nicht erst das deutsche Wort ›Bibel‹ führt den Singular ein, sondern auch schon die griechische und die lateinische Kirche des frühen Mittelalters verwenden den Singular. Im Griechischen wird die Sammlung auch liebevoll mit dem Diminutiv ›biblíon‹, ›Büchlein‹, bezeichnet. Singular und Plural bringen erst zusammen sachgemäß zum Ausdruck, worum es sich bei der Bibel handelt: eine Sammlung von Büchern, die durch ihre geordnete Zusammenstellung ein neues Sinnganzes bieten. Die Idee der christlichen Bibel als Richtschnur für den Glauben, die als begrenzte Sammlung die autoritative Quelle der Offenbarung Gottes darstellt, wurde im Verlaufe des 2. Jh.s n.Chr. kreiert. Voraus gingen bereits Sammlungen der Paulusbriefe, die u.a. in 2Petr 3,15f. belegt ist, und die Zusammenstellung der vier Evangelien des Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Zwar ist sich die Christenheit einig über das grundlegende Konzept der Bibel, die aus einer Sammlung der Bücher des Alten Testaments und einer Sammlung der Bücher des Neuen Testaments besteht, die zusammengelesen die große Geschichte von Gottes Handeln von der Schöpfung bis zur ————— 1 CHRYSOSTOMOS, Homilia in Epistolam ad Colossos 9,1, in: Patrologia Graeca, Bd. LXII, Paris 1857–1866, 361.

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Neuschöpfung erzählen, deuten und besingen. Aber welche Bücher berechtigterweise in der Bibel stehen und welchen Umfang sie haben, darüber gab es nie eine Einigkeit in den verschiedenen Christentümern. Bis auf den heutigen Tag haben etwa römisch-katholische und evangelische Christen ein erheblich voneinander abweichendes Altes Testament. Dabei hat nur die römisch-katholische Kirche den Umfang der Bibel dogmatisch festgelegt und alle, die einen anderen Umfang im Gebrauch haben, mit einem verderbenden Fluch belegt, und dies erst im 15. Jh. n.Chr. Auch die theologische Funktion der Bibel wird von Konfession zu Konfession verschieden bestimmt. Währen die römisch-katholische Theologie der Schrift die Tradition in der Form der römisch-katholischen Erinnerung gleichbedeutend an die Seite stellt, kommt für evangelische Christen die normgebende Funktion nur der durch den von Gott geschenkten Glauben ausgelegten Schrift zu. Dem römisch-katholischen Prinzip ›Schrift und Tradition‹ steht das auf Martin Luther zurückgehende protestantische Schriftprinzip sola scriptura gegenüber. Bei allen Differenzen aber ist für Christen die Bibel ein Buch des Glaubens. In keinem Land der Welt wird die Bibel als Gesetzbuch benutzt. Weitgehende Übereinstimmung besteht auch darin, dass das Alte Testament insofern vom Neuen Testament her gelesen werden muss, als das Neue Testament Kunde von der letztgültigen Offenbarung Gottes in Jesus Christus, dem auferweckten Gekreuzigten als Gottes letztem Wort über die Realität und die Rettung dieser Welt, ist. Die christliche Bibel erzählt die große Geschichte von Gottes Schöpfung bis hin zur eschatologischen Neuschöpfung, die durch die Jesus-Christus-Geschichte bereits ihren Anfang genommen hat. Ihre Theologie ist narrativ angelegt und zur Ausdeutung bestimmt. Der Koran gilt im islamischen Glauben als das von Gott an Muhammad offenbarte und von ihm an die Menschen übermittelte Wort. Auch wenn umstritten ist, wem die arabische Formulierung des Offenbarten, ob Gott, dem Erzengel Gabriel oder dem Propheten Muhammad, gehört, glauben alle Muslime von vornherein daran, dass die von Muhammad empfangenen Worte göttlicher Herkunft waren und von Muhammad treu weitergeleitet wurden. Dass die vom Propheten verkündeten koranischen Worte zu uns ohne irgendeine Veränderung gekommen sind, betrachten die Muslime nicht als eine Glaubensangelegenheit, sondern als eine historische Tatsache. Der Korantext besteht aus einzelnen Passagen, die von Muhammad in dem Zeitraum von 610–632 als Worte Gottes verkündigt wurden. Diese Worte wurden als eine lebendige Anrede an die dort lebenden Adressaten, d.h. Muhammad, seine Gefährten, die heidnischen Araber, Juden und Christen etc. konzipiert. Daher wurde die neue religiöse Bewegung um Muhammad durch den Koran nicht nur geleitet, sondern auch begleitet, weshalb wir in

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ihm nicht nur Anweisungen bzw. Bestimmungen, sondern auch Spuren von fast allen Ereignissen seiner Zeit lesen können. Diese Worte wurden von Beginn an nicht nur als göttliche Wegweisung, göttlichen Eingriff in die aktuelle Geschichte, sondern auch als Rezitations- und Liturgietext wahrgenommen. Deswegen legte man schon zu Lebzeiten Muhammads einen besonderen Wert darauf, die von ihm verkündigten Worte sorgfältig zu fixieren und zu rezitieren. So sind unter der ersten Generation Personen zu finden, die den ganzen Koran auswendig lernten, und zudem Menschen, die über individuelle vollständige Koranexemplare verfügten. Allerdings ist es bemerkenswert, dass Muhammad selber sich nicht dazu beauftragt fühlte, eine kanonische Sammlung zu hinterlassen, vielmehr zielte er darauf ab, die Botschaft des Korans durchzusetzen. Erst ein Jahr nach dem Tod des Propheten (632), nämlich in der Zeit des ersten Kalifen Abnj Bakr (632–634), entstand das Bedürfnis, ein Koranexemplar bereitzustellen. Eine Kommission, die unter der Führung von einem der Schreiber Muhammads, Zayd ibn ThƗbit, im Jahr 633 gegründet wurde, hat anhand privater Exemplare und Gedächtnisse der Korankenner vor aller Öffentlichkeit ein derartiges Koranexemplar fertiggestellt. Zur Regierungszeit des dritten Kalifen ’UthmƗn (644–656) weitete sich das islamische Gebiet so aus, dass nicht nur im Detail voneinander abweichende Exemplare im Umlauf waren, sondern auch der Koran in unterschiedlichen Ortschaften unterschiedlich ausgesprochen wurde. Der Kalif hat eine Kommission bestellt, die vom selben Zayd, der den Originaltext kannte, geleitet werden und die Unterschiede in der Schrift und Rezitation auf’s Mindeste reduzieren sollte. Dieser Redaktionsstab hat, während er den Koran edierte, weder die chronologische Offenbarungsreihenfolge beachtet noch ihn nach Themen geordnet. Er hat sich an die Rezitationsreihenfolge gehalten, die der Prophet beigebracht hatte und man daher kannte. Die Struktur des uns vorliegenden Korantextes geht auf diese redaktionelle Tätigkeit zur Regierungszeit 'UthmƗns zurück. Die zeitgenössische westliche sowie muslimische Koranforschung hat gezeigt – auch wenn Nuancen vorhanden sind –, dass kein ernsthafter Zweifel an der Authentizität des Korantextes besteht. Der Koran ist die einzige Grundlage der islamischen Glaubensinhalte. Da er auch Regelungen in Weltdingen beinhaltet, gilt der Koran zusammen mit der Sunna, der prophetischen Tradition, als erste Praxis des Koran durch die erste Generation, für Muslime – wie die Tora für Juden – auch als Gesetz, was in der Rezeptionsgeschichte zur Entwicklung mehrerer Rechtsschulen geführt hat. Umstritten ist unter diesen Schulen nach wie vor, ob die koranischen Bestimmungen wörtlich zu verstehen und anzuwenden sind oder den Bedürfnissen der aktuellen Zeit und dem Geist des Wortlauts entsprechend interpretiert werden müssen.

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Da der Koran die chronologisch letzte Schrift ist, nimmt er auf die Heiligen Schriften der Juden und Christen Bezug. So finden sich im Koran viele Geschichten aus der jüdischen und aus der christlichen Tradition, und zwar oft in abgewandelter Form. Die sich als Teil göttlicher Kommunikation verstehenden und deshalb normative Autorität beanspruchenden Schriften der drei monotheistischen Weltreligionen widersprechen sich ihrem Inhalt nach in mehrfacher Hinsicht in kontradiktorischer Weise. Juden, Christen und Muslime leben nicht nur in verschiedenen Glaubenswelten, sondern auch in unterschiedlichen Zeiten. Juden leben in der Hoffnung auf die Erfüllung der messianischen Prophezeiung des Tanakh. Sie erwarten den Messias als Friedensbringer, mit dessen Ankunft aller Lug und Trug und jede Gewalt und alles Unrecht ein Ende finden. Ihre massive Kritik am Christentum besteht darin, dass das Unrecht dieser Welt nach dem Auftreten Jesu bezeugt, dass Jesus nicht der Messias gewesen sein kann. Ebenso bestreiten Juden, dass Muhammad eine Offenbarung Gottes zuteil wurde. Die jüdische Zeitrechnung – wie sie seit dem 11. Jh. gebräuchlich ist – beginnt im Jahr, in dem nach dem Schöpfungsbericht die Erde erschaffen wurde. Nach dieser Berechnung war es der 7. Oktober im Jahr 3761 vor der christlichen Zeitrechnung, so dass wir heute im Jahr 5769 sind. Christen sehen mit der Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth die eschatologische Realität Gottes in diese Weltzeit eingebrochen und mit ihr verschränkt. Sie leben in dieser doppelt bestimmten Zeit, die sie mit der Geburt Jesu beginnen lassen. Sie schreiben deshalb das Jahr 2008 nach Christi Geburt. Christen leben schon jetzt in der vom Eschaton bestimmten letzten Weltzeit. Muslime schreiben das Jahr 1429. Sie leben weder in der Erwartung des Kommens des jüdischen Messias, noch glauben sie an die eschatologische Bestimmung der Zeit durch die Jesus-Christus-Geschichte. Die Auferweckung des gekreuzigten Jesus von Nazareth bestreiten sie gemeinsam mit den Juden. Sie leben eher in einer nicht vorherbestimmten, sondern riskanten Geschichte, in der die guten und bösen Handlungen der Menschen bestimmen, wie sie weiterläuft. Daher lassen sie ihre Zeitrechnung mit der Auswanderung der Muslime nach Medina beginnen, die den haltbaren Sieg des Guten gegenüber dem Bösen symbolisiert. Juden, Christen und Muslime glauben nicht nur nicht dasselbe, sondern sie leben mit ihren jeweiligen Autorität beanspruchenden und normgebenden Schriften in verschiedenen Zeiten. Dennoch gibt es eine von keinerlei Weltsicht oder Auslegung abhängige empirische Tatsache, die Tanakh, Bibel und Koran miteinander unhintergehbar verbindet: die Schriftlichkeit der Schrift.

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Wie auch immer die Schriften ausgelegt werden, als Schriftzeichen unterliegen sie den formalen Bedingungen der Zeichen und müssen deshalb auch als solche interpretiert werden. Daran ändert auch nichts, dass Christen Jesus für das eigentliche Wort Gottes halten und Muslime darauf pochen, dass die Offenbarung, die der Koran bezeugt, ja eigentliche mündliche Kommunikation darstellt. Die Schriften, die von diesen Offenbarungen zeugen, sind nun einmal Schriften, die nur im Medium ihrer Schriftzeichen existieren, und wer die Realität dieser Tatsache leugnet oder meint vernachlässigen zu können, missversteht nicht nur seine eigene Tradition, sondern entzieht sich damit dem öffentlichen wissenschaftlichen Diskurs und beansprucht damit eine sich von der Realität dieser Welt isolierende religiöse Sonderhermeneutik, die nichts an öffentlichen Universitäten und Schulen zu suchen hat, weil sie Denkverbote lehrt und argumentative Plausibilität durch immunisierende Ideologie ersetzt. Tanakh, Bibel und Koran sind Interpretanten der jeweiligen vorausgesetzten göttlichen Offenbarungen. Sie sind zugleich Schriftzeichen, die als solche interpretiert werden müssen. Ihre religiöse Autorität kommt ihnen als Interpretanten göttlicher Offenbarungen zu. Als Schriftzeichen teilen sie die Bedingungen und Grenzen jeder schriftlichen Kommunikation und auch die Möglichkeit des Missverständnisses. Deshalb bedarf die Hermeneutik der Schriften einer Semiotik der Schrift auf der Basis einer kategorialen Zeichentheorie.

IV. Semiotik heiliger Schriften Schriften sind relationale Zeichengebilde. Als Texte unterliegen auch normative Texte den formalen Bedingungen im Auftreten von Zeichen. Zu den formalen Gegebenheiten jedes Zeichens gehören seine Dreistelligkeit und die damit verbundene Notwendigkeit der Interpretation, die in das Zeichen selbst eine unhintergehbare Vielfalt einschreibt. Etwas erhält eine Zeichenfunktion, wenn es 1. einen sinnlichen Eindruck erzeugen kann, 2. für etwas anderes in bestimmter Hinsicht steht und 3. der sinnliche Eindruck durch ein Drittes mit diesem abwesenden Etwas verknüpft wird und 4. keine dieser drei Bedingungen fehlt. Eine Zeichenrelation ist also eine dreistellige Relation mit den Relata Zeichen, Objekt und Interpretant. Die einzelnen Relata erhalten ihre Zeichenfunktion nur innerhalb dieser dreistelligen Relation. Charles Sanders Peirce definiert die Zeichentriade folgendermaßen: »Ein Zeichen oder Repräsentamen ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem Zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt

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wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selbst steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, der ein Zeichen desselben Objekts bestimmt, und so fort ohne Ende.«2 Unter fortgesetzter Anwendung seiner Kategorienlehre differenziert Peirce die Relata der Zeichentriade und ihre Beziehungen aus. Das Element des Zeichens gehört in die Kategorie der Erstheit, denn es geht hier um »[...] Qualitäten [...], deren ursprünglicher Wert gerade in ihrem noch unbestimmten Zur-Verfügung-Stehen liegt«3. Die Kategorie der Zweitheit kommt mit Blick auf das Objekt4 ins Spiel. Peirce schreibt: »Das Zeichen ist niemals das eigentliche Objekt selbst. Es ist deshalb ein Zeichen seines Objekts nur in einem Aspekt, in einer Hinsicht.«5 Das Zeichen repräsentiert das Objekt in einer Hinsicht. Kein Zeichen ist dazu in der Lage, sein Objekt in jeder Hinsicht zu repräsentieren. Es wählt einen bestimmten Gesichtspunkt aus. Dieses in der Zeichentriade durch die Auswahl einer Hinsicht repräsentierte Objekt nennt Peirce das unmittelbare Objekt. Das unmittelbare Objekt hat seinen Ort innerhalb der Zeichentriade, und zwar nur innerhalb dieser Triade. »Das unmittelbare Objekt ist das Objekt, das im Zeichen dargestellt wird.«6 Das dynamische Objekt hingegen ist das Objekt, das die Erzeugung eines Zeichens motiviert und von dem das unmittelbare Objekt nur eine Hinsicht darstellt. Das dynamische Objekt ist die Kraft, die den Zeichenprozess, die Semiose, motiviert. Die Differenzierung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt vermag zum einen die unbegrenzte Hervorbringung neuer Zeichen zu erklären, den Akt unbegrenzter Semiose, zum anderen führt sie aber auch ein regulatives Prinzip in den Akt der Interpretation ein, da die Motivation aller Interpretation die Idee des dynamischen Objekts ist. Das unmittelbare Objekt hat als sein mögliches Korrektiv immer das dynami————— 2

CH.S. PEIRCE, Phänomen und Logik der Zeichen, hg. u. übers. v. H. PAPE, Frankfurt a.M. 1983, 64. 3 H. DEUSER, Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus (RPT 12), Tübingen 2004, 163f. 4 Eine ausgezeichnete Darstellung der Kontroverse bezüglich des Objektverständnisses in der Peirceforschung gibt J.J. LISZKA, A General Introduction to the Semeiotic of Charles Sanders Peirce, Bloomington, IN 1996, Anm. 2, 111–116; Anm. 8, 118f. 5 CH.S. PEIRCE, Semiotische Schriften, hg. u. übers. v. CH. KLOESEL/H. PAPE, Bd. I, Frankfurt a.M. 1986, 427. Ebd. heißt es weiter: »Also ist ein Zeichen etwas, das ein anderes Zeichen in eine objektive Relation zu jenem Zeichen bringt, das es selbst darstellt, und es stellt diese Relation insoweit in derselben Hinsicht oder unter demselben Aspekt her, in dem es selbst ein Zeichen für dasselbe Zeichen ist.« 6 CH.S. PEIRCE, Semiotische Schriften, hg. v. CH. KLOESEL/H. PAPE, Bd. III, Frankfurt a.M. 1993, 215.

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sche Objekt hinter und vor sich. Das dynamische Objekt ist immer reicher als eine seiner Hinsichten. Die Unterscheidung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt verweist damit aber auch auf die Notwendigkeit einer Auslegungsgemeinschaft, denn wir bekommen das dynamische Objekt immer nur als unmittelbares Objekt zu sehen. Das dynamische Objekt kann annäherungsweise nur ausdifferenziert werden in einer unendlichen Hervorbringung von Semiosen, die derart aufeinander verwiesen sind, dass sie sich gemeinsam um die Ausdifferenzierung des dynamischen Objekts bemühen.7 Peirce unterscheidet schließlich den unmittelbaren, den dynamischen und den finalen Interpretanten8. Der unmittelbare Interpretant ist die unbestimmte, vage Verbindung zwischen zwei Relata, die diese als ein Zeichen und ein Objekt bestimmt, so dass überhaupt ein Prozess der Semiose in Gang gesetzt wird.9 »Der dynamische Interpretant ist einfach das, was von einem gegebenen individuellen Interpreten dem Zeichen entnommen wird.«10 »Der finale Interpretant ist die letzte Wirkung des Zeichens, insofern diese von der Beschaffenheit des Zeichens her intendiert oder vorbestimmt (destined) ist, welche dabei eine mehr oder minder gewohnheitsmäßige und formale Natur hat.«11 Die Sinnerzeugung wird demzufolge als ein Zeichenprozess verstanden, der von einem dynamischen Objekt angeschoben wird und gleichursprünglich einen ersten Interpretanten bildet, der etwas als Zeichen dieses dynamischen Objekts wahrnimmt und mittels dieses Zeichens einen bestimmten Aspekt des dynamischen Objekts als unmittelbares Zeichenobjekt in die vom dynamischen Objekt ontologisch zu unterscheidende Zeichenrelation einbringt auf der Basis eines zwischen dem dynamischen Objekt und dem unmittelbaren Objekt als gemeinsam postulierten Grundes. Die hermeneutische Konsequenz dieses Zeichenmodells für die Textauslegung lautet: Der potentielle Sinn eines Textes wird erst im Akt des Lesens aus der Korrelation von vorgegebenen Textstrukturen und realem Leser in ————— 7

In dieser Hinsicht ist Semiotik abhängig von ethischen Entscheidungen, und in dieser Hinsicht ist sie auch eine normative Wissenschaft. Vgl. dazu J.J. LISZKA, A General Introduction, 3–6. 8 Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Terminologien bezüglich des Interpretantenbegriffs, die LISZKA, Introduction, 122f., übersichtlich zusammengestellt hat. Die Peirce-Forschung ist damit beschäftigt, die wichtige Frage zu klären, welche dieser Terminologien einfach Varianten der Bezeichnung sind und welche tatsächlich andere Konzepte des Interpretanten einbringen. Für das Anliegen der vorliegenden Untersuchung genügt die im Text dargestellte Differenzierung voll und ganz. 9 CH.S. PEIRCE, Semiotische Schriften, Bd. III, 224: »Der Unmittelbare Interpretant ist das, was notwendigerweise hervorgebracht wird, wenn das Zeichen ein solches sein soll. Er ist eine vage mögliche Bewusstseinsbestimmung, eine vage Abstraktion.« 10 Ebd., 215 (Kursivsetzung von mir, S.A.). Vgl. ebd., 224f. 11 Ebd., 225.

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seinem jeweiligen geschichtlichen und kulturellen Kontext realisiert. Die Vorgabe der Textzeichen setzt den Lektüren Grenzen, die notwendige Kreativität und Individualität der Lesenden im Rahmen ihrer jeweiligen Kultur generiert die sachgemäße Vielfalt der Interpretationen. Zeichen sind nicht nur in formaler Hinsicht relationale Gebilde. Ein Zeichen funktioniert erst durch seinen Gebrauch in Zeichenzusammenhängen wie Gesprächen, Gottesdiensten, Texten, Bildern, Gebäuden, Straßenverkehrsordnungen, Fernsehsendungen, wissenschaftlichen Kongressen usw. Diese aktuellen Zeichenzusammenhänge wiederum machen die Gesamtheit einer gegebenen Kultur aus, die deshalb nicht monadisch und identitätsontologisch, sondern relational und differenzontologisch zu begreifen ist. Kulturen basieren auf dem gesellschaftlich konventionalisierten, kreativen und konfliktvollen Gebrauch der Zeichen – Kulturen sind Zeichenzusammenhänge. Ein Zeichen bedarf also zumindest zweier Zuordnungen, um zu funktionieren: Es muss einem aktuell wahrnehmbaren Zeichenzusammenhang und zugleich einer Kultur als der Gesamtheit seiner virtuellen Zeichenzusammenhänge zugehören. Diese Bedingungen tragen zur Sinnerzeugung in jeder Lektüre, also auch der Lektüre Heiliger Schriften, unhintergehbar bei und führen durch die je unterschiedlichen kulturellen Kontexte zu einer Vielfalt von Interpretationen. Das Lesen oder Hören eines Textes ist kein passiver Akt reiner Aufnahme, sondern ein interaktiver Prozess, der kreative Mitarbeit der Lesenden benötigt. Die jüdischen heiligen Schriften – bestehend aus Torah (›unterweisen‹, kausativ; sie bedeutet ›Lehre, Belehrung, Unterricht, Anweisung, Gesetz‹), Nebiim (Propheten) und Ketubim (Schriften), die zusammen den Tanakh bilden, dessen Name ein Akronym seiner drei Teile ist, und gleichermaßen auch der Palästinische und Babylonische Talmud (der wichtigste ist der Babylonische Talmud; wenn nur der Talmud erwähnt wird, bezieht sich der Referent in der Regel auf den Babylonischen) –, die christlichen heiligen Schriften, die in der Bibel gesammelt und sinnbildend angeordnet wurden, und der Koran als verschriftlichte Sammlung der von Muhammad mündlich verkündeten Offenbarungseinheiten wurden unter den formalen Bedingungen menschlicher Kommunikation produziert, und sie werden unter denselben Bedingungen rezipiert. Jedwede menschliche Kommunikation vollzieht sich als Semiose, als Zeichenhandlung, oder mit den Worten von Charles Sanders Peirce: »All thought is in signs.« Damit ist gerade nicht zum Ausdruck gebracht, dass sich die Dinge an sich dem menschlichen Begreifen entziehen und wir deswegen ›nur‹ Zeichen konstruieren können. Die kategoriale Semiotik im Anschluss an Charles Sanders Peirce ist kein Konstruktivismus. Vielmehr hält sie den Zeichenakt für die unhintergehbare Art und Weise, wie Menschen Realität erschließen.

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Diese Realität ist dem Begreifen vorgegeben. Mit Blick auf die Entstehung von Tanakh/Talmud, Bibel und Koran heißt das: Sie haben ihren Grund nicht in sich selbst, sondern er ist ihnen als das, woraufhin ihre Zeichenproduktion beginnt, wirksam vorgegeben. Die Zeichenprodukte Tanakh/Talmud, Bibel und Koran bemühen sich darum, das sie motivierende dynamische Objekt zu erschließen, indem sie Zeichen bilden, die dieses Objekt interpretieren. Weil aber kein Zeichen das es veranlassende dynamische Objekt in seiner Fülle darstellen kann, bleibt unter den formalen Bedingungen menschlicher Kommunikation stets eine Differenz zwischen dem Interpretanten und dem ihn veranlassenden dynamischen Objekt bestehen. Das heißt aber, dass Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran nicht das Wort Gottes in ontotheologischer Weise sind.12 Vielmehr beanspruchen sie, es auf angemessene und für den von Gott beabsichtigten kommunikativen Prozess hinreichende Art und Weise zu interpretieren. Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran als Interpretanten des sie motivierenden dynamischen Objekts werden im Akt der Lektüre aber selbst zu dynamischen Objekten, die die Produktion sie interpretierender Zeichen motiviert.

V. Ethik der Interpretation Auf der Basis des oben formulierten Zeichenmodells der kategorialen Semiotik und seiner erkenntnistheoretischen und hermeneutischen Konsequenzen lassen sich drei Kriterien für eine gute Interpretation entwickeln.13 Das erste Kriterium ist das Realitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie danach strebt, den Interpretationsgegenstand als real vorgegebenes Anderes, vom Ausleger Unterschiedenes in gewisser Hinsicht darzustellen, und diesem Anderen mit Respekt gegenübertritt. Das Realitätskriterium verlangt jedem methodischen Ansatz ab, sich mit der Realität des Untersuchungsgegenstandes zu befassen, sich respektvoll auf ihn einzulassen und danach zu streben, einen Aspekt des dynamischen Objekts durch die Interpretation darzustellen.14 Gelingt ihr das, so handelt ————— 12 In diesem Zusammenhang ist auf die Unterscheidung innerhalb der Koranhermeneutik zwischen dem ›Wort Gottes an sich‹ (kalƗm nafsƯ) und dem ›Wort Gottes im Wortlaut‹ (kalƗm lafzƯ) hinzuweisen. 13 Zur näheren Begründung siehe S. ALKIER, Ethik der Interpretation, in: M. WITTE (Hg.), Der eine Gott und die Welt der Religionen. Beiträge zu einer Theologie der Religionen und zum interreligiösen Dialog, Würzburg 2003, 21–41. 14 Die mutazilitische Hermeneutik unterscheidet zwischen der Absicht des Redners bzw. Senders (qasd al-mutakallim) und der Autonomie des Textes gegenüber dem Ausleger.

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es sich um eine wahre Interpretation, wohlgemerkt: um eine wahre Interpretation. Die Unterscheidung zwischen dem dynamischen und dem unmittelbaren Objekt erlaubt es, Wahrheit im Plural zu denken, ohne eine Beliebigkeit der Interpretation zu propagieren. Mit der ethischen Entscheidung für eine Lektürehaltung, die den Text respektvoll als Äußerung eines Anderen wahrnehmen möchte, ist noch nicht darüber entschieden, wie mit der Vielfalt von Interpretationen umzugehen ist. Die zu begrüßende Bereitschaft zur Methodenvielfalt darf nicht dazu führen, die Adäquatheit einer Interpretation allein an der korrekten Durchführung der methodischen Vorgaben zu messen. Das Bekenntnis zum Pluralismus reicht nicht aus. Nicht jede Bibellektüre kann von einer ethisch reflektierten Bibelwissenschaft akzeptiert werden, wie nicht jede Koranlektüre von einer ethisch reflektierten Koranwissenschaft akzeptiert werden kann. Sklaverei, Apartheid, die Unterdrückung von Frauen, die Ermordung Andersglaubender sind nur einige Beispiele, die belegen, dass mit Bezugnahme auf Tanakh, Bibel und Koran Gewalt gegen Andere ideologisch begründet wurde und wird. Der Sinn eines Textes ist aufgrund seiner zeichenhaften Beschaffenheit aber weder vorgegeben noch beliebig. Er ist ein Produkt der jeweiligen Lektüre, die wiederum eine Interaktion von vorgegebenen Textstrategien und ihren Aktualisierungen durch konkrete Leser oder Leserinnen in ihren jeweiligen Kontexten darstellt. Damit ist die Vielfalt möglicher Lektüren durch eine Theorie der Zeichen begründet, aber auch eine Kritik an Lektüren möglich, die einen Alleinanspruch für sich erheben oder aber von den Textzeichen so weit abweichen, dass sie nicht mehr als Lektüren eines konkreten Textes sichtbar werden. Ein zweites Kriterium einer Ethik der Interpretation, das Sozietätskriterium, kann dabei als Leitfaden für den Umgang mit anderen Interpretationen desselben Gegenstandes dienen: Eine Interpretation ist gut, wenn sie sich als ein Beitrag zu einer gemeinschaftlichen Wahrheitssuche versteht und andere Interpretationen, auch wenn sie inhaltlich nicht geteilt werden, als Beitrag zu dieser vom dynamischen Objekt motivierten Wahrheitssuche respektiert. Der Respekt vor der realen Vorgegebenheit des Interpretationsgegenstandes und der Respekt vor der Wahrheitssuche der Anderen führen zu einem aufrichtigen Interesse an der Interpretation der Anderen. Dieses Interesse besteht darin, die Interpretation des Anderen daraufhin zu befragen, ob hier ein Aspekt der auszulegenden Schriften treffend dargestellt werden konnte und dadurch die eigene Interpretation gefördert wird, sei es, dass sie vertieft, erweitert oder auch falsifiziert wird. Gemeinsam lernen wollen: zu dieser Haltung ruft das Sozietätskriterium auf.15 Ergeb————— 15

Der ganzen Idschtihad-Theorie liegt dieser Aspekt zugrunde.

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nisse der Interpretation dürfen nicht als kontextlose und wertfreie Wahrheit dargestellt und der Öffentlichkeit präsentiert werden, sondern als mögliche, unter hermeneutischen Prämissen und methodischen Vorgaben erarbeitete Beiträge einer gemeinsamen Erschließung von Welten, die als solche in ein Gespräch mit anderen Auslegungen einzutreten in der Lage und willens sind. Darauf zielt das dritte Kriterium einer ethisch verantworteten Interpretation, das Kontextualitätskriterium: Eine Interpretation ist gut, wenn sie ihre kulturelle, und das heißt auch: ihre politische Verortung, offenlegt und sich als Beitrag zur kommunikativen Erschließung der Welt präsentiert. Hinsichtlich der Positionierung der Lesenden sind veränderbare von unveränderbaren Aspekten zu unterscheiden. Biologische Dispositionen sowie die soziale und kulturelle Herkunft sind nicht veränderbar, Hermeneutik und Methode sowie der Untersuchungsgegenstand und die jeweilige Fragestellung hingegen unterliegen einer Wahl. Während die unveränderbaren Aspekte der Position der Ausleger und Auslegerinnen unter Berücksichtigung der notwendigen Interaktion von Text und Leser die Unhintergehbarkeit einer Vielfalt von Lektüren unterstreicht, verweist die Wahlmöglichkeit auf den ideologischen Aspekt jeder Interpretation. Ich lese z.B. als italienische Frau, als deutscher oder türkischer Mann, aber ich habe als erwachsener, mündiger Mensch die Möglichkeit, andere Kulturen kennenzulernen, von anderen zu lernen, und ich habe die Wahl zwischen verschiedenen Untersuchungsgegenständen, Fragestellungen und Frageabsichten. Da unveränderbare und veränderbare Aspekte die Position des Auslegers gleichermaßen bedingen, ist hier weder einer Determination der Auslegung noch einer absoluten Autonomie der Lesenden das Wort zu reden. Die unveränderbaren Aspekte machen es zur ethischen Pflicht, die eigene Perspektive als eine unter anderen wahrzunehmen und einzubringen. Die Möglichkeit der Wahl macht es zur Pflicht, die gewählte Hermeneutik, Methodik, Thematik und Fragestellung auf ihre gesellschaftliche Wirkung hin zu befragen. Dabei vermeidet die Rückbindung an das Realitätskriterium, die Interpretation in political correctness erstarren zu lassen.

VI. Die Notwendigkeit der Kritik Die theologische Hermeneutik der Offenbarung, die Semiotik der Schrift und die Ethik der Interpretation arbeiten mit notwendigen Unterscheidungen. Diese kritische, unterscheidende Grundhaltung ist die unhintergehbare Voraussetzung jeder Wissenschaft. Sie ist kein Selbstzweck, sondern der Komplexität der Sachverhalte geschuldet. Sie ist aber gerade auch mit Blick

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auf die normativen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islam notwendig und hilfreich. Fundamentalisten und Ideologen jeder Art begehen den sachlichen Fehler, unkritisch gegenüber ihrer eigenen Interpretation zu sein. Sie unterscheiden nicht ihre Sicht der Dinge vom Interpretationsgegenstand. Eine kritische Hermeneutik der Schrift und eine kritische Ethik der Interpretation weiß dagegen, dass der Tanakh, die Bibel, der Koran immer reicher sind und bleiben, als nur eine Interpretation es zu zeigen vermag. Es gilt das Auszulegende in all seinen Möglichkeiten von der standortgebundenen Auslegung des oder der Interpreten zu unterscheiden. Selbstkritik gehört notwendig zu jedem interpretativen Handeln. Diese Bescheidenheit ist aber auch religiös geboten. Wer nicht zwischen dem Wort Gottes und der eigenen Verstehensweise unterscheidet, setzt sich mit Gott gleich. Das ist nicht fromm, das ist blasphemisch. Es raubt Gott die Ehre, allein Gott zu sein, und maßt sich an, mit göttlicher Autorität selbstmächtig zu handeln. Alle religiösen Fundamentalisten begehen diese Blasphemie. Sie unterscheiden nicht ihr begrenztes religiöses Gefühl von der Unermesslichkeit Gottes. Das hat nichts mit Glauben, sondern nur mit maßloser Überheblichkeit zu tun. Die Selbstkritik als Unterscheidung zwischen dem Interpretationsgegenstand und meiner jeweiligen Interpretation ist wissenschaftlich notwendig und religiös geboten. Ebenso notwendig ist die Sachkritik. Religiöse Traditionen haben nicht nur Gutes bewirkt. Bis heute verbietet die römisch-katholische Kirche mit Bezug auf biblische Texte Frauen den Zugang zum Priesteramt und entmündigt sie damit auf unerträglich patriarchalische Art und Weise, deren Wurzeln aber eben auch in biblischen Texten zu finden sind16. Es bedarf einer kritischen Interpretation der Bibel selbst, die unterscheidet zwischen der heilvollen Botschaft des christlichen Evangeliums, das alle Menschen gleichermaßen als geliebte Geschöpfe Gottes ansieht, und der kulturellen Verankerung auch der biblischen Texte in die Unterdrückungsstrukturen ihrer Entstehungskulturen. Wenn im Koran dem Ehemann erlaubt wird, die Ehefrau in bestimmten Grenzfällen zu schlagen, dann kann man historisch erläutern, dass dies sogar eine Begrenzung der Gewalt von Männern gegen Frauen intendierte. Gleichwohl muss man aus dem Gleichheitsprinzip der Barmherzigkeit Gottes den Wortlaut des Koran an dieser Stelle um seiner Intention willen kritisieren und betonen, dass Gewalt von Männern gegen Frauen in keiner Weise und unter keinen Umständen gottgefällig und zu rechtfertigen ist. ————— 16 Im Tanakh genauso wie im antiken Judentum finden sich deutliche Spuren des Matriarchats, der den Frauen eine privilegierte Position auch im sozialen und politischen Kontext gab.

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Gott hat gesprochen – aber zu wem?

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Weil Tanakh, Bibel und Koran in bestimmten historischen und kulturellen Situationen entstanden sind, transportieren sie nicht nur die heilvollen und wahren Botschaften Gottes, sondern auch destruktive, ungerechte, unterdrückende Machtstrukturen vergangener Kulturen, die geradezu im Widerstreit zu den Heilsbotschaften für alle Menschen stehen. Hier ist aus theologischen Gründen die Unterscheidung zwischen förderlichen und benachteiligenden Schrifttraditionen zu treffen. Selbstkritik und Sachkritik könnten aber auch zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Tanakh, der Bibel oder des Koran führen. Es gibt viele Menschen, die die Welt nicht mit den Augen dieser Bücher sehen möchten. Eine religionsgeschichtliche oder philologische Interpretation einer Schrift kann ihr Verständnis auch dann erheblich fördern, wenn ihrem Wahrheitsanspruch nicht mit Einverständnis gefolgt wird. Theologische Interpretationen hingegen wollen die Denkbarkeit und Plausibilität der Wahrheitsansprüche der jeweiligen Schrift argumentativ entfalten. Der wissenschaftliche und gesellschaftliche Diskurs, der auf die grundlegenden Überzeugungen zielt, die in der freien, pluralen Gesellschaft gelten sollen, braucht beide Perspektiven und die Unterscheidung ihrer jeweiligen Reichweite. Nur solche Gesellschaften haben das Recht, sich als frei und plural zu bezeichnen, in denen es Wissenschaft und jedem Individuum öffentlich und ohne Repressalien zu befürchten erlaubt ist, sich zu einer Religion zu bekennen oder die Religionszugehörigkeit zu wechseln oder auch ein prinzipielles Nein zu Judentum, Christentum und Islam zu sagen.

VII. Schluss Die Notwendigkeit von Hermeneutik, Ethik und Kritik der Interpretation von Tanakh, Talmudim, Bibel und Koran liegt nicht erst in der historischen Differenz zwischen Produktions- und Rezeptionssituation begründet, sondern theologisch im Akt der Kommunikation Gottes mit seinen Geschöpfen und semiotisch in der Angewiesenheit menschlicher Kommunikation auf Zeichen. Da die semiotische Bedingung menschlicher Kommunikation bereits für jeden Wahrnehmungsakt die Unhintergehbarkeit der Interpretation offenlegt, weist sie jedweden Anspruch auf Unfehlbarkeit ab. Der Trialog zwischen Juden, Christen und Muslimen wird dann zum Erkenntnisgewinn für alle Beteiligten, wenn gleichermaßen der Konflikt der jeweiligen Wahrheitsansprüche und die semiotischen Bedingungen jeder Formulierung eines solchen bedacht werden. Nur solche Wissenschaft und

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nur solche Gesellschaften, in denen das offene Ja zu einer dieser Religionen und auch das öffentliche Nein zu allen Religionen, ohne gesellschaftliche Nachteile zu erleiden, möglich ist, erfüllen ein unverzichtbares Kriterium pluraler, freier Gesellschaften.

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Heiko Schulz

Patt Bemerkungen zum Konflikt zwischen Naturalismus und Theologie Heiko Schulz Patt »Dass ein Mann zugleich einfältig und tiefsinnig spricht: ›mit meinen bloßen Augen kann ich nicht sehen, wie ein Bewusstsein entsteht‹ – ist ganz in der Ordnung. Aber dass ein Mann das Mikroskop vor das Auge nimmt, und dann sieht und sieht und sieht – und es doch nicht sehen kann: das ist komisch; aber als Ernst ist es unendlich dumm.« Søren Kierkegaard (1846)1

I. Es ist nicht nur guter akademischer Brauch, sondern auch selbstverständliche Bringschuld eines jeden Autors, seine Leser zu Beginn mit rückhaltloser Offenheit darüber aufzuklären, womit er sie im Folgenden zu behelligen gedenkt. An diesen Brauch will ich gerne anknüpfen, die mit ihm verbundene Bringschuld unverzüglich einlösen. In diesem Sinne setze ich mit einigen orientierenden Vorbemerkungen zur Erläuterung meines Untertitels ein (zum Obertitel später!) – Bemerkungen, die die Komplexität der Kernprobleme des Themas, mit dem wir es zu tun haben, in hoffentlich hinreichender Schärfe vor Augen führen. 1. Erstens stellt mein Referat Bemerkungen zum Verhältnis bzw. zum Konflikt zwischen Naturalismus und Theologie in Aussicht. Indem ich – explizit allerdings erst ganz am Schluss – über Theologie spreche, spreche ich nicht als Theologe; ich spreche vielmehr, zumindest im vorliegenden Fall, über weite Strecken als Religionsphilosoph. Streng genommen handelt ————— 1 S. KIERKEGAARD, Eine literarische Anzeige (= Gesammelte Werke, hg. u. übers. v. E. HIRSCH, 17. Abteilung), Düsseldorf 1954, 130.

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es sich im Folgenden also um religionsphilosophische Bemerkungen zum Konflikt zwischen Naturalismus und Theologie, ja genauer noch: um ein Stück christlicher Religionsphilosophie. Diese Näherbestimmung ist nicht modal, sondern gegenstandstheoretisch zu verstehen: Ich reflektiere nicht als Christ oder im Medium des christlichen Glaubens, sondern über diesen, und auch dies nur, insoweit der Glaube sich selber bereits theologisch reflektiert hat und/oder reflektieren lässt. Jeder Religionsphilosoph sucht ja erstens und in Übereinstimmung mit dem Religionswissenschaftler Aufschluss darüber, was Religion in Wahrheit ist (ob allgemein, im Speziellen oder im Besonderen). Er will aber im Unterschied zu diesem auch und vor allem wissen, ob das, was in Wahrheit Religion genannt zu werden verdient, wahr ist, d.h. die Bedingung der Beweis- und/oder Wahrheits- – zumindest aber: der Rechtfertigungsfähigkeit – erfüllt oder erfüllen kann. Eben dies unterscheidet ihn aber zugleich und zweitens vom Theologen, wobei die Hinsicht dieser Unterscheidung erkennen lässt, dass dieser im Grunde nichts anderes ist als ein Religionswissenschaftler besonderer Art: Der Religionsphilosoph zielt anders als der (vor allem: systematische) Theologe nicht nur auf den Nachweis der bloßen Ableitbarkeit gewisser Sätze aus anderen Sätzen als deren Wahrheitsbedingungen, bzw. auf den der Kohärenz entsprechender Aussagenmengen und -zusammenhänge;2 er will vielmehr in Erfahrung bringen, ob und inwieweit die hier als zugrunde liegend ausgegebenen Wahrheitsbedingungen ihrerseits überhaupt als erfüllbar – und wenn ja, ob sie im gegebenen Fall: als faktisch erfüllt – zu denken sind.3 Kurzum: Jeder christliche Religionsphilosoph ist christlicher Theologe. Jeder christliche Theologe ist Religionswissenschaftler. Einige Religionswissenschaftler sind christliche Theologen. Einige christliche Theologen – unter anderem: ich selbst – sind christliche Religionsphilosophen. 2. Meine zweite Vorbemerkung dient der Erläuterung des Naturalismusbegriffs. Der Naturalismus tritt historisch wie im Kontext der aktuellen philosophischen Debatte in zwei Varianten auf, einer schwächeren, rein erkenntnistheoretischen, und einer stärkeren, die die erkenntnistheoretische Lesart ————— 2 So kann z.B. der Glaube an das Fegefeuer nur, aber auch immer dann als wahr und/oder gerechtfertigt gelten, wenn sich dieser offenbarungstheologisch ableiten, d.h. auf das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus als seiner Ermöglichungs- und Rechtfertigungsbedingung zurückführen lässt. Dass die genannte Möglichkeitsbedingung ihrerseits erfüllbar, ja überdies faktisch erfüllt ist, wird dabei schlicht – und erkenntnistheoretisch ganz zu Recht – vorausgesetzt. 3 So steht etwa im Kontext des christlichen Glaubens das Bekenntnis zur Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus als primäre Wahrheitsbedingung im Zentrum und verdient und verlangt als solche religionsphilosophisch reflektiert zu werden.

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mit einer weiter reichenden ontologischen Standortbestimmung verknüpft.4 Der schwache Naturalist behauptet, dass nur dasjenige klar erkennbar ist und also Gegenstand von Wissenschaft sein kann, was sich mit den Methoden der Naturwissenschaften (insbesondere Chemie, Physik, Biologie) erfassen, beschreiben und erklären lässt. Er führt auf diese5 Weise eine kritische Unterscheidung ein zwischen dem Erkennbaren und dem Unerkennbaren – gleichwohl aber möglicherweise Wirklichen. Vertreter der stärkeren, erkenntnistheoretisch-ontologischen Lesart behaupten hingegen, dass nur dasjenige wirklich genannt zu werden verdient, was in die Klasse des solcherart Erkennbaren fällt. Hier wird der Naturalismus unversehens zum Instrument der kritischen Unterscheidung zwischen Sein und Schein, Wirklichkeit und Fiktion. In dieser letzteren Hinsicht kann der Naturalismus durch zwei leitende Gegenbegriffe spezifiziert werden: Offenbarung und Geist. Alle ontologischen Naturalisten sind Leugner der Möglichkeit einer göttlichen Offenbarung und in diesem Sinne Atheisten; denn jede derartige Offenbarung ist selbst dann, wenn man sie frei nach Rudolf Bultmann als eschatologisches Ereignis auffasst, eo ipso übernatürlichen Ursprungs und kann folglich nur vom Standpunkt des Supranaturalisten als wirklich behauptet werden. Einige ontologische Naturalisten bestreiten aber darüber hinaus auch die Möglichkeit von Geist – als einer irreduzibel nichtmateriellen Entität. Als solche vertreten sie den Standpunkt eines idealismuskritischen Materialismus, und zwar in seiner ontologisch reduktionistischen Spielart: Alles Natürliche ist Materie – wenn auch nicht alles Materielle notwendigerweise natürlich. Im Prinzip müsste man nun en détail erläutern, wie der offenbarungskritische Naturalismus zum materialistischen, bzw. der erkenntnistheoretische zum ontologischen sich verhält – insbesondere mit Blick auf die Möglichkeit eines nicht-materialistischen bzw. nicht-reduktionistischen Naturalismus ontologischer Provenienz.6 Wir können uns diesen komplizierenden Umweg hier ersparen, und zwar schlicht deshalb, weil diejenige Variante des Naturalismus, mit der als der gegenwärtig dominierenden wir es im Folgenden ausschließlich zu tun haben, in die Klasse nicht nur der Offenbarungsleugner, sondern7 auch der mehr oder minder kruden Materialisten gehört. Es wird, genauer gesagt, um ————— 4 Vgl. J.F. POST, Art. Naturalism, in: R. AUDI (Hg.), The Cambridge Dictionary of Philosophy, Cambridge 1996, 517f. 5 Übrigens: seinen eigenen Kriterien zufolge unwissenschaftliche! 6 Vgl. J.F. POST, Naturalism, 518. 7 Von S. HARRIS, (The End of Faith. Religion, Terror, and the Future of Reason, NewYork/ London, 22005) abgesehen, der dem Lager der Naturalisten nicht ohne weiteres zugeordnet werden kann, gleichwohl ansonsten aber zahlreiche Überzeugen der naturalistischen Vertreter des Neuen Atheismus teilt. Es gilt hier wie auch sonst die Regel: Jeder, aber nicht nur der Naturalismus ist ein Atheismus.

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die bzw. einige Hauptvertreter dessen gehen, was seit einigen Jahren unter dem Label ›Neuer Atheismus‹ bekannt und medienwirksam lanciert wurde, freilich religionsphilosophisch gesehen wenig mehr bietet als eine neodarwinistisch aufgeschminkte Variante der naturalistischen Religionskritik des 19. Jahrhunderts.8 Dabei bitte ich von vornherein im Blick zu halten, dass die Reichweite meiner Kritik durch deren theorietypologisch eingeschränktes Adressatenspektrum begrenzt und möglicherweise relativiert wird. 3. Dritte Vorbemerkung: Drei Grundüberzeugungen, die sich auf das im Titel meines Vortrags im Begriff ›Konflikt‹ Angedeutete beziehen, stehen im Hintergrund der nachfolgenden Überlegungen, wobei ich hoffe, dass diese die Berechtigung jener Überzeugungen zumindest ein stückweit bestätigen und untermauern werden. Erstens: Niemand kann Christ und starker Naturalist sein. Zweitens: Einige Supranaturalisten sind schwache Naturalisten. Drittens: Jeder Christ ist Supranaturalist.9 Bestehen diese Grundüberzeugungen zu Recht, dann herrscht, gewissermaßen an der Basis, nicht nur ein unüberbrückbarer Konflikt zwischen dem Selbst- und Weltverständnis des christlichen Glaubens und dem des starken qua ontologischen Naturalismus; es liegt zugleich und in analoger, obschon abgeleiteter Weise ein Konflikt zwischen diesem und jener systematischen Selbstauslegung des christlichen Glaubens vor, die wir als Theologie oder christliche Religionswissenschaft zu bezeichnen berechtigt sind.10 4. Meine vierte und letzte Vorbemerkung ist methodischer Art. Ich werde im Folgenden über weite Strecken ausschließlich Leitideen und Kernthesen des naturalistischen Atheismus präsentieren – und auch diese nur insoweit, wie sie zur Erhellung von dessen (primär: genetischem) Erklärungsanspruch im Blick auf vier fundamentale Phänomenbestände beitragen: ————— 8

Vgl. dazu H. SCHULZ, Alter Wein in neuen Schläuchen oder die Wiederkehr des Trivialen. Zur Kritik des sogenannten Neuen Atheismus, ThLZ 135 (2010), 3–19; zur naturalistischen Religionskritik des 19. (und 20.) Jahrhunderts vgl. K. NIELSEN, Naturalistic Explanations of Theistic Belief, in: P.L. QUINN/CH. TALIAFERRO (Hg.), A Companion to Philosophy of Religion, Cambridge 1997, 402–409. 9 Begründung: (1) Jeder Christ behauptet die Möglichkeit und Wirklichkeit einer göttlichen Offenbarung. (2) Die Behauptung der Wirklichkeit einer göttlichen Offenbarung ist weder aus der Perspektive des schwachen noch aus der des starken Naturalismus möglich. (3) Jeder, der von dem, was aus der Perspektive des (schwachen wie des starken) Naturalismus zu behaupten unmöglich ist, dasjenige als wirklich behauptet, dessen Möglichkeit durch Gott notwendig bedingt wird, ist Supranaturalist. (4) Also ist jeder Christ Supranaturalist. 10 Dass und inwieweit dieser unüberbrückbare Konflikt im ontologischen Ausgangspunkt gleichwohl mit einem Ergänzungsverhältnis zwischen Theologie und Naturalismus auf rein naturwissenschaftlicher Ebene zusammen bestehen kann, versuche ich zu zeigen, in: H. SCHULZ, Darwin und die Theologie, in: H.W. INGENSIEP (Hg.), Darwin und die Wissenschaften, Essen 2010 (im Erscheinen).

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Werden, Leben, Bewusstsein und Religion. Dieser Entscheidung liegt nicht nur, aber unter anderem die Einsicht zugrunde, dass Theologie und Christentum neuzeitlich durch Wissenschaft und profanes Wahrheitsbewusstsein immer stärker unter Reflexions- und Rechtfertigungsdruck geraten sind – ein Umstand, den ich vorbehaltlos begrüße, und zwar umso mehr, als er mir als Theologen und Religionsphilosophen die willkommene Gelegenheit verschafft, den Spieß zur Abwechslung einmal umzudrehen: In diesem Sinne werde ich zumindest indirekte Apologie betreiben, indem ich die Kernthesen des Naturalismus und deren Begründung einer radikalen Kritik unterziehe – einer Kritik, die, wie ich hoffe, zeigen zu können, schon deshalb als durchgreifend gelten darf, weil sie den Gegner in einem weit schwächeren Erklärungsanspruch angreift als dem, den dieser faktisch erhebt, weshalb binnentheologische Konkurrenzhypothesen dabei gänzlich aus dem Spiel bleiben und bleiben können; aus welchen Gründen und in welchem Sinne ich gleichwohl berechtigt zu sein glaube, in den zur Debatte stehenden Fragen ein Patt zwischen Naturalismus und Theologie konstatieren zu dürfen, dazu wird im Schlussabschnitt meines Textes das Nötige gesagt.

II. 1. Werden 1.1 Wir haben es wie gesagt zunächst und über weite Strecken mit Kernthesen und Autoren aus dem Umfeld des sog. Neuen Atheismus zu tun. Der Ausdruck, der zum ersten Mal Ende 2006 in einem Zeitschriftenartikel auftaucht, dient hier als Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Philosophen, Natur- und Sozialwissenschaftlern, denen bei aller Verschiedenheit im Detail eines gemeinsam ist: die Attitüde eines gleichermaßen aggressiven wie missionarischen Atheismus. Dieser verbindet sich mit der gezielt provokanten These, mit Hilfe ›neuer‹ Argumente aus Physik, Evolutionsund Soziobiologie, Psychologie, Philosophie, Kognitionswissenschaft und Sozialanthropologie sei es nunmehr möglich, dem ›Wahn des Gottesglaubens‹ und der Religion, insbesondere in deren institutionalisierter Form, den längst fälligen Todesstoß zu versetzen. Zu den Protagonisten dieser Bewegung, die nicht zuletzt seit den New Yorker Ereignissen vom September 2001 wachsenden Zulauf, in der Sache freilich zahlreiche Vorläufer jüngeren und älteren Datums hat, gehören die Biologen Richard Dawkins und Lewis Wolpert, die Philosophen Daniel Dennett und Sam Harris, der Psychologe Steven Pinker, der Physiker Victor Stenger und der Journalist Christopher Hitchens.

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Unter dem Stichwort Werden geht es an dieser Stelle zunächst und ausschließlich um die naturalistische Kosmologie des Neuen Atheismus und damit um dessen grundlegendsten, weitreichendsten und folgeträchtigsten Erklärungsanspruch. Diese Kosmologie basiert durchweg nicht auf der Annahme eines ewigen, sondern auf der eines zufällig und als solchen autopoietisch entstandenen Universums.11 Als Paradigma kann hier der Erklärungsansatz des Physikers Victor Stenger dienen.12 Stenger räumt zunächst offen ein, dass der Ursprung des Lebens, dessen Entwicklung nach seiner Auffassung zweifelsfrei durch evolutionäre Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, nicht seinerseits auf Evolution zurückgeführt werden könne, sondern dass hier »[s]ome prebiological process such as self-organization must have been involved«13. Diesem strenggenommen doppelten genetischen Sprung (von Nichts zum Sein, vom Sein zum Lebendigen) korrespondiere zwar eine faktische, aber keineswegs eine prinzipielle bzw. unüberwindbare Lücke im naturwissenschaftlichen Erklärungszusammenhang – und nur eine solche würde nach seinem Dafürhalten eine theistische Interpretation der Entstehung von Leben und Sein nahelegen bzw. plausibel erscheinen lassen.14 Eine prinzipielle bzw. naturwissenschaftlich unüberbrückbare Lücke, die als solche zu einer holistischen Interpretation nach dem Modell der theistischen Top-Down-Kausalität nötige, bestehe aber nicht, da die Bedingung der Möglichkeit rein zufälliger Selbstorganisation durch »purely reductionistic physics and chemistry«15 aufgeklärt und nahegelegt werde. Umgekehrt aber ist ein erklärungslogisch überflüssiger Gott wissenschaftlich betrachtet »indistinguishable from one who is non existent«16. Zwar mögen Religionen existieren, die durch dieses Verdikt nicht getroffen sind; der Gott des jüdisch-christlich-islamischen Theismus gehört jedoch ohne Zweifel nicht dazu. 1.2 Nun wird in Stengers Kosmologie fraglos unterstellt, dass das Universum nicht als, sondern durch Zufall entstanden ist. Diese Annahme ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst einmal ist Zufall der Name für eine Ereignisart und keine Ereignisursache. Da es sich um eine Ereignisart handelt, kann erstens nur Wirkliches zufällig sein; spezifiziert wird ————— 11 Vgl. z.B. R. DAWKINS, Der Gotteswahn, Berlin 22007, 222f.; D.C. DENNETT, Breaking the Spell, Religion as a Natural Phenomenon, New York 2006, 66 und 242f.; V. STENGER, God, The Failed Hypothesis, How Science Shows that God does not Exist, New York 2007, 164. 12 Vgl. dazu im Einzelnen: H. SCHULZ, Alter Wein in neuen Schläuchen oder die Wiederkehr des Trivialen, 9f.; R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹: A Critical Appraisal of Dawkins, Dennett, Wolpert, Harris, and Stenger, in: A. FLEW, There is a God. How the World’s Most Notorious Atheist Changed his Mind, San Francisco 2007, 161–183, 168ff. 13 V. STENGER, God, 65. 14 Ebd., 13. 15 Ebd., 64. 16 Ebd., 236

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diese Wirklichkeit zweitens dadurch, dass das jeweilige Ereignis (a) die Unkenntnis seines (b) als faktisch vorhanden unterstellten Zwecks und/oder seiner Ursache zu Bewusstsein bringt, und zwar (c) als etwas, das diese Unkenntnis in irgendeinem Maße als bedeutsam, ihre Aufhebung mithin als wünschenswert erscheinen lässt. Zufall ist, kurz gesagt, der Name für ein als verstehens- und erklärungsbedürftig zu Bewusstsein kommendes unerklärliches (oder mindestens: bislang unerklärtes) Ereignis.17 Im atheistischen Naturalismus wird der Begriff hingegen zu einer Ereignisursache hypostasiert,18 wobei diese, gewissermaßen als vermummter Agent, Prozesse allererst in Gang setzt. Und zwar gilt dies sowohl auf evolutionsbiologischer (zufällig verursachte individuelle Mutationen) wie auf kosmologischer Ebene (Zufall als Ursache des Universums). 1.3 Selbst wenn aber die Lesart des Zufalls als Ereignisursache prinzipiell möglich und zulässig wäre, spricht doch vieles gegen ihre im Verhältnis zur religiösen Kosmologie als ›vernünftig‹ bzw. wissenschaftlich apostrophierte Verwendung: Erstens kann die Aussage, dass die Existenz der Welt auf Zufall beruht, ganz ebenso wie die, dass Gott ihr Urheber ist, keine wissenschaftliche Hypothese sein.19 Sie ist vielmehr Metaphysik – zumindest im kantischen Sinn. Denn als Gegenstand wissenschaftlicher Hypothesen kommt nur dasjenige in Betracht, was der direkten oder indirekten Erfahrung zugänglich und d.h. zugleich analogiefähig ist; der Anfang der Welt – so sie denn einen Anfang hat – ist jedoch per definitionem analogielos. Die Zufallshypothese ist aber nicht nur Metaphysik, sie ist zudem schlechte Metaphysik: Zum einen ergibt im Unterschied zum Gottesgedanken der Begriff eines ens contingens als ens a se keinen vernünftigen Sinn. Zum anderen haftet der kosmologischen Zufallshypothese derselbe argumentationslogisch grundsätzliche Mangel an, den J.L. Mackie bereits an R. Swinburnes Stützung des Gottesglaubens mit Hilfe sog. C-induktiver Argumente bemerkt und mit aller wünschenswerten Klarheit beschrieben hat.20 Derartige Argumente sind nämlich (von anderen ————— 17

Woraus im Übrigen folgt: Es gibt keinen Zufall ohne Zeugen. Oder kategorial ausgedrückt: Zufall ist nur als solcher möglich. Von daher sind, um ein vielfach zitiertes Beispiel anzuführen, veränderte Schnabelformen einzelner Exemplare der Galapagos-Finken an sich keineswegs Zufall; sie können erst dadurch und dann als Zufall erscheinen und in diesem Sinne Zufall sein, wenn jemand sie als etwas Ungewöhnliches und d.h. als etwas rezipiert, das ihn zu der Frage veranlasst, welchem möglichen evolutionären Zweck ihre Genese geschuldet sein mag. 18 Und dies, obwohl hier gelegentlich durchaus Ansätze eines sachgemäßeren Verständnisses erkennbar sind. So notiert DAWKINS in einem früheren Text: »›Zufall‹ ist lediglich ein Wort, das unserer Unkenntnis Ausdruck gibt.« (Das egoistische Gen, Heidelberg 2007 [1976], 361; hier zit. nach R. SCHRÖDER, Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg u.a. 2008, 128). 19 Vgl. R. SCHRÖDER, Abschaffung der Religion?, 179. 20 Vgl. J.L. MACKIE, Das Wunder des Theismus. Argumente für und gegen die Existenz Gottes, Stuttgart 1987, 155–158.

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Voraussetzungen abgesehen) allenfalls dann triftig, wenn der jeweiligen Ausgangshypothese bereits an sich, d.h. noch vor und unabhängig von ihrer beabsichtigten Stützung durch entsprechende Beweisgründe, ein gewisser Wahrscheinlichkeitsgrad zukommt, der – wie immer spezifizierbar – jedenfalls größer ist als null. Indes, so wie jeder Zuschreibungsversuch einer intrinsischen Wahrscheinlichkeit im Falle der Gotteshypothese zum Scheitern verurteilt ist, ebenso auch im Blick auf die Hypothese eines schlechthin kontingenten, gleichwohl durch sich selbst existierenden und überdies komplexen, da vielfältige Regularitäten ausbildenden Universums. Die kosmologische Zufallshypothese verdient aber schließlich und drittens auch deshalb als Paradebeispiel schlechter Metaphysik verworfen zu werden, weil ihre Verfechter entweder nicht wissen oder aber nicht zugeben, dass sie Metaphysik ist und sie stattdessen für Wissenschaft halten oder jedenfalls dafür ausgeben. Kurzum, sie ist schlechte Metaphysik als absichtlich oder unabsichtlich verdeckter Irrationalismus.

2. Leben 2.1 Jeder Naturalist stellt und beantwortet als Evolutionstheoretiker zwei und nur zwei Fragen. Erstens: Wie war X (ein beliebiger Vorgang im Bereich des Lebendigen) möglich? Zweitens: Welches (überlebens- und fortpflanzungsspezifische) Problem löste X – und zwar unter den Bedingungen des umweltspezifischen Selektionsdrucks sowie den Mitteln zufallsbedingter Mutation und genetischer Vererbung? Mögliche Antworten auf die erste sind dabei durch die zweite Frage und deren mögliche Antworten bedingt und begrenzt, so dass beide auch in eine einzige Frage zusammengefasst werden können: Wie war X möglich, wenn nur möglich war, was – unter den gegebenen Bedingungen und mit den genannten Mitteln – ein überlebens- und fortpflanzungsspezifisches Problem löste? Die konsequente Anwendung dieser Frage als hermeneutischer Leitfaden für das Verständnis von Lebensprozessen hat sich zumindest im mikroevolutionären Bereich bewährt, ja als außerordentlich erfolgreich erwiesen, und insbesondere als biologischer Laie bin ich weit davon entfernt, gegenwärtig oder in naher Zukunft die Entdeckung irgendeiner ernsthaften Theoriealternative für wahrscheinlich oder auch nur für wünschbar zu halten.21 Die atheistischen ————— 21 Gegen die Theorie spricht auch prinzipiell nicht, dass zumindest im makroevolutionären Bereich das Prinzip der natürlichen Selektion allein offenbar nach wie vor nicht ausreicht, um den evolutionären Prozess als ganzen und im Detail verständlich zu machen – etwa, weil hier einschlägige empirische Belege (Fossilfunde) für entsprechende Übergangsformen zwischen Stämmen, Klassen, Ordnungen und Familien immer noch fehlen. Auch dürfte kein prinzipieller Einwand darin zu sehen sein, dass die Leistungsfähigkeit der Theorie im Allgemeinen, insbeson-

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Verfechter des Neodarwinismus ignorieren jedoch durchweg zwei grundsätzliche Probleme der Theorie, die als solche die Reichweite seines möglichen Erklärungsanspruchs erheblich beschneiden. Das eine betrifft die prinzipiellen Grenzen ihrer materialen Anwendung, das zweite deren formale bzw. erkenntnistheoretische Voraussetzungen. So kann bezogen auf den ersten Aspekt keine Variante das naturalistischen Evolutionismus durch Anwendung rein selektionstheoretischer Mittel den Ursprung des Lebens an sich bzw. den Übergang von Nichtlebendigem zu Lebendigem erklären.22 Dabei wird ja auch hier von der Konstatierung eben jenes erstaunlichen und eben deshalb erklärungsbedürftigen Tatbestandes ausgegangen, der als Ausgangspunkt für die in diesem Zusammenhang von Richard Dawkins primär ins Visier genommene Argumentation des Kreationismus und der Intelligent-Design-Bewegung fungiert: die extreme Unwahrscheinlichkeit eines Universums, das die Entstehung von Leben und Bewusstsein ermöglicht, ja nachgerade zu begünstigen scheint. Hier zu Erklärungszwecken die Gotteshypothese zu bemühen, ist Dawkins zufolge natürlich weder möglich noch nötig. Die Tatsache, dass überhaupt Leben entstanden ist, lässt sich s.E. vielmehr ebenso problemlos wie elegant auf rein wahrscheinlichkeitstheoretischem Wege erklären: »In unserer Galaxis gibt es nach Schätzungen zwischen einer Milliarde und 30 Milliarden Planeten, und das Universum enthält 100 Milliarden Galaxien [...] Nehmen wir nun an, die Entstehung des Lebens [...] sei wirklich ein unglaublich unwahrscheinliches Ereignis. Angenommen, es ist so unwahrscheinlich, dass es sich nur auf einem unter einer Milliarde Planeten ereignet [...] [S]elbst bei einer derart absurd geringen Wahrscheinlichkeit wäre immer noch auf einer Milliarde Planeten Leben entstanden – und einer davon ist natürlich die Erde.«23 Indes, dieses die »magic of large numbers«24 beschwörende Multiversum-Argument ist schon deshalb als bloßes Kuriosum zu werten, weil es sich abgesehen von anderen Gründen, die ihm den Boden entziehen,25 gegen ihn selbst wenden, d.h. reduktiv ad absurdum führen lässt: Demnach wäre z.B. eine e concessis ————— dere aber die ihrer jüngsten Spielarten (vor allem der Memtheorie) daran krankt, dass ihre Hypothesen als hoch spekulativ gelten müssen und/oder reinen Ad-hoc-Charakter haben. Vgl. dazu K. HÜBNER, Glaube und Denken. Dimensionen der Wirklichkeit, Tübingen, 2001, 50f. 22 A. KENNY, What I believe, London/New York 2006, 26f. 23 R. DAWKINS, Der Gotteswahn, 193. Um allerdings erklären zu können, dass und wie der natürliche Prozess von Mutation und Selektion überhaupt in Gang kommt, ist immerhin, wie Dawkins einräumt, ein einziger »Glücksfall« (ebd., 198), sprich ein genesekonstitutiver Zufall nötig – ein Zufall, dessen Eintreten vor dem Hintergrund der skizzierten Multiversumtheorie und ihrer stochastischen Implikationen freilich als »garantiert« (ebd.) gelten kann. 24 R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹, 173. 25 Vor allem der Tatsache, dass die Vorstellung eines Multiversums auf einer Äquivokation des Begriffs Universum beruht.

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hoch wahrscheinliche, wenn auch zugegeben grausame Laune der Natur denkbar, der sich die Existenz eines einzigen außerirdischen Planeten verdankt, dessen männliche Bewohner allesamt aussehen wie Richard Dawkins; oder die Existenz einiger weniger Planeten, auf denen Einhörner die Regel sind, oder – voilà: solche, die von Gott geschaffen wurden.26 2.2 Die zweite prinzipielle Schwierigkeit betrifft, wie gesagt, die Theorievoraussetzungen des naturalistischen Darwinismus selbst: Dieser kennt keine zielgerichteten, sondern lediglich kausalmechanische und artspezifisch zweckmäßige Naturabläufe, wobei letztere ihrerseits Resultat eines reinen Bottom-Up-Mechanismus, nicht aber Ausdruck einer Top-DownKausalität bzw. einer (a) inneren und dabei geistig bestimmten Gerichtetheit der natürlichen Prozesse auf (b) ein im Vorhinein bestimmtes letztes Ziel hin sein soll. Tatsächlich bleiben jedoch im Kontext der Evolutionsbiologie bereits die Möglichkeitsbedingungen von Zweckmäßigkeit in jenem artspezifisch eingeschränkten Sinn völlig im Dunkeln.27 Diese fungiert hier im Gegenteil als etwas, das der Naturalist schlicht voraussetzen und immer schon in Anspruch nehmen muss, ohne den Grund ihrer Möglichkeit innerhalb seines eigenen Theorierahmens einsichtig machen zu können. Denn als etwas, das Evolution erst möglich macht, kann Zweckmäßigkeit nicht ihrerseits auf dieser beruhen bzw. durch sie allererst zustande gekommen sein.28

3. Bewusstsein 3.1 Es ist kaum zu übersehen, dass Fragen wie die nach Eigenart und evolutionären Voraussetzungen des Bewusstseins im Allgemeinen wie des menschlichen Selbstbewusstseins im Besonderen29 gegenwärtig zu den am heißesten umkämpften Terrains in Erkenntnistheorie, Neurophysiologie und Kognitionswissenschaft gehören. In eigenartigem Kontrast hierzu steht die Dürftigkeit der bislang erzielten Ergebnisse. Unter den im vorliegenden Zusammenhang behandelten Autoren räumt etwa Richard Dawkins im Blick auf die Frage nach Eigenart und Genese des tierischen und menschli————— 26

Vgl. R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹, 173, der Dawkins’ Magie der großen Zahlen zu Recht als »an audacious exercise in superstition« (ebd.) brandmarkt. Die Beliebigkeit entsprechender Annahmen ergibt sich aus dem Umstand, dass diesen keine Ausgangswahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann. 27 K. HÜBNER, Glaube und Denken, 56. 28 Und dass sie noch unterhalb der organischen, d.h. auf der chemischen und physikalischen Ebene (deren Gesetzmäßigkeiten rein kausalmechanistischer Art und also gänzlich unabhängig von jeder Zweckmäßigkeit sind) zustande gekommen sein können soll, dürfte noch schwerer einsichtig zu machen sein. 29 R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹, 180ff.

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chen Bewusstseins mit überraschender Offenheit ein: »We don’t understand it.«30 Während Wolpert das Thema explizit ausklammert,31 versucht Dennett, das Rätsel rein funktionalistisch – und d.h. auf dem Wege seiner Eliminierung – zu lösen: Bewusstsein ist ontologisch auf eben jene, rein handlungsspezifische Funktion reduzierbar, deren Erfüllung es dient, Schmerz mithin nichts anderes als die Vermeidungsreaktion eines Organismus, die durch ihn ausgelöst wird.32 Existiert also Bewusstsein nicht als Phänomen sui generis, dann existiert auch nicht das Problem seiner Genese. Indes, angesichts dieser Radikalkur (›Operation erfolgreich, Patient tot‹) keimt in der Tat ein Verdacht auf, dem man frei nach John Searle33 am ehesten wie folgt ausdrücken kann: Der Funktionalist braucht keine Widerlegung – er braucht Hilfe. Ohnehin dürfte die naturalistischevolutionäre Erklärungsabstinenz in Sachen Bewusstseinsgenese mindestens im Bereich komplexerer Bewusstseinsformen kaum zufällig sein. Denn in diesem Punkt stößt sie an prinzipiell unüberwindbare Erklärungsgrenzen, die als solche durch das hier einzig zur Verfügung stehende Begriffs- und Theoriearsenal bedingt sind. Klassischer Fall ist die Genese des menschlichen Sprachvermögens – als einer notwendigen Bedingung für die Möglichkeit diskursiven Denkens. Da die Plausibilität jeder evolutionären Erklärung auf der (Einsicht in die reale) Möglichkeit individueller Mutationen beruht; und da Sprache per definitionem nur als soziale bzw. konventionell konstituierte gedacht werden kann, läuft die Annahme einer darwinistischen Sprachursprungstheorie auf eine schlichte contradictio in adjecto hinaus.34 3.2 Immerhin liegen mittlerweile eine Reihe von naturalistischen Beiträgen vor, die unabhängig vom Bewusstsein simpliciter oder vom Denken qua Wahrheitsbewusstsein immerhin die Genese des moralischen Bewusstseins aufzuklären versuchen. Eine besonders phantasievolle Variante bietet auch hier Richard Dawkins. Seine Skizze einer »darwinistischen Ethik«35 ————— 30

Ebd., zit. n. R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹, 176. Vgl. L. WOLPERT, Six Impossible Things Before Breakfast. The Evolutionary Origins of Belief, Norton 2007, 78. 32 Vgl. R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹, 174f. 33 Vgl. ebd., 175. 34 Vgl. A. KENNY, What I believe, 25: »It is not easy to see how the human race may have begun to use language because the language-using individuals among the population were advantaged and so outbred the non-language-using individuals. This is not simply because of the difficulty of seeing how spontaneous mutation could produce a language-using individual; it is the difficulty of seeing how anyone could be described as a language-using individual at all before there was a community of language users.« Angesichts dieser prinzipiellen Erklärungsgrenzen zeigt sich im Übrigen, dass Stengers rationalistische These, wonach die vorliegenden Lücken im naturwissenschaftlichen Theoriezusammenhang lediglich bis auf weiteres bestehen und also früher oder später geschlossen sein werden, auf einer petitio principii beruhen. 35 R. DAKWINS, Der Gotteswahn, 303. 31

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läuft in einem ersten Begründungsgang auf vier Hypothesen zur Erklärung der Genese – und Geltung! (s.u.) – eines »Altruismus auf Gegenseitigkeit«36 hinaus. Danach begünstigt erstens die natürliche Selektion Gene, »die das Individuum in Beziehungen mit ungleich verteilten Bedürfnissen und Gelegenheiten dazu veranlassen, etwas zu geben, wenn es dazu in der Lage ist, und sonst um etwas zu bitten«37. Zweitens hat sich eine auf Gegenseitigkeit beruhende Verhaltensstrategie (›do ut des‹) prinzipiell als stabiler und evolutionär erfolgreicher erwiesen als die Taktik, individuelle Ernährungs- und Reproduktionsinteressen auf Kosten der eigenen Artgenossen durchzusetzen.38 Drittens bilden sich speziell unter Menschen »sekundäre Strukturen«39 aus – z.B. der Ruf, den jemand im Urteil seiner Mitmenschen genießt –, und auch hier kann man einen »Überlebensvorteil darin erkennen, wenn man nicht nur Gutes mit Gutem vergilt, sondern sich auch den Ruf erwirbt, sich so zu verhalten«40. Viertens erweist sich bereits im Tierreich der unmittelbare Nutzen einer offen zur Schau gestellten Großzügigkeit als wirksames Mittel zum Anlocken von Paarungspartnern und verschafft auf diese Weise Selektionsvorteile.41 Ein zweiter Begründungsgang setzt beim erklärungsbedürftigen Phänomen der jene Gegenseitigkeitsmoral transzendierenden, binnenspezifisch universalen bzw. artjenseitigen Moral an, wie sie im Humanbereich z.B. die christliche Forderung der Nächsten- und Feindesliebe exemplifiziert. Auch hier kann Dawkins die Gemüter seiner Darwin-fixierten Adepten beruhigen: Ähnlich wie im Falle der Religionsgenese (s.u.) ist die menschliche Disposition zur Nächstenliebe vermutlich eine evolutionäre Fehlfunktion – so wie beim »Teichrohrsänger, dessen Elterninstinkt in die Irre geht, wenn der Vogel sich für einen kleinen Kuckuck abrackert«42. Auch hier liegt streng genommen ein »darwinistische[r] Fehler«, freilich ein durchaus »segensreiche[r], kostbare[r] Fehler«43 vor.44 ————— 36

Ebd., 305. Ebd., 301 38 Auf den Selektionsvorteil von kooperationsfordernden und -fördernden Memen verweist auch Dennett an entsprechender Stelle und motiviert so u.a. die Entstehung von (hier: organisierten) Religionen: »Ideas that encourage people to act together in groups […] will spread more effectively as a result of this groupishness than ideas that do a less effective job of uniting their hosts into armies« (D.C. DENNETT, Breaking the Spell, 185). Kooperationsfördernd scheinen dabei vorzugsweise diejenigen Meme, die als Interpretament einer eschatologisch-endgültigen Erfüllung universaler Bedürfnisse bzw. einer Realisierung der diesen zugeordneten Güter fungieren können – z.B. die Idee der individuellen Unsterblichkeit oder die der ewigen Seligkeit (vgl. ebd., 189). 39 R. DAWKINS, Der Gotteswahn, 302. 40 Ebd. 41 Vgl. ebd., 305. 42 Ebd, 306. 43 Ebd., 307. 37

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3.3 Im letzten Zitat deutet es sich bereits an: Die meisten darwinistischen Naturalisten sind ethische – und im Übrigen auch: erkenntnistheoretische – Realisten. Die Möglichkeit von Wahrheit, die prinzipielle Wahrheitsfähigkeit menschlicher Aussagen sowie das Recht des wahrheitsgläubigen Bewusstseins werden ebenso wenig bestritten wie die Möglichkeit und Wirklichkeit eines intrinsischen bzw. moralisch-unbedingten Guten. Beides wird vielmehr in der Regel schlicht vorausgesetzt und unhinterfragt in Anspruch genommen – nicht zuletzt im Blick auf den Geltungsanspruch der eigenen Theorie, aber auch zwecks Legitimierung jenes demonstrativ zur Schau gestellten Pathos moralischer Rechtschaffenheit, das der Verurteilung religionsmotivierter Gräueltaten in Geschichte und Gegenwart einerseits, dem Anspruch auf Überlegenheit einer atheistisch-humanistischen Ethik andererseits Nachdruck verleihen soll.45 Indes, hinter dieser vermeintlichen Selbstverständlichkeit verbirgt sich die philosophisch gravierendste, weil interne Inkonsistenz des Neuen Atheismus. Denn unter den Voraussetzungen eines evolutions- und soziobiologischen Naturalismus, wie er etwa von Dawkins, Dennett, Hitchens und Wolpert vertreten wird, ist weder ein ontologischer und/oder erkenntnistheoretischer noch ein ethischer (s.u.) Realismus überhaupt denkbar. Wahrsein und Gutsein werden hier jenseits ihrer evolutionstheoretisch funktionalen Restriktion zu sinnlosen und im Verwendungsfall widerrechtlich beanspruchten Begriffen. Es mag erklärlich sein, weshalb und inwiefern der Glaube, etwas sei der Fall (u.a.: der Glaube an die Möglichkeit der Wahrheit oder an die Möglichkeit des Guten) einen guten evolutionären Sinn hat – und überdies auch der, und sei es partiell fehlbare, vorhersage- und verhaltensregulative Erfolg solchen Glaubens. Dass aber dessen Wahrheit, mithin unter anderem die Erklärbarkeit des evolutionären Prozesses, seiner kausalen Gesetzmäßigkeiten sowie seines singulären Zieles (differentielle Reproduktion) an sich, überlebensbzw. reproduktionsnotwendig – und eben deshalb im Kontext dieses Prozesses auch möglich – ist, müsste, aber kann hier nicht gezeigt werden; denn wahr kann hier zwar alles, aber auch nur dasjenige sein, was sich im evolutionären Prozess als evolutionär erfolgreich durchsetzt, indem es der differentiellen Selbstreproduktion eines Individuums bzw. einer Gattung von Lebewesen dient. Auf diese Weise wird aus der Wahrheit eine rein pragmatische und d.h. hier auf den evolutionären Nutzen des jeweils als ————— 44 Stenger führt hingegen die Genese der Moralität statt auf einen evolutionären Fehler auf direkte kulturelle (im Unterschied zur rein biologischen) Evolution zurück: »You may call animal morality instinctive, built into the genes of animals by biological evolution. But when we include cultural evolution as well, we have a plausible mechanism for the development of human morality – by Darwinian selection.« (V. STENGER, God, 209). 45 Vgl. H. SCHULZ, Alter Wein in neuen Schläuchen oder die Wiederkehr des Trivialen, 10– 13.

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wahr Behaupteten vollständig reduzierbare Funktion. Und dies mit argumentationslogisch fatalen Folgen, da der Darwinismus sich hiermit in wahrheitstheoretischer Hinsicht bereits durch seine eigene Selbstwidersprüchlichkeit erledigt: Immer, freilich nicht nur dann, wenn er wahr ist, ist er falsch – denn nichts kann er recht verstanden so wenig brauchen bzw. mit Recht beanspruchen wie (unter anderem: seine eigene) Wahrheit.46 Den darwinistischen Naturalisten treffen mithin die Konsequenzen seiner eigenen Theorie mit aller Härte: Entweder er erhebt für sich selbst eben jene universalen, objektiven und eben damit funktionalisierungsresistenten Geltungsansprüche, die als solche die Prinzipien derjenigen Theorie gerade widerlegen, für die jene Ansprüche erhoben werden; oder diese Geltungsansprüche werden umgekehrt durch eben diejenige Theorie, für die sie erhoben werden, funktionalistisch relativiert. 3.4 Ganz analog besteht für den Darwinisten – NB: als solchen – keine Möglichkeit, Entscheidungen, äußere Handlungsvollzüge, handlungsunabhängige Ereignisse, Vorgänge oder Zustände als ›gut‹ in einem ontologisch irreduziblen bzw. intrinsisch-moralischen Sinne zu bezeichnen, kurz: »Er muss einem ethischen Realismus das Wort reden.« ›Gut‹ bezeichnet unter diesen Theorievorzeichen eine rein instrumentale Eigenschaft der genannten Entitäten. Das Gute ist recht verstanden mit dem Mächtigen i.S. dessen koextensiv, was dem Überleben des reproduktiv Stärkeren bzw. Erfolgreicheren nützt. Und jeder Stärkere, d.h. differentiell Reproduktionsfähigere, ist als solcher ›gut‹, und ebenso das von ihm Entschiedene bzw. Vollzogene. Wie am Beispiel der Dawkinsschen Spekulation soeben gezeigt wurde, kann der Darwinismus allenfalls darüber aufklären, wie und aus welchen evolutionsfunktionalen Gründen Menschen zu dem Glauben gelangt sein können, moralisch handeln zu sollen; dass sie moralisch handeln sollen, davon weiß er – jenseits rein klugheitspragmatischer Erwägungen – nichts und kann er nichts wissen.47 Angesichts dessen stimmt durchaus bedenklich, dass die Helle des atheistischen Bewusstseins offenbar nicht einmal hinreicht, um auf der Höhe eines philosophischen Proseminars zwischen Genese und Geltung moralischer Sätze unterscheiden zu können.48 Tritt der evolutionäre Naturalismus im Namen der Moral auf, so tut er das ganz ————— 46

Vgl. A. MCGRATH, Der Atheismus-Wahn. Eine Antwort auf Richard Dawkins und den atheistischen Fundamentalismus, Asslar 2007, 37, und P. STRASSER, Warum überhaupt Religion? Der Gott, der Richard Dawkins schuf, München 2008, 87f., die mit Recht darauf hinweisen, dass die Verstehbarkeit des Universums selber ein verstehensbedürftiges Faktum darstellt – ein Faktum, das unter konsequent evolutionären Vorzeichen zu verstehen jedoch schlechterdings unmöglich ist. Vgl. in diesem Sinne auch R. SCHRÖDER, Abschaffung der Religion?, 75f. und 83; ferner R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹, 165ff. und 176–180. 47 Vgl. R. SCHRÖDER, Abschaffung der Religion?, 56; A. KISSLER, Der aufgeklärte Gott. Wie die Religion zur Vernunft kam, München 2008, 265. 48 Vgl. P. STRASSER, Warum überhaupt Religion?, 90.

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offensichtlich in Kraft von etwas, das er selber ausschließt – und das ihn seinerseits widerlegt.

4. Religion 4.1 Wie geht der Neue Atheismus als Naturalismus mit dem Phänomen der Religion bzw. mit dem des religiösen Bewusstseins um? Zunächst einmal selbstverständlich evolutionär – und d.h. zugleich: rein funktionalistisch. Offenkundig sind Dawkins’, Dennetts und in gewissem Sinne auch Wolperts Analysen dabei von vornherein religionskritisch motiviert: Formen und Lebensäußerungen der Religion werden erstens zurückgeführt auf deren – einzig und allein evolutionstfunktional aufklärbare – Genese; diese Rückführung soll zweitens belegen, dass jene Lebensäußerungen de facto nichts anderes sind als ein indirekter, unfreiwilliger und unbewusster Ausdruck von etwas, das dem expliziten Selbstverständnis des Subjektes dieser Lebensäußerungen offen widerstreitet. Mit dieser Argumentationsstrategie wird eine seit Mitte des 19. Jahrhunderts populäre, mittlerweile aber längst tot geglaubte Reduktionsfigur reanimiert – frei nach Feuerbach: Das Geheimnis der Theologie ist die Biologie.49 Die konkreten Erklärungsvorschläge der Autoren zeichnen sich dabei durch bunte Vielfalt – weniger wohlwollend: durch phantasiereichen Adhoc-Charakter und hohen Spekulationsgrad aus. So wurzelt Wolpert zufolge alle Religion in einer Fehlfunktion des evolutionär an sich nützlichen und insoweit im Kern berechtigten Glaubens an das Prinzip der Handlungskausalität – eine Fehlfunktion, deren Herausbildung durch die Konfrontation mit existentiell bedeutsamen, aber als unerklärlich und angsteinflößend erlebten Realitäten wie Leid und Tod bedingt und begünstigt wird.50 Kaum weniger einfallsreich ist der in der Grundthese (= evolutionäre Fehlfunktion) durchaus verwandte Erklärungsvorschlag von Richard Dawkins: Religion hat danach »keinen unmittelbaren Überlebenswert, sondern[...]ist ein Nebenprodukt von etwas anderem, das einen solchen Wert besitzt«,51 nämlich der Autoritätsglaube des Kindes gegenüber den Eltern und Stam————— 49 Wobei hier Feuerbachsches Niveau nochmals unterschritten wird: Für diesen fungiert das religiöse Selbstbewusstsein immerhin als erste und unüberspringbare, obschon indirekte und entfremdete Form des wahren menschlichen Selbst- qua Gattungsbewusstseins – und als solche verlangt es im Zuge der Generierung des letzteren sowohl individual- wie weltgeschichtlich angeeignet zu werden. Die religionsgenetische Theorie des Neodarwinismus ist im Gegensatz hierzu eine Form von radikalem Revisionismus und als solche nicht einmal aneignungsfähig (vgl. dazu H. SCHULZ, Alter Wein in neuen Schläuchen oder die Wiederkehr des Trivialen, 16). 50 Vgl. L. WOLPERT, Six Impossible Things Before Breakfast, 29, 118, 137. 51 R. DAWKINS, Der Gotteswahn, 239; Herv. H.S.

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mesältesten. Im Kern liegt hier, so Dawkins, ein ganz analoger Fall vor wie beim Flug der Motte in die tödliche Kerzenflamme, der nicht etwa eine rätselhafte Selbstmordneigung der Tiere indiziert, sondern als unbeabsichtigter »Nebeneffekt eines normalerweise nützlichen Kompasses«52 erscheint. Insekten nutzen bekanntlich Himmelskörper wie Sonne und Mond zur Orientierung. Das Funktionieren dieses »Lichtkompass[es]«53 beruht allerdings auf der Voraussetzung, dass der jeweilige Körper sich in der optischen Unendlichkeit befindet. Bei der Kerze ist das nicht der Fall, und so scheitert der Orientierungsversuch der Motte an einem fatalen, aber statistisch gesehen zu vernachlässigenden Irrtum. Analog im Falle der Religion: Das typische Selbstaufopferungsverhalten, das hier bis hin zum Märtyrertum bzw. zum gewaltsamen Selbstmordattentat jenem einen Grundimpuls entspringt, das sie selbst ermöglicht hat, ist analog zum Mottenbeispiel nichts weiter als die fehlgeleitete Anwendung einer im Prinzip evolutionsfunktional durchaus nützlichen Faustregel: »Vertraue den Älteren, ohne Fragen zu stellen.«54 Vor diesem Hintergrund kann Religion als ein statistisch zu vernachlässigender Unfall der Evolution betrachtet werden. Anders Dennett, dessen religionsgenetische Kernthese in Punkto Phantasiereichtum der seines Waffenbruders Dawkins allerdings kaum nachsteht: Während bei diesem der systematisch genährte, mindestens aber billigend in Kauf genommene Verdacht, Religion sei intrinsisch suizidal, durch die am Leitfaden der Mottenanalogie plausibilisierte Idee evolutionärer Unfälle immerhin pietätvoll abgemildert wird, gelingt Dennett dasselbe nur noch durch Zuflucht bei der religionskritisch beliebten Strategie der Pathologisierung: Religion ist eine Infektionskrankheit, verursacht durch – hier: memetischen55 – Parasitenbefall. 4.2 Die angeführten Versuche, religiöse Geltungsansprüche durch Reduktion auf die evolutionären Bedingungen der Genese jenes religiösen Bewusstseins zu widerlegen, das sie erhebt, bieten zugegebenermaßen, je für sich genommen, immerhin mögliche Erklärungen (der Genese) des fraglichen Phänomens. Ob sie, einzeln oder im Ensemble, erklärungs- und erst recht kritikhinreichend sind, kann allerdings füglich bezweifelt werden. Dass es sich um konträre Erklärungsansätze handelt, die als solche durchaus im Ensemble falsch, nicht aber zugleich wahr sein können, beweist zum einen, dass das Kriterium hinreichender Erklärungsfähigkeit de facto nicht erfüllt ist; es nährt und begründet zum anderen den Verdacht, dass es sich hier letztlich um reine Ad-hoc-Spekulationen handelt. Für entscheidender ————— 52 53 54 55

Ebd., 241. Ebd., 340. Ebd., 243. Vgl. D.C. DENNETT, Breaking the Spell, 128f., 186, 309f., 345f.

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halte ich in diesem Zusammenhang aber die indirekte Widerlegbarkeit des Anspruchs, hinreichende Bedingungen zur evolutionsfunktionalen Reduktion religiöser Wahrheitsansprüche zu benennen – eine Widerlegung, die den genannten Anspruch durch Aufweis von Konsequenzen ad absurdum führt, die die Realisierung eben jener geltungskritisch motivierten Absicht vereiteln, um derentwillen er selber erhoben wurde. So erledigt sich Dawkins’ religionskritisch motivierte Mottenanalogie56 bereits dadurch, dass sie ihre eigene religionskritische Absicht faktisch torpediert: Der Kerzentod der Motte (= das scheinbar selbstmörderische Verhalten des Religiösen) ist e concessis statistisch unerheblich, ein zu vernachlässigendes Nebenprodukt an sich nützlicher – und NB: evolutionär funktionaler! – Mechanismen. Unter dieser Voraussetzung geht aber die Religionskritik der Neuen Atheisten, zumal im Namen der Moral, gänzlich ins Leere: Islamistische Selbstmordattentäter sind danach der möglicherweise unvermeidliche, aufs Ganze gesehen jedoch leicht zu verschmerzende Preis für das generelle Funktionieren derjenigen Faustregel, von deren funktionaler Anwendung jene i.S. eines zu vernachlässigenden Nebenproduktes abweichen: »Vertraue den Eltern, ohne Fragen zu stellen«.57 ›Gut‹ handelt (und im Übrigen ›wahr‹ ist) eine Religion unter diesen Voraussetzungen, solange und in dem Maße, wie sie sich auf der Basis dessen, was sie als gut erstrebt und als wahr behauptet, im Kampf um differentielle Selbstreproduktion ihren Konkurrenten gegenüber durchzusetzen vermag. Und zwar ist sie in diesem Sinne ›gut‹ und ›wahr‹ ganz unabhängig davon, ob sie dem, was sie als gut und wahr vertritt, mit der Gewaltbereitschaft des Fanatikers oder aber auf friedlich-kooperativem Wege Geltung zu verschaffen sucht.58 Vollständig ›erklärt‹, d.h. in seinen eigenen Handlungsbedingungen evolutionär transparent gemacht werden kann der Mensch offenbar nur um den Preis, sich selbst für unzurechnungsfähig zu erklären. Alles verstehen heißt alles verzeihen: So läuft am Ende jeder naturalistische Atheismus auf humane Selbstentmündigung hinaus. 4.3 So wie ferner die Triftigkeit von Humes wunderkritischem Argument von der unbegründeten Voraussetzung abhängt, dass das, was jemand als Wunder bezeugt, tatsächlich in die Klasse des Wunderbaren fällt, ebenso lebt die Plausibilität der genetischen Religionskritik von der unbegründeten Voraussetzung, dass all das, was jemand im Namen von etwas als Religion (oder Christentum, oder Islam etc.) sagt oder tut, de facto Religion (oder ————— 56

Vgl. ebd., 241. Ebd., 243. 58 Hieran ändert auch die Idee der potentiellen Selbstzerstörung einer Religion durch parasitäre, die eigenen Trägersubjekte zwecks Selbstreproduktion usurpierende Meme nichts, wie Daniel Dennett spekuliert (vgl. D.C. DENNETT, Breaking the Spell, 186 und 309f.); denn für diese gelten dieselben Prinzipien. 57

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Christentum, oder Islam) genannt zu werden verdient. Indes, a priori ist – frei nach Kierkegaard – die Christenheit vom Christentum just ebenso weit entfernt wie der Vernünftige von dem, der seinen Behauptungen im Namen der Vernunft Geltung zu verschaffen sucht.59 Hier wie dort gilt die Dialektik von Idealität und Faktizität: Leider – und gelegentlich auch: zum Glück – widerspricht die Art und Weise, in der Menschen (etwas als ihre) Religion ausüben, den Grundsätzen dessen, worauf sie sich als (ihrer) Religion berufen.60 Anders und im Bilde der Ökonomie gesprochen: Gott ist nur um den möglicherweise überhöhten Preis derer zu haben, die in seinem Namen sprechen.

III. 1. Der lakonische Obertitel meines Textes hat den Nachweis einer argumentativen Pattsituation zwischen Theologie und (starkem) Naturalismus in Aussicht gestellt. Bislang habe ich diesen Nachweis nicht erbracht – und auch nicht erbringen können –, und zwar schon deshalb nicht, weil die genuin theologische Sicht der Dinge hier noch gar nicht berührt wurde. Aus einem bestimmten Grund, den ich sogleich nennen werde, kann ich mich diesbezüglich – zum Glück! – extrem kurz fassen. Doch zunächst ein knapper Blick auf den ersten Aspekt: ›Patt‹ (frz. pat) ist ein ursprünglich im Schach- und Damespiel beheimateter Terminus und bezeichnet hier eine Figurenkonstellation, die der im Spiel Unterlegene zum Erzwingen eines Remis nutzen kann. Im übertragenen, politisch-militärischen Kontext steht der Begriff für diejenige labile Stellung zweier Großmächte zueinander, in der keine von beiden im eigenen Interesse eine militärische Auseinandersetzung mit der anderen riskieren kann, beide also ein ›Gleichgewicht des Schreckens‹ bilden. Im vorliegenden Zusammenhang geht es einzig und allein um ein argumentationslogisches Patt. Es kann als solches unterschiedlich starke Typen ausbilden. Der schwächste liegt dann vor, wenn angesichts zweier konträr und/oder kontradiktorisch entgegengesetzter Hypothesen (oder Hypothesenbündel) der Versuch misslingt nachzuweisen, dass eine von diesen die Möglichkeit der Erklärung eines gegebenen Phänomenbestandes notwendig bedingt. Ein Beispiel: Der Ermittler in einem Mordfall findet in der Nähe des Tatortes Fußabdrücke der Größe 40; es gelingt ihm aber weder der ————— 59 Vgl. in diesem Zusammenhang Kisslers berechtigten Hinweis auf den blutigen ›Kult der Vernunft‹ im Gefolge der Französischen Revolution: A. KISSLER, Der aufgeklärte Gott, 260. 60 Speziell zu Dawkins’ naiv-reduktionistischem Religionsbegriff vgl. im Übrigen R. SCHRÖDER, Abschaffung der Religion?, 84; H. SCHULZ, Alter Wein in neuen Schläuchen oder die Wiederkehr des Trivialen, 4f.

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Nachweis, dass diese nur von dem Verdächtigen Peter, noch der, dass sie nur von der ebenfalls verdächtigten Sabine stammen können. Eine stärkere Variante liegt dann vor, wenn sich herausstellt, dass keine der betreffenden Hypothesen oder Hypothesenbündel die Bedingungen dessen erfüllt, was man mit Richard Swinburne ein korrektes C-induktives Argument nennen kann.61 Die Regel lautet hier: Tatbestand X ist immer dann ein Indiz für die Richtigkeit von Hypothese Y, wenn X unter der Voraussetzung der Richtigkeit von Y eher, d.h. mit größerer Wahrscheinlichkeit erwartet werden kann als unter Voraussetzung der Richtigkeit von Hypothese Z und/oder Nicht-Y. Schuhabdrücke der Größe 40 sind demnach immer dann ein Indiz für die Richtigkeit der Hypothese, dass sich Peter an deren Fundort aufgehalten hat, wenn die Vorfindlichkeit dieser Schuhabdrücke eher oder mit höherer Wahrscheinlichkeit unter Voraussetzung der Richtigkeit der PeterHypothese erwartbar wäre als unter Voraussetzung der Richtigkeit irgendeiner (konträren und/oder kontradiktorischen) Konkurrenzhypothese – etwa der, dass die Abdrücke von Sabine stammen. Eine noch stärkere, weil diesseits und ganz unabhängig von jeder wahrscheinlichkeitstheoretischen Abwägung angesiedelte Variante des argumentationslogischen Gleichgewichts liegt dann vor, wenn die entsprechenden Konkurrenzhypothesen je für sich genommen nicht einmal hinreichen, um das Vorliegen eines als erklärungsbedürftig diagnostizierten Tatbestandes verständlich bzw. restlos erklärbar zu machen. Um das Vorliegen von Schuhabdrücken der Größe 40 in der Nähe des Tatortes zu erklären, genügt in dem hier konstruierten Fall e concessis weder die Hypothese, dass Peter, noch diejenige, dass Sabine den fraglichen Weg beschritten hat: Denn Peter hat Schuhgröße 42 und Sabine pflegt barfuß zu gehen. Beide Hypothesen bieten also allenfalls zufällige (wenn nicht gar unmögliche), nicht aber hinreichende Erklärungsbedingungen für das Vorliegen des entsprechenden Phänomenbestandes. 2. Von eben dieser letzteren Art, so meine abschließende Kernthese, ist das Patt zwischen (starkem) naturalistischen Atheismus und Theologie, oder genauer: Es ist von der Art, die sich aus der Unentscheidbarkeit der Frage ergibt, ob zwei konkurrierende Hypothesen oder Hypothesenbündel hinreichende oder lediglich zufällige (wenn nicht unmögliche) Erklärungsbedingungen für den jeweils zur Debatte stehenden Phänomenbestand bieten. Wie wir gesehen haben, vertreten die meisten der hier ins Visier genommenen Naturalisten die Auffassung, dass Neodarwinismus und physikalische Kosmologie nicht nur mögliche oder bestenfalls hinreichende Erklärungsbedingungen für die Phänomenbestände Werden, Leben, Bewusstsein und Religion liefern, sondern notwendige, mindestens aber ————— 61

Vgl. R. SWINBURNE, Die Existenz Gottes, Stuttgart 1987, 16.

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solche, deren Geltung ein – jeder nichtnaturalistischen Konkurrenzhypothese gegenüber – signifikant höherer Wahrscheinlichkeitsgrad zukommt. Faktisch gezeigt hat sich jedoch, dass die zur Diskussion stehenden Hypothesen, anderslautenden Beteuerungen zum Trotz, nicht einmal erklärungshinreichend sind, und zwar größtenteils nicht aus kontingenten, sondern aus prinzipiellen, d.h. unter den gegebenen erkenntnistheoretischen Leitbedingungen unaufhebbaren Gründen. Nun könnte man, und damit komme ich zum zweiten und letzten Aspekt, durchaus versucht sein, aus dieser Sachlage theologisch Profit schlagen zu wollen: nämlich durch den Hinweis, dass der christliche Schöpfungs-, Erhaltungs- und Vollendungsgedanke samt der ihm inhärenten Vorstellung einer göttlich präformierten Top-Down-Kausalität im Unterschied zum Naturalismus in der Tat hinreichende Erklärungsbedingungen für die Genese, Gestalt und teleologische Bestimmtheit alles Seienden bis hin zum moralischen und religiösen Bewusstsein bereitstellt – wenn auch zugegebenermaßen keine notwendigen oder auch nur wahrscheinlichen. Ich halte diese apologetische Volte für wenig überzeugend.62 Zunächst ist festzuhalten, dass es sich beim jüdisch-christlichen Schöpfungsgedanken selbst dann, wenn dessen eigentlicher Sinn und theologische Funktion erst vom Erwählungsgedanken her einsichtig werden, gleichwohl – um einen Schöpfungsgedanken und d.h. hier eben auch: um eine Theorie der Weltentstehung und -entwicklung handelt. Wenn man nun – was ich hier freilich im Einzelnen nicht tun kann – die einschlägigen biblischen Kardinalbelege exegetisch durchbuchstabiert, dann muss man m.E. im Ergebnis mit aller Redlichkeit konzedieren, dass diese trotz ihrer insbesondere von Seiten der sog. Theistischen Evolution immer wieder zu Recht betonten Kompatibilität mit bestimmten Grundmotiven des Evolutionismus (z.B. dem der artspezifischen Abstammung laut Gen 163) mit diesem nicht nur im Detail in einer schwer ausgleichbaren Spannung stehen, sondern auch und vor allem untereinander.64 Interne wie externe Konsistenzprobleme ergeben sich hier also vor allem auf der heuristischen Detailebene – und d.h. zugleich jener ————— 62

Gegen Varghese, der (allerdings diesseits jeder spezifisch christlichen Perspektive) meint zeigen zu können, dass der Gottesgedanke an sich für die reale Möglichkeit von Werden, Leben und Bewusstsein nicht nur erklärungshinreichend, sondern auch notwendig ist: vgl. R.A. VARGHESE, The ›New Atheism‹. 63 Vgl. zur sog. Theistischen Evolution im Detail sowie zu meiner eigenen Fassung des Kompatibilitätsmodells, seiner Vorzüge und Grenzen: H. SCHULZ, Darwin und die Theologie. 64 Vgl. insbesondere die beiden Überlieferungsstränge Gen 1,1–2,4a und 2,4b–25. Daran ändert prinzipiell auch der Hinweis nichts, dass die Schöpfungserzählungen der Genesis (insbesondere die erste: Gen 1,1–2,4a) aus dem einen oder anderen Grund als sachlich differenzierter bzw. subtiler gelten können als eine physikalische Big-Bang-Kosmologie, wie z.B. von M. Welker behauptet und im Detail aufgezeigt wird (vgl. M. WELKER, Schöpfung, Big Bang oder Siebentagewerk?, in: GlLern 9 [1994], 126–140).

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Patt

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Ebene, auf der der evolutionäre Naturalismus, zumindest im Kontext des Verständnisses organischer Entwicklungsprozesse im Mikro- und Makrobereich, außerordentlich erfolgreich und in seinen Ergebnissen (kontra Kreationismus und Intelligent Design) kaum zu widerlegen ist. Meine ganze Pointe liegt nun im bescheidenen Hinweis darauf, dass eine apologetische Anstrengung wie die soeben beschriebene nicht nur vergeblich, sondern auch ganz überflüssig ist, und zwar schlicht deshalb, weil es auch unter Voraussetzung ihrer Vergeblichkeit bei der bezeichneten Pattsituation bleibt: Der Naturalismus ist im Detail erklärungsstark, laboriert aber an einer uneingestandenen und überdies schlechten Metaphysik; der Theologe stellt sich mit Recht und Bewusstsein auf den Boden starker metaphysischer Hypothesen, schwächelt aber im empirisch-heuristischen Detail. Das Ergebnis ist in beiden Fällen ein ›nicht ausreichend‹, sprich mangelhaft. Und selbst wenn sich die Gewichte zum Vorteil des Theologen ein stückweit verschieben würden – es bliebe doch im Grundsatz, frei nach Kierkegaard, die ›summa summarum der objektiven Ungewissheit‹. Der Gott des religiösen Glaubens wäre für das Verständnis von Genese und Gestalt der Welt, wie wir sie kennen, auch unter diesen Vorzeichen bestenfalls hinreichend, aber er wäre nicht notwendig. Umgekehrt mag all das, was als nichtgöttliche Alternative hier ernsthaft in Betracht kommt, erklärungslogisch zufällig sein; unmöglich ist es nicht. Mit diesem Ergebnis – man mag es begrüßen oder nicht – ist hoffentlich mindestens die im Titel meines Textes bezeichnete Pattsituation ›hinreichend‹ präzise bestimmt. Was diese Situation, wenn denn eine solche vorliegt, wissenschaftstheoretisch und philosophisch, vor allem aber: was sie theologisch und (mit Kierkegaard gesprochen) existenzdialektisch bedeutet, diese – de facto weit wichtigeren – Fragen sind damit noch gar nicht berührt, geschweige denn beantwortet. Bildlich gesprochen hat also mein Referat bestenfalls Schutt beiseite geräumt. Doch ist, dies zu tun, an sich weder verächtlich noch nutzlos, bisweilen vielmehr durchaus verdienstvoll. Denn was immer auch sichtbar wird, wenn der Schutt beiseite geräumt ist: Es wird etwas sein, das sichtbar wird als eines, das erst sichtbar wurde, als der Schutt beiseite geräumt war.

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Peter Steinacker

Verändern die fremden Götter den christlichen Gott? Oder: Kann man fremde Gottheiten (Heilspotenzen) als solche anerkennen und dennoch Christ und Monotheist bleiben? Peter Steinacker Verändern die fremden Götter den christlichen Gott?

I. Diese Frage gehört zu den zentralen offenen Leitfragen im konfliktreichen interreligiösen Dialog, und ihre Beantwortung wäre eine große Hilfe bei der Bestimmung der kirchen- und gesellschaftspolitischen Ziele der evangelischen Kirchenleitungen. Denn diese stehen vor den sich in teilweise atemberaubender Geschwindigkeit vollziehenden Veränderungen des gesellschaftlichen Sektors ›Religion‹, also des Sektors, in dem sich die ethisch orientierenden Gewissheiten der Teilnehmer am gesellschaftlichen Prozess bilden.1 Auch wenn die beiden großen christlichen Konfessionen in Deutschland viele Mitglieder durch Kirchenaustritt verloren haben oder in Folge der demographischen Entwicklung seit Jahren mehr Sterbefälle als Taufen verzeichnen, gehört ihnen nach wie vor auf’s Ganze gesehen die Mehrheit der Bevölkerung an. Im Rahmen der Migration innerhalb der EU ist der Anteil der griechisch-orthodoxen Menschen in Deutschland beachtlich gewachsen. Vor allem jedoch hat sich der Islam in seinen verschiedenen Konfessionen als zweite große Religion in Deutschland etabliert, mit unterschiedlicher Kraft und bisweilen sehr unterschiedlichem politischen Willen zur Integration. Das vom Grundgesetz her selbstverständliche Recht der Muslime, sich Moscheen zu bauen, führt nicht selten zu schweren Konflikten. Wiederum können sich selbst große muslimische Verbände nicht von der Lenkung durch Institutionen ihrer Heimatländer lösen, was den Integrationsprozess deutlich behindert. Gleichzeitig strömen asiatische Religionen in ihrer nahezu unüberschaubaren Vielfalt in die deutsche und europäische Religionslandschaft missionierend ein, zum Teil mit ursprünglich christlichen Missionsmethoden. Auffallend ist, dass die verschiedenen Religionen nicht wie scharf voneinander abgegrenzte Blöcke nur nebeneinander existieren und prinzipiell auf Eigenständigkeit bedacht wären. Das gibt es natürlich auch. Jedoch war ————— 1

Vgl. E. HERMS, Kirche in der Zeit, in: DERS., Kirche für die Welt, Tübingen 1995, 231–

317.

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diese abgrenzende Form des Zusammenlebens eher die Regel, die ich bei den Besuchen der Partnerkirchen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in Asien und Afrika vorgefunden habe. Das, was hier bei uns als interreligiöser Dialog seit langen Jahren und auch nicht immer konfliktfrei stattfindet, habe ich in dieser Form dort nicht vorgefunden. Bei uns dagegen finden auf akademischer und auf lebensweltlicher Ebene vielfache gegenseitige Beeinflussungen und Verschränkungen statt, die das Erscheinungsbild und das theologische Programm der jeweiligen Religion und ihrer Gruppierungen offen oder verdeckt auch verändern, aber nicht aufgearbeitet sind. Das anfangs hilfreiche ›Multi-Kulti‹-Paradigma genügt jedenfalls nicht mehr, um diese Wirklichkeit zielführend abzubilden, gar zu steuern und zu beeinflussen. Letztlich führt dieses Paradigma zu dem von Ingolf Dalferth beschriebenen postmodernen Interesse an Religion, das sich mit dem Desinteresse an der Kirche und am Dialog verbindet und dessen Form er schon 1995 zutreffend ›Cafeteria-Religion‹ genannt hat.2 Dennoch hat es Wirkungen erzeugt. Der Religionsmonitor der Bertelsmann-Stiftung signalisiert für die religiöse Szene in Deutschland das zunehmende Entstehen einer Religionsform, die sich ohne Rücksicht auf innere Kohärenz, und bezeichnenderweise ohne sich um eine inhaltliche Übereinstimmung mit dem Lehrbestand der Kirche, der man nominell angehört, zu kümmern, mit der authentischen Präsentationsfähigkeit eines individuellen ›Glaubens‹ begnügt.3 Hinzu kommt, dass sich die alte These von Max Weber, derzufolge sich im Zuge der Säkularisierung und Modernisierung der Gesellschaft die Religion allmählich in die Gesellschaft hinein auflösen würde, ganz offensichtlich nicht bewahrheitet. Kaum ein Tag vergeht, an dem nicht in der durch die Medien repräsentierten Öffentlichkeit von ›Lebensführung‹, ›Weisheit‹ oder ›Glaube‹, ›Atheismus‹ oder ›Religion‹ die Rede wäre. Offensichtlich wissen auch die durch und durch von der Säkularisierung geprägten Menschen in Deutschland, worum es geht, wenn und ob ›Religion‹ thematisiert wird. Dabei ist es gleichgültig, ob sie sich selber als ›religiöse‹ Menschen verstehen oder nicht.4 An dieser Tatsache ändert auch der Bestseller-Erfolg von Richard Dawkins fundamentalistischem Atheismus nichts, eher im Gegenteil.5 In den christlichen, speziell den evangelischen Kirchen gibt es immer wieder einmal Bewegungen, die sich dogmenkritisch geben und sich selber ————— 2 Vgl. I.U. DALFERTH, Was Gott ist, das bestimme ich!, in: DERS., Gedeutete Gegenwart, Tübingen 1997, 10–35. 3 Vgl. M. RIEGER u.a. (Hg.), Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007. 4 A. NASSEHI, Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitors, in: Religionsmonitor 2008, Gütersloh 2007, 113–157. 5 R. SCHRÖDER hat darauf eine gute polemische Antwort geschrieben: Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen, Freiburg i.Br. 2008.

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›auf dem Weg zu einem glaubwürdigen Christentum‹ wähnen und dabei durch ihre vorgeblich als ›Notwendigkeitserweise‹ eingestuften Veränderungsvorschläge unbemerkt selber dogmatistisch werden im Sinn von: alles andere darf nicht mehr geglaubt werden, weil es der Modernität angeblich nicht mehr angemessen ist.6 Mehr Aufmerksamkeit verdient W. Gräbs Nachdenken über Religion in der Mediengesellschaft7, das bemerkt, in welch großem Maß die Mediengesellschaft religionsbildend ist und die religiöse Kommunikation der Gesellschaft prägend mitbestimmt.8 Gleichzeitig mischen sich schon seit längerer Zeit Versatzstücke aus der Theologie, der Weisheit, der ›Mystik‹ und der Rituale anderer Religionen in die Glaubenswirklichkeit der Christenheit, einschließlich ihres pfarramtlichen Personals, in Theorie, Frömmigkeit und Lebensführung, ein, so dass man zumindest religionswissenschaftlich durchaus von der unsichtbaren Religion innerhalb der sichtbaren, das heißt, der in kirchlichen Strukturen verfassten Religion sprechen kann.9 Alle diese, auch milieubedingten, Veränderungen schlagen sich im Mitgliederverhalten der evangelischen Christen deutlich nieder und sind nach und nach leitend für die Reformbemühungen der Landeskirchen und schließlich auch der EKD geworden10 – heiß diskutiert mit offenem Ausgang. In unserem Zusammenhang fokussiert sich die Situation in der Frage, ob sich die Kirchenleitungen noch auf eine ›Gewissheitsgemeinschaft‹

————— 6 Beispielsweise K.-P. JÖRNS, Notwendige Abschiede, Gütersloh 22005. P.L. Berger hat schon 1980 darauf hingewiesen, dass sich die alte Themenliste der liberalen Theologie, die sich auf die Auseinandersetzung mit der Modernität konzentriert hatte, erschöpft hat: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, aus dem Amerikanischen übers. v. W. KÖHLER, Frankfurt a.M. 1980, 197: »Auf der Tagesordnung von heute steht das weit drängendere und bedrängendere Problem der Auseinandersetzung mit der Fülle menschlicher Religionsmöglichkeiten«. 7 W. GRÄB, Sinn fürs Unendliche. Religion in der Mediengesellschaft, Gütersloh 2002. 8 Zur Kritik an Gräbs ekklesiologischen Folgerungen und dogmatischen Empfehlungen vgl. M. MOXTER, Medien – Medienreligion – Theologie, in: ZThK 101( 2004), 465–488, bes. 476–482. 9 CH. BOCHINGER u.a., Die unsichtbare Religion in der sichtbaren Religion. Formen spiritueller Orientierung in der religiösen Gegenwartskultur, Stuttgart 2009. Ob man begründet von der unsichtbaren Religion sprechen kann, bezweifele ich. Es sind doch eher viele unsichtbare Religionen. 10 Aus der unüberschaubaren Fülle soll nur auf Weniges hingewiesen werden: Person und Institution. Volkskirche auf dem Weg in die Zukunft. Arbeitsergebnisse und Empfehlungen der Perspektivkommission der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau, Frankfurt a.M. 1992. W. HUBER/J. FRIEDRICH/P. STEINACKER (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge, Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006; KIRCHENAMT DER EKD (Hg.), Kirche der Freiheit. Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD, Hannover 2006; J. HERMELINK/TH. LATZEL (Hg.), Kirche empirisch. Ein Werkbuch, Gütersloh 2008.

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Kirche11 verlassen können, deren relativ klare, in einer gewissen Bandbreite wissenschaftlich theologisch formulierte Identität ihnen zu ebenso klaren, theologisch nachprüfbaren Unterscheidungen verhilft. Können sie einfach voraussetzen, dass möglichst alle Glieder dieser Gewissheitsgemeinschaft beispielsweise wenigstens eine der verschiedenen Formen der Kreuzestheologie wenn schon nicht glauben, so doch immerhin kennen? Für unsere Fragestellung zugespitzt: Sind wenigstens Pfarrerinnen und Pfarrer in der Lage, beispielsweise die wichtigsten Differenzen etwa zwischen dem Jesusverständnis des Koran und dem der Bibel benennen? Halten viele evangelischen Christen nicht alle Religionen, exemplarisch die tibetische des Dalai Lama, für ›irgendwie‹ dasselbe, etwa nach dem Motto: ›Wir haben doch alle denselben Gott‹?12 Können Kirchenleitungen darauf bauen, wenigstens verstanden zu werden, wenn sie darauf dringen, dass die religionswissenschaftlich unbestreitbaren Differenzen zwischen den Gottesverständnissen der verschiedenen Religionen zwar unter gewissen Bedingungen interreligiöse Gottesdienste erlauben und dennoch interreligiöse Gebete zugleich ausschließen, die vorgeben, sich an denselben Gott zu wenden? Nach meinen Erfahrungen ist das alles längst nicht mehr der Fall. Die Reaktion von Kirche und Theologie aber kann nicht sein, das alles als überflüssigen dogmatischen Ballast über Bord zu werfen und dem religiösen Subjektivismus anzuvertrauen. Manchen verführt die ›abrahamische Ökumene‹13 zu theologischer Verantwortungslosigkeit, den anderen hüllt das Zauberwort ›spirituell‹ in einen gewissen egalitären Nebel, wieder andere fühlen sich auf den Spuren der weltweiten Mystik, oder jedenfalls dessen, was sie dafür halten, in vielen anderen Religionen heimisch. Abgesehen davon, dass es vormodernes Denken ist, Respekt und Achtung voreinander nur in religiösen Gleichheiten, Entsprechungen bzw. Analogien begründet zu sehen, löst sich eine Religion als Gewissheitsgemeinschaft auf, wenn die Basis ihrer Identität nur subjektivistisch bestimmt wird. Alle großen Religionen wollen ja mehr sein als lediglich ›subjektive Glaubensüberzeugung‹, sie implizieren immer auch neben der Plausibilität die Weltzuwendung. Daher meine ich, dass besonders für das kirchenleitende ————— 11

Vgl. E. HERMS, Das Evangelium der Freiheit. Die Bedeutung der Kirche für die Demokratie, in: Handreichungen für den kirchlichen Dienst. Amtsblatt der Evangelisch-Lutherischen Kirche Sachsens, 14.12.2007, B 37. 12 Vgl. U. TWORUSCHKA, Glauben alle an denselben Gott? Religionswissenschaftliche Anfragen, in: CH. DANZ/U.H.J. KÖRTNER (Hg.), Theologie der Religionen, Positionen und Perspektiven evangelischer Theologie, Neukirchen 2005, 15–42; S. ASMUS/M. SCHULZE (Hg.), ›Wir haben doch alle denselben Gott‹. Eintracht, Zwietracht und Vielfalt der Religionen (FS F. HUBER), Neukirchen 2006. 13 Dazu kritisch B. SCHRÖDER, Abrahamische Ökumene? Modelle der theologischen Zuordnung von christlich-jüdischem und christlich-islamischem Dialog, in: ZThK 105 (2008), 456–487.

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Handeln die Beantwortung der oben gestellten Frage hilfreich und orientierend wäre. Welche systematisch-theologischen Hilfen stehen den Kirchenleitungen zur Verfügung, die gravierenden Veränderungen des Religionssektors und des religiösen Bewusstseins wahrzunehmen, zu verstehen und in kirchenleitendes Handeln zur Mitgestaltung der Gesellschaft umzusetzen? Die Ergebnisse der Arbeiten von Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Rudolf Bultmann, Friedrich Gogarten und Paul Tillich waren für die jeweilige Zeit sicher hilfreich, treffen aber nicht mehr unsere gegenwärtige Lage, am ehesten vielleicht noch Tillichs Überlegungen zum Verhältnis von Religion, Kirche und Kultur und den Weltreligionen.14 Für sie alle war die Säkularisierung der »Schlüsselbegriff ihrer Gegenwartsdeutung«15. Weil sie in der Religion lediglich »ein Element der Selbstauslegung des Menschen und seiner Gesellschaft«16 wahrnehmen konnten, was sie zwar auch ist, was aber nicht ihren Kern ausmacht, ist die bedauerliche Konsequenz, »dass Theologie und Kirchen den neu entstandenen Religionskulturen außerhalb der Kirchen und des Christentums weitgehend theorie- und empirielos gegenüberstehen«17. Gleiches gilt für die Binnenperspektive der Kirchen und für die oben genannte ›unsichtbare Religion‹. Beispielsweise wird man F.W. Graf zustimmen, dass die von Weber und Troeltsch »entfalteten religionssoziologischen Typenbegriffe Kirche, Sekte, Mystik oder die Unterscheidung von innerkirchlicher und außerkirchlicher Religiosität [...] kaum noch geeignet [sind; P.S.], die komplexen und heterogenen religiösen Lebenswelten der Gegenwart angemessen zu beschreiben«18 – jedoch, was bedeutet das für kirchenleitendes Handeln? Die Propagierung eines Protestantismus ohne Christus, oder den Verzicht auf das reformatorische ›solus Christus‹ um in der ›Kultur‹ anzukommen? ————— 14 P. TILLICH, Kulturphilosophische Schriften, in: MW/HW, Bd. II, hg. v. M. PALMER, Berlin/New York 1990; The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian (1966), in: Theologische Schriften, in: MW/HW, Bd. VI, hg. v. G. HUMMEL, Berlin/New York 1992, 431–441. 15 CH. SCHWÖBEL, Die Wahrheit des Glaubens im religiös-weltanschaulichen Pluralismus, in: DERS., Christlicher Glaube im Pluralismus. Studien zu einer Theologie der Kultur, Tübingen 2003, 28. 16 CH. LINK, Motive theologischer Religionskritik, in: W. GRÄB (Hg.), Religion als Thema der Theologie. Geschichte, Standpunkte und Perspektiven theologischer Religionskritik und Religionsbegründung, Gütersloh 1999, 115. Die Kritik an Bonhoeffers These wird doch nicht von der Behauptung eines ›religiösen a priori‹ her geführt, wie der Theologische Ausschuss der EKU als Versuch zur Entlastung Bonhoeffers suggeriert: W. HÜFFMEIER (Hg.), Votum des Theologischen Ausschusses der EKU, Das eine Wort Gottes für alle, Barmen I und VI, Bd. 2, Gütersloh 1993, 70f. 17 F. WAGNER, Religion II, in: TRE XXIII, Berlin/New York 1994, 540. 18 F.W. GRAF, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004, 259.

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Die Ausgangsfrage könnte jedoch aus der aktuellen Dogmatik beantwortet werden, weil man inzwischen sehr wohl dogmatisch wieder von ›Religion‹ handeln und sich dabei im Rahmen einer »Theologie der Religionen«19 bewegen kann, ohne sich sogleich dem Verdacht einer ›natürlichen Theologie‹ auszusetzen. Weil beide sich für die Religionen öffnen, sollen zunächst die Dogmatiken von Wilfried Härle20 und Hans-Martin Barth21 vorgestellt und befragt werden. Abschließend soll dann der Ertrag aus den beiden Dogmatiken mit Carl Heinz Ratschows Theologie der Religionen und einem Blick auf Luthers De servo arbitrio verbunden und damit eine Antwort auf die Frage versucht werden: Wie muss die Einheit und Einzigkeit Gottes geglaubt und gedacht werden, wenn die anderen Gottheiten nicht als Produkte der menschlichen Einbildungskraft oder gar als ein ›Nichts‹ (Jes 44, 9) verstanden und ihre Anhänger nicht als ›Heiden‹ abqualifiziert werden können (bzw. dürfen)?

II. Härle nimmt im Vorwort der dritten Auflage seiner Dogmatik eine Empfehlung von Michael Welker auf und ersetzt die vorher von Bultmann übernommene Gottesdefinition – ›die alles bestimmende Wirklichkeit‹ – durch die Formulierung: »Gott ist die Wirklichkeit, die Allem seine Bestimmung gibt«22. Diese Wirklichkeit bleibt nicht für sich. Sie offenbart sich und begründet damit ein komplexes dreigliedriges Verhältnis zwischen dem Urheber der Offenbarung, ihrem Empfänger und dem Inhalt bzw. Gehalt der Offenbarung.23 Im Ereignis der Offenbarung erschließt sich einem Menschen eine Person oder eine Sache und der mit ihr verbundene Gehalt auf eine ihm bisher verborgene und von ihm aus nicht zugängliche Weise. In der Offenbarung ereignet sich ein Erkenntnisprozess, der sich nicht erdenken lässt und sich dem Empfänger in seinem Gehalt als ein ›(umfassendes) Wirklichkeitsverständnis‹ präsentiert24, also als »unauflösliche[r] Zusammenhang von Gottesverständnis, Welt- und Selbstverständnis«25. Im christlichen Glauben ist Gott sowohl Urheber als auch Inhalt der Offenba————— 19

Vgl. den instruktiven Forschungsbericht von R. BERNHARDT, Theologie der Religionen, in: ThR 72/2007, 1–35; 127–149. CH. DANZ/U.H.J. KÖRTNER (Hg.), Theologie der Religionen, Neukirchen 2005. 20 W. HÄRLE, Dogmatik, Berlin/New York 32007. 21 H.-M. BARTH, Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen, Gütersloh 3 2008. 22 HÄRLE, Dogmatik, xvf. 23 Ebd., 82. 24 Ebd., 84. 25 Ebd., 83.

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rung, die folglich als Selbsterschließung Gottes gedacht werden muss.26 Mit diesem Verständnis von Offenbarung ist nicht gemeint, dass aus der Urheberschaft Gottes notwendig folgt, dass sich dieses Erschließungsgeschehen zum ›Glauben‹ formt. Das ist erst der Fall, wenn das ausgelöste Wirklichkeitsverständnis so »für eine Person erschlossen ist, dass ihr dessen Wahrsein einleuchtet oder jedenfalls möglich erscheint«27. In diesem Sinn ist das Christusgeschehen ein Offenbarungsgeschehen, selbst dann, wenn Jesus selber keinen expliziten Anspruch erhoben hat, Offenbarer Gottes zu sein28. Gibt es solches Offenbarungsgeschehen, bei dem enthüllt wird, was vorher verborgen war, auch außerhalb des Christusgeschehens? Die protestantische Orthodoxie hat mit ihren Distinktionen zwischen revelatio generalis und specialis ebensowenig eine Klärung in dieser Frage herbeigeführt wie die Barmer Theologische Erklärung von 1934. Denn es wird sogar biblisch mit Heilsoffenbarungen außerhalb von Christus gerechnet, beispielsweise in der Gestalt von Abraham. Daher kann theologisch »die Möglichkeit und Wirklichkeit von (heilbringender) Gottesoffenbarung außerhalb von Jesus Christus [...] nicht bestritten werden«29. In den anderen Religionen – zumal den monotheistischen Offenbarungsreligionen – erschließen sich also auch Wege zum Heil, die gegenüber demjenigen Menschen, dem sie sich erschließen, als mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit verbunden auftreten. Das Christentum ist also Religion unter Religionen und religiösen Gruppen, die alle von ›Offenbarungen‹ herkommen, d.h. dem Offenbarungsempfänger ein jeweils verschiedenes Wirklichkeitsverständnis erschließen.30 Wird dies anerkannt, dann ist Troeltschs geschichtsphilosophische Spekulation nicht zu halten, derzufolge das Christentum bisher nicht überboten wurde und von daher einen Absolutheitsanspruch erheben könnte. Härle kritisiert Troeltsch, er habe damit den Gehalt des Begriffs ›Absolutheitsanspruch‹ substantiell relativiert. In Wahrheit werde mit diesem Begriff die prinzipielle ›Unüberbietbarkeit‹ eines Wirklichkeitsverständnisses bezeichnet.31 Härle schließt sich daher Ratschows These an, der Anspruch auf absolute Wahrheit (in bezug auf das Heil) gehöre zu jeder Religion als Religion und gelte nicht exklusiv nur für das Christentum.32 Denn gerade das religiöse Moment einer ›Offenbarung‹ liegt in ihrem Gehalt, also im Urheber der Offenbarung, der sich dem ————— 26 27 28 29 30 31 32

Ebd. Ebd., 89. Vgl. ebd., 90. Ebd., 101. Ebd., 190. Ebd., 104. Ebd., 108.

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Empfänger dann als ›Gott‹ erschließt, wenn er sich als diejenige Wirklichkeit erschließt, ›die Allem seine Bestimmung gibt‹, wie oben gesagt. Härle erläutert am christlichen Offenbarungsbegriff, dass ihr Ereigniswerden eine Aussage über das Wesen Gottes impliziert und dieses Wesen stets nur in der Erscheinung wirklich ist, nämlich ein ›Gott-in-Beziehung‹ zu sein.33 Das gilt aber für alle sich offenbarenden Gottheiten. Gerade deswegen ergibt sich für den so dringend nötigen Dialog der Religionen jedoch »Dissens, ja Widerspruch im Fundamentalen«34. Dieser Dissens darf nicht aus vermeintlichen Toleranzgründen relativiert, gar nivelliert werden, wie es die pluralistischen und funktionalen Religionstheorien – bisweilen aus einem defizitären Toleranzverständnis heraus – tun. Wirkliche Toleranz bedeutet, die anderen Wirklichkeitsverständnisse zu achten, auch zu erleiden, gerade wenn man sie nicht teilen kann. Es ist der Gehalt der jeweiligen Heilsoffenbarungen, der das Neben- und Gegeneinander der verschiedenen Absolutheitsansprüche bedingt. Der Gehalt der Gottesoffenbarung im Christusgeschehen ist prägnant zusammengefasst in dem Satz: »Gottes Wesen ist Liebe«.35 Liebe ist Gottes Wesen, nicht etwa eine seiner Eigenschaften. Dieser Gehalt gehört unverzichtbar mit der Gestalt Jesu Christi zusammen. Das ist ein entscheidend wichtiges Verhältnis. Zwar muss man zwischen Gehalt und Gestalt in anderer Hinsicht wieder unterscheiden. Jedoch weil es »zum Gehalt der Gottesoffenbarung als Heilsoffenbarung« gehört, »dass sie sich in dieser Gestalt erschließt«36, dürfen beide nicht getrennt werden. Weil sich in dieser Gestalt Jesu »das Ermöglichungsgeschehen der göttlichen Liebe (ihrem Wesen gemäß) in der zweiten Seinsweise konkretisiert, nimmt Liebe Gestalt an, wird sie aus der wirklichen Ermöglichung zur (existierenden) welthaften Realität«37. In der Christusgestalt liegt das entscheidende Wesensmerkmal des christlichen Glaubens. Die Armseligkeit, Schwäche und Schande der Gestalt und ihres Geschicks kennzeichnet die Offenbarung Gottes in Jesus Christus, und das ›Faktum und Symbol des Kreuzes‹ ist sein Brennpunkt.38 Die Konsistenz der Offenbarungen dieses einen und einzigen Gottes sichert die Trinitätslehre als ›Metatheorie‹ des christlichen Glaubens.39 ————— 33

Ebd., 83. Ebd., 110. 35 Ebd., 236. 36 Ebd., 109. 37 Ebd., 402. 38 Ebd., 92. 39 DERS., ›Sie ist eine Metatheorie‹. Gespräch mit Wilfried Härle über die Trinität: nicht Gegenstand des Glaubens, aber unverzichtbar, in: Zeitzeichen 9/5 (2008), 31: »Gottes Selbstoffenbarung hat triadische Struktur«. 34

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Wie verhält sich diese besondere christliche Heilsoffenbarung zu den nicht ausgeschlossenen möglichen und wirklichen Heilsoffenbarungen außerhalb von Christus? Härle beharrt darauf, dass es theologisch nicht verantwortbar sei zu behaupten, die Christusoffenbarung sei die einzige Gestalt wahrer Selbsterschließung Gottes zum Heil.40 Es gibt ja die anderen Wirklichkeitsverständnisse. Aber sind das Offenbarungen des gleichen Gottes? Wenn Gottes Wesen Liebe ist und es ›zum Gehalt der Gottesoffenbarung als Heilsoffenbarung‹ gehört, »dass sie sich in dieser Gestalt erschließt«41, dann bekommt die Christusoffenbarung den Charakter eines »Maßstabs bzw. einer Norm [...], die an jeden Offenbarungsanspruch anzulegen ist«42. Die Christusoffenbarung normiert die anderen Heilsoffenbarungen und relativiert sie damit in ihren Absolutheitsansprüchen. Nun ist es religionswissenschaftlich evident, dass es zwar viele Abhängigkeiten, synkretistische gegenseitige Beeinflussungen und Analogien der Religionen aus ihren lebensweltlichen und theologischen Begegnungen gibt, sie aber in ihren zentralen Kernbereichen unvergleichbar verschieden bleiben. Weil Härle dies so sieht, hatte er ja Ratschows These übernommen, der Absolutheitsanspruch gehöre zu jeder Religion, sei aber »für jede fremde Religion nicht nachvollziehbar«43. Die Einführung einer kriteriengeleiteten Norm stellt jedoch nicht nur vor unüberwindbare hermeneutische Schwierigkeiten, sondern bedingt auch, dass sich die Gehalte der fremden Religionen an demjenigen Gehalt messen lassen müssen, der sich an der Gestalt Jesu Christi den Menschen erschlossen hat. Nun ist es religionswissenschaftlich ebenfalls evident, dass sich die Offenbarungsgestalten zumindest der großen Religionen ebenso wie ihr Gehalt grundlegend vom Kern des christlichen Gottesverständnisses unterscheiden. An den verschiedenen Heilswegen der verschiedenen Religionen lässt sich ablesen, dass die jeweiligen Gottheiten oder Heilspotenzen sich in ihren Offenbarungen ihren Verehrern signifikant anders erschließen als in der christlichen Offenbarung, das heißt, sie bestimmen das Wesen ihrer Gottheit durchaus anders als mit ›Liebe‹. Und hermeneutisch ist es zumindest ungewiss, ob der Kern der Selbsterschließung der anderen Heilspotenz von Christen überhaupt so hinreichend erkannt werden kann, dass sie einen fremden Maßstab anlegen können, der ja notwendig das Selbstverständnis der anderen Gottheit verfehlen muss, wenn es denn stimmt, dass »uns das Gottesverhältnis der anderen Religionen nur von außen her zugänglich ist« und dass, »wer eine Gottesverehrung ein-sieht, der […] diesen Gott [verehrt] und […] ihm ————— 40 Vgl. DERS., Dogmatik, 101. Religionswissenschaftlich leuchtet dieser Satz sofort ein. Theologisch scheint mir das schwieriger zu sein. 41 Ebd., 109. 42 Ebd. 43 Ebd., 108, Anm. 10.

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an[hängt]«44, woran Härle eigentlich keinen Zweifel hat. Wenn die Kategorie ›Offenbarung‹ nur derjenige Mensch einem Geschehen zuerkennen kann, dem es zuteil geworden ist, können die einzelnen Religionen zwar für sich Kriterien – sozusagen nach innen – formulieren, an denen gemessen werden kann, ob diese Offenbarung wirklich zu dem Gott gehört, der sich einst präsent gemacht hat und noch präsent macht. Aber sie können sich gegenseitig die Wahrheit ihrer Offenbarungserkenntnis weder bestreiten noch anerkennen. Die Einführung einer Norm für die andere Religion verändert den Absolutheitsanspruch zu einer exklusiven Exklusivität, die nicht in der Weise tolerant ist, wie es Härle eigentlich möchte: »Toleranz besteht weder in der Bagatellisierung der Wahrheitsfrage noch in der Anerkennung der Wahrheitsansprüche als gleichermaßen berechtigt und gültig, sondern in der (aus dem Wissen um die tolerantia Dei gespeisten) Bereitschaft, die Gegensätze zwischen den unvereinbaren Absolutheitsansprüchen auszuhalten und zu erleiden«45. Härle weiß, dass gerade diese Toleranz von der christlichen Theologie die »Kommunikation über Religionsgrenzen hinweg«46 erfordert, also einen substantiellen Religionsbegriff erfordert und nicht durch Funktionalitäten von ihren Schwierigkeiten entlastet werden darf.47 Die Frage nach der Einheit Gottes entfaltet Härle allerdings lediglich im Zusammenhang der Trinitätslehre. Weil das Wirken Gottes als reale Einheit verstanden werden muss, können kategoriale Unterscheidungen vorgenommen werden, die verhindern, dass man lediglich drei Arten oder Typen göttlichen Wirkens unterscheidet. Es geht vielmehr um »drei Aspekte oder Dimensionen oder Facetten an jedem Wirken Gottes«48. Der Monotheismus steht nicht zur Diskussion. Aber was die auch von Härle eingeräumte Möglichkeit und Wirklichkeit anderer Heilsoffenbarungen für Einheit und Einzigkeit Gottes bedeutet, ist nicht im Blick. Die Christusoffenbarung als Kriterium und Norm für die anderen Offenbarungen bringt einen exklusiven Zug in das Verhältnis der christlichen zu den anderen Religionen, die diese nicht nur unterscheidet, sondern in gewisser Weise, vermutlich ungewollt, abwertet. Andererseits steht dahinter auch eine einleuchtende Konsequenz. Denn wenn der fremde Glaube in seinem Kern nur bedingt einsehbar ist, dann ist er ebensowenig mit dem Christuskriterium zu messen, wie umgekehrt die fremden Religionen einsehen können, ob sie diesem Kriterium entsprechen oder ob dieser Kern ihren eigenen Kriterien entspricht, weil ————— 44

C.H. RATSCHOW, Die Religionen (HST 16), Gütersloh 1979, 123. Ebd., 110. Härle verweist auf G. EBELINGS Aufsatz: Die Toleranz Gottes und die Toleranz der Vernunft, in: T. RENDTORFF (Hg.), Glaube und Toleranz, Gütersloh 1982, 54–73. 46 W. HÄRLE, Dogmatik, 38. 47 Vgl. ebd., 61. 48 Ebd., 394. 45

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wiederum dieser ihnen nur von außen zugänglich ist. Dann aber stellt sich die prinzipielle Frage nach dem Sinn dieses Kriteriums für die interreligiösen Fragen.

III. Ganz anders setzt Hans-Martin Barth an. Seine Dogmatik will die gesamte dogmatische Erfassung des evangelischen Glaubens in ständiger Beziehung zu den großen Weltreligionen entfalten. Dabei geht es ihm nicht um eine Studie vergleichender Religionswissenschaft, schon gar nicht um eine ›interreligiöse Dogmatik‹, etwa analog zu Küngs ›Weltethos‹-Projekt. Barth entwirft eine Dogmatik als Selbstwahrnehmung des christlichen Glaubens, die sich nicht nur gegenüber der säkularen Welt, sondern auch gegenüber der Welt der Religionen »profilieren und ausweisen«49 will. Dieser Entwurf hat zu Recht ein großes Echo gefunden. Mit bewundernswert breiter Sachkenntnis auf dem Feld der großen Religionen und der neureligiösen Spiritualität nimmt Barth das Thema ›Religion‹ weg von seinem klassischen Ort in den Prolegomena und breitet es über alle Loci aus. Damit zieht er die radikalste und zugleich schlüssige Konsequenz aus der veränderten geschichtlichen Situation. Das Christentum ist Religion unter Religionen. Im Kontext Deutschlands, ja, Europas gibt es keinen einzigen christlichen Glaubens- oder Lehrsatz, der faktisch nicht umgeben wäre von anderen, in vielen Fällen natürlich abweichenden Glaubensüberzeugungen anderer Religionen. Daher ist der Versuch überzeugend, die nichtchristlichen Glaubensüberzeugungen »als selbständige Subjekte und echte Partner«50 in den Blick zu nehmen, um damit den ›sich um sich selbst‹ drehenden Blickwinkel traditioneller ›Themadogmatiken‹51 zu erweitern. Barth ist zuzustimmen, wenn er sich von diesem methodischen Schritt eine Chance zur Selbstwahrnehmung und Selbstklärung im Licht der anderen verspricht, die dem friedlichen Zusammenleben der Gesellschaft dient.52 Nun wählt Barth überraschender Weise die Trinitätslehre als seinen methodischen Ausgangspunkt. Das überrascht, weil doch gerade die Trinitätslehre eine dogmatische Besonderheit des christlichen Glaubens und seiner Lehrerfassung ist, die von anderen Religionen dezidiert53 abgelehnt ————— 49

BARTH, Dogmatik, 47. Ebd., 48. 51 Ebd., 37. Mich verwundert allerdings, dass Barth als Beispiele für solche ›sich um sich selbst‹ drehenden ›Themadogmatiken‹ ausgerechnet Schleiermacher und Tillich anführt. 52 Ebd., 46. 53 So gilt die Trinitätslehre den Moslems als Verstoß gegen die Prinzipien von tauhid und daher als kufr. 50

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oder, wenn überhaupt, nur wesentlich uminterpretiert akzeptiert wird. Das ist Barth natürlich bekannt. Dennoch ist er davon überzeugt, »dass unter trinitarischer Perspektive auch außerchristliche religiöse Ansätze in neuem Licht erscheinen können«54. Barth lenkt freilich den Blick nicht auf den substantiellen Gehalt der Trinitätslehre, sondern auf ihre ›formale Struktur‹. In ihr vermutet er die Grundstruktur, die »für jede Religion zu gelten«55 scheint, was mit deren Binnendifferenzierungen belegt werden soll. Denn alle Religionen benötigen für das Verstehen der Begegnung zwischen dem Absoluten und dem Relativen genau die Struktur, die Barth trinitarisch nennt, in der »das Absolute selbst, das Absolute in der Gestalt des Relativen, und die Inspiration, das Absolute in der Gestalt des Relativen als das Absolute zu identifizieren«56 zusammengedacht werden müssen. In diese formale Struktur können die anderen Religionen integriert werden. Selbst wenn diese formale Struktur mit christlichen Inhalten gefüllt wird, bildet sie den anderen Religionen »ein erstaunlich weites Integrationsmodell: Gott, der sich damit zugleich als Schöpfer und Vollender der Welt zu erkennen gibt, offenbart sich durch einen konkreten historischen Vorgang, nämlich die Präsenz des historischen Jesus von Nazareth in einem unverfügbaren spirituellen Akt«57. Das Christentum kann mit dieser Struktur das zusammendenken, was die anderen Religionen »auf verschiedene Elemente zu verteilen scheinen«58. Barth meint: Offenbarungen als ›Schlüsselerlebnisse‹ haben immer diese formale trinitarische Struktur, weil von dieser Struktur die Erscheinungsform von Religion als Religion lebt. Immer geht es um das Gegenüber von Göttlichem und Menschlichem, bzw. der Vergegenwärtigung und Beziehung von Transzendenz und Immanenz, auch wenn die Religionen das Thema und die damit gegebenen Denkprobleme sehr unterschiedlich behandeln und lösen.59 Barth stellt sich selber die sich geradezu aufdrängende Frage, ob mit dieser integrativen Fähigkeit der trinitarischen Perspektive, einerseits die Grundstruktur für das bereitzustellen, was in den Religionen sich an ›Schlüsselerlebnissen‹ d.h. Offenbarungserfahrungen ereignet, andererseits damit das zusammenzudenken, was andere nur trennen können, ein latenter, ————— 54

Ebd., 60. Ebd., 338. 56 Ebd., 337. 57 Ebd., 156. 58 Ebd., 155. 59 Dazu will nicht recht passen, dass Barth selber sich den Einwand macht, mittels der Gegenprobe könnten Offenbarungsverständnisse aus allen Weltreligionen dadurch vom trinitarischen Modell prinzipiell ausgeschlossen werden, dass sie diese drei Stadien des Offenbarungsprozesses nicht zusammendenken können – und wollen, vgl. ebd., 156. Barth zeigt nicht, wie diese Religionen die trinitarische Struktur übernehmen könnten, ohne sich selber aufzugeben. 55

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vielleicht sogar unvermeidlicher Überlegenheitsanspruch des Christentums über die anderen Religionen verbunden ist. In seiner Antwort verbindet er exklusive und inklusive Aspekte miteinander. Der exklusive Aspekt besteht darin, dass auch der trinitarische Glaube »die Konfrontation nicht vermeiden«60 kann, weil die Dogmatik von ihrer »Wahrheitsgewissheit« nicht abgehen wird, was auch den anderen Religionen zugebilligt werden muss.61 Der inklusive Aspekt folgt aus der inklusiven Dynamik des trinitarischen Gottesbegriffs, der ›Gott als alle und alles umgreifend, tragend und bestimmend‹ denkt und der die prinzipielle Voraussetzung für die Begegnung der Religionen ist. Daher kann es »im Sinne des interreligiösen Dialoges [...] nur um gegenseitigen Inklusivismus gehen«62. Um Exklusivismus und Inklusivismus zusammendenken zu können, nimmt Barth eine wichtige Differenzierung im Glaubensbegriff vor: Er unterscheidet zwischen einem ›Alpha‹- und einem ›Omega‹-Glauben, was »für die Begegnung der Religionen von erheblicher Bedeutung ist«63. Der Alphaglaube ist der mit aller eschatologischen Vorläufigkeit in theologischen Sätzen formulierte Glaube. Sein Subjekt ist Gott. Weil Gott aber nicht definiert werden kann, bleiben alle Sätze und Bilder dieses Glaubens »uneigentlich und unzureichend«64. Gleichwohl ist er unverzichtbar, um dem Glauben auslösenden Schlüsselerlebnis eine Form zu geben. Jedoch wegen seiner eschatologischen Offenheit sucht der Alpha-Glaube sein Omega, also einen Glauben, der alle Alpha-Formen transzendiert, auflöst und erfüllt, jedoch immer des Alpha-Glaubens bedarf, um artikulierbar zu sein. Damit rückt in die Exklusivität aller Glaubensverständnisse auf der Alpha-Ebene ›die Ahnung eines Omega‹ ein, »der eschatischen bildlosen Selbstvergegenwärtigung des dreieinigen Gottes«65. Diese Ahnung bewirkt, dass der Christ sich für die Alpha-Gestalten der anderen Religionen öffnet, von ihnen lernt oder sich abgrenzt, vor allem aber in ihnen ebenfalls eine Omega-Ahnung wahrnimmt, die, als Alpha gefasst, natürlich nicht identisch mit dem christlichen Alpha ist. Weil dieses Omega sich den Begriffen entzieht, also sprach- und formlos ist, kann der Übergang von Alpha zu Omega nur »im Bereich spiritueller Kollusion«66 gesucht werden. Damit ergeben sich strukturelle Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen, die die Unterschiede nicht überspielen, die Religionen aber dennoch zusammenbinden: »Sie bestehen in der weltanschaulich-religiösen Ausrichtung ————— 60 61 62 63 64 65 66

Ebd., 64. Ebd., 63. Ebd., 64. Ebd., 117. Ebd., 116. Ebd., 118. Ebd.

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auf Inhalte (Alpha-Glaube), in der Forderung von Konsequenzen des Glaubens und in der Ahnung des Unaussprechlichen (Omega-Glaube)«67. Was bedeutet das für die im Thema gestellte Frage? Es bedeutet, dass trotz tiefgreifender Differenzen zwischen den Religionen etwa im Blick auf die Gnadenlehre und Erlösungshoffnungen68 oder die, gerade in der Christologie manifesten, Erlösungsziele69 und trotz der unterschiedlichen Behandlungen der Wahrheitsfrage70 die Einheit Gottes »sowohl exklusivistisch als auch inklusivistisch gedacht werden [muss]: exklusivistisch, sofern neben dem einen Gott kein anderer stehen kann, inklusivistisch insofern, als Gott durch die in ihm statthabenden Beziehungen seine Einheit gewinnt und lebt«, was natürlich nur unter trinitarischem Blickwinkel verständlich sein kann. Gehören also die Gottheiten anderer Religionen in die dynamische Einheit des dreieinen Gottes hinein, der sich »dreifaltig offenbart«71? Der Ausweg, diese Gottheiten der Kategorie des bedingten Seienden, das als göttlich nur behauptet wird, zuzuordnen, ist dadurch verschlossen, dass diese Gottheiten nicht als ›Götzen‹ oder als ›Nichts‹ bezeichnet werden können.72 Also kommt der inklusivistische Aspekt des trinitarischen Strukturmodells zum Zug, das in den Gottheiten der anderen den Gott wirksam sieht, der sich grundsätzlich trinitarisch strukturiert offenbart und dessen alphamäßige theologische Formung dem Christentum modellhaft, wenn auch unter eschatologischem Vorbehalt gelungen ist: »Das trinitarische Bekenntnis ist in der Lage, unterschiedliche und ggf. einander widersprechende Gotteserwartungen und -wahrnehmungen verschiedener Religionen aufzunehmen, miteinander zu verbinden und so infolge von Einseitigkeiten aufgetretene Defizite der Gotteswahrnehmung zu beseitigen«73. Nun ist auch für Barth die Gotteswahrnehmung in Christus, die eine historische Person und keine Lehre oder ein Buch ins Zentrum des soteriologischen Geschehens stellt, der »entscheidende Unterschied zwischen dem Christentum und den nichtchristlichen Religionen«74. Das ist nun keine religionswissenschaftliche Feststellung, sondern der zentrale theologische Kern des christlichen Glaubens, und er enthält auch bei Barth ein normatives Urteil über die Soteriologie und das Menschenbild der anderen Religionen. Zwar wird es das Christentum dankbar aufnehmen, wenn die anderen Jesus würdigen. Die Person Jesu Christi im trinitarischen Zusammenhang ————— 67 68 69 70 71 72 73 74

Ebd., 119. Ebd., 576. Ebd., 390ff. Ebd., 168f. Ebd., 156. Vgl. ebd., 334. Ebd., 271. Ebd., 388.

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bedeutet jedoch viel mehr, weil in ihm »das Kriterium dafür gesetzt [ist], was denn wirklich für den Menschen ›gut‹ und ›heilend‹ ist«75. Und dieses christologisch zugespitzte heuristische Modell gilt selbst für die heiligen Schriften aller Religionen. In ihnen erschließt sich der dreieine Gott ebenso wie in der Bibel, so dass das ›sola scriptura‹-Prinzip auf alle ausgeweitet werden kann, aber nur, »solange die Zirkelspitze [des hermeneutischen Zirkels; P.S.] sowohl in kognitiver als auch existenzieller Hinsicht klar an Gottes Selbsterschließung in Christus einsetzt«76. Das heißt: Auch die außerchristlichen heiligen Schriften sind auf Christus hin zu lesen, weil providentiell »der Gott Jesu Christi auch hinter der Abfassung, Bewahrung und Verehrung außerchristlicher heiliger Schriften steht«77. Auch bei Barth taucht die Christologie nicht nur als wesentlicher Unterschied zu den anderen Religionen, sondern als Kriterium auf. Das hat Rückwirkungen auf die Formulierungen der Einheit Gottes, die ja als Verschränkungen von exklusiven und inklusiven Aspekten gedacht waren. Durch das christologische Kriterium wird die Trinitätslehre nicht mehr nur formal, als Struktur, sondern inhaltlich im Sinn des christlichen AlphaGlaubens normativ ins Spiel gebracht. Darin wird nun auch deutlich, dass die von Barth trinitarisch gemeinte Grundstruktur aller Religionen eigentlich eine triadische, eher religionswissenschaftliche Beschreibung von Offenbarungsvorgängen und keine trinitarische, auf die Gottheit Gottes bezogene Aussage über das Gottesverständnis der anderen Religionen ist, was Barth selbstverständlich auch so sieht.78 Aber letztlich bleiben die Gottesvorstellungen der anderen Religionen, die Barth mit großer Sachkenntnis und bewundernswertem Einfühlungsvermögen darstellt, für den Gottesbegriff der christlichen Dogmatik inhaltlich folgenlos, weil sie weder dem trinitarischen Rahmen noch der christlogischen Kriteriologie etwas hinzufügen können. Inhaltlich bleiben sie für die Dogmatik folgenlos.79 Auch in diesem Entwurf findet sich keine überzeugende Lösung des oben angezeigten Problems. Vielleicht lässt auch solange keine Lösung finden, wie ein Kriterium einer Religion über die Wahrheit einer anderen normierend entscheidet. Das lässt sich in aller Kürze am unterschiedlichen Umgang Härles und Barths mit der Barmer Theologischen Erklärung zeigen. Deren erste These wird ————— 75

Ebd., 404. Ebd., 220. 77 Ebd., 200. 78 Er beschreibt einige nichtchristliche Offenbarungsverständnisse, die »von dem trinitarischen Modell prinzipiell ausgeschlossen« sind, ebd., 156. 79 R. BERNHARDT, Literaturbericht, 147: Es bleibt die Frage, »ob die Religionen wirklich zu Subjekten der Theologie werden. Die dogmatischen Lehrinhalte bleiben von der Begegnung mit der außerchristlichen Tradition doch relativ unberührt«. 76

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von Härle im Sinne einer strikten soteriologischen Exklusivität der Christusoffenbarung verstanden. Ihre theologische Provokation besteht in der These, »dass es nicht mehrere oder gar beliebig viele Wege zum wahren Leben gebe, sondern genau einen«80. Daher räumt Härle zwar die Möglichkeit außerchristlicher Heilsoffenbarung ein, besteht jedoch auf dem christologischen Kriterium und verzichtet auf eine Beschreibung der Wahrheit wirklicher Heilsoffenbarung außerhalb der christlichen Offenbarung. Barth wendet auch hier die Verschränkung von Exklusivität und Inklusivität an und will daher die erste These präzisieren und korrigieren. Gewiss, Jesus Christus ist das eine Wort Gottes. Aber: »Die Kirche darf ›als Quelle ihrer Verkündigung‹ zwar nicht ›außer und neben diesem einen Wort Gottes‹, wohl aber unter diesem einen Wort Gottes‚ auch noch andere Ereignisse und Mächte, Gestalten und Wahrheiten als Gottes Offenbarung anerkennen«81. Beide Dogmatiken bringen Christus als normatives Kriterium für die anderen Heilswege zur Geltung, wenn auch mit unterschiedlichen Begründungen und Konsequenzen.

————— 80

HÄRLE, ebd., 98. BARTH, ebd., 169. Barth präzisiert die doch reichlich ungenauen Formulierungen des Theologischen Ausschusses der EKU zu Barmen I, die der Kirche und der Theologie zugestehen, dass es auch in den Religionen Wahrheitsmomente der Gottesverehrung und Gottesvorstellung gibt. Allerdings soll es im Dialog der Religionen um Entsprechungen zur christlichen Gotteserkenntnis gehen, die nicht außer Acht lassen, dass das Reden der Kirche von Gott »ihn und nicht uns als Anfang und Ende aller Gottesverehrung und Gotteserkenntnis bezeugt«, HÜFFMEIER (Hg.), Votum, ebd., 70. Er beruft sich auf den späten Karl BARTH, der diesem Anliegen mit seiner Lichterlehre Rechnung getragen habe. Karl Barth vermeidet allerdings peinlich genau, diesen anderen ›Lichtern‹, die ihr Leuchten allein von dem einen Licht Christus abgeleitet haben, den Begriff einer selbständigen ›Offenbarung‹ zuzusprechen. Die der Offenbarung dienende Welt ist nur ›Raum der Offenbarung‹, in dem die eine Wahrheit Gottes aufleuchtet, Kirchliche Dogmatik IV/3/1, Zürich 41989, 174. Auch wenn K. Barth Religion nicht immer nur als menschliche Fähigkeit bezeichnet, sondern als auf die Menschen einwirkende Kraft, kommt ihr doch keine von dem einen Gott unabhängige Wirklichkeit zu, gegen W. KRÖTKE, Impulse für eine Theologie der Religionen im Denken Karl Barths, in: ZThK 104 (2007), 320–335. Allerdings hat die christologisch begründete Heilsbedeutung für die ganze Menschheit, für die ›Christus‹ bei Karl Barth steht, die an Karl Rahners These vom ›anonymen Christen‹ erinnernde Konsequenz, dass Barth vom ›christianus designatus‹ spricht, um die universale Bedeutung der Gnade auszudrücken, KD IV/3/2, Zürich 41989, 927. Zu den Differenzen zwischen Rahner und Barth E. WOHLLEBEN, Die Kirchen und die Religionen. Perspektiven einer ökumenischen Religionstheologie, Göttingen 2004, 189f. H.-M. BARTH sieht die Schwierigkeit an anderer Stelle sehr deutlich, wenn er dazu anhält, über die tiefgreifenden Unterschiede der Gottesverständnisse nicht einfach hinwegzusehen, etwa unter der Parole: Wir haben alle denselben Gott. Es ist ja keineswegs ausgemacht ist, dass zum Beispiel Christen und Hindus von demselben Gott reden, wenn sie von dem ›Einen‹ reden, vgl. ebd., 168. 81

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IV. Gibt es einen anderen Weg, diese Frage zu lösen, ein Weg, der die Einheit Gottes nicht über ein christologisches Kriterium zu sichern sucht, das exklusiven Charakter hat und zudem aus religionshermeneutischen Gründen den anderen Religionen nicht angemessen ist, weil nicht geklärt werden kann, ob die Religionen diesem Kriterium entsprechen und ob die Religionen dieses Kriterium überhaupt soweit verstehen könnten, dass sie ihm entsprechen können, wenn sie es denn wollten? Der Weg müsste auch darauf verzichten, mittels des christologischen Kriteriums einen ungewollten, aber verdeckten exklusiven Absolutheitsanspruch des Christentums zu markieren. Unter dieser kriteriengeleiteten Prämisse kann man jedoch die Wahrheitsfrage gerade nicht offenhalten, auch wenn die Unabgeschlossenheit aller Erkenntnis zugestanden wird. Wenn Barth ausdrücklich feststellt, die Wahrheitsfrage entscheide sich nicht diskursiv, argumentativ, sondern »im Vollzug der Geschichte«82, und deshalb könne sich die Christenheit im Streit um die Wahrheit, dem Barth nicht ausweichen will, an ihrem Herrn orientieren und sich zurücknehmen, im Vertrauen darauf, dass »die Wahrheit selbst [...] ihre Kraft in der Schwäche entfalten wird«83, dann ist schwer vorstellbar, wie das aussehen soll. Wenn die christliche Dogmatik, die ja wesentlich diskursiv und argumentativ angelegt ist, von ihrer »Wahrheitsgewissheit nicht abgehen«84 wird, weshalb auch der trinitarische Glaube »die Konfrontation nicht vermeiden«85 wird, dann muss die Wahrheit gegen andere abgegrenzt formuliert sein, um der Identität des Glaubens willen. Man könnte versuchen, die Frage als unsinnig und überflüssig darzustellen, weil sie sich erübrigt, wenn man mit einem funktionalen Religionsbegriff arbeitet. Dann geht es in der interreligiösen Begegnung und ihren Vergleichen bestenfalls um Leistungsfähigkeit, bisweilen auch um Angemessenheit des Religionssystems gegenüber der Evolution der Gesellschaft86, aber nicht mehr um die Wahrheit. Religionswissenschaftlich ist dagegen nichts zu sagen. Theologisch allerdings wird auch beim Verzicht auf einen Religionsbegriff das Phänomen Religion und das, was das Religiöse an der Religion eigentlich ist, unscharf. Unter funktionaler Perspektive sind die Religionsäquivalente, welche die Rationalisierungsprozesse der westlichen Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert hervorgebracht haben, von den Religionen nicht mehr zu unterscheiden. Wenn die Funktion von Religion beispielsweise darin bestünde, »das grundsätzliche ————— 82 83 84 85 86

Ebd., 172. Ebd., 174. Ebd., 63. Ebd., 64. Zum Beispiel bei N. LUHMANN, Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977, 190 ff.

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Zusammenbestehen von Deutung und Wirklichkeit verständlich machen zu wollen«, dann kann »im Prinzip alles in diese Rolle geschoben werden«87, was Deutung und Verstehen von Wirklichkeit verheißt. Im Verlauf der Ideengeschichte und der Säkularisierungsprozesse waren das vornehmlich die Moralität, die Philosophie und die Kunst, die sich säkular dennoch von der Präsenz eines Absoluten »am Ort des Individuell-Endlichen«88 selbst bestimmten. Jedoch anders als ihre Äquivalente wollen die Religionen ein das ganze Leben umfassendes Wirklichkeitsverständnis darstellen. Nicht zu vergessen sind die kollektivistischen Systeme mit ihren großen Ideologien, deren Dämonie darin bestand, ihre Bedingtheiten als Unbedingtes zu deklarieren und damit unendliches Leid über die Menschen zu bringen. Sie haben sich erschöpft und kommen nicht mehr in Frage.89 Man könnte versuchen, das postmoderne Modell des ›Multi-Kulti‹ auf die Religionen zu übertragen und die postulierte Unmöglichkeit einer absoluten Position, die einer Monopolstellung bestimmter Universalkonzepte den Boden entzieht, auch gegen die Religionen zu wenden und darin einen Fortschritt zum Positiven sehen. Der gesellschaftliche Differenzierungsprozess erzeugt zweifellos Autonomie durch Desintegration und bewirkt damit Pluralisierung. Die Religionsform, die sich postmodern aus diesem Prozess ergäbe und ihm angemessen wäre, wäre dann der Polytheismus in seinen verschiedenen Aspekten.90 Aktuell hat Jan Assmann die Diskussion über den Polytheismus neu belebt, insofern er gegen den allerdings auch seiner Meinung nach unrevidierbaren Monotheismus einiger Religionen behauptet, der Polytheismus gehe mit Macht und Gewalt friedfertiger um, eine These, die sich angesichts der in der Geschichte stets wiederkehrenden Gewaltausbrüche in Gegenden der Erde, in denen polytheistische Religionen und ihre Anhänger die Mehrheitsgesellschaft

————— 87

D. KORSCH, Religionsbegriff und Gottesglaube, Tübingen 2005, 337. Ebd., 18. Korsch vertritt dagegen einen ›pragmatisch-kommunikativen‹ Religionsbegriff, der ein »analytischer Schlüssel für die Kulturgeschichte« sein kann, ebd., 24. 89 J.H. CLAUSSEN, Zurück zur Religion. Warum wir vom Christentum nicht loskommen, München 2006, 10; P. TILLICH, Mut zum Sein, in: GW XI, hg. v. R. ALBRECHT, Frankfurt a.M. 3 1982,73–88. 90 M. WEBER diagnostizierte den Polytheismus der Werte als Ergebnis der modernen Rationalisierungsprozesse und wollte im Empirismus im Anschluss an Mill den Polytheismus als Konsequenz des Ausgangs von der reinen Erfahrung sehen, Wissenschaft als Beruf (1919) Stuttgart 1995, 32f.; O. MARQUARD, Lob des Polytheismus (1978) in: Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 2005, 91–116, der in den Modernisierungsprozessen auch die ›entzauberte Wiederkehr des Polytheismus‹ wahrnimmt, ebd.,107; H. BLUMENBERG, Arbeit am Mythos, Frankfurt a.M. 21981, der als Leistung des mythischen Polytheismus die Verminderung des Drucks opaker Wirklichkeit bestimmt: »Die Welt verliert an Ungeheuern«, ebd., 127. 88

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darstellen, schwer halten lässt.91 Der Polytheismus stellt weder für Härle noch für Barth eine Lösungsmöglichkeit des Problems für das Christentum dar, und darin stimme ich ihnen zu. Der christliche Glaube verlöre mit der Preisgabe des Monotheismus seine Substanz.92 Zugleich weisen beide Dogmatiker aber darauf hin, wo intern, also im christlichen Bereich das Problem des Monotheismus angelegt ist, nämlich in der Person des Christus, »welcher sowohl Mensch als auch Gott war, welcher aber die Vermittlung zwischen den beiden zu trennenden Bereichen besorgte«93. Im Blick auf die anderen Religionen entsteht das monotheistische Problem aber an einer anderen Stelle, nämlich an der Stelle der speziellen Theologie. Luther hat in seiner Auslegung des Ersten Gebotes im Großen Katechismus die anderen Götter als der Heiden »eigen erdichten Dünkel und Traum von Gott«, als »Abgott«94 interpretiert, also als menschliche Superstitionen des einen, wahren Gottes, die wir selber dann aufrichten, wenn wir lebensnotwendige Dimensionen verabsolutieren und daran unser Herz hängen. Solche Hypostasierungen des menschlichen Herzen verfallen der theologischen Religionskritik. Wenn jedoch das Christentum Religion unter Religionen ist und diesen einen Absolutheitsanspruch im Blick auf die Offenbarungen ihrer Heilspotenzen zubilligt, so ist auch diese Lösungsmöglichkeit des Problems verstellt: Die Anhänger anderer Religionen sind keine Heiden im Sinn von gottlosen Menschen oder solchen, die sich ihre Götter ————— 91 J. ASSMANN, Die mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München 2003. Zur exegetischen Kritik vgl. S. KREUZER, Mose – Echnaton – Manetho und die 13 Jahre des Osarsiph, in: S. ASMUS/M. SCHULZE (Hg.), ›Wir haben doch alle denselben Gott‹, 25–37. 92 Dies gilt, auch wenn das neue Bild der Religionsgeschichte Israels zeigt, dass selbst im nachexilischen Judentum die Welt des Polytheismus eine, wenn auch begrenzte Realität geblieben ist, H. SPIECKERMANN, Das neue Bild der Religionsgeschichte Israels – eine Herausforderung der Theologie?, in: ZThK 105 (2008), 272. Beachtenswert bleibt die Beobachtung, dass ohne das Wirken der namenlosen Deuteronomiker und Deuteronomisten die israelitische Religion sich vermutlich so wie die ihrer Nachbarn im syrisch-kanaanäischen Synkretismus aufgelöst hätte, ohne nennenswerte Spuren in der Geschichte zu hinterlassen: »Wenn die Zeit der Götter zu Ende ist, lassen sie sich höchstens noch ästhetisch, aber nicht mehr praktisch revitalisieren.«, O. KAISER, Der eine Gott und die Götter der Welt, Schriftauslegung in der Schrift (FS O.H. STECK), Berlin/New York 2000, 339. 93 F. STOLZ, Einführung in den biblischen Monotheismus, Darmstadt 1996, 205. CH. SCHWÖBEL, Monotheismus IV, in: TRE XXIII, Berlin/New York 1994, 259. Bekanntlich taucht das christologische Problem im Islam notwendig an der Frage auf, ob der Koran, das autoritative, unmittelbare Wort Gottes in arabischer Sprache, erschaffen oder gleichewig wie Allah ist, worüber seit Jahrhunderten gestritten wird. 94 M. LUTHER, Der große Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche. Hg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, Göttingen 111992, 564,Z.16–19; 560,Z.23f. O. BAYER, Die Vielheit des einen Gottes und die Vielheit der Götter, in: ZThK 102 (2005), 481. Dort (s. Anm. 36) der Hinweis auf Calvins wunderbare Beschreibung der Einbildungskraft des menschlichen Herzen als ›fabrica idolorum‹, Institutio (1559) I,11,8.

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selber erträumen. Was beispielsweise den Griechen Zeus, Apoll, Athene waren oder was Shiva den Hindus bedeutet, ist ganz grundsätzlich verkannt, wenn sie lediglich als »Verabsolutierungen des Geschöpflichen«95, also im Grund als Dämonisierungen des Bedingten verstanden werden. Wenn mit der Möglichkeit und Wirklichkeit von Offenbarungen außerhalb der christlichen Offenbarung gerechnet werden muss, dann sind die anderen Götter analoge Heilspotenzen zu dem Gott, den die Christen bekennen: Aber: »Jeder Gott ist in Raum und Zeit eingetreten, sonst wären die Götter bloße Schemen oder Begriffsgespenster. ›Geschichte als Offenbarung‹ gilt für alle Religionen. Aber weil es gilt, verläuft genau hier die Grenze zwischen Vergleich und Analogie«96. Wenn alle diese Wege verstellt sind und die Einführung eines normierenden Kriteriums die Anerkennung der fremden Gottheiten an unangemessene Bedingungen knüpft, wie dann? Ratschow hatte vorgeschlagen, die Einheit Gottes und die Vielheit der Götter unter der Erfahrung des Deus in vita so aufeinander zu beziehen, dass alle Heilspotenzen als solche anerkannt werden, von der christlichen Theologie aber als Teil des von uns erkennbaren Heilshandelns von dem uns undurchschaubaren Welthandeln Gottes unterschieden werden müssen. Sie sind für den Glauben »Teil des Welt-Waltens des dreieinigen Gottes [...]. Der dreieinige Gott handelt auch hier per res secundas – Mächte, Kräfte, Vollmachten und Vermögen – als Gottheiten. Er bringt darin Leben zur Gestalt, besorgt und vollendet es. Auch dieses Welt-Walten Gottes in den Religionen bleibt verborgen, rätselhaft wie anfechtend, bis es in Jesu Wort, Werk und Person ausgelegt und im Geiste Gottes erhellt wird«97. Lässt sich diese Unterscheidung wirklich durchhalten? Barth korrigiert sie und rechnet auch die Religionen zum Heilshandeln des dreieinigen Gottes.98 An Ratschows These fallen zwei Ungenauigkeiten auf, die präzisiert werden können, und vielleicht ergibt dies einen besseren Ansatz zur Lösung der Ausgangsfrage. Erstens handelt der Gott in seinem ›Welt————— 95 BAYER, ebd., 482, im Anschluss an Luthers Formulierungen. Bayer zeigt selber, dass man die Gottheiten auch anders verstehen kann, wenn er auf die Gemeinsamkeiten zwischen Nichtchristen und Christen verweist, nämlich die Erfahrung der schrecklichen Verborgenheit des alles wirkenden Gottes, der Erhaltung der Welt, des Aufdeckens der Sünde in der Differenz zwischen Sein und Sollen etc., ebd., 482f. Zweifellos kann die »Vielzahl der ›Götter‹ [...] der Reflex der Vielzahl meiner Wünsche und Neigungen« sein, so D. KORSCH, Dogmatik im Grundriß, Tübingen 2000, 57. Im Blick auf die Gottheiten der anderen Religionen aber ist dieses generelle Urteil verfehlt. 96 C.H. RATSCHOW, Die eine christliche Taufe, Gütersloh 1972, 113. 97 DERS., Die Religionen (HST 16), Gütersloh 1979, 122. 98 BARTH, Dogmatik, 61: »Es ist auch theologisch unzureichend, hinter den Religionen nur Gottes ›Welthandeln‹ anzunehmen. Gottes Werke ›ad extra‹ sind voneinander zwar zu unterscheiden, nicht aber zu trennen«.

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handeln‹ auch zum Heil der Menschen. Nur, so Ratschow, bleibt dies solange verborgen und rätselhaft, bis es christologisch erhellt werden kann. Das ist verständlich, weil Ratschow mit der Analyse des Welthandelns Gottes keine ›natürliche Theologie‹ an der Christologie vorbei entfalten will. Seine »Denkbewegung vollzieht sich also vom Heilshandeln zum Welthandeln und nicht umgekehrt«99. Dazu passt schlecht, dass Ratschow den Religionen analog zum christlichen Glauben das Recht auf einen Absolutheitsanspruch zubilligt, der zwar von der jeweils anderen Religion nicht nachvollzogen, für die eigene Religion aber unabweisbar ist. Der Grund des jeweiligen Absolutheitsanspruchs ist doch mit der Heilsverheißung der Götter verbunden. Ist der wahre Grund für diese Toleranz die Gewissheit, dass es der gleiche Gott ist, der in allen wirkt, was nur nicht ohne Anfechtung gesagt werden kann? Sind dann die anderen Religionen in ihrem Anderssein wirklich anerkannt? Zweitens, und wichtiger: In Ratschows Formulierung klingt es so, als sei die Verborgenheit Gottes als Präsenz des Deus in vita christologisch aufgelöst. Das ist aber auch in Ratschows Beschreibung des christlichen Glaubens nicht der Fall, im Gegenteil. In der Mitte der Christologie steht der angefochtene Gekreuzigte, der Christus crucifixus als der Christus tentatus, wie es Luther zu sehen gelehrt hat.100 Und Glaube, der dem Evangelium glaubt, steht angefochten vor Gottes gegensätzlichem Handeln: »Die Getrostheit und Gehaltenheit christlichen Glaubens versagt vor dem Deus absconditus. Der Zuspruch des Evangeliums wird von der Todesdrohung des Gesetzes verstellt«101. Der Ort in der Dogmatik, an dem unsere Ausgangsfrage zu erörtern ist, wären demnach nicht die Prolegomena, nicht die Trinitätslehre (oder eine trinitarische Struktur), sondern der Deus absconditus.102 Gerade durch das heilschaffende Evangelium als Wort vom Kreuz begegnet Gottes vergebende und befreites Leben ermöglichende Liebe immer auch umgeben, verhüllt, was den Glauben zur Theologie nötigt. Nicht nur die ›Allmacht‹ Gottes kann »nur als mehrdeutiges Metaprädikat fungieren«103, sondern ebenso die trinitarisch begründeten Charakterisierungen des Wesens Gottes als Liebe. Denn der Kern der Anfechtungen des Glaubens ist ja doch der Zweifel an der Zuverlässigkeit Gottes in bezug auf das Heil, der sich mit ————— 99

E. WOHLLEBEN, Die Kirchen und die Religionen. Perspektiven einer ökumenischen Religionstheorie, Göttingen 2004, 223. 100 C.H. RATSCHOW, Jesus Christus (HST 5), Gütersloh 1982, 244. 101 C.H. RATSCHOW, Der angefochtene Glaube. Anfangs- und Grundprobleme der Dogmatik, Gütersloh 31967, 242. 102 SCHWÖBEL, ebd., 160: Ratschows Denken verknüpft im Fragenkreis des Deus absconditus das Christentum mit der Welt der Religionen. Sein Denken kreist um diese beiden Themen »als Brennpunkte einer Ellipse [...], wobei bei genauerem Hinsehen das jeweils andere Thema bei der Behandlung eines der beiden Brennpunkte schon angesprochen wird«. 103 BAYER, ebd., 479.

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dem Widersinn verbindet, »dass dieser Jesus diesen Verbrechertod erfahren musste«, weil dieser Gott, als der Gott Israels, »sub contrario handelt«104. Dieses Theologumenon von der Verborgenheit Gottes, die ja nicht nur in den Fragen der Theodizee oder der Prädestination zur theologischen Debatte steht, soll am Schluss bedacht werden. Vielleicht bietet es einen Schlüssel zur Beantwortung der Ausgangsfrage.

V. Die nur auf den ersten Blick anthropologische Debatte um den freien Willen, die Luther 1525 mit Erasmus führte, gestaltet sich schon nach wenigen Erörterungen zum theologischen Streit um das Verständnis der Gottheit Gottes, gerade dann, wenn sie soteriologisch zugespitzt wird105, was ja für unsere Ausgangsfrage bestimmend ist. In dieser gedanklichen Konsequenz spiegelt sich Luthers dreifache Differenzierung im Begriff des Deus absconditus. Schon in der Heidelberger Disputation (1518) vertritt er den Grundsatz, dass nur diejenige Theologie ernstzunehmen sei, die als theologia crucis Gottes Wesen und Werk sub contrario erkennt. Der Deus crucifixus ist der Deus absconditus und gerade darum kein anderer als der Deus revelatus.106 Sodann begegnet Gott dem Sünder in seinem Gesetz als der unerbittliche Richter, dessen Zorn dem Sünder die ewige Verdammnis ————— 104

C.H. RATSCHOW, Jesus Christus, ebd. K.-H. ZUR MÜHLEN, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik, Tübingen 1972, 216. Zum folgenden P. STEINACKER, Luther und das Böse, in: NZSTh 33, 1991, 143–148. Vgl. auch O. BAYER, Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung, Tübingen 2003, 178–192, bes. 179: »Luther hält um der Heilsgewissheit willen konsequent an der Rede von Gottes Allmacht und Allwirksamkeit fest«. 106 W. V. LOEWENICH, Theologia crucis, München 61982 (1929). »Der Deus absconditus ist also nicht spekulativ-metaphysisches Denkstück, und er ist auch nicht aus der Welt als Schöpfung deduziert, sondern das Wissen um ihn hat die Gotterschlossenheit in Christus zur Voraussetzung. [...] Gott in seiner Heilsoffenbarung ist nicht zu haben, ohne dass er im Kreuz – das ist als Deus absconditus – geglaubt wird. [...] Man kann und darf also den Deus revelatus und den Deus absconditus nicht trennen oder auf zwei Seiten verteilen wollen. Sofort verschließen sich beide Hinsichten«, RATSCHOW, Glaube, ebd., 240f., Anm. 40. Oder unter anderer Perspektive: I.U. DALFERTH, Deutungen des Bösen. Zur Hermeneutik der religiösen Sinngeschichte des Bösen, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd. V, hg. v. G. FIGAL, Tübingen 2006, 47: »Für christliches Glauben und Denken [...] ist der zentrale Ausdruck dieser kreativen göttlichen Vorsehung und Vorsorge zum Guten das Geschehen von Kreuz und Auferweckung Jesu Christi, in der das Böse der Kreuzigung im Wort vom Kreuz als Gottes Auferweckung des Gekreuzigten zum ewigen Leben mit Gott bekannt und damit als der Ort der Offenbarung von Gottes Liebe für alle verstanden und verkündet wird: Dieses bestimmte Böse (das Kreuz) ist das eschatologische Realsymbol der Selbstfestlegung Gottes, zum Besten der Menschen selbst dort bei ihnen zu bleiben, wo sie im Bösen untergehen, um diesem nicht das letzte Wort zu lassen, sondern es durch seine Gegenwart bei den Betroffenen für sie auf Gutes hin offen zu halten«. 105

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androht. In seinem Zorn verstellt sich der in seinem Herzen liebende und heilende Gott als der unbarmherzige Richter. Aber durch Gottes Geist und das ins Herz gefallene Wort des Evangeliums erkennt der Glaube den Zorn Gottes als dessen Maske. Das wahre Ziel von Gottes Zorn ist es, den todverfallenen Sünder ins Heil und ins Leben zu bringen. Gott macht lebendig, indem er tötet, bringt in den Himmel, indem er in die Hölle führt.107 Das Evangelium macht es möglich, diese sich stets wiederholende Glaubenserfahrung als Gewissheitserfahrung durchzustehen und als fröhliche Heilsgewissheit trotz allem, was dagegen spricht, getröstet zu leben. Von diesen beiden Aspekten ist nun drittens diejenige Verborgenheit Gottes zu unterscheiden, die Luther in De servo arbitrio gegen Erasmus zu Präszienz und Prädestination in Beziehung setzt. Luther verschärft hier die grundsätzliche Undurchschaubarkeit von Gottes Welthandeln, indem er sie auf sein Heilshandeln ausdehnt. Auch sein Heilswille ist unergründlich. Die bedrohliche Rückseite des befreienden sola gratia der Rechtfertigungslehre ist die mögliche Verstellung des Gotteswillens in nackte Willkür. Denn die radikalisierte Gnade, zum Trost des an Gottes unerfüllbarer Forderung verzweifelnden Menschen gedacht, führt in einer möglichen Konsequenz dazu, anzunehmen, dass nicht alle Menschen das für alle gedachte Christusheil annehmen können, selbst wenn sie es wollten. Denn nicht das geschieht, was wir aus freiem Willen wollen mögen, sondern was Gott will, das geschieht.108 Dies zeigt sich dem Glauben in einer in Gottes schöpferischer Allmacht begründeten Notwendigkeitsgewissheit als Geschehensgewissheit.109 Der in seiner Majestät verborgene Gott wirkt Leben und Tod und alles in allem.110 Daher muss man unterscheiden (nicht: trennen) zwischen dem ›gepredigten Wort Gottes‹ und ›Gott selbst‹. In seinem Wort hat Gott sich heilvoll selbst in Grenzen geschlossen und uns bekannt gemacht. Aber wer Gott in seiner Majestät im Blick auf die Erlangung des Heils ist, bleibt uns auch als Christen in seinem Geheimnis verborgen, und daran soll man auch nicht rühren, sondern sich an sein Wort halten, das uns seine Barmherzigkeit und Liebe anbietet.111 Diese drei Aspekte der Verborgenheit Gottes gehören in den Kernbereich des Lebensvorgangs ›christlicher Glaube‹ und sind daher auf’s Ganze ————— 107 M. LUTHER, De servo arbitrio, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Bd. XVIII, Weimar 1908, 633,Z.9–12. 108 O.H. PESCH, Theologie der Rechtfertigung bei Thomas von Aquin und Luther, Mainz 1967, 384. 109 LUTHER, De servo arbitrio, 722,Z.8. E. HERMS, Gewissheit in Luthers De servo arbitrio, in: DERS., Phänomene des Glaubens. Beiträge zur Fundamentaltheologie, Tübingen 2006, 58–80, bes. 60ff. 110 LUTHER, De servo arbitrio, 685,Z.21f. 111 Vgl. LUTHER, De servo arbitrio, 684,Z.15ff.

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gesehen inhaltlich ohne Analogie in den anderen Religionen, auch wenn es mit ihnen Berührungspunkte auf allgemein anthropologischer Ebene gibt, worauf Bayer mit Recht hinweist.112 Daher sind die menschlichen Antworten in den Religionen auch nicht identisch, sondern unterscheiden sich deutlich wegen des jeweils verschiedenen Kernbereichs.113 Christlich öffnet sich durch das Evangelium die Möglichkeit und Wirklichkeit des Ewigen Lebens dadurch, dass die Sünde vom Schöpfer selber getragen wird. So wird »das finstere Herz hell gemacht«114. Im Christusgeschehen hat sich Gottes ›höchstes Geheimnis‹ heilvoll für uns geöffnet, ohne seine Verborgenheit restlos aufzuheben: »Christus, der Sohn Gottes, sei Mensch geworden, Gott sei dreifaltig und einer, Christus habe für uns gelitten und werde herrschen ewiglich«115. Deshalb können wir die oft dunkle Schrift verstehen, jedenfalls alles, was uns zum Heil dient. Unter dem dritten Aspekt der Verborgenheit Gottes lassen sich die heilvollen Offenbarungen der fremden Götter einordnen als Geheimnisse des einen Gottes, die zum Christusgeschehen in analogieloser Fremdheit verbleiben, auch wenn sie nach dem Selbstverständnis ihrer Anhänger den Weg zum Leben eröffnen. Dies ist als Fremdbleiben des Fremden stehen zu lassen, solange die Fremdheit nicht von Gott aufgehoben wird. Auch das Fremde wird in den universalen Heilswillen des Gottes eingeordnet, aus dessen universalem Versöhnungswillen Luther die Notwendigkeitsgewissheit entfaltet, die christliches Leben ermöglicht. Um dieses Urteil zu fällen, bedarf es keines Kriteriums für die Wahrheit und Heilsgewissheit der anderen Religionen, wohl aber ein aus der Christologie gefolgertes inneres Kriterium des Christentums und seines Gottesverständnisses. Dabei verwandelt sich der Absolutheitsbegriff noch weiter weg von Troeltschs Sprachgebrauch der bisherigen ›Höchstgeltung‹, als es bei Härle der Fall ————— 112

BAYER, Vielheit, 482f. RATSCHOW, Religionen, 123: »Der Christ glaubt an den Gott Israels, den Vatergott Jesu, wie er als Jesus von Nazareth präsent war und die Welt ereignete und wie er als Geist uns heute Zuwendung eröffnet, so dass seine Liebe als die ›Wirklichkeit‹ in Natur wie Geschichte gewiß werden kann. Der Muslim gehorcht Allah, dem Gnädigen und Barmherzigen, dem Herrscher am Tage des Gerichts, der seinen Willen mit seinen eigenen Worten als Qur’an durch seinen Propheten Muhammad kundgetan und sich als dieser Qur’an bis heute der Welt eröffnet. Seine absolute Herrschaft erfüllt das Geschehen der Welt als Natur und Geschichte in befreiendem quisma. Der Hindu empfängt Krishnan oder Kali in der Hingabe opfernden Verehrens (puja) auf dem Boden des tiefen Sich-Einlassens in ihre Aura (yoga) so, dass das Ganze der Wirklichkeit dem einzelnen – in Zeit wie Raum – anwesend vermittelt wird. Der theravada-Buddhist erstrebt den Weg der Bodhi in den Methoden der Ablösung von der vordergründigen Wirklichkeitsgebundenheit seines Daseins, damit das Rad der Geburten zum Stillstand kommt und das Karma erlischt«. 114 HERMS, Gewissheit, 75, mit Verweis auf die Erleuchtungsmetapher in LUTHER, De servo arbitrio, 606, Z.1–607, Z.18. 115 LUTHER, De servo arbitrio, 606, Z.25–27. 113

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war, der den Begriff mit Recht als Unüberbietbarkeit las. Im Absolutheitsanspruch, der jeder Religion zugebilligt werden muss, wird mit der Anerkenntnis der individuellen Unüberbietbarkeit des Selbstverständnisses der Religionen zugleich die Unmöglichkeit ausgedrückt, die Wahrheit einer anderen Religion überhaupt zu verstehen, weil der nach innen gewandte Absolutheitsanspruch es ausschließt, neben der eigenen Gottheit die Gottheit anderer Götter zu erfassen:116 »Das ›Verstehen‹ eines Gottes ist mit dem Eintritt in seine Verehrung identisch«117. Freilich bleiben auch hier Schwierigkeiten. Vielleicht markiert die Ausgangsfrage die Quadratur des Kreises, nur theologisch. Die Grenzziehung zum verhüllenden Modalismus wird bedenklich unscharf. Und die Wahrnehmung der Heilswirksamkeit der anderen Heilspotenzen bleibt aus christlicher Perspektive ein Postulat, allerdings eines im Kantischen Sinn: Es ist die transzendentale Voraussetzung für den interreligiösen Dialog und das friedliche, gewiss nicht konfliktfreie Zusammenleben der Religionen. Der Vorteil der Lösung liegt in seinen praktischen Konsequenzen. Sie ermöglicht den Kirchenleitungen, den Dialog mit anderen Religionen zu führen, ohne sie stets einem für sie unangemessenen Kriterium zu unterwerfen, ohne jedoch auf eine Ablehnungskomponente zu verzichten, die für das, was Toleranz heißt, essentiell ist und durch den Verweis auf die Begrenztheit des Verstehens den Raum für eine »Relativierung ohne Relativismus und Skeptizismus«118 eröffnet.

————— 116

RATSCHOW, Religionen, 126. C.H. RATSCHOW, Methodik der Religionswissenschaft, in: Methoden der Anthropologie, Anthropographie, Völkerkunde und Religionswissenschaft, dargestellt von I. SCHWIDETZKY u.a., München/Wien 1973, 395. 118 R. FORST, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a.M. 2004, 630ff. Diese theologisch begründete Ablehnungskomponente verbietet beispielsweise interreligiöse Gottesdienste und Gebete an den gleichen numinosen Adressaten. 117

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Ralf Karolus Wüstenberg

Schuld, Gerechtigkeit und Versöhnung Die politischen Umbrüche in Südafrika und Deutschland im theologischen Diskussionszusammenhang der RechtsethikҘ1 Ralf Karolus Wüstenberg Schuld, Gerechtigkeit und Versöhnung Leitbegriffe wie ›Schuld‹, ›Gerechtigkeit‹ und ›Versöhnung‹ implizieren eine hohe gesellschaftliche Tragweite, ja, Explosivkraft, die sich allerdings in den seltensten Fällen begrifflich univok zeigt. Es kann gelegentlich sogar vorkommen, dass sich mit Worten wie ›Versöhnung‹ oder ›Vergebung‹ in der Politik entgegengesetzte Vorstellungen verbinden. So soll z.B. der ehemalige sächsische Justizminister Steffen Heitmann geäußert haben: »Für den gesellschaftlichen Integrationsprozess, den wir in Deutschland brauchen, ist der Begriff der Versöhnung nicht brauchbar.«2 Der anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu forderte hingegen in die Situation des gesellschaftlichen Aufbruchs in Südafrika hinein: »Ohne Vergebung gibt es keine Zukunft.«3 Im folgenden wird der vergangenheitspolitischen Debatte in Deutschland und Südafrika exemplarisch ›auf den Grund‹ gegangen und die leitenden Vorstellungen in der gesellschaftlichen Debatte herausgearbeitet werden. Nach der Analyse der politischen, juristischen und zeithistorischen Debatte Anfang der 1990er Jahre (I.) soll diese theologisch überprüft werden (II.): Lässt sich eine Gleichursprünglichkeit von politischer und christlichreligiöser Versöhnungspraxis annehmen? Begründet die gemeinsame Verwendungsweise von Worten wie ›Wahrheit‹, Vergebung‹, ›Wiedergutmachung‹ und ›Neuanfang‹ in Vergangenheitspolitik und theologischer Versöhnungslehre auch eine Gemeinsamkeit bei den zugrunde liegenden Kategorien? Im folgenden werden diese Leitfragen in rechtsethischer Perspektive eingegrenzt, und es wird nach Gemeinschaft und Abbruch in den wirksamen ————— 1 Vortrag auf Einladung des Lehrstuhls für Ethik, Universität Erlangen, 5.7.2007. Der Beitrag fußt auf meinem Buch: Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland (ÖT 18), Gütersloh 2004 (Neuaufl. Leipzig 2009; englisch: The Political Dimension of Reconciliation, Cambridge/Grand Rapids 2009). 2 Zitiert nach: R. V. WEIZSÄCKER, Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1999, 410. 3 Zitiert nach: R.K. WÜSTENBERG (Hg.), Wahrheit, Recht und Versöhnung. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Frankfurt a.M. 1998, 5.

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Kategorien hinter regulativen Vorstellungen der juristischen Handlungsoptionen einerseits (I.1–5) und Grundvorstellungen theologischer Rechtsethik andererseits (II.1–5) gefragt. Den politischen Verweisungszusammenhang der Versöhnung anhand der Aufarbeitungsvorgänge in Südafrika und Deutschland zu untersuchen liegt schon aus historischen Gründen nahe. Das Ende des Kommunismus hatte sich nicht nur auf Europa ausgewirkt. Ex-Präsident Frederik de Klerk hat in seiner berühmten Rede vom 2. Februar 1990, in der er die Freilassung Nelson Mandelas ankündigte, einen Kausalzusammenhang zwischen dem Fall der Mauer und dem Ende der Apartheid hergestellt. Es sei fortan nicht mehr in gleicher Weise wie zuvor notwendig, sich vor dem Kommunismus zu schützen.4

I. Diskussion juristischer Handlungsoptionen im Kontext Südafrika und Deutschland Was sind die Ausgangsbedingungen für den Umgang mit Schuld in beiden Kontexten? Vom Charakter des Systemwechsels hängen nämlich die Rationalitätskriterien für den Umgang mit der Vergangenheit ab. In Anlehnung an globale Transformationsprozesse kann man drei Grundformen des Systemwechsels unterscheiden: »overthrow, reform, compromise«5. Die Grundtypen treten in realen politischen Prozessen in der Regel als Mischformen auf. Der südafrikanische Übergangsprozess, gekennzeichnet von symmetrischen Machtverhältnissen, lässt sich, wie im einzelnen noch zu zeigen ist, am ehesten in die Kategorie des politischen Kompromisses (compromise) einordnen. Der deutsche Transformationsprozess, gekennzeichnet durch asymmetrische Machtverhältnisse, würde sich im Spiegel internationaler Systemwechsel am ehesten in die Kategorie des Umsturzes (overthrow) einordnen lassen, da sich das SED-Regime »bis zuletzt jeder Reform widersetzt«6 hat. Die Weichen für den Umgang mit der Vergangenheit stellen sich in Südafrika im Unterschied zu Deutschland langsam. Die entscheidenden Ereignisse fallen in den Zeitraum zwischen der Freilassung Nelson Mandelas am 11. Februar 1990 und seiner Vereidigung als erster Präsident eines demokratischen Südafrikas am 10. Mai 1994. In dem mehrjährigen Prozess ————— 4

Vgl. Debates of Parliament (Hansard), Friday 2nd February 1990 (Joint Sitting), Spalten 1–

18. 5 N. KRITZ (Hg.), Transitional Justice. How emerging democracies reckon with former regimes, vol. I: General Considerations, Washington 1995, 112. 6 H. WOLLMANN, Der Systemwechsel in Ostdeutschland, Ungarn, Polen und Russland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 5 (1998), 3.

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Schuld, Gerechtigkeit und Versöhnung

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werden Schritt für Schritt der alten Regierung Zugeständnisse abgerungen, die im Herbst 1993 in die erfolgreiche Aushandlung einer Übergangsverfassung münden und im Frühjahr 1994 erste freie Wahlen am Kap ermöglichen. Im Vergleich zu Südafrika werden die Weichen in Deutschland rasch gestellt. Mit dem Inkrafttreten des Einigungsvertrages am 3. Oktober 1990 ist der weitere Weg vorgezeichnet:    

Strafverfolgung der DDR-Regierungskriminalität, Regelung für die Stasiakten, Wiedergutmachung für die Opfer sowie Überprüfungen bei der Übernahme in den öffentlichen Dienst.

Dieser Katalog an Weichenstellungen steht in einer direkten Beziehung zu den prinzipiellen Handlungsoptionen, die einem Land beim Übergang zur Demokratie zur Verfügung stehen. Ergebnis des Rechts- und Politikwissenschaft übergreifenden international geführten Transformationsdiskurses7 ist die Systematisierung von fünf Handlungsoptionen:     

Option 1: die Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen. Option 2: das Gegenteil: Nichtstun. Sei es in der Form der Generalamnestie oder einfach des ›Ruhen-Lassens‹. Option 3: die Aufklärung vergangenen Unrechts, z.B. durch sogenannte Wahrheitskommissionen. Option 4: die Wiedergutmachung für die Opfer, z.B. Rückgabe von Land, materielle Entschädigung, juristische und moralische Rehabilitierung. Option 5: die Sanktionen außerhalb des Strafrechts, z.B. Säuberung des öffentlichen Dienstes, einschließlich Polizei und Militär, von belasteten Mitarbeitern.

Die fünf Optionen geben für eine rechtsethische Analyse den adäquaten Rahmen vor, in dem die Ausgangsbedingungen im südafrikanischen wie deutschen Vorgang untersucht werden können. Der Vergleich8 drängt in analytischer Hinsicht auch Fragen auf: Warum entscheidet sich Südafrika für eine Amnestieregelung, während in Deutschland schwere Menschen————— 7

Vgl. zum internationalen Diskurs: N. KRITZ, Transitional Justice, vol. I; S.PH. HUNTINGTON, The Third Wave. Democratization in the late twentieth century, Oklahoma 1991; G. WERLE, Ohne Wahrheit keine Versöhnung! Der südafrikanische Rechtsstaat und die ApartheidVergangenheit (= Öffentliche Vorlesungen der Humboldt-Universität Nr. 60) Berlin 1995. Zum deutschen Diskurs: P. STEINBACH, Vergangenheitsbewältigung in vergleichender Perspektive, Berlin 1993; C. OFFE, Rechtswege der ›Vergangenheitspolitik‹: Disqualifizierung, Bestrafung, Restitution, in: DERS., Der Tunnel am Ende des Lichts. Erkundungen der politischen Transformation im neuen Osten, Frankfurt a.M. 1994, 187ff.; P. BOCK/E.WOLFRUM, Umkämpfte Vergangenheit, Göttingen 1999, 82ff. 8 Vgl. methodisch G. HAUPT/J. KOCKA, Geschichte und Vergleich, Frankfurt a.M. 1996, 25.

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rechtsverletzungen strafrechtlich verfolgt werden? Wie kommt es, dass beide Länder eine Aufklärung über vergangene Verbrechen fordern? Welche Möglichkeiten der Wiedergutmachung für erlittenes Unrecht gibt es? Was sind die Bedingungen für den unterschiedlichen Umgang mit belasteten Mitarbeitern in beiden Kontexten? 1. Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen (Option 1): Für jede Handlungsoption sprechen bestimmte Argumente9, die hinter der Debatte in den Kontexten wirksam sind. Für die Strafverfolgung werden in der Literatur folgende Argumente geltend gemacht: Wahrheit und Gerechtigkeit fordern die Strafverfolgung; das neue Regime schuldet dies den Opfern und deren Familien; Strafverfolgung ist notwendig, um die Überlegenheit der demokratischen Normen und Werte zu demonstrieren. Auf diese Weise wird das Vertrauen in die Justiz wiederhergestellt; eine Strafverfolgung der Verbrechen ist notwendig, damit Menschenrechtsverletzungen überhaupt als kriminelle Taten angesehen werden.

Die Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen scheidet in Südafrika aus drei Gründen aus: Zunächst ist sie mit dem Charakter des Systemwechsels unvereinbar. Es hat einen verhandelten Übergang gegeben – ohne Sieger. Zweitens wäre zu fragen, was die Durchsetzung des Strafrechts für die südafrikanische Justiz bedeutet hätte. In vielen Fällen wäre es gar nicht zu Anklagen gekommen. Allein im Zeitraum zwischen 1990 und 1994 sind über einhunderttausend Akten vernichtet worden. Viele Straftaten würden ohnehin nicht vor Gericht kommen. Auch in Südafrika gilt der Grundsatz nulla poena sine lege. »Die systemimmanente Legalität des Apartheidstaates schließt trotz ihrer Menschenrechtswidrigkeit Bestrafungen aus.«10 Die strafrechtliche Ahndung der Menschenrechtsverletzungen hat schließlich dem politischen Willen weder der beteiligten Parteien noch ihrer Hauptakteure F. de Klerk und N. Mandela entsprochen. Beide Verhandlungspartner, die NP und der ANC, waren in Menschenrechtsverletzungen verwickelt. Auch auf Seiten des ANC fehlt das Bewusstsein, dass die begangenen Handlungen kriminelle Taten waren.11 So werden die Probleme zusammenfassend kommentiert: »Und wenn wir den Tag abwarten wollten, bis alle Gerechtigkeit im juristischen Sinne durchgesetzt ist,

————— 9

Vgl. vor allem N. KRITZ, Transitional Justice. G. WERLE, Ohne Wahrheit keine Versöhnung! Der südafrikanische Rechtsstaat und die Apartheidvergangenheit, Berlin 1995, 8. 11 Stattdessen wird versucht, die Menschenrechtsverletzungen des Widerstandes moralisch zu legitimieren. Schon quantitativ seien die Toten und Verletzten des Befreiungskampfes nicht mit der Zahl derer zu vergleichen, die bei der Verteidigung der Apartheid starben. 10

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wird es zu spät sein für Versöhnung.«12 Zugunsten von ›national unity‹ und ›nation building‹ werden in der südafrikanischen Transformationsphase die Weichen gegen eine Strafverfolgung gestellt. Südafrika möchte ein Denken überwinden, wonach Versöhnung erst möglich wird nach dem Bestrafen. Andererseits müssen Anforderungen noch definiert werden, die die gewünschte Versöhnung möglich machen. Argumente, die für die Strafverfolgung plädierten, wie: ›Menschenrechtsverletzungen zu bestrafen ist die moralische Pflicht des neuen Regimes‹, konnten sich im politischen Diskurs Südafrikas nicht durchsetzten. In Deutschland hingegen waren sie einschlägig. Die strafrechtliche Verfolgung des DDR-Unrechts ist mit dem Charakter des Systemwechsels vereinbar. Im Gegensatz zu Südafrika hat es keinen verhandelten Übergang gegeben, sondern einen ›Umsturz‹. Auf die Belange des alten Regimes musste keine Rücksicht genommen werden. Die rechtlich geordnete Strafverfolgung trat unmittelbar nach der Wende auf den Plan.13 Die Frage, ob verfolgt werden soll, ist als solche nicht Gegenstand eines eigenständigen Diskurses. Option 1 nimmt Bezug auf die Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen.14 Der Kern der Rechtsprechung15 in den sogenannten Mauerschützenprozessen lief auf eine bestimmte Lesart des Einigungsvertrages hinaus: Das Recht der DDR wird dort beachtet, wo es nicht zu einem schwerwiegenden Verstoß gegen Menschenrechte führt: Tötung ist strafbar. In der deutschen Diskussion ist das Argument fest verankert: Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen ist notwendig, um die Überlegenheit der demokratischen Normen und Werte zu demonstrieren. Das andere Argument, dass im Sinne der Generalprävention der gesamten Bevölkerung gezeigt werden muss, dass Menschenrechtsverletzun————— 12

Zuerst kamen die Opfer, dann zögerlich die Täter. Ein Interview mit Beyers Naudé und Wolfram Kistner, in: Frankfurter Rundschau 1997/40 (17.2.1997), 10. 13 »Schon am 21. November 1989 lagen dem Generalstaatsanwalt der DDR aus der Bevölkerung 170 Eingaben und Anzeigen vor. Sie betrafen hauptsächlich den Vorwurf, dass die komfortablen Bauten der Staats- und Parteispitze auf Kosten des Volkes errichtet worden seien.« K. MARXEN/G. WERLE, Die strafrechtliche Aufarbeitung von DDR-Unrecht, Berlin 1999, 149. 14 Die Bilanz zur strafrechtlichen Aufarbeitung des DDR-Unrechts von Marxen und Werle bietet eine Übersicht über die Erscheinungsformen des Unrechts und trägt dazu bei, Option 1 in unserem Diskussionszusammenhang zu lokalisieren: Nach Deliktsgruppen wird bei MARXEN/ WERLE, Die strafrechtliche Aufarbeitung, 7ff., unterschieden zwischen »Gewalttaten an der deutsch-deutschen-Grenze, Wahlfälschung, Rechtsbeugung, Denunziation, MfS-Straftaten, Mißhandlungen in Haftanstalten, Doping, Amtsmißbrauch und Korruption, Wirtschaftsstraftaten und Spionage«. 15 BGH, Urteil v. 3.11.1992 – Az. 5 StR 370/92, BGHSt 39,I ff. Das BGH-Urteil ist später durch das Bundesverfassungsgericht als verfassungskonform bestätigt worden. Vgl. BVerfG, Beschluß v. 24.10.1996 – Az. 2BvR 1851/94, 1853/94, 1875/94 und 1852/94, BVerfGe 95f., 131ff. Auf die kontroverse Diskussion der juristischen Fachwelt wird an dieser Stelle nicht eingegangen werden.

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gen nicht länger geduldet werden, trägt insofern, als die Urteile Aufklärungsfunktion hatten: Im Bewusstsein der Menschen wird verankert, dass es zu diesen Menschenrechtsverletzungen kam und man nicht ohne Feststellung der Schuld über sie hinweg eine neue Gesellschaft aufbauen kann. Die Auffassung ist: Versöhnung kann nicht die Bestrafung ausklammern; vielmehr schafft die Strafverfolgung Voraussetzungen, die Versöhnung erst möglich machen. 2. Das Gegenteil von Strafverfolgung: Generalamnestie oder ›RuhenLassen‹ (Option 2): Aus der internationalen Transformationsliteratur sprechen folgende Argumente für die Amnestie: Sie ist notwendig, um eine junge Demokratie auf eine solide Basis zu stellen; die Konsolidierung der Demokratie hat Vorrang vor der Strafverfolgung Einzelner. In den meisten Fällen sind sowohl die Herrschenden als auch die Opponierenden in Menschenrechtsverletzungen verwickelt: Daher bietet eine Generalamnestie die beste Grundlage beim Übergang zur Demokratie. Die ehemaligen Herrscher sind meist nur dann bereit, ihre Macht abzugeben und freie Wahlen stattfinden zu lassen, wenn ihnen eine Amnestie zugesichert wird.

Der spätere südafrikanische Verfassungsrichter Albie Sachs16 erinnert sich an die politischen Positionen, die bei den entscheidenden Verhandlungen zur Übergangsverfassung im Herbst 1993 zur Diskussion standen: Generalamnestie auf Seiten der NP, verbunden mit der Überlegung: »The cooperation of the Defence Force and of the South African Police was necessary during the election. How could they be expected to co-operate, if they did not have the assurance that the new government would not prosecute them.« Auf der anderen Seite stand die Ablehnung der Generalamnestie durch den ANC mit der Begründung: »An amnesty did not take account of the needs and the pain of the victims.« Das Ergebnis der Verhandlungen war ein politischer Kompromiss, der seinen Ausdruck in der Amnestieklausel der Übergangsverfassung fand: »In order to advance reconciliation, amnesty shall be granted in respect of acts, omissions and offences associated with political objectives and committed in the course of the conflicts of the past. To this end, Parliament under this Constitution shall adopt a law providing for the mechanisms, criteria and procedures, through which such amnesty shall be dealt with at any time after the law has been passed.«17 Mit der Amnestieklausel sind die Weichen auf Amnestierung und Wahrheitsfindung gestellt; eine Generalamnestie, die mit der Amnesie verbunden ist, ————— 16 Comment on a first perusal of the bill setting up the Truth and Reconciliation Commission. Arbeitspapier (= Dokument Nr. 112 Wissenschaftliches Archiv der TRC, Kapstadt). 17 Constitution of the Republic of South Africa, ACT No. 200 (1993), Final Clause.

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scheidet aus. Doch wie die Amnestiegesetzgebung ausgestaltet wird, konnte erst nach den ersten demokratischen Wahlen in Südafrika im April 1994 bedacht werden. Der Charakter des Systemwechsels in Ostdeutschland, aber auch die weitere Entwicklung auf dem Weg zur staatlichen Einheit machten die politische Notwendigkeit von Option 2 nicht dringend: Es drohte kein Putsch; die ehemaligen Herrscher mussten nicht durch ein Amnestiegesetz dazu bewegt werden, ihre Macht abzugeben. Auch das Argument trug in der Debatte nicht, dass die Amnestie notwendig sei, um eine junge Demokratie auf eine solide Basis zu stellen. Die Asymmetrie, die den Prozess der deutschen Einheit später kennzeichnete, trug dazu bei, dass die junge Demokratie Ostdeutschlands in die stabile Westdeutschlands einging, es faktisch nach der staatlichen Einheit gar keine instabile, ›junge‹ Demokratie im Sinne der globalen Transformationsforschung gab. Eine Ausnahme bildet der Bereich der Spionage.18 Wäre es um der Aussöhnung der Deutschen willen nicht angebracht, Spionagestraftaten gegen die Bundesrepublik, die im buchstäblichen Sinne der Vergangenheit angehören, ruhen zu lassen oder zu amnestieren? Die Antwort hängt von der Beurteilung der Spionagetätigkeit ab. Während die Befürworter einer Amnestie für Spione argumentieren, dass jedes Land der Welt Nachrichtendienste unterhält, Spionage also immer gleich Spionage sei, fragen die Gegner: Ist die Spionageabteilung innerhalb des MfS (die HVA) tatsächlich von den anderen Machenschaften der Stasi zu trennen? Kommen bei der Spionage nicht auch schwere Menschenrechtsverletzungen vor, die man nicht ebenfalls ruhen lassen kann? ›Nichtstun‹ in der Form des RuhenLassens wäre im deutschen Kontext möglich gewesen, wenn bei der Überleitung bundesdeutschen Rechts auf die Geltung im Beitrittsgebiet durch den EV die Paragraphen des Strafgesetzbuches, die die Ahndung der Spionagetätigkeit regeln19, ausgenommen worden wären.20 Das ist aber nicht geschehen. Vielmehr setzte sich die Meinung durch: Amnestie fördert so wenig die Versöhnung, wie Strafverfolgung sie hindert. Versöhnung und Amnestie müssen wie Moral und Recht auseinandergehalten werden.

————— 18 Zur Spionage als Erscheinungsform des DDR-Unrechts: MARXEN/WERLE, Die strafrechtliche Aufarbeitung, 128ff. 19 §93ff. StGB. Bei MARXEN/WERLE, Die strafrechtliche Aufarbeitung, 134–136, findet sich eine systematische Übersicht über alle relevanten juristischen Fachfragen zur Strafbarkeit der Spionage nach bundesdeutschem Recht, vor allem Fragen des materiellen Rechts (also was kann bestraft werden?), der Gerichtsverfassung (wer ist zuständig?) und des Prozessrechts (wann und wer kann ein Spionagestrafverfahren einstellen?). 20 Art. 315 Abschn.4 EGStGB Ld.F. Art.8 EV.

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3. Aufklärung vergangenen Unrechts (Option 3): Folgende Argumente sprechen für die Aufklärung: Weiten Teilen der Bevölkerung ist häufig das Ausmaß der vergangenen Verbrechen nicht bewusst. Ohne die Aufklärung vergangenen Unrechts werden innerhalb der Gesellschaft Geschichtsbilder aufrechterhalten, die die autoritäre Vergangenheit u.U. glorifizieren und damit die Ausbreitung demokratischer Orientierungen behindern. Einzelne und Gruppen in der Gesellschaft tragen Mitschuld an den Verbrechen, die durch ein totalitäres System begangen wurden. Umfassende Aufklärung kann helfen, damit die Übernahme von Verantwortung auch in der breiten Gesellschaft eingeleitet wird.

Diese Option wird häufig von Ländern in Betracht gezogen, deren Systemwechsel als politischer Kompromiss charakterisiert werden kann. Neben Südafrika sind bekannte Beispiele EI Salvador, Nicaragua und Uruguay. Wenn schon keine Strafverfolgung durchsetzbar ist, soll zumindest die ›Wahrheit‹ über die Verbrechen der Vergangenheit ans Licht kommen. »Truth is what you offer when you can’t offer justice«, kommentiert ein Beobachter.21 Aufklärung ist demnach der dritte Weg zwischen Strafverfolgung auf der einen und Vergessen der Vergangenheit auf der anderen Seite. Auf der Höhe der südafrikanischen Amnestiedebatte im Jahr 1992 wird auch zum ersten Mal die Idee der Installation einer Wahrheitskommission für Südafrika geäußert.22 Die Aufarbeitung der Vergangenheit mit der Bildung einer ›Kommission‹ zu verbinden, scheint auch aus pragmatischen Gründen nahe liegend: Eine Kommission schafft ein Forum für Versöhnung. Für die konzeptionelle Gestaltung der späteren Wahrheits- und Versöhnungskommission spielten die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) eine wichtige Rolle. Sie gestalteten den Rahmen, den die Politik nach den Wahlen vorgeben konnte. Das Ergebnis der südafrikanischen Diskussion um Option 3 lautet in den Worten des späteren Vizepräsidenten der TRC, Alex Boraine: »South Africa has decided to say no to amnesia and yes to remembrance; to say no to full-scale prosecution and yes to forgiveness«.23 Anders als in Südafrika wurde die Aufklärung der Verbrechen in Deutschland nicht zum Ersatz für die fehlende Strafverfolgung. Klaus Tanner formuliert den Kernsachverhalt: »Weniger ein Interesse an Bestrafung als dieses Aufklärungsinteresse ist es, das viele Vertreter der Bürgerbewegung in der alten DDR an der Forderung nach strafrechtlicher Verfol————— 21 Mündliche Auskunft von Brandon Hamber, Centre for the Study of Violence and Reconciliation, Johannesburg 1996. 22 Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report, Kapstadt 1998, Bd. I, 6. 23 A. BORAINE, Truth and Reconciliation Commission. What about Justice? Manuskript 1994, 4.

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gung festhalten lässt«.24 Insofern bewahrheitet sich der Grundsatz: »Wahrheitskommissionen schließen [...] eine strafrechtliche Verfolgung nicht aus«.25 Diese Grundlinie verzweigt sich nach der Wende in zwei Diskussionsstränge: Einerseits führt sie über den Beschluss des Zentralen Runden Tisches vom 7. Januar 1990, den Staatssicherheitsapparat unter ziviler Aufsicht aufzulösen sowie die Vernichtung von Dokumenten zu stoppen, über das Volkskammergesetz vom 24. August 1990 zum Stasi-Unterlagengesetz vom Dezember 1991 (StUG). Andererseits mündet sie in die einschlägigen Debatten um ein öffentliches Tribunal, die, in rechtsstaatliche Bahnen gelenkt, zur Einsetzung der Enquete-Kommission (EK) des Deutschen Bundestages ›Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland‹ im Jahr 1992 führen sollten. Hinter dem StUG steht die Auffassung: Versöhnung ist nur durch Wahrheit möglich. Erst wenn ich weiß, was gewesen ist, kann ich mit meiner Vergangenheit abschließen.26 Die EK kombiniert Gedanken von historischer Aufklärung mit dem Anliegen nach einem moralischen Diskurs. Aufgabe der Kommission sei das »Bemühen, verletztem Rechtsempfinden durch Offenlegung des Unrechts und Benennung von Verantwortlichkeiten Genüge zu tun. Zugleich gilt es, einen Beitrag zur Versöhnung in der Gesellschaft zu leisten«.27 ›Versöhnung durch Wahrheit‹ durchzieht als wiederkehrende Formel den deutschen wie südafrikanischen Diskussionsprozess um Option 3. 4. Wiedergutmachung für die Opfer (Option 4): Für die Wiedergutmachung sprechen diese Argumente: Die offizielle Anerkennung der Leiden der Opfer trägt dazu bei, ihre Würde wiederherzustellen. Die Entschädigung der Opfer ist grundlegend, damit sich aus ihrer Perspektive das Unrecht nicht fortsetzt. Am Umgang mit den Opfern erweist sich die Legitimität einer jungen Demokratie. Eine Rehabilitierung, die das Ziel der Eingliederung in die neue Ordnung hat, fördert die Stabilität beim demokratischen Aufbruch.

Wie kann das Unrecht von fünf Jahrhunderten Kolonialisierung und vier Jahrzehnten Apartheid wieder gutgemacht werden? Eine materielle Entschädigungsregelung scheidet in Südafrika aus; sie hätte nicht nur die ————— 24 K. TANNER, Amnestie Fragezeichen; in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 39 (1995), 170ff., hier 172. 25 MARXEN/WERLE, Die strafrechtliche Aufarbeitung, 256. 26 Zweck des Gesetzes sei, »die Einflußnahme des Staatssicherheitsdienstes auf sein persönliches Schicksal aufklären«, §1,1(1) StUG. 27 Materialien der Enquete-Kommission Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), Bd. I, 188.

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Ressourcen des Landes überstiegen. Bei der Durchsetzung von Option 4 muss ebenso berücksichtigt werden, dass die Weichen in der Transformationsphase so gestellt worden sind, dass die Gesetzgebung der Apartheid nicht im nachhinein für illegal erklärt werden kann.28 Wie kann eine Wiedergutmachung unter diesen Bedingungen aussehen? Mit Hilfe folgender Überlegung: Wenn schon nicht Gerechtigkeit im Sinne der vollen materiellen Entschädigung zu erwarten ist, dann muss zumindest das Leiden der Opfer offiziell anerkannt werden. Die ›Wahrheit‹ wird gegenüber Option 3 um einen entscheidenden Gesichtspunkt erweitert: Es geht nicht um Tatsachenwahrheit (factual truth), sondern um Wahrheit als moralische Anerkennung des erlittenen Schicksals (truth as acknowledgement); es geht nicht mehr um die gerichtlich verwertbare Faktenwahrheit, sondern um die heilende Wahrheit. Die Weichen werden im südafrikanischen Prozess für die moralische Wiedergutmachung gestellt. Ganz anders verläuft der Prozess in Deutschland. Hier sind die Weichen mittels einer verzweigten Gesetzgebung auf die strafrechtliche, berufliche und verwaltungsrechtliche Rehabilitierung gestellt worden.29 Außerdem ist mit der Formel ›Rückgabe vor Entschädigung‹ versucht worden, Unrecht ›spiegelbildlich‹ (R. Wassermann) wieder gut zu machen. 5. Sanktionen außerhalb des Strafrechts (Option 5): Für die Wahl dieser Option sprechen folgende Argumente: Ein Demokratisierungsprozess ist ohne Elitenwechsel nicht glaubwürdig durchführbar. – Demokratie achtet das Gesetz. Es muss deutlich werden, dass niemand über dem Gesetz steht, auch nicht hohe Beamte oder Militärs. – Sollte es der Polizei oder den Militärs gelingen, durch politischen Einfluss von Strafverfolgung frei zu sein, ist ein Land noch nicht in der Demokratie angekommen und muss weiter für die Durchsetzung der demokratischen Strukturen kämpfen.

Mit dem Charakter des Systemwechsels verbindet sich in Südafrika die Kontinuität in Polizei und Militär. Wo Strafverfolgung nicht durchsetzbar ist, greifen auch die Sanktionen außerhalb des Strafrechts nicht. Gegen die Kontinuität steht das Interesse der Aufklärung, vor allem durch den Bevölkerungsteil, der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen war. So wird Option 5 auch in Verbindung mit Option 3 (Aufklärung) erörtert. Wenn es schon keine berufliche Disqualifizierung von Mitarbeitern in Militär und ————— 28 So ergibt sich ein gesondertes Problem im Bezug auf die Frage der Rückgabe von Land. Zwangsumsiedlungen waren rechtmäßig. So musste ein Gesetz geschaffen werden, das die Restitutionsansprüche regelt; der sog. Land Rights Act tritt 1994 in Kraft. 29 Erstes Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht vom 20.10.1992, BGBI. I, 1814; Zweites Gesetz zur Bereinigung von SED-Unrecht vom 23.6.1994, BGBI. I, 1311.

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Polizei geben wird, soll zumindest die Wahrheit über ihre Verwicklungen in Menschenrechtsverletzungen ans Licht kommen. Gerhard Werle urteilt zusammenfassend: »Und trotz ihrer revolutionären Substanz zwingt die Übergangsverfassung zur äußerlichen Kontinuität in Verwaltung, Polizei und Militär«.30 Für die Demokratisierung sind auch die Funktionäre der alten Ordnung zuständig, nach dem Motto: Versöhnung ermöglicht einen Neuanfang um jeden Preis. Im deutschen Transformationsvorgang konnte sich das Argument durchsetzen: Ein Demokratisierungsprozess ist ohne Elitenwechsel nicht glaubwürdig durchführbar. Die Auffassung ist: Neben der Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen ist der Elitenwechsel der zweite Bereich, in dem öffentlich über Schuld geredet werden muss. Man kann weder über die Toten an der Mauer hinwegsehen, noch mit den Funktionären der alten Ordnung einen glaubhaften Neuanfang machen. Im Unterschied zu Südafrika soll ein umfassendes Versöhnungsangebot nicht allen Bevölkerungsschichten gleichzeitig gemacht werden. Schwere persönliche Schuld wird mit beruflicher Disqualifikation sanktioniert. Der spezifische Charakter des Transformationsvorgangs machte den Elitenwechsel in der zweiten Phase, also nach dem staatlichen Zusammenschluss möglich. Unbelastetes Personal stand zur Verfügung. Vorher war die rigide Handhabung von Option 5 auch im (ost-)deutschen Kontext nicht möglich. Noch im April 1990 erklärt de Maizière gegenüber der Bundesregierung, »dass er die NVA nicht auflösen könne, weil die entlassenen Offiziere ein Sicherheitsrisiko bedeuten würden«.31 6. Fazit der vergangenheitspolitischen Analyse: Die Diskussion der Optionen in den politischen Kontexten zeichnet exemplarisch die Bahnen der sog. Vergangenheitspolitik nach. Sichtbare Zeichen in der politischen Wirklichkeit sind die Institutionen, die sich als Ergebnis der Debatten herauskristallisieren. Am Ende des südafrikanischen Diskurses steht 1995 die Einsetzung32 der Wahrheits- und Versöhnungskommission (kurz: TRC). Die unterschiedlichen Handlungsoptionen, die hinter der südafrikanischen Debatte zwischen 1990 und 94 wirksam sind, gingen in die Arbeitsweise der Wahrheitskommission ein.33 Die TRC, die nach den Wahlen vom südafrikanischen Parlament eingesetzt werden konnte, trug nicht nur zur Aufklärung des Apartheidunrechts bei (Option 3); sie konnte unter gesetzlich geregelten ————— 30

WERLE, Ohne Wahrheit, 8. Zitiert nach: H. TELTSCHIK, 329 Tage, Berlin 1991, 198. 32 Gesetzlich geregelt durch den Act No 34/95 Promotion of National Unity and Reconciliation Act. 33 Truth and Reconciliation Commission of South Africa Report, Bd. I, Kapstadt 1998, 48ff. 31

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Voraussetzungen Straftäter amnestieren (Option 2), Entschädigungsvorschläge unterbreiten sowie durch Anhörung von Opfern zur moralischen Rehabilitierung beitragen (Option 4). Schließlich trägt die TRC dazu bei, dass nur temporal die Durchsetzung des Strafrechts außer kraft gesetzt wird: Wo Täter keine Amnestieanträge einreichen oder sie durch die TRC abgelehnt werden, droht ihnen nach dem Ende der Kommissionsarbeit die strafrechtliche Verfolgung. Das Ende der deutschen Debatte führt zu mehreren Institutionen: (1) die Staatsanwaltschaft 1 beim Landgericht Berlin, gemeinsam mit den anderen Staatsanwaltschaften der neuen Bundesländer zuständig für die Verfolgung der DDR-Regierungskriminalität (Option 1); (2) die Enquete-Kommissionen zur DDR-Vergangenheit, von internationalen Beobachtern als ›Wahrheitskommission‹ eingestuft.34 – Ihre Aufgabe35 bestand in der »politisch-historischen Analyse und politisch-moralischen Bewertung der SED-Diktatur« (Option 3) sowie darin, durch öffentliche Anhörungen und gesetzesbegleitende Maßnahmen zur Rehabilitierung der Opfer beizutragen (Option 4). (3) Die ›Birthler‹-Behörde, die nicht nur für die Aufklärung des persönlichen Schicksals Betroffener eine Rolle spielt (Option 3), sondern weichenstellend für Rehabilitierungsvorgänge wirkt (Option 4) sowie entscheidendes Instrument bei der Durchsetzung von Sanktionen außerhalb des Strafrechts war (Option 5). Anders als in Südafrika, wo unter dem Dach der TRC, um mit Karl Jaspers36 zu sprechen, nicht nur die kriminelle, sondern auch die politische, moralische und mithin die metaphysische Dimension der Schuld behandelt wurde, ist der Prozess in Deutschland weniger homogen. Der Staat sei »so modern und ausdifferenziert«, kommentiert Joachim Gauck, »dass alles seinen Platz hat«.37

————— 34 P. HAYNER, Fifteen truth Commissions – 1974 to 1994: A comparative study, in: Human Rights Quarterly 16 (1994), 597ff. 35 Zum Mandat: Materialien der Enquete-Kommission, ebd., Bd. I, 188f. 36 K. JASPERS, Die Schuldfrage. Von der politischen Haftung Deutschlands, München 1996. 37 Zitiert nach: WÜSTENBERG, Wahrheit, 117.

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II. Prüfung theologischer Anschlussmöglichkeiten – Kategoriengemeinschaften und -abbrüche zwischen politischer Versöhnung und theologischer Versöhnungspraxis Angeschlossen an die politisch-juristischen Handlungsoptionen 1–5 sind Kategorien (wie ›Strafe‹, ›Amnestie‹, ›Wahrheit‹, ›Wiedergutmachung‹, ›Neuanfang‹), die im folgenden auf ihre Gemeinsamkeit mit der Theologie hin überprüft werden sollen. Lässt sich eine Gleichursprünglichkeit von politischer und christlich-religiöser Versöhnungspraxis explorieren? Begründet die gemeinsame Verwendungsweise von Worten wie ›Wahrheit‹, ›Vergebung‹, ›Wiedergutmachung‹ und ›Neuanfang‹ in Vergangenheitspolitik und theologischer Versöhnungslehre eine Gemeinsamkeit der jeweils zugrunde liegenden Kategorien? Wenn ja, dann würde man ›in‹ politischen Zusammenhängen etwas Verheißungsvolles erblicken dürfen, nämlich eine ›Praxis der Versöhnung‹. Wir nehmen im folgenden die Leitfrage in rechtsethischer Perspektive auf und fragen nach Gemeinschaft und Abbruch in den wirksamen Kategorien hinter den regulativen Vorstellungen der juristischen Handlungsoptionen einerseits und Grundvorstellungen theologischer Rechtsethik andererseits. 1. Strafverfolgung und Amnestie, die empirisch analysierten Handlungsoptionen 1 und 2, sind juristische Kategorien, die eine (eigenständige) Bedeutung innerhalb des Rechtssystems haben. In Transformationsgesellschaften erhalten sie zudem eine politische Dimension, insofern sie prinzipielle Handlungsoptionen im Blick auf den Umgang mit vergangenem Staatsunrecht markieren. Prinzipiell deshalb, weil nicht beide Optionen in gleicher Weise jeder Übergangsgesellschaft offenstehen. Amnestien für vergangene Straftaten werden durchgesetzt, wo die politischen Machtverhältnisse das ermöglichen. Gleiches gilt für den (seltenen) Fall der Strafverfolgung. Meine These lautet: Weder ist die Strafverfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen christologisch letztbegründbar noch ist die Amnestie mit der theologischen Kategorie der Vergebung zu verwechseln. Zunächst vier Bemerkungen zur Strafe: 

In lutherischer Perspektive wird man zunächst sagen können: Das Strafrecht dient der ›Erhaltung‹, ist, theologisch betrachtet, ein ›weltlich Ding‹. »Reformatorische Theologie, die vom Gedanken des Gott allein vorbehaltenen Gerichts wie der Gott allein vorbehaltenen

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Rechtfertigung ausgeht, hätte sich nie mit einem Vergeltungsstrafrecht abfinden dürfen«.38 Auf das Strafrecht fällt in theologischer Perspektive insofern ein neues Licht, als es in theologischer Perspektive eine dezidierte Begrenzung erfährt: Die Verhängung von (weltlicher) Strafe kann nur ein Urteil über das Tun bedeuten, nicht aber eins über den ganzen Menschen. Im weltlichen Strafgericht geht es um die ›äußerlich‹ anrechenbare Schuld, nicht um den ›inneren‹ Menschen. Es betrachtet den Menschen in seiner Außen-, nicht in seiner Eigentlichkeitsperspektive. Deshalb darf vor Gericht auch niemals Reue (im theologisch univoken Sinn) abverlangt werden. Hierin kann auch eine kritische Funktion der ›Zwei-Reiche-Lehre‹ erblickt werden: Sie erlaubt nur die kontrollierte Anwendung des Rechts. Die menschliche Würde bleibt dem Strafrecht unverfügbar. (Deshalb wird auch die Todesstrafe von einer Rechtsethik in theologischer Perspektive abgelehnt.) Die beiden regulativen Vorstellungen aus den Kontexten Südafrika und Deutschland, nämlich: ›Versöhnung kann auf die Bestrafung der Täter verzichten‹ oder die gegenläufige: ›Versöhnung kann nicht die Bestrafung ausklammern‹, sperren sich indessen gegen eine theologische Interpretation. Versöhnung wird hier auf der ›Makroebene‹ angesprochen und steht ganz im politischen Begründungszusammenhang; es geht um die ›nationale‹ Versöhnung: Was fördert das gesellschaftliche Zusammenleben, was hindert es? Das Interesse zielt auf das Gemeinwohl. Politiker kommen auf dem Hintergrund disparater Ausgangsbedingungen in Südafrika und Deutschland zu entsprechend verschiedenen Ergebnissen. Diese können (und müssen) aber nicht christologisch letztbegründet werden. Theologische Bezugspunkte stellen sich über die Menschenrechtsfrage her. In Deutschland (wie in Südafrika) ist die Strafwürdigkeit von in der Vergangenheit begangenen Menschenrechtsverbrechen nie ernsthaft bestritten worden. Die Diskussion kreiste vielmehr um die Frage der Strafbarkeit. Regulativ war in Deutschland der Gedanke des Menschenrechtsschutzes, der sich in der Diskussion mit der strafrechtlichen Bewertung der Menschenrechtsverletzungen verband: ›Die Täter müssen bestraft werden‹, ›Strafverfolgung geht vor Integration‹, ›Verletzung von Gerechtigkeit und Menschlichkeit fordert die Strafverfolgung‹. Der Kerngedanke des Menschenrechts-

————— W. HUBER, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 32006 (1996), 341. Vgl. zur Thematik auch T.R. SNYDER, The Protestant Ethic and the Spirit of Punishment, Grand Rapids/Cambridge 2001, bes. 74ff. 38

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schutzes, als dessen Grundprinzip die Menschenwürde gilt, ist begründungsoffen. Das ermöglicht zum einen Berührungspunkte zur theologischen Diskussion; zum anderen ist Behutsamkeit im Blick auf die erkennbare Verknüpfung von Menschenrechtsschutz und juristischer Strafverfolgung geboten. (Nie ausgeschlossen werden kann eine Instrumentalisierung des Menschenrechtsschutzes in der politischen Debatte). Wenn von ›Begründungsoffenheit‹ gesprochen wird, ist bereits innerhalb der theologischen Debatte um die universale Geltung und christliche Begründung der Menschenrechte Position bezogen. Ich folge dem Modell von ›Entsprechung und Differenz‹39 in der theologischen Interpretation der Menschenrechte, dessen Kerngedanke es ist, einerseits nach Entsprechungen zwischen der neuzeitlichen Gestalt der Menschenrechte und Grundinhalten des christlichen Glaubens zu fragen, andererseits gegenüber Versuchen der theologischen Ableitung der Menschenrechte deren säkularen Charakter ernstzunehmen. Theologisch ist aus reformatorischer Perspektive zu argumentieren, dass die unbedingte Geltung der Menschenrechte an der kategorialen Unterscheidung zwischen der Person und ihren Taten liegt. Zum Wesen der menschlichen Würde gehört, dass sie weder in gegebenen Bedingungen noch in abschließenden Definitionen ihrer selbst aufgeht, »sondern sie alle transzendiert. Das Faktum, dass Menschen sich würdelos verhalten können, gibt keiner irdischen Instanz das Recht, sie für würdelos zu erklären«.40 2. Amnestie und Vergebung sind zweierlei. Amnestie kann vernunftgemäß als politische Handlungsoption einleuchten. Daraus entsteht indessen keine Kategoriengemeinschaft mit der Vergebung. Im Gegenteil: Kategorienfehler stellen sich ein, wo die kategoriale Verschiedenheit zwischen (politischer) Amnestie und (christlicher) Vergebung nicht hinreichend erkannt wird. Dass sich diverse Gesetzesentwürfe für Amnestien in Deutschland bis zum heutigen Tage nicht durchgesetzt haben, scheint die rechtshistorische Einsicht zu belegen: Amnestie war in der Geschichte nie »Resultat von Menschenliebe, Vergebung, Vergessen oder einer inneren Wende zur Gewaltlosigkeit«.41 Amnestien für schwere Menschenrechtsverletzungen gab es nur, wo sie politisch erzwungen waren. Eine Generalamnestie ist aus rechtsethischer Perspektive besonders kritikwürdig: Sie hält keinen Raum ————— 39 Vgl. zuerst W. HUBER/H.-E. TÖDT, Menschenrechte. Perspektiven einer menschlichen Welt, München 1988. 40 W. HUBER, Gerechtigkeit und Recht, 266. 41 H. QUARITSCH, Über Bürgerkriegs- und Feindamnestien, in: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre, öffentliches Recht und Verfassungsgeschichte 31 (1992), 389ff.

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offen für ein Geschehen, das die Bearbeitung von Schuld möglich macht, sondern zielt auf das Vergessen. Folgt man Dietrich Bonhoeffers Ethik, dann geschieht hier – theologisch betrachtet – folgendes: Schuld »wird zwar nicht gerechtfertigt«, wird aber auch »nicht aufgehoben, nicht vergeben«, sondern »bleibt bestehen«.42 Personale Kategorien (aus dem Bereich der Moral) wie ›Vergebung‹, ›Reue‹, ›Schuldeingeständnis‹ oder ›Erinnerung‹, die theologisch interpretationsoffen sind, greifen nicht, wo (aus dem Bereich des Rechts) Amnestie für begangene Menschenrechtsverletzungen als politische Handlungsoption am Ende des vergangenheitspolitischen Diskurses steht. Für die Täter bedeutet das: Ihnen wurde nicht vergeben. Ihre Schuld kann nicht bearbeitet werden, allenfalls vergessen. Für die Opfer bedeutet es: An sie wird nicht erinnert. Ihre Wunden können nicht heilen, allenfalls vernarben. Für die neue Gesellschaft bedeutet es schließlich: Die Differenz zwischen Opfern und Tätern wird eingeebnet, ›irgendwie‹ waren ›alle‹ verstrickt. Vier Beobachtungen aus theologischer Perspektive sollen das Gesagte zusammenfassen: Erstens spricht – um einer theologischen Würdigung des ›Weltlichen‹ willen – vieles dafür, ›Geistliches‹ und ›Weltliches‹ dezidiert zu unterscheiden: innergeschichtliche Vergebung – geschenkte Vergebung; politische Amnestie – geistliche Versöhnung; weltliche Heilung (als Prozess der Vernarbung) – geistliche Heilung (als dessen Unterbrechung). Begriffspaare wie diese lassen sich konstruktiv der ›Zwei-Reiche-Lehre‹ zuordnen. Zweitens kann diese Unterscheidung (auf dem Boden der Vernunft) tatsächlich zu einer eigenständigen Würdigung des Politischen führen: Es gibt Ausgangsbedingungen in Transformationsgesellschaften, in denen um des politischen Friedens willen zunächst eine Amnestie ›die Welt erhält‹. (In Südafrika war dies in der Transformationsphase der Fall.)43 Drittens kann auch die Folge ›weltlicher‹ Versöhnung (oder Amnestie oder ›innergeschichtlicher‹ Vergebung) im Sinne der conservatio mundi gewürdigt werden. Wo die »Schuld vernarbt« ist, folgert Bonhoeffer, ist aus »Gewalt Recht, aus Willkür Ordnung, aus Krieg Frieden geworden«.44 Die ————— 42

D. BONHOEFFER, Werke, Bd. VI, hg. v. I. TÖDT, München 1993, 134. In der Differenzierung zwischen Vernarbung und Vergebung versteigt sich Bonhoeffer in keine Dualität. Für ihn gibt es auch »in der geschichtlichen außen- und innenpolitischen Auseinandersetzung der Völker so etwas wie Vergebung, die doch nur ein schwacher Schatten der Vergebung ist, die Jesus Christus dem Glauben schenkt« (ebd.). 43 Vgl. hierzu etwa W. KISTNER, Schuld und Versöhnung in Südafrika, in: W. HUBER, Schuld und Versöhnung in politischer Perspektive, Gütersloh 1996, 55ff., bes. 71f., oder D. SMIT, The Truth and Reconciliation Commission – Tentative Religious and Theological Perspectives, in: JTSA 90 (1995), 8f. Ich habe an anderer Stelle diese Diskussion aufgenommen und fortgeführt; vgl. R.K. WÜSTENBERG, Philosophische und theologische Grundprobleme beim Verstehen des südafrikanischen Versöhnungsprozesses, in: Religion & Theology 7/2 (2000), 169ff., bes. 182f. 44 D. BONHOEFFER, Werke, Bd. VI, 135f.

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konstruktive Einordnung eines Aufarbeitungsvorgangs in den Bereich des ›Weltlichen‹ befreit schließlich den Staat von möglichen eschatologischen Heilserwartungen, die an ihn gestellt werden. »›Vernarbung‹ als allmählicher Heilungsprozess, also z.B. Unrecht aufzudecken und – höchst unvollkommen – rechtsstaatlich zu bearbeiten, ist auch in diesem Fall die vernünftigere Erwartung.«45 Im Ergebnis sehen wir: In der konstruktiven Anwendung lutherischer Unterscheidungen ergibt sich die theologische Würdigung politischer Vorgänge als ›vorletzte Dinge‹ (Dietrich Bonhoeffer). 3. Angeschlossen an die Handlungsoptionen 3–5 sind begründungsoffene Kategorien, wie Wahrheit, Wiedergutmachung, Neuanfang. Es sind gewissermaßen Kategorien auf ›halber Höhe‹, middle axioms, wie man sie im angelsächsischen Diskurs nennen würde. Wie kommt die Theologie in Entsprechung und Differenz zum juristischen Verständnis von Wahrheit, Wiedergutmachung und Neuanfang zu stehen? Bestehen Gemeinsamkeiten zwischen dem politischen Aussagezusammenhang der Kategorien ›Wahrheit‹, ›Wiedergutmachung‹ und ›Neuanfang‹ in der Vergangenheitspolitik und der geistlichen Bedeutung dieser Kategorien in der Theologie? Zunächst zur ›Wahrheit‹: Einschlägig für die Suche nach theologischen Anschlüssen ist bereits die Idee hinter der spezifischen Individualamnestie in Südafrika: Auf Strafe wurde nämlich erst verzichtet, nachdem unter Mitwirkung des Täters das Vorliegen einer Straftat festgestellt worden ist. Strafbefreiung erfolgte in dem doppelten Schritt: Erst Schuldfeststellung, dann Strafverzicht. Leitend war die Vorstellung: ›Strafe ist verzichtbar, die Wahrheit nicht.‹ Um nach der theologischen Anschlussfähigkeit dieser Vorstellung zu fragen, möchte ich die beiden Dimensionen der Wahrheit hervorheben, die durch die TRC miteinander vermittelt werden, nämlich die rechtliche und die moralische. (1) Zur rechtlichen Dimension: Die Wahrheit zu sagen bedeutete vor der TRC soviel wie ein Geständnis abzulegen und war gekoppelt an den juristischen Schuldbegriff. Es geht um die Prüfung von Haftung und Strafe (nach strafrechtlichen Maßstäben) und weniger um die Hinführung zu Einsicht und Demut. Relevante Fakten müssen offenbart werden, um strafbare Handlungen festzustellen und zu amnestieren. Der juristischen Wahrheitsforschung sind enge Grenzen gesetzt. Das Prinzip der materiellen Wahrheit findet seine Schranke beim Schutz der Persönlichkeit des Beschuldigten. Theologisch gesprochen darf sich das Gericht ja nur für den ›äußeren‹ Menschen interessieren. Nach Wahrheit wird juristisch gefragt in dem sehr begrenzten Rahmen einer Entscheidung über die Tatschuld des ————— 45

O. MEYER, Vom Leiden und Hoffen der Städte, Hamburg 1996, 277.

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Angeklagten. Wer ›mehr‹ und ›andere‹ Wahrheit oder ›bessere‹ Wahrheitsforschung verlangt, muss in juristischer Sicht das Verfahren als ganzes in Frage stellen. In konstruktivem Sinne unternimmt genau dies eine Wahrheitskommission. Ein Raum wird eröffnet, in dem (freiwillig) die eindimensionale justizielle Wahrheitsfindung überschritten werden kann. Die Freiwilligkeit erwächst daraus, dass die Einsicht in die »ethisch-soziale Schuld«46 nicht für den Ausgang des Amnestieverfahrens ausschlaggebend ist. Zur rechtlichen Dimension der Wahrheit möchte ich festhalten, dass mit dem Amnestiebegehren zugleich die Chance zur Bearbeitung der persönlichen Schuld des Täters eröffnet wird. (2) Zur moralischen Dimension der Wahrheit: Sie liegt in der Ermöglichung von Reue auf seiten der Täter und der Vergebung auf seiten der Opfer. Das öffentliche Berichten der Wahrheit über Menschenrechtsverletzungen hat auf der persönlichen Ebene je für Opfer und Täter eine rechtliche Bedeutung47, die ins Moralische hineinreichen kann. Recht und Moral bleiben insofern unterschieden, als zwar das Erscheinen vor der TRC zur Amnestierung zwingend ist, alles weitere aber der Entwicklung der Situation überlassen und insofern ›offen‹ bleibt. Hier erreicht das ›WahrheitSagen‹ vor der TRC eine weitere, über die persönliche Ebene je hinausreichende Dimension. Der Wahrheitsbegriff der TRC vermag nämlich auf zwischenmenschlicher Ebene eine Verbindung herzustellen zwischen dem Amnestiebegehren der Täter und den bohrenden ›Warum-Fragen‹ der Opfer. Verheißungsvoll ist dieses Geschehen insofern, als ein Handlungsspielraum eröffnet wird, in dem Täter und Opfer in einem geschützten Raum Schuld bearbeiten können. Die Täter sind frei zur Einsicht in ihre persönliche sittliche Schuld. Recht und Moral bleiben indessen auch auf zwischenmenschlicher Ebene unterschieden. Die Verknüpfung von rechtlicher und ethisch-sozialer Schuldeinsicht geschieht allein im moralischen Ich des Täters. Kein Gericht, auch nicht die TRC, kann solche Verknüpfungen zwischen rechtlicher und moralischer Dimension der Wahrheit erzwingen. Deswegen findet sich im Gesetz der TRC auch nicht der Passus, dass beim Wahrheit-Schildern der Täter Reue empfinden müsse. Aber es erlaubt dem Opfer juristisch, den Täter ins Kreuzverhör zu nehmen und ihn ————— 46 J. KREUTER qualifiziert die gängige Rede von der moralischen Schuld überzeugend: »Ethisch-soziale Schuld« lädt auf sich, »wer eine Handlung begeht, die gegen ethische Gebote verstößt«; vgl. DERS., Staatskriminalität und die Grenzen des Strafrechts. Reaktionen auf Verbrechen aus Gehorsam aus rechtsethischer Perspektive, Opladen 1997, 358. Anders M. SIEVERNICH, der von sozialer Sünde spricht (Die ›soziale Sünde‹ und ihr Bekenntnis, in: Concilium 23 [1987], 124–131, bes. 128f). 47 Die Aussage der Täter kann gegengeprüft werden. Opfer haben das Recht, den Wahrheitsgehalt der Täteraussage durch eigene Aussagen zu stützen oder in Zweifel zu ziehen.

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insofern (moralisch) mit den Folgen seines Tuns zu konfrontieren. Reue selbst betrifft als theologische Kategorie den ›inneren Menschen‹, ist ein Vorgang coram deo, der etwas anderes meint als ›Bedauern‹. Abschließende Urteile zur Reue bleiben Gott vorbehalten, auch wenn es würdigende Handlungen und Erklärungen coram hominibus gibt. Zusammengefasst sehen wir: Juristische Wahrheitssuche kann auf zwischenmenschlicher Ebene moralische Prozesse der Schuldwahrnehmung auf seiten der Täter in Gang setzen. 4. Wiedergutmachung an den Opfern ist nach Systemwechseln eine moralisch gebotene Handlungsoption. Wiedergutmachendes Handeln trägt zum Erhalt des inneren Friedens in Transformationsgesellschaften bei. Moral und Recht rücken bei der Wiedergutmachung – anders als bei Strafverfolgung oder Amnestie – in besondere Nähe zueinander. Wo allerdings »Wieder-gutmachung« erst dann als »überzeugend« gilt, »wenn sie spiegelbildlich dem Unrecht entspricht«48, muss das in theologischer Perspektive kritisiert werden, zumindest wenn man schwere Menschenrechtsverletzungen vor Augen hat: Tötung, Folter, Verschwindenlassen können nicht wieder gutgemacht werden. Es wird ein Kategorienfehler begangen. Die Ziele des Rechts (als einer menschlichen Ordnung) können nicht gleichgesetzt werden mit den Zielen der Verheißung, nach denen alles wieder gut wird, wenn Gott sein Werk vollendet. Vertreter einer theologischen Rechtsethik halten daher fest: »Die Idee der vollkommenen Gerechtigkeit ist eine eschatologische Idee«.49 Erst wo Wiedergutmachung (im spiegelbildlichen Sinne) als etwas ›Letztes‹ (Bonhoeffer) begriffen wird, kann sie politische Anstrengungen vor der Selbstüberschätzung bewahren. Eine theologische Einordnung, die um die kategoriale Differenz zwischen ›den letzten und den vorletzten Dingen‹ (Bonhoeffer) oder um die von ›Geistlichem‹ und ›Weltlichem‹ (Luther), von Erlösung und Erhaltung weiß, wird die Justiz gegenüber eschatologischen Heilserwartungen befreien helfen. Wiedergutmachung steht als politische Handlungsoption in der Gefahr der Verabsolutierung. »Der Gedanke der Wiedergutmachung krankt daran, dass er suggeriert, es könne eine Wiederherstellung des Zustandes, wie er vor der bösen Tat bestand, geben.«50 Pointiert könnte man an dieser Stelle formulieren: Erlösung kann nicht Sache des Rechts werden. Denn dann könnte Gerechtigkeit im theologischen Sinn »zum Gegenstand eines ————— 48 R. WASSERMANN, Zur Aufarbeitung des SED-Unrechts, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament 4 (1993), 11. 49 W. HUBER, Gerechtigkeit und Recht, 170. 50 G. MÜLLER-FAHRENHOLZ, Vergebung, 31.

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Rechtsanspruchs gemacht«51 werden. Recht ist, dogmatisch gesehen, aber kein ›Gnadenmittel‹, es dient – so kann ohne theologische Abwertung gesagt werden – der Erhaltung.52 Hier ist auf die Differenz (zwischen weltlich und geistlich) hinzuweisen, die in unserem Fall auch ihre Bedeutung in der seelsorgerlichen Verantwortung im Umgang mit Erwartungen an das Recht nach Systemwechseln erfährt. Die Offenheit gegenüber Moral und Recht innerhalb der begrifflichen Kategorialität der ›Wiedergutmachung‹ ist indessen normativ auch auf theologische Entsprechungen zu prüfen. Denken wir daran, dass sowohl in Südafrika wie in Deutschland die Vorstellung leitend war, dass politische ›Wiedergutmachung etwas mit Anerkennung zu tun‹ hat. Bei dieser sog. ›moralischen‹ Wiedergutmachung, um exemplarisch einen Zweig herauszugreifen, geht es um die ›Versöhnung mit dem Schicksal‹, das ›coming to terms with the painful past‹, wie es im Abschlussbericht der TRC hieß. Wiedergutwerden soll also die Beziehung zur eigenen Geschichte; heil werden soll der Mensch mit seinen Erinnerungen. Bei der ›intra-personalen Versöhnung‹ wird der Ausgleich nicht zwischen Konfligierenden erwartet, sondern innerhalb der Wirklichkeit, die den Gekränkten oder Geschädigten betrifft, innerhalb ›des Schicksals‹. Wiederhergestellt werden soll nicht Gerechtigkeit im zuteilenden Sinn, etwa über den Ausgleich mit dem Täter im Sinne der lex talionis; vielmehr wird gerade auf ein rechtliches Urteil verzichtet. Dieser Verzicht ist nicht zu verwechseln mit unwilligem Aushalten oder stillem Dulden. Vielmehr ist ihm eschatologische Qualität eigen. Die Sichtweise des Versöhnung-mit-dem-Schicksal-Suchenden entspricht der eines »in Gottes Sicht der Dinge hineinwachsende(n) Mensch(en)«53. Im Blick auf die Anhörungen vor der TRC wäre zu fragen: Ist nicht schon die Bereitschaft zum Teilen des Schicksals Ausdruck der Feindesliebe? In der Regel teilt man die Geschichte nur mit denen, die man liebt. Wiedergutmachung ist eine begründungsoffene Kategorie. Vorgänge moralischer Wiedergutmachung erweisen sich als theologisch anschlussfähig: Die Annahme des eigenen Schicksals verweist auf die Annahme des Menschen durch Gott.

————— 51 Vgl. W. HÄRLE, ›Suum cuique‹. Gerechtigkeit als sozialethischer und theologischer Begriff, in: ZEE 41 (1997), 309. 52 Dass es sich um keine theologische Abwertung handelt, kann durch die Überlegung bekräftigt werden, dass ›Erhaltung‹ theologisch stets perspektivisch gedacht ist. Die Welt wird erhalten im Hinblick auf die Erlösung! 53 M. WELKER, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen 1994, 26. Folgendes Zitat ebd., 24.

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5. Die Durchsetzung von ›Sanktionen außerhalb des Strafrechts‹, in unseren Beispielen berufliche Disqualifizierungen mit dem Ziel des ›gesellschaftlichen Neuanfangs‹, hängt maßgeblich vom Charakter des Systemwechsels ab. Während sich in Südafrika die regulative Vorstellung durchsetzte: Nationale Versöhnung beinhaltet die bedingungslose Möglichkeit zum beruflichen Neuanfang, so im vereinigten Deutschland die gegenteilige: Gerade um des gesellschaftlichen Neuanfangs willen können die Eliten der alten Ordnung nicht am Aufbau einer demokratischen Gesellschaft glaubhaft mitwirken. Vielmehr haben sie sich für diese Aufgabe durch ihre Tätigkeit im diktatorischen System disqualifiziert. Regulativ war die Vorstellung: Persönliche Schuld wird mit beruflicher Disqualifikation sanktioniert. Versöhnung ist nicht zu verwechseln mit bedingungsloser Weiterbeschäftigung belasteter Mitarbeiter. Interessant in diesem Zusammenhang, welche gesellschaftlichen Gruppen sich in Gespräch bringen: Während man in Südafrika auf die Belange der ehemals Mächtigen reagiert (mit der Folge der Amnestie und großzügiger Regelungen für die berufliche Kontinuität), ist dagegen in Deutschland das Hauptaugenmerk auf die ehemals Unterdrückten gerichtet. Setzt sich dort die Täter-, so hier die Opferperspektive durch. »Für Opfer ist es eine ethische und ästhetische Zumutung, wenn sie Täter im Bildungsbereich, in der Polizei, in den Kirchen, im Strafvollzug und anderen öffentlichen Bereichen als Gewendete [...] wieder entdecken.«54 Wie steht es um die theologische Anschlussfähigkeit? Äußerlich stoßen wir in der politischen Diskussion auf eine Kategorie, die dem Namen nach zentrale Inhalte der theologischen Versöhnungslehre aussagt, nämlich ›Neuanfang‹. Versöhnung ist nicht auf die Erlösung von der Welt begrenzt; sie verheißt zugleich die Neuschöpfung in der Welt und begründet die eschatologische Hoffnung auf Veränderung als Abbruch, Absterben des Alten (vgl. bes. 2Kor 5,17). Ja, man kann sagen: Gott hält in Christus diesen Neuanfang für uns bereit. Gott fängt ›in Christus‹ mit der Welt neu an. Stehen politisch gewährte Neuanfänge im Korrespondenzverhältnis zu diesem geistlichen Neuanfang? Ja, ist nicht der südafrikanische Vorgang dem Evangelium gemäßer, weil er den Tätern ganz offenbar ›vergibt‹ und ihnen einen bedingungslosen ›Neuanfang‹ in der Gesellschaft ermöglicht? Ist dagegen der deutsche Vorgang nicht ethisch rückständig, indem er offenkundig Schuld ›anrechnet‹ und nicht bedingungslos vergibt? Solche Entsprechungsfragen legen ein theologisches Denkmuster unkritisch an die politische Wirklichkeit an und arbeiten mit begrifflichen Äquivokationen ————— 54 E. NEUBERT, Arbeitsweise der ›Gauck-Behörde‹ im gesellschaftlichen Kontext, in: R.K. WÜSTENBERG, Wahrheit, Recht und Versöhnung. Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nach den politischen Umbrüchen in Südafrika und Deutschland, Frankfurt a.M. 1998, 84.

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(im Sinne der aequivocatio a casu). Äquivokationen ist mit Hinweis auf kategoriale Unterscheidungen zu begegnen. So ist auf die Verschiedenheit zwischen dem geistlichen Neuanfang und der mit Option 5 verwehrten beruflichen Kontinuität hinzuweisen. Das eine betrifft den inneren Menschen, das andere den äußeren. Wer geistlich neu anfängt, tut dies als simul iustus et peccator täglich; von diesem Vorgang unterschieden bleibt die weltliche Existenz. Neuanfang, der in der Umkehr seinen Ausgang nimmt, ist nicht zu verwechseln mit dem politischen Neuanfang als berufliche Kontinuität. Direktentsprechungen vermischen ›Weltliches‹ und ›Geistliches‹; sie relativieren dadurch nicht nur das Geistliche, sondern erlauben dem Weltlichen letztlich nicht, weltlich zu sein. In theologischer Perspektive darf nicht übersehen werden: Persönliche Schuld hat gesellschaftliche Auswirkungen. Dass ein Neubeginn dort möglich und legitim ist, wo theologisch unterschieden wird zwischen dem Menschen, der immer mehr ist als sein Tun, und dem Stasi-Mitarbeiter, der gerade um des glaubhaften politischen Neuanfangs willen mit seinen Taten von gestern identifiziert werden muss und daher beruflich nicht weiterbeschäftigt werden kann, ist für die Gesellschaft so wichtig wie für den Einzelnen.55 6. Die vorangegangene Diskussion kann als ein Plädoyer dafür verstanden werden, die reformatorisch-lutherischen Leitunterscheidungen (von ›Weltlichem‹ und ›Geistlichem‹, von ›Erhaltung‹ und ›Erlösung‹) für die politische Ethik neu fruchtbar zu machen. Wo dies geschieht, kann eine genuine theologische Würdigung politischer Versöhnungspraxis gelingen. Mehr noch: Hoffnungsvolle Zeichen können in der politischen Wirklichkeit wiedererkannt werden. Mit Peter L. Berger darf man von ›Transzendenzzeichen‹ sprechen, die auf die Gleichursprünglichkeit politischer und christlich-religiöser Versöhnungspraxis verweisen. Dabei erschließen sich die Kategoriengemeinschaften zwischen Vergangenheitspolitik und theologischer Versöhnungspraxis vom Glauben her. In diesem Interpretament werden ›Transzendenzzeichen‹ zu christlich eindeutigen Zeichen. Der Glaubende weiß um die Eigentlichkeit56 der Vorgänge hinter der politischen Versöhnungspraxis in der Anwendung der politisch-juristischen Analysekategorien 3–5. Er weiß, dass Wahrheit im eigentlichen Sinn Befreiung bedeutet (im Sinne von Joh 8,35), Wiedergutmachung die Wiederherstel————— 55 Freilich kann ›politischer Neuanfang‹ aber auch (wie bei Hannah Arendt) noch etwas anderes heißen: nämlich dass man gemeinsam neu anfängt. Die spannende Frage, die hier nicht mehr erörtert werden kann, ist dann, wie der Neuanfang und das Recht des Nächsten zusammengehören. 56 Dabei zwingt der so deutende christliche Glaube seine Sicht auf die politische Versöhnungspraxis nicht auf. Die politische Praxis bleibt in sich begründungsoffen.

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lung der Gottesgemeinschaft durch Christus (in ihm ist alles gut) und Neuanfang das Wirksamwerden-Lassen seines Tuns für uns (er fängt mit uns täglich neu an). Im Licht der geistlichen Versöhnung erscheint die politische Versöhnung in ihrer ›Eigentlichkeit‹, d.h. in ihrem Verheißungscharakter auf die ›letzten Dinge‹ hin und damit auf die geistliche Versöhnung: Etwas wird ›erhalten‹ im Blick auf die ›Erlösung‹; etwas ist Weltliches im Gegenüber zum Geistlichen; etwas ist Vorletztes, weil es immer wieder durch das Letzte unterbrochen und zum Vorletzten wird.

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Thorsten Knauth

›Dialog an der Basis‹ Eine Analyse dialogorientierter Interaktion im Religionsunterricht Thorsten Knauth ›Dialog an der Basis‹

I. Einführende Bemerkungen: Dialog an der Basis (unter-)suchen In den letzten 15 Jahren hat der Begriff des Dialogs in der Religionspädagogik eine bemerkenswerte Konjunktur erlebt. Eine wachsende Zahl von Aufsätzen und Monographien setzt sich mit aktuellen Themen des Religionsunterrichts vor dem Hintergrund religiöser und kultureller Pluralität auseinander. In gründlichen Analysen wurden philosophische, theologische und pädagogische Traditionen von Dialog aufgearbeitet, um zu einem tragfähigen Konzept von Dialog zu gelangen. Bislang mangelt es aber an Ansätzen zur Operationalisierung des Konzeptes von Dialog, ganz zu schweigen von Forschungsvorhaben, die etwa untersuchen, wie und in welcher Form Dialog im Religionsunterricht praktisch wirksam wird und pädagogisch genutzt werden kann. Diese Kluft zwischen anspruchsvollen theoretischen Konzeptualisierungen und Unterrichtspraxis gilt es zu überbrücken. Um zu verhindern, dass sich die Theorie von der Praxis löst oder die Praxis nicht von der Theorie profitiert, wäre das Verständnis von Dialog in der täglichen Praxis von Interaktion im Unterricht zu verankern. Eine solche Verankerung erforderte die Ausformulierung von Bedingungen, unter denen Dialog als geglückt oder als gescheitert betrachtet werden kann. Dies bedeutet auch, Bedingungen, Unterrichtsformen sowie Lehr- und Lernpraktiken zu erforschen, die Dialog fördern, sowie auch Hindernisse auszuloten. Es wäre zudem wichtig zu erforschen, wie dialogische Prozesse durch die unterschiedliche Einbindung von Religion in den Schulalltag mitbestimmt werden. Im Rahmen eines europäischen Forschungsprojektes zur Rolle von Religion im Bildungswesen (REDCo) wurde eine umfangreiche qualitative Erhebung durchgeführt.1 Die Ergebnisse dieser Studie bilden eine wertvolle Grundlage für die Untersuchung von Religion in Schule und Unterricht. Ein wichtiges Ergebnis ist zum Beispiel die Erkenntnis, dass die Schule der ————— 1 Siehe TH. KNAUTH, ›Better together than apart‹. Religion in School and Lifeworld of Students in Hamburg, in: TH. KNAUTH u.a., Encountering Religious Pluralism in School and Society. A Qualitative Study of Teenage Perspectives in Europe, Münster 2008, 207–245.

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bedeutendste Ort ist, an dem sich Schüler und Schülerinnen verschiedener Kultur und Religion begegnen. Die kontextuell jeweils spezifische Art des schulischen Umgangs mit Religion hat jedoch auf die Perspektiven und Positionen der Schüler/innen erheblichen Einfluss. Die Studie zeigt auf, welche erhebliche Bedeutung kontextuelle Rahmenbedingungen für die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen von Dialog im Klassenzimmer haben. Im Hinblick auf die Erfahrungen mit religiöser Vielfalt kommt dabei dem Religionsunterricht eine besondere Rolle zu. Um diese Erfahrungen zu erforschen, sind schriftliche Befragungen oder Interviews eine wertvolle Informationsquelle. Sie ersetzen aber nicht die Beobachtung konkreten Unterrichtsgeschehens. Die Rekonstruktion des konkreten Unterrichtsverlaufs ermöglicht, einen tieferen Zugang zu den kontextuellen Strukturen und Mustern von Religionsunterricht zu entwickeln. So können die Bedingungen religiösen Lernens, Interaktionsmuster und Quellen von Dialog und Konflikt herausgearbeitet werden. Im Hamburger Religionsunterricht spielt der Dialog auf verschiedenen Ebenen eine zentrale Rolle. Dialog und interreligiöses Lernen sind eine zentrale Dimension dieses Religionsunterrichts; sie sind als solche auch in den Lehrplänen verankert. Der Religionsunterricht trägt die offizielle Bezeichnung ›Dialogisch-interreligiöser Religionsunterricht in evangelischer Verantwortung‹. Durch diese Bezeichnung wird deutlich, dass die Evangelische Kirche rechtlich und institutionell verantwortlich für den Unterricht ist und ihn in ›Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen‹ ausrichtet. Um das interreligiöse Anliegen gewährleisten zu können, wird der Religionsunterricht in der Curriculumarbeit und der Entwicklung von Unterrichtsmaterialien durch einen ständig tagenden Kreis von Expertinnen und Experten der großen, in Hamburg ansässigen Religionsgemeinschaften unterstützt. Die jüdische Gemeinde, die islamische Gemeinschaft, die Aleviten sowie wichtige buddhistische Organisationen befürworten und unterstützen diesen Religionsunterricht. Durch die universitäre Religionspädagogik wird der Religionsunterricht in Hamburg seit Jahren durch zahlreiche empirische Untersuchungen wissenschaftlich begleitet.2 Er ist ebenfalls in seiner ————— 2 Vgl. TH. KNAUTH u.a., Interkultureller Religionsunterricht in Hamburg. Erste empirische Erhebungen, in: I. LOHMANN/W. WEIßE (Hg.), Dialog zwischen den Kulturen. Erziehungshistorische und religionspädagogische Gesichtspunkte interkultureller Bildung, Münster 1994, 217–232; W. WEIßE, Interkulturelles Lernen und ökumenisches Lernen. Zur notwendigen Korrelation von zwei Ansätzen, in: K. GROßMANN u.a., Zukunftsfähiges Lernen. Herausforderungen für Ökumenisches Lernen in Schule und Unterricht, Münster 1995, 53–70; TH. KNAUTH, Religionsunterricht und Dialog. Empirische Untersuchungen, systematische Überlegungen und didaktische Perspektiven eines Religionsunterrichts im Horizont religiöser und kultureller Pluralisierung, Münster 1996; F.-O. SANDT, Religiosität von Jugendlichen in der multikulturellen Gesellschaft, Münster 1996; TH. KNAUTH, Von der Rekonstruktion zur Interpretation. Schritte in der multiperspektivischen Analyse von Unterricht, in: TH. KNAUTH u.a., Religionsunterricht aus Schülerperspektive, Münster

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theoretischen Konzeption vor allem im Hinblick auf sein pädagogisches und theologisches Verständnis von Dialog begründet worden. Dialogische Religionspädagogik nimmt Impulse aus der kritischen Erziehungswissenschaft, religionsphilosophischen Dialogtheorien von Martin Buber und Emmanuel Lévinas und der ökumenischen Theologie in der Tradition Hans Jochen Margulls3 auf und versucht, die Tradition problemorientierten Religionsunterrichts und ökumenischen Lernens mit den Anliegen interreligiösen Lernens zu verbinden.4 Der Kerngedanke des Dialogverständnisses besteht darin, den Anderen in seinem gegenwärtig gegebenen Selbstverständnis anzuerkennen. Der dialogische Religionsunterricht möchte Schülern, die erst noch auf dem Weg sind, ihr religiöses Selbstverständnis zu entwickeln, die Freiheit lassen, sich über die eigenen Fragen und das eigene Verständnis von Existenz selbst vergewissern zu können.5 Gestützt auf entsprechende empirische Untersuchungen, bezieht dieser Unterricht auch jene Schüler und Schülerinnen in den Dialog mit ein, die außerhalb abgezirkelter religiöser Traditionen ein religiöses oder weltanschauliches Selbstverständnis entwickeln.6 Stärker als im Konzept von Identität und Verständigung wird von einem offeneren Konzept von Identität als Suchbewegung ausgegangen, die sich im Geflecht von Interaktionen, also auch in der Erfahrung von Differenz aufbaut. Die Identitätssuche kann sehr wohl auf dem Hintergrund bestimmter konfessioneller und religiöser Traditionen stattfinden und in ihnen einen Haftpunkt finden. Dafür schafft dialogischer Religionsunterricht entsprechende Angebote. Er achtet aber auch darauf, Schülern nicht eine Identität zuzuschreiben, auf die sie sich gar nicht festgelegt wissen wollen. Dialogische Religionspädagogik ist mit einem grundlegenden Verständnis von kommunikativer Freiheit verbunden.7 Damit ————— 2000, 55–94; O. BEUCHLING, Buddhistische Religiosität junger Vietnamesen in der Bundesrepublik Deutschland. Eine ethnographisch-erziehungswissenschaftliche Analyse, in: W. WEIßE (Hg.), Vom Monolog zum Dialog. Ansätze einer dialogischen Religionspädagogik, Münster 21999, 59– 89; zuletzt CH. MÜLLER, Zur Bedeutung von Religion für jüdische Jugendliche in Deutschland, Münster 2007. 3 Vgl. z.B. TH. KNAUTH/W. WEIßE, Konzeptioneller Rahmen für gegenwärtigen Religionsunterricht. Religionspädagogische Grundüberlegungen, in: TH. KNAUTH u.a., Religionsunterricht aus Schülerperspektive, Münster 2000, 165–202. 4 WEIßE, Interkulturelles Lernen und ökumenisches Lernen; TH. KNAUTH, Problemorientierter Religionsunterricht. Eine kritische Rekonstruktion, Göttingen 2003. 5 Vgl. KNAUTH, Religionsunterricht und Dialog. 6 Vgl. TH. KNAUTH/W. WEIßE, Lernbereich Religion – Ethik und integrativer Religionsunterricht aus Schülersicht. Empirische Erhebungen und konzeptionelle Überlegungen, in: W. WEIßE (Hg.), Vom Monolog zum Dialog. Ansätze einer interkulturellen dialogischen Religionspädagogik Münster 11995, 91–112; SANDT, Religiosität von Jugendlichen. 7 Vgl. TH. KNAUTH, Anmerkungen zum Dialogbegriff im Ansatz einer dialogischen Religionspädagogik, in: W. WEIßE (Hg.), Vom Monolog zum Dialog. Ansätze einer dialogischen Religionspädagogik, 113–138, hier 114–137.

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kann auch Konflikt nicht einfach als ein ungewollter Widerpart zum gewünschten Dialog verstanden werden. Konflikt ist vielmehr konzeptionelles Element eines Dialogverständnisses, das von unterschiedlichen und teilweise widerstreitenden Perspektiven ausgeht. Diese Perspektiven kommunikativ zusammenzubringen ist ein Kernziel des hier gesetzten Verständnisses von Dialog. Unterschiede sollen nicht harmonisiert oder gar eingeebnet, sondern im Sinne eines friedlichen Zusammenlebens in Vielfalt überbrückt werden. Aus dieser Perspektive heraus ist der Konflikt keine Bedrohung, sondern ein Testfall für das Zusammenleben.

II. Methodologische Überlegungen und Forschungsdesign 1. Videoanalyse als Teil der ethnographischen Forschung Unter den verschiedenen Methoden zur Analyse von Interaktion auf der Mikroebene eröffnet die Videoanalyse die Möglichkeit, kleine, aber entscheidende Details aufzuzeichnen. Sie ermöglicht damit eine sehr präzise und gründliche Rekonstruktion der Ereignisse und Interaktionsmuster in statu nascendi. In den letzten Jahren ist die Kritik an dieser Methode leiser geworden. Anfangs waren grundlegende methodologische Bedenken geäußert worden. Ernstzunehmende Einwände bezogen sich auf die mögliche Verzerrung der Interaktionssituation durch die technische Methode der Datenaufzeichnung. Es wurde auch bezweifelt, dass der erhebliche Aufwand vorbereitender Forschungsarbeit in einem angemessenen Verhältnis zu den Ergebnissen steht.8 Schließlich wurde kritisiert, dass diese Art der Forschung langfristige Entwicklungen nicht erfassen könne. Durch die aktuelle Entwicklung in der interpretativen Unterrichtsforschung, die Videoanalyse und Ethnographie methodologisch stärker verbindet, konnte diese Kritik jedoch weitgehend entkräftet werden.9 Videoaufzeichnungen werden in dieser Studie im Rahmen eines ethnographischen Forschungsansatzes verstanden. Videoanalyse ist Teil einer breiteren Methodenpalette im Kontext eines komplexen Forschungsdesigns. Durch ein breites Spektrum von Daten, die über einen längeren Zeitraum gesammelt werden konnten, entsteht ein Kontextwissen, das in die Analyse einfließen kann. Die aufgezeichneten Unterrichtsstunden ihrerseits können Hinweise auf verborgene Strukturen geben, die der Interaktion unterliegen. Diese können exemplarisch für Strukturen und Muster stehen, die in ihrer ————— 8 Siehe H. KNOBLAUCH, Videography. Focused Ethnography and Video Analysis, in: H. KNOBLAUCH u.a., Video Analysis: Methodology and Methods. Qualitative Audiovisual Data Analysis in Sociology, Frankfurt a.M. 2006, 69–83, hier 71f. 9 Siehe H. KNOBLAUCH u.a., Video-Analysis. Methodological Aspects of Interpretive Audiovisual Analysis in Social Research, in: KNOBLAUCH, Video Analysis, 9–26, hier 10–14.

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Gesamtheit nur durch langfristige teilnehmende Beobachtung erfasst werden können. Zudem ermöglichen sie den direkten Vergleich zwischen Unterrichtseinheiten, die zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet wurden. Damit können kleinste Einheiten sozialer Interaktion in einem größeren Kontext interpretiert werden. Derartige Interaktionssequenzen sind nicht einfach als beliebig gewählte Beispiele zu sehen, sondern müssen als strukturierte, paradigmatische Phänomene verstanden werden, die das Verständnis des untersuchten sozialen Kontexts vertiefen können. Sie sind zwar ›situativ‹, müssen also in ihrer Einzigartigkeit verstanden werden, aber sie sind auch ›situiert‹, da sie einen breiteren sozialen Kontext reflektieren.10 Somit ist Videoanalyse Teil eines Methodensets von langfristiger, qualitativer, ethnographischer Forschung, die unterschiedliche Datenquellen und Analyseformen nutzt, um sich der Fragestellung zu nähern. In unserem Fall sind dies Interviews mit Lehrer/innen und Schüler/innen und teilnehmende Beobachtungen im Klassenzimmer und auf dem Schulhof. Aufgrund dieser Einbettung in das Gesamtkonzept der Forschung wird diese Methode als Videographie bezeichnet:11 Videographie verbindet (fokussierte) Ethnographie mit der ›mikroskopischen‹ Perspektive der Sozialwissenschaften.12 2. Forschungsdesign und Methoden Die in diesem Artikel vorgestellte ›Incidentanalyse‹13 bietet ein Beispiel für die Anwendung von Videographie in der Forschung. Die Analyse ist eingebettet in die langfristige Begleitung einer Lerngruppe im Religionsunterricht. Die Aufzeichnung der Unterrichtseinheit ist Teil einer Bandbreite von qualitativen Daten verschiedener Art und wird auf dem Hintergrund zuvor gewonnener Einblicke aus der vorläufigen Analyse dieser Daten betrachtet. Die Forschung versucht, sowohl die Perspektiven von Jugendlichen in der Altersgruppe von 14–16 Jahren als auch ihre Interaktion im Klassenzimmer zu erfassen. Die hier vorgestellte Fallstudie findet im Religionsunterricht einer 9. Klasse in Hamburg statt. Teil der Studie ist der Vergleich unterschiedlicher kontextueller Settings von Religionsunterricht in Hamburg. Das Forschungsdesign ist ethnographisch: Drei Klassen in zwei Schulen wurden über eineinhalb Schuljahre begleitet. Das Ziel war es, die Bedin————— 10

Siehe KNOBLAUCH, Videography, 69ff. Siehe ebd. 12 Vgl. ebd., 70. 13 Zum Terminus ›Incidentanalyse‹ vgl. TH. KNAUTH, ›Dialogue on a Grassroots-Level‹. Analysing Dialogue-oriented Classroom – Interaction in Hamburg, in: I. TER AVEST u.a., Dialogue and Conflict on Religion. Studies of Classroom Interaction in European Countries, Münster 2009. 11

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gungen und Umstände interreligiösen dialogischen Lernens in Schule und Lebenswelt zu identifizieren. Vor dem Hintergrund der Gesamtfragestellung des REDCo-Projekts ›Religion als Faktor von Dialog oder Konflikt‹ sollte untersucht werden:  

Welche kontextuellen Faktoren ermöglichen oder erschweren fruchtbare interreligiöse Lernprozesse? Welche Umstände des Unterrichts fördern bzw. erschweren einen dialogischen Austausch und einen fruchtbaren Umgang mit Differenz?

Videoaufzeichnungen gehörten von Anfang an zu unseren Werkzeugen. Insgesamt wurden 50 Unterrichtseinheiten in vier Klassen an zwei verschiedenen Schulen aufgezeichnet. Etwaige Verzerrungen des Verhaltens durch die Präsenz der Kamera, die sich anfangs feststellen ließen, verringerten sich im Verlauf der Studie erheblich. Schon bald wurde die Aufzeichnung als normal wahrgenommen. Wir entschieden uns für ein ›Ein-KameraDesign‹ mit externem Mikrophon, das nur auf die Schüler/innen gerichtet wurde und dem Fokus des Gesprächs folgte. Die Aufzeichnung der Unterrichtseinheiten ist eingebettet in ein Bündel qualitativer Ansätze, die in unserer ethnographischen Forschung zur Anwendung kamen, darunter mündliche und schriftliche Interviews mit Schülern und Schülerinnen, Lehrern und Lehrerinnen, Fachleuten und anderen Beteiligten und teilnehmende Beobachtung. Mündliche und schriftliche teilstrukturierte Interviews lieferten wichtige Hintergrundinformationen zur persönlichen Dimension von Religion, zur Wahrnehmung ihrer sozialen Dimension und zur eigenen Erfahrung mit Religion in der Schule. Teilnehmende Beobachtungen im Religionsunterricht und auf dem Schulhof halfen uns, Daten über Gruppenbeziehungen und individuelle Einstellungen zur religiösen Heterogenität in der Schule zu erfassen. Teil unserer Strategie zur Erfassung von Hintergrundinformationen zu den beobachteten Situationen war auch, dass wir Schüler gelegentlich mit aufgezeichneten Unterrichtsstunden konfrontierten, die uns besonders interessant oder aufschlussreich zu sein schienen. Die schriftlichen oder mündlichen Reaktionen hierauf generierten weitere Daten, die – wie im hier dargestellten Fall – zur Triangulation verwendet werden konnten. Die zur Analyse der Aufzeichnungen verwendete Methode ist die Incidentanalyse. Dies ist eine Form der nichtstandardisierten qualitativen und interpretativen Analyse, die ihre methodologischen Wurzeln im interpretativen Paradigma der qualitativen Sozialforschung hat: Grundlegende Annahmen der Ethnomethodologie und der Gesprächsanalyse leiten das Verständnis.

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Wir betrachten Incidents als Phänomene im Verlauf der Interaktion. Sie reflektieren Strukturen eines Kontexts, die unter der Oberfläche der Interaktion liegen und die interaktiven Charakteristika des Kontexts zutage treten lassen können. Somit transzendieren Incidents die Einzigartigkeit und Situationsgebundenheit von Ereignissen und können – mit Hilfe einer analytischen Rekonstruktion – allgemeine Merkmale oder charakteristische Züge dieses Ereignisses in einem bestimmten sozialen Kontext offen legen. Incidentanalyse ist ein hermeneutischer Prozess, durch den Interaktionsmuster eines Kontextes unter Berücksichtigung methodologischer Prinzipien von Sequentialität und Reflexivität rekonstruiert werden. Die Interaktion wird als ein dialogischer Text aufgefasst und als solcher analysiert, wobei die hermeneutischen Werkzeuge der Gesprächsanalyse zur Anwendung kommen.14 Angesichts der uns bewussten Multimodalität dieses dialogischen Textes (er enthält verbale, pro-verbale und non-verbale, körpersprachliche Elemente) haben wir aus forschungsökonomischen Gründen die Entscheidung getroffen, die Komplexität zu reduzieren. Grundlage unserer Analyse ist die schriftliche Transkription des Gesprächs. Visuelle Komponenten (Körpersprache, Mimik etc.) können als Zusatzinformation herangezogen werden, wenn sie zum Gesamtverständnis der aufgezeichneten Interaktion beitragen. Gelegentlich bieten diese nonverbalen, auf Körpersprache bezogenen Ausdrucksformen wertvolle Anhaltspunkte zur Klärung, Ergänzung und Vertiefung der Analyse. Dieser Ansatz folgt drei grundlegenden methodischen Prinzipien:15 (1) Die Interaktion wird als dialogischer Text betrachtet. (2) Die thematische und interaktive Ebene der Interaktion werden heuristisch voneinander unterschieden und erst in einem zweiten Schritt analytisch aufeinander bezogen. (3) Die Unterscheidung zwischen prozeduraler und holistischer Perspektive auf die Interaktion findet als Analysewerkzeug Anwendung. Der Text wird sowohl aus prozeduraler Perspektive, also im Hinblick auf die Sequentialität der Interaktion in statu nascendi, als auch aus holistischer Perspektive, im Bemühen um ein umfassendes Verständnis des Textes als Ganzes, analysiert. Die videogestützte Analyse von Interaktionen ist also in eine Reihe von Auswertungsschritten innerhalb eines längerfristig anlegten Forschungsprozesses eingebettet. Diese längerfristige Forschungsperspektive ermöglicht ————— 14

Siehe KNAUTH, Anmerkungen zum Dialogbegriff. Eine ausführlichere Erläuterung des methodischen Vorgehens findet sich in: TH. KNAUTH, Anmerkungen zum Dialogbegriff; DERS., Von der Rekonstruktion zur Interpretation. 15

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es, paradigmatische Muster und Strukturen der Interaktion zu erkennen und für eine genauere Analyse auszuwählen.

III. Kontextualisierung der Forschungsarbeit 1. Kontextfaktoren der untersuchten Schule: Bezirk, Schulform, Modell des Religionsunterrichts und Klassenstufe als Kontextfaktoren Unser Beispiel stammt aus einer 9. Klasse (Altersstufe 14–16) eines Gymnasiums im südlichen Teil Hamburgs. Die Schule liegt in einem Stadtteil, der auf Grund seiner sozioökonomischen Rahmenbedingungen und seiner ausgeprägten Multikulturalität in der Öffentlichkeit als sozialer Brennpunkt und Problemfall wahrgenommen wird. Dieses Etikett hat zu einer Abwanderung von Mittelstandsfamilien geführt. In den vergangenen Jahren sind viele türkischstämmige Familien in den Stadtteil gezogen, so dass türkische Immigranten inzwischen in einigen Gebieten die Mehrheit bilden. Diese Entwicklung kann auch an der Schule beobachtet werden, wo eine ehemals heterogene Schülerschaft allmählich stärker zur Homogenität tendiert. Zu Beginn des Schuljahres 2006/2007 betrug der Anteil türkischstämmiger Schüler in der 5. Klasse nach Angaben der Schulleitung 80%. Die Schulversammlung hat einen Plan ausgearbeitet, der vorsieht, die Schule als sogenannte Stadtteilschule mit enger Anbindung an andere Bildungs- und Kulturträger der Nachbarschaft zu entwickeln. Dies deckt sich mit den Plänen der Stadt Hamburg, die den Stadtteil in den nächsten 10 Jahren zum Zentrum eines Stadtentwicklungsprogramms erklärt hat. Interkulturelles und interreligiöses Lernen sind Kernelemente des Schulprogramms und dienen erklärtermaßen auch dazu, das Image der Institution aufzupolieren. Einblicke in den Schulalltag zeigen jedoch, dass diese Ziele mit erheblichem Engagement einzelner Lehrer und Lehrerinnen und nicht selten gegen Widerstände der Politik und Schulbehörde durchgesetzt werden müssen. Eine der wichtigsten Akteure in diesem Unterfangen ist ein Religionslehrer, der für die Entwicklung des interreligiösen Profils der Schule zuständig ist. 2. Beschreibung der Klasse Die hier beschriebene Unterrichtseinheit fand im Religionskurs einer 9. Jahrgangsstufe statt. Den Kurs besuchen 18 Mädchen und 6 Jungen. In diesem Kurs führten wir über die Dauer eines Schuljahres eine kontinuierliche teilnehmende Beobachtung durch. Der die Einheit leitende Lehrer ist auch für die Entwicklung eines schulinternen Curriculums für interreligiöses und interkulturelles Lernen zustän-

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dig, ein Entwicklungsprojekt, an dem auch der Religionskurs teilnimmt. Der Religionsunterricht ist ausdrücklich darauf zugeschnitten, religiöses Lernen als einen andauernden Austausch zwischen verschiedenen Perspektiven zu gestalten. Im Schuljahr 2006/07 wurden zwei größere Unterrichtseinheiten neu entworfen. In der ersten Hälfte des Schuljahres stand eine ethische Fragestellung im Mittelpunkt: Was gehen mich die Anderen an? Hier stand im Vordergrund, in religiösen oder humanistischen Traditionen Motive und Ansätze für die Begründung von Verantwortung gegenüber Anderen und Einsatz für den Nächsten zu entdecken und für das eigene ethische Handeln zu prüfen. In der zweiten Hälfte beschäftigte sich die Klasse mit unterschiedlichen Konzepten von Gott aus historischen und religiösen Perspektiven: Gott im Zeitalter der Aufklärung, islamische Perspektiven auf das Verständnis von Gott und die Theodizeefrage. An diesem Projekt zur Gottesfrage waren auch ein Imam und ein lutherischer Pastor beteiligt. Nicht nur wegen dieser innovativen Ansätze wurde die Klasse zur Beobachtung ausgewählt; sie eignet sich auch deshalb, weil sie die Gegebenheiten in Hamburg in mehrfacher Hinsicht gut widerspiegelt:  Sie enthält eine ungewöhnlich große Anzahl von Schülern und Schülerinnen mit islamischem, aber auch Schüler und Schülerinnen mit christlichem Glaubenshintergrund und solche, die sich zu keiner Religion bekennen oder sich sogar als Atheisten definieren.  Vor dem Hintergrund einer qualitativen Erhebung, die auch diese Klasse einschloss16, können wir auch strukturelle Aussagen über die Haltungen der Schüler und Schülerinnen gegenüber Religion treffen. Die Klasse lässt sich im Hinblick auf ihre Einstellung zur Religion zunächst in drei strukturelle Gruppen unterteilen: (1) Eine Gruppe von Schülern und Schülerinnen betrachtet Religion als ein entscheidendes Element ihres Lebens und sieht die eigene Persönlichkeit als von Religion zentral bestimmt an. (2) Eine weitere Gruppe hält Religion für relativ wichtig. Diese Schüler und Schülerinnen sehen sie als situativ bedeutend an, besonders dann, wenn sie bei der Überwindung von Problemen hilfreich sein kann. (3) Schließlich findet sich eine Gruppe von Schülern und Schülerinnen, die Religion für das eigene Leben als ausdrücklich unwichtig bezeichnet. Nichtsdestotrotz finden diese Schüler und Schülerinnen den Gegenstand Religion aus der Außenperspektive interessant und zeigen auch Interesse an den Meinungen ihrer Klassenkameraden. ————— 16

Siehe TH. KNAUTH, ›Better together than apart‹, 207–245.

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Die teilnehmende Beobachtung zeigte auch, dass es unsichtbare und unausgesprochene Grenzen zwischen Schülern und Schülerinnen mit und ohne Migrationshintergrund gab. Im Verlauf der Studie wurde zunehmend klar, dass dies nicht eindimensional auf religiöse Unterschiede zurückzuführen ist, sondern seine Wurzeln in sozialen Differenzen hat, die ethnisiert und durch kulturelle sowie Geschlechterdifferenzen im Verhalten an der Schule immer wieder verstärkt werden. Dies kann hier aber nicht im Detail ausgebreitet werden. Kurz zusammengefasst: Bestimmte Gruppen von Schülern und Schülerinnen unterhalten und treffen sich nur im Kontext des Religionsunterrichts. Religiös gemischte Gruppen sind ansonsten sehr selten anzutreffen. Auch Vorurteile gegenüber der Religion der anderen sind präsent.

IV. Analyse der Unterrichtsstunde: ›Gott und der Tsunami‹ – ein Dialog über das Verständnis von Gott 1. Die Stunde als Beispiel für einen dialogorientierten Incident Die hier analysierte Unterrichtsstunde ist in zweifacher Hinsicht beispielhaft für den Kontext der beobachteten Klasse: Sie ist, erstens, eine ganz normale Unterrichtsstunde und hat, was Anlage, Aufbau, Form und Interaktionen betrifft, in dieser Weise sehr häufig stattgefunden. Dies lässt sich an unterschiedlichen Aspekten aufzeigen: So hatten die Schüler und Schülerinnen bereits Erfahrungen mit Arbeitsaufträgen gesammelt, die Bezug auf ihren persönlichen Erfahrungshorizont nehmen; sie haben die argumentative Verteidigung ihrer Positionen in kontroversen Debatten eingeübt und dabei besonders gelernt, einander zuzuhören. Der Lehrer legt Wert darauf, durch seinen Unterricht zur Entwicklung von Dialogkompetenz beizutragen. Es gelingt ihm meistens, das Unterrichtsgespräch in einer konzentrierten, auf das Thema fokussierten und zugleich sehr offenen Atmosphäre stattfinden zu lassen. Die Stunden finden in einem Klassenzimmer statt, das ausschließlich für den Zweck des Religionsunterrichts eingerichtet wurde. Im Raum findet sich unter anderem eine Büchersammlung zu religiösen Themen. Symbole verschiedener Weltreligionen sind auf die Wände gemalt, und der Raum ist mit einer Art interreligiösem Altar ausgestattet, der Ritualobjekte und Symbole unterschiedlicher Religionen trägt. In der Mitte des Raumes liegt ein Teppich, auf dem während eines Anfangsrituals zu Beginn der Stunde eine Kerze entzündet wird. Wenn in einer Unterrichtsstunde besonders viel Diskussionen oder Erfahrungsaustausch stattfinden soll, setzen sich die Schüler/innen im Kreis um den Teppich. Auch in der hier ausgewählten Unterrichtsstunde

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ist der Einfluss dieser Rahmenbedingungen auf Atmosphäre und Verlauf des Unterrichtsgespräches deutlich zu bemerken. Die Stunde kann, zweitens, ein Beispiel für die Aussagekraft einer sorgfältigen Interaktionsanalyse im Rahmen ethnographischer Forschung geben. Diese Analyse will auf der Mikroebene von Interaktion Faktoren aufzeigen, die für einen erfolgreichen Austausch unterschiedlicher und oft widerstreitender Perspektiven auf ein relevantes religiöses Thema Ausschlag gebend sein können. So dient die Unterrichtseinheit auch als ein bemerkenswertes Beispiel für good practice – einen geglückten Dialog in der Praxis. 2. Thema und Kontext der Unterrichtseinheit Die Unterrichtseinheit fand im Juni 2007 statt und ist Teil einer Reihe von Stunden zum Thema der Theodizeefrage – der Frage nach der Rechtfertigung Gottes angesichts von Leiden und Ungerechtigkeit. In der vorangegangenen Woche wurde die grundlegende Fragestellung eingeführt und an Beispielen veranschaulicht. Methodisch wurde die Form einer ›Klagemauer‹ gewählt. An diese Mauer wurden Beispiele von Unrecht und Leid angeheftet und in weiteren Schritten der Reflexion nach systematischen Kategorien gruppiert. Das Kriterium der Gruppierung war die Frage, welche Ungerechtigkeiten abgestellt werden können und welche als unabwendbare Tatsachen akzeptiert werden müssen. Im Evaluationsgespräch unmittelbar nach Abschluss der Stunde wurde kritisch bemerkt, die Beispiele seien zu wenig dem Erfahrungshorizont der Schüler und Schülerinnen entnommen. Dabei müsse eine persönliche Dimension als zentrale Voraussetzung für das Verständnis der Theodizeefrage angenommen werden. Aus diesem Grund entschloss sich der Lehrer, für die folgende Unterrichtsstunde das Augenmerk auf die Dimension individueller Erfahrungen zu lenken. Zur Vorbereitung der Diskussion stellte er zunächst Raum für den Austausch solcher Erfahrungen zur Verfügung, um dann in einem zweiten Schritt die Frage an die Schüler/innen zu stellen, wie diese Erfahrungen mit dem persönlichen Verständnis von Gott in Einklang zu bringen seien. Im Verlauf der Unterrichtsstunden wurden unterschiedliche Erklärungsmodelle eingebracht. Die Bandbreite der Ideen reflektiert die religiöse Heterogenität der Klasse. Einerseits wurde der klare und zweifelsfreie Glaube zum Ausdruck gebracht, dass Schaden, Unglück und Katastrophen entweder eine Prüfung oder eine Strafe Gottes darstellen. Es fand sich aber auch die Vorstellung, dass Katastrophen in quasi erzieherischer Absicht dazu dienen, dass Menschen aus ihnen lernen. Aber auch die Überzeugung, dass Gott niemals unschuldige Menschen töten würde, kam zum Ausdruck. Diese Position führte letztlich zu der Annahme, dass es angesichts von Katastrophen wie dem Tsunami von 2004 keinen Gott geben könne.

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3. Zusammenfassung des Inhalts (thematische Makrostruktur) Die Unterrichtseinheit ist in zwei klare Abschnitte unterteilt. In der ersten Hälfte dominiert der Austausch individueller Erfahrungen die thematische und interaktive Struktur. Das Thema wird in deskriptiver und narrativer Form behandelt. In der zweiten Hälfte herrscht ein mehr explikativer und argumentativer Stil vor. Die Schüler/innen sind aufgefordert, Erklärungen für Kernaspekte der Theodizeefrage zu formulieren und ihren Standpunkt zu verteidigen. Der Hauptteil der Stunde wird mit einer kurzen Periode von Stillarbeit eingeleitet. Nach einer Rekapitulation der vorherigen Stunde fordert der Lehrer die Schüler und Schülerinnen auf, in einer kurzen Stillarbeit an Augenblicke zurückzudenken, an denen sie sich selbst die Frage stellten, wie Gott eine solche Ungerechtigkeit zulassen kann. In seiner einführenden Erklärung charakterisiert er dies als ein Experiment: ›Ich möchte herausfinden, ob es möglich ist, die Frage nicht nur von außen zu betrachten. Ich möchte herausfinden, ob es möglich ist, dass ihr über euch selbst sprecht.‹ Im Anschluss daran berichten die Schüler/innen über ihre Erfahrungen. Diese Sequenz dauert insgesamt acht Minuten. Neun Schüler und Schülerinnen tragen hierzu bei, zwei Mädchen sogar je zweimal. Sehr persönliche Erfahrungen werden offengelegt, so etwa wird von Verwandten berichtet, die schwer erkrankten, oder es wird von plötzlichen Todesfällen in der Familie erzählt. Es gibt aber auch Erzählungen von unerwarteter Rettung aus großer Gefahr. Der Lehrer beschränkt sich darauf, Fragen zur Klärung zu stellen und die Schüler/innen aufzufordern, ihre Erfahrungen in einen Zusammenhang mit der Leitfrage zu stellen. Der zweite Teil des Unterrichtsgespräches beginnt nach ungefähr 18 Minuten. Diese neue Phase setzt ein, als der Lehrer in einem initiierenden Gesprächsakt eine Leitfrage einführt, die – so sein Handlungsplan – durch die Schülerinnen und Schüler diskutiert werden soll. Es entsteht eine kleine Gesprächsschleife, weil die Frage wiederholt werden muss, ehe das Thema als Grundlage für die Gruppendiskussion akzeptiert ist. Nach dieser kleinen thematischen Verzögerung beginnt die die zweite Phase des Gespräches. Diese Phase dauert 17 Minuten und endet mit einer Intervention des Lehrers, die das Gespräch eher unterbricht als abschließt: ›Ja-Frage geklärt??‹ Die beobachteten Interaktionsformen und die thematische Progression sind relativ konstant, so dass einzelne thematische Abschnitte auf rein inhaltlicher Ebene kaum voneinander abgegrenzt werden können. Alle angesprochenen Themen und Gesichtspunkte beziehen sich auf das Gesamtthema, die Erklärung von Schicksalsschlägen, die unschuldige Menschen treffen. Eine Betrachtung von interaktiver und inhaltlicher Ebene des

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Gespräches zeigt jedoch deutlich, dass sich diese Sequenz in zwei Phasen einteilen lässt. In dieser Analyse werde ich den ersten Teil des Gesprächs in den Mittelpunkt stellen. Eine Betrachtung der Mikrostruktur soll die interaktiven und thematischen Eigenschaften der dialogischen Interaktion aufzeigen, die diesen Austausch charakterisieren. 4. Transkription: Der Incident ›Gott und der Tsunami‹17 Gloy: hierum dreht sich die frage und jetzt will ich echt mal versuchen von euch + antworten zu kriegen + ja ähm wieso bestehen leiden und ungerechtigkeiten + ohne dass wir menschen etwas dafür und dagegen können ++ ich will nochma auf eine sache raus die wir auch gelernt haben Katharina: dagegen tun können oder was Gloy: wir hatten ähm was meinst tu katharina? Katharina: die frage (is halt was wir) dagegen tun ( ) Erdem: niest Gloy: ja: oder was wir dagegen tun hast du recht sogar Erdem: niest Gloy: ( ) nochma eine sache wir ham mal über offene und geschlossene fragen geredet wisst ihr noch was geschlossene fragen sind? mehrere SchülerInnen: ja ja Gloy: mathematik eins plus eins zwei + ne fertig keine diskussion + offene frage:stellung da ist es nicht immer so ne leis so leicht ne deutliche antwort zu finden die alles sofort klärt was is das für ne frage hier für euch? ++ Schüler X: ((sehr leise)) ne offene Gloy: da bin ich mal gespannt + ja mal sehn katharina

————— 17 Für die Transkription der Unterrichtsgespräche haben wir eine relativ einfache Kodierung verwendet, da unsere Analyse sich nicht primär auf linguistische Aspekte konzentriert, sondern Inhalte in ihrer Beziehung zur Interaktion untersucht. Die weitgehend künstliche Natur des Gesprächskontext ›Klassenzimmer‹ mit seinen Regeln und Beschränkungen erlaubt es zudem, auf eine Aufnahme von Überlappungen, Nebenaktivitäten und Körpersprache zu verzichten. Wir folgen hier den Konventionen aus: I. GOGOLIN/U. NEUMANN, Großstadt Grundschule. Eine Fallstudie über sprachliche und kulturelle Pluralität als Bedingung der Grundschularbeit, Münster 1997, 379.

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Katharina: ne offene? Gloy: ma kucken vielleicht können ja auch einige uns wirklich gut beantworten ( ) ich freu mich glaub ich dass du (kannst doch) ganz gute sachen dazu sagen Erdem: es kann so genauso eine offene auch eine gschlossene sein jetzt zum beispiel mit Ceiron eh jemand hat dort die glasscherbe dahin geworfen oder so oder überhaupt hinge + falln is und danach + ja was gabs denn noch für beispiele bei dem lkw jetzt da is ja auch der typ reingefahrn also + das hat ja nix mit den dafür also man kann ja dagegen was tun dass man jetzt nich eh dass man in die glasscherbe oder da in lkw oder so Gloy: mhm Erdem: also man kann sich ja dass der andere dann nich eine glasscherbe da hinwirft sondern in mülleimer oder so Gloy: das heißt das is eigentlich gar keine frage glaubst du Erdem: schüttelt den Kopf Schülerin X: doch Schülerin Y: das is ne geschlossene Erdem: ja das is ne geschlossene frage also man kann sich davor schützen Gloy: mh ja Jessica () Jessica (): aber es is auch teils ne offene frage zum beispiel bei Kathas bruder der hat ja auch krebs bekommen einfach so Erdem: ja das ist eine Jessica: (das hatte er dann ja schon) Erdem: das i ja eine offen Jessica: ( ) auch nichts gegen getan Erdem: das ja ich hab ja gesagt dass das manche eine offene is und manche geschlossen zum beispiel ++ mit Ceiron deiner mutter war ja + ja das war ja beide geschlossene und bei katharina is das ja ne offene frage Imen: stöhnt ((Unruhe in der Klasse, mehrere reden durcheinander)) Schülerin X: eben hast du grad gesagt Schülerin Y: (die erste is ne offene) Erdem: ja genau

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Imen: vielleicht kann man sich mal auf die Frage beziehen… Gloy: Mhm – also ich glaube, wir haben geklärt, was offene und geschlossene Fragestellungen sind, ne? Es geht jetzt darum, dass wir mal versuchen, das Ganze zu erklären, okay? Also Erdem Du hast recht, klar hat das auch was mit der [:::] letztlich, völlig klar. Trotzdem müssen wir irgendwie nicht zufällig hier auch zufällig da rein fahren. Es stimmt, das sind viele Zufälle [:::] ne? Er hat sich auf jeden Fall Gedanken darüber gemacht, wie das sein kann. Ich will, dass ihr mir mal helft: sagt mir mal, wie diese Sache zu besprechen, zu lösen ist. Svenja fängt an. Svenja: Ähhm Imen: Also wie wir die Frage beantworten? Gloy: Richtig genau – Svenja: Ich denke eigentlich, dass so die Ungerechtigkeiten nur zu unserem Schutz dienen, weil wenn wir jetzt zum Beispiel ähm Erdrutsche haben, dann also dann lehrt uns das ja auch Respekt vor der Natur zu haben und dann werden wir uns bestimmt fünfmal überlegen, wenn wir jetzt da noch ’nen Baum abholzen oder da noch was abroden und – Ähm auch so Hurricanes und so, ich denke eigentlich, dass das nur ja unsere Schuld ist, dass wir halt dann festere Häuser bauen oder wie auch immer, so dass wir halt immer daraus lernen. Und uns dann selber besser schützen und wenn das jetzt noch mal passiert, das nicht mehr so / so schlimm wie als beim letzten Mal so wird. Gloy: Mhm. Dennis L: Äh, das was sie gesagt hat ist eigentlich voll Quatsch, weil wenn er das nich’ äh wenn er keine Hurricanes macht, dann muss dann braucht man ja auch keine festeren Häuser. Außerdem würde das auch keinen Sinn machen, weil ähm wenn er da / weil beim Tsunami da sind ja richtig viele Menschen gestorben, ne so ein paar Hunderttausend – und denn das mit äh überhaupt keinen Sinn so viele Menschen sterben zu lassen, nur damit sie da bessere Häuser bauen. Gloy: Das hätte Gott auch anders mitteilen können [Dennis L.: Genau.] und nicht jede Menge Leute umkommen lassen, ja? Imen: [leise] Wer sagt, dass das – Gloy: Mhm – Imen: Wer sagt, dass das der Grund ist? Ich meine ähm vielleicht hat Gott andere Gründe ähm ich weiß nicht wo ähm dass die vielleicht äh an ihn gezweifelt haben halt oder nicht mehr richtig an ihn geglaubt haben oder irgendwas gemacht haben, was ihn vielleicht verärgert hat und er wollte ihnen damit zeigen also sie wieder erinnern, dass es noch einen Gott gibt, eine größere Macht, die zu so etwas in der Lage ist.

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Schüler: [leise und ironisch] Wenn sie tot sind – Imen: Nein, wenn die noch leben. Gloy: Mhm. Nalan. Nalan: Ich seh’ das so / also ähm, wär’ das jetzt so, dass jemand irgendwas Schlechtes tun würde so Gott bestraft ihn damit, dann weißt du eigentlich schon, dass das Gott ist und wenn das jetzt so ist aber, dass wir auch schlechte Dinge erfahren ohne, dass wir was Schlechtes tun, dann kannst du auch an Gott nicht zweifeln. Also ich weiß nicht, wie ich das alles erklären soll – [lacht kurz unsicher] Is’ voll komisch – Svenja: Ähm, Imen hat ja gesagt, dass er uns damit daran erinnert, dass es ihn gibt aber so also ähm Leute, die nicht an Gott glauben, die werden dadurch jetzt auch nicht an Gott glauben. Die haben ja immer Gründe das zu erklären, wie so was entsteht ähm und nur, weil es überhaupt passiert, werden die auch nicht denken: »Oh es gibt ja doch ’nen Gott!« Und ich glaub nicht, dass das seine Absicht ist. Imen: Ne, wenn das / Darf ich? Gloy: Ne, noch am Besten nicht, weil ich habe grade Alex das Wort erteilt und dann war Dennis dran und dann kannst du, ja? Imen: Mhm. Alex: Gott ist oder was belegt, dass es sein Werk oder von Gott abstammt oder Gottes Wille ist solche Sachen zu produzieren oder halt zu produzieren. Es mag ja sein, dass er vielleicht irgendwas in gewisser Weise dahinter steckt. Aber ich versteh nicht, warum man deswegen, solche Sachen machen muss. Oder als / als Gott zum Beispiel jetzt den Tsunami auf [:::], welchen Sinn hat das für die Menschen? Weil man sich ja auch auf eine andere Weise mitteilen könnte. Gloy: Das würde ja aber heißen, dass der allmächtige und so gütige Gott gar nicht so allmächtig und gütig ist. Alex: Das gütig würd’ ich nicht anzweifeln, nur allmächtig würd’ ich nicht sagen, weil ich bezweifle, dass man jetzt alles, die ganze Welt, jeden einzelnen Sandkrümel auf der Welt kontrollieren kann ihm zu sagen, dass er jetzt da liegen bleiben soll oder ihm zu sagen, dass er runterrutschen soll und den ganzen anderen Sandkrümeln [:::] Dass das halt schwer zu machen is’ – Gloy: Mhm – Dennis L: Ich wollte noch mal zu Imen was sagen, weil wenn das so wär’, dass Gott das machen würde, damit die Menschen mehr an ihn glauben, dann wär’ das ja eigentlich umgekehrt, weil wenn man / also wenn ich das jetzt seh’, dass der das / diesen Tsunami da macht, dann denk ich ja eher, es gibt keinen Gott, weil wenn’s einen Gott geben würde, dann würde er das ja nicht machen.

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Gloy: Ja, genau. Jetzt war Imen noch mal – Imen: Ich wollt sagen ähm es muss ja nicht unbedingt deswegen sein und äh wenn es Leute gibt, die nicht äh also wegen diesen Wissenschaftlern und so da könnte man genauso fragen: Wer hat denn die Wissenschaft überhaupt erschaffen? Wer hat das / wer hat den Wissen / den Wissenschaftlern so viel Wissen gegeben dinge dass die das überhaupt ähm halt ähm [h] ja und außerdem äh wieso / die meisten Menschen sehen den Tod immer als Strafe ich meine wieso / deswegen ja auch diese Diskussion, wer sagt, dass der Tod eine Strafe ist / das / ich / manche sagen ja: Warum mussten die sterben? Früher oder später sterben wir doch alle, wieso dann / wieso ist das eine Ungerechtigkeit? anschwellendes Gemurmel der Klasse Gloy: Das heißt ja so ein bisschen: Is’ ja gar nicht so schlimm, wenn man bei einem Tsunami stirbt, weil wir sterben ja eh alle. Imen: Nein. Ich mein Gloy: Hast Du doch gesagt, oder? Schüler: Ja Imen: Nein, ich bin jetzt auf was Schüler: [ironisch] Herzlos, raus! Imen: Ja ich bin jetzt auf was [lachend] / ich bin jetzt auf was Anderes eingegangen damit. Ich meine, weil die meisten gesagt haben, Tod sehen die als eine Ungerechtigkeit, was wir und ähm es muss ja keine Ungerechtigkeit sein. Und das mit dem Tsunami und so / ich hab gesagt als Beispiel, dass die an ihm zweifeln oder nicht mehr an ihn glauben oder so. Da / aber dadurch rechtfertigen wir wieder Gott – eigentlich. Gloy: Mhm – Hier Natasha Natasha: Nur ähm das mit dem Tsunami so, dass er den halt sozusagen geschickt hat, weil die vielleicht an Gott zweifeln, aber was ist dann noch / dann müssen theoretisch Imen: [vehement] Es war ein Beispiel! Es muss nicht so sein – Natasha: Ja aber / aber dann müssten ja theoretisch alle, die ne andere Religion wie Buddhismus und Hinduismus, die mehrere Götter haben / dann müsste der ja denen ja denen mal einen Tsunami schicken, weil die glauben ja auch an andere Götter. Gloy: Mhm. Alex! Alex: Wobei eigentlich könnte es auch Sinn machen zum Beispiel beim Tsunami, wenn jetzt / wenn jetzt sagen wir mal im Fall, dass Gott jetzt irgendeiner Person jetzt auferlegt, den anderen zu helfen, dann würde das ja dazu kommen oder mehreren

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Personen, dass die sich wieder irgendwie hervorheben und dass dadurch neue Kriege entstehen, wenn jetzt wieder jemand neu erleuchtet wird von Gott [leicht ironisch] Gloy: Mhm Alex: Das könnte ja sein, dass irgendwie andere sich benachteiligt fühlen und andere – ja, dann / dass dann halt neue Kriege hervorkommen und dadurch noch mehr Menschen sterben könnten als / als beim gesagten Fall. Gloy: Hanife – Hanife: Ich wollt sagen ähm dass / man muss ja einen Tsunami nicht gleich als Bestrafung sehen. Ich wollt sagen [kichert] es gibt ja auch auf der Welt so Liebe und Hass, es gibt Gutes und Schlechtes und wenn etwas Schlechtes passiert, ist es die Aufgabe, die ääähm – von den Menschen, die in guten Gegenden leben, denen zu helfen. Gloy: Mhm – Nasan: Ähm noch was zu keine Ahnung Dennis oder so / er hatte das glaube ich gesagt. Ähm da meinte er doch, er kann uns ja auch anders zeigen zum Beispiel wenn da diese Häuser nicht gebaut werden sollen oder so. Aber ich mein, wir können ja nicht mal etwas dagegen tun, obwohl wir zum Beispiel keine Ahnung im Irak oder so, wenn wir / obwohl wir da keinen Krieg haben wollen zum Beispiel – die meisten von uns hier – Wir können nicht mal etwas dagegen kommen, obwohl das von uns selber kommt. Also, ich weiß nicht, wie ich das klar machen soll so und ähm [überlegt verunsichert] und noch etwas ähm wir hatten doch schon mal so etwas wie zum Beispiel so etwas wie / [an ihre Nachbarin gewandt] was heißt noch mal kader auf deutsch? Ein paar Schüler/innen: Schicksal! Nasan: Ach so ja Schicksal. [lacht kurz] Ähm zum Beispiel – einem Menschen wurde vorgeschrieben, er wird zum Beispiel keine Ahnung dies und das tun – zum Beispiel: ich / Sie [auf ihre Nachbarin zeigend] wird ermordet oder so, ne? Dann bin ich ja diejenige, die jetzt sie ermordet zum Beispiel und ähm ich bekomm jetzt Krebs. Dann ist es ja eigentlich für euch besser, dass ich Krebs bekomme oder das ich gleich sterbe. Ich mein, wir wiss / wir wissen ja nie, was diese Menschen, die beim Tsunami dann gestorben sind, was die machen werden. Oder was die gemacht haben. Ich weiß, dass klingt hart, aber ist so.

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5. ›Gott und der Tsunami‹ – Interaktions- und Themenanalyse auf der Mikroebene Dieser Teil der Analyse verwendet Instrumente, die in der Text- und Gesprächsanalyse entwickelt wurden.18 Sie erlauben uns, den Text in Sequenzen aufzuteilen und seine Bedeutungsstruktur zu rekonstruieren. Hierfür ist es sinnvoll, die rein inhaltliche Ebene von den mit ihr verbundenen Interaktionen zu trennen. Einfach ausgedrückt erlaubt uns die Textanalyse, zwischen Inhalt und (Inter-)Aktion zu differenzieren. Die Rekonstruktion soll hier auf der inhaltlichen Ebene beginnen, wo die thematische Struktur herausgearbeitet werden kann. Anschließend kann auf der interaktiven Ebene gefragt werden, wie Inhalte und Thematik im Rahmen der kommunikativen Handlungen behandelt werden. Die Beziehung zwischen inhaltlicher und interaktiver Ebene kann wertvolle Aufschlüsse zur weiteren Interpretation liefern. Die Differenzierung der Ebenen kann auch ein Werkzeug sein, um die komplexe Realität der Unterrichtseinheit besser erfassen zu können. Der Begriff des thematischen Musters19 weist darauf hin, dass Themen und Inhalte durch kommunikative Faktoren bestimmt werden. Hier kann man grob zwischen deskriptiven, argumentativen, explikativen und narrativen Mustern unterscheiden. Besonders das Zusammenspiel und die Beziehung zwischen der inhaltlichen Entwicklung des Gesprächs und dem Verlauf der Interaktion kann durch die methodische Trennung zwischen thematischer und interaktiver Ebene besser analysiert werden. Darum analysieren wir Themen und die einzelnen Gesichtspunkte von Themen – Subthemen genannt – und betrachten, wie diese Themen in der Interaktion der Klasse verortet und behandelt werden. Meine Analyse geht von der Annahme aus, dass relevante Phänomene auf der interaktiven Ebene sich auf der inhaltlichen Ebene niederschlagen und die Struktur der Themenentwicklung sowie die Behandlung von Themen beeinflussen. 5.1. Definition des Themas – die Anfangsphase Die Beziehung zwischen der inhaltlichen und der interaktiven Ebene wird am Beginn des Abschnittes, der hier analysiert wird, sehr gut deutlich. Die Einstiegsphasen von Unterrichtsgesprächen sind allgemein aufschlussreich für die der Stunde zugrunde liegenden thematischen und interaktiven Strukturen. Eine genauere Betrachtung lohnt sich auch in unserem Fall: ————— 18 Vgl. K. BRINKER, Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden, Berlin 1985; K. BRINKER/S.F. SAGER, Linguistische Gesprächsanalyse. Eine Einführung, Berlin 1989. 19 Siehe BRINKER, Linguistische Textanalyse, 50ff.; BRINKER/SAGER, Linguistische Gesprächsanalyse, 75ff.

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Der Lehrer schließt zu Beginn der Gesprächsphase die Berichte über eigene Erfahrungen der Schüler ab, indem er auf eine an die Tafel geschriebene Frage weist: »hierum dreht sich die frage und jetzt will ich echt mal versuchen von euch + antworten zu kriegen + ja ähm wieso bestehen leiden und ungerechtigkeiten + ohne dass wir menschen etwas dafür und dagegen können ++.« Diese Leitfrage wird von einer Erläuterung begleitet. Der Lehrer erinnert die Schüler und Schülerinnen an die bereits besprochene Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Fragen und erklärt, er sei sehr neugierig, ob die Schüler und Schülerinnen diese Fragestellung als eine offene oder als eine geschlossene beantworten werden. Erdem meldet sich als erster zu Wort. Er wendet die Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Fragen auf die Berichte seiner Mitschüler an. Zwei der Erfahrungsberichte werden als geschlossene Fragen interpretiert. Jessica tritt an diesem Punkt auf den Plan und widerspricht Erdem. Sie ordnet den Beitrag ihrer Freundin und Mitschülerin, die von der schweren Krankheit ihres jüngeren Bruder erzählte, dem Bereich der offenen Fragen zu. Nun wiederum reagiert Erdem spontan und unterbricht sie, ohne sich zu melden. Seine Reaktion kann als Versuch gewertet werden, seinen Beitrag zu verteidigen (»das ja ich hab ja gesagt dass das manche eine offene is und manche geschlossen zum beispiel«). Diese Episode führt zu erheblicher Unruhe in der Klasse: Imen, der sich schon seit einiger Zeit meldet, seufzt und sagt: »Vielleicht kann man sich mal auf die Frage beziehen [...]«. Tatsächlich scheint die Verschiebung auf das untergeordnete Thema offene und geschlossene Fragen die Absicht des Lehrers zu verfehlen. Folgerichtig greift er durch einen metakommunikativen Sprechakt ein: Er beurteilt die Beiträge von Jessica und Erdem als zielführend (»Gut, wir haben geklärt was offene und was geschlossene Fragen sind.«), zeigt aber auch an, dass dies Thema damit hinreichend bearbeitet sei. Er interveniert auch, um Erdems Image zu wahren, das durch die offensichtliche Ablehnung in der Klasse angegriffen scheint. Der Beitrag des Lehrers dient dazu, die Bedeutung von Erdems Beitrag zu würdigen. Die gesamte Episode dauert 2:30 Minuten und führt dazu, dass der thematische Kern des Gesprächs kurzfristig aus dem Blick gerät. Der Lehrer muss dies nun richten und eröffnet die Diskussion mit einer kurzen, allgemeineren und offenen Umformulierung der Aufgabe neu: »Mhm – also ich glaube, wir haben geklärt, was offene und geschlossene Fragestellungen sind, ne? Es geht jetzt darum, dass wir mal versuchen, das Ganze zu erklären, okay? Also Erdem Du hast recht, klar hat das auch was mit der [:::] letztlich, völlig klar. Trotzdem müssen wir irgendwie nicht zufällig hier auch zufällig da rein fahren. Es stimmt, das sind viele Zufälle [:::] ne? Er hat sich auf jeden Fall Gedanken darüber

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gemacht, wie das sein kann. Ich will, dass ihr mir mal helft: sagt mir mal, wie diese Sache zu besprechen, zu lösen ist.«

Sein zweiter Vorstoß vereinigt zwei interaktive Funktionen. Einerseits verweist er auf das bereits vorgestellte Thema. Hier ist allerdings deutlich, dass er die Frage nicht konkretisiert, sondern sie eher noch unspezifischer formuliert (»wie diese Sache zu besprechen?«). Die zweite Funktion scheint statt dessen darin zu bestehen, ausdrücklicher klar zu machen, was er von den Schüler/inne/n erwartet. Er fordert sie auf, bei der Erklärung der Phänomene zu helfen, die im ersten Teil der Stunde besprochen wurden. Diese Wendung im Verlauf des Unterrichtsgesprächs ist auch deswegen von großer Bedeutung, weil sie zu einem kritischen Zeitpunkt eine besondere Beziehung zwischen den Schülern und Schülerinnen und dem Lehrer herstellt. Seine Initiative, die Schüler/innen zur Mithilfe bei der Bearbeitung aufzufordern, definiert sie als Partner und Experten bei der Klärung einer Frage, die er nicht allein beantworten kann. Zugleich charakterisiert er das Thema als ein schwieriges und theologisch anspruchsvolles Problem und stuft es damit in seiner Relevanz hoch. Wir können auch feststellen, dass es der Lehrer ist, der das Gesamtthema der Unterrichtseinheit definiert und einbringt. Die folgenden Beiträge der Schüler/innen machen jedoch auch klar, dass die weitere Entwicklung und Behandlung des Themas sehr stark von ihrer Partizipation abhängt. Aus der Perspektive der inhaltlichen Analyse kann die Aushandlung des Themas erst mit den Beiträgen von Svenja und Dennis als abgeschlossen betrachtet werden. Die Einführungsphase ist somit ein gutes Beispiel dafür, dass das Thema einer Unterrichtseinheit als das Ergebnis einer Verhandlung zwischen den Teilnehmern gesehen werden kann. Svenja bezieht sich in ihrem Beitrag auf zwei Beispiele, die ihre Ansicht untermauern, Katastrophen dienten einem erzieherischen Zweck und man müsse aus ihnen lernen. Sie erwähnt ›Erdrutsche und Hurricanes‹. Dennis konzentriert sich in seiner scharfen Erwiderung zunächst auf das Beispiel von Hurricanes, greift dann aber den Tsunami als Beispiel auf (den er wohl semantisch in die Nähe von Hurricanes rückt). Das Schlüsselwort Tsunami wird nun zum zentralen Referenzobjekt der folgenden Beiträge. Dennis´ Erwiderung auf Svenjas Beitrag gleitet in den thematischen Fokus. Der von ihm erwähnte Tsunami wird letztlich zum Hauptbezugspunkt der gesamten folgenden Diskussion. Daher kann man zum Schluss gelangen, dass das Thema in dieser ersten Phase das Resultat eines Aushandlungsprozesses zwischen Schülern und Schülerinnen und dem Lehrer ist. Es lässt sich in Frageform folgendermaßen formulieren: Warum erlaubt Gott, dass der Tsunami passiert? (Dies impliziert die Frage nach dem Verhältnis von Gottesvorstellung und einer Katastrophe wie dem Tsunami.)

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Die Art der Einführung des Themas lässt auch Schlüsse auf das thematische Muster der folgenden Diskussion zu. Das Kernthema – in der obigen Frage implizit formuliert – gestattet sowohl eine argumentative als auch eine explikative Bearbeitung. Die Einführung verweist jedoch bereits deutlich auf die zu erwartende thematische Form, die folgt: Die Schüler/innen sind eingeladen, ihre Standpunkte darzustellen und argumentativ zu untermauern und die Argumente ihrer Mitschüler/innen in der Diskussion zu stützen oder zu widerlegen. Dieses Interaktionsmuster zieht sich durch die gesamte folgende Stunde. 5.2. Hauptphase der Diskussion – thematische und interaktive Struktur Ich möchte mich hier auf den ersten Teil der Diskussion konzentrieren. Er endet mit Nazans Beitrag (siehe Ende des Transkripts). In einem relativ langen Gesprächsbeitrag erläutert sie ihre Position, dass der Tsunami als ein von Gott bestimmtes Schicksal erkannt und angenommen werden müsse. Gott allein wisse, warum es Menschen bestimmt sei zu sterben. Dieser neue thematische Aspekt gibt dem Gesprächsverlauf eine andere Richtung. Mehrere weitere Beiträge nehmen entweder positiv oder negativ Stellung zu dieser Position. Vorher behandelte thematische Aspekte werden in der Folge an den Rand gedrängt. Die Interaktion im Hinblick auf diese Subthemen scheint abgeschlossen zu sein. Auf Grundlage der interaktiven Struktur kann Nazans Beitrag als der Beginn eines neuen Abschnitts in der Kernphase der Diskussion betrachtet werden. Im ersten Abschnitt der Kernphase, den Svenjas Beitrag einleitet, zählen wir insgesamt 15 Redebeiträge. Die thematische Analyse zeigt, dass vier Thesen eingebracht und mehr oder weniger intensiv diskutiert werden. Diese Thesen sind: (1) Der Tsunami ist eine Strafe, die Gott in erzieherischer Absicht anwendet, damit die Menschheit daraus lernt (Svenja). (2) Der Tsunami wurde vom allmächtigen Gott als Erinnerung für Menschen geschickt, die an ihm zweifeln (Imen). (3) Wenn Gott allmächtig und gnädig wäre, würde er den Tsunami nicht zulassen (Alex). (4) Der Tsunami beweist, dass es keinen Gott geben kann (Dennis).

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›Dialog an der Basis‹ Tabelle 1: Struktur der Hauptthemen

»Gott und Tsunamis« Analyse auf thematischer Ebene Warum lässt Gott Tsunamis zu? T1

T2

Tsunamis sind Strafen in pädagogischer Absicht.

Tsunamis sollen an Gott erinnern.

T3 Wäre Gott allmächtig, gäbe es keine Tsunamis.

T4

T5

Angesichts von Tsunamis kann es Gott nicht geben.

Tsunamis sind reines Schicksal.

Die Tabelle zeigt die Struktur der Hauptthemen in der Anfangsphase der Interaktion. Sie sind hier in Form von Thesen formuliert. Die restlichen Beiträge nehmen Bezug auf sie und argumentieren entweder dafür oder dagegen. So argumentiert Dennis gegen Svenjas These, Nalan unterstützt Imens Position und Svenja widerspricht ihr. Bis zu Imens Beitrag ist die Struktur der Interaktion transparent und simpel: Eine These wird aufgestellt und verteidigt; ein Gegenargument und eine neue These folgen. Die inhaltliche Struktur stellt sich folgendermaßen dar: TĺProĺContraĺT2ĺProĺContraĺT3ĺPro. Mit Dennis' Beitrag wird die Struktur schon komplexer. Wie wir sehen werden, weist dies auf einen Incident auf interaktiver Ebene hin. Dennis nimmt Bezug auf Imen. Sie hatte die zweite These aufgestellt, indem sie behauptete, dass der Tsunami als eine Erinnerung zu verstehen sei, dass man an Gott glauben müsse. Dennis greift die Argumentation auf und kehrt sie um: »Ich wollte noch mal zu Imen was sagen, weil wenn das so wär’, dass Gott das machen würde, damit die Menschen mehr an ihn glauben, dann wär’ das ja eigentlich umgekehrt, weil wenn man / also wenn ich das jetzt seh’, dass der das / diesen Tsunami da macht, dann denk ich ja eher, es gibt keinen Gott, weil wenn’s einen Gott geben würde, dann würde er das ja nicht machen.«

Indem Dennis Imens Behauptung inversiv interpretiert, formuliert er zugleich eine neue These: Der Tsunami beweist, dass es keinen Gott geben kann. Diese These fungiert aber zugleich als Gegenargument zu Imens Position. Diese Erweiterung eines untergeordneten thematischen Gesichtspunkts ist ein deutliches Anzeichen für eine stärkere interaktive Fokussierung und Intensivierung des Gesprächs.

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Imens nächster Beitrag stützt diese Beobachtung. Sie bezieht sich auf die Gegenposition zu ihrer These (formuliert von Svenja) und entwickelt eine Argumentation, die die Vorstellung von Gott als Schöpfer aller Dinge – also auch als Schöpfer der Wissenschaft und der Wissenschaftler – stützen soll: »Ich wollt sagen ähm es muss ja nicht unbedingt deswegen sein und äh wenn es Leute gibt, die nicht äh also wegen diesen Wissenschaftlern und so da könnte man genauso fragen: Wer hat denn die Wissenschaft überhaupt erschaffen? Wer hat das / wer hat den Wissen / den Wissenschaftlern so viel Wissen gegeben dinge dass die das überhaupt ähm halt ähm …«

Im letzten Teil ihres Beitrags ändert sie jedoch ihren inhaltlichen Fokus mit der Aussage, der Tod müsse nicht notwendigerweise eine Strafe sein. Streng genommen verlässt sie hier den von der Leitfrage gesetzten Rahmen. »ja und außerdem äh wieso / die meisten Menschen sehen den Tod immer als Strafe ich meine wieso / deswegen ja auch diese Diskussion, wer sagt, dass der Tod eine Strafe ist / das / ich / manche sagen ja: Warum mussten die sterben? Früher oder später sterben wir doch alle, wieso dann / wieso ist das eine Ungerechtigkeit?«

Andererseits ist der von ihr eingebrachte Aspekt im Rahmen ihres Bezugssystems natürlich völlig schlüssig. Ihre Argumentation beruht auf einer Vorstellung von Gott als dem allwissenden und allmächtigen Schöpfer aller Dinge auf der Welt. Menschen müssen sich demzufolge ihrer eigenen Endlichkeit und Beschränkung bewusst sein. Wenn sie infolge göttlicher Entscheidungen sterben, ist das keine Ungerechtigkeit, sondern schlicht Ausdruck ihrer begrenzten Existenz. Die Reaktion auf diesen Beitrag ist unverkennbar. Das Hintergrundmurmeln nimmt an Lautstärke zu. Auch der Lehrer sieht sich augenscheinlich herausgefordert, den Beitrag nicht nur zu wiederholen, sondern ihn auch provokativ zuzuspitzen: anschwellendes Gemurmel der Klasse Gloy: Das heißt ja so ein bisschen: Is’ ja gar nicht so schlimm, wenn man bei einem Tsunami stirbt, weil wir sterben ja eh alle. Imen: Nein. Ich mein Gloy: Hast Du doch gesagt, oder? Schüler: Ja Imen: Nein, ich bin jetzt auf was Schüler: [ironisch] Herzlos, raus!

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Imen: Ja ich bin jetzt auf was [lachend] / ich bin jetzt auf was Anderes eingegangen damit. Ich meine, weil die meisten gesagt haben, Tod sehen die als eine Ungerechtigkeit, was wir und ähm es muss ja keine Ungerechtigkeit sein. Und das mit dem Tsunami und so / ich hab gesagt als Beispiel, dass die an ihm zweifeln oder nicht mehr an ihn glauben oder so. Da / aber dadurch rechtfertigen wir wieder Gott – eigentlich.

Wie wir sehen, fühlt sich Imen kommunikativ dazu verpflichtet, ihren Beitrag zu erklären und zu verteidigen. Obwohl die Atmosphäre im Klassenzimmer weit davon entfernt ist, ernsthaft angespannt zu sein, zeigen doch Erdems ironischer Kommentar und das verstärkte Murmeln in der Klasse, dass Imen hier eine unausgesprochene normative Erwartung verletzt hat. Sie bemerkt dies sofort, aber ihr Gesichtsausdruck und proverbale Zeichen deuten nicht darauf hin, dass sie sich für ihren Vorstoß schämt. Eher scheint sie diese Art der Herausforderung zu genießen; sie nimmt die Kontroverse an und macht sich damit gleichsam zur Haupdarstellerin in einer argumentativen Performance. Nichtsdestotrotz reagiert sie, indem sie ihr Argument rechtfertigt und eingrenzt. Diese Strategie kann als Relevanzminderung bezeichnet werden: Sie begrenzt die Tragweite ihres Argumentes auf die Rolle eines Beispiels. Im Verlauf der weiteren Interaktion führt Imens Beitrag (der letztlich eine Wiederholung ihrer zu Beginn formulierten These darstellt) zu Reaktionen von Natasha und Alex. Sie können als Argumente für und gegen Imens Position aufgefasst werden. Natasha nimmt eine klare Gegenposition ein (worauf Imen leicht genervt reagiert), indem sie auf mögliche Widersprüche in der These hinweist: Natasha: Nur ähm das mit dem Tsunami so, dass er den halt sozusagen geschickt hat, weil die vielleicht an Gott zweifeln, aber was ist dann noch / dann müssen theoretisch Imen: [vehement] Es war ein Beispiel! Es muss nicht so sein – Natasha: Ja aber / aber dann müssten ja theoretisch alle, die ne andere Religion wie Buddhismus und Hinduismus, die mehrere Götter haben / dann müsste der ja denen ja denen mal einen Tsunami schicken, weil die glauben ja auch an andere Götter.

Es ist nicht unmittelbar ersichtlich, wie Alex’ Beitrag sich inhaltlich in die Diskussion einfügt, doch kommunikativ funktioniert er als Unterstützung für Imen. Offensichtlich versucht Alex Argumente zu finden, die den Tod so vieler Menschen durch den Tsunami rechtfertigen können (in seinem ersten Beitrag hatte er noch infrage gestellt, ob ein gnädiger Gott eine derartige Katastrophe verursachen könnte).

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Tabelle 2: Inhaltliche Struktur der Kernphase der Interaktion

»Gott und Tsunamis« Analyse auf thematischer Ebene T2: Tsunamis sind eine Erinnerung Gottes. Atheisten würden wissenschaftliche Gründe geben. T4: Es kann Gott nicht geben, wenn er Tsunamis zulässt .

Gott hat die Wissenschaft erschaffen /Der Tod muss nicht eine Strafe sein.

T1

Polytheisten müssen auch bestraft werden.

Legende:

Es wäre sinnvoll, wenn mehr Böses verhindert werden könnte. Thematischer Verlauf

Tsunami als Strafe

Tsunamis müssen nicht eine Strafe sein. 

T5

Tsunamis sind Schicksal

Thematische Anknüpfung

Hier wird deutlich, dass die Strukturen, in denen die Themen bearbeitet werden, sich von der ursprünglich einfachen semantischen Abfolge zu einem wesentlich komplexeren Szenario entwickeln. Thematischer Verlauf und die Struktur der Anknüpfung an Themen treten – wie im Schaubild zu erkennen ist – auseinander. In den Gesprächsbeiträgen wird nun überwiegend Bezug auf weiter zurückliegende thematische Aspekte bzw. Teilthemen genommen. Dies weist auf eine dynamische und lebendige Interaktion hin. Es besteht aber auch das Risiko, inhaltlich abzuschweifen. Dieser Teil des Gesprächs ist in gewisser Weise thematisch ›ausgefranst‹ – und wir wissen aus den Ergebnissen anderer Gesprächsanalysen, dass derartig randständige Augenblicke in der Kernphase von Interaktionen auf einen Wechsel im inhaltlichen Fokus hinweisen. Dies lässt sich an dem nächsten Beitrag beobachten: Hanife nimmt bezug auf das Gegenargument zu These 1 (›der Tsunami muss als Strafe verstanden werden‹). Schließlich ist es Nazan, die sich lose auf Imens These bezieht, um ihrerseits eine neue These

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zu formulieren: ›Der Tsunami ist Schicksal!‹ Der Übergang in einen neuen Gesprächsabschnitt ist damit vollzogen. Der Rest der Stunde folgt einem sowohl inhaltlich als auch interaktiv sehr ähnlichen Muster. Im letzten Abschnitt zählen wir elf Beiträge von neun Schüler/innen. Teilweise werden inhaltliche Aspekte des ersten Abschnitts wieder aufgenommen, aber auch neue Aspekte tauchen auf. Die inhaltliche Struktur ähnelt stark der im ersten Teil. Die Schüler formulieren Thesen, die anschließend argumentativ angegriffen oder unterstützt werden. Die Thematik ist weniger klar fokussiert als zuvor, aber die interaktive Dichte bleibt bis zum Ende hoch. Ein Versuch zur Systematisierung der zum Thema eingenommenen Positionen kann grob drei Gruppen von Argumenten unterscheiden: In einer ersten Gruppe finden wir Argumente, die von der Annahme ausgehen, dass Naturkatastrophen – wie der Tsunami von 2004 – ein Beweis für die Existenz eines allmächtigen Gottes sind, ob sie nun als Strafe für Sünden, als Prüfung für Gläubige oder als Verhinderung von Schlimmerem zu deuten sind. In jedem Fall hat Gott Gründe dafür, den Tsunami geschehen zu lassen, die dem Menschen nicht voll verständlich sind. Eine zweite Gruppe umfasst Argumente, die auf die möglichen Widersprüche zwischen einem solchen Gottesbild und den unmenschlichen Auswirkungen von Katastrophen hinweisen. Der Tod Unschuldiger wird als unvereinbar mit der Vorstellung eines gnädigen Gottes betrachtet. Wenn dem Ereignis eine Bedeutung zukommt, so wird sie kataphorisch verstanden (man kann für die Zukunft daraus lernen) oder sie geht von der Vorstellung eines in dualistischer Balance befindlichen Universums aus, in dem sich Gut und Böse die Waage halten. In einer dritten Gruppe wird in den Argumenten eine klare Ablehnung dieses Gottesbilds formuliert. Wenn Naturkatastrophen wie der Tsunami geschehen können, ohne dass Gott eingreift, dann kann Gott entweder nicht existieren, oder er/sie ist rachsüchtig und daher abzulehnen.

V. Abschließende Bemerkungen: Vorbedingungen für Dialog ›an der Basis‹ Die unpersönliche Form, in der die Argumente hier zusammengefasst sind, ist durchaus bewusst gewählt. Ich halte es für sinnvoll, die Diskussion – zu einem gewissen Grade – vor dem Hintergrund der Annahme zu analysieren, dass mit dem hier exemplarisch vorgestellten Unterrichtsbeispiel der Religionsunterricht in dieser spezifischen Gruppe gleichsam zu einer ›Diskursarena‹ wird. Die an der Diskussion beteiligten Schüler und Schülerinnen

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experimentieren offensichtlich mit Argumenten und probieren ihre Stichhaltigkeit und Wirkung der vertretenen Positionen auf andere aus. Wenn sich ein Argument als nicht überzeugend erweist, wird es auch verworfen oder umgekehrt. Im Rahmen einer Diskussion können einzelne Schüler/innen auch sich widersprechende Positionen einnehmen. Zudem fällt auf, dass die Trennlinien zwischen den einzelnen Positionen nicht denen zwischen den religiösen Gruppen entsprechen: Die Vorstellung eines strafenden Gottes wird nicht allein von muslimischen Schüler/innen vertreten. Die Annahme von quasi ›frei schwebenden‹ Argumenten in der Diskursarena bedeutet allerdings keineswegs, dass jedes Argument von jeder beteiligten Person ins Feld geführt werden kann. Im Rahmen unserer langfristigen Beobachtungen haben sich vielmehr individuelle religiöse Profile abgezeichnet, die das Argumentationsschema der Schüler und Schülerinnen beeinflussen. Theologische Topoi wie ›Der Tod ist keine Strafe‹ sind auch in vorangegangenen Unterrichtsstunden aufgetaucht. Dieser Topos wird besonders von muslimischen Schüler/innen eingebracht, die das Leben als Übergangsphase begreifen, in der der Mensch Prüfungen Gottes ausgesetzt ist. So wird die jetzige Existenz als eine Vorbereitungszeit verstanden, eine Art praktischer Prüfung, bevor die Gläubigen am Jüngsten Tag vor Gott Rechenschaft ablegen müssen. Ihr Streben und Hoffen ist vollständig darauf ausgerichtet, vor diesem Tribunal zu bestehen und ins Paradies zu gelangen. Vor einem solchen Hintergrund können Schicksalsschläge als göttliche Entscheidungen interpretiert werden, ohne dass dies Gottes Allmacht oder Gnade in Frage stellt. Die Annahme, dass die Schüler und Schülerinnen mit Argumenten experimentieren, ist dennoch statthaft, da sie offensichtlich sowohl deren Stichhaltigkeit als auch deren Akzeptanz in der Gruppe austesten – dies im Wissen, dass sie auf sehr unterschiedliche Reaktionen treffen werden. Im Verlauf des Schuljahrs ist es dem Lehrer gelungen, eine kommunikative Atmosphäre zu schaffen, die von Vertrauen bestimmt ist und die ermöglicht, dass Schüler/innen sich öffnen und ihre individuellen Positionen und Meinungen freimütig präsentieren können. Diese Atmosphäre gibt ihnen die Gewissheit und das Selbstvertrauen, auch riskante und möglicherweise nicht völlig durchdachte Argumente gleichsam auf Probe äußern zu können. Die mit den Schülern und Schülerinnen vereinbarte Regel besteht darin, dass jeder Beitrag zunächst ernst genommen und in den Austausch eingebunden wird. Erdems ironischer Kommentar auf Imens Argument (›Herzlos, raus!‹) spielt auf diese unausgesprochene Regel an und bestätigt sie zugleich. Der Religionsunterricht in derart interaktiver Form kann zu Recht als eine Werkstatt für die Einübung theologischer Argumentation bezeichnet werden. Daher sollten wir, statt bestimmten Schülern und Schülerinnen feste argumentative Positionen zuzuschreiben, derartige Diskussionen auch als

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ein theologisches Experimentierfeld verstehen, auf dem die Jugendlichen ihre Reflektionen sanktionsfrei und ohne Angst ausprobieren und andere zur einer Stellungnahme herausfordern können. Für diese Art von experimentellem Denken und Diskurs muss im Religionsunterricht Raum sein; die Aufgabe religionspädagogischen Handelns besteht dann u.a. darin, Bedingungen für einen diskursiven Rahmen zu schaffen, in dem die unterschiedlichsten Perspektiven und Argumentationen vertreten sind. Aus der Evaluation des Unterrichts wissen wir, dass die Schüler/innen einen Rahmen, der ihnen diese Freiheit gibt, begrüßen. Sie sind sich auch der Faktoren bewusst, die die Grundlage für einen derart produktiven Dialog bilden. In einer Sitzung, in der die Unterrichtseinheit wieder ins Gedächtnis gerufen und besprochen wurde, formulierten die Schüler und Schülerinnen klare Bedingungen für einen Dialog im Klassenzimmer. Eine der Bedingungen, die sie als notwendig ansahen, war eine positive Einstellung der einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmer: ›Wir haben einander zugehört‹; ›wir waren toleranter gegenüber einander als in anderen Stunden‹. Sie waren sich jedoch auch der pädagogischen Voraussetzungen deutlich bewusst. So werden erwähnt:   

die offene Fragestellung; die Tatsache, dass der Lehrer sie nicht unterbricht, die Ergebnisoffenheit ohne Vorgabe einer ›richtigen‹ oder ›falschen‹ Lösung.

Ein Mädchen – Nalan – brachte diese Auffassung in einem individuellen Interview auf den Punkt. Sie fasste hier für die Gruppe zusammen, was am Verhalten ihres Lehrers besonders und bedeutsam ist: »Der Lehrer hat es immer so gemacht: wenn wir angefangen haben, uns mit einem Problem zu beschäftigen, mussten wir immer alleine einen Weg herausfinden. Der Lehrer hat nicht gesagt, was richtig oder was falsch ist. Er gibt uns die Gelegenheit, eine eigene Lösung zu finden. Später sagt er dann: das ist meine Meinung; oder er kommentiert nur und sagt: Niemand kann es mit Bestimmtheit wissen.«

Ich habe diese Unterrichtsstunde als ein Beispiel für einen dialogbasierten Incident ausgewählt. In der Analyse ist die besondere Rolle klar geworden, die ein pädagogischer Hintergrund spielt, in dem Schüler und Schülerinnen unterschiedlichster Herkunft ohne Hindernisse in ein Gespräch eintreten können, durch das ein vielfältiger und differenzierter Diskurshorizont eröffnet wird. Diese dialogorientierte Anlage des Unterrichts gibt den Schülern und Schülerinnen die Gelegenheit, Perspektiven auszuloten und zu wechseln, Positionen (neu) zu bestätigen, zu kritisieren oder abzulehnen, sie

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Thorsten Knauth

für bestimmte Zeit einzunehmen und sich auch zwischen ihnen zu verorten. Dies ist ein anspruchsvolles Programm, das auch das ›Risiko‹ von Konflikten in sich birgt und insgesamt kompetente, dialogische Moderation zwischen unterschiedlichen Positionen erfordert. Einen solchen Hintergrund herzustellen und aufrechtzuerhalten stellt klare und nicht geringe Anforderungen an den pädagogischen Kontext und die Moderationskompetenz der Lehrperson. Die Stunde zeigt jedoch auch, über welche Möglichkeiten ein dialogischer Religionsunterricht verfügen kann, wenn Lehrer/innen sich in geduldiger und beständiger pädagogischer Arbeit engagieren, um gegenseitiges Verständnis und Vertrauen zu schaffen, das für die Entwicklung von Dialogkompetenzen und die Vermittlung theologischen Wissens eine wichtige Voraussetzung ist. Der hier wiedergegebene Dialog reflektiert allerdings nicht die gesamte Situation im Hamburger Religionsunterricht. Unsere Forschungen in anderen Schulen in Hamburg zeigen uns, dass die Beziehung zwischen Dialog und Konflikt kontextabhängig sehr vielfältig ausgeprägt sein kann. Die Rahmenbedingungen müssen daher in jeder Untersuchung dieses komplexen Verhältnisses besonders beachtet werden. Das hier analysierte Beispiel einer Unterrichtsinteraktion zeigt die Möglichkeiten eines Dialogs zwischen engagierten und interessierten Schüler/innen in einer religiös gemischten Gruppe mit einem Anteil überzeugter nichtreligiöser Klassenkameraden. Unter diesen Bedingungen kann der Austausch persönlicher Erfahrungen mit (oder Meinungen über) und das Interesse an anderen Religionen den Dialog stützen. Ethische und theologische Themen können auf die unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Hintergründe bezogen werden. Das Interesse seitens der Schüler/innen, diese Hintergründe wechselseitig zu kommunizieren, ist hoch. Sie favorisieren meistens einen andauernden und nachhaltigen Dialog im Religionsunterricht. Nichtsdestotrotz können unausgesprochene Grenzen z.B. zwischen christlichen und muslimischen Schüler/innen weiterhin bestehen bleiben. Dies kann im Schulalltag außerhalb des Religionsunterrichts beobachtet werden. Die Schüler/innen begegnen und unterhalten sich weitgehend nur im Religionsunterricht. Außerhalb des Unterrichts finden sich nur selten religiös heterogene Gruppen. Eine ähnliche Trennlinie verläuft auch zwischen stark religiösen muslimischen Schülern und Schülerinnen und ihren weniger religiösen Glaubensgenossen, die die normativen Ansprüche ihrer eigenen Religion zwar nicht ablehnen, ihr Verhalten aber an den Regeln der Jugendkultur ausrichten.20 ————— 20

Siehe TH. KNAUTH, ›Better together than apart‹, 207–247.

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›Dialog an der Basis‹

287

Schließlich ist auch auf ein anderes kontextuelles Setting hinzuweisen: wir haben ebenfalls an Schulen in einem multikulturellen, aber säkularen Kontext geforscht, in dem die Schüler und Schülerinnen der Religion vergleichsweise distanziert gegenüberstehen. In einer derartigen Konstellation beginnt der Dialog aus der interessierten Außenperspektive als ein Gespräch über Religion(en). Die Schüler/innen nehmen in sehr offener Art teil, sie haben ein gemeinsames Interesse an unterschiedlichen Religionen, besonders wenn die Fragestellungen mit ethischen oder aktuellen politischen Fragen verbunden sind. Die Art, wie sie über Religion sprechen, ist von Kritik geleitet; diese Schülerinnen und Schüler sind sich deutlich der Verbindung zwischen Religion und Macht und der ambivalenten Rolle bewusst, die sie in gesellschaftlichen Konflikten spielt. Abgesehen von diesen kontextuellen Settings konnten wir jedoch weitere Muster identifizieren, die das Verhältnis zwischen Dialog und Konflikt mitbestimmen: Ein typisches Muster scheint zu sein, als konfliktträchtig empfundene Themen unangesprochen zu lassen. Diese Tendenz zur Konfliktvermeidung ist auf ein ausgeprägtes Harmoniebedürfnis in der Lerngruppe zurückzuführen. Die Schüler und Schülerinnen sind sich bestehender Differenzen durchaus bewusst und haben hierzu oft auch ihre sehr stereotype Meinung, aber sie trauen sich meist nicht, die Konfrontation zu riskieren, die droht, wenn sie diese Themen im Unterricht ansprechen. Solche verborgenen Konflikte sind oft auch eng mit Machtstrukturen in der Schule verwoben. Sie werden meist weniger von der Religion als von den kommunikativen Kompetenzen, dem Selbstbewusstsein und dem Grad von Ansehen und Akzeptanz in der Gruppe bestimmt. Auch die Beziehung zwischen Mehrheit und Minderheiten kann in dieser komplexen Gemengelage eine Rolle spielen. Unter diesen Bedingungen besteht die Gefahr, dass der Dialog zu einem Machtmittel umfunktioniert wird, das es kommunikativen und beliebten Schülern und Schülerinnen erlaubt, die Interaktion zu dominieren und andere, die sich unter diesen Bedingungen nicht gleichermaßen offen ausdrücken können oder wollen, zu marginalisieren. Abschließend kann also gesagt werden, dass ein Dialog, der den dialogischen Umgang mit Konflikten einschließt, bestimmte Bedingungen erfüllen muss. Er ist auf eine kommunikative, offene und freie Atmosphäre in der Klasse angewiesen, erfordert bestimmte pädagogische Fähigkeiten des Lehrers und – last but not least – ein Vertrauen, das nicht vorgeschrieben, sondern nur in geduldiger Einübung dialogischer Praxis erarbeitet werden kann.

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Hinweise zu den Autoren Hinweise zu den Autoren Hinweise zu den Autoren PROF. DR. FRANCESCA YARDENIT ALBERTINI ist Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Potsdam. PROF. DR. STEFAN ALKIER ist Professor für Neues Testament und Geschichte der Alten Kirche an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. PD DR. KNUT BERNER ist Studienleiter des Evangelischen Studienwerks e.V. Villigst. PROF. DR. DR. H.C. INGOLF U. DALFERTH ist Ordnarius für Systematische Theologie, Symbolik und Religionsphilosophie, Direktor des Instituts für Hermeneutik und Religionsphilosophie an der Universität Zürich sowie Danforth Professor of Philosophy of Religion an der Claremont Graduate University, Kalifornien. PROF. DR. MATTHIAS JUNG ist Fellow der Kolleg-Forschergruppe an der Universität Erfurt. PROF. DR. THORSTEN KNAUTH ist Professor für Evangelische Theologie/Religionspädagogik im Fachbereich Geisteswissenschaften der Universität Duisburg-Essen. PD DR. GESCHE LINDE ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt a.M. PROF. DR. ÖMER OEZSOY ist Stiftungsprofessor für Islamische Religion und Direktor des Instituts für Studien der Kultur und Religion des Islam am Fachbereich Sprach- und Kulturwissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. PROF. DR. HEIKO SCHULZ ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.

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290

Hinweise zu den Autoren

PROF. DR. STEFAN SELLMAIER ist Professor für Praktische Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. PROF. DR. DR. H.C. PETER STEINACKER ist Honorarprofessor für Systematische Theologie an der Philpps-Universität Marburg und war bis Ende 2008 Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. PROF. DR. CLAUDIA WELZ ist Associate Professor am Department of Systematic Theology der Universität Kopenhagen.

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Namensregister Namensregister Namensregister

Abraham 166, 169, 210,

Beyers Naudé, Christiaan

Danz, Christian 210, 212

213

F. 237

Davidson, Donald 34

Abnj Bakr 173

Billerbeck, Paul 72

Dawkins,

Albeck, Chanoch 71

Blamey, Kathleen 140

189–191, 193–202, 208

Albertini, Francesca Y. 26,

Bloch, Ernst 136

Delitzsch, Franz 71

52, 166

Blumenberg, Hans 224

De Klerk, Frederik 234,

Albrecht, Renate 37, 224

Bochinger, Christoph 209

236

Alkier, Stefan 26, 37f., 52,

Bock, Petra 235

De Maizière, Lothar 243

179

Bonhoeffer, Dietrich 211,

Denzinger, Heinrich 78

Apel, Karl-Otto 110

248f., 251

Deonna, Julien A. 148

Arendt, Hannah 254

Boraine, Alex 240

Asmus, Sören 210, 225

Borgolte,

Assmann, Jan 82f., 102,

108

Dewey, John 113

106–111, 224f.

Boyer, Pascal 80

Dierken, Jörg 128, 134

Brändle, Werner 128

Donald, Merlin 101–103,

Baeck, Leo 78

Brandom, Robert 50, 60

108

Bajohr, Frank 144

Brinker, Klaus 275

Dronsch, Christina 38

Bammel, Christina-Maria

Breitling, Andris 140

Durkheim, Émile 47, 79

148

Breuer, Stefan 102

Barth, Hans-Martin 212,

Buber, Martin 259

217–223, 225f.

Buchanan, Emerson 151

Eisenstadt, Shmuel 101f.

Barth, Karl 211, 222

Bultmann,

Enderwitz, Ulrich 80

Barth, Roderich 127

211f.

Barth, Ulrich 129

Butler, Judith 164

Michael

Rudolf

Richard

10,

Deuser, Hermann 37f., 42, 106,

44, 176

Ebeling, Gerhard 216 187,

Bayer, Oswald 225–228,

Feldman, Karen S. 140f., 147, 162

230

Cassirer, Ernst 104

Fischer, Peter 130

Beidelman, Thomas 68

Chrysostomos 171

Forst, Rainer 115, 231

Bellah, Robert 101, 103

Cicero 139

Franciscus Assisiensis 78

Ben Azzai 72

Clairmont, Heinrich 146

Friedrich, Johannes 209

Berner, Knut 24, 124

Claussen, Johann H. 224

Bernhardt, Reinhold 212,

Gauck, Joachim 244, 251

221

Dalai Lama 12, 214

Gogarten, Friedrich 211

Berger, Peter L. 209, 254

Dalferth, Ingolf U. 13,

Gogolin, Ingrid 269

Beuchling, Olaf 259

37f., 41, 44, 125, 129f.,

Gräb, Wilhelm 209, 211

133, 139, 159, 208, 228

Graf, Friedrich W. 211

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292

Namensregister

Grau, Engelbert 78

James, William 115

Kritz, Neil J. 234–236

Großhans, Hans-Peter 125

Jaspers, Karl 101, 244

Krötke, Wolf 222

Großmann, Klaus 258

Joas, Hans 101, 103, 105

Küng, Hans 217

Grøn, Arne 139, 159, 161

Joest, Wilfried 141

Kwiet, Konrad 144

Grünschloß, Andreas 131

Jörns, Klaus-Peter 209

Gutmann,

Hans-Martin

Jung, Matthias 21, 103,

Latzel, Thorsten 209

118

105

Lévinas, Emmanuel 78f.,

Guttenplan, Samuel 34

Jüngel, Eberhard 39, 120

126, 259

Gutwald, Cathrin 118

Leys, Ruth 148 Kafka, Franz 119

Liebsch, Burkhard 140

Kaiser, Otto 225

Link, Christian 211

124f.

Kandel, Johannes 119

Liszka, James J. 176f.

Hamber, Brandon 240

Kant, Immanuel 54, 59f.,

Lohmann, Ingrid 258

Hamburger,

62f., 76, 78, 95, 123, 125,

Luckmann, Thomas 117f.

68

127, 132, 140, 191, 231

Luther, Martin 44, 75–83,

Hardick, Lothar 78

Kelbley, Charles A. 154

120, 141, 143f., 172, 216,

Härle, Wilfried 212–216,

Kenny, Anthony J.P. 40,

226–230, 245, 251, 254,

221f., 225, 230, 252

193, 195

265

Hayner, Priscilla 244

Kierkegaard,

Hegel, Georg W.F. 137,

137, 151–153, 158–163,

Makrides, Vasilios N. 135

140, 146f., 161–163, 190

185, 202, 205

Mandela, Nelson 234, 236

Heidegger, Martin 122,

Kippenberg, Hans G. 105

Margulls,

140, 142, 164

Kistner, Wolfram 237, 248

259

Heitmann, Steffen 233

Klerk, Frederik de 234,

Marquard, Odo 224

Hempelmann,

236

Marxen, Klaus 237, 239,

119

Kloesel, Christian 176

241

Hermelink, Jan 209

Knauth, Thorsten 22, 257–

Matthäus, Jürgen 144

Herms, Eilert 127f., 206,

259, 261, 263, 265, 286

Mead,

210, 229f.

Knoblauch, Hubert 260f.

104, 110

Hirsch, Emanuel 43, 185

Knöbl,

Meckenstock, Günter 78

Homer 65–67

112f.

Melanchthon, Philipp 82

Hoping, Helmut 78

Koch, Klaus 71

Menge, Hermann 76, 82

Huber, Friedrich 210

Kocka, Jürgen 235

Meyer, Michael A. 78

Kodalle,

Meyer, Olaf 249

Habermas,

Huber,

Jürgen

115,

Margarethe

Reinhard

Wolfgang

209,

Søren

Wolfgang

43,

102,

Klaus-Michael

Hans

George

Jochen

Herbert

246–248, 251

129

Middleton, John 67–70

Hüffmeier, Wilhelm 211,

Köhler, Willi 209

Mill, John Stuart 224

222

Korsch, Dietrich 224, 226

Monroe, Kristen R. 157

Hummel, Gert 211

Körtner, Ulrich H.J. 210,

Moxter, Michael 104, 109,

Hünermann, Peter 78

212

209

Huntington, Samuel Ph.

Kreuter, Jens 250

Myers, Gerald E. 115

110, 235

Kreuzer, Siegfried 225

Muhammad

Hutchinson, Phil 148

Krewani, Wolfgang N. 79

172–174, 178, 230

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166,

170,

293

Namensregister Müller, Christine 259

Sachs, Albie 238

Spieckermann,

Müller-Fahrenholz, Geiko

Sager, Sven F. 275

225

251

Sandt, Fred-Ole 258f.

Stambaugh, Joan 142

Saramago, José 48

Stangl, Franz P. 144–146,

Hermann

Nassehi, Armin 208

Sartre, Jean-Paul 131

Nathan (Prophet) 152, 159

Saussure,

Neubert, Ehrhart 253

104

Steinacker, Peter 22, 131,

Neumann, Ursula 269

Schleiermacher, Friedrich

209, 228

Nietzsche, Friedrich 133

D. E. 77f., 81, 217

Steinbach, Peter 235

Schmidbauer,

Steinmeier, Anne M. 128

153f., 157

Ferdinand

de

Wolfgang

Steck, Otto H. 225

Ockinga, Boyo 71

119

Stoellger, Philipp 130, 139

Ohm, Karl 138

Schmidts, Ludwig 47

Stolz, Friedrich 225

Otto, Rudolf 21, 117–119

Schneiders, Thorsten G.

Stowasser, Josef M. 25

Özsoy, Ömer 22, 52, 165

118

Strack, Hermann 72

Schröder, Bernd 210

Strasser, Peter 89, 198

Palmer, Michael 211

Schröder,

Pape, Helmut 176

198, 202, 208

Tanner, Klaus 240f.

Paret, Rudi 73

Schulz, Heiko 10, 21f., 38,

Taylor, Charles 117

Paulus 171

188, 190, 197, 199, 202,

Taylor, Gabriele 147, 149,

Peirce, Charles 49, 52, 55–

204

156f.

57, 103, 106, 175–178

Schulze, Manfred 210, 225

Teltschik, Horst 243

Pellauer, David 155

Schwidetzky, Ilse 231

Ter Avest, Ina 261

Pesch, Otto H. 229

Schwöbel, Christoph 211,

Teroni, Fabrice 148

Platon 114, 139

227, 229

Theodor, Julius 71

Plessner, Helmuth 129f.

Seidler, Günter H. 148

Thomas, Dorothy S. 120

Proudfoot, Wayne 39

Sellmaier, Stephan 21, 85

Thomas, William I. 120

Seneca 139

Tillich, Paul 14, 34, 37f.,

Quaritsch, Helmut 247

Sereny,

Richard

Gitta

191,

144–146,

153f., 157, 164

44, 126–128, 211, 217, 224

Rahner, Karl 222

Shakespeare,

Ratschow, Carl H. 212f.,

137f., 143, 164

Tödt, Heinz E. 247

215f., 226–228, 230f.

Shaw, William H. 96

Tödt, Ilse 248

Reiner, Hans 139

Sievernich, Michael 250

Troeltsch, Ernst 211, 213,

Rendtorff, Trutz 216

Simon, Josef 125

230

Ricoeur, Paul 122–124,

Smit, Dirk 248

Tutu, Desmond 233

137, 140, 150f., 154–156,

Smith, Tara 148

Tworuschka, Udo 210

161–163

Snell, Bruno 66

Rieger, Martin 208

Snow, Nancy E. 148

Ritter, Joachim 135

Snyder, T. Richard 246

Rüpke, Jörg 111, 135

Sokrates 114

Volkart, Edmund H. 120

Rupé, Hans 65f.

Sophokles 139

von Rad, Gerhard 71

William

Tipton, Steven M. 103

’UthmƗn 173

Wagner, Falk 211

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294

Namensregister

Wagner, Siegfried 71

Welker, Michael 204, 212,

Wüstenberg, Ralf K. 22,

Waldenfels, Bernhard 14f.,

252

233, 244, 248, 253

125

Welz, Claudia 21, 77, 158

Waldmann, Peter 118f.

Werle, Gerhard 235–237,

Wassermann, Rudolf 242,

239, 241, 243

251

Wessels, Hans-Friedrich

Zayd ibn ThƗbit 173

Weber, Max 208, 211, 224

146

Zimmerli, Walther 71

Weber, Stefan 120

Williams, Clifford 148

Zumbroich, Walburga 71

Wegner, Gerhard 128

Witte, Markus 179

Zur Mühlen, Karl-Heinz

Weiher, Anton 67

Wittgenstein, Ludwig 97

228

Weingardt, Markus A. 135

Wohlleben, Ekkehard

Weiße, Wolfram 258f.

222f.

Weizsäcker, Richard von

Wolfrum, Edgar 235

233

Wollmann, Hellmut 234

Xenophon 139

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Research in Contemporary Religion (RCR) Herausgegeben von Trygve Wyller, Heinz Streib, Daria Pezzoli-Olgiati, Hans-Günter Heimbrock, Claire Wolfteich und Bryan P. Stone

Band 1: Christopher Scholtz / Hans-Günter Heimbrock (Hg.)

Band 3: Christopher P. Scholtz

Religion: Immediate Experience and the Mediacy of Research

Theologische Implikationen eines Lebens mit subjektsimulierenden Maschinen am Beispiel des Unterhaltungsroboters Aibo 2008. 471 Seiten mit 2 Graphiken und 6 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-60435-9

Interdisciplinary Studies in the Objectives, Concepts and Methodology of Empirical Research in Religion 2007. 283 Seiten mit 5 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-60434-2

Ein religiöses Erlebnis büßt bei seiner Beschreibung an Unmittelbarkeit ein. Subjektives Empfinden stößt auf analytische Distanz. Wie dieser Grundspannung zu begegnen ist, zeigt dieser Band.

Band 2: Trygve Wyller / Usha S. Nayar (Hg.)

The Given Child The Religions’ Contributions to Children’s Citizenship 2007. 199 Seiten mit 4 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-60436-6

Weltweit werden Kindern grundlegende Menschenrechte verwehrt. Die kulturelle und soziale Benachteiligung ist ein ethischer und politischer Skandal! Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass der Kampf um allgemeine Menschenrechte und die intensive Auseinandersetzung mit Religion oft miteinander verknüpft sind. Wyller, Nayar und ihr internationales Autorenteam fragen, wie diese Situation global verbessert werden kann.

Alltag mit künstlichen Wesen

Christopher P. Scholtz untersucht die theologische Bedeutung einer neuen Robottergattung der subjektsimulierenden Maschinen für unseren Alltag. Er fragt nach den langfristigen Konsequenzen, die sich aus der Interaktion mit den künstlichen Wesen für die Weltsicht ergeben – besonders für das Verständnis von Leben. Verändern sich durch den Umgang mit diesen Artefakten gar die Bedingungen der Subjektwerdung?

Band 4: Trygve Wyller (Hg.)

Heterotopic Citizen New Research on Religious Work for the Disadvantaged 2009. 235 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-60438-0

»Heterotopic Citizen« fragt, ob Religion zur Integration marginalisierter Gruppen beiträgt oder ob sie, über die Wiedereinführung von Disziplinarmaßnahmen, nicht sogar grundlegende, universelle Bürger- und Menschenrechte einschränkt.

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Research in Contemporary Religion (RCR) Herausgegeben von Trygve Wyller, Heinz Streib, Daria Pezzoli-Olgiati, Hans-Günter Heimbrock, Claire Wolfteich und Bryan P. Stone

Band 5: Heinz Streib / Ralph W. Hood / Barbara Keller / Rosina-Martha Csöff / Christopher F. Silver

Deconversion Qualitative and Quantitative Results from Cross-Cultural Research in Germany and the United States of America Mit einem Vorwort von James T. Richardson. 2009. 262 Seiten mit zahlreichen Tabellen und Grafiken, gebunden ISBN 978-3-525-60439-7

Nach einer Definition und Charakterisierung von Dekonversion stellt dieses Buch 21 Fallstudien sowie quantitative Ergebnisse von über 1000 Versuchspersonen vor, die an der Bielefelder kulturvergleichenden Studie über Dekonversion teilgenommen haben.

Band 9: Roland Löffler (Hg.) / Werner Ustorf

Robinson Crusoe tries again Missiology and European Constructions of “Self” and “Other” in a Global World 1789–2010 2010. 271 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-60444-1

Werner Ustorf, for nearly thirty years one of the leading missiologists does not only analyse the interaction of mission and individual, he also proves the analytic strength of theology in order to conceptualise the future of the Christian experience in Europe.

Band 7: Sigurd Bergmann

Raum und Geist Zur Erdung und Beheimatung der Religion – eine theologische Ästh/Ethik des Raumes Mit einem Geleitwort von Günter Altner. 2010. 248 Seiten mit 70 s/w- und 10 farb. Abb., gebunden ISBN 978-3-525-60443-4

Die ästhetische Gestaltung heiliger Orte verbindet sich auch immer untrennbar mit der ethischen Umgestaltung der Welt als Lebensraum der Geschöpfe. Obwohl der Raum und die Orte elementare Phänomene der menschlichen Orientierung sind, haben sich die Theologie und die Religionswissenschaft ihnen nur spärlich zugewandt. Sigurd Bermann verknüft Einsichten aus so verschiedenen Wissensbereichen wie der ökologischen und kontextuellen Theologie, der Religionsanthropologie, der Phänomenologie und ökologischen Naturästhetik sowie der Stadtplanung und Kunst- und Geistesgeschichte schöpferisch miteinander.

Band 6: Espen Dahl

In Between The Holy Beyond Modern Dichotomies 2011. ca. 180 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-60441-0

Through a critical dialogue with the most influential contributions from recent times, Espen Dahl argues that the holy must be regarded as an ambiguous interstice and a weak phenomenon.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525604403 — ISBN E-Book: 9783647604404