Der soziale Konflikt: Kommunikative Emergenz und systemische Reproduktion 9783110512069, 9783828202474

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Der soziale Konflikt: Kommunikative Emergenz und systemische Reproduktion
 9783110512069, 9783828202474

Table of contents :
Inhalt
I. Fragen an die Konflikttheorie
Einleitung
1. Entwicklungslinien der Konflikttheorie
2. Konflikt als System
3. Zur Neubestinunung der Konflikttheorie
II. Vier Formen des Konflikts
4. Konfliktepisoden
5. Sachkonflikte
6. Beziehungskonflikte
7. Machtkonflikte
III. Theorie sozialer Konflikte
8. Theorie sozialer Konflikte
Appendix
Literaturverzeichnis

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Heinz Messmer Der soziale Konflikt

Qualitative Soziologie * Band 5 Herausgegeben von Klaus Amann Jörg R. Bergmann Stefan Hirschauer

Die Reihe 'Qualitative Soziologie' präsentiert ausgewählte Beiträge aus der qualitativen Sozialforschung, die methodisch anspruchsvolle Untersuchungen mit einem dezidierten Interesse an der Weiterentwicklung soziologischer Theorie verbinden. Ihr Spektrum umfasst ethnographische Feldstudien wie Analysen mündlicher und schriftlicher Kommunikation, Arbeiten zur historischen Sozialforschung wie zur Visuellen Soziologie. Die Reihe versammelt ohne Beschränkung auf bestimmte Gegenstände originelle Beiträge zur Wissenssoziologie, zur Interaktions- und Organisationsanalyse, zur Sprach- und Kultursoziologie wie zur Methodologie qualitativer Sozialforschung und sie ist offen fiür Arbeiten aus den angrenzenden Kulturwissenschaften. Sie bietet ein Forum für Publikationen, in denen sich weltoffenes Forschen, methodologisches Reflektieren und analytisches Arbeiten wechselseitig verschränken. Nicht zuletzt soll die Reihe 'Qualitative Soziologie' den Sinn dafür schärfen, wie die Soziologie selbst an sozialer Praxis teilhat.

Der soziale Konflikt

Kommunikative Emergenz und systemische Reproduktion

von Heinz Messmer

Lucius & Lucius · Stuttgart

Anschrift des Autors: Dr. Heinz Messmer Universität Bielefeld Fak. für Pädagogik Postfach 10 01 31 33501 Bielefeld

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

ISBN 3-8282-0247-0 © Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart 2003 Gerokstr. 51, D-70184 Stuttgart www.luciusverlag. com

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung, Verarbeitung und Übermittlung in elektronischen Systemen.

Druck und Einband: Ebner & Spiegel GmbH, Ulm-Böfingen Printed in Germany

INHALT Fragen an die Konflikttheorie Einleitung Entwicklungslinien der Konflikttheorie Gesellschaft als Konflikt (11) Konflikte in der Gesellschaft (15) Konflikt als soziologisches Paradigma (21) Konfliktsoziologische Bifurkaüonen (28) Zusammenfassung und Ausblick (42) Konflikt als System System und Umwelt (48) Kommunikation und Handlung (52) Struktur und Selbstreferenz (57) Doppelte Kontingenz (66) Sprache und Widerspruch (70) Die systemtheoretische Analyse sozialer Konflikte (73) Zur Neubestinunung der Konflikttheorie Konflikt als System (83) Konflikt als Prozess (87) Ein Prozessmodell sozialer Konflikte (91) Einheit und Sequenz in der Konfliktkommunikation (95) Konversationsanalyse als Methode (99)

Vier Formen des Konflikts

Konfliktepisoden Affirmativer Sinn (110) Präferenz für Zustimmung (114) Missverständlicher Sinn (119) Strukturen der Ausdifferenzierung des Konflikts (124) Konfliktepisode als kommunikativer Prozess (129) Auflösung ubiquitärer Konfliktepisoden (137) Konflikt als Elementarereignis der Interaktion (141) Sachkonflikte Widerspruchskommunikation und Themenstruktur (149) Achtungskommunikation (151) Themenbezug (155) Prozesse der Konfliktintensivierung (158) Rather contra Busch - eine Fallanalyse (164) Themenbezogene Konfliktintensivierung (168) Redezugbezogene Konfliktintensivierung (171) Personenbezogene Konfliktintensivierung (176) Sachkonflikte: Eine Zusammenfassung (180)

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Beziehungskonflikte

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Strukturkomponenten in der Anschuldigungskommunikation (187) Anschuldigung und Widerspruchskommunikation (189) Prozesse der Konfliktintensivierung (195) Anschuldigungsbezogene Reaktionen (201) Defensive Reaktionen (202) Offensive Reaktionen (206) Von der Konfliktbeziehung zum Beziehungskonflikt (209) Interpunktion (212) Komplementäre Schismogenese (216) Beziehungskonflikte: Eine Zusammenfassung (221) Machtkonflikte

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225

Feindselige Konfliktkommunikation (226) Feindbilder (233) Drohkommunikation und symmetrische Schismogenese (238) Prozesse der Konflikteskalation (249) Von der Krise zum Krieg - eine Fallanalyse (252) Physische und kommunikative Gewalt (266) Machtkonflikte: Eine Zusammenfassung (272)

III.

Theorie sozialer Konflikte

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Theorie sozialer Konflikte

275

Konflikt als kommunikative Emergenz sozialer Systeme (275) Vier Formen des Konflikts (279) Konfliktepisode (281) Sachkonflikt (282) Beziehungskonflikt (285) Machtkonflikt (287) Grenzbildungsprinzipien im Konfliktprozess (289) Prozesse und Strukturen (292) Code und Funktionen (299) System und Umwelt (307)

Appendix

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Literaturverzeichnis

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Es wäre eine zu starke Vereinfachung - und sogar falsch -, zu sagen, daß die Wissenschaft durch die Konstruktion und empirische Überprüfung immer neuer Arbeitshypothesen notwendig fortschreitet. Es kann einige Physiker und Chemiker geben, die tatsächlich in dieser orthodoxen Weise vorgehen, aber unter den Sozialwissenschaftlern findet sich vielleicht kein einziger. Unsere Begriffe sind lose definiert ein Nebel von Helldunkel deutet schärfere Linien an, die noch nicht gezogen sind -, und unsere Hypothesen sind noch so vage, daß wir uns kaum ein entscheidendes Beispiel ausmalen können, dessen Untersuchung sie überprüfen wird. Gregory Bateson

EINLEITUNG Der soziale Konflikt ist universell und ubiquitär. Jeder Mensch sieht sich vom Anfang bis zum Ende seines Lebens ständig und überall mit Konflikten konfrontiert, die ihn in seinem Alltag mehr oder weniger nachhaltig prägen. Viele, wenn nicht gar die meisten aller Konfliktsituationen kommen - falls überhaupt nur als vorübergehende Bagatellen in den Blick, die ebenso rasch wie sie aufgetaucht sind, auch spurlos und unerinnert wieder vergehen. Andere dagegen üben auf das Leben des Einzelnen und seine soziale Beziehungen bleibende Einflüsse aus; wie ein roter Faden durchziehen sie seine Geschichte und Biographie. Was für Individuen bzw. deren Einzelschicksale gilt, trifft in ähnlicher Weise auch auf andere soziale Entitäten zu, wie etwa auf Gruppen, Verbände, Organisationen, Institutionen oder Staaten. Der tägliche Blick in die Nachrichtenpresse setzt uns hiervon umfassend in Kenntnis. Fast alle Tagesereignisse mit Nachrichtenwert wurzeln explizit oder implizit in einem Konflikt oder sind mit Konflikten verbunden. Sie sind entweder das unmittelbare Ergebnis eines Konflikts, machen die Aktualität von Konfliktlagen sichtbar oder deuten auf zukünftige, noch zu erwartende Konfliktlagen hin. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir auf der einen Seite den Konflikt als einen gesellschaftlich alles durchdringenden Sachverhalt in unser alltägliches Erleben integrieren, macht uns auf der anderen Seite für das Phänomen als solches nahezu blind. Auf Grund ihrer Allgegenwart und Permanenz erscheinen uns Konflikte im wahrsten Sinne des Wortes .gewöhnlich'. Darin liegt bereits ein Teil der Problematik begründet, mit der wir uns im Verlauf dieser Untersuchung näher befassen.

2 In der alltäglichen Wahrnehmung haben Konflikte den Status eines Axioms, vergleichbar einer sozialen Erfahrung, die nicht eigens bewiesen zu werden braucht, um zu wissen, ob sie vorliegt oder nicht. Man spürt die Spannung und den Ärger, macht seinen Gefühlen Luft, sagt sich mitunter verletzende Worte oder geht sich eine zeiüang aus dem Weg. Um auf Konflikte reagieren zu können, ist kein spezielles Wissen vonnöten. Diese unhinterfragte Selbstverständlichkeit hat in anderer Weise auch in der Wissenschaft ihren Ort. Auf der Ebene eines szientistisch grundlegenden Konfliktverständnisses reicht es meist vollständig aus, Konflikte als einen Widerspruch, als Unvereinbarkeit oder als Gegensatz zu bezeichnen. Die Bedeutung des Begriffs scheint hinreichend klar, um sich dann den besonderen Kontexten zuzuwenden, in denen sich die Unvereinbarkeit spezifisch konstituiert. Hier wie dort bleiben Konflikte als Black Box dem reflexiven Zugriff verschlossen und werden stattdessen mit den spezifischen Kontexten ihres Erscheinens assoziiert. Dies hängt unter anderem auch damit zusammen, dass grundsätzlich jeder beliebige Sachverhalt als Konfliktanlas s taugt. Angesichts der Fülle potenziell möglicher Konfliktsachverhalte sind ihre Gemeinsamkeiten nicht ohne Weiteres zu erschließen. Auf den ersten Blick hat der Streit zweier Liebenden mit gewerkschaftlichen Tarifauseinandersetzungen zunächst nur wenig gemein; und wenn zwei Kinder sich um ein Spielzeug streiten, so ist dies mit dem Kriegszustand zweier Großmächte offenbar nicht zu vergleichen. Hier wie dort liegt es nahe, sich an zwei unterschiedlichen Referenzen zu orientieren und die analytischen Bezugsgesichtspunkte (etwa Beziehungen, Interessenverbände, Kinder und Kriege) entsprechend auseinander zu halten. Durch diese Orientierung am ,Zähler' entsteht im Gegenzug allerdings das Problem einer theoretisch bzw. begrifflich kaum mehr zu integrierenden Kontextvariabilität: Wenn jeder soziale Sachverhalt auch in Konfliktform aufscheinen kann, tendiert die Anzahl möglicher Kontexte, und damit verbunden die Menge an Einflussvariablen auf den Konfliktverlauf in Richtung unendlich. Aber was genau unterscheidet den Beziehungskonflikt vom Konflikt zwischen Interessenverbänden, bzw. den Streit zwischen Kindern vom Konflikt zwischen Nationen? Sind ,kleine' Konflikte ihrem Wesen nach tatsächlich anders als ,große'? Und wenn ja, wodurch unterscheiden sie sich? Durch ihre zeitliche Dauer? Durch die Wertigkeit der ihnen zugrunde liegenden Interessen? Durch die Intensität sozialer oder gesellschaftlicher Folgen? Oft gewinnt man bei der Lek-türe entsprechender Analysen den Eindruck, dass eine Konflikttheorie mehr das Feld seiner Erscheinung als den Konflikt als solchen erklärt. Dabei sind es vor allem die Ursachen und Wirkungen eines Konflikts, welche die analytische Aufmerksamkeit herkömmlicher Konflikttheorien auf sich ziehen. Sachverhalte also, die

3 aus spezifischen Kontexten resultieren. Weniger Aufmerksamkeit hingegen wird derjenigen Größe zuteil, die zwischen Input und Output von Konfliktphänomenen vermittelt und dabei (spezifische) Ursachen in (spezifische) Wirkungen transformiert. Die vorliegende Untersuchung sieht darin eine Problem und nimmt diesen Problemzusammenhang zum Ausgangspunkt ihres Denkens. Eine allgemeine Konflikttheorie, so wird hier behauptet, lässt sich nicht ausgehend von Ursachen bzw. Ereigniskontexten entfalten, sondern muss sich gerade umgekehrt ihnen gegenüber scharf abgrenzen und profilieren. Entsprechend werden die nachfolgenden Analysen von der These getragen, dass die Ursachen und Kontextbedingungen sozialer Konflikte mit dem Konflikt selbst nicht identisch sind, sondern auf logisch unterschiedlichen Ebenen angesiedelt werden müssen. Im Fahrwasser dieser Distinktion wollen wir den Konflikt vornehmlich als eine eigenständige, von konkreten Seinsqualitäten unabhängige Einheit betrachten, die sich weder auf die Eigenschaften der beteiligten Parteien, noch allein auf deren Bedürfnisse und Absichten zurückführen lässt, sondern eigenen Gesetzmäßigkeiten unterliegt. Die Rede vom Konflikt als einem sozial eigenständigen Sachverhalt zielt zum einen auf die Frage seiner emergenten Konstitution, zum anderen auf die Möglichkeit seiner De-Ontologisierung. Eine Konsequenz dieser Sichtweise ist: Verzicht auf epistemologisch vorschnelle, insbesondere kausaltheoretische Reduktionen bei gleichzeitiger Abkopplung von den konkreten Bedingungen seiner Ontologie. Eine Konflikttheorie diesen Typs hätte demnach von allen konkreten Seinsqualitäten des Konflikts (Ursachen, Kontexte, Konfliktsacherhalte, Akteure, etc.) so weit wie möglich zu abstrahieren. Im Gegenzug stellt sich aber die Frage, was stattdessen an ihre Stelle treten soll bzw. welcher analytische Bezugsgesichtspunkt hinreichend abstrakt angelegt ist, um dafür einen angemessenen Beobachtungsmodus sicherstellen zu können. Wir schlagen an dieser Stelle den Formbegriff vor. Darunter verstehen wir die Möglichkeit des Unterscheidens von Innen und Außen, aber auch des Überschreitens von Innen nach Außen und umgekehrt. Der Begriff der Form bezeichnet hier einen differenztheoretisch gebauten Grenzbegriff, der Verweismöglichkeiten auf zwei Richtungen hin bündelt. Vor diesem Hintergrund verstehen wir den Konflikt als spezifische Typik einer sovjalen Form, dessen Innenhorizont als geordnete Einheit - also als Konflikt - beobachtet und dargestellt werden kann und der sich von einem - wie immer gearteten - jAußen' deutlich abhebt. Die Distinktion zwischen .Konflikt' und den Voraussetzungen seines Wirkens verändert die Sichtweise auf den Untersuchungsgegenstand mithin radikal. Sie koppelt die Konfliktentwicklung von einem konventionellen Kausaldenken ab und stimuliert zur Suche nach theoretisch andersgelagerten Erklärungsmodellen.

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Damit machen wir uns fur eine Sichtweise stark, die den Konflikt als eine eigenständige, identische und empirisch abgrenzbare Form sozial emergenter Prozesse betrachtet. Die Annahme .mannigfaltiger Konfliktwirklichkeiten' wird auf diese Weise von der Vorstellung eines im Kern gleichförmigen und eigenständigen Konstitutionsprinzips abgelöst. In der Eigenständigkeitshypothese ist insofern immer auch Gleichheit im Sinne einer formal geordneten und identischen Konfliktreproduktion mit enthalten. Mit dem Hinweis auf Geordnetheit, Gleichförmigkeit bzw. identischer Reproduktion schlagen wir zugleich einen formtheoretisch fundierten Paradigmenwechsel der Konflikttheorie vor, demzufolge das ^Vußen' nicht das ,Innen', sondern umgekehrt, das ,Innen' das ,Außen' bestimmt. Demnach reproduziert sich die als Form verstandene Innenwelt des Konflikts regelmäßig und homogen, wohingegen seine Außenwelt diese Form den jeweils besonderen Gegebenheiten gemäß variiert, das heißt Akzente setzen, Konfliktabläufe steuern bzw. bestimmte Entwicklungsrichtungen beschleunigen oder abbremsen kann. Dies allerdings immer nur unter den vom Konflikt selbst vorgegebenen Bedingungen seiner Reproduktion. Alltags sprachlich und zugleich etwas salopp formuliert: Nicht die Akteure machen den Konflikt, sondern dieser macht die Akteure. Mit diesen Überlegungen ist das Handlungsprogramm der vorliegenden Untersuchung in groben Zügen schon umschrieben. Beabsichtigt ist eine Rekonstruktion der Binnenorganisation des Konflikts unter dem Gesichtspunkt seiner Ausdifferenzierung, Weiterentwicklung und Stabilität. In kritischer Abgrenzung zu den eher konventionell gearbeiteten Konflikttheorien wird hier die Ansicht vertreten, dass der Konflikt einen eigenständigen bzw. emergenten Sachverhalt sozialer Wirklichkeit konstituiert, der als kohärente Einheit beobachtet und darüber hinaus empirischen Analysen zugänglich gemacht werden kann. Die vorliegende Untersuchung beansprucht beides zu leisten: Einerseits will sie eine theoretische Beobachterperspektive entwickeln, die das Gemeinsame genetischer Konfliktprinzipien sichtbar und analytisch greifbar macht; andererseits beansprucht sie empirische Evidenz und sieht in realen Konfliktprozessen ein wichtiges Prüfkriterium ihrer Thesen. Was aber - und vor allem: wie - kann beobachtet werden, wenn sich die Analyse durch die phänomenalen Gegebenheiten einer Konfliktsituation nicht verfuhren lassen, sondern die internen Strukturen einer Form aufzeigen will? Und inwiefern lässt sich der Anspruch theoretischer Allgemeingültigkeit empirisch plausibel zu begründen? Um dieses Problem in den Griff zu bekommen, greifen wir zu nicht unwesentlichen Teñen auf den Kategorienapparat der Theorie sozialer Systeme zurück, die uns in diesem Problemzusammenhang Skript und Rahmen für eine analytische Orientierung vermittelt. Analog zur Ausdifferenzierung sozialer Systeme wollen wir

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die Form- und Struktureigenschaften des Konflikts aus den Selektionsbedingungen der Kommunikation als den nicht mehr hintergehbaren Letzt-Elementen sozialer Interaktionen erklären. Alles, was als Konfliktwirklichkeit den Status einer empirischen Tatsache erhält, muss durch das Nadelöhr wechselseitig aufeinander bezugnehmender Kommunikation hindurchgeschleust werden. Nur so ist sichergestellt, dass ein anderer die Unvereinbarkeit wahrnehmen, sich darauf einlassen und entsprechend darauf reagieren kann. In diesem Sinne wird der Konflikt als ein kommunikatives Geschehen begründet, der auf der Basis von Kommunikationen entsteht, prozessiert und wieder verschwindet. Der theoretisch wie auch empirisch harte Kern dieser Vorstellung ist: Es gibt keinen Konflikt ohne Kommunikation. Die Vorstellung von Konflikt als System ist darüber hinaus auch noch in einer zweiten Hinsicht von zentraler Bedeutung. Ebenso wenig wie ein System kommt auch der Konflikt nicht als fertige Tatsache in die Welt. Konflikte sind niemals nur ,da', sondern sie werden gemacht. Anders als herkömmliche Konflikttheorien fragen wir in diesem Zusammenhang weniger nach dem ,Warum', sondern hauptsächlich nach dem ,Wie' ihrer Konstitution. Im Hinblick darauf ist der Konflikt an besondere Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen gebunden. Analog zu den differenztheoretischen Annahmen der Systemtheorie liegt die Vorstellung nahe, Entstehung und Verlauf des Konflikts als einen kommunikativen Process zu betrachten, also in seiner kommunikativen Entwicklung über die Zeit mit einem klar definierten Anfang und Ende. Dieser Auffassung gemäß ist der Konflikt also keine statische Größe noch bleibt er unverändert immer derselbe. Die These von der Wandelbarkeit des Konflikts setzt das Postulat seiner formalidentischen Reproduktion eo ipso nicht außer Kraft, vielmehr ergänzt sie es um die Zeitdimension ihrer Entwicklung. Aus diesen Gründen konzentriert sich die vorliegende Untersuchung nicht zuletzt auch auf die Frage nach der Wandelbarkeit und Dynamik von Prozessen der Konfliktkommunikation. Mit den folgenden Analysen nehmen wir den Konflikt also vornehmlich als einen emergenten Sachverhalt sozialer Wirklichkeit in den Blick. Dabei verstehen wir unter dem Begriff der Emergen£ den Ordnungsgewinn zweier sich beobachtender selbstreferenzieller Entitäten, die dadurch, dass sie einander wahrnehmen und kommunikativ auf ihre Wahrnehmungen reagieren, kontingentes Verhalten reduzieren. Im Zuge dieses Vorgehens, so nehmen wir weiterhin an, werden unter bestimmten Voraussetzungen konflikttypische Strukturmuster ausdifferenziert, die sich nicht (bzw. nur sehr bedingt) auf die individuellen Eigenschaften der daran beteiligten Entitäten zurückfuhren lassen. Sozial soll heißen, dass der emergente Ordnungsgewinn auf Kommunikationen beruht, durch die sich die Beteiligten wechselseitig aufeinander beziehen. Kommunikation ist der Prozess,

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der die Beziehung zwischen den Beteiligten formt und gestaltet. Durch die (kommunikative) Orientierung am anderen werden die wechselseitigen Reaktionsmöglichkeiten schrittweise konditioniert; man fangt an, sich gegenseitig Erwartungen zu unterstellen und an den Reaktionen des andern zu lernen. Die Interaktion erhält auf diese Weise ihre je eigene Geschichte und Identität. Schließlich wird mit Hinweis auf Wirklichkeit eine gewisse Nähe zu tatsächlichem Verhalten signalisiert, in dem Sinne etwa, dass spezifische Formen der Kommunikation sich untereinander nicht nur analytisch oder hypothetisch, sondern auch empirisch unterscheiden. .Wirklichkeit' meint, dass die Kommunikation eine spezifische Form der Orientierung erzeugt, die sich von den Beteiligten, aber auch von anderen beobachten lässt und die sich empirisch begründet. Die Universalisierungsansprüche, die hier und im Folgenden geltend gemacht werden, bauen wesentlich auf die Analyse empirischer Prozesse der Konfliktkommunikation. Unter methodologischen Gesichtspunkten wird damit der Standpunkt vertreten, dass die konventionell gängigen Kategorien bisheriger Konflikttheorien in Kommunikation aufgelöst werden müssen, damit der Prozess der Ausdifferenzierung in allen Dimensionen seiner Sinnhaftigkeit sichtbar gemacht werden kann. Dieser Auffassung folgend liegt das Hauptgewicht der Untersuchung auf einer detaillierten Analyse unterschiedlicher Formen der Konfliktkommunikation. Das methodische Vorgehen ist also vorwiegend empirisch induktiv. Damit wollen wir uns vom Ballast bisheriger Konfliktkategorien und ihren Aporien befreien und für anschlussfähige Einblicke in die Binnenstruktur des Konflikts öffnen. In diesem Zusammenhang werden wir schließlich die These vertreten, dass sich der Konflikt in Form einer linearen Progression aus differenziert. Die Vollständigkeit dieser Prozedur einmal vorausgesetzt ist damit soviel gesagt, dass der Konflikt eine gewisse Anzahl typischer Phasen durchläuft und sich gegebenenfalls von einem bloß flüchtigen, eher beiläufigen Ereignis zu einem umfassenden, das kommunikative Verhalten und die Absichten der beteiligten Parteien mehr oder minder vollständig absorbierenden Geschehen aus differenziert. Die vorliegende Untersuchung zerfallt in drei Teile. In einem ersten Teil (vgl. Kap. 1-3) wird die Problemstellung expliziert und begründet, die den nachfolgenden Untersuchungen ihre theoretische Richtung vermittelt. Wir beginnen mit einer Bestandsaufnahme bisheriger Konflikttheorien unter besonderer Berücksichtigung ihrer Einseitigkeiten und Schwächen (Kap. 1). Alternativ dazu schlagen wir einen systemtheoretischen Bezugsrahmen vor, der sich für die Rekonstruktion emergenter Konfliktprozesse unserer Einschätzung nach besonders gut eignet. Die von der Systemtheorie selbst vorgetragenen Überlegungen zum Konflikt greifen wir auf, kritisieren sie aber als ein teilweise unzulängliches und ihren eigenen Theorieansprüchen nicht genügendes Unterfangen (Kap. 2). Vor diesem

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Hintergrund werden schließlich auch die methodologischen Ansprüche an eine Theorie sozialer Konflikte expliziert. Was die Systemtheorie theoretisch beansprucht, empirisch und analytisch jedoch uneingelöst lässt, muss auf anderem Wege bewerkstelligt werden. Methodologisch greifen wir deshalb auf die Mittel der Konversationsanalyse zurück, die das konflikttheoretische Potenzial der Systemtheorie in hervorragender Weise auszuschöpfen gestattet (Kap. 3). Im ^weiten Teil der Untersuchung (vgl. Kap. 4-7) wird die Emergenz der Form des Konflikts empirisch rekonstruiert. Anhand möglichst einfach ausgewählter Beispiele wird empirisch zu zeigen versucht, wie sich auf Grund wechselseitig aufeinander bezugnehmender Kommunikationen schrittweise ein System ausdifferenziert, das durch eine Abfolge linear progressiver Entwicklungsphasen gekennzeichnet ist. Diese Abfolge lässt sich durch ein vierstufiges Prozessstufenmodell beschreiben, in dem jeweils ein anderes Ordnungsniveau den Strukturaufbau des Konflikts dominiert. Konfliktepisoden sind Bagatellereignisse der Konfliktkommunikation, die dadurch entstehen, dass die Ablehnung einen Sinnzumutung auf Widerstand trifft, die aber aus verschiedenen Gründen nicht kontinuieren (Kap. 4). Von Sachkonflikten dagegen sprechen wir immer dann, wenn sich die Widerspruchskommunikation erwartungsbezogen kontinuierlich ausbreitet und sich dabei über Themenbildung stabilisiert (Kap. 5). Beagehungskonflikte wiederum reproduzieren sich vornehmlich in der sprachlichen Form einer Schuld- bzw. Verantwortungsattribution und führen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erhöhten Ablehnungsintensitäten (Kap. 6). Machtkonflikte schließlich rekurrieren vornehmlich auf Zwang und Gewalt. Ihr modus operandi ist in die sprachliche Form einer Drohung gekleidet, die wiederum auf die Neutralisierung des Widerstandswillen des je anderen zielt. Auch diese Konfliktform wird ausführlichen Analysen unterzogen (Kap. 7). Im dritten Teil (vgl. Kap. 8) der vorliegenden Untersuchung kehren wir schließlich wieder zu unseren Theorieanliegen zurück. Nachdem wir den Konflikt über einen weiten Weg seiner Entwicklung empirisch begleitet und nachgezeichnet haben, wollen wir den analytischen Ertrag dieser Studien im Hinblick auf seine theoretische Konsistenz und Verallgemeinerbarkeit im Rahmen eines Prozessstufenmodells sozialer Konflikte überprüfen. In diesen Zusammenhang greifen wir auf die eingangs erörterten system theoretischen Hypothesen zurück und fragen erneut nach den Möglichkeiten seiner Rekonstruktion als System. Die starke Behauptung in diesem Zusammenhang lautet, dass ein jeder Konflikt, ungeachtet der Vielseitigkeit seiner phänomenalen Erscheinung, sich den Formansprüchen des hier vorgestellten Modells unterwirft. Dabei werden wir zeigen, inwiefern die Konfliktkommunikation auf jeder Entwicklungsstufe eine für die typische Struktur generiert, welche die jeweiligen Kommunikationen sinnhaft und konsi-

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stent miteinander verknüpft. Strukturen machen unvereinbare Standpunkte im Prozess des Konflikts auf verschiedenen Wegen untereinander kommensurabel. Sie vereinen die gegensätzlichen Standpunkte unter dem Gesichtspunkt ihrer Ausschließlichkeit. ,Nicht-Nachgeben' ist das übergeordnete Verhaltens äquivalent dieser Funktion. Es bezeichnet die eine Seite der Codierung des Konflikts als System und steuert die unterschiedlichen Phasen seiner Entwicklung. Vor diesem Hintergrund gibt sich schließlich ein Ausdifferenzierungsparadox zu erkennen. Es besagt, dass die Ausdifferenzierung des Konflikts zum System tendenziell die Bedingungen seiner Fortfiihrbarkeit destruiert. Mit diesbezüglichen Überlegungen zum System/ Umwelt-Verhältnis des Konflikts wollen wir unsere Betrachtungen schließen.

May I call attention again to what might be called Rapoport's First Law, that things called by the same name are not necessarily the same thing?

Kenneth E. Boulding

Kapitel 1 ENTWICKLUNGSLINIEN DER KONFLIKTTHEORIE

Sind begrifflich gleich bezeichnete Sachverhalte auf Grund ihrer gleichen Bezeichnung deswegen schon identisch? Mit diesen Worten in dem hier vorangestellten Motto ist auf sehr grundlegende Weise eine zentrale Schwachstelle der konflikttheoretischen Forschung berührt, die uns im Weiteren noch näher beschäftigen wird. Gemeint ist die Beziehung zwischen konkreten Erscheinungsformen eines Phänomens und abstrakten Bezugsgesichtspunkten seiner Analyse. Das Motto stammt aus einem Diskussionsbeitrag einer bereits länger zurückliegenden Tagung zum Thema Konflikt. 1 Dort hatten Kenneth E. Boulding und Anatol Rapoport, beide prominente Vertreter einer formalistischen Konflikttheorie, unter anderem auf die historische, kulturelle bzw. anthropologische Standpunktgebundenheit einer Beobachterperspektive hingewiesen: Ein Sachverhalt bedeute innerhalb verschiedener Kulturen, zu unterschiedlichen Zeiten und bei unterschiedlichen Populationen keineswegs immer dasselbe; von der Identität des Begriffs lasse sich nicht notwendigerweise auf die Kontinuität eines durch den Begriff bezeichneten Sachverhalts schließen. Im damaligen Tagungskontext waren die Hinweise eher spezifisch gemeint und mehr auf vordergründige Fragen als auf den Konflikt selber gemünzt. Rückblickend betrachtet charakterisiert ¡Rapoport's Erstes Geset%' jedoch einen Gutteil der Problemstellungen im ,Gesamtunternehmen Konflikttheorie', in dem - wie gleich noch näher zu sehen sein wird

Es handelt sich dabei um die Dokumentation einer interdisziplinären Tagung der CIBAFoundation mit einschlägigen Beiträgen zum Thema Konflikt in der Gesellschaft, vgl. Reuck/ Knight 1966; die zitierte Äußerung findet sich auf S. 170.

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- ein theoretisch unzureichend reflektierter Konfliktbegriff mit der damit in den Bück genommenen Konfliktwirklichkeit vielfach auf unzulässige Weise amalgamiert. Bezogen auf Konfliktsemantiken mahnt ,B¿ipoport's Erstes Gesetzu wesentlich mehr Misstrauen und Vorsicht, als dem Begriff bislang entgegengebracht worden ist. Rapoport selbst ist später zu der pessimistischen Auffassung gelangt, dass Konflikttheorien - sieht man von wenigen spezifisch eingrenzbaren Konfliktphänomenen einmal ab - keine nachprüfbaren Hypothesen generieren, und deswegen auch nicht falsifizierbar sind. Möglicherweise stehe der Terminus ,Konflikt' nur als Sammelbegriff für eine Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen von Phänomenen, an deren Oberfläche zwar Gleichartigkeiten nachweisbar sind, die jedoch aus ungleichartigen Ursachen resultieren (vgl. Rapoport 1974, S. 8 f.). Es ist deshalb auch kein Zufall, dass sich das Problem hinreichend präziser Begriffsbestimmungen in der Konflikttheorie immer wieder von Neuem stellt und die Fachdiskussion über die Jahre beschäftigt (vgl. Senghaas 1969; Bühl 1972; Wagner 1978, S. 13 ff., S.20; Bonacker 1996, S. 12 ff.). Die Beziehung von konkreter Erscheinung und theoretischer Generalisierung wird damit zum Thema einer Dauerreflexion: Worüber sprechen wir, wenn von Konflikten die Rede ist? Was genau ist damit gemeint? Wie sind Sachverhalt und Begriff aufeinander bezogen? Was im alltags sprachlichen Umgang als selbstverständlich und evident, als begrifflich ebenso geläufig wie unproblematisch erscheint, verführt häufig zu einer falschen Sicherheit in der Wahrnehmung, im Erleben und Denken. Dies gilt auch für die Konflikttheorie. Bei ihr besteht eine Tendenz, die amorphen, ambivalenten und enigmatischen Konflikteigenschaften sowohl auf einem begrifflich wie auch empirisch verkürzten Fundament analytisch zu fassen. Die Beharrlichkeit beispielsweise, mit der verschiedene konflikttheoretische Ansätze die Grenzen ihrer jeweiligen akademischen Disziplin respektieren, ist einerseits befremdlich, hat aber offensichtlich in eben dieser Problematik ihren tieferen Sinn. Entsprechend haben sich die einzelnen Sichtweisen auf den Konflikt fachspezifisch sehr verschieden aus differenziert. Teilweise spiegeln selbst die unter einem Paradigma versammelten Einzelanalysen ein unterschiedliches Konfliktverständnis wider. Im Rahmen eines theoriegeschichtlichen Überblicks wollen wir den Leser mit dieser Problematik einleitend näher konfrontieren. Zum einen wird gezeigt, dass sich die klassischen Ansätze der Konflikttheorie nicht selten auf ungelöste - und häufig auch implizit bleibende - Aporien ihrer Begrifflichkeit stützen; zum anderen soll aber auch deutlich werden, dass angesichts einer fortschreitenden De-Ontologisierung der Konflikttheorie diesbezüglich Auswege absehbar sind.

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Gesellschaft als Konflikt Alle wichtigen Sozialphilosophien und Gesellschaftsentwürfe an der Schwelle zur Neuzeit sind nachhaltig von ihrem Konfliktbewusstsein geprägt. Die bekannteste unter ihnen, zugleich auch diejenige, die am radikalsten auf ,Konflikt' rekurriert, ist das von Thomas Hobbes (1957 [1651]) beschriebene absolutistische Herrschaftsideal. Darin erscheint Gesellschaft (civitas) als ein Produkt von durch den Monarchen gezügelten Macht- und Durchsetzungsinteressen. Hobbes nahm an, dass Menschen in einem der Zivilgesellschaft entgegengesetzten Naturzustand gleiche Geistes- und Körpergaben vorausgesetzt - kontinuierlich um knappe Güter und Ressourcen konkurrieren. Der Mensch im Naturzustand liege in einem andauernden Wettstreit um Macht und Besitz. Die ständige Furcht, dass sich andere die Früchte der eigenen Arbeit aneignen könnten, lege es dem Einzelnen nahe, deren Absichten zuvorzukommen, um sie den eigenen Interessen zu unterwerfen. Entsprechend rücke die Selbstsicherung in den Mittelpunkt der menschlichen Existenz und begründe das Streben nach Macht. Im Naturzustand sei die Existenz des Menschen mit einem unkontrollierten Krieg Aller gegen Alle vergleichbar, sein Leben von einem erst mit dem Tod endenden Machtstreben erfüllt, das den unermüdlichen Einsatz von List und Gewalt notwendig mache. Verständlicherweise erwachse daraus ein starkes Verlangen nach einem sichereren und glücklicheren Leben, welches allerdings auch gewisse Einschränkungen in der persönlichen Willensfreiheit erfordert. Um Frieden und Sicherheit zu erreichen, bedürfe es daher einer souveränen Zentralinstanz, welche die allgemeinen Belange der Gemeinschaft kontrolliert und eine gewisse Voraussicht der eigenen Lebensplanung dadurch ermöglicht. Erst wenn man einen Teil seiner individuellen Stärke und Macht auf einen gewählten Souverän übertrage, seien die Voraussetzungen für dauerhaften Frieden und Wohlstand gegeben. Im Gegenzug verlange der Souverän vom Einzelnen allerdings uneingeschränkte Unterwerfung. In Hobbes" Kalkül erscheint der Triumph der Vernunft als eine gesellschaftliche Konflikdösungspraxis, die dem Einzelnen Verzichtdenken auferlegt. Ein Krieg Aller gegen Alle oder domestizierter Konflikt - das ist verküret gesprochen die Alternative, mit der Hobbes seine Zeitgenossen konfrontiert. Grundstein dieser Philosophie ist ein rigoroser Materialismus, der sich aus Annahmen über gewaltsame Konflikdösungspraktiken des Menschen im Naturzustand speist.2 Das

Auf die Realitätsnähe der Hobbesschen Begründung absoluter Herrschaft gehen wir an dieser Stelle nicht näher ein; vgl. dazu aber näher Macpherson 1962; Fetscher 1976; Hirschman 1977; Wrong 1984; schließlich auch die soziologisch wichtige Reformulierung des 'Hobbesian Problem of Order' durch Parsons 1949a [1937], S. 89 ff.

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Konfliktbewusstsein, wie es bei Hobbes, aber auch bei anderen vormodernen Staats- und Gesellschaftsphilosophen aufscheint, ist letztlich Ausdruck einer Sozialanthropologie, die sich primär auf Eigennutz und Individualinteressen gründet.3 Aus dieser Sicht scheint es nur konsequent, unter Einsatz aller legitim verfügbaren Mittel die je eigenen Interessen zu wahren. Permanente Kampf- und Konkurrenzverhältnisse sind die natürliche Folge. Sie fundieren das menschliche Dasein auf der Grundlage strukturell latenter Gewalt. Korrespondierend dazu hat Charles Darwin (1945 [1859]) eine allgemeine Theorie der Artenevolution formuliert. Ihr zufolge resultiert der artenspezifische Daseinskampf aus natürlich-biologischen Selektionserfordernissen, wie zum Beispiel den Raum-, Nahrungs- und Fortpflanzungsinteressen einer jeweiligen Population. Uber Selektion werde die Auswahl und Weiterentwicklung starker, weil umweltangepasster Populationen nachhaltig begünstigt und über die Zeit stabilisiert. Damit hatte Darwin eine Theorie konzipiert, die den menschlichen Eigennutz als Naturgesetz legitimiert. Zumindest den Zeitgenossen Darwins war die These eines habituellen Uberlebenskampfes angesichts der sich damals schon deutlich abzeichnenden kapitalistischen Expansionsbestrebungen unmittelbar evident. Zudem war sie mühelos auf die Ordnungsbedingungen damaliger Gesellschaften übertragbar.4 Vor allem schließlich erklärte sie die Bereitschaft zur permanenten zwischenmenschlichen Aggression, deren vornehmstes Anwendungsgebiet der Krieg ist.5 Lange vor Hobbes und Darwin hatte bereits Niccolò Machiavelli auf die Beziehung zwischen Selbstbehauptung und Machtausübung reflektiert. Im Kern war seine Argumentation von der seiner Nachfolger nicht allzu sehr verschieden. Machiavellh Ansicht zufolge ist die Natur des menschlichen Handelns nicht eigentlich gut oder schlecht, sondern größtenteils den natürlichen Erfordernissen der Vgl. - wenn auch nicht in derselben Intensität und mit gegenläufigen Schlussfolgerungen, so doch mit deutlichen Parallelen in den anthropologischen Konstanten - Locke 1967 [1690] mit Blick auf die bürgerlichen Naturrechte, insbesondere mit Hinweis auf das individuelle Recht zum Widerspruch gegen den Staat; ferner Smith 1871 [1776], dort mehr mit Blick auf die sozial nützliche Funktion ökonomischer Eigeninteressen in Konkurrenzsituationen; dazu ausführlich Neuendorff 1973. So etwa in Form der Organismusanalogie eines Herbert Spencer 1887 [London 1876], § 212 ff.; vgl. ferner mit Bezug auf die Bedeutung biologischer Rassenfaktoren auf Gesellschaftsentwicklungen Gumplowicz 1883; dazu näher Giesen/ Lau 1981. Hält man Darwins Selektionsbegriff und Smith' Konkurrenzbegriff nebeneinander, so werden zwischen Biologie und Ökonomie zahlreiche Parallelen deutlich, die in einem gemeinsamen Durchsetzungsinteresse kulminieren, das sowohl dem biologischen wie auch dem gesellschaftlichen Überleben förderlich ist. In beiden Fällen vermittelt die Extremform des Krieges einerseits intentional auf die Umwelt gerichtete Eigeninteressen und andererseits intra-individuelle Aggressivität. Diesen Zusammenhang vermerkt nicht nur die Darwinsche Evolutionstheorie, sondern ausdrücklich auch die ökonomische Theorie Smith'; vgl. dazu näher Schellenberg 1982, S. 19 ff.

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menschlichen Selbstbehauptung geschuldet. Ähnlich wie später dann Hobbes hatte Machiavelli den Erfolg menschlichen Handelns auf grundlegende Eigenschaften wie Stärke und Mut reduziert. Darin wurzeln insbesondere diejenigen Qualitäten, die für die Auswahl und Einsetzung eines Führers maßgeblich sind. Aufgabe eines Führers sei es, im Selbstverteidigungsinteresse der Gemeinschaft zu handeln. Da aber weder die Beherrschten noch die Führer anderer Gruppen ausschließlich tugendhaft wären, brauche sich der gewählte Herrscher ebenfalls nicht an Tugendversprechen zu halten. Folgerichtig bestimmt Machiavelli die Gewaltanwendung der staatlichen Obrigkeit als ein legitimes Mittel der Machtausübung nach innen und außen. Die politischen Gegebenheiten der damaligen Zeit, die ,Realpolitik' also (im Gegensatz zu den Grundsätzen der damals vorherrschenden Ethik), ließen es ratsam erscheinen, dass sich der Herrscher nicht von Recht und Sitte beeinflussen ließ. Politisches Handeln war vielmehr Konsequenz aus der Notwendigkeit, in erster Linie den realen Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Ein tüchtiger Herrscher ist Machiavelli zufolge nicht der, welcher auf Tugendprinzipien vertraut, sondern derjenige, der sein politisches Überleben mit allen verfügbaren Mitteln behauptet.6 Wie schon diese wenigen Ausführungen zeigen, liegt in der Ausübung und Domestizierung manifester Gewalt ein zentrales Theoriepostulat, das den gesellschaftspolitischen Ordnungsaufbau präjudiziert. Das Wesen des Sozialen wird gleichsam aus dem Geist natürlicher, und das heißt vor allem: gewaltsamer Überlebensbedingungen extrahiert. Dergestalt auf die Ebene letzter Wahrheiten gehoben, erklärt das ,Chaos von unten' einerseits den gesellschaftspolitischen Ordnungsbedarf, legitimiert zugleich aber auch den bedenkenlosen Einsatz der Macht bzw. das ,Chaos von oben'.7 In dieser Sichtweise ist es vor allem der individuelle Überlebenswille, der den Daseinskampf als sozialen Konflikt konstituiert: Horizontal als Konflikt zwischen Gleichen, vertikal als Konflikt zwischen Herrscher und Beherrschten um die zentralen Ressourcen der Macht. Politik stellt sich primär als ein Reflex auf die menschliche Triebökonomie dar, die in dieser Form selbst noch das zwischenstaatliche Geschehen beeinflusst.8 Mit der Vgl. näher Machiavelli, Discorsi 1,2; ders., Vom Fürsten, 18, zitiert nach der Ausgabe Gesammelte Schriften in fünf Bänden 1925 (Bd. 1, S. 12 ff.; Bd. 2, S. 70 ff.). In seinen Werken zeichnet Machiavelli ein durchgängig realistisches Abbild der damaligen Herrschaftsverhältnisse seiner Zeit, das insbesondere durch seine politischen Erfahrungen (Machiavelli war Sekretär beim Rat der Zehn sowie politischer Gesandter der florentinischen Bürgerrepublik) geprägt worden ist; aufschlussreich in Hinblick auf die Ursprünge des Machiavellismus sind ferner auch seine historischen Abhandlungen, vgl. insbesondere seine Geschichte von Florenz, 1925, Bd. 4. So in einer Formulierung von A. Assmann/ J. Assmann 1990, S. 20. Auch noch die rein wesensbezogene Behandlung des Krieges durch Clausewitz kommt ohne solche anthropologischen Grundannahmen nicht aus. Obwohl Clausewitz den Krieg als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln definiert, will er auf „Haß und Feindschaft, die wie ein blinder Naturtrieb anzusehen sind", gleichwohl nicht verzichten: „Die Leidenschaften, welche

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anthropologischen Fundierung sozialer und politischer Sphären wird schließlich auch die göttliche Ordnung profan. Ein strategisch-instrumentelles Ordnungskalkül ist mit den religiös-moralischen Weltanschauungen nur noch bedingt kompatibel, die Sozialwelt gerät zunehmend mehr unter den Druck säkularer Interessen. Es ist nicht mehr länger der religiöse Glaube, der die Geschicke der Sozialwelt bestimmt. Vielmehr werden immer häufiger technische Problemlösungsmöglichkeiten nachgefragt, um die Ordnung einer neu aufkeimenden Gesellschaftsstruktur prospektiv zu begründen.9 Je konfliktreicher eine Theorie der Gesellschaft die Anthropologie des Menschen in seinem Naturzustand konzipiert, umso legitimer erscheint ihr auch das Machtund Durchsetzungspotenzial zu deren Uberwindung. Dieser Kausalnexus wurde jedoch in der auf ökonomische Grundlagen gebauten Gesellschaftstheorie von Karl Marx radikal kritisiert. Marx war der Ansicht, dass die gesellschaftspolitische Ordnung weit weniger mit den anthropologischen Konstanten der Menschheit als vielmehr mit ihren ökonomischen Produktionsverhältnissen korreliert. Durch den Widerspruch zwischen Arbeit und Kapital werde ein Zweiklassensystem begründet, das vorwiegend zwischen Unterdrückern und Unterdrückten differenziert. Entsprechend hatte Marx im Rahmen einer materialistisch begründeten Geschichtsauffassung die rechtlichen, religiösen und politischen Einrichtungen als Uberbauphänomene einer primär ökonomisch gesteuerten Ordnung interpretiert. Seine zentrale These besagte im Kern, dass sich der ökonomische Strukturwiderspruch im sozialen Uberbau, und dort vor allem in Form politischer Klassenkämpfe manifestiere, zumindest solange, bis die Gesellschaft zu einer - ganz im Hegelsehen Duktus als Synthese gedachten - Aufhebung von Klassenwidersprüchen findet.10 In der materialistischen Geschichtsphilosophie wird Gesellschaft somit als Geschichte von Klassenkämpfen rekonstruiert und ihre (gewaltsame) Uberwindung

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im Kriege entbrennen sollen, müssen schon in den Völkern vorhanden sein", vgl. Clausewitz 1952, S. 111. Auch Hobbes verlässt sich bei der Behandlung der Frage nach den Grundlagen eines christlichen Staates nur noch zum Teil auf die göttliche Offenbarung - mit dem Argument, dass unsere Sinne und unsere Vernunft schließlich ebenfalls von Gott gegeben sind, vgl. Hobbes 1957, dort vor allem das 32. Kapitel über die Grundsätze einer christlichen Politik. Vgl. dazu näher die zusammenfassenden Darstellungen in Marx/ Engels 1958 [1848]; ferner Marx 1976a [1852]; für den Versuch einer ethnologischen Fundierung der materialistischen Geschichtsphilosophie jenseits der bürgerlichen Gesellschaft: Marx 1976b; als neuere kritische Würdigung, vgl. Berger 1998. Heute, nachdem die Marasche Theorie ihren gesellschaftspolitischen bzw. gesellschaftstheoretischen Status weitgehend eingebüßt hat und die sozialistischen Gesellschaftsmodelle sich innerhalb der Weltgesellschaft als nicht konkurrenzfähig erwiesen haben, scheinen die von Marx analysierten und bereits in Vergessenheit geratenen Problemstellungen auf einer vorwiegend sozialpolitischen Ebene wiederzukehren, vgl. beispielsweise Kaufmann 1997.

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auf dieser Grundlage moralisch legitimiert. Bekanntlich glaubte Marx aus seinen Analysen zur politischen Ökonomie eine Entwicklung vorhersagen zu können, in der sich die kapitalistische Gesellschaftsordnung selbst eliminiert. In der antagonistischen Gesellschaftsstruktur - so das Argument - seien bereits alle Voraussetzungen enthalten, die zur Auflösung des Strukturwiderspruchs notwendig sind. Die Strukturen der Gesellschaft würden in dem Maße zur Selbsteliminierung tendieren, wie sich der Strukturwiderspruch weiter entfalte. Mit den Einzelheiten dieses Ansatzes brauchen wir uns an dieser Stelle nicht näher zu befassen.11 Hier sollte nur deutlich werden, dass sich das Marasche Konzept von den älteren vertragstheoretischen Gesellschaftsentwürfen durch eine auf den Kopf gestellte Konfliktkausalität unterscheidet. Demnach ist die kapitalistischvormoderne Gesellschaft nicht Resultat, sondern Ursache des Konflikts. Nicht der Mensch (im Naturzustand) habe den Konflikt zu verantworten, sondern die ökonomische Struktur einer in sich widersprüchlichen Gesellschaft, die den Menschen in immer neue Auseinandersetzungen treibt. Erst wenn sich die gesellschaftlich vorherrschende Ordnung auf Grund immanenter Strukturantagonismen selbst eliminiere, sei an Frieden und Wohlstand für alle zu denken. Bis dahin gelte weiter, dass gesellschaftliche Ordnung Konflikt indiziert.12

Konflikte in der Gesellschaft Wie schon ihre Vorläufer hat auch die soziologische Klassik ihre die Konstitution der Gesellschaft betreffenden Hypothesen eng mit am Konflikt geschulten Erfahrungen in Verbindung gebracht. Allerdings waren ihre Auffassungen über Gesellschaft schon weitaus differenzierter. Beispielsweise hatte Emile Durkheim (1973; ders. 1977, S. 111 ff. und 1976, S. 156 ff.) den Begriff der Gesellschaft

Zum Zusammenhang Antagonismus/ Bewegung/ Konflikt im Rahmen eines konflikttheoretisch reformulierten Marxismus, vgl. auch Hasselberg 1990. Den wohl letzten, allerdings nur wenig überzeugenden Versuch, die Radikalität der Marxschen Geschichtsauffassung mit den Wandlungsbedingungen der Neuzeit im Rahmen einer Konflikttheorie in Einklang zu bringen, hatte Theodor W. Adorno formuliert. Allerdings waren dabei zwei wichtige Einschränkungen unvermeidbar: Der ersten Einschränkung zufolge werde der soziale Konflikt nicht mehr an seinen - (polit-)ökonomischen - Ursachen manifest, sondern zeige sich als deren Wirkung in mehrfacher Hinsicht .verschoben'; der zweiten Einschränkung zufolge (die übrigens viel mit der ersten gemein hat) beruhe die verschobene Konfliktphänomenologie zu nicht unwesentlichen Teilen auf einem .falschen' sozialen Bewusstsein. .Falsches' Bewusstsein und .falsche' Gesellschaft werden dabei zu einer negativen Dialektik synthetisiert: „Bis hinab zu den ebenso läppischen wie affektiv besetzten privaten Zänkereien präsentiert die Gesellschaft den Lebendigen die Rechnung für ihre verkehrte Gestalt, an der sie mitschuldig sind, und für das, was sie aus ihnen gemacht hat. In den blinden, sich selbst verhängten Konflikten gelangt das gesellschaftliche Wesen an die Subjekte zurück, ohne daß sie dessen gewahr würden", vgl. Adorno 1979, S. 186.

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(neben den nicht-ökonomischen Grundlagen der Arbeitsteilung) unter anderem auch im Spannungsfeld normativer Erwartungen interpretiert. Ihm stand insbesondere eine symbolische bzw. moralische Ordnungsleistung des Sozialen vor Augen. Anomie und Verbrechen beispielsweise galten Durkheim einerseits als konfliktinduzierende Tatsachen des Sozialen, andererseits aber auch als Funktionsbedingung gesellschaftlicher Stabilität. Die grundlegende Annahme dabei war, dass Anomie und Verbrechen ein Gegengewicht zur gesellschaftlichmoralischen Erstarrung bilden und deshalb ein normativ flexibler Strukturaufbau überhaupt erst vorstellbar werde. Sofern Anomie und Verbrechen die Grundlagen mechanischer Solidarität kontinuierlich bedrohen, sei damit für ein permanentes Reflexionsvermögen und kontinuierliches Neuarrangement sozialer Strukturen gesorgt. Durkheim macht insofern deutlich, dass der moralische Grundkonsens der Gesellschaft Abweichung braucht, um sich flexibel und entwicklungsfähig zu konsolidieren. Mit diesem Argument gelang erstmals eine konflikttheoretische Denkfigur, die auf die spätere Soziologie noch einen nachhaltigen Einfluss ausüben sollte.13 Ausdrücklich hat aber erst Georg Simmel den Konflikt zum begrifflichen Grundinventar soziologischen Denkens erhoben. Erstmals wurden dabei die für Strukturbildungsprozesse konstitutiven Konfliktfunktionen gezielt herausdestilliert. Explizit analysierte Simmel den ,Streit' als eine soziologisch eigenständige Vergesellschaftungsform. Dass es sich dabei tatsächlich um eine eigenständige Form der Vergesellschaftung handelt, stand für Simmel niemals in Frage: Sehe man vom Phänomen der ,Liebe' einmal ab, so gäbe es auf der Sozialebene wohl keine andere Beziehungsform, die eine ebenso lebhafte wie intensive zwischenmenschliche ,Wechselwirkung' begründe (vgl. Simmel 1908, S. 247 ff.). Im Streit fühlten sich die Beteiligten auf das Innigste miteinander verbunden, weil das gegnerische Verhalten die eigene Entscheidung in hohem Maße präjudiziere. Damit entstehe ein Universum eigener Ordnung, das zwischen den Beteiligten spezielle Orientierungen schafft, die es in dieser Form vorher nicht gab. Wer sich auf Streitsituationen einlässt, lässt sich gleichzeitig auf eine Beziehung zum anderen ein, die mehr Aspekte seiner Persönlichkeit als sonst üblich an diese Beziehungsform bindet. Allein schon durch die Begriffswahl hob Simmel die konzeptionelle Nähe des Streitens zu Interaktion und ihrer Prozesstypik deutlich hervor. In diesem Sinne hat Simmel seine Analysen in Richtung auf gesellschaftlich integrative Konfliktfunktionen weitergetrieben. Simmel nahm an, dass der Konflikt Ausdruck eines universellen Strukturantagonismus sei, der im Bereich des Sozia13

Vgl. nur Merton 1957, S. 131 ff. mit weiterführenden Überlegungen zum Verhältnis von Anomie und sozialstrukturellem Wandel; ferner Coser 1962 [neu gedruckt in ders. 1967, S. 111133].

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len assoziative und dissoziative Prozesseigenschaften organisiere.14 Im Begriff der Dissoziation sah Simmel eine zentrale Voraussetzung für die Lebendigkeit alles Sozialen überhaupt. In dieser Perspektive begründe der Konflikt eine Mesalliance zwischen Wirklichkeit und Erwartung, in der sich Gesellschaft nicht bloß als ein Produkt konformer, sondern ebenso sehr auch als ein Produkt anomischer Verhaltensmuster konstituiert: Bliebe soziales Verhalten ausschließlich den gesellschaftlichen Konventionen verpflichtet, so gäbe es weder Kreativität noch Innovation. Dem stellte Simmel den Begriff der Association gegenüber, der weniger soziale Konformität, als vielmehr die Einheit des im Konflikt voneinander Verschiedenen meint: Der Konflikt. ,assoziiere' die beteiligten Gegner, indem er sie einem spezifischen Reglement unterwirft. In den Worten Simmek: „Man vereinigt sich um zu kämpfen." Die individuelle Verschiedenheit der Menschen, ihre Stimmungen und Neigungen vermögen zwar ein ,Gegeneinander' zu begründen, doch darin seien sie hoch integriert.15 Die Simmekchen Analysen erscheinen auch für den heutigen Leser noch ungewöhnlich anregend und fesselnd. Dies dürfte im wesentlichen damit zusammenhängen, dass Simmel den Konflikt als eine eigenständige Realität konzipiert, die unabhängig von Vorab-Annahmen über ein gesellschaftliches Telos bzw. von normativen Wertungen mit unterschiedlichen Aspekten der Sozialwelt relationiert werden kann. Mit Blick auf Gesellschaft will Simmel zeigen, wie ein Konflikt Prozesse der Vergesellschaftung stimuliert.16 Der Konflikt wird primär nicht in Abhängigkeit von Gesellschaft, sondern diese in Abhängigkeit von ihren Konflikten gedacht. Gesellschaft heißt demnach immer: Gesellschaft durch und auf Grund von Konflikt, soweit nämlich soziale Erwartungen wirksam werden, die sich an den gegnerischen Handlungen orientieren. Eine zweite wichtige Einsicht

Simmel, der mit darauf bezogenen Schlussfolgerungen sehr weit gegangen ist, scheute in diesem Zusammenhang nicht den Vergleich mit einem ,kosmischen' Prinzip: „Wie der Kosmos ,Liebe und Haß', attraktive und repulsive Kräfte braucht, um eine Form zu haben, so braucht auch die Gesellschaft irgendein quantitatives Verhältnis von Harmonie und Disharmonie, Assoziation und Konkurrenz, Gunst und Mißgunst, um zu einer bestimmten Gestaltung zu gelangen", Simmel 1908, S. 249. „Jeder Konflikt, der nicht absolut unpersönlicher Art ist, macht sich die verfügbaren Kräfte im Individuum dienstbar, er wirkt wie ein Kristallisationspunkt, um den herum sich diese in größerer oder geringerer Entfernung anordnen, (...) und gibt damit dem ganzen Komplex der Persönlichkeit, sobald sie kämpft, eine eigenartige Struktur" .Simmel 1908, S. 264 bzw. S. 326 f. Man beachte im Übrigen den Begriff der Kristallisation: In der Vorstellung Simmeis differenziert der Konflikt eigenständig Ressourcen als Ursachen seines Weiterbestehens aus. Dieser Grundgedanke hat (nicht zuletzt auch in der von Lewis A. Coser weiterentwickelten Form) schon bald erheblichen Einfluss auf die angelsächsische sozialpsychologische Gruppenund Konfliktforschung ausgeübt, wozu die amerikanische Übersetzung der Simmelschen Texte wesentlich beigetragen hatte, vgl. Simmel 1955 (enth. ,Der Streit' sowie ,Die Kreuzung sozialer Kreise"); für seine soziologische Weiterentwicklung in Richtung auf eine Tauschtheorie wechselseitigen Negierens, vgl. Tyrell 1976; ferner Turner 1975.

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betrifft die Beziehung von Konflikt und Akteur, mit derselben kausalen Wende wie schon zuvor: Nicht die Persönlichkeit bestimmt den Konflikt, vielmehr macht sich der Konflikt „die verfügbaren Kräfte im Individuum dienstbar. " Auch hier erscheint der Konflikt als eine von spezifischen Kausalfaktoren unabhängige Größe, die gleichsam wie ein Gravitationsfeld in dem Maße Kraft und Kontur gewinnt, wie sie die Beteiligten unabhängig von deren Einzelwillen und Absicht mit zunehmender Nähe immer stärker in ihren Bannkreis zieht. Die Vorstellung einer eigenständigen, von gesellschaftlichen und personalen Ursachenqualitäten unabhängigen Konfliktwirklichkeit charakterisiert den Kern der Simmelschtn Konflikttheorie: „Tatsächlich sind das eigentlich Dissoziierende die Ursachen des Kampfs (...) Ist auf sie hin der Kampf erst ausgebrochen, so ist er [der Konflikt, H.M.] eigentlich die Abhülfsbewegung gegen den auseinanderführenden Dualismus" (Simmel 1908, S. 247). Diesen Überlegungen zufolge ist der Konflikt - was immer er sonst noch sein mag - nicht mit den zum Konflikt führenden Ursachen identisch. Mit Konflikten sind vielmehr die Reaktionen auf das ,eigentlich Dissoziierende' gemeint, die sich wesentlich von dem unterscheiden, was solche Reaktionen hervorruft. Konflikt und Konfliktursache werden von Simmel strikt unterschieden. In dieser Vorstellung werden die analytischen Konfliktperspektiven gewissermaßen dupliziert, sie sind zum einen auf den auseinanderfuhrenden Dualismus (Dissoziation) bezogen, zum anderen auf den Konfliktprozess selbst (Assoziation). Die vorwiegend auf Assoziation bezugnehmende Konfliktperspektive ist eine solche, die den Konflikt als eine interaktiv emergente Qualität des Sozialen etabliert. Im Gegensatzpaar Assoziation/ Dissoziation werden beide Seiten je für sich zum Ausgangspunkt einer analytisch wichtigen Unterscheidung:17 Jeder Konflikt hat nach Simmel zwar auch eine wie immer geartete Ursache, aber die Ursache selbst ist nicht schon Konflikt. Anders als Simmel hatte sich Max Weber für den Konflikt mehr unter dem Gesichtspunkt seiner Bändigung interessiert und diesbezüglich mit Analysen zum politischen Gewaltmonopol reagiert. Weber zufolge ist mit der staatlichen Monopolisierung physischer Gewalt eine wesentliche Bedingung erfüllt, die den ratio-

in diesem Zusammenhang hat Simmel allerdings soziologische und psychologische Argumentationen vermischt und dabei das ,eigentlich Dissoziierende' mit anthropologischen bzw. intrapsychischen Konstanten verknüpft. Simmel 1908, S. 258 ff. spricht beispielsweise von einer ,Feindseligkeitssumme', mit der er ,Haß und Torheit', ,Kampfeslust', ,Herrschen wollen', eine ,unserem Wesen gegebene Antipathie', einen apriorischen Kampfesinstinkt' sowie ein primäres ,Feindseligkeitsbedürfnis' assoziiert, vgl. auch ders. 1993, dort insbes. S. 336 ff. Diese Problemlage wird nicht immer hinreichend deutlich erkannt, vgl. etwa die unkritische Zusammenfassung bei Ziemann 2000, S. 151 ff.; deutlich kritischer hingegen Giesen 1993, S. 90; Nollmann 1997, S. 18.

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nalen Machtgebrauch innerhalb der Gesellschaft sichert (speziell dazu Elias 1976; ferner 1981, S. 100). Die zu dieser Monopolstellung querlaufende Diversifizierung in Form von Herrschaftsverbänden und rechtsförmig verfassten Bürokratien mache das Machtmonopol kontrollierbar. Dies umso mehr, als der Kampf um die Herrschaft verschiedenartige Machtkreisläufe in der Gesellschaft etabliert, die - anders als Marx noch gedacht hat - relativ unabhängig voneinander die Reproduktionschancen von sozialen Gruppen bestimmen. In diesem Sinne hatte Weber zwischen an Marktchancen orientierten Klassen, an Prestigechancen orientierten Ständen sowie an Machtchancen orientierten Parteien unterschieden, die jeweils sozial verschiedenartig strukturierte Ebenen der Machtverteilung repräsentieren (vgl. Weber 1922, S. 631 ff.). Die volle Bedeutung des Webersdcicn Herrschaftsmodells erschließt sich allerdings erst im Rahmen eines neuzeitlich-demokratischen Politikverständnisses, das sich hauptsächlich auf legal-bürokratische Formen der Herrschaftsausübung beruft. In den Aspekten bürokratischer Herrschaft sah Weber bekanntlich ein primär freiheitsreduzierendes Element, das die gesellschaftliche Entwicklungsdynamik in ihren Grundlagen lähmt. Dem wurde eine Definition des Politischen gegenübergestellt, die strikt auf Besitz und Beeinflussung des staatlichen Gewaltmonopols zielt (vgl. Weber 1921). Konkurrenz, Widerspruch und Konflikt werden von Weber dem .Gehäuse jener Hörigkeit der Zukunft' als Antipoden gegenübergestellt. Sofern man aus diesen Analysen ein konflikttheoretisches Modell zu extrahieren versucht, so hätte der Aspekt der Machtdiversifikation strukturell vermutlich das größte Gewicht: Demnach erscheint der Konflikt als in relativ eigenständige ökonomische, soziale und politische Machtkreisläufe segmentiert, die sich in ihren Auswirkungen wechselseitig begrenzen. In dem Maße, wie eine politisch verfasste Gesellschaft verschiedenartige Machtkreisläufe - und damit zugleich: politisch unterschiedlich verfasste Trägergruppen etabliert, werden Interessenskonflikte sozial endemisch.18 Den daran anschließenden Gesellschaftslehren blieb der Versuch, die identitätsstiftende Einheit des Konflikts mit Blick auf .subjektiv gemeinten Sinn' bzw. .Sinnverbundenheit' weiterzuführen - nennenswerte Fortschritte waren jedoch nicht zu verzeichnen. Weder Alfred Vierkandis .Gesellschaftslehre' noch heopold von Wieses .System der Allgemeinen Soziologie' hat die konfliktanalytische Tiefe ihrer Vorgänger erreicht. Zwar sah auch Vierkandt (wie vor ihm schon Simmel), dass die Durchfuhrung eines Konflikts sowohl die Anerkennung des Gegners

Das macht Weber an anderer Stelle unmissverständlich klar: "Conflict cannot be excluded from social life ... 'Peace' is nothing more than a change in the form of the conflict or in the antagonists or in the objects of the conflict, or finally in the chances of selection", vgl. Weber 1949, S. 26 f., zit. nach Coser 1968, S. 232.

20 wie auch die Akzeptanz gemeinsamer Regeln notwendig macht (vgl. Vierkandt 1928, S. 300 ff.), jedoch führten diesbezügliche Analysen über eine bloße Paraphrasierung der Simmelsehen Zentralhypothesen nicht hinaus. Dagegen waren von Wieses' Konfliktanalysen deutlich mehr am Webersdacn Theoriestil geschult, insbesondere an dessen Vorlieben für das klassifikatorische Unterscheiden. So hatte von Wiese das soziale .Auseinander' als ein .Gegeneinander', als ,Kampf und .Konflikt' typisiert und diesbezügliche Unterscheidungen ineinander gespiegelt: Demnach sei der .Konflikt' deutlich mehr gegeneinander gerichtet als das .Gegeneinander' in einer sozialen Konkurrenzsituation, sofern sich Letzteres mehr als eine Gemengelage aus Mit- und Nebeneinander erweise; mit .Kampf sei vornehmlich das Endstadium von Konflikten bezeichnet, mit .Opposition' hingegen die latente Vorform derselben (vgl. Wiese 1933, S. 280 ff.). In Bezug auf die Konfliktanalysen ihrer Vorläufer bringen beide Gesellschaftslehren letztlich wenig Neues, stattdessen werden nur deren Mängel kontinuiert, namentlich die anthropologische Fundierung des Konflikts, die über weite Strekken die soziologische Analyse ersetzt (vgl. Vierkandt 1928, S. 75 ff.; Wiese 1933, S. 295 f.). Was bleibt, ist die von der Frühsoziologie zu Tage geförderte Einsicht, dass der Konflikt ein integraler und nicht wegzudenkender Bestandteil sozialer und gesellschaftlicher Ordnungen ist. Damit wird zum einen die Wandlungsfähigkeit und Anpassungsbereitschaft gesellschaftlicher Sozialstrukturen aufrechterhalten, andererseits aber auch deren Identität garantiert. Vergleichbare Einsichten haben schließlich auch die konflikttheoretischen Entwicklungslinien der U.S.-amerikanischen Soziologiegeschichte beeinflusst.19 Die hohe Aufmerksamkeit gegenüber damals aktuellen Konfliktphänomenen war bei den Gründervätern der amerikanischen Soziologie vor allem durch ein gesellschaftspolitisch tiefverwurzeltes Reforminteresse motiviert, verbunden mit einem starken Glauben an seine programmatische Umsetzbarkeit. Vor diesem Hintergrund erschien der Konflikt als Synonym eines gesellschaftspolitischen Fortschrittsglaubens und wurde schon bald zu den Grundformen sozialen Handelns gezählt.20 Allerdings kontrastierte diese Einsicht erheblich mit den tatsächlichen Fortschritten auf diesem Gebiet: Obwohl der Konflikt in den Jahren 1907 und 1930

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Vgl. dazu näher die theoriegeschichtlichen Darstellungen in Coser 1956 [dtsch. Übers. Neuwied 1965, S. 15 ff.]; Angell 1965; Krysmanski 1971, S. 121 ff., die besonders auf den Einfluss der Werke folgender Autoren verweisen: Small 1905; Sumner 1906; Cooley 1918; Ross 1920. So etwa in der Programmschrift der Chicagoer Schule, vgl. Park/ Burgess 1921, wo es unter anderem heißt: "Only when there is conflict is behavior conscious and self-conscious; only here are the conditions for rational conduct" (S. 578). Die zentrale Plazierung des Konflikts verwundert nicht weiter, wenn man weiß, dass Park bei Simmel studierte und dass Albion W. Small, Chair am Chicago Departement und Parks älterer Kollege, extensiv Simmel ins Amerikanische übersetzte, vgl. Simmel 1904.

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Hauptthema zweier Tagungen der Amerikanischen Soziologischen Gesellschaft war, gab es dennoch nur wenige Anstrengungen, die Konfliktforschung im aktuellen Wissenschaftsbetrieb fest zu verankern. Noch 1950 fragte Jessie Bernard nach dem Verbleib einer modernen soziologischen Konflikttheorie, während sie der Forschung weitestgehend Stagnation attestierte (vgl. Bernard 1950). Einige Jahre später jedoch schien diese Einschätzung bereits überholt. Eine von der UNESCO angeregte Bestandsaufnahme konfliktbezogener Forschungen verzeichnete bis 1956 schon über 1000 Titel zu den Sachgebieten Konfliktsoziologie, internationale Beziehungen, Rassen- und Klassenkonflikt 21 - viele davon erst Anfang der 50er Jahre verfasst. Gleichwohl hatte die Vielzahl an Studien zu keiner konzeptionellen Vereinheitlichung der Konfliktforschung beitragen können. Auf dieses Defizit hatte Bernard 1957 mit der Feststellung reagiert, dass es scheinbar keine Konfliktkonzeption gebe, in der sich alle Konfliktphänomene systematisch abbilden ließen (vgl. Bernard 1957a, S. 116). Im selben Jahr kamen Raymond Mack und Richard Snyder nach Durchsicht der bis dahin durchgeführten Forschungsarbeiten zum Konflikt zu einem ebenfalls eher pessimistischen Resümee: „Obviously, ,conflict' is for the most part a rubber concept, being stretched and molded for the purposes at hand".22

Konflikt als soziologisches Paradigma Die Verzahnung früherer Gesellschafts- und Sozialtheorien mit einer am Konflikt geschulten Epistemologie hatte sich für die Soziologie - entgegen dem Anschein - über lange Zeit hinweg als nicht, bzw. nur wenig anschlussfähig erwiesen. Erschwerend kamen noch die kontinentalpolitischen Entwicklungen zweier Weltkriege hinzu, die insbesondere die Simmekchtti Analysen in Vergessenheit geraten ließen. Allerdings hatte sich dieser Entwicklungsstand jedoch schon bald wieder geändert. Mit dem fast zeitgleichen Erscheinen der Publikationen von Lewis A. Coser (vgl. Coser 1965 [1956]) und Ralf Dahrendorf (vgl. Dahrendorf 1957) wurde erstmals eine konflikttheoretisch eigenständige bzw. systematische Fundierung sozialer und gesellschaftlicher Strukturen versucht. Ausgangspunkt beider Publikationen bildete zu einem nicht unbedeutenden Anteil die Frontstellung gegen das strukturell-funktionale Systemdenken Talcott Parsons'. Dahren-

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Vgl. International Sociological Association 1957. Mack/ Snyder 1957, S. 212. In seinem enzyklopädischen Beitrag unter dem Stichwort 'Conflict - Social Aspects', bemerkte Coser noch ein Jahrzehnt später: "In a more recent period, the functions of conflict and the study of conflict phenomena were neglected by American sociologists", vgl. Coser 1968, S. 232.

22 dorf unterstellte Parsons einen gravierenden Kategorienfehler in der Frage nach der Verknüpfung von Struktur und Dynamik sozialer Systeme: Sofern Parsons alle Systemdynamik unter dem Funktionsbegriff subsumiere, der wiederum dem Strukturbegriff untergeordnet sei, komme systemische Dynamik allein unter dem Gesichtspunkt struktureller Systembestandserfordernisse in den Blick. Auf Grund dieser Sichtverengung werde zwangsläufig übersehen, dass Systemstrukturen die Bedingungen ihrer Uberwindung mithin schon in sich trügen bzw. sich hinsichtlich ihrer Wirkungen selbst neutralisierten (vgl. Dahrendorf 1957, S. 126 f.; 1955; 1967). Ähnlich auch Cosers Kritik: Die vorherrschende Soziologie ParJö«xscher Prägung konzentriere ihre Aufmerksamkeit vollständig auf Probleme der Anpassung an die Strukturen sozialer Systeme, darauf bezogen käme Konflikt immer nur dysfunktional in den Bück.23 In gewisser Weise ist die Herausbildung eines soziologisch eigenständigen konflikttheoretischen Paradigmas ein Resultat der Debatte um Konflikt versus Integration als soziologisches Basiskonzept der gesellschaftlichen Strukturanalyse.24 In Frontstellung zu Parsons wurde in den oben genannten Ansätzen die Behauptung vertreten, dass gesellschaftliche Integration ohne Konflikt gar nicht erst vorstellbar sei, da der Konflikt wichtige Integrationsfunktionen sozialer Mikrobzw. Makrostrukturen mit übernehme. Dahrendorf hatte diesen Gesichtspunkt primär im Hinblick auf die ,Doppelgesichtigkeit' von Sozialstrukturen diskutiert (vgl. Dahrendorf 1957, S. 159 ff.), Coser dagegen mehr unter dem Aspekt der gruppenfestigenden Funktionen des Konflikts (vgl. Coser 1965, S. 36 ff.). Während Dahrendorf ein primär vertikal konzipiertes Konfliktparadigma entwirft, das den Konflikt mit Annahmen sozialer Herrschaft verknüpft, favorisiert Coser ein horizontal gegliedertes Konfliktmodell, das vornehmlich zwischen Ingroup und Out-group unterscheidet. Da sich an beiden Modellen ein paradigmatisch wesentlicher Unterschied in der Konfliktanalyse darstellen lässt, an dem sich mithin auch das problematische Verhältnis von Konflikt und Konfliktursache dokumentiert, wollen wir an dieser Stelle beide Ansätze etwas ausführlicher erörtern. Dabei wollen wir vor allem am Beispiel der Dahrendotfochen Konflikttheorie

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Daneben führte Coser diesen Sachverhalt aber auch auf die Anpassungszwänge einer angewandten Sozialforschung zurück, die sich aus der fachlichen Zuwendung zu außerakademischen Organisationen ergäben: Im Bemühen um gegenseitiges Verständnis glichen sich schließlich auch deren Auffassungen an, so dass Konflikte nur noch als Krankheit im sozialen Körper der Gesellschaft erschienen, vgl. Coser 1965, S. 21 ff. Trotz gemeinsamer Stoßrichtung gegen den Strukturfunktionalismus hat Dahrendorf 1967, S. 270 ff. vehement gegen Coser polemisiert und ihm dabei eine a-soziologische Grundhaltung vorgehalten. Der eigentliche Gegensatz zwischen beiden Positionen bezieht sich jedoch mehr auf die Frage nach den Bezugsgesichtspunkten der Analyse, im vorliegenden Fall auf die Alternative zwischen Struktur und Prozess, vgl. dazu auch die Erwiderung von Coser 1967, S. 3 ff.

23 zeigen, wie Konflikt und Konfliktursache auf eine für die soziologische Analyse eher unglücklichen Weise ineinander verschmelzen. Zunächst hatte Dahrendorf im Anschluss an Marx dessen Klassen theorie in Richtung einer Konflikttheorie weiterentwickelt und ihr so eine zeitgemäße Fassung zu geben versucht. Dahrendorf sah, dass die sozialen Aufstiegschancen in der modernen Gesellschaft eine strukturell tiefgreifende Alternative zum Klassenkonflikt bieten, insbesondere gegenüber gewalttätigem Protest und Revolution. Im Hinblick darauf schienen ihm die Begriffe .Eigentum' und ,Konflikt' bei Marx zu eng aneinander gekoppelt, so dass er an deren Stelle schließlich den Begriff der .Verfügungsgewalt über Eigentum' setzte. Dahrendorf zufolge beruht der soziale Konflikt auf an Herrschaft orientierten ,Strukturarrangements' und geht, wann immer solche Strukturarrangements vorliegen, zwingend daraus hervor (vgl. Dahrendorf 1971, S. 109). Ein solches Konfliktmodell enthält verschiedene problematische Implikationen. Eine erste betrifft das Konzept der Sozialität im Spannungsverhältnis von Individuum und Gesellschaft. Als .sozial' gelten Konflikte den Dahrendorfschen Annahmen zufolge immer nur dann, wenn sie aus den Sozialstrukturen einer Gesellschaft resultieren, das heißt einem objektiven, wenn auch latent wirksamen Herrschaftsantagonismus zurechenbar sind. Herrschaft und Zwang sind, wie Dahrendorf selbst konzediert, allgegenwärtige und universell auftretende Phänomene: „Wir setzen voraus, dass Konflikt allgegenwärtig ist, weil Zwang allgegenwärtig ist, wo immer sich Menschen soziale Verbände schaffen". 25 Der soziale Konflikt ist primär also Herrschaftskonflikt und strukturell an das Problem der gesellschaftlichen Verfügungsgewalt von Eigentum gebunden. Individuelle Antagonismen fallen demgegenüber nicht unter diese Rubrik, soweit ein sorqalstruktureller Herrschaftsbezug nicht nachweisbar ist. Demzufolge ist eine Situation, in der zwei Bewerber um eine Position konkurrieren, ein sozialer Konflikt, da er sich wie entfernt auch immer - durch die Verfügungsgewalt über gesellschaftliche Herrschaft (Positionen) motiviert. Unerheblich dabei ist, ob und wie die Bewerber interagieren (beispielsweise, ob sie einander freundschaftlich zugetan sind oder nicht); was vielmehr zählt ist allein der Bezug auf herrschaftsrelevante Strukturen. Umgekehrt begründet eine Situation, in der etwa eine Person die andere auf Grund persönlicher Feindseligkeit tötet, keinen sozialen Konflikt, solange dafür keine sozialstrukturellen Korrelate nachweisbar sind. Streitsituationen diesen Typs sind demnach individuell motiviert, sozial kontingent und deswegen gesellschaftlich ohne Belang.26

25 26

Vgl. Dahrendorf 1967 [1958], S. 262; sich diesbezüglich aber einschränkend: ders. 1985. Vgl. dazu näher Dahrendorf 1961, S. 201 ff. Diese Denkfigur wird später, wie noch zu sehen sein wird, in leichter Abwandlung von Luhmann weitergeführt.

24 Die Gegenüberstellung gesellschaftlich und persönlich motivierten Verhaltens macht deutlich, dass der Begriff des ,Sozialen' bei Dahrendorf eine nur sehr eingeschränkte Geltung besitzt. Konsequent weitergedacht ist allein diejenige Beziehung sozial, die sich unter dem Einfluss gesellschaftlicher, insbesondere herrschaftsbezogener Strukturmerkmale aus differenziert.27 Sofern sich die für den Konflikt maßgeblichen Sozialstrukturen auf gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse gründen, erweist sich zugleich auch der dazugehörige Strukturbegriff als extrem restringiert — so, als bestünde Gesellschaft ausschließlich aus Herrschaft. Alle Konfliktbildungen, die diesem Strukturbegriff nicht zuzuordnen sind, fallen dem Raster dieser Begriffswahl zum Opfer: Der Ehestreit beispielsweise, wie immer er ausgehen mag, fällt nicht unter diese Rubrik. Aber auch die am oberen Ende der Konfliktskala angesiedelten Antagonismen (Kriegshandlungen zwischen Staaten) entziehen sich dieser Konflikttheorie, da die (national-) gesellschaftliche Herrschaftsstruktur logischerweise hier nicht greift.28 Dieselben Ausschlusskriterien gelten entsprechend auch für die Folgen, wobei Konfliktsituationen, die unter Umständen ganze Volksgruppen eliminieren, in der Dahrendorf schen Begriffsfassung konflikttheoretisch irrelevant sind. Eine derart eng an begrenzten Strukturannahmen konzipierte Konflikttheorie verzerrt die Realität, die zu beschreiben sie vorgibt, auf unerträgliche Weise, und schon allein das begründet ihre Unhaltbarkeit. Aber auch hinsichtlich ihrer kategorialen Logik verfährt die Theorie erkennbar inkonsistent. Der dieser Problematik zugrundeliegende Sachverhalt reduziert sich nämlich auf die Frage, inwieweit sich der als objektiv-latent postulierte Strukturantagonismus unabhängig von empirisch konkreten Konfliktphänomenen realisiert. Im Hinblick darauf argumentiert Dahrendorf insofern zirkulär, als er lineare Ursache/ Wirkungsbeziehungen suggeriert, wo diese faktisch interagieren. Folgende Äußerung illustriert diesen Sachverhalt auf exemplarische Weise: „Die Explosivität von mit widersprüchlichen Rollenerwartungen ausgestatteten sozialen Rollen, die Unvereinbarkeit geltender Normen, regionale und konfessionale Unterschiede, das System sozialer Ungleichheit, das wir Schichtung nennen, und die universale Schranke zwischen Herrschenden und Beherrschten sind sämtlich soziale Strukturelemente, die notwendig zu Konflikten führen." (Dahrendorf 1967, S. 273)

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Dabei ist allerdings fraglich, ob ein von gesellschaftlichen Struktureinflüssen unabhängig praktiziertes Verhalten überhaupt denkbar und vorstellbar ist. In diesem Sinne steht die Dahrendorfsche Konflikttheorie als Synonym für eine Gesellschaftstheorie, die - wie jene auch - zahlreiche Vorab-Annahmen notwendig macht. Dazu schreibt Dahrendorf: „Einmal gibt es in sehr kleinen sozialen Einheiten (Rollen, Gruppen) häufiger Gegensätze, die keinerlei strukturelle Relevanz haben, für die also eine Theorie des sozialen Konflikts nicht gilt; zum anderen lässt sich vermuten, dass auch Auseinandersetzungen zwischen sehr umfassenden Einheiten zuweilen eher psychologischer als soziologischer Erklärung bedürfen", Dahrendorf 1961, S. 202f.

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An dieser Formulierung werden die logischen Schwächen dieses Ansatzes nachhaltig deutlich. Mit der Annahme, dass sich der gesellschaftliche Zentralkonflikt an Auseinandersetzungen um Herrschaft auskristallisiert, postuliert Dahrendorf eine kausal ausgreifende Ursache/ Wirkungsbeziehung, welche die Bedingungen ihres tatsächlichen Eintretens notwendigerweise unspezifiziert lassen muss bzw. nur - wenn überhaupt - im historischen Rückblick aufzeigen kann. Wann, unter welchen Bedingungen und in welchem Umfang die postulierten Konflikte eintreten werden, lässt sich aus den theoretischen Prämissen selbst nicht prognostizieren, so dass man diese weder verifizieren noch falsifizieren kann.29 Schwerer noch wiegt das Problem, dass sich die von Dahrendorf postulierte Ursache/ Wirkungsbeziehung mühelos auch in der umgekehrten Richtung ausdeuten lässt. Schließlich ist Herrschaft kein Sachverhalt, der sozial voraussetzungslos existiert. Dazu bedarf es vorausgehender Ursachen, die Herrschaft als soziale Struktur etablieren. Phänomene der Herrschaft kommen beispielsweise immer dann in den Blick, wenn es um Zuteilungsentscheidungen geht, von denen angenommen werden muss, dass sie Konflikte auslösen und reproduzieren (pragmatisch hierzu: Popitz 1968). In dieser Perspektive erscheint Herrschaft nicht als Ursache für den Konflikt, sondern Konflikt als Ursache für Herrschaft, so dass die Ursache zur Wirkung und die Wirkung zur Ursache wird. In gewisser Weise ist sich Dahrendorf dieser Problemstellung durchaus bewusst, zieht daraus jedoch nicht die notwendigen Konsequenzen: Dahrendorf selbst spricht von den sozialen Konflikten „dahinterstehenden Konflikt" (vgl. Dahrendorf 1961, S. 227), womit er unter konflikttheoretischen Gesichtspunkten letztlich nur die Tautologie seines Ansatzes affirmiert. An dem obigen Zitat, wie übrigens an zahlreichen anderen Formulierungen auch, wird weiter ersichtlich, wie Dahrendorf die YLonFüktursache (Strukturelemente von Herrschaft) mit seiner Erscheinung amalgamiert: Die askriptiven Merkmalszuschreibungen, die Dahrendorf zur Kennzeichnung sozialer Struktureigenschaften heranzieht (Explosivität, Widerspruch, Unvereinbarkeit, Unterschiede, Ungleichheit, Herrscher und Beherrschte) begründen eine Konfliktmetaphorik, die suggeriert, der Konflikt wäre durch die Attribute, die man seinen behaupteten Ursachen zuschreibt, mitunter schon hinreichend erklärt. Offenbar verfuhrt die Semantik konfliktbezogener Merkmals- und Ursachenzuschreibungen in hohem Maße zu einer Gleichsetzung mit dem in Frage stehenden Sachverhalt - mit der

Empirisch führt jedenfalls keine der angeführten Merkmalseigenschaften notwendig zum Konflikt, zumindest nicht in der von Dahrendorf angedeuteten Form. Vielmehr ist schon eher das Gegenteil zutreffend. Es ist gerade ein Kennzeichen der modernen Gesellschaft, dass sie in Bezug auf Rollen, Status, Privilegien und Macht enorme Diskrepanzen erträgt, so auch die Kritik von Weingart 1968 an diesem Konzept.

26 Folge, dass die behauptete Konfliktkausalität als bloße Rhetorik, als Tautologie existiert: Konflikt fuhrt notwendig zu Konflikt. Schließlich werden die Schwächen des Dahrendorfsehen Konfliktmodells auch noch auf anderer Ebene evident, so etwa im Hinblick auf die Auflösung des Konflikts. Denn in dem Maße, wie sich der soziale Konflikt auf gesellschaftlichen Strukturantagonismen stützt, kann es auch keine echten Konflikdösungen geben. Sofern diese eine Beseitigung der aus „sozialen Strukturen herauswachsende^) Gegensätze" zur Voraussetzung haben, sind sie theoretisch unmittelbar an die Bedingungen sozialen Wandels geknüpft (Dahrendorf 1961, S. 227). Theorieimmanent ist diese Schlussfolgerung nur logisch, empirisch dagegen widerspricht sie der Realität (so auch Bühl 1972, S. 14; Wagner 1978, S. 138 f.). In diesem Zusammenhang rückt zuletzt auch die Theorie sozialen Wandels in den Blick, die angesichts solcher Konsequenzen in arge Bedrängnis gerät. Denn ausgehend von den Merkmalszuschreibungen von Herrschaft, mit denen Dahrendorf den geschichtsphilosophischen Dogmatismus bei Marx zu überwinden versucht, mündet die Theorie ihrerseits in einen logischen Historizismus, der sich kaum weniger schwer durchhalten lässt.30 Letztlich gewinnt die Konflikttheorie damit dieselbe dogmatische Starrheit, die sie Parsons zum Vorwurf macht. Im Unterschied zu Dahrendorf ist Coser weniger am gesellschaftlichen Strukturinventar interessiert, sondern - im Anschluss an Simmel - mehr an der Vergesellschaftungsfunktion sozialer Konflikte. Gemäß der These, dass dem Konflikt eine assoziative bzw. sozialisatorische Kraft innewohnt, hat Coser die Simmekchtn Analysen mit Schwerpunkt auf die positiven Konfliktfunktionen reinterpretiert. Coser macht deutlich, dass der Konflikt die innere Anpassung der Gruppe, das heißt ihre Sozialstruktur stabilisiert. Konflikt, verstanden als die manifeste Auseinandersetzung mit Widersprüchen und Interessen, könne auf diese Weise das Gruppenbewusstsein stärken, Abwanderungstendenzen vorbeugen helfen und Grenzziehungen nach außen erleichtern. Die Vielzahl einander sich überschneidender Antagonismen verhindere die Zuspitzung auf eine dominante Konfliktstruktur und damit riskante Polarisierung. Vor diesem Hintergrund hat Coser die

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Eben darauf bezogen hat Dahrendorf in jüngeren Publikationen auch Konzessionen gemacht: Mit der Herausbildung einer breiten Mehrheitsklasse in der modernen Gesellschaft hätte sich der gesellschaftspolitisch grundlegende Herrschaftsantagonismus in neuerer Zeit spürbar modifiziert. ,Der moderne soziale Konflikt' - so der Autor im gleichnamigen Buch - entfalte sich nunmehr aus dem Antagonismus von Anrecht und Angebot und verlaufe vorwiegend zwischen fordernden und saturierten gesellschaftlichen Gruppen. Die zentralen Herausforderungen unserer Zeit ließen sich durch ein herkömmliches Herr/ Knecht-Schema nicht mehr zureichend fassen. Vielmehr werde die moderne Gesellschaft von innen heraus durch totalitäre bzw. fundamentalistische Ideologien bedroht; vgl. dazu näher Dahrendorf 1992; 1996. Der soziale Konflikt wandelt sich demnach mit der Gesellschaftsstruktur; nur: es bleibt unklar, was dann wiederum zum gesellschafdichen Strukturwandel führt.

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These vom umgekehrten Verhältnis zwischen Konflikthäufigkeit und Konfliktintensität formuliert: Demnach werde die innere Stabilität einer Gruppe in dem Maße bedroht, wie sie aktive Konfliktaustragung scheue und die Entwicklung einer ausgereiften Konfliktkultur dadurch blockiert (vgl. Coser 1965, S. 82). Wer konstruktive Auseinandersetzungen meide, erhöhe das Risiko der Konflikteskalation, weil notwendige Problemlösungsmechanismen nicht früh genug greifen. Lose bzw. ,offen' strukturierte Gruppen, deren Kennzeichen eine erhöhte Konfliktbereitschaft ist, könnte sich demgegenüber wesentlich leichter ihren Fortbestand sichern. Auf diese Weise könne die Gruppe ihre Anpassung nach außen an eine sich ständig wandelnde Umwelt kontinuierlich erhöhen, nach innen dagegen die Desintegration und Atomisierung der Gruppe vermeiden, sofern jeder Konflikt gruppenintern fordaufend neue und sich überkreuzende Koalitionen hervorbringt. Wie diese Skizze in Ansätzen zeigt, verfolgt Coser gegenüber der Dahrendorfs,chen Konfliktanalyse eine diametral entgegengesetzte Intention. Während dieser gesellschaftliche Strukturpostulate als Ausgangspunkt wählt, denkt Coser ausgehend von einer Prozesstypik des Konflikts, um damit Strukturbildung zu erklären. Im Vergleich sind die induktiv gearbeiteten Konfliktanalysen erkennbar flexibler, weil sie in einem geringeren Umfang von theoretischen Setzungen abhängig sind. Demgegenüber legen sich deduktive Konfliktanalysen auf Struktureigenschaften fest, die den Phänomenbereich von vornherein restringieren. Während Dahrendorf eine große Anzahl von Konflikttypen aus der Analyse ausschließen muss, ist dies bei Coser nicht zwingend. Es besteht Grund für die Annahme, dass es in verschiedener Hinsicht angemessener ist, Strukturen aus Prozessen zu erklären anstatt umgekehrt zu verfahren.31 Ähnliche Überlegungen gelten auch für die Unterscheidung von Ursache und Konflikt. Die Aporien des Dahrendorßchen Ansatzes, die sich aus der Gleichsetzung von Konflikt und Herrschaftsstrukturen ergeben, haben wir ausfuhrlich diskutiert. Aber auch Simmel hatte auf nicht unproblematische Weise zwischen Konflikt und Konfliktursachen unterschieden, den Konflikt zwar als Abhilfebewegung auf den ,auseinanderführenden Dualismus' definiert, den .Dualismus' selbst aber aus anthropologischen Konstanten erklärt. Darauf bezogen hat Coser mit der Feststellung reagiert, dass Persönlichkeit und Sozialsystem nicht umstandslos kongruieren:

Als Beleg mag hier die Feststellung genügen, dass auch die induktiv an Funktionen geschulte Konfliktanalyse durchaus zur Theorie sozialen Wandels beitragen kann, vgl. dazu näher die Analysen in Coser 1967, insbesondere die Kapitel .Social Conflict and the Theory of Social Change' (S. 17-35), ,Karl Marx and Contemporary Sociology' (S. 137-151) und schließlich auch: .Durkheim's Conservatism and Its Implications for Sociolocical Theory' (S. 153-180).

28 „Ungleiche Verteilung von Privilegien und Rechten mag feindliche Gefühle hervorrufen, aber sie führt nicht notwendig zum Konflikt. Eine Unterscheidung zwischen Konflikt und feindseligen Gefühlen ist nötig und wesentlich. Konflikt im Unterschied zu feindseliger Haltung oder entsprechenden Gefühlen findet immer in der Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen statt. Feindselige Haltung ist eine Voraussetzung dafür, einen Konflikt einzugehen; Konflikt dagegen ist immer eine ,'Trans-Aktion'." (Coser 1965, S. 41)

Mit dieser Feststellung wendet sich Coser einerseits gegen Simmek Konfliktanthropologie, gleichzeitig aber auch gegen Dahrendorfs, Strukturdeterminismus: Weder erschöpfe sich der Konflikt in seinen sozialstrukturellen, noch in seinen persönlichen Aspekten; vielmehr bezeichneten die gesellschaftlichen Struktureigenschaften (etwa: Herrschaft) bzw. die individuellen Idiosynkrasien (etwa: apriorischer Kampfesinstinkt) allenfalls nur den äußeren Rahmen, der das Auftreten sozialer Konflikte begünstigt. Über den Konflikt selbst lassen sich damit aber noch keine Aussagen treffen. Das kausalwissenschaftliche Konzept der Konflikttheorie ist daher mit Vorbehalt zu betrachten. Was bei Simmel als unzulässige Diffundierung personaler und sozialer Systeme erscheint (Feindseligkeit verursacht Dissoziation und diese wiederum den sozialen Konflikt), kehrt auf anderer Ebene in Gestalt der Beziehung zwischen Gesellschaftsstruktur und Konflikt bei Dahrendorf wieder (Herrschaft verursacht Dissoziation und diese Konflikt). Im Hinblick auf den Konflikt reduziert sich der Unterschied zwischen beiden auf eine kausal gegenläufige Linearität in der Beziehung von Individuum und Struktur. Als Zwischenresümee halten wir zunächst an der Einsicht fest, dass ein Konflikt mehr ist als nur Ausdruck einer konfliktauslösenden Situation.

Konfliktsoziologische Bifurkationen Neben den Studien von Dahrendorf und Coser sind aus den Analysen der späten 50er Jahre und der frühen 60er Jahre noch zahlreiche weitere Konfliktmodelle vorgelegt worden 32 - allerdings um den Preis, dass zwischen ihnen kaum noch ein gemeinsamer analytischer Nenner auffindbar ist. Bezeichnend für diesen Sachstand sind etwa die vielfaltigen Konflikttypologien und Klassifikationsversuche33, an denen sich die ganze Variationsbreite konflikttheoretischer Bezugsge-

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Vgl. etwa Gluckman 1956; Bernard 1957b; Boulding 1957; Coleman 1957; Mack/ Snyder 1957; LeVine 1961; Galtung 1964; Holsti/ North 1965. Als repräsentative Auswahl teilweise sehr heterogener Klassifizierungsvorschläge vgl. nur Bernard 1957, S. 35 ff.; Dahrendorf 1961, S. 206; Boulding 1962b, S. 213; Galtung 1972, S. 114; Bühl 1972, S. 37; Brinkmann 1973, S. 81; Rapoport 1974, S. 214 ff.; Deutsch 1985b, S. 78; Grimshaw 1990, S. 292; Giesen 1993, S. 110 bzw. S. 1 1 1 ; für einen früheren Überblick mit ähnlichen Einschätzungen, vgl. Krysmanski 1971, S. 10 ff.

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sichtspunkte gut ablesen lässt: Ausgehend von unterschiedlichen Prämissen der Theorie werden unterschiedliche Relevanzen betont, die von einer bis heute durchgängigen Heuristik in der Konfliktforschung zeugen. Was den konflikttheoretischen Forschungsstand bis in die aktuelle Gegenwart hinein auszeichnet, ist eine zunehmende Ausdifferenzierung einzelner Forschungszweige ohne theoretische Identität. Für einen - hier nur sehr skizzenhaften - Uberblick werden nachfolgend fünf repräsentative Ansätze der Konflikttheorie in ihren Grundlinien skizziert. (1) Strukturtheoretische Konfliktmodelle konzentrieren sich analytisch auf universell gültige Beziehungsmuster zwischen sozialen Akteuren. Der Strukturbegriff fungiert dabei als ein analytisches Konzept auf der Basis unabhängiger Variablen, von denen man annimmt, dass sie das Handeln anfällig machen für unterschiedliche Formen von Konflikt und Gewalt. Demnach sind es ,Strukturen', die auf unterschiedlichen Ebenen der Handlung das soziale Geschehen organisieren. Wenn beispielsweise Individuen oder Gruppen dieselben Positionen innerhalb einer Sozialstruktur teilen, dann werden ihre Interessen bis zu einem gewissen Grade gleichläufig sein und sich von den Interessen anderer Positionen in der Sozialstruktur unterscheiden. Talcott Parsons ging von der Annahme aus, dass die Interaktionen sozialer Akteure einem normativen System von Wertorientierungen folgen. Dieser Ansicht zufolge werden die gesellschaftlichen Wertorientierungen vom Persönlichkeitssystem in konkrete Erwartungsstrukturen transformiert, wo sie sich individuell als Bedürfnisdisposition artikulieren (so etwa Parsons 1951, S. 249 ff.). Auf Grund verschiedener Rollenanforderungen können die Erwartungsstrukturen personaler und sozialer Systeme einander jedoch widersprechen. In kritischer Distanzierung zu Marx hatte Parsons eine strukturell differenziertere Sichtweise des Klassenbegriffs favorisiert, die er mit Annahmen über ein allgemeines Schichtungssystem und speziell mit Berufsrollenstrukturen verknüpfte. Auf dieser Grundlage ließ sich die rigide Polarität des Marx,sehen Klassenbegriffs leichter in verschiedene Einzelkomponenten dekomponieren und flexibler gestalten (vgl. Parsons 1949b). Ferner ging Parsons von der Annahme aus, dass sich die systemischen Grenzen der Abweichungs- und Enttäuschungsabwicklung eher variabel denn statisch erweisen. Mit Blick auf die Stabilität sozialer Systeme seien Konflikte von vornherein keineswegs ausgeschlossen, in ihren Konsequenzen für den systemischen Weiterbestand aber eher von einer nur untergeordneten Bedeutung.34

Ein längeres Zitat mag stellvertretend für weitere Analysen den Kern der systemtheoretischen Argumentation zu diesem Komplex verdeutlichen. Mit Bezug auf das System der Wertorientierung schreiben Parsons und Shils: "The functional inevitability of imperfections of value in-

30 Im Hinblick auf den Konflikt hatte Robert Κ Merton demgegenüber weitaus dezidierter und schärfer auf die stimulierende, motivierende und kontrollierende Kraft sozialer Strukturen verwiesen und darauf bezogen mit Analysen zur Konformität und Abweichung von institutionellen Erwartungen reagiert (Merton 1957, S. 121 ff.). Merton wertete soziale ,Nonkonformität' als Ergebnis des Auseinanderfallens kulturell präferierter Handlungsmotive und diesbezüglich beschränkter Verwirklichungschancen. Sofern Kultur und Sozialstruktur weder umfassend noch durchgängig kongruierten, fielen insbesondere die niedrigen Schichten diesem Strukturantagonismus zum Opfer: Einerseits werde von ihnen Streben nach Wohlstand erwartet (= Kultur), andererseits fänden sie die Wege dorthin verbaut (= Sozialstruktur). Während die kulturell definierten Ziele keine Schichtgrenzen kennen, markiert die Sozialstruktur schichtspezifisch deutliche Unterschiede in den Möglichkeiten ihrer Zielrealisation. In dieser Perspektive erscheinen Konflikt und Anomie primär als Folge eines Strukturwiderspruchs, der einerseits Erwartungen weckt, andererseits gleichzeitig die dazugehörigen Enttäuschungen mitproduziert. Im Hinblick auf den Konflikt legen strukturtheoretische Analysen ihren Schwerpunkt insbesondere auf Phänomene sozialer Desintegration. Ausmaß und Intensität desintegrativer Prozesse werden dabei als ein Produkt strukturell inkompatibler Erwartungsstrukturen interpretiert. Auf dieser Abstraktionsstufe unterscheiden sich die Analysen von Parsons und Dahrendorf allenfalls danach, ob sich das Interesse mehr auf Fragen der Sozial- oder Systemintegration konzentriert. In beiden Ansätzen erscheint der Konflikt als ein Gradmesser der Komplementarität personaler, sozialer und kultureller Austauschbeziehungen, von denen man annimmt, dass sie die sozialen Konfliktphänomene kausal determinieren. 35

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tegration in the social system does not, as we have seen, necessarily destroy the system, because a set of mechanisms, which are homologous with the mechanisms of defense in the personality, limit the disintegratedness and confine its repercussions. (...) Just as in the personality certain defense mechanisms keep dangerous impulses below the level of consciousness, thus keeping down the level of anxiety and conflict, so in the social system certain accommodative mechanisms permit contradictory patterns to coexist by allocating them to different situations and groups within the society. (...) Social Systems (...) must be able to accept compromises and accommodations, tolerating many actions which from the point of view of their own dominant values are wrong. The failure to do so precipitates rebellion and withdrawal and endangers the continuation of the system even at the level of integration which it has hitherto achieved", vgl. Parsons/ Shils 1962, S. 179; daran anschließend ferner Loomis 1960; Bertrand 1963. Eine solche Konfliktsicht wurde dann beispielsweise von Smelser weiter verfolgt: Strukturbedingte Konflikte sind Auslöser manifesten Konflikthandelns, das durch Strukturwandel überwunden werden kann. Kernstück der Theorie ist ein siebenstufiges Modell sozialen Wandels, das zeigt, wie Strukturungleichgewichte über manifeste Konflikte eine Reorganisation struktureller Ressourcen bewirken; vgl. näher Smelser 1959; 1962.

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(2) Interaktionsanalytische Konfliktmodelle verfolgen gegenüber den strukturtheoretischen Konfliktmodellen einen entgegengesetzten Weg. Grundlage der Analyse sind hier weniger die ,Großstrukturen' des Gesellschaftssystems, als vielmehr die konkreten Konfliktinteraktionen im Rahmen einer gegebenen sozialen Situation. Als prototypischen Vertreter einer interaktionistischen Konfliktsoziologie ziehen wir Irving Goffman zu Rate. Bei ihm findet sich zwar keine explizit ausformulierte Konflikttheorie, jedoch sind seine Untersuchungsinteressen häufig um solche Merkmalseigenschaften der Interaktion gruppiert, für die ein antagonistischer, krisenhafter, zumindest aber problematischer Grundzug wesentlich ist.36 Goffmans theoretischer Ausgangspunkt liegt in der Annahme begründet, dass soziale Realität nicht sui generis existiert, sondern von spezifischen Wahrnehmungsmodalitäten und Beobachterstandpunkten abhängt.37 In diesem Sinne ist jede Interaktion lebhafter Ausdruck einer individuellen Orientierung in einer beobachterabhängigen Realität. Das soziale Verhalten macht auf indexikalische Weise gleichsam das zugehörige Wirklichkeitsverständnis für andere sichtbar. Es kulminiert in einer Sinngebungsfunktion, mit der Individuen die Kontingenz ihrer Austauschbeziehungen strukturieren. Konflikte entstehen dieser Auffassung zufolge immer dann, wenn man die Routinen, Handlungsrichtlinien und Regeln missachtet, die für den anderen maßgeblich sind. In diesem Sinne haben Handlungen indikatorische Verweisqualität. Sie sagen etwas über die Beziehung des Handelnden zum Regelsystem aus, an dem sich die Sinngebung der Handlung orientiert. Uber diese allgemeine Perspektive hinaus sind Goffmans Interaktionsanalysen in wenigstens zwei Hinsichten für die vorliegende Thematik bedeutsam. Im ersten Fall handelt es sich um das Konzept des character contest, das vor allem die Bedeutung individueller Selbstrepräsentationen (vgl. Goffman 1959) hervorhebt. Im sozialen Austausch, so Goffman, ist es für die Beteiligten notwendig und wichtig, dass sie sich selbst und anderen gegenüber mit konsistenten Charaktereigenschaften präsentieren. Zuweilen sind die Bedingungen dafür aber so, dass dies zwangsläufig zu Lasten anderer geht. Der andere erlebt ein Verhalten in Bezug auf die Grenzen seiner Selbstrepräsentation als bedrohlich. In dieser Situation entstehen Konflikte vorwiegend dann, wenn die eine Seite eine Regel

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In Goffmans Studien dient der Konflikt primär als analytisches Mittel zum theoretischen Zweck, sofern die unterschwellig wirksamen Ordnungsgrundlagen des Sozialen immer dann besonders greifbar zu Tage treten, wenn man dagegen verstößt bzw. angesichts ihrer Anforderungen versagt; für einen frühen Versuch im Hinblick auf .Versager', vgl. Goffman 1952. Vgl. dazu ausführlicher die einleitenden Überlegungen in Goffman 1977, S. 9 ff., mit denen sich Goffman auf eine längere Ahnenreihe konstruktivistischer Vordenker bezieht (insbesondere auf William James und Alfred Schütz) und sich selbst in dieser Denktradition verortet.

32 verletzt, det sich die andere Seite moralisch verpflichtet fühlt.38 Die aus dem character contest herauswachsenden Problemkonstellationen verdeutlichen insbesondere den gesichts- und identitätsbedrohenden Charakter des Konflikts. Im zweiten Fall analysiert Goffman die Bedingungen für die Absicherung sozialer Konformität. Dabei geht er zunächst wiederum von der Annahme aus, dass es Regeln gibt, die eine Handlung entweder als konform oder deviant etikettieren. Grundlegend für die Wirksamkeit solcher Regeln sei das Konzept der Veranwortungsattribution, da ohne diesbezügliches Wissen sich der Charakter sozialer Ereignisse nicht erschließe. Entsprechend sind Annahmen über Motive und Absichten notwendige Voraussetzungen für das Verständnis einer Handlung, „um herauszufinden, in welcher Situation der Akteur sich befand" (Goffman 1982, S. 138 ff., Zitat S. 152). Verantwortungszuschreibungen sind demnach ein wesentlicher Bestandteil der Sinngebungsfunktion im Rahmen von Interaktion und für ihre Charakterisierung unerlässlich. Demzufolge wird auch die gegenseitige Abstimmung wechselseitiger Zuschreibungen schnell zum Problem, soweit der jeweils andere die Richtigkeit bzw. Angemessenheit einer Verantwortungszuschreibung bestreitet. Solche Abstimmungsprozesse hat Goffman insbesondere unter dem Begriff des ,korrektiven Austausches' analysiert. Goffman zeigt auf, dass zahlreiche Regelwidrigkeiten der Interaktion unter Zuhilfenahme konventioneller Erklärungen leicht ausgeräumt werden können: Was zunächst als deviantes und damit auch als konfliktauslösendes Verhalten erscheint (ein Rempler zum Beispiel), kann durch eine knappe Entschuldigung wiedergutgemacht werden. Die bedrohte Beziehungssymmetrie wird dadurch wieder hergestellt. Der korrektive Austausch verspricht insbesondere dann erfolgreich zu sein, wenn deutlich gemacht werden kann, dass die Abweichung keine Änderung der Zuteilung von Rechten intendiert, sondern eine einmalige und begründete Ausnahme von der Regel darstellt, an die man sich auch weiterhin halten möchte.39 Goffmans Analysen stellen auf diese Weise klar, dass Konflikte in wesentlichen Aspekten Zurechnungskonflikte sind, die sich um das Problem der Verantwortlichkeit für regelverletzendes Verhalten zentrieren. Wenn in Situationen diesen Typs kein korrektiver Austausch stattfindet bzw. kein Konsens über Verantwortlichkeit hergestellt werden kann, ist die

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Näher zur Struktur und Bedeutung des 'character contest': Goffman 1967, S. 239 ff.; mit daran anschließenden Überlegungen, vgl. Rawls 1989; Malone 1994. Der ,Rempler' macht also keine Überlegenheitsansprüche in Bezug auf den anderen geltend, vielmehr wird in Verbindung mit einer Entschuldigung der bloß versehentliche Charakter eines Verhaltens kenntlich gemacht, vgl. Goffman 1982, S. 227. Neben den hier skizzierten, für das interaktionistische Konfliktverständnis unmittelbar bedeutsamen Analysen bleiben andere Untersuchungsaspekte in diesem knappen Uberblick unerwähnt, wie z.B. Fragen des instrumen-tellen, strategischen und täuschenden Verhaltens.

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Fortfuhrung und Weiterentwicklung einer Konfliktsituation beinahe unvermeidlich. (3) Spiel- und entscheidungstheoretische Konfliktmodelle beruhen auf formal operationalisierbaren Annahmen und Schlussfolgerungen über Entscheidungen und Verhalten im Konflikt. Dabei handelt es sich um Beschreibungsversuche der findenden Kräfte' in überwiegend modellhaften Konfliktsituationen, die auf der Basis mathematischer Differenzialgleichungen Vorhersagen über die Prozesseigenschaften realer Konfliktsituationen zu machen versuchen. Pionierarbeit auf diesem Gebiet wurde u.a. von Lewis Fry Richardson40 geleistet, der mit dem Versuch, eine mathematisch exakte Beschreibung des Wettrüstens bzw. tödlich verlaufender Begegnungen zwischen Menschen zu geben, in dieser Hinsicht wohl am weitesten ging. In beiden Anwendungsfeldern versuchte er Fixpunkte zu identifizieren, die angeben, unter welchen Bedingungen die Qualität der Prozesseigenschaften von Konfliktabläufen ,kippt'. Richardson versuchte beispielsweise die formalen Bedingungen für stabile (aber auch für instabile) Gleichgewichtspunkte (balance ofpower bzw. balance of hostility) anzugeben, jenseits derer die Feindseligkeit soweit in die Höhe klettert, bis ein System im Konflikt zusammenbricht bzw. kapituliert oder das Gesamtsystem sich auf andere Weise reorganisiert. Allerdings wurde der Erkenntnisgehalt dieser Studien öfters in Zweifel gezogen: Den Kritiken zufolge liegen die hauptsächlichen Schwierigkeiten bei der formalen Modellierung von Prozesseigenschaften vor allem in der präzisen Bestimmung valider Gleichungsparameter, deren Ableitung - wie etwa die Variable ,Feindseligkeit' im Falle des Wettrüstens zwischen Nationen - theoretisch verschieden begründet und entsprechend unterschiedlich operationalisiert werden kann.41 Vor diesem Hintergrund hatte Anatol Rapoport (1976) eine Konflikttypologie eingeführt, die zwischen Kämpfen, Spielen und Debatten unterscheidet. Jede Konfliktart besitzt demnach ihre eigene Charakteristik entsprechend den Kontrollmöglichkeiten hinsichtlich des eigenen und fremden Verhaltens. Charakteristisch für Kämpfe ist beispielsweise, dass die Möglichkeiten gegenseitiger Kontrolle und Beeinflussung tendenziell rasch weniger werden. Die erhobene Faust lässt dem anderen nur noch im begrenzten Umfang Reaktionsmöglichkeiten offen. Kampfsituationen enthalten sowohl Beschleunigungs- wie auch Verzögerungsparameter, die sich als mathematische Gleichung ausdrücken lassen und Aufschluss über kritische Schwellenwerte reziproker Handlungen geben. Demgegenüber konzentriert sich das Konfliktverhalten in Spielen weniger auf den jeweiligen Gegner als auf den Wunsch, in regelgeleiteten Situationen möglichst 40 41

Vgl. näher die beiden posthum herausgegebenen Hauptwerke: Richardson 1960a; 1960b. So z.B. Rapoport 1957; 1966, S. 265 ff.; ferner Boulding 1962, S. 35 ff.; in abgeschwächter Form auch Senghaas 1969, S. 43 f.

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optimale Ergebnisse zu erzielen - wobei die Spielergebnisse ebenso von der eigenen Strategie wie von der eines Gegenspielers abhängig sind. Resultate lassen sich auf Grund der eingeschränkten Zwangsmittel jeweils nur bedingt kontrollieren. Nullsummenspiele, in denen der Gewinn des einen der Verlust des anderen ist, haben nach Rapoport,reale' Entsprechungen in den Varianten des Denkens in Kategorien des Kalten Krieges, deren Logik und Strategie sich im Allgemeinen auf die Annahme konstanter Gewinn/ Verlust-Beziehungen stützt. Davon verschieden wiederum sind schließlich Konfliktsituationen, in denen ein Gegner zur Umkehr seiner Anschauungen bewegt werden soll, wie es hauptsächlich in Diskussionen bzw. Debatten der Fall ist. Nach Rapoport beruht der Erfolg von Debatten auf wenigstens drei Komponenten wechselseitigen Uberzeugens: Maßgeblich dafür sei zum einen die Fähigkeit des Verstehens der gegnerischen Positionen, ferner das Aufzeigen von Grenzen für deren Geltungsbereich, und drittens schließlich die Herbeiführung von Verständnis für die eigene Position. Unter Formaüsierungsgesichtspunkten wurden von den hier aufgeführten Konflikttypen in der Folgezeit insbesondere die spieltheoretischen Varianten weitergeführt.42 Im Gegensatz zu Kämpfen und Debatten lassen sich spieltheoretische Strategien auf relativ unkomplizierte Weise kontextfrei modellieren. Während Kämpfe eher von affektgeladenen Komponenten, Debatten dagegen mehr von ideologischen Aspekten getragen werden, können spieltheoretische Analysen sich auf die rein rationalen Aspekte des Entscheidungsverhaltens beschränken.43 Spieltheoretische Konfliktverläufe werden häufig auf Grund einer binär strukturierten Entscheidungsoption konditioniert, die einem Spieler nur begrenzte Wahlmöglichkeiten des Entscheidens lässt (z.B. die Wahl zwischen Kooperation und Defektion bzw. Konflikt). Dabei wird angenommen, dass beide Seiten auf der Grundlage rationaler Nutzenerwägungen um optimale Ergebnisse konkurrieren. Im Allgemeinen zwingt die Entscheidungsstruktur die betreffenden Spieler zwischen Strategien mit einem hohen Nutzen (zugleich aber hohem Verlustrisiko) und niedrigem Nutzen (mit entsprechend geringem Verlustrisiko) zu wählen.

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Die bis heute prominenteste spieltheoretische Variante ist das 1950 von Merrill Flood und Melvin Dresher entwickelte Gefangenendilemma. In der Ausblendung affektiver und ideologischer Einflussfaktoren liegt dann allerdings auch eine grundlegende Schwäche, die eine Übertragbarkeit spieltheoretischer Modelle auf reale, komplexe und mit gemischten Motiven strukturierte Konfliktsituationen fragwürdig macht. Rapoport hat dieses Problem deutlich gesehen und mehrfach hervorgehoben, dass viele, wenn nicht die meisten Konfliktsituationen auf affektiv, rational und ideologisch übereinandergelagerten Impulsen aufbauen, vgl. Rapoport 1974, S. 224 f.; mit denselben Argumenten auch Boulding 1962, S. 57.

35 Dabei hängt die kalkulierte Größe des Verlustrisikos von den Kon troll- und Durchsetzungsmöglichkeiten gegenüber den Mitspielern ab.44 Gleichstarke Spieler stehen deshalb vor der Entscheidung, ob sie eher konkurrierende Strategien (mit hohem Nutzen und Verlustrisiko) oder kooperative Strategien (mit geringerem Nutzen und Verlustrisiko) wählen. Da die Spielregeln unter Laborbedingungen problemlos variiert werden können, fördern spieltheoretische Analysen die Logiken einer rationalen Konfliktstrategie besonders deutlich zu Tage. 45 Bei allen Variationsmöglichkeiten bleibt zu bedenken, dass für die spieltheoretischen Annahmen ein erheblicher Zwang zur Vereinfachung ihrer Problemstellungen wesentlich ist. Dabei werden die Gewinn- und Verlusterwartungen in die Form numerischer Werte gezwängt, die sich in realen Konfliktsituationen eher selten in dieser Form vorhersagen lassen - dies umso mehr, wenn man die Annahme fallen lässt, dass sich ein Spieler rational nach Maßgabe strategischer Optionen verhält.46 Das Paradox formalistischer Konfliktmodelle besteht letztlich darin, dass sie Fragen aufwerfen, deren Beantwortung jenseits der Reichweite und Geltung ihrer Modellannahmen liegt.47 Die rigide Verkopplung gemessener Variablen muss demnach erst wieder entkoppelt (ambiguisiert) werden, um komplexere Modellvorstellungen entwickeln zu können. Vergleichbare Argumente gelten in Bezug auf die Formalismen des Wettrüstens und der Abschrekkungstheoreme.48 Festgehalten zu werden verdient aber, dass spieltheoretische Annahmen immer wieder auf die andere Seite einer Unterscheidung verweisen, nämlich auf Kooperation. Aus spieltheoretischer Sicht erscheint der Konflikt primär als eine aus Nutzengesichtspunkten heraus abgelehnte Kooperation.

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Vgl. etwa die Darstellung spieltheoretischer Entscheidungssituationen bei Luce/ Raiffa 1957, S. 1: "An individual is in a situation from which one of several possible outcomes will result and with respect to which he has certain personal preferences. However, though he may have some control over the variables which determine the outcome, he does not have full control. Sometimes this is in the hands of several individuals who, like him, have preferences among the possible outcome, but who in general do not agree in their preferences." Vgl. neben den bereits zitierten Arbeiten Rapoports auch Boulding 1962, S. 41 ff.; ferner Deutsch 1973; Dornette/ Pulkowski 1974; Jones 1980; Coombs/ Avrunin 1988, S. 142 ff., mit dem Versuch, die restriktiven Annahmen spieltheoretischer Konfliktmodelle durch realitätsnähere Annahmen zu ersetzen. Vgl. kritisch auch Giesen 1993, S. 116 f.; Axelrod 1988, S. 120, weist überdies darauf hin, dass mitunter schon eine geringfügige Veränderung in der Auszahlungsmatrix die Interaktionen von Konkurrenz in Kooperation umkippen lässt. So argumentiert beispielsweise Rapoport 1970, S. 41, der meint, dass der eigentliche Nutzen spieltheoretischer Modelle mehr in der Illumination konflikttheoretischer Fragen als in deren Antworten liege; dazu auch Snyder 1963; Druckman 1993, S. 26. Für zusammenfassende Diskussionen, vgl. etwa Mesquita 1980, S. 386 ff. bzw. 390 ff. sowie mit Akzent auf Kommunikation Sawyer/ Guetzkow 1965, S. 511 ff.

36 (4) Sovgalpsychologische Konfliktmodelle operieren an den Übergängen zwischen Psychologie und Soziologie und besetzen eine analytische Schnittstelle in der Individuum/ Gesellschaft-Dimension. In dem so verstandenen Sinne wurzeln sozialpsychologische Forschungen in einer phänomenologisch bzw. interpretativ orientierten Theorietradition. Dieser zufolge erzeugt das subjektive Erleben eine beobachtungsabhängige Realität, nach der sich das individuelle Verhalten maßgeblich richtet. Von den individuellen Strukturen der Erlebnisverarbeitung hängen letztlich auch diejenigen Einschätzungen und Ansichten ab, die man sich von sich selbst und den anderen macht. Aus den wahrgenommenen Eigenschaften von Person und Situation resultieren schließlich die Taktiken und Strategien, die typische Verhaltensweisen im Konflikt stimulieren. In sozialpsychologischer Perspektive ist der Konflikt wesentlich ein Produkt der sozialen Kategorisierung und vornehmlich auf Wahrnehmungen bzw. auf Interpretationen von Wahrnehmungen bezogen.49 Sozialpsychologische Konfliktanalysen stehen in einer sehr umfassenden und ertragreichen Forschungstradition (Deutsch 1990). Diese hat insbesondere aus den Arbeiten von Morton Deutsch vielfältige Anregungen erfahren, die den phänomenologischen Zuschnitt seiner Disziplin besonders anschaulich repräsentieren. Die Quintessenz seiner Forschungen hat Deutsch in 'Deutsch's crudi law of sodai relations' zusammengefasst. Es besagt, dass "the characteristic processes and effects elicited by a given type of social relationship also tend to elicit that type of social relationship" (Deutsch 1985, S. 69). Der Kern dieser Hypothese spielt auf die Erkenntnis an, dass individuelle und situative Merkmalseigenschaften tendenziell kongruieren. Individuen präferieren demzufolge solche Situationswahrnehmungen und Interpretationen, die ihren Dispositionen (wie immer diese auch beschaffen sein mögen) nicht widersprechen. Wer beispielsweise eine Situation als problematisch erlebt, die ihm zugleich unveränderlich bzw. unvermeidlich erscheint, der wird seine Wahrnehmungen und Interpretationen dieser Situation anzupassen versuchen. Den sozialpsychologischen Befunden zufolge sind Konflikte durch eine wechselseitige Beeinflussung interner Zustände und externer Situationen geprägt. Sie kennzeichnen einen Spannungszustand personaler und sozialer Identitäten.

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So beispielsweise Kruglanski/ Bar-Tal/ Klar 1993; vgl. ferner Fisher 1990, S. 7: "The interplay between interaction and the subjective side of conflict is therefore paramount to understanding the phenomenon. How parties perceive and interprete each other's actions will be a prime determinant of how they will respond and thereby of how the conflict interaction will unfold." Die Nähe dieses Ansatzes zu den Grundlagen einer interaktionistisch geprägten Konfliktsoziologie ist unmittelbar evident.

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Darauf bezogen hatte Deutsch die Mechanik solcher Spannungszustände analysiert und zwei grundsätzliche Strukturmuster sozialer Beziehungen unterschieden. Ein kooperatives Beziehungsmuster zeichnet sich durch Verhaltenseigenschaften aus, welche die wahrgenommene Gleichheit in Glaubens- und Verhaltensfragen betonen, Vertrauen und Hilfsbereitschaft fördern, für Kommunikationen offen sind und sich an einem gegenseitigen Machtzuwachs orientieren. Kompetitive (bzw. defektive oder konfligierende) Beziehungsmuster sind entsprechend durch gegenteilige Verhaltensweisen geprägt.50 Die Interaktion im Konflikt wird nach Deutsch wesentlich davon bestimmt, welches Beziehungsmuster die Situation dominiert: Kooperative Beziehungsmuster lassen eher konstruktive Strategien der Konfliktbewältigung erwarten, während kompetitive Beziehungsmuster charakteristisch für Konflikteskalationen sind und sozial destruktive Effekte bewirken. Wenn Konflikte eskalieren, weisen sie im Allgemeinen solche Verhaltensorientierungen auf, in denen leichte durch schwere, begrenzte durch umfassende bzw. kooperative durch kompetitive Strategien ausgetauscht werden. Diesbezügliche Forschungen sind mitderweile so weit fortgeschritten, dass auf ihrer Grundlagerealitätsnah konfigurierte Modellbildungen möglich sind.51 Dabei geht es keineswegs nur um einfache Aggressor/ Defender-Modelle (die sich vornehmlich zur Kennzeichnung konfliktauslösender Situationen eignen), sondern um komplex angelegte Strukturmodelle, die zeigen, wie die individuelle Wahrnehmung der Interaktion den Konfliktablauf qualitativ einschneidend verändert: Nicht was die Situation objektiv ist, sondern wie man sie subjektiv wahrnimmt, entscheidet über den Verlauf des Konflikts. (5) Soziologische Konflikttheorien schließlich treten als eigenständiger Theorietypus eher selten hervor. In der Nachfolge von Dahrendorf und Coser sind vor allem zwei Monographien bekannter geworden. Mitte der 70er Jahre hat Randall Collins eine weitreichende Gleichsetzung von Konflikttheorie und soziologischer Ge-

Die Herleitung kooperativer bzw. kompetitiver Beziehungsmuster geschieht im Rahmen eines Vierfelder-Modells, dass hohe vs. niedrige Verhaltensorientierung an der eigenen vs. an der anderen Person kombiniert: Kooperation entspricht einer hohen Orientierung an der eigenen und an der anderen Person, während Competition ein Verhalten bezeichnet, das sich im hohen Maße an sich selbst und nur im geringen Maße am anderen orientiert; die umgekehrte Variante, dass sich das Verhalten im hohen Maße am anderen und in nur geringem Maße an sich selbst orientiert, deutet im Konfliktfall auf einseitige Anpassung (bzw. Unterwerfung) hin, während eine geringe Orientierung an der eigenen und an der anderen Person Konfliktcirw«fli»«gsverhalten stimuliert; vgl. zusammenfassend Deutsch 1991; 1994. Vgl. neben den Forschungen von Deutsch 1983; 1985, über die Schlüsselelemente destruktiver Konfliktabläufe (malignant social processes) vor allem auch Pruitt/ Rubin 1986, S. 89 ff.; ferner Fisher 1993.

38 sellschaftsanalyse vorgeschlagen.52 Makrosoziologisch postuliert der Ansat2 (im Anschluss an Weber und Marx) Herrschaft und Klasse als zentrale Bezugsgesichtspunkte der Analyse (vgl. Collins 1975, S. 38, S. 49 ff. und S. 286 ff.); mikrosoziologisch dagegen werden Herrschaftsphänomene als Aggregatzustände unaufhörlich ablaufender Konfliktsituationen gedacht (ebd., S. 90 ff. bzw. S. 161 ff.; vgl. dazu auch Smelser 1994, S. 32). Die zentrale Prämisse in Collins' Untersuchung lautet, dass Individuen sich deshalb in Konflikten engagieren, weil Zwang in der sozialen Organisation der Gesellschaft endemisch ist und den Einzelnen, um Zwang zu vermeiden, dazu bewegt, seinen Status so weit als möglich zu maximieren.53 Jede Statusmaximierung benötigt spezifische Ressourcen, die man aktivieren können muss und um die man mit anderen konkurriert. Darin liegen laut Collins sämtliche Konfliktpotenziale begründet, die er in Form propositionaler Postulate und Kausalannahmen zu systematisieren sucht. Trotz dieses konzeptionell sehr ansprechenden Versuchs einer Mehrebenentheorie bleiben die Analysen hinter den genuin konflikttheoretischen Erwartungen weit zurück. Collins' Studie erschöpft sich vornehmlich in der Rekonstruktion soziologischer Theorien, deren Einzelkomponenten er dergestalt aufeinander bezieht, dass sie implizit auch als Konflikt interpretiert werden können. Von Konflikt im operativen Wortsinn ist dabei jedoch erst gar nicht die Rede, vielmehr wird der Begriff hier nur als eine Leerformel der Etikettierung gebraucht. Collins macht deutlich, dass für beinahe alle Determinanten sozialer Interaktionen auch ein antagonistisches Potenzial kennzeichnend ist - gerade hierdurch aber wird dieser Ansatz für daran anschließende Unterscheidungsmöglichkeiten wiederum nahezu wertlos. Indem sich die Untersuchung hauptsächlich auf die Votenvgalität konfligierender Interessenswidersprüche konzentriert, bleibt ihr der Konflikt in seiner empirischen Qualität analytisch weitgehend verschlossen.54 Darüber hinaus entsteht das Problem, dass sich Konflikt und Konfliktursache wie schon bei Dahrendorf auf analytisch unreflektierte Weise vermischen. In einem späteren Versuch, das konflikttheoretische Paradigma für Wandlungsprognosen der U.S.-amerikanischen Gesellschaft fruchtbar zu machen, räumt Collins (1993,

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Vgl. Collins 1975, wo es unter anderem (S. 21) heißt "I believe that the only viable path to a comprehensive explanatory sociology is a conflict perspective (...) which grounds explanations in real people pursuing real interests (...) as a matter of fact", (Herv. im Original); ferner ders. 1988, S. 118. Dazu schreibt Collins 1975, S. 59: "For conflict theory, the basic insight is that human beings are sociable but conflict-prone animals. Why is there conflict? Above all else, there is conflict because violent coercion is always a potential resource, and it is a zero-sum sort (...) Every individual maximizes his subjective status according to the resources available to him and to his rivals." Vgl. dazu auch Coser, der in seinem Review-Essay 1975, S. 1509, diesbezüglich von einem theoretischen ,pan-conflict imperialism' spricht: Collins vermische ernsthafte Einsichten mit stumpfsinnigen Tautologien; für eine positivere Einschätzung, vgl. Rössel 1999.

39 S. 300 ff.) ebenfalls ein, dass sich die sozialen Ressourcen der Konfliktmobilisierung weit über das erwartete Maß hinaus gesellschaftlich weiterentwickelt hätten. Innerhalb der amerikanischen Gesellschaft werde das dominante Konfliktmuster (Herrschaft, Klasse) durch zahlreiche weitere Konfliktlinien durchbrochen, die sich in ihren Effekten gegenseitig neutralisierten und deshalb auch nicht zu den theoretisch prognostizierten Umwälzungen führten. Gleichwohl hält Collins an der Behauptung fest, dass die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft in weiten Bereichen immer noch der von Marx herausgearbeiteten Klassenstruktur folge, auch wenn sie sich in dieser Form politisch nicht artikuliert. Von dem Theorievorschlag Collins' unterscheidet sich die von Louis Kriesberg (1973) konzipierte Konfliktsoziologie. Kriesberg möchte einen für alle Konflikttypen gültigen Analyserahmen entwickeln, in dem die als unvereinbar geltenden Zielzustände nicht schon per se (strukturell oder gesellschaftlich) vorausgesetzt sind. Seine Frage, was die Beteiligten glauben macht, dass ihr Handeln unvereinbaren Zielzuständen unterliegt, kennzeichnet Kriesbergs Ansatz als konstruktivistisch.55 Entsprechend sind die Ausführungen Kriesbergs von der Überzeugung getragen, dass ein Konflikt trotz aller Verschiedenheit seiner Erscheinung strukturell identische Merkmale aufweisen müsse. In diesem Zusammenhang unterscheidet Kriesberg fünf Einflussfaktoren, von denen er annimmt, dass sie für die Konfliktentwicklung wesentlich und allgemeingültig seien: An erster Stelle ,awareness', die kategorial den Grad der Bewusstheit einer Unvereinbarkeit in den von den Beteiligten verfolgten Zielen spezifiziert; zweitens ¡intensity \ die den Umfang bzw. die Stärke der Unvereinbarkeit in der Sach- und Sozialdimension misst; mit Regulation' werden drittens die situativen Voraussetzungen erfasst, die Konfliktabläufe konditionieren;,purity' steht viertens für ein Maß der Konfliktintensität und gibt an, ob die Beziehung zwischen den Parteien teilweise, überwiegend oder ausschließlich auf Unvereinbarkeiten beruht; fünftens schließlich bezeichnet ,power inequality ' Varianten eines Macht(un)gleichgewichts, von denen angenommen wird, das sie insbesondere das strategische Konfliktverhalten bestimmen (ebd., S. 4 ff.). Entscheidend hierbei ist, dass Kriesberg die Variablen seiner Analyse eng am Konflikt modelliert. Seine Frage ist nicht: Was verursacht Konflikt?, sondern: Welche Variablen konditionieren seinen Umfang und seine Entwicklung? Von den oben angeführten Einflussfaktoren stellt Kriesberg insbesondere awareness als denjenigen Faktor heraus, der den Konflikt maßgeblich konditioniert. Die Feststellung

Übereinstimmungen zur analytischen Grundhaltung Goffmans, aber auch zur Sozialpsychologie sind unmittelbar evident: Hier wie dort werden die problematischen Annahmen über .objektive' Realität durch die Frage ersetzt, warum Individuen bestimmte ideographische Vorstellungen über Realität für objektiv wirklich erachten.

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,objektiv' unvereinbarer Sachverhalte bleibt irrelevant, solange sie nicht in das subjektive Erleben der Beteiligten dringe oder sonst deren Verhalten bestimmt. Folgerichtig definiert Kriesberg den Konflikt nicht nach Maßgabe objektiver, sondern subjektiver Unvereinbarkeit, und das heißt: als eine von den Wahrnehmungen der betroffenen Parteien abhängige Größe: „Social conflict is a relationship between two or more parties who (...) believe they have incompatible goals" (ebd., S. 17, Herv. von mir, H.M.). Im Gegensatz dazu sind die konfliktsoziologischen Analysen hierzulande weiter dem Ursachendenken - und damit der Annahme einer objektiv gültigen Realität verpflichtet geblieben. So hat beispielsweise Bernd Wagner (1978) eine anthropologische Konflikttheorie aus formuliert, der zufolge die menschlichen Bedürfnisse als elementare Triebkräfte die Ausdifferenzierung sozialer Systeme maßgeblich steuern. Dementsprechend seien die Systemzwecke primär an Bedürfnisdispositionen bzw. an Bedürfnisbefriedigung orientiert. Konflikte entstünden aus verhinderter bzw. unterdrückter Bedürfnisbefriedigung durch ein externes System, was es rechtfertige, von Konflikten zwischen sozialen Systemen zu sprechen56, insbesondere dann, wenn den Betroffenen Bedürfnisunterdrückung weder gerechtfertigt noch notwendig erscheine.57 Abgesehen davon, dass eine erhellende Analyse der begrifflichen Bezüge zwischen Bedürfnis, System und Konflikt nicht überzeugend gelingt, wirft schon die Leitunterscheidung dieses Ansatzes (System) erhebliche Schwierigkeiten auf. So ist zweifelhaft, ob tatsächlich alle Funktionen sozialer Systeme auf Bedürfnisbefriedigung reduziert werden können und ob dies für alle Mitglieder des Systems gleichermaßen zutreffend ist. Nur unter dieser - empirisch eher unwahrscheinlichen - Bedingung könnten die Systemmitglieder ihre Interessen einheitlich nach außen vertreten. Eine dergestalt vereinfachte Beziehung zwischen System und Bedürfnis schließt zudem system interne Konfliktdynamiken schon von vornherein aus. Aus den gleichen Gründen erscheint auch die Annahme wenig realistisch, dass sich Bedürfnisunterdrückung vornehmlich system extern realisiert. Auch hier wird implizit vorausgesetzt, dass soziale Systeme ihr Primärziel ,Bedürfnisbefriedigung' nach innen konfliktfrei organisieren. Ebenso unhaltbar sind schließlich die von Wagner in Bezug auf ein bedürfnisorientiertes Konfliktmanagement formulierten Prämissen, deren oberste Maxime die „tendenzielle Egali-

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Vgl. Wagner 1978, bes. S. 39, S. 129 und passim; für vergleichbare Überlegungen siehe ferner Hondrich 1973; Lederer 1980; Burton 1990 Wagner 1978, S. 247. Erste Aporien dieser Konzeption treten bereits hier schon offen zu Tage: Denn unter welchen Bezugsgesichtspunkten lässt sich entscheiden, wann eine Bedürfnisunterdrückung gerechtfertigt ist? Mit Sicherheit wird das unterdrückende externe System darüber andere Auffassungen hegen als das unterdrückte System.

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sierung der Bedürfnisbefriedigung aller" ist (ebd., S. 278). Mit dieser Behauptung verwandelt sich die Konflikttheorie unter der Hand in eine Wert- bzw. Konsensus-Theorie, in der erst festgestellt werden muss, unter welchen Bedingungen welche Bedürfnisse befriedigt werden können und sollen. Ein substanziell anderer, aber letztlich von am Bedürfnis orientierten Konflikttheorien gar nicht so weit entfernter Ansatz beruht auf der Annahme, dass Individuen ihr Handeln rational an Kosten/ Nutzen-Kalkülen orientieren: ,Je wertvoller die Konsequenzen einer Handlung sind, je wahrscheinlicher die Handlung zur Realisierung der erwünschten Konsequenzen führt, desto wahrscheinlicher ist die entsprechende Handlung." (Weede 1986, S. 9). Auf diesem Grundsatz formuliert Erich Weede eine Wert-Erwartungstheorie, der zufolge Konflikt (a) aus eigennützigem Verhalten, (b) aus den nichtberücksichtigten Folgen des Verhaltens für andere bzw. (c) aus der Knappheit von Gütern und Positionen resultiert (ebd., S. 10). Aus theoretisch fundierten Annahmen über rationales Verhalten werden formale Kalküle deduziert, die eine Ableitung diskreter, nomologischer und empirisch nachprüfbarer Hypothesen ermöglichen sollen (ebd., S. 7; ferner Gurr/ Duval 1976). In diesem Zusammenhang wird unterstellt, dass die Wert/ Erwartungs- bzw. Nutzentheorie nur minimale Rationalitätsannahmen benötigt. Weede nimmt an, dass ein jedes Individuum danach strebt, seinen individuellen Nutzen zu maximieren, was das individuelle Verhalten angeblich leicht vorhersehbar und berechenbar macht. Tatsächlich sind die theoretischen Voraussetzungen, wie Weedes Darstellungen zeigen, jedoch an weit mehr Annahmen über die Eigenschaften sozialer Akteure bzw. sozialer Situationen gebunden, als dieser Ansatz glauben machen möchte. Diese Problematik wird insgesamt noch dadurch verschärft, dass Ansätze diesen Typs auf die Analyse kollektiver Konfliktsituationen zielen. Weedes ausführliche Diskussion (ebd., S. 65 ff.) einer Studie, die aggressiv politisches Handeln mit Individualdaten korreliert58, macht die Gesamtproblematik dieses Ansatzes beispielhaft sichtbar: Schon die Fesdegung der unabhängigen Variablen59 erfordert in dieser Studie ein theoretisch dermaßen hohes Niveau an Voraus-Selektivität, dass jede Interpretation der abhängigen Variablen zwangsläufig mehrdeutig wird. Wer auf Grund von Befunden, die von selektiv eingeführten ad-hoc Prämissen abhängig sind,

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Hierbei handelt es sich um die Studie von Muller 1979; als Forschungsüberblick über diese Thematik, vgl. auch ders. 1980. In Mullers Studie sind dies: utilitaristische Rechtfertigung von Gewalt; normative Rechtfertigung von Aggression; Erleichterung politisch-aggressiven Verhaltens durch ein soziales Milieu (Universität); und schließlich individuelle Verfügbarkeit für politisches Gewalthandeln. In allen Bereichen handelt es sich um theoretisch hoch aggregierte Variablenkomplexe, die sich zwar operativ präzisieren und analytisch herunterbrechen lassen, was an der Voraussetzungshaftigkeit des Konzepts insgesamt wenig ändert.

42 konflikttheoretische Allgemeingültigkeit reklamiert, wird dem hypothetischdeduktiven Ideal, das dieser Ansatz für sich beansprucht, nur wenig gerecht.60

Zusammenfassung und Ausblick Wie die vorangegangenen Darstellungen zeigen, hat es die Konflikttheorie mit multiplen Problemstellungen zu tun, die eine befriedigende Gesamtkonzeption ihres Untersuchungsgegenstandes erheblich erschweren. Eine gemeinsame Wurzel der Schwierigkeiten liegt vor allem in der ubiquitären, sozial endemischen und unbestimmten Eigenart des Konflikts. Da kaum ein sozialer Sachverhalt vorstellbar ist, der per se konfliktimmun wäre, scheint auch der Konfliktbegriff einer Fassung zu bedürfen, die weit genug ausgreifen kann, um alle nur denkbaren Unvereinbarkeiten in den Blick zu bekommen. Das wiederum macht den Konflikt zu einem theoretisch abstrakten, über weite Strecken inhaltsleeren Sammelbegriff. Eine Theorie, die beansprucht, sämtliche Phänomene ihres Objektbereichs unter eine einheitliche Erklärungsperspektive zu bringen, steht mithin vor dem Problem, dass sie die Frage nach theoretisch und empirisch sinnvollen Anschlussmöglichkeiten nicht aus dem Begriff, für den sie steht, beantworten kann. Vor dem Hintergrund, dass soziale Sachverhalte stets sowohl unter dem Gesichtspunkt der Übereinstimmung als auch der Unvereinbarkeit auftreten können, scheint es plausibel, nach den Gründen zu fragen, unter welchen Voraussetzungen einmal diese, ein andermal jene Seite den sozialen Austausch dominiert. Die meisten der bisher vorgelegten Versuche, zwischen abstrakter Begriffsbildung und konkreter Analyse zu vermitteln, haben indes in die unmittelbare Nähe einer Ursachenforschung gefuhrt. Ursache und Wirkung gelten als die analytisch primären Haltepunkte einer konventionell gearbeiteten Konflikttheorie.61 Selbstverständlich ist es weder unzulässig noch falsch, nach den Ursachen und Wirkungen von Konflikten zu fragen, nur muss man sich dabei immer vor Augen halten, dass sie selbst nicht mit Konflikten identisch sind. Jeder Versuch, den Konflikt auf seine Ursachen bzw. Wirkungen zu reduzieren, lenkt die Aufmerksamkeit vom Zentrum in seine Peripherie, was sich unter Theoriebildungsgesichtspunkten zwangsläufig negativ auswirkt. Der hier skizzierte Aufriss verschiedener Struktur- und Rationalitätsebenen in der konflikttheoretischen

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Dasselbe gilt auch Weedes Diskussion sozialer Konflikte aus dem Geist der WertErwartungstheorie, vgl. Weede 1986, S. 47 ff. D a s s Konflikte mit der Kennzeichnung einer konfliktauslösenden Situation hinreichend erfasst sind, ist auch heute noch ein weitverbreitetes Missverständnis der Konfliktsoziologie, vgl. E s s e r 1993, S. 573; ders. 2000, S. 90 ff.; Weede 1992; Bella 1989.

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Forschung hat jedenfalls deutlich gemacht, dass der Konflikt mehr ist als nur der Ausdruck einer konfliktauslösenden Situation. Hierzu hat Bernhard Giesen unlängst bemerkt, dass monokausale Ansätze dem konflikttheoretischen Forschungs- und Erkenntnisstand ohnehin nicht mehr genügen. Die Annahme einer unilinearen Kausalbeziehung zwischen Konfliktursache und Konflikt müsse ersetzt werden zugunsten der These, dass die strukturbildende Kraft des Konflikts von seiner Pmçesstypik her ihren Ausgangspunkt nimmt (vgl. Giesen 1993, S. 92 ff.; ähnlich Sandole 1993). Entsprechendes gilt für die vorherrschende Orientierung auf empirisch konkrete Anwendungsbereiche der Konflikttheorie. Gemäß der Ubiquität des Konflikts bestehen unendlich vielfältige Verweismöglichkeiten. Das Spektrum reicht dabei von der Unvereinbarkeit gesellschaftlicher Großstrukturen (Arbeit und Kapital, normatives Gebot und Verwirklichungschancen) bis hinunter zu den Unvereinbarkeiten auf der Ebene des individuellen Wahrnehmens- und Erwartens. Auch hier wird zwischen dem Konflikt und der Spezifik seiner Erscheinung kategorial nicht hinreichend scharf differenziert. Solange aber keine bzw. eine nur wenig präzise Auffassung darüber besteht, was die Identität des Konflikts kategorial auszeichnet, besteht die Tendenz, ihn mit spezifischen, weil empirisch gut fassbaren Wirkungen in einem speziellen Kontext zu identifizieren. Auch hier hat es den Anschein, als werde eine Konflikttheorie in dem Maße kontextsensibel, wie ihre begrifflichen Grundlagen theoretisch nicht bzw. nur unzureichend ausgearbeitet sind. Warum zum Beispiel stabilisiert ein Konflikt in manchen Ehen eine harmonische Familienstruktur, während er andere Ehen zerstört? Wo möchte man diesbezügliche Ursachen lokalisieren: in der Verschiedenheit familiärer Strukturen oder in den unterschiedlichen Entwicklungsbedingungen des Konflikts? Ein konflikttheoretischer working consensus besteht insoweit nur, als klar ist, dass die .Unvereinbarkeit' eine Bewegung auslöst, die nach ihrer Aufhebung strebt. Die Beziehung zwischen einem Sachverhalt, an dem sich ein Konflikt manifestiert, und dem Konflikt selbst bleibt dagegen zumeist unaufgeklärt. Hier wie dort bleibt der Konflikt die Black-Box der Analyse. Die Forschung kann zwar sehen, dass ein Konflikt typische Ursachen in typische Wirkungen transformiert, die spezifischen Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten dieses Prozesses der Transformation selbst bleiben ihr aber weitestgehend verborgen. Eine andere Frage wiederum ist, um welchen Preis eine Konflikttheorie vorgestellt werden kann, die von empirisch konkreten Kausalitäts- bzw. Kontextannahmen prinzipiell absieht; eine Konflikttheorie also, die den Konflikt als eine emergente Eigenschaft des Sozialen betrachtet und unabhängig von den Bedingungen seines Entstehens analysiert. Wie zum Beispiel hätte man sich eine Konfliktrealität zu vergegenwärtigen, welche die Bedingungen ihres Fortbestandes

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aus sich selbst heraus herstellt und perpetuiert? Wie eine Konfliktrealität, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und sich darin von anderen Wirklichkeiten signifikant unterscheidet? Und welchen Anforderungen hätte eine Theorie zu genügen, die beansprucht, sowohl allgemein, das heißt für alle Konfliktformen gleichermaßen gültig, gleichzeitig aber auch konkretisierbar zu sein? Eine Konflikttheorie in dem hier skizzierten Sinne wäre weder an der Erklärung gesellschaftlichen Wandels noch an Fragen sozialer bzw. systemischer Integration interessiert; ebenso wenig bräuchte sie die dahinterliegenden Ressourcen sozialer Ordnung zu thematisieren; stattdessen hätte sie die theoretische Konstruktion eines Konfliktbegriffs zu vertreten, die ihren Gegenstand so weit als möglich unabhängig von den Bedingungen seines Zustandekommens analysiert und ihn als empirisch abgrenzbare Realität in den Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit rückt. Eine so unterschiedene Konflikttheorie nähme ihren Untersuchungsgegenstand insofern ernst, als sie auf ein vorgängiges Konfliktverständnis verzichtet und gewissermaßen noch einmal von Vorne beginnt: Wovon genau sprechen wir eigentlich, wenn wir sagen, dass Unvereinbarkeit Konflikt indiziert? Der Verzicht auf Identifikation des Konflikts mit seinen kontextrelevanten Eigenschaften fordert zu einem grundlegenden Wechsel der theoretischen Perspektiven heraus. An die Stelle einer primär ursachenbezogenen Konfliktanalyse tritt der Prozess seiner Konstitution. Eine prozessbezogene Konfliktanalyse geht von der Annahme aus, dass das, was den Konflikt strukturell ausmacht, sich vornehmlich auf einem prozessualem Weg konsolidiert. Insofern fragen wir nachfolgend nicht nach dem Warum des Konflikts, sondern vornehmlich nach seinem Wie. Wie schon bei Simmel wird im Folgenden ein Konfliktverständnis geltend gemacht, wonach der Konflikt - gleichsam wie ein Gravitationsfeld - die Ressourcen einer gegebenen sozialen Entität an sich bindet und sie gemäß seiner Anziehungskraft mehr oder minder vollständig absorbiert. Dieser Auffassung zufolge entwickelt sich der Konflikt als eine logisch eigenständige Sachverhaltswirklichkeit, die ihre soziale Nahwelt in dem Maße transformiert, wie sie das Verhalten der Beteiligten unter dem Gesichtspunkt der Unvereinbarkeit bündelt. Eine konflikttheoretisch naheliegende Konsequenz aus diesen Überlegungen ist, die Analyse auf interne Konfliktparameter zu konzentrieren. Die Frage ist dann, inwieweit es möglich ist, eine Binnenstruktur sichtbar zu machen, an der sich die schrittweise Ausdifferenzierung einer Konfliktwirklichkeit ablesen lässt. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen plädieren wir für einen Paradigmemvechsel in der Konflikttheorie·. Anstatt zu sagen, dass es die Beteiligten sind (bzw. deren Absichten, Interessen, Verhalten), die den Konflikt konstituieren, kehren wir das Begründungsverhältnis nachfolgend um und wollen stattdessen behaupten, dass der Konflikt die Beteiligten (bzw. deren Absichten, Interessen, Verhalten) konditioniert.

45 Aus verschiedenen Gründen wollen wir eine solche konflikttheoretische Neuorientierung maßgeblich mit systemtheoretischen Mitteln fundieren. Der von Niklas Luhmanti ausgearbeitete systemtheoretische Kategorienapparat erscheint fur ein solches Vorhaben deswegen hervorragend geeignet, weil er beansprucht, auf alle Sachverhalte des Sozialen übertragbar zu sein, so dass die allgemeinen Merkmale sozialer Systeme auch auf Konfliktsachverhalte anwendbar sind. Beispielsweise korrespondiert die Annahme, dass Konflikte generell auch als soziales System rekonstruiert werden können, ausgezeichnet mit der Vorstellung einer emergent abgrenzbaren Teilrealität. Differenztheoretisch kommt darin die Vorstellung zum Ausdruck, dass Systemgrenzen ein Innen vom Außen, bzw. ein Dazugehöriges von Nicht-Dazugehörigem unterscheiden. Diesen und anderen Erwägungen folgend hat die Lxhmantische, Systemtheorie selbst schon einen Konfliktbegriff vorgelegt, der einerseits zahlreiche Aporien herkömmlicher Konfliktanalysen vermeidet (und deshalb für weiterfuhrende Analysen fruchtbar gemacht werden soll), der andererseits aber, wie noch näher zu zeigen ist, den eigenen Theorieprämissen dennoch nicht vollständig genügt.

Als System würde ich einen Komplex von Operationen definieren, der die Fähigkeit hat, sich selbst durch die eigene Reproduktion von der Umwelt abzugrenzen. Niklas Luhmann

Kapitel 2 KONFLIKT ALS SYSTEM

In der Systemtheorie Niklas Lehmanns haben konfliktbezogene Analysen einen festen Platz. Obwohl frühere Überlegungen zu diesem Thema eher den Charakter des Vor- und Beiläufigen besitzen und sich zudem auf einen primär politischen und rechtssoziologischen Kontext beziehen, stand ihre Bedeutung für den Gesamtentwurf der Systemtheorie niemals ernsthaft in Frage (vgl. etwa Luhmann 1974a, S. 160 f.; 1977, S. 229 ff.; 1972, S. 34 f.; 1981c). Erste wichtige Einsichten zum Konflikt hat die Systemtheorie Luhmanns schon aus den Problemen gezogen, die sich aus der Vorrangigkeit des Strukturbegriffs im Theoriearrangement Parsons' (und damit verbunden: aus der Fokussierung systemischer Leistungen auf den Bestand sozialer Systeme) ergaben. Eine systematische Ausarbeitung zum Thema .Konflikt' findet sich allerdings erst in den Grundrissen zu einer Theorie sozialer Systeme (vgl. Luhmann 1984, S. 488 ff.). Dort werden die grundlegenden Eigenschaften von Widersprüchen geklärt und auf den Konflikt bzw. auf seine Funktionen für die Gesellschaft übertragen. Bevor wir darauf näher eingehen wollen, ist es nützlich, einige der dafür maßgeblichen Theoriekomponenten etwas genauer zu betrachten. Ein vorausgehender Blick auf die allgemeinen Analyse- und Beobachtungskategorien macht die Spezifik der systemtheoretischen Konfliktanalyse nicht nur leichter durchschaubar, sondern sensibilisiert darüber hinaus auch für deren immanente Lücken und Mängel. Wenigstens drei Leitdifferenzierungen sind für die Systemtheorie des Konflikts konstitutiv, die wir nachfolgend in gebotener Kürze erörtern: System und Umwelt, Handlung und Kommunikation sowie Struktur und Selbstreferenz. Sie bilden gewissermaßen das kategoriale Korsett der Systemtheorie und bieten der

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Konfliktanalyse grundlegende Orientierung. Im Anschluss daran befassen wir uns mit dem Problem der doppelten Kontingen2 und der Widerspruchskommunikation, die jeweils eine tragende Säule der systemtheoretischen Konfliktanalyse begründen.1

System und Umwelt „Von System im Allgemeinen kann man sprechen, wenn man Merkmale vor Augen hat, deren Entfallen den Charakter eines Gegenstandes als System in Frage stellen würde." (Luhmann 1984, S. 15) Mit dieser, beinahe tautologischen Aussage zielt die Systemtheorie in einem weiten und zunächst noch unspezifischen Sinne auf Systemcharakterisierung und markiert lediglich eine theoretische Option: Damit ist zunächst einmal soviel gesagt, dass es Systeme gibt, sofern bestimmte Merkmale vorliegen, die sie als Systeme qualifizieren. Systemcharakterisierung ist demnach ein Beobachterprodukt entsprechend einer Heuristik, die spezifische Systemmerkmale als solche erkennt und bezeichnet. Entgegen dem Anschein ist die Systemtheorie aber dennoch kein Willkürprodukt. Vielmehr gewinnt sie Sicherheit in dem Maße, wie sie auf sehr verschiedenartige Systembildungen bezogen werden kann (vgl. Luhmann 1984, S. 32). Dabei werden vier elementare Systemtypen unterschieden, die jeweils füreinander Umwelt sind: Maschinen (artifizielle Systeme), Organismen (lebende Systeme), Kommunikationen (soziale Systeme) und Bewusstsein (psychische Systeme).2 Die nachfolgenden Darstellungen sind hauptsächlich auf soziale Systeme bezogen, sie gelten jedoch, soweit sie Form- und Struktureigenschaften thematisieren, für die anderen Systemgattungen gleichermaßen.

Bei der nachfolgenden Darstellung handelt es sich im wesentlichen um eine Paraphrase der Luhmannschen Systemtheorie, bei der wir uns nahe an den textlichen Vorgaben orientieren. Zitate und Belegstellen werden mit entsprechenden Verweisen markiert, desgleichen Abweichungen in der Interpretation. Zum Maschinenbegiff gibt es in der Systemtheorie Luhmanns keine systematischen Analysen; vorwiegend dient der Begriff zur Kennzeichnung unzulänglicher Systemanalogien, von denen sich die Theorie abheben will, vgl. Luhmann 1977, S. 60; 1974, S. 38 f. Dennoch sollen für Maschinen die gleichen Merkmale gelten, wie für die anderen Systemtypen auch: operativ geschlossene Reproduktion als System. Das erscheint in mancherlei Hinsicht als problematisch, besonders wenn man die Frage der Evolution einzelner Maschinensysteme bedenkt; allerdings spielt dieses Problem für die nachfolgenden Überlegungen kaum eine Rolle, labende Systeme haben im Luhmannschen Theoriekontext ebenfalls häufig nur Abgrenzungsfunktion, vor allem wenn es um die Behauptung geht, dass der Mensch, insbesondere seine Biologie, in die Umwelt psychischer und sozialer Systeme gehöre. Mit dem Begriff des psychischen Systems ist das Bewusstsein gemeint, das ebenfalls unabhängig davon operiert, inwieweit Individuen sich in sozialen Systemen engagieren, vgl. näher Luhmann 1984, S. 16 ff. Im Unterschied zu den beiden erstgenannten Systemtypen wird uns die Unterscheidung zwischen sozialen und psychischen Systemen allerdings noch näher interessieren.

49 Soziale Systeme entstehen überall dort, wo es zu sozialen Kontakten kommt (dazu grundlegend Luhmann 1975b, S. 22). Gesellschaft ist dasjenige System, das alle anderen Systeme - und damit die Gesamtheit aller sozialen Kontaktmöglichkeiten - integriert.3 Mit dieser Aussage postuliert die Systemtheorie Universalität ihrer Anwendung für den gesamten Bereich des Sozialen. Zugleich ist damit gemeint, dass alle sozialen Kontaktsituationen als System rekonstruiert bzw. auf Systemstrukturen zugerechnet werden können4 - gleichgültig, ob es sich dabei um eine flüchtige Straßenbegegnung handelt oder um den von langer Hand geplanten Grenzaufmarsch zweier befeindeter Armeen. Für die Systembildung entscheidend sind demnach nicht etwa die individuellen Motive, die zu einer Begegnung Anlass geben5, ebenso wenig Verlauf und Ausgang, den diese Begegnung im Einzelfall nimmt; was vielmehr zählt, ist die Tatsache der Begegnung selbst sowie ihr Grenzbildungsprinzip, das die konkrete Kontaktsituation systemisch klassifiziert: Interaktion (mit dem Grenzbildungsprinzip Anwesenheit), Organisation (mit dem Grenzbildungsprinzip Mitgliedschaft) und Gesellschaft (mit dem Grenzbildungsprinzip aller kommunikativ füreinander erreichbaren Handlungen) (vgl. Luhmann 1975c, S. 10 ff.). Schon auf dieser noch sehr grundsätzlichen Beschreibungsebene lassen sich bereits allgemeine Merkmale der Systemkonstitution konkretisieren. An vorderster Stelle steht dabei der Greniçbegriff, der zwischen System und Umwelt differenziert. Um Systeme identifizieren zu können, müssen Grenzen angebar sein, ohne die sich das System nicht von seiner Umwelt abheben würde. Entgegen der klassischen Tradition, die sich, wenn sie von Systemen sprach, an Ganzheiten und Teilen orientierte, ist für die Systemtheorie die Differenz zwischen Innen und Außen konstitutiv. Entsprechend müssen die Bedingungen, die innerhalb der Systemgrenzen gelten, andere sein, als die draußen. Grenzen setzen, wie Luhmann formuliert, „die Realität des Jenseits und die Möglichkeit des Überschreitens voraus" 6 , unabhängig davon, durch welches Grenzbildungsprinzip sich das System im Einzelnen konstituiert. An der Grenze zeigt sich die Realität sozialer Systeme. 3

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Vgl. Luhmann 1984, S. 33. Kontaktmöglichkeiten meint in diesem Zusammenhang immer: potenziell aktualisierbare Kommunikationen, vgl. näher ders. 1997, S. 78 ff. Vgl. Luhmann 1984, S. 33; ausführlicher zur Universalisierbarkeit und Begründung, vgl. ders. 1971, S. 378 ff. Mit dieser Überlegung koppelt sich die Systemtheorie in wesentlichen Aspekten von einer sozialwissenschaftlich herkömmlichen Theorietradition ab, die versucht hatte, soziales Handeln sinnhaft über Motive zu rekonstruieren und diese Rekonstruktionen wiederum als Orientierung und Bezugsgesichtspunkt vergleichender Analysen zu nutzen; so explizit die Verstehende Soziologie eines Max Weber (1922), und darauf bezugnehmend Talcott Parsons 1949a. Luhmann 1984, S. 52. Systemgrenzen sind typischerweise nicht mit Raumgrenzen identisch, obwohl nicht ausgeschlossen ist, dass sie mit Raumgrenzen kongruieren, vgl. ders. 1982; kritisch zum Raumbegriff in der Systemtheorie: Stichweh 1998.

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In diesem Zusammenhang fungiert die Umwelt sozialer Systeme als Gesamtheit sinnhafter Verweismöglichkeiten, die in Bezug auf das System potenziell oder aktuell wesentlich sind. Die Umwelt sozialer Systeme ist zwar prinzipiell grenzenlos (und eben deshalb auch kein System), gleichwohl immer nur systemrelativ zu verstehen und niemals Umwelt für sich.7 Als Systemeimwelt kommen analytisch nur solche Sachverhalte bzw. Ereignisse in Betracht, auf die sich das System in irgendeiner Weise bezieht. Damit wird nicht zuletzt auch die Doppelfunktion des Grenzbegriffs deutlich, der System und Umwelt nicht bloß voneinander trennt, sondern gleichzeitig auch miteinander verbindet. System und Umwelt sind wechselseitig aufeinander bezogen. Diese Feststellung gilt insbesondere auch dann, wenn soziale Systeme füreinander als Umwelt fungieren. Jedes System, das andere Systeme in seiner Umwelt beobachtet, muss stets damit rechnen, dass die Systeme in seiner Umwelt auf eben dieselbe Weise verfahren. Aus einer übergeordneten Beobachterperspektive wird die Zuschreibung von Sachverhalten dadurch mitunter kompliziert: huhmann zufolge kann ein Sachverhalt gleichzeitig dem System und der Umwelt anderer Systeme zugehörig sein, obwohl man ihn systemrelativ unterschiedlich behandelt.8 Wichtig im Hinblick auf die System/ Umwelt-Differenz ist zweitens der Gesichtspunkt der Komplexität Die Umwelt eines Systems - wie immer ein System damit konkret umzugehen mag - ist stets komplexer als das System. Als Horizont aller Verweismöglichkeiten erscheinen dem System die Sachverhalte in seiner Umwelt nur bedingt kontrollierbar, in weit höherem Maße vielmehr unsicher und kontingent. Aus diesem Gründen stabilisiert sich die System/ UmweltDifferenz als ein Komplexitätsgefälle, das asymmetrisch verläuft und das ein System zu Selektionen veranlasst. Um sich gegenüber seiner Umwelt behaupten

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Die Ausführungen Luhmanns zum Umweltbegriff sind nicht immer ganz zweifelsfrei und eindeutig formuliert. In Kapitel 5 der .Sozialen Systeme' schreibt Luhmann einleitend zum Zusammenhang von System und Umwelt: „Der Begriff der Umwelt darf nicht als eine Art Restkategorie verstanden werden. Vielmehr ist das Umweltverhältnis konstitutiv für Systembildung", Luhmann 1984, S. 242 [Hervorh. im Original]. Einige Seiten später heißt es dagegen: „'Die' Umwelt ist nur ein Negativkorrelat des Systems. (...) Man kann deshalb auch sagen, daß durch Bezug auf und Unbestimmtlassen von Umwelt das System sich selbst totalisiert. Die Umwelt ist einfach 'alles andere'", ebd., S. 249 [Herv. im Original]. Das den manchmal als ungenau bzw. widersprüchlich erscheinenden Formulierungen zugrunde liegende Problem dürfte wahrscheinlich darin liegen, dass auf dieser mitunter noch hochabstrakten Darstellungsebene notwendig unbestimmt bleiben muss, welche Umweltsachverhalte für die Ausdifferenzierung sozialer Systeme faktisch, und welche nur potenziell wesentlich sind. Wie Luhmann 1984, S. 243 dazu anmerkt, verzahnt die wechselseitig Konstitution von System und Umwelt Beobachterperspektiven dergestalt ineinander, dass eine eindeutige Lokalisierung von Sachverhalten (im Sinne ihrer kausalen Verursachung) kaum mehr möglich erscheint. Das Konzept wechselseitiger Bedingung „führt zu einer radikalen De-Ontologisierung der Perspektive auf Gegenstände schlechthin", ders., 1984, ebd.; dies gilt umso mehr, wenn es sich bei den fraglichen ,Gegenständen' um Kommunikationen handelt.

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zu können, muss das System lernen, welche Sachverhalte aus seiner Umwelt für seinen Weiterbestand maßgeblich und welche irrelevant sind.9 In diesem Zusammenhang wollen wir uns mit dem Hinweis begnügen, dass die Autonomie eines Systems in dem Maße zunimmt, wie es seine Sensibilität gegenüber den internen Sachverhalten steigert und gegenüber seiner Umwelt gleichgültig wird. Entsprechend kann der Prozess der systemischen Ausdifferenzierung als ein zweiseitiges Steigerungsverhältnis dargestellt werden, bei dem zum einen die Abhängigkeit von intern anschlussfähigen Sachverhalten immer mehr zunimmt, zum anderen das System von den Sachverhalten seiner äußeren Umwelt immer unabhängiger wird. Ein System kann seine Eigenkomplexität in dem Maße steigern, wie es seine Umweltkomplexität reduziert (vgl. Luhmann 1978c; ders. 1997, S. 134 ff.). Für die Systemanalyse bedeutsam ist schließlich drittens die Unterscheidung von Element und Relation. Darauf kommen wir in den nächsten beiden Abschnitten aus anderer Perspektive gleich noch näher zu sprechen. Hier soll vorweg nur angemerkt werden, dass die systemtheoretische Konzeption des Elementbegriffs keine ontologisch feststehende Qualität charakterisiert; denn ähnlich wie im Hinblick auf die Systemumwelt existieren die Systemelemente nur relativ in Bezug auf das System. Mit dem Elementbegriff ist bezeichnet, „was für ein System als nicht weiter auflösbare Einheit fungiert".10 Der Begriff der Relation umfasst demgegenüber die Verknüpfung dieser Elemente im System. Luhmann zufolge (vgl. Luhmann 1984, S. 383 ff.) lässt sich die Gesamtheit aller Systemelemente niemals vollständig (das heißt: alle Systemelemente mit allen anderen Systemelementen) verknüpfen, so dass die Gesamtheit aller für das System möglichen Relationen niemals gleichzeitig aktualisiert werden kann. Jede Relationierung von Systemelementen konkretisiert vielmehr einen spezifischen, zeitpunktgebundenen Systemzustand im Hinblick auf einen bestimmten Sachverhalt, auf ein spezielles Ereignis, auf ein vorfindbares Phänomen, mit dem sich das System gerade befasst. Die Einheit der Differenz zwischen Element und Relation verweist insofern auf das Problem der Systemkomplexität zurück, und das heißt vor allem: auf die Notwendigkeit selektiver Relationierung.

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Vgl. Luhmann 1984, S. 249 ff. Dieser Sachverhalt wird unmittelbar evident, wenn man sich der Ursprünge dieser Begriffsbildung erinnert, die in der anthropologischen Kategorie der ,Endastung' wurzeln, vgl. näher Gehlen 1976, S. 62 ff. bzw. 171 ff., und zum Ausdruck bringen, dass ein stark vereinfachtes Wirklichkeitserleben für das System und seinen Weiterbestand mitunter unvermeidbar ist - auch wenn seine Wahrnehmung die erlebte Wirklichkeit dramatisch verzerrt. Luhmann 1984, S. 43. Elemente sind demnach die Letzt-Einheiten des Systems.

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Zur Kennzeichnung dieses Sachverhaltes hält die Systemtheorie den Begriff der Konditionierung bereit. Mit Konditionierung sind Einschränkungen gemeint, die das Verhältnis von Relationen im System untereinander regeln. In einem soziologisch herkömmlichen Begriffsverständnis bezeichnet Konditionierung die Leistungen einer Struktur11 - mit dem Unterschied allerdings, dass der Strukturbegriff in stärkerem Maße die Invarianz von Relationen über Zeitdistanzen hinweg betont. Die Art und Weise, wie das System seine Relationierungen wählt und welche Einschränkungen es sich dabei auferlegt, gibt Auskunft über sein Selbstverständnis bzw. über seine Identität als System. Kurz: Was das System ist, lässt sich daran erkennen, wie es sich einschränkend konditioniert. Für eine Theorie des Konflikts in dem oben vorgeschlagenen Sinne ist der Begriff sozialer Systeme insofern instruktiv, als der Prozess ihrer Ausdifferenzierung eine dafür typische Grenze markiert, die zwischen Innen und Außen klare Unterscheidungen trifft. Analog dazu ließe sich auch zwischen Konflikt (als System) und Konfliktursachen (als Umwelt) hinreichend genau differenzieren. Gleichzeitig mit dem Prozess der Ausdifferenzierung sozialer Systeme kommt darüber hinaus eine für das System in besonderer Weise bedeutsame Umwelt in den Blick, die jedoch in dem Maße an Umfang und Einfluss verliert, wie der systemische Differenzierungsprozess ein eigenständiges Strukturpotenzial freisetzt.

Kommunikation und Handlung Im Folgenden beschäftigen wir uns näher mit der Frage, welches die im System nicht mehr weiter auflösbaren Letzt-Einheiten sind. Die vorherrschende Tradition in der Soziologie hatte sich diesbezüglich vorwiegend am Handlungsbegriff orientiert und Sozialität als eine emergente Ordnung von Handlung betrachtet. Dieses Begründungsverhältnis hat die Systemtheorie auf den Kopf gestellt: Sozialität sei kein besonderer Fall von Handlung, sondern Handlung sei ein besonderer Fall von Sozialität.12 Die Systemtheorie betrachtet ,Handlung' nicht als feststehende ontologische Qualität, sondern als ein Zurechnungsprodukt, das

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„Eine Struktur besteht also, was immer sie sonst sein mag, in der Einschränkung der im System 'gelassenen Relationen", Luhmann 1984, S. 384 [Hervorh. im Original]; siehe dazu mehr im übernächsten Abschnitt dieses Kapitels. Vgl. Luhmann 1984, S. 191. Mit dieser Formulierung wendet sich Luhmann vor allem auch gegen den Parsonsschen Strukturfunktionalismus, der die von ihm identifizierten Systemeigenschaften aus den allgemeinen Merkmalen der Handlung kondensiert, vgl. Parsons 1949a; kritisch dazu Luhmann 1981d, S. 51 ff. und mit Blick auf Gesellschaft: ders. 1997, S. 86.

53 sich ausschließlich der Kommunikation über Handlung verdankt.13 In der Systemtheorie Lehmanns wird Handlung über Kommunikation konstituiert. Die systemtheoretische Perspektive räumt der Kommunikation in Bezug auf die Frage, auf welche Letzt-Einheiten sich die Konstitution sozialer Systeme stützt, gegenüber der Handlung eine eindeutige Vorrangstellung ein.14 Kommunikation ist als Einheit dreier Selektionen definiert: Mitteilung, Information und Verstehen (vgl. Luhmann 1984, S. 196 ff.). Entsprechend bezeichnet eine jede dieser drei Teilkomponenten eine eigene Typik der Selektion. In Bezug auf die Mitteilung beispielsweise kann man entscheiden, ob bzw. inwieweit man sich mitteilen möchte, zu welchem Zeitpunkt, wem gegenüber und auf welche Weise; auch die konnotativen Variationsmöglichkeiten im Ausdruck gehören hierher. Ebenso wenig ist in Bezug auf die Information das ,Was' der Kommunikation von vornherein festgelegt. Vielmehr nimmt die Information Selektionen in Anspruch, indem sie aus einem prinzipiell unbegrenzten Horizont sinnhafter Verweismöglichkeiten nur einen Teilbereich, die Information, diskriminiert. Informationen können immer auch anders ausfallen, eben das kennzeichnet sie als Ergebnis der Selektion. Lediglich das Redundanzverbot wirkt hierbei formal (aber nicht inhaltlich) einschränkend, sofern die Information - um informativ zu wirken einen Unterschied machen soll.15 In genau demselben Sinne ist schließlich auch das Verstehen Selektion. Anders als der Begriff suggeriert, ist damit keine Qualität im Sinne der Richtigkeit des Verstehensvorgangs bezeichnet, sondern vor allem eine kontingente Operation. Verstehen heißt nicht, dass der gemeinte und der verstandene Sinn einer Mitteilung notwendigerweise kongruieren. Vielmehr ist damit ein höchst eigenwilliger, wenn nicht gar willkürlicher Vorgang gemeint, der noch nichts darüber aussagt, inwiefern das Verstehen angemessen gelingt.16 Diesen Überlegungen zufolge ist Kommunikation ein hochgradig selektives Geschehen, ja sie ist Prozessieren von Selektivität schlechthin. Mit jeder Kommunikation muss man entscheiden, was gesagt wird bzw. wie und wem man es sagt; mitzubedenken ist ferner, ob es dem Adressaten verständlich, und schließlich: ob es ihm zumutbar ist. Nach Luhmann ist die Einheit der Kommunikation erst dann voll realisiert, wenn Verstehen stattfindet - wie immer sich dieses begrün13

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Vgl. Luhmann 1984, S. 192: „Der basale Prozeß sozialer Systeme, der die Elemente produziert, aus denen diese Systeme bestehen, kann [...] nur Kommunikation sein." Zu den theoriearchitektonischen Implikationen, vgl. pointiert Stichweh 2000. ... was nicht der Fall wäre, wenn man mehrmals hintereinander das Gleiche sagt (Kunst - man denke an Gertude Stein - und Stotterer dabei ausgenommen). Die Selektivität des Verstehensprozesses zeigt sich mithin am deutlichsten im Fall ihres Scheiterns; für eine soziologische Sichtweise dieses Problems, vgl. Ichheiser 1970; Grimshaw 1980; für das neuerdings stark anwachsende Interesse der Soziolinguistik am Verstehensproblem, vgl. näher Coupland/ Giles/ Wieman 1991; Fiehler 1998; Hinnenkamp 1998; für die systemtheoretische Fassung dieses Problems, vgl. ausführlich Luhmann 1986.

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det.17 An der nachfolgenden Kommunikation lässt sich ersehen, inwieweit Verstehen gelingt. Davon verschieden ist die Frage, ob der andere die wie auch immer verstandene Kommunikation akzeptiert. Im Hinblick auf Ak^eptan^ und Nichtak^eptam^ handelt es sich um Anschlussakte der Kommunikation, die anders als das Verstehen - nicht ihrer Einheit zugerechnet werden können. Die Systemtheorie spricht in diesem Zusammenhang (neben Mitteilung, Information und Verstehen) zwar von einem vierten Modus der Sinnselektion, der aber selbst nicht zur Einheit der Kommunikation mit dazuzählt. Dies trifft insbesondere für Ablehnungen zu, da man - wie rudimentär auch immer - die Kommunikation erst (richtig oder falsch) verstanden haben muss, bevor man ihr widerspricht. Die Schärfe der Distinktion greift, gerade wenn man den Kommunikationsbegriff in Richtung auf Konfliktkommunikation wendet, allerdings nicht immer geradlinig durch. Natürlich muss man die Wertung einer Kommunikation von der Kommunikation selbst unterscheiden, aber Verstehen und Wertung gehen dabei oft Hand in Hand. Dieser Sachverhalt wird uns an entsprechender Stelle noch ausführlich beschäftigen. In diesem Konnex hat die Systemtheorie ferner betont, dass jede Kommunikation an sich schon deshalb Widerstand bzw. Ablehnung evoziert, weil sie ihrem Adressaten die Übernahme von Sinnselektivität (Verstehen) zumutet. Vom Adressaten der Kommunikation wird im Normalfall also erwartet, dass er versteht, und ferner, dass er das Verstandene auch akzeptiert. Dass trotz dieser Erwartung eine Kommunikation mitunter auf Widerspruch stößt, liegt maßgeblich im Sinnphänomen selbst begründet, das stets in Form eines Verweisungsüberschusses erscheint und nicht nur das Wirkliche, sondern auch das Mögliche bzw. das Unmögliche appräsentiert.18 Ablehnung ist demnach nicht notwendig an Interessen gebunden. Man muss nicht einmal anderer Meinung sein, um die Sinnzumutungen eines anderen zu hinterfragen. Mithin reicht schon aus, dass man die Kommunikation als eine Selektion erlebt, um sich der Tatsache bewusst zu werden, dass der mitgeteilte Sinn vor dem Horizont

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Vgl. Luhmann 1984, S. 203. An dieser Stelle sei schon angemerkt, dass die Systemtheorie Kommunikation wesentlich von ihrem Ende, also vom Verstehen begreift. Dieser Sachverhalt wird uns auch im folgenden Kapitel noch näher beschäftigen: Von dieser Perspektive ist nämlich nicht nur die formale Seite der Kommunikation (die Einheit dreier Selektionen) betroffen, sondern ebenso die Information im Hinblick auf ihre Festlegung als Sinnzumutung. Entsprechend lässt die Einheit der Kommunikation ausreichend Raum für verstehensmäßig verursachte Diskrepanzen; das heißt, die Einheit der Kommunikation garantiert nicht schon die einheitliche Auffassung des durch sie zugemuteten Sinns. Oder in der Formulierung Luhmanns: „In den Kommunikationsvorgang ist mithin die Möglichkeit der Ablehnung zwingend eingebaut", Luhmann 1984, S. 212 [Herv. im Original]. An anderer Stelle meint Luhmann, dass Sprache aufgrund ihrer Fähigkeit, allen kommunizierbaren Sinnsachverhalten eine Ja-Fassung bzw. eine Nein-Fassung geben zu können, die Realität der kommunikativ erfassten Sachverhalte dupliziert, vgl. ders. 1995, S. 119 f.

55 unendlicher Verweismöglichkeiten quantitativ wie qualitativ UnVollständigkeit expliziert. Darüber hinaus macht die Selektion von Annahme/ Ablehnung auch dafür sensibel, dass sich die Einheit der Kommunikation aus mehreren Komponenten zusammenfügt, die jeweils separat voneinander akzeptiert oder abgelehnt werden können. Beispielsweise kann man den Stil, die Eloquenz bzw. Schlagfertigkeit einer Mitteilung bewundern, unabhängig davon, ob man an die Richtigkeit des Gesagten glaubt; umgekehrt kann man den vom anderen angeschlagenen Tonfall kritisieren, während man die Information gleichwohl akzeptiert. Überdies ist nicht ausgeschlossen, dass man ein Gespräch genießt, obwohl (oder gerade weil) hinsichtlich einer Sachfrage unterschiedliche Meinungen bestehen. Schließlich kann an der Reaktion eines anderen deutlich werden, dass dieser die Mitteilung nicht richtig versteht, auch wenn beide Seiten auf den zu erörternden Sachverhalt bezogen dieselbe Meinung vertreten. Solche Reaktionsmöglichkeiten bringen die Selektivität der Kommunikation deutlich zum Ausdruck. Sie sind Beleg der systemtheoretischen Argumentation, die ein kommunikatives Elementarereignis als kleinste negierbare Einheit sozialer Systeme betrachtet.19 Gegenüber den - hier nicht in allen Einzelheiten dargestellten - Eigenschaften der Kommunikation hat der Handlungsbegriff in Bezug auf die Elementbestimmung sozialer Systeme einen eher schwierigen Stand. In der Systemtheorie erscheint ,Handlung' gewissermaßen als ein nur grobkörniges Granulat der Komplexität von Kommunikationen. „Handlungen", so formuliert huhmann (1984, S. 228) „werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert". Wo immer Kommunikationen auf Systeme zugerechnet werden, sind nach herkömmlichen Verständnis Handlungen gemeint. Dabei sind ,Personen' übrigens nur ein Zurechnungsadressat unter anderen. An diese Definition ist zudem die Einsicht geknüpft, dass mit dem Handlungsbegriff vor allem solche Sachverhalte angezeigt werden, die sich beschreibungs- bzw. beobachtungsabhängig konstituieren. Was eine Handlung ,ist', hängt wesentlich davon ab, wer ein Verhalten beobachtet, welche Zurechnungen er vornimmt oder welche Absichten er ihm unterlegt, kurz: ob und wie er darüber kommuniziert. Das wiederum kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen, obwohl der einer Handlung zugrunde liegende Sachverhalt selbst nicht variiert. Eine Handlung ist infolgedessen alles andere als eine ontologisch feststehende Qualität. Die Gründe, warum man im Alltag, aber auch in der Soziologie vorwiegend von Verhalten und Handlungen spricht, wurzeln vor allem im Problem der kogniti-

Negation macht die selektive Bestimmtheit in der Kommunikation erfahrbar und konfrontiert sie mit Unbestimmtheit, mit Kontingen2, vgl. Luhmann 1981.

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ven und sozialen Komplexität. Zum einen wird durch den Handlungsbegriff ein Sachverhalt suggeriert, von dessen Eigenschaften man annimmt, dass sie leicht zu entdecken, zu beobachten und wiederzugeben sind. Dementsprechend erweckt die Darstellung eines Handlungssachverhalts den Eindruck, dass das je eigene Erleben das Ergebnis einer gesicherten Wahrnehmung ist. Darüber hinaus lässt sich durch Handlungszurechnung auch eine Art Halte- bzw. Abstützpunkt im Prozess ineinandergreifender Kommunikationen gewinnen. Offensichtlich fällt die Vorstellung leichter, dass ein bestimmtes Verhalten ein anderes Verhalten beeinflusst bzw. restringiert, als dasselbe von Kommunikationen anzunehmen. Je komplexer sich daher eine gegebene Situation den Beteiligten darstellt, um so wahrscheinlicher werden sie sich aus Orientierungs- und Verständigungsgründen auf eine an Handlungen angelehnte Kommunikation konzentrieren. Aus systemtheoretischer Sicht gründet sich Handlung - entgegen Weber - nicht auf die sozial gerichtete Intention; noch wird darin - entgegen Parsons - ein analytisch ausdifferenzierter Beitrag zur Emergenz sozialer Systeme gesehen. Sofern sich Kommunikation nicht in Handlung20, und auch umgekehrt: Handlung nicht in Kommunikation auflösen lässt, muss sich die Systemtheorie hinsichtlich der Frage nach den Systemelementen anders entscheiden. Sie ,löst' das Problem, indem sie das soziale Geschehen ,Kommunikation' von der Frage, wie Kommunikation im System erlebt und verarbeitet wird, analytisch unterscheidet. Im Hinblick auf die Frage nach den Letzt-Elementen sozialer Systeme haben die Systeme gewissermaßen ein Mitspracherecht: „Auf die Frage, woraus soziale Systeme bestehen, geben wir mithin die Doppelantwort: aus Kommunikationen und aus deren Zurechnung als Handlung (...) Kommunikation ist die elementare Einheit der Selbstkonstitution, Handlung ist die elementare Einheit der Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung sozialer Systeme." (Luhmann 1984, S. 240 f.)

Die Mitfuhrung des Handlungsbegriffs in der Systemtheorie ist letztlich also eine Reminiszenz an die Selbstbeobachtungsfähigkeit sozialer Systeme Sie macht deutlich, dass Systeme ihre Operationen (Kommunikationen) an der Wahrnehmung eigener und fremder Handlungen orientieren. So gesehen fungiert das Konzept ,Handlung' allenfalls als ein dekompositorisches Prinzip im System, das der Kommunikation als Mittel der Selbstverortung und dem System als Mittel der Selbstsimplifikation dient.

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In weiten Teilen der deutschsprachigen Soziolinguistik ist beispielsweise immer noch der Begriff der ,Sprechhandlung' in Gebrauch, der suggeriert, man könne Kommunikation analog zu handlungslogischen Typiken rekonstruieren - ein zumeist ebenso fragwürdiges wie fruchtloses Unterfangen.

57 Diesen Analysen zufolge ist Konflikt bzw. die Ausdifferenzierung eines Konfliktsystems an die Kommunikation über Wahrnehmungen von Handeln geknüpft. Für das Verständnis generativer Konfliktmechanismen offeriert der systemtheoretische Kommunikationsbegriff nützliche Anknüpfungspunkte, da gleichzeitig mehrere Bezugnahmen einer Ablehnung denkbar sind — neben der Ablehnung einer Sachinformation auch die Ablehnung einer Mitteilungsform und darüber hinaus beides wiederum auf Grund der Möglichkeit eigenmächtigen Verstehens. Sofern eine jede Kommunikation einen nur engen Ausschnitt aus einem prinzipiell unendlichen Verweisungszusammenhang appräsentiert, wird empathisches Verstehen zur knappen Ressource und Zustimmung die kommunikationsstrukturell erwartete, jedoch eher auch unwahrscheinliche Reaktion. Ein weiteres Konfliktpotenzial ist in der Zurechnung von Kommunikation bzw. der Wahrnehmung von Handlungen angelegt, deren Qualität und Charakter je nach Beobachterstandpunkt und Systemreferenz mitunter signifikant variiert. Diese mehrfach ineinandergeschachtelte Strukturselektivität sozialer Kommunikationen macht vorausberechenbare Reaktionen zu einem gewissen Problem, das wiederum Orientierungs- und Strukturbedarf nach sich zieht.

Struktur und Selbstreferenz Soziale Systeme sind durch Grenzen von ihrer Umwelt geschieden. Systemgrenzen geben an, dass die Ereignisse, Sachverhalte und Prozesse diesseits der Grenze anders vonstatten gehen als jenseits von dieser, innen anders als außen. Das Geschehen innerhalb der Systemgrenzen wird dabei als Produktion bzw. Reproduktion von Elementen gefasst. Jede Konstitution bzw. Reproduktion sozialer Systeme erfordert daher ein Minimum an zeitlicher Kontinuität. Ein System kann sich nur solange reproduzieren, wie es sich von Moment zu Moment immer wieder neu konstituiert. Der basale Prozess, der dies leistet, ist Kommunikation: Auf der Grundlage eines gleichzeitigen, anschlussfähigen und wiederholten Zusammenwirkens kommunikativer Selektivität entsteht ein emergent geordnetes Sinngeschehen, das sich als ein eigenständiges Universum des Sozialen aus einer Umwelt ausdifferenziert und sich von ihr unterscheidet. In dem Maße, wie Kommunikation Dazugehöriges und Nicht-Dazugehöriges unterscheidet, werden Grenzen gesetzt, an denen deutlich wird, was zum System und was zu seiner Umwelt gehört: „Der elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozess ist ein Kommunikationsprozess", den die Systemtheorie als „temporale Verknüpfung einer Mehrheit selektiver Ereignisse durch wechselseitige Konditionierung" definiert (Luhmann 1984, S. 193 bzw. S. 213).

58 Die Selektivität kommunikativer Einzelereignisse kann im System nicht mehr unterschritten werden, wenn sie ihren Sinn nicht einbüßen will. Außerhalb der Kommunikation existiert schlechthin nichts, was Sinn konstituiert, und dies macht klar, dass die Antwort auf die Frage, auf Grund welcher Eigenschaften soziale Systeme sich selbst reproduzieren, in den Eigenschaften verbaler und nonverbaler Kommunikationen gesucht werden muss. Der Kommunikationsprozess bedarf also einer mehr oder weniger stringenten Strukturierung, um sich für die Dauer, für die das System besteht, stabilisieren zu können. Strukturen müssen Anschlussmöglichkeiten bereitstellen können, damit die Fortfuhrung der Kommunikation gewährleistet ist. Bekanntlich hat die Systemtheorie ihre Aufmerksamkeit in diesem Problemzusammenhang stark auf die Frage nach der systemischen Selbstorganisation konzentriert. Ihre These in diesem Zusammenhang lautet, dass Systeme diejenigen Elemente, aus denen sie bestehen, eigenständig, das heißt selbstreferenvgellproduzieren und ebenso reproduzieren (ebd., S. 57 ff.). Der basale Prozess, der die Elemente eines Systems produziert, ist Kommunikation. Soziale Systeme konstituieren sich ausschließlich durch Kommunikation und können nur dadurch wieder aufgelöst werden. Aus systemtheoretischer Sicht ist Kommunikation zunächst ein Vorgang unstrukturierter ,Selbsterregung und Sinnüberflutung des Systems'; Kommunikation ist,noise', ein beinahe zwangsläufiges Produkt der Unbestimmtheit bzw. doppelter Kontingenz in sozialen Kontaktsituationen, die auf Strukturbildungen angewiesen sind, um daraus Ordnung zu schöpfen. Struktur benutzt den Sachverhalt unstrukturierter Komplexität, um sie in strukturierte Komplexität zu überführen: Ein Wort ist gesprochen, ein Satz gesagt, ein Thema zeichnet sich ab - was wie natürlich anzulaufen scheint, ist theoretisch jedoch ein nicht ohne weiteres zu erklärendes Phänomen. Der Strukturbegriff ist in der Systemtheorie als „Einschränkung der im System zugelassenen Relationen" definiert (Luhmann 1984, S. 384). Struktur ordnet demnach das Verhältnis möglicher Relationierungen von Elementen in einem System. Sie konditioniert den Prozess fordaufender Kommunikationen, indem sie bestimmte Kommunikationen nahe legt und andere ausgrenzt. Auf diese Weise wird eine Auswahl an Selektionsmöglichkeiten aktualisiert, die sich über Zeitdistanzen hinweg stabil halten lässt. Indem die Struktur den Horizont sinnhafter Verweismöglichkeiten reduziert, gewinnt das bislang noch Unbestimmte eine Form und gibt den basalen Systemprozessen Orientierung und Halt. Die Strukturen sozialer Systeme sind immer Erwartungsstrukturen. Damit ist Verschiedenes zugleich ausgesagt. Allgemein gesprochen sind Erwartungen zunächst in die Zukunft gerichtete Antizipationen, also Vorgriffe auf eine noch nicht eingetretene Situation: So zum Beispiel, wenn der geladene Gast vom Gastgeber erwartet, als Gast behandelt zu werden. Ohne die Situation in allen Ablaufdetails

59 kennen zu müssen, können sich beide Seiten eine ungefähre Vorstellung darüber verschaffen, was sie in diesem Kontext erwartet. In diesem Sinne ist jede Erwartung eine Vorwegnahme von Einschränkungen in Bezug auf die Ungewissheit und Kontingenz einer noch nicht eingetretenen Situation: „Sie ist letztlich nichts anderes als diese Einschränkung selbst" (ebd., S. 397). Strukturen des Erwartens sind potenziell selbstreflexiv: Wo immer Erwartungen auftreten, kann man erwarten, das s auch andere erwarten, und somit das eigene Erwarten an dem (unterstellten) Erwarten anderer kontrollieren. Immer wenn der Sachverhalt reflexiven Erwartens vorliegt, entsteht demnach Struktur. .Einschränkung der im System zugelassenen Relationen' ist im Hinblick auf die Erwartung somit gleichbedeutend mit der wechselseitigen Erwartungserwartung: Wer erwartet, reduziert Kontingenz; wer hingegen Erwartungen erwartet, produziert damit Struktur. Der systemtheoretische Strukturbegriff ist somit gegen das soziologische ,Normalverständnis' gebaut: Strukturen liegen nicht (voraussetzungslos) vor, sondern sie sind als ein sich kontinuierlich selbst reproduzierender Process zu verstehen. Grundlage dafür ist die Reflexivität des Erwartens, die den Aufbau hochgradig komplexer Strukturen erlaubt und das situative Geschehen in seinen Möglichkeiten mitunter extrem restringiert: Man erwartet vom anderen, dass er das an ihn adressierte Erwarten erwartet und sich den erwarteten Erwartungserwartungen entsprechend verhält. Die Reflexivität des Erwartens schiebt sich dabei mitunter derart komplex übereinander, dass ein System unter dem eigenen Erwartungsdruck kollabiert: Man erwartet Erwartungen, von denen man annimmt, dass sie unerfüllbar sind, so dass man die antizipierte Situation von vornherein meidet.21 Werden Erwartungen reflexiv, dann begründen sie mitunter die Unterstellung, dass andere gleich, oder wenigstens ähnlich erwarten, so dass deren Erwartung im eigenen Erwarten gleich mitbedacht werden kann: Takt, Etikette, Höflichkeit, aber auch Situations- oder Menschenkenntnis sind im Hinblick auf Erwartungs(un)sicherheit funktional äquivalent. Sie stellen Kontinuität und Wiederholbarkeit des Erwartens in Aussicht, auch wenn diesbezügliche Sicherheit nicht immer zweifelsfrei gewährleistet ist. Struktur ist Erwartung, die sich - sofern sie erwartet wird - gewissermaßen im Selbstkontakt realisiert. Sie ist Ausdruck und Maß einer Sinn- resp. Verhaltensselektivität, die den Möglichkeitsspielraum der von ihr Betroffenen deutlich begrenzt. In diesem Sinne antizipiert jede Strukturbildung immer schon ihre eigene Leistung; sie verschafft der sozialen Situation

Es versteht sich von selbst, dass in der Möglichkeit wechselseitiger Erwartungsunterstellungen hohe Irrtumswahrscheinlichkeiten eingebaut sind, die im Extremfall die Selbstreproduktion eines Systems entweder sabotieren oder auf eher unwahrscheinliche Weise stabilisieren können, vgl. nur Merton 1957.

60 ein ausreichendes Maß an Verhaltenssicherheit, indem Erwartungen vorhersehbar und damit erwartbar gemacht werden. Erwartungsstrukturen bestehen - ebenso wie die durch sie konditionierten Relationen - immer systemrelativ und umfassen das Erwartbare sowie das NichtErwartete gleichermaßen. Entsprechend stellt sich die Erwartung auch auf das Unvorhersehbare, auf Überraschungen ein. In diesem Kontext offeriert die Systemtheorie verschiedene Sachgesichtspunkte der Identifikation von relativ zeitfesten Erwartungszusammenhängen quer zur Funktion eines Systems, die dazu beitragen können, das Unvorhersehbare so weit als möglich zu minimieren: Personen, Rollen, Programme und Werte.22 Zum Beispiel sind Personen im Hinblick auf Identifikationsgesichtspunkte des Sozialen wichtige Konstrukte der Zurechenbarkeit von Verhaltenserwartungen, sowohl der eigenen wie der fremden. Einer Person wird Kontinuität ihres Verhaltens unterstellt, auf die man sich einstellen, die man erwarten kann, wenn man mit ihr interagiert. Selbst das Wissen um die prinzipielle Unberechenbarkeit einer bestimmten Person (Choleriker) verschafft der eigenen Erwartung vorläufig Gewissheit. Demgegenüber bezeichnen Rollen einen spezifischen Verhaltensausschnitt, der sich vom Wissen um die Eigenarten einer bestimmten Person abgrenzen lässt. Es genügt dann beispielsweise zu wissen, dass man einen Vorgesetzten zum Gegenüber hat, um Erwartungserwartungen (relativ) unabhängig von persönlichen Eigenarten an spezifischen Rollendifferenzen orientieren zu können. In diesem Fall bemisst sich das dominierende Strukturprinzip an der Unterscheidung zwischen Vorgesetzten und Untergebenen, also vornehmlich an Hierarchie. Programme wiederum regeln die Bedingungen von Richtigkeit unabhängig von der Person und deren (Rollen)Verhalten. Sie werden typischerweise von mehr als nur einer Person, also arbeitsteilig erwartbar gemacht. Ihre Aufgabe ist es, spezifische Anforderungen in einer gegebenen Situation zu konkretisieren, sei es einmalig oder repetitiv. Der Modus einer konditional programmierten Situation beispielsweise sieht vor, dass bei Vorliegen eines Sachverhaltes X immer die Maßnahme Y eintreten soll. Das schließt die gleichzeitige Orientierung an Personen und Rollen natürlich nicht aus. Aber auf der Grundlage von Personen und Rollen allein lassen sich Programme noch nicht hinreichend spezifizieren. Schließlich sind auch Werte stabile Orientierungen des individuellen Erwartens. Systemtheoretisch gesprochen handelt es sich dabei um symbolisch generalisierte Gesichtspunkte einer sozialen Präferenz, an der sich die Erwartungserwartung festmachen kann und sich als Erwartung legitimiert. Man vermutet allgemein, dass auch der andere für Frieden, Gleichheit und Freiheit ist, und rechtfertigt diese Erwar-

22

Für die nachfolgenden Überlegungen, vgl. näher Luhmann 1984, S. 429 ff.

61

tung auf Grund von Werten.23 Als symbolisch generalisierte Präferenzen dienen Werte der kommunikativen Letzt-Begründung von Einstellung und Verhalten, gegen die nicht opponiert werden kann, ohne damit zugleich auch grundlegende Orientierungen wechselseitiger Erwartungsunterstellungen zu riskieren. Indem die Beteiligten sich gegenseitig zeitübergreifende Orientierungen unterstellen, produzieren sie damit eine Struktur, die das situativ mögliche Ablaufgeschehen drastisch beschneidet. Unabhängig davon, auf welcher Grundlage man die Strukturen des Erwartens im Einzelnen identifiziert (ob auf der Grundlage von Personen, Rollen, Programmen oder Werten) - stets werden konkrete Anschlussoperationen erwartbar, andere hingegen scheiden aus. Zwar könnte prinzipiell alles anders sein, dennoch erscheint den Beteiligten das Spektrum an Anschlussmöglichkeiten ihres Verhaltens typischerweise eher begrenzt, das heißt durch Strukturen des Erwartens vorreguliert und erkennbar geordnet. Der Kommunikationsprozess erhält durch Erwartungserwartungen eine ,innere Führung', die dafür sorgt, dass sich die einzelnen Ereignisse der Kommunikation prozessual so miteinander verketten, dass die Selektivität des einen die des anderen verstärkt. Fragt man nun genauer nach dem ,Wie' der Relationierung von Struktur, Prozess und Ereignis im Hinblick auf die selbstreferenzielle Systemreproduktion, so muss man Kommunikation und Handlung erneut separat analysieren. Für Kommunikation sind vor allem zwei Steuerungsgesichtspunkte konstitutiv, die das System relativ zeitstabil reproduzieren. Zunächst einmal wird Kommunikation über Themen strukturiert. Sie ist ein über Themen integrierter Prozess (vgl. Luhmann 1984, S. 213 ff.), der sich als Differenz von Beitrag und Thema konstituiert. Die Themenwahl gibt der Kommunikation die erforderlichen Kontrollmöglichkeiten an die Hand, um über die Zugehörigkeit und Qualität einzelner Beiträge entscheiden zu können. Themen präjudizieren unter Umständen schon im Vorfeld, wer zu ihnen etwas beisteuern kann, das heißt sie selektieren zudem auch sozial; darüber hinaus geben sie einen zeitlichen Rahmen vor, der - je nach dem ,Alter' des Themas - irgendwann ausgeschöpft ist. Kurz: Themen diskriminieren einzelne Beiträge unter dem Gesichtspunkt ihrer sachlichen, sozialen und zeitlichen Zugehörigkeit; sie sind, wie Luhmann es ausdrückt, „gleichsam die Handlungsprogramme der Sprache" (ebd., S. 216).

23

Luhmann 1984, S. 434; vgl. fetner ders. 1995, S. 120 f.; 1987, mit dem Hinweis, Werte seien gleichsam der blinde Fleck der Beobachtung und der Handlung (S. 168).

62 Unterhalb der Ebene von Themen gibt es einen weiteren Steuerungsgesichtspunkt, der die über Kommunikation aktualisierten Selektionen prozessual miteinander verknüpft: Gemeint ist hier das Verstehen als dritter Modus der Selektion von Kommunikation. Verstehen bringt Selbstreferenz in die Kommunikation. In diesem Sinne spricht die Systemtheorie von der rekursiven, auf sich selbst bezugnehmenden Absicherung kommunikativer Prozesse.24 Kommunikation ist ein auf sich selbst referierender, durch Verstehen konditionierter Prozess. Eine Mitteilung, die der andere erkennbar versteht, braucht man nicht mehr zu wiederholen, es sei denn man legt aus anderen Gründen Wert auf Redundanzen; wird dagegen ein Nicht- oder gar Missverständnis offensichtlich, so bedarf die Mitteilung einer Korrektur oder Präzision. Mitlaufende Verstehenskontrolle ist insofern gleichbedeutend mit der midaufenden Selbstreferenz im System, die Kommunikation über Kommunikationen veranlassen kann und damit das kommunikative Prozessgeschehen konditioniert.25 Verstehen ist gleichsam das kommunikative Kontrollparadigma sozialer Systeme in Bezug auf die Einheit von Ereignis, Prozess und Struktur. Im Unterschied zur Kommunikation liegen die Dinge in Bezug auf Handlung etwas anders. Wie schon erwähnt ist Handlung vor allem eine Kategorie der Selbstbeschreibung und Selbstbeobachtung im System. Handlung ist das Produkt der Zurechnung von Kommunikation auf ein System und somit abhängig von der die Zurechnung realisierenden Instanz. Anders als Kommunikation hat die Handlung kein ,Thema'; ebenso wenig sind dafür Selektionen konstitutiv, die für eine prozessuale Verklammerung sorgen. Dennoch sieht die Systemtheorie auch für den Handlungskontext selbstreferenzielle Verknüpfungen vor, die über das Sinngeschehen laufen. Die Sinngebung einer Handlung, so formuliert die Systemtheorie, reagiert auf eine an sie selbst adressierte Erwartung: „Die Handlung bezieht sich auf sich selbst dadurch zurück, dass in ihren Sinn eingeht, dass sie erwartet wird" (Luhmann 1984, S. 401).

24

25

Vgl. Luhmann 1984, S. 198 ff.; ferner ders. 1986, S. 79 f., mit dem Hinweis, dass Verstehensoperationen sich primär auf die Handhabung von Selbstreferenz des je anderen beziehen, die man von der eigenen Selbstreferenz unterscheiden können muss - gerade auch dann, wenn das verstehende System sich in der Umwelt des verstandenen Systems erlebt. Der Prozess der Verstehens^o/tfro/Zi durch Kommunikation muss vom Verstehempioxess sorgfaltig unterschieden werden. Das Verstehen besorgt sich seine eigene Sicherheit zunächst intuitiv, also selbstreferenziell; es braucht sich um seine Richtigkeit nicht weiter zu kümmern. Erst Kommunikation macht den Prozess des Verstehens für andere sichtbar; dadurch beispielsweise, dass der Verstehende der Sinnzumutung des anderen widerspricht, dem daraufhin klar wird, dass der Verstehende nicht richtig verstanden hat. An späterer Stelle wird noch deutlich werden, dass die Konfliktkommunikation an die Beteiligten erhöhte Verstehensanforderungen stellt mit der Folge, dass auch die Kontrollansprüche des Verstehens zunehmen - was dann, wie man sich schon vorab ausmalen kann, gerade im Konflikt häufig misslingt.

63 In der systemtheoretischen Konzeption von Handlung besitzt der Terminus Sinngebung Verknüpfungsfunktion und ist Ausdruck einer selektiven Erfahrung. Zum Beispiel ist .Handlung' das Amalgam einer auf zukünftige Ereignisse gerichteten Erwartung und der Wahrnehmung aktueller Ereignisse in einer spezifischen Situation. Man definiert den Sinn einer Handlung gemäß der eigenen Erwartung und rechnet sie dem gemäß auf sich selbst oder auf andere zu. Sagt man zum Beispiel, die Regierung kümmere sich nicht um das Problem der Massenarbeitslosigkeit, so ist .Unterlassung' die Handlung eines Systems. Der Zurechnungsvorgang ist einerseits Konsequenz einer auf die Gegenwart gerichteten Wahrnehmung, die mit zukunftsrelevanten Erwartungen kontrastiert; andererseits wird durch die Handlungszurechnung selbst eine Handlung begründet: Je nachdem, welche Absicht der Handlungszurechnung zugrunde gelegt wird, kann sie als Kritik, als Aufforderung oder als Protest aufgefasst werden. Vielleicht steht hinter der Zurechnung die Erwartung, dass angesichts der Massenarbeitslosigkeit rasch Abhilfe geschaffen wird; vielleicht geht es vornehmlich darum, die Untätigkeit der Regierung bloßzustellen, um sie auf diese Weise zu diskreditieren. Sicher ist nur, dass alles, was im System als Handlung erscheint, sich im Prozess der Kommunikation sinnhaft realisiert. So gesehen ist ,Handlung' das Resultat einer komplexitätsreduzierenden Abstraktion: Jede Zurechnung als Handlung ist bis zu einem gewissen Grad immer unterkomplex, weil sie sich als selbstreferenzielle Zurechnung selber genügt. Unabhängig davon, welche Letzt-Einheit des Systems (Kommunikation oder Handlung) aktuell im Vordergrund steht, immer sind Erwartungsstrukturen mit im Spiel. Sie greifen bis auf die Ebene der Einzelereignisse durch und regeln ihre fortlaufende Reproduktion. Erwartungsstrukturen sind demnach Momente der Selbstorganisation bzw. Selbstreproduktion sozialer Systeme. Diese Funktionsbestimmung hat die Systemtheorie nachfolgend in der These zusammengefasst, dass soziale Systeme wesentlich selbstreferenyielle Systeme seien. Diese könne man nur dann angemessen beschreiben, „wenn man dem Umstände Rechnung trägt, dass sie mit jeder Operation sich auch auf sich selbst beziehen" (Luhmann 1984, S. 593). Referieren meint in diesem Zusammenhang eine Operation, die Unterscheidungen zur Bezeichnung sozialer Sachverhalte einsetzt. Selbstreferen^ ist demnach eine Bezeichnung nach Maßgabe einer Unterscheidung, in die das von ihr Bezeichnete miteingeschlossen ist (ebd., S. 600). In diesem Sinne unterscheidet die Systemtheorie drei verschiedene Formen: basale Selbstreferenz, Reflexivität und Reflexion. Rasale Selbstreferenζ bezieht sich auf die Unterscheidung von Element und Relation. Die Systemtheorie definiert diesen Typ als die Mindestform der Selbstreferenz, die auf die het^t-Hlemente eines Systems referiert. Das .Selbst', auf das in diesem

64 Kontext zurückverwiesen wird, bezeichnet zum Beispiel die Sinnfestlegung einer Handlung, die sich an ihrer eigenen Erwartung orientiert und sich darin von anderen Handlungen unterscheidet. Im Hinblick auf Kommunikation dagegen liegt derselbe Mechanismus mehr in den Verstehensmöglichkeiten und Verstehenskontrollen begründet. Ausgehend vom Verstehen realisiert sich Kommunikation retrospektiv von ihrem Ende her; über Verstehenskontrollen reagiert die Kommunikation auf sich selbst, was sie dazu befähigt, sich rekursiv als kommunikatives Einzelereignis zu reproduzieren (ebd., S. 607 ff.). Im Hinblick darauf sind Erwartung (in Bezug auf Handlung) und Verstehen (in Bezug auf Kommunikation) funktional äquivalent. Beide Male fließt in die Bezeichnung systemischer Letzt-Elemente eine Unterscheidung mit ein (hier: Erwartung bzw. Verstehen), die selbst schon Teil des Bezeichneten ist. Reflexivität dagegen bezieht sich auf die zeitliche Unterscheidung von Vorher und Nachher. Das ,Selbst' der Referenz ist hier also nicht das einzelne Systemelement, sondern ein auf sich selbst anwendbarer Process. Reflexive Prozesse verstärken ihre Selektivität in dem Maße, wie sie sich auf sich selbst beziehen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn man über Kommunikationen kommuniziert, Beobachtungen beobachtet, für Geld bezahlt, wahre Aussagen über Wahrheit(en) macht oder sich bemüht, das Lernen besser zu lernen. Wie diese Beispiele zeigen, bedient sich Reflexivität in sozialen Systemen einer kommunikativen Form, der es gelingt, sich selbst zum Thema zu machen, indem sie sich selbst reflektiert. Dabei leuchtet ein, dass jede Reflexivität die Selektivität von Prozessen zwangsläufig erhöht, so beispielsweise, wenn ein Machthaber darüber nachdenkt, wie er seine Machtpositionen ausbauen kann, um seine Stellung zu sichern. Indem sich die Selektionsleistung rekursiv auf die eigene Prozesstypik bezieht, wird diese für ihre eigene Anwendung zunehmend sensibel. Die Anwendung systemischer Prozesse auf sich selbst steigert dementsprechend die systemische Konditionierung (ebd., S. 610 ff.). Wenn man beispielsweise über Kommunikation kommuniziert, schreibt man den Kommunikationsprozess zwangsläufig auf ein höheres Abstraktionsniveau fest: Warum sagt der andere das? Warum gerade jetzt? Worin liegt die Bedeutung? Reflexion als dritte Form von Selbstreferenz bezieht sich auf die System/ UmrnltUnterscheidung mit Referenz auf das je eigene System. Damit ist gemeint, dass Sachverhalte - gleich welcher Art - nur innerhalb der Systemgrenzen konstituiert und beobachtet werden können.26 Indem ein System sich an der System/ Umwelt-Differenz orientiert, erlebt es sich als von seiner Umwelt verschieden, und 26

Das schließt nicht aus, dass in der Umwelt eines Systems auch andere zur Reflexion fähige Systeme vorkommen können; fraglich ist aber, ob und inwieweit diese einen identischen Sachverhalt auf vergleichbare Weise reflektieren.

65 diese Verschiedenheit wiederum stimuliert Reflexion - etwa mit dem Ziel, Vergleiche anzustellen oder Relationierungen zu überprüfen, durch die es zu seiner Umwelt in Kontakt treten kann. Jede Reflexion führt insofern auf Formen der Selbstbeschreibung, der Selbstdarstellung und der Selbstvergewisserung zurück und steuert sowohl Festlegungen wie auch Abweichungen in der je eigenen Struktur (ebd., S. 617 ff.). Reflexion im Modus der Selbstbeobachtung erzeugt Einheit, im Modus der Fremdbeobachtung Differenz. Zusammengenommen ergeben die verschiedenen Formen der Selbstreferenz eine Gesamtperspektive sozialer Systeme, in der alles, was sie als Einheit verwenden, innerhalb der Systemgrenzen hergestellt wird. Jede Operation basaler Selbstreferenz unterstützt die systemische Selbstreproduktion auf der Ebene ihrer Elemente, jeder reflexive Prozess verstärkt deren Selektivität, und jede Reflexion sichert darüber hinaus die systemische Identität. In dem Maße, wie das System Kontinuität, Ausdehnung und Autonomie in der selbstreferenziellen Reproduktion seiner Elemente erreicht, wird es gegenüber seiner Umwelt zunehmend autark. Das System gewinnt einen Eigenwert, der es ihm gestattet, seine Operationen weitgehend unabhängig von denen seiner Umwelt zu kontrollieren. In diesem Sinne sind selbstreferenzielle Systeme immer geschlossene Systeme, die durch die laufende Rückbeziehung ihrer Prozesse auf sich selbst keiner direkten Einflussnahme von Außen zugänglich sind. Allerdings hat die Systemtheorie die harte Bedeutung der These von der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme sogleich auch wieder relativiert: Trotz selbstreferenzieller Schließung sei die Selbstreferenz sozialer Systeme nicht absolut, sondern nur als midaufende Selbstreferenz zu verstehen, als solche also, die sich nicht vollständig in ihrem eigenen ,Selbst' erschöpft. Geschlossenheit ist demnach kein Selbstzweck sozialer Systeme, sondern Bedingung ihrer Offenheit einer Umwelt gegenüber, deren Komplexität sich im System niemals vollständig abbilden lässt (ebd., S. 606). Lahmann zufolge sind die Möglichkeiten für die systemische (Umwelt-) Offenheit trotz operativer Schließung zunächst und vor allem in der Codierung von Sprache begründet, die für jede Sinntatsache eine Negationsmöglichkeit vorsehen muss. Alles, was im System in Betracht gezogen, was gesagt und worüber kommuniziert werden kann, kommt entweder unter Zustimmungs- oder unter Ablehnungsaspekten in Betracht. ,Geschlossenheit' sozialer Systeme heißt zuerst und vor allem: „Kontrolle der eigenen Negationsmöglichkeiten bei der Herstellung der eigenen Elemente" (ebd., S. 603), sie schließt also den Kontakt zur Umwelt nicht notwendig aus. Die in jeder systemischen Kommunikation qua Ablehnung mitlaufende Selbstkontrolle macht die umweltunabhängige und rekursive Reproduktion von Elementen zum einen erst möglich, da alles, was die

66 systemische Reproduktion stört oder behindert, auf diese Weise abgewehrt werden kann; andererseits wird Negation auch als ein Testfall für gelingende oder misslingende Kommunikationen benutzt, an dem Systeme ihr Verständnis der füir sie relevanten Umwelt überprüfen. Die selbstreferenzielle Reproduktion sozialer Systeme hält sich damit für Unbestimmtes, mitunter auch für Risiken und Gefahren aus seiner unmittelbar relevanten Umwelt bereit.27 Nach diesem Schnelldurchlauf durch die zentralen Theoriekomponenten der Systemtheorie ließe sich der Konflikt analog zu den allgemeinen Konstitutionsprinzipien sozialer Systeme vorläufig folgendermaßen charakterisieren: Konflikte werden - zuerst mal und vor allem - prozesshaft ausdifferenziert. Ihre Ausdifferenzierung ist an die Kommunikation über Wahrnehmungen von Handlung gebunden. Typisch für die systemische Ausdifferenzierung sozialer Konflikte ist, dass sich die kommunizierten Sinnzumutungen im weiteren Verlauf wechselseitig negieren. Darauf aufbauend erfolgt ein Prozess systemischer Selbstorganisation, in dem sich die einzelnen Systemelemente (Kommunikationen) selbstreferenziell reproduzieren. Wahrscheinlich ist, dass sich dabei Erwartungsstrukturen auskondensieren, durch die das System seine Identität stabilisiert. Selbstreferenz heißt, dass sich der Konflikt mit seinen basalen Prozessen primär auf sich selber bezieht, was die Selektivität aller weiteren Operationen mitunter soweit verstärkt, dass sie dem System erwartungsstrukturell Halt und Orientierung gewähren. Die nächsten Abschnitte in diesem Kapitel wenden sich nunmehr der systemtheoretischen Konfliktanalyse zu. Maßgebend für ihre Bewertung ist, inwieweit das hier vorgestellte analytische Potenzial auf den Konflikt anwendbar ist und inwieweit die Systemtheorie dieses auch ausschöpft.

Doppelte Kontingenz Der Prozess der Ausdifferenzierung sozialer Konflikte lässt sich am besten in Analogie zur Konstitution einfach organisierter Sozialsysteme exemplifizieren. Die Emergenz einfach organisierter Sozialsysteme stellt sich nach Auskunft der Theorie folgendermaßen dar: Sobald Individuen zueinander in Kontakt, das heißt wechselseitig zueinander in ihren Wahrnehmungsbereich treten, fangen sie an, ihr eigenes Verhalten am Verhalten des je anderen zu orientieren. Wir lassen die weiteren Feinheiten der Kontaktinitiation (Blicke, kinetische Signale und

27

Die Balance von Öffnung und Schließung sozialer Systeme ihrer Umwelt gegenüber wird in der Systemtheorie begrifflich als strukturelle Kopplung gefasst, die sich ihrerseits wieder an der Negationsmöglichkeit durch Sprache orientiert; Luhmann zufolge werden analog ablaufende Umwelttatsachen durch strukturelle Kopplung .digitalisiert', das heißt in eine Entweder/ Oderbzw. in eine Ja/ Nein-Form gebracht, vgl. Luhmann 1997, S. 101 bzw. S. 779.

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ähnliches mehr) zunächst außer acht und unterstellen, dass ein »Alter*28 - aus welchen Gründen auch immer - den ersten Schritt in Richtung Kontaktinitiation unternimmt und sich für ein Verhalten entscheidet. Bereits in dieser Anfangssituation ist Alters Verhalten zu einem nicht unwesentlichen Anteil für Egos Wahrnehmung bestimmt, das heißt es muss seine Absichten für Ego an sich selbst dokumentieren (beispielsweise durch einen Gruß). Damit bietet Alter eine erste fundamentale Orientierung für die sich anschließende Interaktion. Alter kann sehen, wie Ego auf seine Selektion (den Gruß) reagiert, und darauf aufbauend über sein weiteres Verhalten disponieren. Zug um Zug kommt es zu einem akkordierten Prozess wechselseitiger Verhaltensreaktionen, der dann nicht mehr beliebig variiert oder gestoppt werden kann. Im Verlauf kristallisiert sich auf diese Weise eine Ordnung heraus, die im gleichen Maße, wie sie prozessiert, den Horizont alternativer Verhaltensoptionen deutlich beschneidet. Diesen Prozess bezeichnet die Systemtheorie als Ausdifferenzierung sozialer Systeme.29 Soziale Systeme sind emergente Ordnungsleistungen, also Produkt der Tatsache, dass in jeder Kontaktsituation Kommunikation beinahe zwingend notwendig wird. Die Transformation unstrukturierter (Umwelt-) Komplexität in strukturierte (System-) Komplexität bedeutet aber nicht notwendig auch, dass die Gewähr für den Ordnungsaufbau in den übereinstimmenden, von beiden Seiten gleichermaßen akzeptierten Erwartungsunterstellungen der Beteiligten liegt. Weder Ordnung, geschweige denn Struktur, sind auf gegenseitigen Konsens angewiesen; häufig sind sie gerade nicht das Produkt der Zustimmung aller - schon eher trifft das Gegenteil zu.30 Denn alles, was sich überhaupt an Erwartungen kommunikativ realisiert, wird auf der Ebene des Systems neu arrangiert. Mit dieser Überlegung, dass der systemische Strukturaufbau nicht mit dem Konsens der 28

29

30

Zur weiteren Bezeichnung prozessualer Eigenschaften der Interaktion benutzen wir nachfolgend des öfteren die Begriffe .Alter' und ,Ego', die sich über die transzendentale Subjektphilosophie bzw. Phänomenologie im soziologischen, insbesondere auch systemtheoretischen Sprachgebrauch eingebürgert haben. Alter und Ego bezeichnen hier jedoch nicht nur konkrete Individuen, sondern stehen unspezifisch für systemische Erwartungscollagen, für Adressen der Zurechnung, die - anders als in der Phänomenologie - das individuelle Bewusstsein übergreifen. Vgl. dazu Luhmann 1984, S. 157: „Das, was sie [gemeint sind Alter und Ego, H.M.] beobachten, können sie durch ihr eigenes Handeln zu beeinflussen versuchen, und am feedback können sie wiederum lernen. Auf diese Weise kann eine emergente Ordnung zustande kommen, die bedingt ist durch die Komplexität der sie ermöglichenden Systeme, die aber nicht davon abhängt, dass diese Komplexität auch berechnet, auch kontrolliert werden kann. Wir nennen diese emergente Ordnung soziales System." Tatsächlich ist in vielen Fällen ein Ordnungsaufbau weniger dem koordinierten Konsens, als vielmehr dem wechselseitigen Negieren geschuldet, das widersprüchliche bzw. konkurrierende Erwartungen, Absichten und Interessen in der Schwebe hält, wie beispielsweise im Falle von Märkten, Parlamenten oder wissenschaftlichen Theorien. Wäre dies anders, dann hätten Individuen Ähnlichkeit mit Maschinen, deren Output (Verhalten) bei gegebenem Input (Stimulus) nicht variieren kann (es sei denn, sie wären defekt).

68 daran Beteiligten gleichgesetzt werden darf, leiten wir zu der Frage über, wie die Systemtheorie,Konflikt' konzipiert. Im vom Konsens unabhängigen Strukturaufbau sozialer Systeme sind die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Konflikte in einem sehr tiefgreifenden Sinne immer schon impliziert. Diesem Umstand wird durch den system theoretischen Begriff doppelter Kontingent Rechnung getragen. In seiner weitesten Fassung bezeichnet er alle Sachverhalte, die weder notwendig noch unmöglich sind. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass jeder Sachverhalt auch anders hätte ausfallen können (vgl. Luhmann 1984, S. 152). Ursprünglich stammt der Begriff aus dem Strukturfunktionalismus Panonsscher Prägung. Parsons hatte gemeint, dass jede sozial geordnete Situation das grundsätzliche Problem lösen muss, wie sich das Verhalten von Alter und Ego in wechselseitiger Abhängigkeit fesdegt. Beide Seiten wissen, dass sie in Abhängigkeit vom Verhalten des jeweils anderen über ihr eigenes Verhalten entscheiden (Parsons 1968). Das daraus resultierende grundsätzliche Problem hatte Parsons in der Frage zusammengefasst, wie es möglich sei, dass sich auf dieser Basis zuverlässige Verhaltenserwartungen herausbilden könnten. Die Antwort Parsons' hatte bekanntlich gelautet: unterstellter Wertekonsens. Dieser Vorschlag ist aber für die Systemtheorie Luhmanns aus verschiedenen Gründen inakzeptabel (vgl. Luhmann 1981e, S. 13 ff.; ders. 1981 f., S. 258 ff. und 1984, S. 148 f.) - zum einen, weil sich die Parsonss che Problemlösungsformel auf ein bezüglich seiner Herkunft und Entstehung unerklärt gebliebenes Kulturerbe stützt, und zum andern, weil sich ein Wertekonsens allein in der Sozialdimension realisiert. Mit dieser Antwort lasse sich Parsons auf voreilige Reduktionen ein, die weiterführende Analysen verhinderten.31 Anstelle von (unterstelltem) Wertekonsens schlägt huhmann mit dem Begriff der Selektion eine inhaltlich neutralere Lösung des Kontingenzproblems vor, wodurch sich Systeme für alle Arten von Unwägbarkeiten und Zufälle öffnen. Im Anschluss an die Begriffe Notwendigkeit' bzw. .Unmöglichkeit' betrachtet huhmann die Einheit doppelter Kontingenz als selbstreferenziellen Zirkel, der die Beteiligten zu einer Auflösung, und das wiederum heißt: zum Strukturaufbau zwingt. Dieser Zirkel hat die Struktur: Ich tue, was du willst, wenn du tust, was ich will (Luhmann 1984, S. 166 ff.). Situationen doppelter Kontingenz setzen ein Mindestmaß an wechselseitiger Beobachtung voraus ohne vollständige Transparenz (im Sinne von: Durchschaubarkeit der Motive) zu erreichen. Entsprechend

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Dieser Kritikpunkt ist Bestandteil einer prinzipiellen Kritik von Luhmann an Parsons, die im wesentlichen stets nach dem gleichen Muster verfahrt: Die unhinterfragte Einführung zentraler Theoriebegriffe bei Parsons (beispielsweise Komplexität, Sinn, Struktur, oder wie hier: Werte) erzwinge theoretische Festlegungen, welche die Theorie dann nicht weiter reflektieren und auflösen kann, vgl. Luhmann 1974b, S. 114; ferner 1980 und 1981d, S. 52 ff.

69 lässt sich selbstreferenzielle Zirkularität weder vermeiden, noch mit den Mitteln der (zweiwertigen) Logik lösen. In Bezug auf den Anfang einer noch Undefinierten Kontaktsituation besteht im Hinblick auf die Auflösung dieses Zirkels daher auch keine Gewissheit verbürgende Realität - außer der: man unterläuft den Zirkel und fängt einfach an.32 Sofern keine Interaktion am gesellschaftlich absoluten Nullpunkt, das heißt ohne die Unterstellung einer Erwartung beginnt, sind die Verhaltensrisiken (wie beispielswOeise die eines Erstkontakts zwischen Fremden) selbst in einer vollständig Undefinierten Anfangssituation begrenzt, die Enttäuschungswahrscheinlichkeit mithin kalkulierbar. Soziale Anfangssituationen sind weder vollständig unstrukturiert noch sind sie vollständig determiniert. Der Zirkel doppelter Kontingenz bezeichnet demnach eine relativ instabile Kernstruktur sozialer Systeme, die zwingend nach Auflösung, nach Enttautologisierung verlangt. Im Hinblick darauf ist der Systemaufbau gleichbedeutend mit der Geschichte seiner Enttautologisierung. Mit jedem Verhalten werden kontinuierlich Unsicherheiten absorbiert und Informationen erzeugt, an denen sich das Verhalten des anderen orientieren und sein Erwarten ausrichten kann. Es entsteht das Spiegelungsverhältnis eines alter Ego, in dem Ego für das alter Ego ein Alter ist. Mit zunehmend systemischer Ordnung wird die Unbestimmtheit einer doppelt kontingenten Ausgangssituation in ,Strukturprojektion und Enttäuschungsrisiko' (Luhmann 1984, S. 182 ff. (S. 185)) überführt. Daran wird deutlich, dass doppelte Kontingenz als Strukturproblem sozialer Systeme weiterbesteht. Auch wenn im Licht bereits stattgefundener Interaktionen die Unstrukturiertheit einer Situation sich immer weiter reduziert, heißt dies dennoch nicht zwingend, dass jede weitere Reaktion deshalb schon vorhersehbar ist. Mitunter trifft eher das Gegenteil zu. Schon der Versuch, Alters Verhalten vorherzubestimmen (beispielsweise weil sich Ego davon Kontrollvorteile verspricht), kann diesen dazu bewegen, seinem Verhalten eine andere Richtung zu geben. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass in dem Maße, wie Egos Vorhersehbarkeitsinteressen deutlich werden, Alter sich diesen entzieht.33 Strukturaufbau heißt also nicht: vollständige

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33

Diese Strukturlücke lässt sich mit Hilfe konventioneller Interaktionsregeln (Takt, Begrüßungsund Höflichkeitsrituale) im allgemeinen leicht überbrücken, wenngleich damit allein noch nicht sichergestellt werden kann, dass eine Synthese unkoordinierter Verhaltenserwartungen tatsächlich gelingt. In diesem Fall hilft Vertrauen im Sinne eines Zutrauens zu den eigenen Erwartungen bzw. in generalisierte Verhaltenserwartungen, vgl. Luhmann 1973. Dass man vertraut, ist schon Indiz für die eine Situation präjudizierende Erwartung. Vgl. Luhmann 1984, S. 170 ff. Die Motive hierzu können sehr unterschiedlich sein, sie haben jedoch einen gemeinsamen Grund, namentlich den, die Freiheit und Dispositionsmöglichkeiten im Hinblick auf das eigene Verhalten zu schützen.

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Elimination von Zufall, von Abweichung und Alternativen, viel eher ist damit eine Form des Eingrenzens unter Offenhalten für Alternativen bezeichnet. Diesen Überlegungen folgend hält sich die systemische Erlebnisverarbeitung den Zugang zur nicht-reduzierten und unbestimmbaren Umweltkomplexität verfügbar. Hier nun kommt schließlich auch der Widerspruch mit ins Spiel, der im Kontext doppelter Kontingenz den Verweisungsüberschuss sinnhafter Erlebnisverarbeitung kommunikativ realisiert: Die Tatsache, dass die Selektion auch anders hätte ausfallen können, wird vor allem an der Möglichkeit ihrer Negation manifest. huhmann zufolge bewirkt Negation, dass im System Alternativen offengehalten werden, das heißt: Negation zielt auf Wiederherstellung von Unbestimmtheit im System (ebd., S. 184). Ohne Negationsmöglichkeiten könnte die praktizierte Selektivität (einer Handlung, einer Kommunikation, einer Entscheidung etc.) nur schwer - wenn überhaupt - wieder korrigiert oder rückgängig gemacht werden. Gäbe es keine Möglichkeit der Verneinung, dann wäre der einmal festgelegte Systemzustand alternativlos, starr, unwiderruflich. Würde man im Systemaufbau nur eine linear progressive Eingrenzung von Unbestimmtheit sehen, dann wäre jeder Systemzustand mithin schon durch seine Ausgangsposition determiniert. Ohne aktualisiertes Kontingenzerleben käme jede Interaktion rasch zum Erliegen; ein System wäre hyperstabil und könnte auf Umweltanforderungen nicht mehr angemessen und flexibel reagieren.

Sprache und Widerspruch Das Problem doppelter Konüngenz bezeichnet den Ausgangspunkt sozialer Konflikte abstrakt: Sofern jeder Struktur- und Ordnungsaufbau des Systems auf einer Selektion prinzipiell kontingenter Operationen (sei es nun Handlung oder Kommunikation) beruht, hätten die Reaktionen der Beteiligten auch anders stattfinden können. Doppelte Kontingenz zwingt zu Verhaltensfestlegungen unter Unbestimmtheitsbedingungen, die der weiteren Interaktion grundlegende Orientierungen bieten.34 Gleichwohl ist das Unbestimmtheitsproblem damit aber nicht schon endgültig beseitigt. Selbst wenn jede einzelne Verhaltens fesdegung das Unbestimmtheitsproblem sukzessive eingrenzen kann, so lässt sich das Enttäu-

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Man könnte vermuten, dass unter diesen Voraussetzungen die Anfangsbedingungen einer Kontaktsituation für Konflikte besonders anfällig sind. Dem widerspricht aber - zumindest tendenziell - die empirische Erfahrung. Durchgängig alle bekannten Begrüßungsrituale haben die Funktion, Verhalten unter Unbestimmtheitsbedingungen zu akkordieren und dem anderen gegenüber Friedensbereitschaft zu signalisieren. Begrüßungsrituale sind insofern ausdrücklich auf Kontingenzabsorption und Konfliktrepression ausgelegt: Sie greifen schon auf Latenzebene auf die Bedingungen der Möglichkeit sozialer Konflikte zu und stimulieren zu explizit konfliktmeidenden Signalen.

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schungsrisiko dadurch nicht endgültig eliminieren. Ereignisse zerfallen und machen neuen Ereignissen Platz, so dass von Moment zu Moment immer wieder neue Überraschungen möglich werden. Dieser Sachverhalt wird deutlicher greifbar, wenn man doppelte Kontingenz nicht auf Handlung, sondern auf Sprache bezieht. Der Systemtheorie folgend ist Sprache das grundlegende Medium der Kommunikation. Sie benutzt Lautlichkeit zum Prozessieren von Sinn. Daher ruht sie auf einer Ja/ Nein-Struktur auf, die jede Kommunikation zwingend auf die Alternative der Annahme oder Ablehnung verpflichtet.35 Die Frage lautet, inwieweit Ego die an ihn adressierte Sinnzumutung als Prämisse seines Verhaltens akzeptiert und bereit ist, seine eigene Kommunikation an Alters Selektionen zu orientieren. Durch Sprache muten sich die Beteiligten Sinnselektionen zu, auf die sie implizit oder explizit reagieren müssen. Luhmann zufolge ist es vor allem die Ja/ NeinCodierung von Sprache, durch die sich ein System letztendlich selbst konditioniert. Nachfolgend interessieren wir uns vor allem für den Widerspruch als Form einer Ablehnungskommunikation und seinen Folgen im Hinblick auf die Selbstkonditionierung sozialer Systeme. In Anlehnung an die zweiwertige Logik definiert die Systemtheorie einen Widerspruch als Tautologie mit zugesetzter Negation: A ist (nicht) A ( Luhmann 1984, S. 493). Die rein logische Bedeutung des Widerspruchs setzt demnach Bestimmtheit voraus: Der Sachverhalt (ist A) braucht eine explizite Bestimmung, damit man ihn ablehnen kann (ist nicht A). Das bloß Unbestimmte lässt sich im Hinblick auf die Möglichkeit seiner Bestimmung zwar hinterfragen36, aber das allein reicht noch nicht aus, um ein Verhältnis der Ausschließlichkeit zu begründen. Die logische Einheit des Widerspruchs setzt ferner bewusste Wahrnehmung und Beobachtung voraus. Dass etwas ,ist' und zugleich ,nicht ist' bzw. .anders ist', ist logisch ausgeschlossen und kommt in der Dingwelt empirisch nicht vor. In diesem Fall liegt es nahe, die widersprüchlich erscheinenden Sachverhalte dem Bewusstsein eines Beobachters bzw. dessen Beobachtungsleistungen zuzuschreiben und zu unterstellen, dass dessen Bewusstsein kategorial falsch operiert. In der So^alwelt verhält es sich allerdings grundlegend anders. Hier wird die Einheit des Widerspruchs weniger durch die Logik (Bewusstsein) kontrolliert, son35

36

Vgl. Luhmann 1997, S. 226. Mit diesen Überlegungen greifen wir zurück auf die Annahme/Ablehnungs-Bifurkation als vierter Selektion der Kommunikation. Die Gründe, warum Luhmann zwischen Kommunikation (als dem Zusammenfallen dreier Selektionen) und Sprache (als dem Hinzutreten einer weiteren, vierten Selektion) explizit unterscheidet, werden nicht so recht evident. Jedoch ist der Modus von Annahme/Ablehnung im Kontext von Sprache sehr viel zentraler platziert. Inwieweit hier ein Problem im theoretischen Zuschnitt vorliegt, bedürfte aber zu seiner Klärung weiterführenden Analysen. „Vielleicht wird es morgen schöneres Wetter" - „Na ja, ich weiß nicht."

72 dem primär durch Kommunikation. Entsprechend verändern sich auch die Modalitäten der Widerspruchskonstitution. An die Stelle einer epistemologischen Paradoxic (Sein/ Nicht-Sein) tritt eine Kommunikation, die primär zwischen Z«mutbarkeitl Unzumutbarkeit einer Sinnofferte differenziert und darauf bezogen Zustimmung oder Ablehnung äußert. Es ist die Ablehnung einer kommunikativ übermittelten Sinnzumutung, welche die Einheit des Widerspruchs hier konstituiert: „Widersprüche sind", wie huhmann dies formuliert, „im System selbst konstituierte Synthesen, Zusammenfassungen von Sinnmomenten unter dem Gesichtspunkt der Unvereinbarkeit" (ebd., S. 525). Im Anschluss an den kommunizierten Widerspruch geht es - obwohl sich der Horizont kontingenter Verweismöglichkeiten auch hier reduziert - sinnlogisch zunächst einmal nicht reibungslos weiter. Die Sinnzumutungen Alters sind für ein Ego nicht mehr problemlos annehmbar. Sofern etwas ,sein soll', zugleich aber ,nicht sein darf, ist nicht mehr klar, an welcher Sinnselektion die weitere Kommunikation anschließen soll. Ein Widerspruch veranlasst die Beteiligten, nach neuen Verweismöglichkeiten Ausschau zu halten, die im bisherigen Themenrepertoire nicht bzw. nur begrenzt vorhersehbar waren, nun aber notwendig werden, um entscheiden zu können, wie die Kommunikation fortgeführt werden soll. Auf diese Weise kommt - systemintern produziert - Unbestimmtheit und Kontingenzerleben in die Kommunikation, die solange anhält, wie sich die Kommunikation den unvereinbaren Anforderungen eines Widerspruchs ausgesetzt sieht. Eine Folge davon ist: Alter sieht sich in seiner Erwartung der Selektionsübernahme durch Ego enttäuscht. Die Kommunikation muss sich neu orientieren, weil nicht mehr eindeutig erkennbar ist, welche Erwartungen gelten: „Widersprüche destabilisieren ein System, und sie machen dies an der Unsicherheit des Erwartens erkennbar" (ebd., S. 501). Sie sind, um das Thema des vorherigen Abschnitts aufzugreifen, artikulierte, versprachlichte Kontingenz. Im Hinblick darauf reagieren die Beteiligten anders als auf die widerspruchsfreie Kommunikation - aber sie reagieren. Zunächst ist nur sicher, dass im Ablehnungsfall geprüft werden muss, ob und inwieweit die bislang geltenden Strukturen mit den veränderten Voraussetzungen noch korrespondieren: Wenn Widersprüche das Erwarten irritieren, wenn sie das soziale Beziehungssystem destabilisieren, steht mitunter die Erwartungsstruktur selbst zur Disposition. 37 37

Dies wird von Luhmann allerdings anders gesehen: „Widersprüche, die Strukturen sprengen und sich selbst für einen Moment an ihre Stelle setzen, erhalten somit die autopoietische Reproduktion, sie ermöglichen Anschlusshandeln, obwohl unsicher ist, welche Erwartungen gelten. Anders gesagt: Widersprüche können in ein System inkorporiert werden, weil es diese Differenz gibt zwischen Selbstreproduktion und Struktur, zwischen Handlung und Erwartung", 1984, S. 503.

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Die systemtheoretische Analyse sozialer Konflikte „Von Konflikten wollen wir immer dann sprechen, wenn einer Kommunikation widersprochen wird (...) Ein Konflikt ist die operative Verselbständigung eines Widerspruchs durch Kommunikation" (Luhmann 1984, S. 530). Die systemtheoretische Konfliktdefinition setzt in Übereinstimmung mit den hier erörterten Begründungsprinzipien sozialer Systeme verschiedene Sachverhalte voraus. Sie gründet die Möglichkeit des Konflikts zunächst und vor allem auf die kommunikative Zumutung von Sinn, sowie auf die Notwendigkeit, darauf entweder mit Akzeptanz oder mit Ablehnung zu reagieren. Eine kommunizierte Sinnzumutung impliziert zweitens typischerweise die Erwartung, dass der andere die Sinnzumutung auch akzeptiert. Dafür ist drittens das Verstehen der vorhergehenden Sinnzumutung konstitutiv: Um einer Sinnzumutung widersprechen zu können, setzt dies ein gewisses Verständnis der Sinnselektion voraus, insbesondere gegenüber der Selektion einer Mitteilung und einer Information. Der Systemtheorie zufolge umfasst ein Konflikt demnach die Synthese zweier Kommunikationen: Eine, die Sinnzumutungen kommuniziert, und eine weitere, welche die Sinnzumutung in Frage stellt, abschwächt oder negiert. Konflikte sind demnach äußerst anspruchsame, ad hoc leicht zu realisierende Gebilde der Kommunikation, die weitgehend unabhängig von besonderen Ressourcen ihrer Umwelt auftreten können: Weder sind sie auf bestimmte Anwendungskontexte angewiesen, noch benötigen sie spezielle, der Widerspruchskommunikation vorgelagerte Motivationen (etwa besondere Bedürfnisse oder Interessen). Die Annahme einer dem Widerspruch zeitlich vorausliegende Standpunktdifferenz ist für die Ablehnung einer Sinnzumutung daher logisch nicht zwingend. Die Ablehnung braucht eigens keine Begründung, geschweige denn eine Legitimation. Man selbst braucht nicht zu wissen, dass man vor der Ablehnung der Sinnzumutung anderer Meinung war. Vielmehr entstehen unterschiedliche Standpunkte und Interessensdivergenzen häufig erst dann, wenn man sich dazu aufgefordert sieht, gegenüber anderen Sinnzumutungen eine Position zu beziehen.38 Voraussetzungslosigkeit und Kontextunabhängigkeit der Widerspruchskommunikation machen den Konflikt zu dem, was er ist: Zu einem themen-, kontextund situationsübergreifenden, universell einsatzfähigen Muster der Interaktion, das prinzipiell jeden sinnhaften konstituierten Sachverhalt, sei er potenziell oder real, aufgreifen kann, soweit sich dieser nur kommunikativ äußert. Dem Konflikt genügt, und das ist nach Luhmann zufolge zugleich sein empirisches Fundament,

Etwa im Sinne einer .allmählichen Verfertigung von Standpunkten im Zuge der Widerspruchskommunikation'.

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die Kommunikation eines konkret fassbaren ,Nein'. Die Freiheit und Unbestimmtheit von Ablehnungsmotiven erhöht sich noch weiter, wenn man bedenkt, dass mit einer Ablehnung noch nicht feststeht, welche Alternative an die Stelle der negierten Sinnzumutung treten soll. Die alternativlose Mitteilung des ,Nein' reicht nach huhmann zunächst vollständig aus, um den Konflikt eine tragfähige Basis zu geben. Hohe Anfangsbeliebigkeiten sowie inhaltliche Unbestimmtheiten kennzeichnen die Widerspruchskommunikation als eine universell anwendbare Modalität kommunikativer Sinnselektivität. Folgerichtig charakterisiert die Systemtheorie den Konflikt als eine Alltagsbildung, als episodenhafte Bagatelle in der Kommunikation, die ebenso rasch entsteht, wie sie sich wieder ausräumen lässt.39 Aus eben diesen Gründen fällt es der Systemtheorie nicht schwer, schnellwirksame Mechanismen der Konfliktbereinigung anzugeben, die den Konflikt auf eine kurze, vorübergehende, schon während ihres Entstehens wieder abflauende Episode kommunikativen Verhaltens begrenzen. Zum Beispiel kann Ego die Sinnzumutung Alters trotz aufkeimender Bedenken zunächst akzeptieren und auf Einwände (vorläufig) verzichten; oder Alter anerkennt die Ablehnung Egos und gibt seinerseits nach. Alter kann angesichts des Widerspruchs seine Sinnzumutung korrigieren, weitere Kommunikationen vermeiden oder sich mit Hinweis auf vorgeschobene Gründe anderweitig aus der Konfliktlinie ziehen. Angesichts solcher Möglichkeiten unterstellt huhmann dem Konflikt eine natürliche Tendenz zur Entropie, zur Erschlaffung und zum Ordnungszerfall: Gerade weil der Konflikt im hohen Maße kognitive und kommunikative Ressourcen absorbiere, sei passive Meidung eine attraktive, gängige, vor allem aber auch unverzichtbare Alternative zum Konflikt (ebd., S. 534). Dem wiederum stehen mitunter gegenläufige Mechanismen entgegen, die bewirken, dass sich die Widerspruchskommunikation erkennbar verdichtet und der Konflikt sich entsprechend vertieft. Allein schon der Glaube, dass der je andere gegen den eigenen Standpunkt opponieren und diesbezügliche Sinnofferten ablehnen wird, reicht aus systemtheoretischer Sicht bereits aus, um Konfliktsituationen zu kontinuieren, so etwa, wenn „A erwartet, dass Β von ihm Feindschaft erwartet und B's Verhalten als entsprechend feindselig definiert, was es dem A ermöglicht, zugleich Feind zu sein und nicht zu sein, ein unschuldiger Feind, der nur in A's Erwartungen der Erwartungen B's existiert" (Luhmann 1972, S. 34 f.). Kommen solche Negativunterstellungen wechselseitigen Erwartens erst einmal zum Tragen, so kehrt sich auch die Struktur der Normalkommunikation in ihr

39

Insofern stellen Konflikte „eine ständig präsente, ganz normale Verhaltensmöglichkeit des täglichen Zusammenlebens" dar, so Luhmann 1975a, S. 67; 1984, S. 534.

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Gegenteil um: Alter unterstellt, dass Ego seine Sinnofferten ablehnen wird, und ferner, dass Ego von ihm dasselbe erwartet. Dieser Aspekt einer konfliktbezogenen Kippmechanik von Erwartungseinstellungen mündet Luhmann zufolge in eine Negativversion doppelter Kontingent „Ich tue nicht, was Du möchtest, wenn Du nicht tust, was ich möchte" (Luhmann 1984, S. 531). Ebenso wie die Positiwersion doppelter Kontingenz sichert auch deren Negatiwariante dem System eine hohe Fähigkeit, alle Kommunikation - jetzt allerdings mit umgekehrten Vorzeichen - unter Strukturgesichtspunkten des Erwartens zu integrieren. In diesem Zusammenhang spricht die Systemtheorie von der Uberdeterminiertheit des Konflikts: Auf der Grundlage einer Negatiwersion doppelter Kontingenz entstehe ein Integrationssog, der mithin dazu führt, dass sich alle Wahrnehmung und Kommunikation unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Ablehnung formiere (ebd., S. 531 f.). Gemäß dem Diktum, dass ich nicht tue, was du willst, solange du nicht tust, was ich will, äußert sich an der negativ gepolten Erwartungsstruktur eine Tendenz zur Verfestigung spezifischer Wahrnehmungsmodalitäten im Hinblick auf das sinnhafte Erleben der Beteiligten bezüglich der Widerspruchskommunikation. Auch für diese Negatiwersion gilt, dass das grundsätzliche Problem einer doppelt kontingenten Unvorhersehbarkeit zuvor schrittweise aufgelöst werden muss, um der Interaktion im Konflikt Struktur und Festigkeit zu vermitteln. Anknüpfungspunkte hierfür bieten die sachlichen, sozialen und zeitlichen Sinndimension des Konflikts. In der Sachdimension kann sich das Sinnerleben der Beteiligten im Konfliktfall am Schaden/ Nutzen-Dual orientieren: Dabei wird unterstellt, dass der jeweils eigene Schaden der Nutzen des anderen ist, und dass umgekehrt Gleiches auch für den anderen gilt. Der bloße Verdacht reicht bereits aus, um dem anderen Schädigungsabsichten zu unterstellen und das eigene Verhalten an dieser Annahme zu orientieren (ebd., S. 531). Das Schaden/ Nutzen-Dual korrespondiert in der So^jaldimension des Konflikterlebens mit einer strukturell scharfen Reduktion der Beziehungen zwischen den Konfliktbeteiligten auf eine ZweierGegnerschaft, die dritte Positionen zunächst einmal ausschließt: Was zählt, ist allein und vor allem der Gegner (ebd., S. 534; ferner ders. 1981a, S. 101 f.). Die Annahme, dass Egos Nutzen Alters Schaden ist, lädt förmlich dazu ein, in Ego den Gegner zu sehen. Gegner sein heißt hier nichts anderes, als dass sich Ego nicht in der Weise verhält, wie Alter es gerne möchte, und ferner, dass Alter glaubt, dass Ego dasselbe auch ihm unterstellt. Es ist daher nahezu unvermeidbar, dass das Konzept .Benachteiligung' (Schaden/ Nutzen) und das Konzept .Gegnerschaft' (Freund/ Feind) im Erleben der Beteiligten nicht aufeinander zurückgeführt werden. Die Komplementarität zwischen Sach- und Sozialdimension sinnhaften Konflikterlebens korrespondiert insofern mit der starken

76 Erwartungsempfindlichkeit gegenüber der Negatiwersion doppelter Kontingenz, die von den Beteiligten Festlegungen bei der Handhabung der Widerspruchskommunikation fordert. Ahnliche Befunde ergeben sich schließlich auch im Hinblick auf die Zeitdimension. Im Konfliktfall lässt sich die Vergangenheit einer Interaktionsgeschichte im Rahmen einer dominanten KanüUktgegenwart nachträglich neu interpretieren. Der andere erscheint mitunter mit neuem, insbesondere ungeschminktem Gesicht, mit demaskierter Identität sozusagen, die zeigt, wie er tatsächlich ist bzw. welche Motive sein Handeln bestimmen. An die Stelle erwartbarer Harmonie tritt das Gefühl einer unbestimmten Bedrohung, an der sich die Erwartung für zukünftiges Verhalten festmachen kann. Entsprechend werden vom anderen nur noch solche Reaktionen erwartet, von denen man sich alles andere, nur eben nichts Gutes verspricht. Die zeitliche Orientierung im Konflikt präjudiziert den Dissens erwartungsstrukturell, auf den man sich schon einmal einstellen kann, ohne dass dafür eine durch Realität abgesicherte Beurteilungsgrundlage notwendig ist. Vor diesem Hintergrund scheint die Frage nach den systemischen Eigenschaften eines Konflikts nicht ganz unabhängig davon zu sein, wie umfassend sich beide Seiten jeweils an der Unvereinbarkeit ihrer Sinnperspektiven orientieren. Zumindest wie sich der Konflikt in den hier erörterten Sinndimensionen manifestiert, erscheint er bereits nachhaltig vom Prinzip der Negatiwersion doppelter Kontingenz infiziert. An dieser Stelle wird in der systemtheoretischen Konfliktkonzeption jedoch eine Lücke evident, sofern die Entwicklung von den eher entropischen Konflikttendenzen zu einer strukturgebenden Negatiwersion faktisch im Unklaren bleibt. Die Systemtheorie selbst sieht darin offenbar kein Problem. Aus ihrer Sicht reicht es schon vollständig aus, dass Ego Ablehnung kommuniziert, um den Mindestanforderungen einer Aus differ enzierung sozialer Systeme - in diesem Falle also eines Konfliktsystems - zu genügen. Die Kommunikation eines ,Nein' ist demnach nicht bloß ereignishafter, elementarer Vollzug der Widerspruchskommunikation, sondern begründet darüber hinaus zugleich ein System neuen Typs. 40 Anders als im Rahmen einfach organisierter Sozialsysteme (Interaktionen) sonst üblich, hat die Systemtheorie hierfür einen besonderen Systemtypus reserviert, den sie als ,parasitär' charakterisiert (vgl. Luhmann 1984, S. 531 und S. 533). Demnach sind Konflikte parasitäre Systeme insofern, als sie die sich gleichsam in einem Gastsystem einnisten, dessen ,Normalkommunikation' überformen und mit Widerspruch perforieren. Die Widerspruchskommunikation braucht dabei den durch die ,Normalkommunikation' vorgängig definierten Systemstatus nicht unbedingt außer Kraft zu setzen bzw. zu neutralisieren.

40

Vgl. die entsprechenden Ausführungen bei Luhmann 1981a, S. 100 und ders. 1984, S. 531.

77 Unabhängig davon entsteht qua Widerspruch ein neues System im System, das die Ressourcen des Gastsystems dann mehr oder minder umfassend absorbiert. Da diese, auf den Systemcharakter sozialer Konflikte bezogenen Überlegungen im Kontext der nachfolgenden Analysen eine zentrale Bedeutung einnehmen werden, bedürfen sie einer kritischen Überprüfung. Eine Problemstellung zielt unserem Dafürhalten nach auf den theorietechnischen, mithin hermeneutischen Nutzen dieser speziellen Systemkonstruktion. Mit ihr wird einerseits deutlich, dass huhmanti den Konflikt nicht uneingeschränkt als eigenständiges Teilsystem41 konzipiert wissen will, darauf verweist allein schon die begriffliche Qualifizierung. Anders als bei (Teil-) Systembildungen sonst üblich, werden Konflikte dieser Lesart zufolge anscheinend auch nicht über eine spezifische Systemreferenz bzw. Funktionstypik ausdifferenziert. Entsprechend dürfte ein (parasitäres) Konfliktsystem zudem über keine eigenständige Identität verfügen, da es auf die Operationen des gastgebenden Systems zurückgreifen muss, ohne die es sich nach dieser Vorstellung nicht konstituieren und ausdifferenzieren kann. Eben sowenig dürfte es sich in Form eigenständiger Systemleistungen reproduzieren. Andererseits wiederum wird durch seine systemische Kennzeichnung (parasitäres System) der Eindruck erweckt, dass sich der Konflikt von der Code-Funktion der Sprache ablösen, sich ihr gegenüber verselbstständigen und eine eigenständige Identität ausbilden kann. Was sich im Gefolge eines anfänglichen Widerspruchs als Konfliktsystem konstituiert, ist, wenn überhaupt, nur in einem sehr begrenzten Umfang durch das Anfangsereignis (das anfängliche ,Νείη") determiniert. Analytisch kommt man zudem nicht umhin, den empirischen Konfliktsachverhalten Rechnung zu tragen. Nicht selten entwickelt sich aus einzelnen Widersprüchen auch eine stabile, sachübergreifende und viele Individuen umfassende Konfliktkomplexität, deren Prozesslogik sinnhaft andersartige Verarbeitungsmuster und Logiken aufweist als die anfängliche Widerspruchskommunikation. Wie ist dieser Sachverhalt zu erklären? Allem Anschein zufolge entpuppt sich an diesem Punkt eine auf den Konflikt bezogene theoretische Begriffsaporie. In Verbindung mit dem Code der Sprache als basalem Medium sozialer Sinnselektivität erscheint der Widerspruch (,Nein") als eine universelle, das heißt system- und kontextunabhängige Interaktionsqualität, die überall dort Anwendung findet, wo es um die Korrektur und Ablehnung von Sinnangeboten geht. In diesem Sinne ist ,Konflikt' primär Teil einer auf Inhalte bezogenen universalen Netzwerkstruktur im Dienste der Kommunikation.

Der von Luhmann hier benutzte Begriff des .TeiTsystems ist uneindeutig, insbesondere die damit gemeinten Merkmale, denen gegenüber sich der Konflikt als ein parasitäres System abgrenzen soll.

78 Als Widerspruch ist er Episode, Ereignis bzw. Element der Kommunikation. Entsprechend liegt der eigentliche Wert der systemtheoretischen Konfliktmetaphorik wahrscheinlich weniger in einem analytisch-realen, sondern mehr in einem bildhaften Vorstellungsvermögen 42 begründet. Dieser Annahme zufolge handelt es sich beim parasitären Konflikt scheinbar um eine Art kommunikativ schwer zu kontrollierender Metastase - gleichsam um ein auswucherndes Negationspotenzial in der systemischen Normalkommunikation. Ein Konflikt wäre .parasitär' in dem Maße, wie er die (widerspruchsfreie) Normalkommunikation des Gastsystems zunehmend mit Widerspruch infiziert. In dieser Bildmetaphorik erscheint es plausibel, dass die Widerspruchskommunikation gleichsam als Virus das Gastsystem infiziert, sich darin festsetzt und seine Funktion(en) sabotiert. Andererseits wiederum werden mit dieser Umschreibung mehr Folgefragen aufgeworfen, als die Systemtheorie zu beantworten vermag. Man wüsste beispielsweise gerne genauer, wo sich die Grenze zwischen Gast- und Konfliktsystem empirisch konstituiert und wie sie empirisch dingfest gemacht werden könnte; ferner, welche Konsequenzen sich aus der System-im-System-Konstruktion für die Konfliktumwelten ergeben: Wie, in welcher Intensität und mit welchen Folgen beeinflusst der Konflikt das Gastsystem und dieses wiederum den Konflikt? Die destruktive Kraft des Konflikts - so sagt huhmann an anderer Stelle - liege nicht in ihm selbst, sondern in seinem Verhältnis zum Gastsystem, dessen Ressourcen er absorbiere (vgl. Luhmann 1984, S. 532 f.). Was aber ist damit konkret gesagt? Einerseits wird dem Konflikt somit ein eigenständiger Systemstatus verweigert, andererseits hält huhmann an dessen Systemeigenschaften weiterhin fest. Empirisch zumindest ist nicht zu leugnen, dass sich viele Konflikte gegenüber ihren Auflösungs- und Erschlaffungstendenzen bemerkenswert widerstandsfähig erweisen. Hinsichtlich der Frage, warum der einmal in Gang gekommene Konflikt nicht sofort wieder verschwinde, argumentiert huhmann mit Verweis auf seinen Status als (parasitäres) System: „Als soziale Systeme sind Konflikte autopoietische, sich selbst reproduzierende Einheiten. Einmal etabliert, ist ihre Fortsetzung zu erwarten und nicht ihre Beendung" (Luhmann 1984, S. 537). Mit dieser Formulierung wird dem Konflikt letztlich nicht nur Systemstatus konzediert, sondern - anders als es die Prädikation des .Parasitären' suggeriert - darüber hinaus 42

Nicht unähnlich übrigens wie schon in der Philosophie Michel Serres 1984, dem Schöpfer dieser Metapher, auf den sich Luhmann hier (unausgesprochen) bezieht. Serres versteht unter einem Parasiten die einfachste und allgemeinste Veränderungsgröße (,thermischer Erreger"), die ein System aus dem Gleichgewicht bringen kann. Ein Parasit ruft mikroskopisch feine Zustandsveränderungen hervor, wobei er im Gastsystem minimale Störungen produziert, die häufig solange unbemerkt bleiben, bis sich um sie herum das System gewissermaßen .erhitzt' (deshalb thermisch) und dadurch systemische Transformationen fühlbar, wahrnehmbar und schließlich auch kognitiv einsichtig werden, vgl. ebd. S. 292 ff.

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auch ein Ausmaß an Eigenständigkeit und Anschlussfähigkeit eingeräumt, die als ,autopoietische' bzw. ,sich selbst reproduzierende' Eigenständigkeit in einem geradezu diametralen Widerspruch zu der zuvor behaupteten Abhängigkeit vom Gastsystem steht. Von einer operativen Warte der Systemtheorie aus betrachtet erscheint ein Konflikt primär als Widerspruchskommunikation, die sich ständig und massenhaft und zu jedem beliebigen Zeitpunkt an eine Sinnzumutung andocken kann - vorausgesetzt nur, sie wird für den anderen wahrnehmbar kommuniziert. Es stellt sich daher die Frage, ob die Systemtheorie ihre analytischen Mittel hinsichtlich dieser Problemstellung tatsächlich ausgeschöpft hat. Aus system theoretischer Sicht läge es jedenfalls nahe, die Frage nach der Ausdifferenzierung bzw. Stabilität eines Konfliktsystems mit systemtheoretischen Mitteln zu rekonstruieren. Die Metapher des Parasiten trägt in diesem Zusammenhang mehr zur Verschleierung und weniger zur Aufklärung dieses Sachverhalts bei. Zudem verwischt huhmann diese Problemstellung auch noch in anderer Weise, indem er zwischen systemund gesellschaftstheoretischen Konfliktanalysen ,springt': huhmann zufolge erklärt sich die systemische Konfliktstabilität vornehmlich durch ihre gesellschaftliche Anschlussfáhigkeit, also mittels ihrer sozialen Karriere.43 In Bezug auf die Frage nach den Möglichkeiten ihrer Ausdifferenzierung werden die dafür maßgeblichen Konfliktreferenzen gewissermaßen unter der Hand substituiert. Stabile Konfliktsysteme werden demnach weniger aus den Bedingungen einer autopoietischen Konfliktreproduktion begriffen, sondern primär gemäß ihrer gesellschaftsstrukturellen Bedeutung gewürdigt. Die systemtheoretische Analyse der Selbstreferen^ (bzw. die Frage nach der Emergenz) sozialer Konflikte wird durch die gesellschaftstheoretische Analyse ihrer Fremdreferen% (bzw. durch die Frage ihrer Konditionierung) ersetzt. In diesem Konnex zieht sich huhmann im weiteren auf die Unterscheidung von Interaktion und Gesellschaft zurück. Diesbezüglich wird argumentiert, dass man sich auf Konflikte im Allgemeinen nur dann einlassen würde, wenn Chancen bestünden, dass man sie auch durchhalten könne (ebd., S. 538). Gerade diese Unterstellung ist aber, wie wir noch sehen werden, empirisch keineswegs haltbar. Damit wird den Beteiligten ein Rationalitätskalkül unterstellt, von dem mehr als fraglich ist, ob es für Konflikte generell zutrifft. Weiter wird ausgeführt, dass die Gesellschaft die Auslösebedingungen sozialer Konflikte wirksam konditioniere, indem sie die Mittel der Konfliktaustragung begrenze (etwa durch das Verbot der Anwendung physischer Gewalt) oder die Unsicherheit des Konfliktausgangs erhöhe 43

Vgl. näher Luhmann 1984, S. 534 ff., S. 535: „Wenn in interaktioneilen Konflikten [...] Anzeichen einer die Interaktion überschreitenden Relevanz auftauchen, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass der Konflikt verbreitet, vertieft, perpetuiert wird."

80 (etwa durch den Einbezug unbeteiligter Dritter). Dadurch werde ein SichEinlassen auf den Konflikt mitunter riskant (ebd., S. 539 f.). Speziell für strafoder zivilrechtlich relevante Konfliktsituationen mag diese Ansicht zutreffend sein, aber gewiss nicht für den Konflikt überhaupt. Die Merkmale, die huhmann hier anscheinend vor Augen hat, umfassen faktisch nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt empirisch möglicher Konfliktkonstellationen. Während die systemtheoretische Konfliktanalyse mehr von der konkreten Widerspruchskommunikation ausgehend denkt, zielt die gesellschaftstheoretische Konfliktanalyse mehr auf deren Funktionen. Auf die systemtheoretische Frage nach den Möglichkeiten einer selbstreferenziellen Konfliktstabilität wird primär mit externen, gesellschaftstheoretischen Analysen reagiert. Die daran anschließende Literatur bleibt in der Frage nach dem systemischen Konfliktqualitäten ebenfalls weitgehend ambivalent. Teils wird ihre Problematik nicht hinreichend deutlich gesehen (vgl. Hellmann 1996; Corsi 1997), teils nur sehr unzureichend reflektiert.44 Zum überwiegenden Teil werden Luhmanns kategorialen Vorgaben unhinterfragt übernommen, mitsamt den damit verbundenen Aporien. So ist beispielsweise zu lesen, dass Konfliktsysteme (obschon hoch integriert) keine dauerhaften Teilsysteme seien, gleichwohl tendiere ihre Autopoiesis zur Selbstkontinuierung und Permanenz.45 Entsprechend wird es kaum als störend empfunden, dass nicht exakt angegeben werden kann, welche Autopoiesis nun genau kontinuiert: die des Gast-, oder die des Konfliktsystems, oder die beider Systeme zugleich? Entsprechend herrscht chronischer Klärungsbedarf im Hinblick auf die Frage nach der Systemreferenz, da die Analysen zwischen Teil-, Sozial- bzw. Konfliktsystem nicht hinreichend genau unterscheiden. Vor diesem Hintergrund mögen Differenzierungen wie Ereignis/ System (vgl. Kieserling 1999, S. 267; Nollmann 1997, S. 102), Interaktion/ Gesellschaft (Kieserling 1999) bzw. Interaktion/ Organisation (Nollmann 1997, S. 122 ff.) auf den ersten Blick hilfreich erscheinen, solange der Systemstatus der jeweils beteiligten Systeme aber unaufgeklärt, bleibt, hält sich auch ihr analytischer Nutzen in Grenzen.

44

«

Vgl. etwa Nollmann 1997, S. 103, der die Klärung dieser Frage der empirischen Bestimmung überlässt, die dann aber unterbleibt. Entsprechend unscharf werden die Begriffe verwendet: Einerseits richte sich der Konflikt parasitär im Gastsystem ein, „ohne ein eigenes Teilsystem im Gastsystem bilden", ebd. [Hervorh. von mir, H.M.], andererseits zitiert der Autor aber gleich im nächsten Satz eine Äußerung Luhmanns, wonach das Konfliktsystem (sic!) die Ressourcen des Gastsystems absorbiere; ferner spricht Nollmann selbst von der Negatiwersion doppelter Kontingenz als Grundlage einer KonfäktsystembiMung, ebd., S. 102 und passim, ohne dass klar würde, was über die bloße Iteration von Widersprüchen hinaus den systemischen Status begründet. Vgl. etwa Bergmann 1987, S. 365, 366, 367; Kieserling 1999, S. 267, S. 270 ff.; Nollmann 1997, S. 102 ff.

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Damit hat es den Anschein, als sei die systemische Konfliktanalyse auf halbem Wege stehen geblieben und begründe ein theoretisch bislang noch unfertiges Projekt. Gleichwohl ist es lohnend, sich den grundsätzlichen Wert ihrer Ausgangsüberlegungen noch einmal deutlich vor Augen zu führen. Dieser besteht vor allem darin, dass die Systemtheorie eine von kausalen Vorab-Annahmen weitestgehend bereinigte Perspektive auf den Konflikt offeriert. Diese Vorgehensweise vermeidet nicht nur die Aporien früherer Konflikttheorien, sondern schlägt gleichzeitig auch eine Bresche für den Versuch, den Konflikt primär aus seiner Binnenperspektive heraus zu begreifen. An diesen Sachstand schließen wir mit den nachfolgenden Analysen an. Erklärungsbedürftig ist demnach, wie ein Konflikt ausgehend von der Episodenhaftigkeit der einzelnen Widerspruchskommunikation zu einer strukturell umfassenden bzw. systemischen ausdifferenzierten Einheit gelangt. Vor diesem Hintergrund sind die nachfolgenden Analysen der Versuch, die systemtheoretische These von einer .operativen Verselbständigung eines Widerspruchs durch Kommunikation' empirisch nachzuzeichnen und theoretisch zu konkretisieren.

All the sociology we read is unanalytic, in the sense that they simply put some category in. Harvey Sacks

Kapitel 3 ZUR NEUBESTIMMUNG DER KONFLIKTTHEORIE

Konflikt als System Unter der Voraussetzung, dass alle Sachverhalte des Sozialen sowohl unter dem Gesichtspunkt gegenseitiger Übereinstimmung als auch gegenseitiger Unvereinbarkeit auftreten können, liegt es nahe, diesbezüglich nach den Gründen zu fragen, warum einmal diese, ein andermal jene Seite die Führung übernimmt. Viele Versuche, zwischen abstrakter Konfliktterminologie und konkreter Analyse zu vermitteln, haben die Konflikttheorie in die Nähe einer Ursachenforschung gefuhrt - mit den oben (Kap.l) aufgezeigten Konsequenzen. Für ein konflikttheoretisches Vorhaben, das von den sachlichen, zeitlichen und sozialen Aprioris demgegenüber so weit als möglich absehen, den Konflikt aber dennoch empirisch konkret bestimmen möchte, bietet die Systemtheorie eine geeignetere Perspektive. Einen der wichtigsten Gesichtspunkte in diesem Zusammenhang Kommunikation - haben wir bereits mehrfach erwähnt. Demnach verdankt der soziale Konflikt seine empirische Existen^ ausschließlich der Widerspruchskommunikation, ohne die er weder generiert, noch prozessiert, noch stabilisiert werden kann. Konflikt ist Kommunikation, vollzieht sich in und durch Kommunikation, und wird durch Abbruch der Widerspruchskommunikation wieder beendet. Dabei bleibt unbestritten, dass sich die Sinnselektivität an spezifische Inhalte und Informationen, an idiosynkratische Bedürfnisse und Interessen, kurz: an Ursachen und Kontexte bindet. Nur: Ohne kommunizierte Sinnzumutung wird keine dieser Variablen jemals empirisch greifbare Realität. Um konfliktfähig zu werden, muss jede Art von Interessendivergenz zuerst durch das kommunikative

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Nadelöhr hindurchgeschleust werden, und das heißt vor allem: sich den Formansprüchen der Widerspruchskommunikation beugen. Auf diese Grundlage gestellt ist die Frage, in welchem Kontext sich Widerspruchskommunikation spezifisch realisiert, für eine allgemeine Konflikttheorie von nur untergeordneter Bedeutung - sofern nun der Konflikt als solcher in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt. Demnach muss derjenige, der kommuniziert, ständig mit Widerspruch rechnen, und sei es nur deswegen, weil jede Sinnzumutung ihren spezifischen Gegensinn provoziert. Im Hinblick darauf folgen wir den kommunikationstheoretischen Prämissen der Systemtheorie, wonach jede Kommunikation Selektivität prozessiert, die sich dem jeweils anderen sinnhaft zumutet, aufdrängt und gegebenenfalls auch ablehnende Reaktionen erzwingt. Unter Strukturgesichtspunkten ist dabei zunächst unerheblich, um welche Sinnzumutung es sich im Einzelnen handelt. Unerheblich ist ferner, welche konkrete Erwägung den jeweils anderen zum Widerspruch motiviert: Unabhängig von den Gründen, warum eine Sinnzumutung kommuniziert und abgelehnt wird - stets wird dadurch eine Konfliktrealität fundiert, die sich den Beteiligten (wie auch außenstehenden Beobachtern) als eine empirische Tatsache kenntlich macht. In dem Maße, wie man der Kommunikation formal identische Struktureigenschaften unterstellt, ist man prinzipiell auch zu der Annahme berechtigt, dass sich der Konflikt ebenfalls formidentisch aus differenziert. Dieser Auffassung gemäß werden die nachfolgenden Analysen von der These getragen, dass die Vorm- und Struktureigenschaften des Konflikts primär aus den Selektionsbedingungen der Kommunikation resultieren. Entsprechend müsste eine Analyse konkreter Widerspruchskommunikationen zeigen, unter welchen Bedingungen und vor allem auch: wie dies geschieht. Mit diesen Überlegungen aufs engste verknüpft ist die Annahme, dass sich der Konflikt wesentlich als ein Produkt interaktiver Abläufe, und das heißt: als Pm^ess konstituiert. Wie die Erörterungen im vorhergehenden Kapitel zeigten, ist Kommunikation ein bilaterales Geschehen, bei dem sich zwei Seiten qua Mitteilung und Verstehen asymmetrisch, aber komplementär aufeinander beziehen. Insofern setzt Kommunikation beide Seiten gleichermaßen in Aktion, wenn auch zeitversetzt und zu jeweils ungleichen Teilen. Entsprechend wird die kommunikative Selektivität einer jeweiligen Position mehrmals gewechselt: Mitteilung, Verstehen, und Reaktion auf die verstandene Mitteilung in Form erneuter Mitteilung ist paradigmatische Grundlage eines interdependenten Zusammenschlusses zweier durch Kommunikation wechselseitig aufeinander bezugnehmender Entitäten.

85 Wenn eine Mitteilung auf Widerspruch stößt, kommt eine Sinnselektivität zum Tragen, deren Form sich von anderen Kommunikationen deutlich abhebt. Unter der Maßgabe, dass ein Konflikt sich allein durch Kommunikation sinnhaft mitteilen und weiterentwickeln kann, liegt es nahe, die Widerspruchskommunikation zunächst einmal unter ,take-off-Gesichtspunkten zu analysieren: Wie - so könnte man fragen - nimmt der Konflikt seinen Ausgang und was lässt sich unter Strukturierungsgesichtspunkten darüber sagen? Besitzen die Anfangsgründe des Konflikts eine spezifische Form? Gibt sich eine Struktur zu erkennen? Vergleichbare Fragen ergeben sich auch in Bezug auf das Ende des Konflikts, sofern geklärt werden muss, wie sich die Auflösung von Widersprüchen kommunikativ realisiert. Dazwischen ließen sich - eine gewisse Dauer vorausgesetzt - unterschiedliche Prozessetappen identifizieren, auf deren Grundlage dann Aussagen über die Entwicklungslogik von Konfliktverläufen anschließen könnten. In diesem Sinne ist für die nachfolgenden Analysen die Annahme zentral, dass die Form des Konflikts keineswegs fertig ausgereifi die Welt sozialer Tatsachen betritt, sondern dass Anfänge, Abschlüsse und dazwischenliegende Abläufe mitunter sehr verschiedenartige Stadien seiner Existen¡ζ bezeichnen. Mit diesen Überlegungen verweisen wir eindringlich auf die Processhaftigkeit des Konflikts, also auf die Notwendigkeit seiner Entwicklung über die Zeit. Eine Analyse der Dynamiken in der Zeitdimension lässt entsprechend variable bzw. wandelbare Konfliktformen erwarten, von denen wir annehmen, dass sie ein Produkt spezifischer Formen der Widerspruchskommunikation sind.1 Überlegungen dieser Art rücken insbesondere die im vorhergehenden Kapitel herausgearbeiteten Schwächen der systemtheoretischen Konfliktkonzeption in ein noch schärferes Licht. Mit Blick auf die Konfliktentwicklung in der Zeitdimension ist überaus fraglich, ob das kommunizierte ,Nein' allein schon genügt, um den Konflikt als System zu fundieren. Wie gezeigt, besteht für diese Annahme insgesamt wenig Grund. Denn das würde bedeuten, dass schon die einzelne Widerspruchskommunikation hinreichend Struktur für den Systemaufbau mit allen dazu notwendigen Merkmalen potenziell in sich einschließt. Jedoch ist eine solche Annahme theoretisch weder begründet, noch entspricht sie empirisch der Realität. Vor allem ignoriert sie die für die Ausdifferenzierung und Konsolidierung einer Konfliktwirklichkeit konstitutiven Prozesse. Beispielsweise liegen zwischen der Ablehnung einer Einladung zum Abendessen und der Androhung einer Vergeltung konfliktdynamisch betrachtet Welten. Mit der einzelnen Widerspruchskommunikation macht man sich den anderen noch längst nicht zum Feind, mitunter noch nicht einmal zu seinem Opponenten. Nur unter sehr vor-

Vor diesem Hintergrund erscheint das in den Begriff gesetzte Vertrauen, wonach ein .Konflikt' in etwa identische Sachverhalte bezeichnet, insgesamt kaum gerechtfertigt zu sein.

86 aussetzungsreichen Bedingungen kann die einzelne Widerspruchskommunikation genügend Erwartung produzieren, dass der Konflikt eskaliert. Aber auch wenn man sich eine Vielzahl von Widerspruchskommunikationen iterativ hintereinandergereiht denkt, bliebe noch immer offen, ob - und vor allem auch: wie die Konfliktintensität zunimmt und die Auseinandersetzung eskaliert. Angesichts solcher Fragen hilft auch die systemtheoretische Metapher parasitärer Systeme nicht weiter, vielmehr verschleiert sie eher, worum es eigentlich geht: um die Ausdifferenzierung des Konflikts zum System. In der Logik der Systemtheorie wäre man zu der Annahme gezwungen, dass schon der einzelne Widerspruch Element, Relation und System gleichzeitig ist. Entsprechend könnte die Theorie zwischen System und Element nicht mehr hinreichend genau unterscheiden - was letztlich nur den Systembegriff desavouiert. Nachfolgend machen wir uns daher für die Annahme stark, dass die einzelne Widerspruchskommunikation im Normalfall noch kein voll ausdifferenziertes Konfliktsystem begründet, sondern allenfalls seinen ,take-off. Aus diesen Gründen wird der Unterscheidung von Element (bzw. Episode oder Ereignis) und System im Kontext der nachfolgenden Analysen deutlich mehr Gewicht eingeräumt. Unter konsistenter Zugrundelegung systemtheoretischer Prämissen soll von einem Konfliktsystem nur dann die Rede sein, wenn sich im Rahmen der Widerspruchskommunikation eine Struktur auskondensiert, welche die elementaren Operationen des Systems dergestalt relationiert, dass sie sich im rekursiven Kontakt dauerhaft reproduzieren. YjonSÙAsysteme bedingen demzufolge eine gewisse Mindestkomplexität ihres strukturellen Ausgangsarrangements. Ihre Ausdifferenzierung lässt zunehmend komplexere, umfassendere bzw. widerspruchsintensivere Kommunikationsformen erwarten, an denen sich ihre Entwicklung jeweils spezifisch dokumentiert. Dazu müsste eine Konzentration von Ablehnungsintensität in denjenigen Sinndimensionen zu beobachten sein, in denen die Widerspruchskommunikation aktuell operiert. Eben dies ist mit den nachfolgenden Konfliktanalysen intendiert: Gezeigt werden soll, wie aus den einzelnen Widerspruchskommunikationen Konfliktstrukturen erwachsen und welche Formen der Konfliktkommunikation dafür maßgeblich sind. Eine Theorie sozialer Konflikte hat sich demzufolge auf der Basis emergenter Prozesse der Widerspruchskommunikation empirisch zu bewähren. Sie müsste zeigen, wie der Prozess Struktur kondensiert und wie sich dieser Vorgang kommunikativ strukturiert. Der Schwerpunkt der vorliegenden Untersuchung liegt demnach auf der Frage nach Struktur und Ordnungsgewinn: Untersuchungsbedürftig ist, ob sich allgemeine, nichtsubstituierbare und für alle Phänomene der Konfliktentwicklung gleichermaßen gültige Strukturmuster nachweisen lassen, von denen die Ausdifferenzierung des

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Konflikts unter keinen Umständen absehen kann. Die These hierzu ist, dass solche Strukturmuster real existieren; ferner, dass diese aus der 'Rinnenorganisation von Konfliktproyessen resultieren und an der Widerspruchskommunikation empirisch nachweisbar sind.

Konflikt als Prozess Eine entwicklungs- bzw. prozesstheoretische Sichtweise auf den Konflikt muss zunächst der Tatsache Rechnung tragen, dass jede Konfliktentwicklung Zeit in Anspruch nimmt, um sich als Konflikt entfalten zu können. Mithin ist schon die KonPuktentstehung ein Zeit in Anspruch nehmender sozial emergenter Prozess, dessen Rahmenbedingungen einer differenzierteren Analyse bedürfen. Im Unterschied zu den eher statischen Erklärungsansätzen in der Konflikttheorie (z.B.: Konflikt ist Interessensdivergenz), muss eine prozessanalytische Herangehensweise konkret zeigen, wie sich der Konflikt auf der Basis zunächst noch am Konsens orientierter Kommunikationen Zug um Zug ausdifferenziert. Gleichzeitig erhält damit auch die These zusätzlich Gewicht, dass der Konflikt seinen Zustand im Prozess wechselseitiger Reaktionen sukzessive und kontinuierlich verändert. Die folgenden Analysen werden von der Uberzeugung getragen, dass der Process der Ausdifferenvjerung selbst die beste Erklärung für den jeweiligen Systemzustand ist. Auf Grund einer Vielzahl potenzieller Einfluss- bzw. Prozessvariablen erweist sich der Konfliktprozess jedoch auch als diskontinuierlich und extrem vulnerabel. Verlässliche Vorhersagen über konkrete Prozessabläufe sind daher in einem nur sehr bescheidenen Ausmaße möglich. Darin liegt letztlich das Kernproblem einer soziologischen Prozessanalyse begründet, die mit spezifischen Generalisierungsansprüchen aufwarten möchte. Es verwundert deshalb nicht, dass eine soziologisch ausgearbeitete Prozesstheorie, auf die sich in diesem Zusammenhang zurückgreifen ließe, praktisch nicht existiert.2 Dennoch besitzen Konfliktdynamiken im Hinblick auf ihre Steigerungsverhältnisse eine empirisch greifbare und ihnen eigentümliche Nationalität. Diesbezüglich hat es immer wieder Versuche gegeben, kontinuitätssteigernde Regelmäßigkeiten im Konfliktablauf ausfindig und einer empirischen Beschreibung zugänglich zu machen. 3

Im Allgemeinen wird dieser Mangel innerhalb der soziologischen Fachdisziplin kaum registriert. Beispielsweise findet die Prozesskategorie in den großen Fachenzyklopädien kaum oder keine Beachtung, vgl. etwa die Encyclopedia of Sociology (4 Bd.), hrsg. von E. Borgatta/ M. Borgatta 1992; ferner auch die International Encyclopedia of the Social and Behavioral Sciences, (26 Bd.), hrsg. von Smelser/ Baltes 2001. Klassisch etwa die sogenannten .Richardson-Prozesse'; für weitere Beispiele, vgl. ferner Kahn 1965, mit Blick auf Konfliktzyklen: Walton 1969.

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Dabei hat sich die Forschung bis auf wenige Ausnahmen mit der Klassifizierung einzelner Konfliktphasen begnügt. In diesem Zusammenhang hat sie ferner und auch das ist typisch - primär kausalwissenschaftlich argumentiert und versucht, singulare Ursachen der Konfliktentwicklung zu isolieren.4 In Hinblick auf die Frage nach empirisch anschlussfähigen Prozessmodellen wollen wir uns zunächst mit zwei Hinweisen begnügen. Eine erste Orientierungshilfe bietet der von Niklas Luhmann stark auf Kommunikationen abgestellte systemtheoretische Prozessbegriff mit dem nicht unwichtigen Hinweis, dass ein Process die Selektivität seiner Kelationierungen aufeinander außauend verstärkt, das heißt also, seine sequenziellen Interdependenzen erhöht. Die Vorstellung dabei ist, dass vorangegangene sowie zu erwartende kommunikative Selektivität als Selektionsprämissen für die nachfolgende Kommunikation Struktur generieren (Luhmann 1984, S. 210 ff.; ders. 1981b). Prozesse der Verstärkung kommunikativer Selektivität sind insoweit identisch mit dem Struktur- und Ordnungsaufbau im System. Jede Kommunikation muss sich durch Rück- und Vorgriff sinnhaft auf vergangene bzw. zukünftig mögliche Kommunikationen beziehen. Insofern ist der Prozess der Kommunikation zwangsläufig rekursiv. Er schafft ein Netzwerk an Sinnverweisungen, das für Wiederverwendung verfügbar gehalten wird und den Beteiligten als Orientierung für zukünftige Mitteilungen dient; er gibt der Kommunikation ein spezifisches Thema und macht das System identifizierbar. Ein zweiter Hinweis ergibt sich aus kybernetischen Prozessvorstellungen, in denen die Annahme geschlossener bzw. rekursiver Kausalkreisläufe mit am radikalsten weiterverfolgt worden ist. Bereits die früheren kybernetischen Kreislaufmodelle haben deutlich gemacht, dass sich Prozesse über zirkuläre bzw. selbstrekursive Feedbackschleifen so reproduzieren, dass kausalwissenschaftliche bzw. ontologische Unterscheidungen wie Anfang und Ende oder Ursache und Wirkung sinnvoll nicht mehr auseinandergehalten werden können. Die Zurechnung von Wirkungen auf Ursachen wird zum Problem, wenn man sieht, wie sich die Operationen eines Systems zu Prozessen verketten. Es gibt keine garantiert sicheren Ursache- bzw. Anfangspositionen, so dass die Sicherheit nur im Prozess selbst liegen kann. In diesem Sinne vermittelt uns die Prozesskategorie Aufschluss über die Binnenorganisation des Systems. In dem Maße beispielsweise, wie die einzelne Operation zum Input der nachfolgenden wird, konvergieren Systeme zu stabilem Verhalten. Auf diese Weise bringt der Prozess eine systemreferenzielle .Einstellung' hervor und sorgt für Konstanz innerhalb zeitlicher

4

Neuere Überlegungen zur Dynamik des Konflikts versuchen Kausalmodelle tendenziell eher zu meiden, was jedoch nicht immer konsequent durchgehalten wird, vgl. beispielsweise Pruitt/ Rubin 1986, S. 89 ff.; Kelley 1987; Glasl 1997, S. 215 ff.

89 Grenzen. Die Struktur eines Systems wäre demnach weniger durch externe Variablen präjudiziert, sondern Ausdruck einer permanenten Aneignung zurückliegender Erfahrung (vgl. Foerster 1993a, S. 254 ff., ders. 1993b, S. 146 ff.). Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen können wir einige unserer Fragestellungen bereits präziser formulieren. Beispielsweise ließe sich fragen, wie die Widerspruchskommunikation Selektivität produziert, um sich im Rahmen aufeinander aufbauender Relationierungen selbstbezüglich zu verstärken. Im Konfliktprozess müssten sich demnach sequentielle Konkretisierungs^ugewinne nachweisen lassen, die sich im Zuge ihrer Verknüpfung ,eigensinnig' verdichten - in dem Sinne etwa, dass sich die Widerspruchskommunikation sinndimensional zuspitzt bzw. thematisch verengt. Ferner wäre zu fragen, wie solche Konkretisierungszugewinne in Phasenübergänge einmünden können, aus denen schließlich eine neue Konfliktepisode, ein neuer Prozess, oder sogar ein neues Emergenzniveau der Konfliktentwicklung hervorgeht. Sofern die Prozesskategorie im hier vertretenen Sinne zugleich operative Schließung wie auch Strukturänderung indiziert, liegt es außerdem nahe, diesbezüglich verschiedene Prozess\funktionen zu unterscheiden. Versteht man unter dem Prozess der Ausdifferenzierung sozialer Systeme einen systeminternen Differenzierungsprozess, so ließen sich im Hinblick auf diese Funktion hypothetisch drei verschiedene Prozesstypen diskriminieren. Zunächst einmal - und das ist wohl am wenigsten strittig - machen Prozesse die Potenzialität des Systems zu einer greifbaren Größe, das heißt sie konstituieren systemische Realitäten. Dieser Prozesstyp betrifft vor allem den take-off des Konflikts, wenn der mitgeteilten Sinnzumutung widersprochen wird und der Widerspruch einem potenziellen Gegensinn auf diesem Wege Tatsachenwert verleiht. Im nächsten Kapitel (4) werden wir uns vor allem mit diesem Prozesstyp genauer befassen. Davon verschieden sind — zweitens - iterative Prozessabläufe, deren Aufgabe vornehmlich darin besteht, in Form linear fortschreitender Prozesse der Widerspruchskommunikation den Sachverhalt der Kommunikation rekursiv ψ stabilisieren. Diese Prozesstyp sorgt einerseits für operative Schließung und Stabilität im System, sofern jede Kommunikation den Möglichkeitsraum nachfolgender Kommunikationen konditional einengt und strukturiert. Andererseits forciert derselbe Vorgang zugleich auch die Entstehung neuartiger Informationen (um nicht gegen das informationelle Redundanzverbot zu verstoßen), so dass Sicherheit und Unsicherheit, Geschlossenheit und Offenheit zu jeweils gleichen Teilen das prozessuale Geschehen bestimmen. Damit wird - drittens - der Boden bereitet für die Entwicklung neuer Sinnhoriapnte, die transformative Prozessabläufe in Gang setzen können, indem sie das Erwartungsniveau des System modifizieren. Diesbezüglich rückt schließ-

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lieh eine Prozessfunktion in den Blick, die primär für Phasenübergänge verantwortlich zeichnet.5 Bezüglich der Ausdifferenzierung einer Systemstruktur wollen wir nachfolgend drei verschiedene Prozesstypen unterscheiden. Während konstitutive Prozesse primär strukturbildend wirken, haben iterative Process typen eher eine die Struktur stabilisierende Funktion; transformative Prozesse wiederum machen vor allem Strukturänderungen wahrscheinlich, die für einzelne Konfliktphasen kennzeichnend sind. Die gemeinsame Bezugsgröße solcher Proyesstypen ist die Selektivität einer (Widerspruchs-) Kommunikation. Die Widerspruchskommunikation muss sich dabei als ein erkennbares, mithin dominantes Prinzip der Sinnselektion konsolidieren, das für alle Anschlusskommunikationen Orientierungswert hat. Auf nächsthöherer Ebene stellt sich schließlich die Frage, welche Eigenschaften der Widerspruchskommunikation Strukturänderungen bewirken, das heißt für die Ingangsetzung transformativer Prozessabläufe zuständig sind. Die Existenz solcher Prozessabläufe steht empirisch außer Frage, nur: welche Mechanismen der Sinnselektion setzen diese in Kraft? Aus kybernetischer Sicht deuten die einzelnen Pro^esstypen auf ein dynamisches Fließgleichgemchfi hin, das in Bezug auf seine Operationen eher geschlossen, in Bezug auf seine Umwelt dagegen eher offen agiert. Alles kann zum Thema des Widerspruchs werden, während die Form des Widerspruchs selbst invariant bleibt. Im Begriff des dynamischen Fließgleichgewichts finden Beständigkeit und Unbeständigkeit zusammen. Auf die vorliegende Fragestellung übertragen könnte man annehmen, dass die Stabilität einer Struktur einer stabilen Beziehung der durch die Struktur relationierten Elemente entspricht. Sofern es sich dabei um Operationen der Widerspruchskommunikation handelt, müsste Ablehnung die dominante Orientierung der Sinnselektion sein. Dabei müsste die Struktur des Systems die jeweiligen Elemente in einem relativen Gleichgewicht halten, die Maximierung einzelner Variablen also verhindern. In dem Maße, wie es aber dennoch zu einer kontinuierlichen Steigerung einer einzelnen Variablen kommt, würde es zunehmend wahrscheinlich, dass transformative Prozesse das System in eine neue Richtung umdirigieren. Empirisch müsste sich auch dieser Vorgang

5

6

Parallelen zur Kosmologie eines Alfred North Whitehead 1984, S. 388 und passim, sind hier keineswegs zufällig, sofern Whitehead Konkretisierung und Übergang ebenfalls als die kosmologisch hervorragenden Prozesseigenschaften definiert; damit wird einerseits die Beständigkeit alles Seienden (wirklicher Einzelwesen) betont, andererseits aber auch seine Vergänglichkeit. Vergleichbare Prozessfunktionen hat im übrigen auch Gregory Bateson 1983c, mit Blick auf Verhaltensänderung analysiert und mit den Begriffen .Lernen II* (S. 378 ff.) bzw. ,Lernen III' (S. 389 ff.) umschrieben: Auch hier dient Lernen II primär der Konkretisierung eines individuellen Charakters, während Lernen III eher die Aspekte seiner Veränderung thematisiert. Zu diesem Begriff vgl. näher Bateson 1983a, S. 177 ff.; dazu auch Ashby 1945 und 1952.

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anden Mechanismen der Sinnselektivität nachweisen lassen, die als Einzelvariablen soviel Stoßkraft besitzen, dass sie aus einem stabilen Strukturarrangement ausscheren und sich ihm gegenüber durchsetzen können.

Ein Prozessmodell sozialer Konflikte Die Überlegungen in diesem Abschnitt dienen uns nachfolgend als verbindliche Rahmenrichtlinien für eine nähere Untersuchung der Konfliktwirklichkeit. In ihrem Mittelpunkt steht der Prozess der Ausdifferenzierung sozialer Konflikte. Darunter können wir einen Vorgang verstehen, der durch wechselseitige Reaktionen gültig gemachte Strukturen und Regeln etabliert. Der Prozess der Ausdifferenzierung ist insofern gleichbedeutend mit der Herausbildung, Variation und Zuspitzung einer Konfliktwirklichkeit durch die aufeinander bezugnehmende Widerspruchskommunikationen. Im Hinblick darauf wollen wir zunächst hypothetisch vier Prozessstufen unterscheiden, von denen wir annehmen, dass sie für jede Konfliktentwicklung in dem oben erörterten Sinne maßgeblich und kennzeichnend sind: Prozessstufe 1: Von der Konfliktvermeidung zur episodischen Widerspruchskommunikation Prozessstufe 2: Von der episodischen Widerspruchskommunikation zu stabilen Strukturen Prozessstufe 3: Von der Konfliktstruktur zur Verantwortungsattribution Prozessstufe 4: Von der Verantwortungsattribution zur Eskalation

Mit dem hier vertretenen Prozessstufenmodell gehen wir von der Annahme aus, dass die Ausdifferenzierung des Konflikts einer progressiv fortschreitenden Prozesslogik folgt, die sich in idealtypischen Konfliktformen empirisch begründet manifestiert. Idealtypen in dem hier verstandenen Sinne sind vereinfachte Darstellungen sequenzieller Prozessabläufe des Konflikts, in denen sich unterschiedliche Erwartungsstrukturen ausdifferenzieren, die den Konflikt auf einem spezifischen Ordnungsniveau reproduzieren. Um Missverständnissen vorzubeugen merken wir an dieser Stelle vorsorglich an, dass natürlich nicht jeder Konflikt alle Stufen von Anfang bis Ende durchläuft. Ebenso wenig ist mit diesem Modellannahmen behauptet, dass sich der Prozess seiner Ausdifferenzierung gleichbleibend linear oder kontinuierlich von Stufe zu Stufe entfaltet. Empirisch sind eher

92 zyklische Konfliktverläufe erwartbar. Was daher mit diesem Modell in erster Linie zum Ausdruck gebracht werden soll, ist der Versuch, die phänomenologische Vielfalt an Konfliktdynamiken im Zuge der Ausdifferenzierung sozialer Konflikte auf ihre elementaren Formen zu reduzieren. Diesen Überlegungen zufolge repräsentiert jede Prozessstufe ein idealtypisches Emergenz- und Ordnungsniveau, das sich durch kurz- oder langfristige, begrenzte oder umfassende bzw. durch leichte oder schwere Durchsetzungsstrategien auszeichnet. Unter Vorbehalt noch ausstehender Nachweise wird also ein Prozessmodell der Konfliktentwicklung vorgeschlagen, das von der einzelnen Widerspruchskommunikation seinen Ausgangspunkt nimmt und im Extremfall mit der Eliminierung des jeweiligen Gegners endet. Daran schließen weitere Teilhypothesen an. Die Pro^essstufe 1 (von der Konfliktvermeidung zur episodischen Widerspruchskommunikation) reflektiert den Konflikt gemäß den Modellannahmen hauptsächlich im Hinblick auf die kommunikativen Voraussetzungen seines Beginnens. In diesem Zusammenhang gehen wir von der Annahme aus, dass ein Widerspruch anfänglich die sozial dispräferierte Reaktion konstituiert, die man unter normalen Umständen eher meidet. Die daran anschließenden Analysen müssten sich daher vor allem auf die Frage nach den Konstitutionsbedingungen des Konflikts konzentrieren. Zum Beispiel ist fraglich, inwieweit schon der einseitig verbalisierte Widerspruch (wie Lehmann dies vorgeschlagen hat) eine beidseitige Unvereinbarkeit fundiert und begründet. Aber unter welchen Bedingungen wird ein Konflikt strukturell prävalent? Und ferner: Mit welchen Kommunikationen wird ein Strukturarrangement hergestellt, das den Konflikt gleichzeitig ermöglicht und in seinen Folgen dennoch begrenzt? Ein weiterer Untersuchungsschwerpunkt hätte die strukturellen Bedingungen des Aufbaus und Zerfalls einer Ordnung zu thematisieren. Ein Ordnungsaufbau diesen Typs wollen wir nachfolgend als Konfliktepisode bezeichnen. Von Konfliktepisoden sprechen wir ausschließlich dann, wenn die Widerspruchskommunikation zeitlich begrenzt operiert und sich weder in der sachlichen noch in der sozialen Sinndimension des Konflikterlebens ausbreiten kann. Die Pro^essstufe 2 (von der episodischen Widerspruchskommunikation zu stabilen Strukturen) behandelt den Konflikt primär unter dem Gesichtspunkt seiner zeitlichen und sachlichen Stabilität. Damit ist eine Entwicklung gemeint, die den Konflikt über ein zeitlich begrenztes Anfangsstadium hinausfuhrt, ihm also Kontinuität und Dauer verleiht. Gezeigt werden soll, wie Strukturaufbau und Ordnungsgewinn im Konflikt mit der Etablierung und Ausbreitung von Themen korrespondieren. Der UntersuchungsSchwerpunkt dieser Prozessstufe müsste sich somit vornehmlich auf die sachliche Konsolidierung der Widerspruchskommunikation konzentrieren. Dabei kämen vermehrt auch diejenigen Strukturmerk-

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male in den Blick, die den Konflikt in diesem Rahmen begrenzen. Eine Ordnung diesen Typs wird nachfolgend als Sachkonflikt ausgewiesen. Von Sachkonflikten sprechen wir immer dann, wenn die Widerspruchskommunikation unpersönlich extensiviert, das heißt: wenn sie ihre Themen vorwiegend auf die Sachdimension des Konflikterlebens begrenzt und auf dieser Ebene reproduziert. Die Preisstufe 3 (von der Konfliktstruktur zur Verantwortungsattribution) fokussiert demgegenüber ausdrücklich auf die soziale Sinndimension im Konflikterleben beider Seiten. Die Annahme hierbei ist, dass die Triebfeder für Ablehnung und Widerspruch vor allem in den verschiedenen Varianten der Verantwortungsattribution aufgespürt werden muss. Die dominante Kommunikationsform zeichnet sich dieser Vorstellung zufolge hauptsächlich durch persönliche Verantwortungszurechnung aus. Auf dieser Prozessstufe werden die für das Konflikterleben maßgeblichen Ursachen in der Identität des jeweils anderen lokalisiert. Der Untersuchungsschwerpunkt müsste sich dabei auf das Problem konzentrieren, wie die Widerspruchskommunikation in die soziale Sinndimension des Konflikterlebens einsickern kann und sich dort in Form der Ablehnung von Personen und Identitäten reproduziert. Insoweit sich der Schwerpunkt der Auseinandersetzung von der sachlichen %ur sozialen Sinnselektivität verschiebt, sprechen wir nachfolgend von einem Beziehungskonflikt. Die Pro%essstufe 4 (von der Verantwortungsattribution zur Eskalation) behandelt die Konsequenzen einer auf der Grundlage personalisierter Widerspruchskommunikationen auskondensierten Konfliktstruktur. Dabei geht es unter anderem um die Frage einer kommunikativen Stilisierung von Ego als Feind. Vor diesem Hintergrund werden nach unseren Modellannahmen solche Erwartungsstrukturen relevant, in denen die Möglichkeit Zwang und Gewalt zur dominanten Orientierung im Konflikt avanciert. Immer wenn die Sinnselektivität des Konflikterlebens von der sozialen in die physische (b%w. psychische) Sinndimension transferiert, soll im weiteren von Machtkonflikten die Rede sein. Ein solches Prozessstufenmodell gestattet uns eine analytisch brauchbare Herangehensweise an den Konflikt, sofern es seine Ausdifferenzierung in verschiedenen Etappen seiner Entwicklung hypothetisch präzise markiert. Nachfolgend wird also die These vertreten, dass ein Konflikt im Prozess seiner Ausdifferenzierung ('wenn und soweit er sich eben ausdifferenziert) empirisch abgrenzbare Aggregat- und Systemzustände durchläuft, in denen jeweils ein anderes Emergenz- und Ordnungsniveau den Strukturaufbau dominiert und Konfliktgrenzen absteckt. Für jede einzelne Stufe sind daher spezifische Gren^bildungsprimgpien konstitutiv. Solange man beispielsweise, wie auf Prozessstufe 1, Zustimmung präferiert, ein Widerspruch - aus welchen Gründen auch immer - aber dennoch nicht vermieden werden kann, solange werden sich die Beteiligten (bzw. anwe-

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sende Dritte) um seine Limitierung und Eindämmung sorgen. Für ein solches Emergenz- und Ordnungsniveau sind vornehmlich solche Stoppmechanismen konstitutiv, die sich an der Präferenz für Zustimmung orientieren. Das Grenzbildungsprinzip auf dieser Prozessstufe ist im weitesten Sinne die Meidung von Widerspruch und Konflikt. Zur Charakterisierung dieses Sachverhalts ist nachfolgend bisweilen auch von Meidungskommunikation die Rede. Demgegenüber unterliegen Konflikte der Prozessstufe 2 von vornherein weder zeitlichen noch sachlichen Grenzen. Konflikte diesen Typs können unbegrenzt kontinuieren, solange es nur genügend Themen und Beiträge gibt, an denen sich Widerspruch anschließen lässt. Auf diesem Emergenz- und Ordnungsniveau vollzieht sich die Ausdifferenzierung des Konflikts vornehmlich über die themenbezogene Extensivierung, bei der - im Unterschied zur vorherigen Stufe die Ablehnung einer Sinnzumutung wahrscheinlicher als die Zustimmung ist. Das Grenzbildungsprinzip liegt hier primär in der Beschränkung auf die sachlich orientierte Widerspruchskommunikation begründet, die einer sinnlogischen Ausbreitung auf die Beziehung der Konfliktbeteiligten entgegenwirkt. Auf der Prozessstufe 3 wird der sachliche Kern des Konflikts dagegen in dem Maße überschritten, wie man die Identität des anderen zum Gegenstand der Ablehnung macht. Soweit sich der Konflikt auf Fragen der Verantwortlichkeit und Schuld konzentriert, übernimmt wieder ein anderes Grenzbildungsprinzip die Führung, namentlich die am sozialen Sinnerleben orientierte Anschuldigungskommunikation, durch die der jeweilige Gegner zum Schuldigen einer Konfliktursache avanciert. Schließlich erweitert der Konflikt auf Prozessstufe 4 erneut seine Grenzen, soweit er sich für alle Formen der Feindseligkeit bzw. Gewaltanwendung zugänglich zeigt. Typisch für dieses Emergenz- und Ordnungsniveau ist ein Verhalten, das die Wahl- und Entscheidungsfreiheiten des anderen qua Machtmittelgebrauch limitiert. Damit rückt die Frage der physischen (bzw. psychischen) Machtüberlegenheit rückt in das Zentrum der Konfliktstrategie. In diesem Zusammenhang werden wir nachfolgend die Behauptung vertreten, dass sich das für diese Prozessstufe relevante Grenzbildungsprinzip primär in Form einer am physischen und psychischen Sinnerleben orientierte Orohkommunikation dokumentiert. Diesen Annahmen zufolge begründet sich die hier skizzierte Prozessstufenordnung ausschließlich über Formen der Kommunikation im Konflikt. Unwesentlich dafür ist, was die Beteiligten aktuell und konkret zu ihren Sinnselektionen bewegt bzw. warum sie diese anstelle einer anderen Mitteilungsform wählen. Um die jeweiligen Konflikteigenschaften hinreichend präzise bestimmen zu können, reicht es vollständig aus, wenn wir wissen, dass die Beteiligten kommunizieren

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und ferner: wie sie dies tun. Bei all dem wird unterstellt, dass sich in der Vorherrschaft einer Form zugleich auch die maßgebliche Dimension der Sinnverarbeitung widerspiegelt, die uns das fragliche Konfliktgeschehen analytisch zugänglich macht und darüber informiert, welche Prozesstyp das Konfliktgeschehen aktuell dominiert. Auf der Grundlage dieser Überlegungen nehmen wir weiterhin an, dass für jede Prozessstufe eigene Grenzziehungen gelten, die, sofern man sie nur überschreitet, den Ubergang in ein anderes Emergenz- und Ordnungsniveau signalisieren. Übergänge sind grundsätzlich immer in beide Richtungen möglich. In unserem Untersuchungszusammenhang sind wir jedoch und vor allem an Steigerungsprozessen interessiert. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass jede Prozessstufe einen ihr eigentümlichen Steigerungsmechanismus aufweist, der sich in den unterschiedlichen Varianten des Konflikterlebens dokumentiert. Steigerung meint, dass der Konflikt den Beteiligten eine Lösung in dem Maße erschwert, wie er sich sachlich verbreitert, sozial intensiviert und hinsichtlich der Rigidität seiner Durchsetzungsstrategien an Härte zunimmt. Den nachfolgenden Analysen geht es nicht zuletzt um den empirischen Nachweis solcher Steigerungsmechanismen in den einzelnen Phasen der Ausdifferenzierung des Konflikts. Gezeigt werden soll, wie die Kommunikation im Konflikt die Selektivität ihrer Relationierungen aufeinander aufbauend verstärkt und sich dabei selbstrekursiv festigt.

Einheit und Sequenz in der Konfliktkommunikation Prozesse der Entstehung, der Ausweitung und der Intensivierung des Konflikts sind prinzipiell offen für unendlich viele Einflussfaktoren, die den Konfliktverlauf in unterschiedlicher Weise konditionieren. Dabei versteht sich von selbst, dass keine Konflikttheorie - geschweige denn eine auf Kommunikation basierende Prozesstheorie des Konflikts - dazu imstande ist, sämtliche Variablen auch nur annäherungsweise zu berücksichtigen und untereinander zu korrelieren. Auf diese Problemstellung reagieren wir mit der These, dass alle relevanten Konfliktvariablen - gleich welcher Art - zunächst einmal kommunikativ geltend gemacht bzw. indexikalisch zum Ausdruck gebracht werden müssen, bevor sie das Konfliktgeschehen beeinflussen können. Die Unendlichkeit potentiell möglicher Konfliktanlässe b^w. Konfliktinhalte wird damit auf eine endliche Form ihres Ausdrucks reduziert - namentlich auf Kommunikation, die Ablehnung von Kommunikation und diesbezügliche Reaktionen. Diesen Vorstellungen zufolge entfaltet sich der soziale Konflikt ausschließlich im Rahmen zwischenmenschlicher Kommunikation - also überall dort, wo Sinnzumutungen mitgeteilt, verstanden und abgelehnt werden.

96 Vor diesem Hintergrund ist es zweckmäßig, dem Kommunikationsbegriff eine möglichst präzise Fassung zu geben, die unseren analytischen Ansprüchen genügt. Um auch die interaktiven, relationalen und prozessualen Eigenschaften der Konfliktkommunikation schärfer in den Blick zu bekommen, schlagen wir vor, die Einheit des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs sequenzanalytisch zu dekomponieren. Aus systemtheoretischer Sicht, so war zu sehen7, besteht die Einheit der Kommunikation aus dem Zusammenschluss dreier Selektionen, namentlich Mitteilung, Information und Verstehen. Im Allgemeinen geht die Mitteilung von Informationen dem Verstehen sowohl sinnlogisch wie auch zeitlich voraus. Die Kommunikation braucht Zeit, um ihre Selektivität prozessieren zu können, bzw. um die Mitteilung und das Verstehen einer Information zu relationieren. Diese Überlegung rechtfertigt es, bereits auf der Ebene der einzelnen Kommunikation von einem sequentiellen Ablaufsgeschehen zu sprechen. Die Einheit der Kommunikation ist demzufolge keineswegs statisch, sie impliziert vielmehr Prozess und Bewegung. Dies umso mehr, da sie schon als Einzelkommunikation zwei an ihr beteiligte Seiten, sofern sich diese kommunikativ aufeinander beziehen, prozessual in ihren Ablauf integriert: Eine sich der anderen mitteilende Seite und eine, welche die Mitteilung bemerkt und versteht. Um diesen, für die nachfolgenden Analysen wesentlichen Sachverhalt zu verdeutlichen, wollen wir die Einheit der Kommunikation gemäß der Position der daran Beteiligten sequenziell neu verorten. In diesem Sinne wollen wir die ersten beiden Selektionen der Kommunikation - Mitteilung und Information (M¡) - als einen ersten Rede^ug (bzw. als erste Zugposition) definieren und von einem ^weiten Reäe^ug, der das Verstehen der zuvor geäußerten Information (V¡) und eine daran anschließende Reaktion umfasst, die ihrerseits wieder Mitteilung (M¡) ist, unterscheiden. Die Abbildung 3.1 setzt diesen Vorgang plastisch ins Bild:

7

Vgl. Kap. 2.

97 Abbildung 3.1 Selektivität als Sequenz und Prozess

1. Zug ALTER

EGO

M¡ \

2. Zug

3. Zug

^

^ / Vi ->.M¡

Vi -» Mi

4. Zug

5. Zug Vi

\ Vi

7

-

Mi

Wie das obige Schaubild zeigt, wird die Einheit des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs durch vertikale bzw. horizontale Grenzmarkierungen zugspezifisch segmentiert. Damit wird sichtbar, dass sich die einzelne Kommunikation jeweils in zwei unterschiedlichen Domänen der Sinnverarbeitung realisiert, die wir hier als Alter und Ego bezeichnen; ferner, dass die Einheit der Kommunikation über zwei aufeinanderfolgende Redezüge streut, wobei der einzelne Redezug wiederum zwei Kommunikationen aufeinander bezieht. Auf diese Weise heben wir eine interaktions- bzw. prozess förmige Kommunikations typik hervor, die ihre Akzente gegenüber der systemtheoretischen Fassung in verschiedener Hinsicht anders gewichtet. Zunächst betrifft dies die Binnenorganisation der Kommunikation. Während der systemtheoretische Kommunikationsbegriff mit der Selektion einer Mitteilung beginnt und durch ein Verstehen endet, kehrt sich diese Abfolge bei der redezugtypischen Unterscheidung in ihr Gegenteil um: Hier markiert das Verstehen den prozessualen Ausgangspunkt für die Selektion von Mitteilung und Information, so dass der Vollzug aller Selektionen (Verstehen, Mitteilung und Information) auf einer singulären (der sprecherbezogenen) Ebene geschieht. Mit der redezugtypischen bzw. sequenzanalytischen Dekomposition wird Verstehen zum zentralen Bindeglied im kommunikativen Ablaufsgeschehen. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass jede Kommunikation sowohl rückwärtsgewandte wie auch vorwärtsgewandte Orientierungen berücksichtigen muss. Eine Kommunikation muss an vorhergehende Mitteilungen anschließen können, um in der Lage zu sein, solche Informationen zu produzieren, die zu den vorherigen einen Unterschied machen. Andererseits ist mit der Mitteilung die Erwartung verbunden, dass die Adressaten an eine Information anschließen können und darauf bezogen reagieren. In diesem Sinne fungiert das Verstehen als Schar-

98 nier und Bindeglied einer kommunikativen Verkettung, in der die Information (Mi Vi) zwischen zwei verschiedenen Domänen der Sinnverarbeitung prozessiert. Mit der zugtypischen Umorientierung nähern wir uns darüber hinaus einem prozessfundierten Kommunikationsverständnis an, das jeweils drei ineinander verschränkte Zeitperspektiven in einer Einheit umfasst: Das Verstehen einer vorangegangenen Mitteilung, die aktuelle Produktion einer Information, die auf Zukunft gerichtete Erwartung auf Verstehen.8 Die elementare Kommunikationssituation ist demzufolge ein primär relationales Geschehen, das sowohl reaktive wie auch proaktive Orientierungen in sich vereint. Aus diesen Gründen lässt sich die Annahme bezweifeln, in der Kommunikation gäbe es so etwas wie einen leicht zu identifizierenden ersten Zug. Die Bedingung dafür wäre, dass sich dieser ohne jegliches Vorausverstehen, also gewissermaßen aus dem interaktiven Nichts heraus realisiert. Eine solche Annahme ist jedoch weder empirisch noch theoretisch zu halten. Dies umso mehr, wenn man Kommunikation nicht allein auf verbalisierte Lautlichkeit (Sprache) beschränkt wissen möchte, sondern mit dem Kommunikationsbegriff auch nonverbale Mitteilungsformen erfasst. Allerdings macht die Annahme erster Züge aus anderen, namentlich analytischen Gründen insofern Sinn, als wir damit die Grenzen einzelner Phasen in einem sequenziellen Ablaufgeschehen aufzeigen können, die für das Verständnis von Prozessabläufen maßgeblich sind. So ließe sich beispielsweise annehmen, dass sich der Beginn einer neuen Phase vorwiegend inhaltlich, das heißt am Wechsel von Themen manifestiert. Sofern diese Annahme zutreffend ist, könnte man die für Anfang und Ende einer Phase bzw. für Phasenübergänge konstitutiven Redezüge empirisch markieren und ihre Wirkeigenschaft isoliert analysieren. Jedoch ist auch diese, hypothetisch reduzierte Variante erster Züge selbst nicht unkompliziert, da - wie wir später noch deutlicher sehen werden - die Identifizierung prozessualer Anfänge gerade unter den Bedingungen, die in Konfliktsituationen gelten, hochgradig problematisch, wenn nicht sogar unrealistisch ist. Eine redezugtypische, das heißt mehr an Alter und Ego spezifizierte kommunikative Umorientierung führt zu dem paradoxen Ergebnis, dass sie insbesondere auf die sprecherübergreifenden Merkmale der Kommunikation aufmerksam macht. Dieser Sachverhalt ist aus den bisherigen Überlegungen jedoch leicht nachzuvollziehen. In dem Maße, wie wir Kommunikation auf Alter und Ego als einzelne Entitäten beziehen, ist für deren Beziehung das wechselseitige Sinnverstehen konstitutiv. Im Hinblick darauf ist der Prozess der Kommunikation

Ein Schlagwort, das diesen Sachverhalt anzeigen soll, ist etwa ,Tripartition', vgl. Markovà 1990, S. 131.

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immer auch ein Ausdruck der Synthese von Selbst- und Fremdreferenz. Verstehen ist der Versuch, die fremdselektierte Mitteilung und Information nach Maßgabe eigener Kriterien sinnhaft zu interpretieren. Inwieweit dies gelingt, muss sich an der Mitteilung zeigen, die sich auf das vorgängige Verstehen sinnhaft bezieht. Beim Verstehen handelt es sich also um die Beobachtung fremder Selbstreferen^ (M¡ -> V¡), während der Verstehensvorgang als solcher gewissermaßen nur eine selbstreferenzielle Aktivität präsentiert (Vi). In diesem Sinne punktiert die redezugtypische Differenzierung den Prozess der Kommunikation nach Maßgabe eigener und fremder Sinnselektion: Der einzelne Redezug operiert ausschließlich selbstreferenziell, seine Orientierungen hingegen zielen auf die Beziehung zum andern.

Konversationsanalyse als Methode Mit der Entscheidung, eine Konflikttheorie auf Beobachtungen erster Ordnung, insbesondere auf Kommunikationen zu gründen, sagen wir uns zunächst von solchen Traditionslinien los, die den Konflikt primär kategorial analysieren. Die problematischen Seiten der primär kategoriengeleiteten Konfliktanalyse haben wir bereits ausfuhrlich diskutiert. Demgegenüber möchten wir uns auf einen prozesstheoretisch angereicherten Kommunikations- und Systembegriff stützen, der uns als Leitorientierung für das weitere Vorgehen dienen soll. Anders als die Systemtheorie orientieren wir die Konfliktanalyse nicht an der Konditionierung des Konflikts durch seine systemische Umwelt, sondern konzentrieren uns vor allem auf das Problem seiner Emergenz. Der deduktive Zugriff auf den Konflikt, wie ihn die Systemtheorie letztlich praktiziert, wird somit durch eine primär induktive Vorgehensweise ersetzt. Damit eröffnen wir uns die Möglichkeit einer analytisch tiefergreifenden Perspektive auf die basalen Strukturen der Ausdifferenzierung des Konflikts, insbesondere auf die Dynamik und Binnenorganisation seiner Prozesse. Eine induktive Herangehensweise, die sich vor allem für den Prozess der Widerspruchskommunikation interessiert, steht zunächst einmal vor dem Problem der Zugänglicbkeit ihrer Daten. Jenseits der Befragungs- und Laborsituation entziehen sich die Prozesse der Konfliktdynamik im Allgemeinen der Plan- und Vorhersehbarkeit, was das Zusammentragen entsprechender Untersuchungsmaterialien nicht eben erleichtert. Hauptsächlich aus diesem Grund greifen wir auf bereits publizierte Gesprächsdaten zurück, die wir nach Maßgabe unserer Fragestellung reanalysieren. Im Kontext der Soziolinguistik und Konversationsanalyse liegen mitderweile mehr oder minder umfassende Korpora an Gesprächsdaten vor, die einen solchen Zugriff erlauben. Darüber hinaus hat sich in den vergangenen

100 Jahren auch ein institutionenspezifischer Korpus an Gesprächsdaten kontinuierlich vergrößert, auf den sich zu den vorliegenden Zwecken ebenfalls gut zurückgreifen lässt. Weiterhin hat sich durch die massenmediale Verbreitung von Diskussionsrunden und Interviewsituationen zu strittigen Themen das Problem der empirischen Zugänglichkeit zum Konflikt ebenfalls erheblich verringert. Schließlich liegen auch zahlreiche Studien vor, deren primäres Untersuchungsinteresse nicht unmittelbar auf den Konflikt abgestellt ist, die aber gleichwohl Konfliktsituationen empirisch umfassend dokumentieren. Das Material, auf das sich die nachfolgenden Kapitel beziehen, entstammt einem breitgestreuten Arsenal an Widerspruchskommunikationen aus material sehr unterschiedlichen Situationen, das wir - theoretisch unabhängig von den dortigen Analyse- und Untersuchungsinteressen - für unsere Zwecke gewissermaßen analytisch ,recyceln\ Methodologisch betrachtet sehen wir darin einen Vorteil. Auf Grund einer verhältnismäßig breit gestreuten Datengrundlage können wir das Risiko einer konfliktphänomenologisch vorschnellen Einengung ihrer Bereiche dadurch vermeiden. Indem die Untersuchung ihr Augenmerk auf mitunter sehr verschiedenartige Konfliktsettings konzentriert, macht sie sich damit gegenüber spezifischen Umwelteinflüssen relativ unempfindlich und autonom. Andererseits können wir, sofern dies aus analytischen Gründen ratsam erscheint, die Kategorien der jeweiligen Primäranalysen bei Bedarf in unseren eigenen Ansatz integrieren. Dies könnte sich überall dort als hilfreich erweisen, wo sich die Untersuchungsinteressen der Primäranalysen ebenfalls auf Konfliktvorgänge beziehen. Konversationsanalyse bildet im Rahmen unserer Untersuchung den Oberbegriff für eine spezifische Richtung sozial- und sprachwissenschaftlicher Forschung, die nach den Grundlagen eines intersubjektiv koordinierten Sinnverstehens und darauf aufbauender Interaktionen fragt. Andere, und zum Teil synonym gebrauchte Bezeichnungen dafür sind Diskursanalyse, Soziolinguistik und Ethnomethodologie.9 Im Unterschied zu sonst üblichen soziologischen Erklärungsansätzen verfolgt die Konversationsanalyse das Ziel, Detailkomponenten der Sprachstruktur mit den Bedingungen ¿kr Sinn- und Handlungskonstitution in einem einzelnen Analyserahmen χη integrieren. Auf der Basis natürlicher' bzw. originärer Kommunikationen werden hierbei die Grundsätze und Regeln erforscht, an denen sich die Interaktion sinnhaft orientiert. Im Mittelpunkt der Analysen stehen Sachverhalte des Herstellens, Verstehens und Prozessierens von Sinn als Grundlage sozialen Verhaltens.

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Zwischen den einzelnen Forschungsstrategien werden im Hinblick auf ihre kategoriale Herangehensweisen zum Teil axiomatische Unterschiede deutlich, die wir für unsere Zwecke aber vernachlässigen können; als generelle Orientierung, vgl. etwa Gumperz 1972; Weingarten/ Sack/ Schenkein 1976; Coulthard 1977; Heritage 1984; ferner Flynn 1991, mit Schwerpunkt auf die wissenschaftsgeschichtliche Ausdifferenzierung als Disziplin; Malone 1997; für eine kurzgefasste Überblicksskizze, vgl. auch Bergmann 1991.

101 Zwischen Systemtheorie und Konversationsanalyse bestehen insofern einige grundlegende Affinitäten. 10 Für beide ist die Annahme wesentlich, dass die Konstitution des Sozialen sich vornehmlich über Kommunikationen vollzieht. Während die Systemtheorie die rekursive, auf sich selbst bezogene systemische Ordnung auf Kommunikationen gründet (aber empirisch uneingelöst lässt), betrachtet die Konversationsanalyse die einzelne Kommunikation als Ausdruck einer systemisch bzw. strukturell geordneten Welt. Unbestritten für beide ist die Bedeutung der Kommunikation im Hinblick auf die sinnstiftende Ordnung des Sozialen. Die Konversationsanalyse spricht in diesem Zusammenhang zwar nicht von sozialen Systemen, wohl aber von Referenzgesichtspunkten bzw. von Indexikalität der Kommunikation. Anders als die Systemtheorie sieht sie ihren analytischen Ausgangspunkt allerdings nicht in den Funktionserfordernissen sozialer Systeme, sondern denkt ausgehend vom Prozess der Kommunikation, durch den sich die soziale bzw. systemische Ordnung praktisch konstituiert. Während sich die Systemtheorie vornehmlich aus Fernsicht systemischer Reproduktionserfordernisse für die Kommunikation interessiert, gilt der Konversationsanalyse der Prozess der Kommunikation als einzig zulässige Quelle der Interpretation sozialer Realitäten. Dazu setzt die Konversationsanalyse zunächst an sozial gängigen, eher unproblematischen und intuitiv leicht zugänglichen Kommunikationssachverhalten an, die sie analytisch dekomponiert. Die Konversationsanalyse will zeigen, dass die unendliche Vielfalt natürlich ablaufender Kommunikationen spezifischen Regeln unterliegt, die einer empirischen Beschreibung zugänglich sind (vgl. Sacks 1984, S. 21; ders. 1972a). Anstatt die beobachteten Vorgänge an externen Variablen bzw. Variablenkonstrukten zu validieren, bezieht die Konversationsanalyse ihre Kategorien mehr aus der inneren Logik dynamisch ablaufender Prozesse kommunikativer Interaktion. Die genaue Beobachtung und ein geschärfter Blick für das kommunikative bzw. interaktive Detail versetzt die Konversationsanalyse in die Lage, angeben zu können, wie aus den jeweiligen kommunikativen Prozessen ,Sinn' bzw.,sinnhafte Objektivität' resultiert. Die Systemtheorie hat diesbezügliche Anschlussmöglichkeiten jedoch weitestgehend vernachlässigt und die Konversationsanalyse nur sehr randständig und verkürzt rezipiert, vgl. beispielsweise Luhmann 1984, S. 612 (Fn. 33); daran anschließend auch Kieserling 1999, S. 7, mit dem Hinweis, die Konversationsanalyse habe sich als eine selbstgenügsame und soziologisch nicht anschlussfähige Disziplin selbstverschuldet isoliert, was es rechtfertige, weiterhin den Interaktionsbegriff in den Mittelpunkt soziologischer Analysen zu stellen. Andere, näher an der Schnittstelle von Systemtheorie und Kommunikation operierende Analysen deuten zwar Konvergenzen zwischen beiden Extrempositionen an, ohne daraus freilich die empirisch bzw. theoretisch notwendigen Konsequenzen zu ziehen, vgl. etwa Fuchs 1993, S. 47 (Fn. 85), S. 48 ff.; Nollmann 1997, S. 77, S. 89 (Fn. 25). Am ehesten hier noch haben sich die Analysen von Schneider 1994, S. 172 ff., hervorgetan, der explizit eine Synthese konversationsanalytischer und systemtheoretischer Perspektiven versucht.

102 Wissenschaftstheoretisch betrachtet verorten sich konversationsanalytische Ansätze im Kontext einer phänomenologischen Theorietradition, die nicht danach fragt, was Wirklichkeit objektiv ist, sondern unter welchen Voraussetzungen Individuen etwas für objektiv wirklich erachten. Diese Theorietradition stützt sich auf den dynamischen, komplexen und zuweilen äußerst fragilen Charakter individueller Realitätskonstruktionen: Demnach ist die Wahrnehmung physikalischer und sozialer Sachverhalte vornehmlich ein Produkt der Selektivität individueller Aufmerksamkeit, des jeweiligen Interesses und insbesondere auch der Verträglichkeit einer Wahrnehmung mit bereits verfügbarem Wissen.11 Gerade die Sozialwelt ist demzufolge weniger objektiv, vielmehr - wie Peter Berger und Thomas Luckmann dies ausgedrückt haben - ein Produkt sozialer Objektivationen, die sich in allen sozialen Erzeugnissen, und dort vor allem in der Existenz menschlicher Zeichen und Zeichensysteme manifestieren. Solche Zeichensysteme können auch losgelöst von der Situation, die sie hervorgebracht hat, sozialen Sinn und Bedeutung vermitteln. Sofern sie das ,Hier und Jetzt' der individuellen Erfahrung transzendieren, verleihen sie der Alltagswelt die für ihre Sinngebung notwendige Kontinuität (vgl. Berger/ Luckmann 1970, S. 22 ff.). Aus einer phänomenologisch tradierten Sicht sind die Sachverhalte der Erfahrung primär das Produkt der sozialen Objektivierung, in der vorausgesetzt ist, dass der einzelne sein Verhalten erkennbar an Bedeutungen orientiert.12 Zwischen Phänomenologie und Konversationsanalyse bestehen epistemologisch enge Ubereinstimmungen im Hinblick auf den sozialen Kontext einer gegebenen Situation. Beiden gilt die Situation als Ausfluss einer sinnhaft auf den sozialen Kontext bezogenen Aktivität. Individuen haben im Allgemeinen ein Vorverständnis von der Situation, auf die sie zusteuern bzw. sinnhaft reagieren. Jedoch bleibt der Kontext empirisch solange ungewiss, wie sich niemand erkennbar darauf bezieht.13 Aus Sicht der Konversationsanalyse transponiert erst die Kommunikation die gegenwärtige Situation zu einer wahrnehmbaren, empirisch greifbaren Realität. Damit werden Situationen definiert, modifiziert, transformiert - und für andere sichtbar. Diesbezüglich haben vor allem John Gumper^'

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So die Quintessenz der Überlegungen von William James 1890, der damit das konventionelle Verhältnis von Anschauung und Gegenstand umgekehrt hat; daran anschließend: Schütz 1971a und 1971b, der argumentiert, dass sich ,die' soziale Wirklichkeit aus verschiedenartigen, nach Relevanzgesichtspunkten eines Beobachters geordneten Teilwelten zusammenfügt, gemäß der Konstruktion ihrer typischen Aspekte; vgl. zusammenfassend auch Embree 1979. „We examine", so formuliert es beispielsweise Pollner 1987, S. XI, „how members of the 'tribe' of mundane reasoners use their beliefs about reality to make inferences...", der damit das alltägliche Räsonieren bzw. Idealisieren als Grundsachverhalt der soziologischen Analyse ausweist. Das bekannte Graffity .Stell' dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin', macht sich sinngemäß genau diesen Umstand zunutze.

103 Analysen gezeigt, dass jede Äußerung praktisch auch Hinweise auf den situativen Kontext enthält, aus denen sich zurückschließen lässt, wie ein Sprecher die fragliche Situation interpretiert.14 Vor diesem Hintergrund versteht sich die Konversationsanalyse als eine Methode der Soziologie, die auf Grund ihres kommunikativ präzisen Zugriffs zu neuen Aufschlüssen über soziale Wirklichkeitskonstruktionen gelangt.15 Selbst noch die Analyse kommunikativer Kleinstphänomene vermittelt dieser Ansicht zufolge ein tiefgreifendes Verständnis der sozialen Sinnproduktion, darüber also, wie Individuen Regeln und Grundsätze benutzen, um ihre Beziehungen sinnhaft zu organisieren.16 Die analytische Stoßkraft der Konversationsanalyse wurzelt in ihrer Fähigkeit, hinter den - auf den ersten Blick - scheinbar trivialen und selbstverständlichen Gegebenheiten sozialer Interaktionen komplexe Phänomene ausfindig machen zu können und deren Regelhaftigkeit unter Vergleichs- und Generalisierungsgesichtspunkten analytisch zu rekonstruieren. Kein anderer hat die methodologische Grundhaltung der Konversationsanalyse radikaler verkörpert als Harvey Sacks, Mitbegründer und kreativer Vordenker einer strikt an Kommunikationen orientierten sozialwissenschaftlichen Methodologie. Unter anderem befasste sich Sacks (1992, S. 215 ff.) in einem im Frühjahr 1970 an der UCLA abgehaltenen Seminar mit Erzählanalysen (storytelling). Einleitend dazu stellte er fest, dass Erzählungen typischerweise immer auch solche Darstellungskomponenten enthalten, mit denen sich ein Erzähler als normales Mitglied seiner Gemeinschaft konstituiert. Wer beispielsweise sagt: „Gestern Abend war ich zusammen mit Freunden im Kino gewesen...", weist sein Verhalten im Alltag gegenüber anderen als eine banale, erwartbare und (auch für Soziologen) keineswegs ungewöhnliche Tätigkeit aus. Dementsprechend wird man der Person, die gewöhnliche Dinge tut, .Normalität' unterstellen. Das alles erscheint auf den ersten Blick höchst banal, entpuppt sich aber bei näherer Betrachtung als ein sinnhaft höchst komplexer Vorgang von Strukturindexikalität. Konsequent zu Ende gedacht ist

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Vgl. Gumperz 1982, der hierfür den Begriff der Kontextualisierung vorsieht. Ähnliches gälte entsprechend auch für viele soziologisch aggregierten Begriffsstrategien, wie beispielsweise Handlung, Rolle oder Institution. Auch hier müsste zuerst nachgefragt werden, wie der einzelne seine Aktivitäten verhaltenspraktisch auf solche sinnstiftenden Muster bezieht; als eine frühe Untersuchung, vgl. Garfinkel 1952. Speziell dazu: Heritage 1990/ 1991; ders. 1995; Pomerantz/ Fehr 1997; Hutchby/ Wooffitt 1998, S. 73 ff. Vgl. dazu als klassische Formulierung dieses Sachverhalts Garfinkel 1967, S. 33: "Any setting organizes its activities to make its properties as an organized environment of practical activities detectable, countable, recordable, reportable, tell-a-story-aboutable, analyzable - in short, accountable". In diesem Sinne charakterisieren auch Atkinson/ Drew 1979, S. 1 f., die methodologische Grundhaltung der Konversationsanalyse als "shift in focus away from the apparendy given social facts and structures towards more detailed empirical analyses of the social processes and interactions which constitute them."

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,Ν ormali tat' das Ergebnis einer kontinuierlichen Normalisierungsaktivität, die darauf abzielt, Äußerungen zu produzieren, an denen sich ein konventionelles Weltund Wirklichkeitsverständnis ablesen lässt. ,Normalität' ist demnach keine individuelle oder angeborene Eigenschaft von Personen, sondern weit mehr eine soziale Zuschreibungsqualität, auch wenn wir gewöhnlich selbst nicht so empfinden und denken: „Whatever we may think about what it is to be an ordinary person in the world, an initial shift is not to think of an .ordinary person' as some person, but as somebody having as their job, as their constant preoccupation, doing,being' ordinary. It's not that somebody is ordinary, it's perhaps that that's what their business is. And it takes work, as any other business does" (ebd., S. 216 [die erste Hervorh. von mir, H.M., die zweite im Original).

Der springende Punkt dieser Überlegungen - wie auch schon bei der Frage nach dem Kontext - ist der, dass die mundane Annahme elementarer Selbstverständlichkeiten nicht selbst schon eine Selbstverständlichkeit ist. Jedes Sein (being) auch das gewöhnliche, auch das noch so selbstverständliche - bedarf demzufolge einer fordaufenden Aktivität (doing), um sich als sozialer Sachverhalt zu konstituieren, im Normalfall also der Kommunikation. ,doing being an ordinary person' kann beispielsweise heißen, dass man seine Zeit in den üblichen Bahnen verbringt, übliche Gedanken denkt und übliche Interessen verfolgt - und dies den anderen mitteilt oder auf andere Weise nachvollziehbar für sie macht. ,doing being ordinary tonight' hieße dann: man schaut fern und erzählt am nächsten Tag den Freunden, wie aufregend oder langweilig das eingeschaltete Programm wieder war. An diesem Beispiel werden die unhinterfragten Alltagsroutinen besonders gut deutlich, nicht zuletzt auch die - keineswegs triviale - Erkenntnis, dass jede Normalisierungsaktivität die Verfügbarkeit spezieller Ressourcen erfordert: Wer beispielsweise kein Fernsehen besitzt, wem das Geld oder die Freunde zum Ausgehen fehlen, der kann sich nur unter erschwerten Bedingungen normalisieren'. Die diesbezüglichen Mitteilungsmöglichkeiten sind schon von vornherein stark restringiert, und wer nur aufmerksam zuhört, kann aus all dem die entsprechenden Schlussfolgerungen ziehen. An anderen Anwendungsbeispielen lässt sich zeigen, dass .Normalisierung' immer dann zu einem darstellungsrelevanten Mitteilungsfaktor wird, wenn die Abweichung vom Normalen selbst zum Thema der Kommunikation avanciert. Hierzu hat Rübin Wooffith (1992) Untersuchung in exemplarischer Weise gezeigt, dass der Versuch der Glaubhaftmachung extrem unwahrscheinlicher Sachverhalte (etwa die Beobachtung fliegender Untertassen) einen ganz besonders hohen Normalisierungsbedarf erfordert. Will man nämlich vermeiden, dass ein anderer die .Verrücktheit' einer Mitteilung anstatt auf den Sachverhalt auf die defekte Wahrnehmung des Berichterstatters bezieht, ist es ratsam, den anderen zunächst

105 von seinem korrekt funktionierenden Sinnesapparat zu überzeugen. Man sagt dann beispielsweise, dass man den eigenen Augen zuerst auch nicht getraut, sich dann jedoch auf Grund mangelnder Erklärungsalternativen dazu genötigt gesehen habe, das Unglaubliche als eine Tatsache zu akzeptieren. Der hier erörterte Spezialfall eines ,First-I-thought-X-but-than-I-had-to-reali^e-Y'-Oevice dient also der Darstellung eingegrenzter Irrtumswahrscheinlichkeiten, der eine Mitteilung gegen Einwände immun, und das heißt: glaubhaft macht.17 Die Vermutung liegt nahe, dass es diesbezüglich noch zahlreiche andere funktional äquivalente Strategien der Glaubhaftmachung von Äußerungen gibt, man denke etwa an das Postulat der Widerspruchsfreiheit und inneren Geschlossenheit (Gestaltschließung) einer Äußerung als Voraussetzung einer normal funktionierenden Reflexion. 18 ,Objektivität' und ,Normalität' sind aus Sicht der Konversationsanalyse nach all dem keine ontologischen Qualitäten, sondern in erster Linie variabel handhabbare Ressourcen der Kommunikation, die strategisch umso erfolgreicher eingesetzt werden können, je mehr sie die dafür geltenden Herstellungsregeln befolgen. Die Aufdeckung von Regeln der Sinnproduktion ist ein zentrales Anliegen der konversationsanalytischen Forschung, nicht zuletzt auch im Hinblick auf ihre Pro^esshaftigkeit. Sinn und Funktion einer Kommunikation sind nach Auffassung der Konversationsanalyse eng mit den Formen ihrer Herstellung verbunden, insbesondere mit deren regelgeleiteten Sequen^talität. Demnach ist es keineswegs eine Frage des freien Beliebens, wer wann wie zu einem anderen spricht. Eine grundlegende und empirisch vielfach abgesicherte These der Konversationsanalyse spricht in diesem Zusammenhang von einem turn-taking system, das den Austausch von Mitteilungen gemäß erwartbarer Regeln organisiert. Ein solches ,Redezugsystem' sieht beispielsweise Orientierungen für /«r«-Übergaben vor, es enthält Regeln für Sprecher-Wahlen und konditioniert schließlich auch die Anschlussoptionen der Kommunikation (grundlegend hierzu: Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974). Die jeweiligen Regeln solcher Zugabfolgen sind settingspezifisch mitunter sehr verschieden. Zum Beispiel korrelieren hoch formalisierte Interaktionssituationen typischerweise mit eher starren Mitteilungsregeln, während das Redezugsystem im Alltag variabler, aber immer noch regelgeleitet ope-

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"One powerful argument which can be made about a claim to have encountered an anomalous phenomenon is that the experient was mistaken (...) One variant of this sceptical position is to assert that the phenomenon was in some way the product of the experient's own imagination", vgl. Wooffitt 1992, S. 161. Auch die wissenschaftliche Wirklichkeitsproduktion ist davon nicht grundsätzlich unterschieden. Man braucht auch nicht lange zu suchen, um alltagsäquivalente Normalisierungsstrategien identifizieren zu können, mit denen ein Wissenschafder den Zugang zu Daten, seine Fähigkeit zur Beobachtung sowie sein Reflexionspotenzial legitimiert; vgl. näher Knorr-Cetina 1981; Mulkay/ Potter/ Yearly 1983; Yearly 1981.

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riert. Der Charakter einer sozialen Situation lässt sich demzufolge immer auch daran erkennen, wie die Beteiligten ihr turn-taking organisieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die Kommunikation vor Gericht. Wie verschiedene Analysen hierzu zeigen, ist das gerichtliche turn-taking extrem restringiert. Anders als im Alltag dominieren dort vor allem unilaterale Frage/ Antwort-Sequenzen die Kommunikation. In inquisitorischen Rechtssystemen wird das Redezugsystem primär vom Richter, im angelsächsischen Geschworenengericht dagegen mehr von den Anwälten kontrolliert.19 Wird man beispielsweise vom Gericht als Zeuge geladen, wird schon durch den Aufforderungscharakter (Ladung) deutlich, dass viele der sonst üblichen Kommunikationsregeln in diesem Setting nicht gelten. Allein schon die Tatsache, dass der Betreffende in einem nur sehr eingeschränkten Maße über Verweigerungsrechte verfügt, deutet auf besondere, namentlich zwangsförmige Umsetzungsmodalitäten des gerichtlichen turn-taking hin. In der Verhörsituation ist das turn-taking zudem durchweg hierarchisch organisiert. Zeugen werden typischerweise mit Aufforderungen und Fragen durch die Verhörsituation geschleust. Spontane bzw. selbst-initiierte Mitteilungsbedürfnisse werden dagegen kommunikativ systematisch neutralisiert.20 Damit das Gericht in seiner Eigenschaft wirken, und das heißt: sich als ,Gericht' konstituieren und ausdifferenzieren kann, bedarf es der Umsetzung vielfältiger und zugleich sehr spezifischer Regeln der Kommunikation. Ihr Zusammenwirken bringt schließlich eine Typik des turn-taking hervor, die für das ,doing justice' maßgeblich ist. Wie die verschiedenen Untersuchungen hierzu zeigen, entspricht jede Einschränkung in den kommunikativen Ausdrucksmöglichkeiten der Beteiligten einer für das gerichtliche Verfahren typischen Funktion.21 Und in dem Maße, wie alle Beteiligten sich daran orientieren, wird es als Setting zur institutionellen Realität. ,Situation', ,Kontext' bzw. .Objektivität' sind insofern synonyme Begriffe für die Produkte einer Wirklichkeitskonstruktion, die jeweils spezifi-

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Ähnliches gilt im Übrigen überall dort, wo sich die soziale Beziehung über bestimmte Funktionsvorgaben und professionelle Rollen funktionsspezifisch ausdifferenziert, wie beispielsweise bei Doktor/ Patient-Interaktionen, Nachrichteninterviews, oder Bewerbungsgesprächen, vgl. die verschiedenen Analysen in: Boden/ Zimmerman 1991, dort vor allem die Beiträge von Heritage/ Greatbatch (Nachrichteninterviews) sowie von ten Have und Maynard (Doktor/ Patient-Interaktionen); ferner verschiedene Untersuchungen in Drew/ Heritage 1992; van Dijk 1997; diesen Sachstand zusammenfassend, vgl. auch Hutchby/ Wooffitt 1998, S. 145 ff. Mittlerweile schon klassisch: Atkinson/ Drew 1979, mit zahlreichen Hinweisen auf die signifikanten Abweichungen in der Organisation gerichtlicher und alltäglicher Konversationen, insbes. S. 34 ff. Die Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen ist nur eine der Schwierigkeiten, die das Gericht durch die Typik der Kommunikation in den Griff zu bekommen versucht. Eine andere ist Konfliktdämpfung: Dabei ist es von zentraler Bedeutung, dass den Streitparteien die Kontrolle über ihre Kommunikationsmöglichkeiten entzogen wird, um zu verhindern, dass Konflikte vor Gericht eskalieren.

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sehen Herstellungsregeln unterliegen. Wenn die Typik bzw. Struktur des turntaking variiert, verändert sich damit zugleich auch die Typik bzw. Struktur eines Settings. Die Eigenschaften des turn-taking gelten uns daher ebenfalls als wichtige empirische Indikatoren zur Kennzeichnung einer sozial gegebenen Ordnung. Das turn-taking, so machen konversationsanalytische Untersuchungen deutlich, kanalisiert Kommunikation im Hinblick auf eine die Situation kennzeichnende Sinnhaftigkeit. Demzufolge ist die Sequenzialität von Kommunikationen Maß und Ausdruck einer Prozessqualität, durch die sich die Beteiligten wechselseitig konditionieren. In diesem Zusammenhang wurde bemerkt, dass sich ein nicht unbeträchtlicher Anteil an Kommunikationen über feststehende Paarsequenzen organisiert: ^Adjacency pair organisation' bezeichnet ein konversationelles Strukturmuster der Kommunikation, das - vereinfacht ausgedrückt - zwischen initiierenden und reagierenden Kommunikationen sozial fixierte Erwartungsarrangements etabliert. Durch initiierende Sprecherzüge (sog. first pair parts - etwa Anreden, Aufforderungen, Begrüßungen, Einladungen, Fragen u.ä.m.) werden nachfolgende Sprecherzüge (sog. second pair parts - also Reaktionen im weitesten Sinne wie Antworten, Zustimmungen, Ablehnungen, Erklärungen, Gegengruß u.ä.m.) einerseits angeregt, gleichzeitig aber auch hinsichtlich ihrer Reaktionsmöglichkeiten konditioniert.22 Wer beispielsweise den anderen etwas fragt, legt damit nicht nur die Themen und Inhalte möglicher Antworten fest, sondern hat typisch auch ein Anrecht auf eine Antwort. Der second pair part sieht sich demnach sowohl mit inhaltlichen wie auch mit normativen Vorgaben konfrontiert. Wenn auf die Frage keine Antwort erfolgt, so ist ihr Ausbleiben deshalb auch konditionell relevant, weil es die Bedingungen einer durch den first pair part etablierten Sprecherbeziehung missachtet. Dadurch entsteht Klärungsbedarf, den typischerweise der die Antwort schuldig Gebliebene zu verantworten hat. Im Lichte der adjacency pair organisation bekommt die interaktive bzw. sequenzielle Seite der Kommunikation nicht zuletzt auch neuen Glanz: Paarsequenzielle Kommunikationen sind immer ko-produziert, positionsspezifische Vor- und Nachteile jedoch asymmetrisch und ungleich auf beiden Seiten verteilt.23

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Typische Beispiele hierfür sind: Frage/ Antwort; Gruß/ Gegengruß; Einladung/ Zustimmung (bzw. Ablehnung); Angebot/ Dank u.ä.m., vgl. dazu näher Sacks 1992, S. 43; Schegloff 1968; Schegloff/ Sacks 1973. Vorsorglich sei angemerkt, dass sich diese Hinweise auf einer recht verkürzten Darstellungsebene bewegen; um beispielsweise überhaupt Fragen stellen zu können, muss der anvisierte ,Antworter' erst einmal schweigen. Der Begriff der ,Ko-Produktion' schließt demnach auch das passive Geschehenlassen als aktive Leistung in den Bereich ihrer Analyse mit ein. Das wiederum hat - nicht nur analytisch - vielfaltige Folgen. Dasselbe gilt übrigens auch für die Vermutung asymmetrisch verteilter Lasten, die dadurch zustande kommen, dass - grosso modo - der jeweils erste Zug des ,adjacency pairs' häufiger eine Norm repräsentiert, während der zweite Zug die Entscheidung aufwirft, ob den diesbezüglichen Erwartungen entsprochen oder ob davon abgewichen werden soll.

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Mit der Konversationsanalyse, so können wir die hier sehr kurz gehaltenen Überlegungen dieses Kapitels resümieren, ist eine Methode bezeichnet, die von natürlichen, empirisch konkreten Kommunikationen ausgehend Prozesse und Regeln der sozialen Sinnproduktion rekonstruiert. Ihr zufolge werden mit jeder Kommunikation spezifische Typen sozialer Beziehungen entweder inauguriert, kontinuiert, transformiert oder abgebrochen. Hier vor allem liegen sämtliche Anknüpfungspunkte für die oben erwähnten Prozessanalysen begründet. Wir benutzen das analytische Potenzial der Konversationsanalyse, um die konstitutiven, iterativen und trans forma tiven Prozesse bei der Ausdifferenzierung des Konflikts empirisch zu rekonstruieren. In Ubereinstimmung mit den theoretischen Prämissen der Konversationsanalyse gehen wir nachfolgend von der Annahme aus, dass die Merkmale und Eigenschaften des Sozialen weder naturwüchsige, noch statische bzw. unveränderliche Tatsachen sind, sondern dass ihre soziale Geltung auf kommunikativer Basis ständig neu hergestellt werden muss. In der Kommunikation müssen Hinweise darauf auffindbar sein, wie sich die Beteiligten im Konfliktfall auf soziale Regeln, Erwartungen, Rollen u.ä.m. beziehen. Die Beteiligten müssen also, um den Konflikt ,wirklich' zu machen, sich kommunikativ auf Unvereinbarkeiten bzw. auf Widersprüche beziehen. Erst dadurch wird der Konflikt zu einer empirisch fassbaren Realität.

It takes two to tangle.

Samuel Vuchinich Kapitel 4 KONFLIKTEPISODEN

Dieses Kapitel befasst sich mit der Frage nach den generativen Voraussetzungen der Ausdifferenzierung einer Konfliktepisode. Grundlage der Analysen sind zunächst die allgemeinen, nicht weiter spezifizierten Bedingungen der Interaktion, die gelten, sobald zwei Individuen wechselseitig in ihr Wahrnehmungsfeld treten und beginnen, ihr eigenes Verhalten am Verhalten des anderen zu orientieren. Schon auf dieser, vornehmlich noch nicht-sprachlichen Ebene der Interaktion ist Kommunikation zwischen den Beteiligten unvermeidbar: Sofern man nur das Verhalten des anderen sinnhaft auf sich selber bezieht, also als Mitteilung auffasst, ist ausgeschlossen, in Anwesenheit anderer nicht zu kommunizieren (so bekanntlich Watzlawick/ Beavin/ Jackson 1982, S. 50 ff.). Wer wahrnimmt, dass er von anderen wahrgenommen wird, stellt sein Verhalten zwangsläufig auf die wechselseitige Wahrnehmung ein. Ein Verhalten wird, auch nonverbal, damit zur Frage der Kommunikation. In diesem Zusammenhang lassen wir die Frage nonverbaler Interaktionen gleichwohl außer Betracht.1 Was wir nachfolgend unter einer empirischen Tatsache der Sozialwelt verstehen, ist vielmehr ein konkret stattfindender Interaktionsprovçss auf der Basis verbalisierter Kommunikation. Alles, was in der Sozialwelt geschieht und empirisch Tatsachenwert beansprucht, benötigt demzufolge ein durch Kommunikation bezeichnetes ,Hier und Jetzt'. Kommunikation ist das Medium, durch

Die Gründe für diese Zurücksetzung liegen nicht zuletzt in den empirischen Intentionen der vorliegenden Analyse, sofern das uns zugängliche Untersuchungsmaterial hauptsächlich aus verbalisierten Kommunikationen besteht. Demgegenüber sind auf Visualität abstellende Analysen (Blicke, Gesten, Körperhaltung etc.) in der empirischen Sozialforschung eher selten. Auch sind diesbezügliche Analysemethoden bislang eher noch unausgereift; vgl. aber als erste Schritte in diese Richtung Kendon 1973; Psathas 1990; Meier 1997; Mohn 2002.

110 das sich Menschen aufeinander beziehen. 2 Entsprechendes muss auch für den Konflikt und die Prozesse seiner Ausdifferenzierung gelten. Auf der Basis dieser methodologischen Prämisse wollen wir die strukturellen Merkmale einer konflikteinführenden Situation möglichst genau erfassen. Darauf bezugnehmend beginnen wir die Untersuchung mit einer konversationsanalytischen Analyse des Zumutens von Sinnsachverhalten, die mitunter Anlass für eine Ablehnung sind. Bevor wir uns jedoch mit der Ablehnung selber befassen, wollen wir zeigen, dass in Bezug auf die Sinnzumutung nicht Widerspruch, sondern Affirmation und Konsens die sozial präferierten Reaktionsweisen sind. Auf dieser Grundlage wenden wir uns den generativen Mechanismen der Ausdifferenzierung einer anfänglichen Konfliktsituation zu. Die Frage, ob der Konflikt durch die einzelne Widerspruchskommunikation analytisch zureichend bestimmt werden kann, ist aus verschiedenen Gründen zu verneinen. Stattdessen schlagen wir ein sequenziell mehrgliedriges Konfliktmodell vor, das Mehrdeutigkeiten definitiv ausschließt. Am Schluss dieses Kapitels werden schließlich auch die Stoppmechanismen einer Konfliktepisode diskutiert.

Affirmativer Sinn Mit huhmantt gehen wir nachfolgend von der Annahme aus, dass jede Kommunikation Sinnzumutungen prozessiert, an die sich generell auch Zustimmungserwartungen knüpfen. Nehmen wir zum Beispiel folgende Sequenz aus Anita Pomerant^ Untersuchung über ¡Assessments'h [1]

01 02 03

2 3

J: R:

Let's feel the water. Oh, it ... It's wonderful. It's just right. It's like bathtub water.

"People relate in talk", heißt es knapp und bündig bei Duncan 1967. Pomerantz 1984, S. 57. Ein Großteil des hier herangezogenen Untersuchungsmaterials ist angelsächsischer Provenienz. Das hängt zunächst damit zusammen, dass im angelsächsischen Sprachraum mehr konversationsanalytische Publikationen als im deutschen verfügbar sind, was das Auffinden geeigneter Gesprächdaten entsprechend erleichtert. Zum anderen besteht jedoch auch grundsätzlich der Eindruck, dass die generativen Prozesse der Sinnproduktion auf Grund der syntaktischen und grammatikalischem Schlichtheit im Englischen deutlicher als im Deutschen zu Tage treten und sichtbar gemacht werden können. Davon wiederum profitiert die Systematik darauf bezugnehmender Analysen. Im übrigen werden alle in der Untersuchung zitierten Gesprächsdaten möglichst originalgetreu wiedergegeben. Lediglich wurde versucht, ein einheitliches Notationssystem für alle Transkriptzitate festzulegen. Die für das vorliegende wie für die später zitierten Textfragmente maßgeblichen Transkriptnotationen befinden sich im Appendix am Ende der Untersuchung.

111

Bei diesem Textfragment handelt es sich um die Wiedergabe einer offenbar belanglosen Konversation (möglicherweise während einer Ruderpartie, möglicherweise während eines Strandspaziergangs), in deren Verlauf die eine Person der anderen den Vorschlag macht, das Wasser zu fühlen. Anhand solcher - recht trivialen - Äußerungen erläutert Pomerant% eine konversationsanalytisch grundlegende These: Individuen bringen ihre Teilhabe an sozialen Aktivitäten dadurch zum Ausdruck, indem sie sie sprachlich anerkennen, bewerten und kommentieren. Damit zeigen sie mithin ihre Bereitschaft an, hinsichtlich der fraglichen Aktivität zu kooperieren. Voraussetzung hierfür ist ein basales Einvernehmen bezüglich den Merkmalen der von beiden Seiten geteilten Situation. Fragt man genauer, auf welchen Sachverhalt die Sinnzumutung im vorliegenden Beispiel zielt, dann wird deutlich, dass J's Mitteilung den Status einer Aufforderung hat in Bezug auf ein gewünschtes Verhalten (Let's feel the water). Sinn- und Verhaltenszumutung fallen in diesem Beispiel zusammen. Gleichzeitig ist ,feeling the water' aber auch Teil einer umfassenderen Rahmenaktivität, welche die Äußerung implizit aufgreift und sinnhaft reproduziert. In wenigstens diesen beiden Hinsichten - Situation und Verhalten - werden an erster Zugposition Zustimmungserwartungen konnotiert, die R's Reaktion dann auch befriedigt. Sinnzumutung und Zustimmungszumutung laufen im Normalfall also auf dieselbe Erwartung hinaus, nämlich mit der eigenen Äußerung beim anderen auf Akzeptanz und Anerkennung zu stoßen:4 [2]

01

J:

It's really a clear lake, isn't it?

02

R:

It's wonderful.

A: C:

...Well, anyway, ihs-ihs not too co:Id, Oh it's warm ...

[3] 01 02

Unabhängig davon, wie direkt und unmittelbar die Zustimmungserwartung an erster Zugposition zum Ausdruck kommt, es folgt jeweils die Affirmation in Form eines ,second assessment, das zudem die vorherige Feststellung im Sinne eines upgrading noch übertrifft (clear — wonderful; not too co:ld - warm). Daraus leitet Pomerant% die Regel ab, dass jede (wertende) Äußerung über einen Sachverhalt, der dem anderen ebenfalls gegenwärtig und zugänglich ist, diesen dazu auffordert,

Die folgenden Textfragmente sind entnommen aus Pomerantz 1984, S. 60.

112 seine Reaktion affirmativ am first assessment' zu orientieren.5 Sinnzumutung, Zustimmungserwartung und Anerkennung des zugemuteten Sinns sind also normativ hochwirksame Bindeglieder einer Interaktionssituation, mittels derer sich beide Seiten darüber vergewissern können, ob sie das gleiche Situations- bzw. Beziehungsverständnis untereinander teilen. Sinnverstehen und Sinnakzeptanz fundieren auf diese Weise die soziale Basis einer gemeinsam geteilten Wirklichkeitsdeutung, bei der sich beide Seiten relativ sicher sein können, dass sie wenigstens für den Augenblick - harmonieren. In ihrer Untersuchung über familiale Konversations formen bei Tisch spricht Angela Keppler von Kommunikationsgemeinschaften allgemein und von der Familie als Fall kommunikativer Vergemeinschaftung im Besonderen. Sie schreibt: „Im mehr oder weniger flexiblen Gebrauch allgemeiner sprachlicher Muster bildet sich ein formales Band kommunikativer Beziehungen zwischen den Angehörigen einer Familie aus, das meist stärker ist, als die Vielzahl inhaltlicher Differenzen, die ihre Unterhaltungen oft genug prägen (...) Der Konsens, der eine Familie konstituiert, besteht aus erprobten Gesprächsverfahren, die überall dort etabliert sind, wo Handelnde in der gemeinsam verbrachten Zeit ihres Alltags über ein geteiltes kommunikatives Repertoire verfügen" (Keppler 1994, S. 10).

Diese Feststellung gilt in ähnlicher Weise bereits für die minimalen Kommunikationssequenzen in der alltäglichen Interaktion, soweit sich schon am singulären Mitteilungsverstehen die Bereitschaft zur ,Vergemeinschaftung' sozialer Beziehungen ablesen lässt.6 Insoweit der zugemutete Sinn für den anderen verständlich und hinnehmbar ist, schafft der Kommunikationsvorgang in dem Maße Sicherheit und Vertrauen, als man sich mit dem anderen auf der selben Ebene einvernehmlicher

Wirklichkeitswahrnehmungen

weiß.

Umgekehrt

setzt

die

Rückkommunikation von Nicht-Verstehen ein Signal, dass ein anderer die mehr oder weniger als selbstverständlich - unterstellten Grundlagen routinisierter

5

6

Vgl. Pomerantz 1984, S. 61: "When a speaker assesses a referent that is espectably accessible to a recipient, the initial assessment provides the relevance of the recipient's second assessment." Im Hinblick auf die Generalisierung speziell dieser Sprecherregeln müssen hier allerdings doch die Stilunterschiede verschiedener Sprachkulturen berücksichtigt werden. Speziell im Hinblick auf assessments wird man beispielsweise annehmen dürfen, dass die Betonung von Gemeinsamkeiten und Verbundenheiten in der amerikanischen Alltagskommunikation einen höheren Stellenwert als im Deutschen besitzt. Solche Eigenarten der Sprache werden in der Soziolinguistik etwa unter dem Stichwort ¡Deferen^ untersucht, vgl. exemplarisch Byrnes 1986. Vgl. dazu Peter Fuchs, der im Zusammenhang mit japanischen Kommunikationsformen eine dort besonders stark ausgeprägte kommunikationsstrukturelle Empathie verzeichnet. Den Befunden zufolge würde die japanische Kommunikation - und damit die soziale Beziehung - kollabieren, „wenn nicht nach circa 20 Silben ein Kommunikationsbeitrag Alters von einem Beitrag Egos unterbrochen oder ergänzt oder bestätigt würde", Fuchs 1995, 53, Fn. 21. Fuchs sieht darin ein in der japanischen Gesellschaft vorherrschendes Bedürfnis, alle individuellen Idiosynkrasien zugunsten einer kollektiven Sozialität kommunikativ auszumerzen und spricht deshalb auch von dividualisierender Kommunikation, vgl. Fuchs 1995, S. 70.

113 Wirklichkeitsauffassungen nicht übernehmen kann oder will. Dadurch werden die unhinterfragten Gemeinsamkeiten der sozialen Beziehung - mitunter nachhaltig7 - in Frage gestellt und im Wiederholungsfall ernsthaft bedroht. So gesehen knüpft jede Kommunikation ein mehr oder weniger belastbares Band der sozialen Beziehung, in der sich das gemeinsame Welterleben fortwährend erneuert und reproduziert:8 [4] 01

B:

Isn't

02

A:

0:: h h::s They

03 04

B:

08

yeah L

way

a::DORable im awful

I think

nice

somehow

she must

wash'

im

[-week

A:

07

cute

keep'

every

05 06

Oh

he

he

God

- she must

looks

rto

Li k n o w

B:

(h)wash'im

every

day

the

m e

it

1 01

L:

02 03

...I'm hhh!

W:

04

so dumb



I don't

even

know

it.

heh!

Y - no,

y-you're

yer

not

hit

right

the

head

it

on

du:mb,

God you-you

my

1 01

M:

Dr W i l l i schon

02

hat

η

Teppich

vorbracht

03

H:

Du hasch

04

W:

Der

06

W:

Ach

07

M:

is

η

schon vorgebracht

sogar

super

tiefengereinigt

(20.0)

05

den

Teppichroller

muß

i auch

n o c h (-wegräume knhm

Zustimmungen, durch die man den Grad einer Übereinstimmung zum anderen kenntlich macht, erfüllen den jeweiligen Sinnzumutungen gemäß eine je unterschiedliche Funktion. Ob eine Zustimmung Zustimmung ist, erkennt man noch nicht an der gleichbleibenden Form ihres Ausdrucks (etwa am verbalisierten ,]&*), sondern erst am situativen Kontext der Sinnproduktion. So kann Zustimmung,

J e selbstverständlicher die Verstehenszumutungen sind, die ein anderer durch sein NichtVerstehen enttäuscht, u m s o höher das Ausmaß an Verunsicherung, an Vertrauensverlust bzw. erlebter Bedrohung. In Fällen extremer Erwartungsenttäuschung kann das rückkommunizierte Nicht-Verstehen mitunter die existenziellen Grundlagen des eigenen Welt- und Wirklichkeitsverständnisses erschüttern, vgl. nur Garfinkel 1967, S. 42 ff.. Die beiden englischsprachigen Textfragmente stammen aus Pomerantz 1984, S. 60, das deutschsprachige aus Keppler 1994, S. 94.

114

wie in Textfragment [4], etwa heißen: „wash' im every day", obwohl diese Aussage der vorhergehenden Sinnzumutung inhaltlich widerspricht (wash' im every week); ferner kann eine Äußerung als Zustimmung fungieren, obwohl sie, wie in Textfragment [5], die vorherige Sinnzumutung bestreitet (yer not dumb)·, und sie kann sich schließlich auch als Zustimmung auf sehr verdeckt liegende Sinnkontexte zu erkennen geben, obwohl sie - wie in Textfragment [6] - kaum noch als Zustimmung wahrzunehmen bzw. nachweisbar ist (Ach den Teppichroller...). Mit diesen einfachen Beispielen erhalten wir einen ersten, aber noch keineswegs erschöpfenden Eindruck von dem sozial feinnervigen Beziehungsgeschehen im Kontext affirmativer Kommunikationen, den wir anhand der Analysen im nächsten Abschnitt weiter vertiefen.

Präferenz für Zustimmung Bislang haben die vorangegangenen Beispiele deutlich gemacht, dass schon die relativ voraussetzungslose, beiläufige und zweckfreie Affirmation eine im positiven Sinne kooperative Beziehung zum anderen herstellt, aufrechterhält bzw. reproduziert. Die nachfolgenden Überlegungen knüpfen an diesen Sachverhalt mit der Aussage an, dass die menschliche Kommunikation hochwirksame Muster bzw. Strukturen enthält, deren Aufgabe es ist, die kooperative Seite der Interaktion sicherzustellen und zu stabilisieren.9 Ein solches Muster ist unter dem Begriff der Präferen^organisation für Zustimmung in der Konversationsanalyse mitderweile fest etabliert und empirisch hinreichend belegt (Atkinson/Drew 1979, S. 37 ff.; Bilmes 1988; Kotthoff 1993). Ausgehend von der Vermutung, dass die Selektion zustimmender bzw. ablehnender Reaktionen kommunikativen Regeln unterliegt, war zu beobachten, dass im Normalvollzug alltäglicher Kommunikationen mehr bejahende als verneinende Reaktionen mitgeteilt werden (Sacks 1987). Darüber hinaus konnte festgestellt werden, dass beide Reaktionstypen offenbar speziellen Erwartungen folgen, sofern die zustimmende Kommunikation meist sofort und verbal explizit auf eine Mitteilung reagiert, während die ablehnende Kommunikation typischerweise zeitlich verzögert und inhaltlich abgeschwächt erfolgt:10

9

10

Grundlegend dazu die Untersuchung von Penelope Brown und Stephen Levinson mit der zentralen Aussage, dass Höflichkeit in der Interaktion ein wesentliches, universelles und unverzichtbares Prinzip geordneter und kooperativer Sozialbindungen ist. Zum Verhältnis von Höflichkeit und dem hier näher zu behandelnden Prinzip der Präferenzorganisation für Zustimmung, vgl. näher Brown/ Levinson 1987, S. 38 f. Vgl. dazu Pomerantz 1984, S. 64 mit folgender Formulierung: "Two types of shapes are of interest for this study: One type is a design that maximizes the occurences of the actions being performed with them, utilizes minimization of gap between its initiation and prior turn's com-

115

[7] 01 02 03

Β: A:

She seems like a nice little ¡-lady L ^ f u i i y nice little person

Im Sinne der Präferenzorganisation für Zustimmung dokumentiert A's Reaktion in Textfragment [7] in sozialer Hinsicht Teilhabe, in zeitlicher Hinsicht Unmittelbarkeit und in sachlicher Hinsicht explizite Bejahung. Dieselben Merkmale der Präferenzorganisation gelten - wie schon in Textfragment [6] - ebenso in negativer Umkehrung, sofern im ersten Zug Ablehnung die präferierte Erwartung ist, wie beispielsweise im Falle einer,Tiefstapelei': [8]

01 02 03

L: S:

You're not bored (huh)? Bored? = = No. We're fascinated.

In diesem Fallbeispiel (vgl. Pomerantz 1984, S. 83) präferiert die konnotierte Erwartung deutlich sichtbar Ablehnung als sozial wünschenswerte Reaktion, da L's Befürchtung, als Verursacher von Langeweile zu gelten, als Negativerwartung im Vordergrund steht. Auch hier entspricht die nachfolgende Reaktion dieser Erwartung, indem sie diese Befürchtung ausdrücklich verneint (No), auffällig schnell an die vorhergehende Mitteilung anschließt (markiert durch '=' d.h. latching) und schließlich den Selbstzweifel durch ausdrückliches Lob konterkariert (We're jasánated). Auf diese Weise wird jeweils dem sozial Wünschbaren der Vorzug gegeben und bestehende Teilhabe-, Kooperations- und Beziehungsbereitschaften kommunikativ bekräftigt. Was wir bislang in Bezug auf die zustimmungspräferierte Kommunikationssituation ausgeführt haben, greift gewissermaßen schon den Problemstellungen vor, die entstehen, wenn sich die Beteiligten von diesem Prinzip lösen. Zumindest solange die Präferenzorganisation für Zustimmung strukturell noch in Kraft ist, ist die Enttäuschung einer Zustimmungserwartung mithin ein Problem. Als sozial dispräfenerter Sachverhalt stößt die Ablehnung grundsätzlich auf Widerstand sowohl auf den eigenen, da man wissentlich die andere Zustimmungserwartung enttäuscht, wie auch auf den eines anderen, der mit dieser Enttäuschung umgehen muss und dessen Reaktionen sich dabei nicht immer vorhersehen lassen.

pletion, and contains components that are explicitly stated instances of the action being performed. The other type minimizes the occurences of the actions performed with them, in part utilizing the organization of delays and nonexplicitly stated action components, such as actions other than a conditionally relevant next. The respective turn shapes will be called prtfemd-action turn shape and disprtferred-action tum shape" [Herv. im Orig.].

116 Wären die Reaktionen in den obigen Textfragmenten nicht ausdrücklich zustimmend, sondern vielleicht nur Schweigen gewesen, dann hätte der Verhaltenskontext schon bald einen Grad an Mehrdeutigkeit erreicht, der Anlass zu misstrauischen Rückschlüssen geben würde. Von vornherein ist nicht immer klar, auf welchen Motiven die Verweigerung einer Zustimmung beruht. Zustimmungen sind fast nie, Ablehnungen dagegen fast immer mit Problemen verbunden. Entsprechend der Wunsch, Ablehnungen zu vermeiden: [9] 01

L:

M a y b e it's j u s t ez w e l l

02

W:

Hm?

03

L:

M a y b e it's j u s t ez w e l l y o u

04 05 06

Wilbur. don t

know.

(2.0) W:

W e l l / u h - I s a y it s something good

s u s p i c i o u s it

could

too

An diesem Textfragment (vgl. Pomerantz 1984, S. 71) werden gleich mehrere rhetorische Stilmittel deutlich, welche die Konversationsanalyse unter die Klasse der Verzögerungs- und Meidungstaktiken (delay devices) rubriziert.11 Im Unterschied zu den oben erörterten Struktureigenschaften fallt zunächst auf, dass auf den ersten Redezug keine explizite Zustimmung, sondern vielmehr eine NichtVerstehensbekundung (Hm?) erfolgt; zumindest wird W's Reaktion in dieser Weise gedeutet, da L den Sinn des Anliegens daraufhin klarzustellen versucht. Aber auch danach bleibt die Zustimmung aus. Stattdessen erfolgt eine längere Pause. Erst als L nach der Pause die ursprüngliche Äußerung nicht korrigiert, äußert W seine Nicht-Ubereinstimmung explizit. Sämtliche der hier angezeigten Stilmittel eines Ablehnungsaufschubs sind generalisierbar in dem Sinne, als sich nachweisen lässt, dass die von einer Zustimmungserwartung abweichende Reaktion typischerweise eine oder mehrere solcher Stilmerkmale in sich vereint. Während Zustimmungen sofort erfolgen, werden Ablehnungen häufig erst dann geäußert, wenn sich der Widerspruch nicht mehr länger aufschieben lässt.12 Ein Sprecher bringt damit zum Ausdruck, dass er die Ablehnung nur ungern kommuniziert bzw. die Zustimmungserwartung nur notgedrungen enttäuscht. Vor diesem Hintergrund bekundet das demonstrative Nicht-

11

12

Bilmes 1988, S. 173 spricht in diesem Zusammenhang auch von ,reluctance markers', andere von ¡hedges',,disclaimers' oder ähnlichen Migitations- und Disfluenzmarkierungen in der Kommuni-kation. Diesen Zusammenhang hat erstmals Harvey Sacks 1987, S. 58 expliziert: "First thing that we noted (...) is that there is an apparent interaction between the preference for contiguity and the preference for agreement, such that, if an agreeing answer occurs, it pretty damn well occurs contiguously, whereas if a disagreeing answer occurs, it may well be pushed rather deep in to the turn that it occupies."

117 Verstehen (Hm?) im zweiten Redezug oftmals den Wunsch nach Korrektur des zugemuteten Sinns: Indem das Nicht-Verstehen an die Position einer (präferierten) Zustimmung tritt, wird einerseits Ablehnungsbereitschaft signalisiert, diese gleichwohl nicht exekutiert. Damit räumt man einem Sprecher an erster Zugposition die Möglichkeit ein, die durch Ablehnung bedrohte Sinnzumutung nachträglich zu korrigieren, womit die Ablehnung hinfällig würde. ,Repair initiators', wie die Konversationsanalyse diese Klasse von Vermeidungstaktiken nennt, sind daher im hohen Maße ablehnungsimplikativ (vgl. Schegloff et al. 1990). Ähnliches gilt schließlich auch für Pausen und Schweigen (Bergmann 1982; Tannen/ Saville-Troike 1985; Bilmes 1994). Vielfach erfolgt erst nach Gebrauch typischer Vermeidungs- bzw. Verzögerungstaktiken die Ablehnung verbal explizit - im obigen Textfragment aber nicht ohne zuvor die deutliche Abschwächung ihrer Intention durch sogenannte agreement token' (Well) bzw. durch ein deutliches Unbehagen zu demonstrieren (uh). Mit diesen, von der Konversationsanalyse auch als ,disagreement prefaces' bezeichneten Vorboten einer Widerspruchskommunikation wird schließlich eine letzte Verzögerungsstrategie deutlich. Ihre Funktion ist dieselbe wie oben: Trotz Widerspruch möchte man die prinzipiell zustimmungspräferierte Beziehung zum anderen nur ungern gefährden bzw. das Risiko einer sozialen Beziehungsbarriere so weit als möglich vermeiden. Mit all dem lässt sich die Erwartungsenttäuschung zwar nicht gänzlich verhindern, aber immerhin doch so weit abschwächen, dass sie für beide Seiten eine akzeptable Form des Ausdrucks bekommt. In vielen Fällen motiviert die verzögerte Zustimmung an zweiter Zugposition den ersten Sprecher zur Klarstellung, Ergänzung, oder Verstärkung der ursprünglichen Absicht, also zu einem repair. Hierzu sind insbesondere die Analysen von Judy Davidson höchst instruktiv:13 [10]

01 02 03

C: C:

Well yih c'n both sta:y. (0.4) Got plenty a' roo:m.

Wie dieses Textfragment zeigt, wird die ausbleibende, zumindest nicht sofort anschließende positive Reaktion in Ζ 02 als Hinweis auf eine mögliche Ablehnung interpretiert, deren Wahrscheinlichkeit durch den Zusatz in Ζ 03 verringert werden soll. Auf Grund des von Davidson zusammengetragenen Materials gleich gelagerter Fälle lässt sich dieser Aspekt der Präferenzorganisation schlüssig erhärten: Sprecher, die eine Einladung, ein Angebot oder vergleichbare Vor13

Vgl. näher Davidson 1984; 1990. Das nachfolgende Textbeispiel entstammt aus Davidson 1984, S. 105.

118

schläge unterbreiten, auf die die andere Seite nicht unmittelbar zustimmend, sondern mit ablehnungsimplikativen Signalen reagiert, reformulieren die ursprüngliche Sinnzumutung häufig auf eine Weise, die dem anderen die Zustimmung erleichtert: [11] 01 02 03 04 05 06

Ρ:

A: Ρ:

O h I m e a n uh: you w a n n a go t 1 the store er anything over et the M a r k e t f B a s k e t er anything?! L h h h h h h h h h h h h h h h h h h h J h= W e l l phoneyi(I-) L Or J R i c h a r d ' s ?

In diesem Textfragment (vgl. Davidson 1990, S. 164) bemüht sich Ρ um Begleitung anlässlich eines Besuchs im Schönheitssalon für den kommenden Tag. Nachdem schon zuvor die explizite Zustimmung dafür ausgeblieben ist, schlägt Ρ nunmehr einen Marktbummel vor, worauf erneut keine Zustimmung, sondern nur eine langanhaltende Aspiration erfolgt; darüber hinaus beginnt der darauffolgende Redezug mit einem ,disagreement preface' (Well), das auf eine wahrscheinliche Ablehnung schließen lässt. Noch im Überlapp reformuliert Ρ daraufhin ihr Angebot ein weiteres Mal (Or Richard's?), was darauf hindeutet, dass sie die verzögerte Zustimmung als Ablehnungsbereitschaft deutet und ihre ursprüngliche Sinnzumutung stufenweise (Schönheitssalon/ Marktbummel/ Richard's) den vermuteten Bedürfnissen A's anzupassen versucht. Vor diesem Hintergrund lässt sich aus Taktgründen vorausblickend schon die Sinnzumutung an erster Zugposition variieren. Wer sich nicht sicher sein kann, dass seine Sinnzumutung auf Zustimmung stößt, kleidet sein Angebot in eine Frage bzw. versieht es mit einer Frageintonation, um den anderen die Ablehnung zu ersparen. Wie das nachfolgende Textfragment (vgl. Davidson 1984, S. 102) zeigt, halten sich beide Seiten schon zu Beginn mit ihren Sinnzumutungen deutlich zurück: Während der erste Sprecher das Vorschlagsrecht an den zweiten adressiert, äußert dieser seinen Vorschlag unter Änderungsvorbehalt, den er auf Grund einer Frageintonation mitteilt. Indem beide Seiten ihre jeweilige Zustimmungserwartung auf ein minimales Erwartungsniveau reduzieren, konzedieren sie sich gegenseitig hinreichend Raum zur Artikulation je eigener Erwartungen und Interessen, was sämtliche AblehnungsWahrscheinlichkeiten schon im Vorfeld begrenzt: [12]

01 02 03

A: Β:

W h a t time you w a n n a (0.3) ((smack)) Uh:: sick

lea:ve? clo:ck?

119

Ablehnungsimplikative Äußerungen im Anschluss an eine Sinnzumutung nutzen somit ein breites Formrepertoire, um expliziten Widerspruch zu vermeiden. Kürzere oder längere Pausen, die Paraphrasierung einer Sinnzumutung mit Frageintonation, Nicht-Verstehensbekundungen, schwache Zustimmungsäußerungen und ähnliches mehr deuten eine unterdrückte Bereitschaft zum Widerspruch an, den sie auf diese Weise verzögern. Damit erhält die andere Seite Gelegenheit zur Korrektur oder Abschwächung ihrer Erwartung. Wie sämtliche Beispiele anschaulich zeigen, liegt die Entscheidung für Zustimmung oder Ablehnung einer Sinnzumutung dabei keineswegs nur auf Seiten der jeweiligen Adressaten. Mithin ist sie Produkt einer beidseitigen Kooperation, also sozial koproduziert. Entsprechend ist für jede einzelne Zugposition ein Verhaltenskontinuum konstitutiv, das es erlaubt, ^wischen rigiden und milden Formen der Sinnyumutung auszuwählen. Je schwächer die Zumutungsrigidität, umso größer das Spektrum der dem anderen zugestandenen Alternativen. Wer seine Sinnzumutungen zurückhaltend formuliert, macht Widersprüche damit tendenziell unwahrscheinlich. Je schwächer wiederum die Ablehnungsrigidität, umso leichter lässt sich die ursprüngliche Sinnofferte korrigieren. Dieses Spektrum an Verhaltensalternativen räumt beiden Seiten hinreichend Freiheiten ein, um potenzielle Konfliktsachverhalte bereits im Vorfeld zu neutralisieren. Selbst wenn die Beteiligten bezüglich einer Sinnzumutung nicht übereinstimmen sollten, bedeutet dies noch nicht zwangsläufig auch Konflikt.

Missverständlicher Sinn Vor dem Hintergrund dieser Analysen sind wir nunmehr imstande, die basalen Voraussetzungen einer Konfliktsituation hinreichend genau zu bestimmen. Zunächst halten wir an der grundlegenden Annahme fest, dass der Konflikt einen wie auch immer gearteten Gegensatz aufweisen muss, der sich als Unvereinbarkeit zweier Erwartungen kommunikativ realisiert. Damit ist unterstellt, dass die Unvereinbarkeit nicht bloß vermutet, sondern als kommunikative Wirklichkeit empirisch nachweisbar ist. Um die Unvereinbarkeit, und damit den Konflikt, empirisch sicher feststellen zu können, bedarf es - das ist die These - eines kommunikativen Dreischritts von Sinn^umutung, Widerspruch und einer weiteren ablehnenden 'Reaktion. Zwischen Konflikt und Widerspruch wird somit eine Unterscheidung getroffen. Allein von der Ablehnung einer Sinnzumutung an zweiter Zugposition lässt sich nicht zwingend auch schon auf ein Ausschließlichkeitsverhältnis zweier

120 divergierender Sinnperspektiven schließen.14 Außerdem, so war an den vorherigen Beispielen zu sehen, ist innerhalb der zweigliedrigen Kommunikationssequenz die Bedeutung von Sinnzumutung und Ablehnung noch keineswegs sicher. In diesem Zusammenhang wollen wir nachfolgend zeigen, inwiefern die Produktion eines Konflikts typischerweise das Ergebnis einer dreigliedrigen Verkettung von fremd- und selbstreferensgellen Sinnselektionen ist und wie sich diese sinnhaft aufeinander beziehen. Den Nutzen dieser Annahme wollen wir anhand eines einfachen Beispiels erläutern:15 [13]

01

B:

Why don't you come and see me sometimes?

Soweit diese Äußerung eine Erwartung intendiert, lässt sie verschiedene Interpretationsmöglichkeiten zu. Vorausgesetzt, dass ihr Sinn durch den Kontext vorhergehender Äußerungen nicht schon eingegrenzt ist, können wir nicht mit Sicherheit angeben, ob sich dahinter primär eine Nachfrage, eine Einladung, oder ein Vorwurf verbirgt. Vor diesem Problem steht auch der Sprecher an zweiter Zugposition. Sein Sinnverstehen ist mithin Ausdruck eines Ermessens in Abhängigkeit von der Einschätzung einer vorliegenden Situation. Wie die nachfolgenden Variationen beispielhaft zeigen, handelt es sich bei der Zumutung und dem Verstehen von Sinn um keine von vornherein identische Größen. Um Sinnkorrespondenz zu erzielen, müssen Kontingenzen abgebaut werden, d.h. der zugemutete und der verstandene Sinn müssen sich wechselseitig konditionieren.

14

15

So auch Foppa 1990, 178 f. Auf Grund der Einsichten ethnomethodologischer Analysen wird die dreigliedrige Zugabfolge als ,take o f f der Ausdifferenzierung einer Konfliktsituation heute weitestgehend akzeptiert; vgl. Schneider 1994, S. 202; ferner Gruber 1996, S. 24, der Maynard 1985a, S. 8 zitiert: „The summary point is that initial opposition does not constitute an argument. An utterance may oppose a prior action, but its status as part of an argument is dependent on whether it is treated as a legitimate repair initiation or whether it is let to pass or whether it is itself counteracted. Thus (...) we also need a concept of an 'argumentative' which would capture how an initial statement of opposition is only contingently turned into an element of an argument or dispute episode"; darauf bezugnehmend auch Vuchinich 1987, S. 594; Coulter 1990; Keppler 1994, S. 95. Entnommen aus Atkinson/ Drew 1979, S. 50, vgl. auch Schneider 1994, S. 193 f. Einige Züge der folgenden Argumentation verlaufen zu der von Schneider parallel, unterscheiden sich aber auf sehr grundsätzliche Weise hinsichtlich ihren Konsequenzen: Schneider behandelt den Konflikt primär unter dem Gesichtspunkt bzw. als Folge einer Bedeutungsinkongruenz (im Sinne latenter Missverständnisse in der Kommunikation, vgl. Schneider 1994, S. 199), während wir mit den Analysen in diesem Abschnitt genau diese Möglichkeit ausschließen wollen. Die vorliegende Untersuchung insistiert auf der strikten Unterscheidung zwischen Nicht-Verstehen und Nicht-Akzeptanz und markiert zwischen missverständlichen und sich widersprechenden Sinnangeboten ausdrücklich eine scharfe Grenze. Ihr gelten Bedeutungsinkongruenzen eher als ein Störfaktor für den Konflikt, die zuvor ausgeräumt werden müssen, damit die Ausdifferenzierung einer Konfliktsituation Halt und Boden gewinnt.

121

Zunächst einmal ist es die Äußerung an zweiter Zugposition, die den Charakter der Situation bis auf weiteres prägt: [13a] 01 02

B: A:

Why don't you come and see me ^sometimes? L I would like to.

B: A:

Why don't you come and see me sometimes? I am sorry. I've been terrible tied up lately.

[13b] 01 02

Die erste Reaktionsvariante [13a] macht kenntlich, dass Ego die Sinnzumutung Alters als Einladung interpretiert und sich dazu entsprechend verhält. Unabhängig davon, welche Absicht Alter selbst mit seiner Äußerung hegt, wird durch Egos Reaktion eine Sachverhaltswirklichkeit relevant, die sich konkret als Komplementärbeziehung von ,Einladung/ Annahme der Einladung' ausweist. Diese Situationsauffassung variiert, wenn Ego die Absichten Alters anders versteht, wie in Textfragment [13b]: In diesem Fall wird die Sinnzumutung als Vorwurf verstanden, auf die eine Erklärung folgt, die das inkriminiert geglaubte Verhalten rechtfertigt bzw. entschuldigt. Entsprechend ist diese Situationsauffassung von der vorherigen gänzlich verschieden. Während die Beteiligten dort vornehmlich ihr Verhalten akkordieren, handelt es sich hier hauptsächlich um die Aufklärung eines Problems. Im ersten Fall hätten wir es demnach mit einer Einladung zu tun, im zweiten Fall unter Umständen mit einem sich anbahnenden Konflikt. Verhaltenspragmatisch korrespondiert die Mehrdeutigkeit in der Sinnauslegung mit entsprechenden Unklarheiten im Hinblick auf die Situation, in der sich die Beteiligten gerade befinden. Alters Sinnzumutung ist, wie gezeigt, mehrdeutig zu verstehen; Egos Reaktion spezifiziert nachfolgend den Jremdreferen^iellen Sinn nach Maßgabe eines selbstreferen^iellen Verstehens. Dementsprechend zeigt sich mitunter erst an Alters Verhalten an dritter Zugposition, ob beide Seiten dasselbe Sinn- und Situationsverständnis teilen: [13aa]

01 Β 02

A

03

Β

Why don't you come and see me (-sometimes? L I would like to. I would like you too.

[13ab]

01 Β 02

A

03

Β

Why don't you come and see me [-sometimes? !-I would like to. I asked you so often before without any success.

122 [13ba] 01 Β: 02

03

A: B:

[13bb] 01 B: 02

03

A: B:

Why don't you come and see me sometimes? I am sorry. I've been terrible tied up lately. Don't feel yourself obligated. You're always welcome.

Why don't you come and see me sometimes? I am sorry. I've been terrible tied up lately. But you're saying this all the time before.

Wiederum ergeben sich sehr verschiedenartige Situationsauffassungen nach Maßgabe der Äußerung an dritter Zugposition. Die ersten beiden Textbeispiele [13aa/13ab] reflektieren jeweils eine Situation, in der Ego an zweiter Zugposition die vorhergehende Sinnzumutung als Einladung interpretiert (I would like to) und sich diesbezüglich zustimmend äußert. Die Variationen an dritter Zugposition jedoch greifen diesen Sachverhalt einmal in zustimmender, das andere Mal in ablehnender Weise auf. In [13aa] macht Alters Äußerung an dritter Zugposition deutlich, dass Ego die Sinnzumutung richtig versteht, und ratifiziert auf diesem Wege sowohl seine ursprüngliche Absicht wie auch Egos Sinnselektion. Beide Seiten stimmen in dem Maße in ihren jeweiligen Situationsverständnissen überein, wie der jeweils selektierte Sinn inhaltlich kongruiert. Anders dagegen der Sachverhalt in [13ab]. In diesem Fall wird Egos Sinnverständnis, wonach es sich bei der vorhergehenden Äußerung um eine Einladung handelt, an dritter Zugposition widersprochen. Egos Sinnverstehen wird dabei als ein Irrtum kenntlich gemacht und die Sinnzumutung an erster Zugposition ihren ursprünglichen Absichten gemäß respezifiziert: Demnach möchte Alter seine Äußerung nicht als Einladung, sondern als Vorwurf verstanden wissen und ist diesbezüglich vor allem an der Klarstellung eines Missverständnisses interessiert. Zudem projiziert Alters Klarstellung auch eine Konfliktsituation, die auf vermutlich zurückliegende Enttäuschungen bzw. auf eine vorausliegende Konfliktgeschichte rekurriert: Mit Hinweis auf frühere Enttäuschungen ist Alter nicht mehr bereit, Egos Zustimmungsversprechen Glauben zu schenken. Solange aber unklar ist, wie sich Ego der neudefinierten Situation gegenüber verhält, bleibt auch die Frage der beidseitigen Unvereinbarkeit vorläufig weiterhin offen. Die nachfolgenden Textbeispiele [13ba/13bb] variieren demgegenüber den umgekehrten Fall, in dem Alter die Äußerung nicht als Einladung, sondern eher als einen Vorwurf interpretiert (I am sorry. I've been terrible tied up lately). In der ersten Variante [13ba] wird diese Sinnauslegung an dritter Zugposition korrigiert. Mit ihr wird ausgedrückt, dass Ego die als Einladung gemeinte Absicht an erster Zugposition irrtümlicherweise als Vorwurf versteht. Das von Ego an zweiter Zugposition sichtbar gemachte Situationsverständnis wird damit zu einem Miss-

123 Verständnis erklärt und die ursprüngliche Absicht konkretisiert. Anders wiederum die Situation in [13bb]. Hier wird mit der Äußerung an dritter Zugposition kenntlich gemacht, dass Ego die Sinnzumutung Alters zwar richtig als Vorwurf versteht, seine Rechtfertigung das Problem gleichwohl nicht beseitigt. Alter macht deutlich, dass die Rechtfertigung zwar den Kern seines Anliegens trifft, den Vorwurf als solchen jedoch nicht entkräftet. Damit entsteht eine Situation, in der die Ablehnung von Sinnzumutungen beidseitig ist und somit eine Unvereinbarkeit zweier Sinnperspektiven begründet. Der take-off des Konflikts, so kann man die bisherigen Überlegungen resümieren, hängt also wesentlich von einer beidseitig geteilten Situationsauffassung ab. Dazu ist es notwendig, die Frage richtigen und falschen Sinnverstehens mit der Frage einer Zustimmung bzw. Ablehnung zu korrelieren. Textfragment [13aa] spiegelt insofern ein affirmatives Βe^iehungsverhältnis wider, bei dem beide Seiten ihre Sinnzumutungen angemessen verstehen und ausdrücklich bejahen. Die Einladung ist als Einladung gemeint, sie wird als solche verstanden, und das Verstehen selbst wird im dritten Zug ratifiziert. Darüber hinaus wird die Einladung explizit akzeptiert und die Akzeptanz ihrerseits affirmativ bekräftigt. Diese Ubereinstimmung von sachlicher Information und sozialer Affirmation kennzeichnet die Beziehung zwischen den Beteiligten als soziale Kooperation. In Textfragment [13bb] spiegelt sich ebenfalls ein eindeutiges, nun aber negatorisches Beziehungsverhältnis wider, in dem sich beide Seiten ihren jeweiligen Sinnzumutungen gegenüber ablehnend zeigen. Hier ist der Vorwurf tatsächlich als ein Vorwurf gemeint, er wird als solcher verstanden und das Vorwurfsverstehen wiederum im dritten Zug ratifiziert. Auf der Grundlage einer wechselseitig identischen Sinnreproduktion wird der Vorwurf als Sinnzumutung an zweiter Zugposition aber nicht anerkannt, sondern (im Sinne einer Entkräftung) negiert, während die Ablehnung als Sinnzumutung an dritter Zugposition ihrerseits abgelehnt wird. Dieser Sachverhalt kennzeichnet die Beziehung zwischen den Beteiligten als einen empirisch eindeutigen, weil beidseitig fundierten und Missverständnisse ausschließenden socalen Konflikt. Die beiden anderen Beispiele beinhalten demgegenüber Missverständnisse auf der Basis einer ungleichartigen Sinnreproduktion, die, solange sie unaufgeklärt bleiben, keine gesicherten Aussagen über die Konfliktförmigkeit einer sozialen Beziehung erlauben. In [13ab] wird die Äußerung an zweiter Zugposition als Einladung verstanden, an dritter Zugposition jedoch als Vorwurf respezifiziert. Mit dem (nachhaltig) geäußerten Vorwurf wird der Konflikt potenziell zwar Thema, seine Faktizität hingegen bleibt solange ungeklärt, wie die Frage der Unvereinbarkeit empirisch noch unentschieden ist. In [13ba] wird die Sinnzumutung an zweiter Zugposition mis s verständlich als Vorwurf verstanden, im dritten

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Zug korrigiert und als Einladung konkretisiert. Insofern läuft auch die Rechtfertigung (im Sinne von: Ablehnung der Verantwortung für ein Versäumnis) an zweiter Zugposition sinnhaft ins Leere, die geglaubte Unvereinbarkeit hat sich als ein Irrtum erwiesen. Wie die Beispiele in diesem Zusammenhang zeigen, ist der soziale, der die Situation jeweils kennzeichnende Sinn ein Produkt der Abstimmung selbstreferenzieller Sinnselektivität, in deren Verlauf die Beteiligten ihr Sinnverstehen wechselseitig akkordieren. Was sinnhaft zählt und die soziale Situation letztlich instruiert, ist vor allem das Ergebnis eines Abgleichs von ungewissen und verschiedenartigen Perspektiven. Aus der einzelnen Äußerung ist nicht immer ersichtlich, wie sich ein Sachverhalt in den Augen des anderen darstellen soll. Das gilt insbesondere für die Sinnzumutung an erster Zugposition, die sich mangels vorausliegender Kontexte inhaltlich mitunter schwerer erschließt und umso leichter Missverständnisse hervorrufen kann. Der wesentliche Punkt im Hinblick auf potenzielle Konfliktsituationen ist hier der, dass man von der Widerspruchskommunikation allein noch nicht auf Konflikt zurückschließen kann, wenn Konflikt heißen soll: faktische Unvereinbarkeit zweier Standpunkte oder "Perspektiven. Soweit die nachfolgende Sinnselektion den Sinn ihrer Vorgängeräußerung immerzu ko-produziert, wäre es schlichtweg falsch, von einem einzelnen Widerspruch auf die Unvereinbarkeit zweier Sinnperspektiven zu schließen.16 Wenn ein Alter an erster Zugposition die seiner Äußerung zugrundeliegende Absicht selbst nicht eindeutig und unmissverständlich erklärt, bleibt die Entscheidung darüber dem Sinnverstehen Egos an zweiter Zugposition überlassen - mit der Folge, dass die ursprüngliche Sinnselektion an dritter Zugposition unter Umständen korrigiert werden muss. Die soziale Sinngeltung ist insofern ein kommunikatives Kettenprodukt, das sich nach Maßgabe wechselseitiger Abstimmungsvorgänge realisiert und sich dabei mitunter kontinuierlich verändert. Vor dem Hintergrund richtig bzw. falsch verstandener Situationsauffassungen äußert sich im Widerspruch vorerst nur eine relative Qualität, über die erst die dritte Zugposition mit Gewissheit entscheidet.

Strukturen der Ausdifferenzierung des Konflikts Um den Toleranzbereich alternierender bzw. missverständlicher Bedeutungen in Bezug auf Konflikt besser eingrenzen zu können, haben wir eine Konfliktkonzeption favorisiert, welche die Eigenmächtigkeit des Verstehens in ihr Kalkül mit 16

Bekanntlich unterscheidet auch der systemtheoretische Kommunikationsbegriff zwischen Verstehen und Annahme/Ablehnung einer Sinnselektion, vgl. Luhmann 1984, S. 203 ff., jedoch bleibt diese Unterscheidung in den konflikttheoretischen Überlegungen Luhmanns unbeachtet.

125 einbezieht und entsprechend berücksichtigt. Auch für das ,Nein' muss gelten, dass eine wie immer geartete Unvereinbarkeit nicht bloß unterstellt, sondern von den Beteiligten wechselseitig, für einander sichtbar herausgearbeitet wird, was im Allgemeinen erstmals an dritter Zugposition möglich ist: Erst wenn auf der Basis eines gleichläufigen Sinnversteh ens der Widerspruch auf Widerstand stößt, ist sichergestellt, dass zwei Erwartungslinien eine Unvereinbarkeit begründen, die dann als solche prozessiert werden muss. Damit erst lässt sich der Konflikt von ähnlich gelagerten Interaktionsproblemen hinreichend genau unterscheiden. Insbesondere im Hinblick auf den take-off einer Konfliktsituation ist eine begrifflich präzise Kennzeichnung unmittelbar relevant: Je unmissverständlicher die Unvereinbarkeit einer Sinnorientierung, umso sicherer das Vorliegen eines Konflikts. Mithin ist zu bedenken, dass es häufig erst der Widerspruch selber ist, durch den die Beteiligten auf ihre Bedürfnisse und Interessen aufmerksam werden. Das betrifft besonders Alter an vormals erster Zugposition, der sich auf Grund Egos Ablehnung über die Verbindlichkeit seines Zumutens klar werden muss. Erst mit der Entscheidung Alters zwischen Festhalten, Nachgeben oder Korrektur an dritter Zugposition -wird die Frage der Unvereinbarkeit zweier Sinnperspektiven verbindlich entschieden. Ein Konflikt besteht nur dann, wenn Alter trot% Widerspruch an seiner ursprünglichen Sinnyumutung festhält und den vorhergehenden Widerspruch nicht akzeptiert. In diesem Zusammenhang gehen wir schließlich noch einen Schritt weiter. Wenn ein Alter, wie hier vorausgesetzt, trotz Widerspruch an seiner ursprünglichen Sinnzumutung festhält, sich also trotz Widerspruch unnachgiebig erweist, wird Ego an vierter Zugposition mit einer vergleichbaren Problemstellung konfrontiert. Auch Ego muss nunmehr entscheiden, ob er angesichts Alters NichtNachgeben seinerseits nachgeben oder an seiner Position festhalten will. Den Sachverhalt, dass Ego trot% Alters Festhalten seinerseits am Widerspruch festhält', bezeichnen wir nachfolgend als Opposition. Mit den bisherigen Überlegungen wird insoweit einen Strukturaufbau sichtbar, der sich schrittweise in den Einzeletappen ,Widerspruch', ,Unvereinbarkeit' und ,Opposition' ausdifferenziert: Mit der Widerspruchskommunikation an zweiter Zugposition deutet sich eine Unvereinbarkeit an, die in dem Maße zur empirischen Tatsache wird, wie ein Sprecher an dritter Zugposition auf die ursprüngliche Sinnzumutung insistiert. Die Unvereinbarkeit ist demnach eine Synthese zweier Sinnzumutungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Ausschließlichkeit. Was für die Beziehung zwischen Widerspruch und Unvereinbarkeit kennzeichnend ist, gilt entsprechend auch für die Beziehung zwischen Unvereinbarkeit und Opposition. Auch hier handelt es sich keineswegs um zwei identische Größen. Eine Opposition besteht vielmehr erst dann, wenn beide Seiten sich in Bezug auf eine

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Unvereinbarkeit unnachgiebig erweisen. Dies wiederum geschieht frühestens an vierter Zugposition, wenn Ego auf die Unnachgiebigkeit Alters seinerseits mit Unnachgiebigkeit reagiert. Im Hinblick auf den Struktur- und Ordnungsaufbau einer Konfliktepisode sind die funktionstypischen Leistungen der einzelnen Zugpositionen sehr verschieden. Während der Widerspruch Egos an zweiter Zugposition den Konflikt projiziert, wird faktisch erst an dritter Zugposition (Festhalten oder Nachgeben) darüber entschieden. Indem Alter trotz Widerspruch an seiner ursprünglichen Sinnzumutung festhält, begründet er damit jedoch nicht nur den Konflikt, sondern bereitet gleichzeitig den Boden für eine mögliche Opposition. Uber diese Frage wird jedoch wiederum erst an vierter Zugposition entschieden, wenn Ego sich fragt, ob er trotz Widerspruch seinerseits am Widerspruch festhalten soll. ,Widerspruch', ,Unvereinbarkeit' und ,Opposition' sind insofern Ergebnis einer gemeinsamen, aber zeitversetzten Sinnproduktion zwischen Alter und Ego. Jeder einzelne Zug in dieser Ablaufstruktur ist sinnlogisch auf eine Vorgängeräußerung angewiesen, die strukturspezifische Eigenschaften aufweisen muss: Ohne Sinnzumutung kein Widerspruch, ohne Widerspruch keine Unvereinbarkeit, ohne Unvereinbarkeit keine Opposition. In jeder Einzeletappe der Ausdifferenzierung werden unterschiedliche Sinnelemente kommunikativ synthetisiert. Bemerkenswert ist schließlich, dass jede Zugposition die Beteiligten strukturell unterschiedlich privilegiert: Während Ego qua Widerspruch den Konflikt projiziert, wird darüber durch Alter entschieden; während Alter indes qua Unnachgiebigkeit eine Opposition projiziert, wird diese letztlich aber von Ego exekutiert. In dieser Verkettung kommunikativen Verhaltens liegt schließlich das Potenzial einer Konfliktstruktur bereit, die dem Konflikt Tiefe und Dauer gewährt. Allein schon der Glaube, dass der je andere gegen den eigenen Standpunkt opponieren und diesbezügliche Sinnofferten ablehnen wird, lässt mithin den Konflikt expandieren. Kommen solche Negativunterstellungen wechselseitigen Erwartens erst einmal zum Tragen, so kehrt sich auch die Struktur der Normalkommunikation in ihr Gegenteil um: Alter erwartet, dass Ego seine Sinnofferten ablehnen wird, und ferner, dass Ego von ihm dasselbe erwartet. Dieser Aspekt einer konfliktbezogenen Kippmechanik von Erwartungseinstellungen hat Luhmann (1984, S. 531) als eine Negativversion doppelter Kontingent charakterisiert: „Ich tue nicht, was Du möchtest, wenn Du nicht tust, was ich möchte". Ebenso wie die Positivversion doppelter Kontingenz sichert auch deren Negatiwariante dem System eine hohe Fähigkeit, alle Kommunikation - jetzt allerdings mit umgekehrten Vorzeichen unter Strukturgesichtspunkten des Erwartens zu integrieren. In diesem Zusammenhang spricht die Systemtheorie auch von der Überdeterminiertheit des Konflikts: Die Negativversion doppelter Kontingenz habe mithin einen Integrations-

127 sog zur Folge, der dazu führe, dass sich alle Wahrnehmung und Kommunikation unter dem Gesichtspunkt wechselseitiger Ablehnung formiere. Auch in dieser Hinsicht fugen sich die vorliegenden Resultate plausibel zusammen. Wie der Strukturaufbau der Konfliktepisode hierzu zeigt, wird mit der Widerspruchskommunikation an zweiter Zugposition die Positiwersion doppelter Kontingenz (Ich tue, was du möchtest, wenn du tust, was ich möchte) sinnlogisch dekonstruiert und infolge dessen strukturell instabil. Entsprechend hängt es von den nachfolgenden Reaktionen ab, inwieweit der Destabilisierungspro-zess kontinuiert. Mit der Widerspruchskommunikation an dritter Zugposition schwenkt nunmehr auch Alter auf diesen Strukturumbau ein. Und sofern sich Ego gegenüber Alters Unnachgiebigkeit seinerseits unnachgiebig zeigt, macht er die Negatiwersion doppelter Kontingenz (Ich tue nicht, was du möchtest, wenn du nicht tust, was ich möchte) an vierter Zugposition zu einem vollendeten Fakt.17 Mit diesen strukturtheoretischen Überlegungen sind die grundlegenden Aspekte der Ausdifferenzierung einer Konfliktsituation weitestgehend geklärt. Konfliktsituationen bauen demnach auf eine dreigliedrige Kommunikations folge auf, die notwendig ist, um die Unvereinbarkeit zweier Perspektiven empirisch stichhaltig zu begründen. Mit dem anschließenden Widerspruch an vierter Zugposition konstituiert sich eine Opposition, für die beidseitige Unnachgiebigkeit zentrales Kennzeichen ist. Auf dieser Grundlage tritt gegebenenfalls die Negatiwersion doppelter Kontingenz in Kraft, die den Konflikt strukturell konsolidiert, reproduziert, mitunter verhärtet:

17

Anders als Schneider 1994, S. 203, der diesen Fall ebenfalls erwägt, stützen wir die Negatiwersion doppelter Kontingenz auf die beidseitige Unnachgiebigkeit von Standpunkten (Opposition) und nicht schon auf die Unvereinbarkeit zweier Perspektiven (Konflikt). Dazu argumentieren wir wie schon zuvor in Bezug auf den Konflikt: Der Widerspruch allein begründet noch keinen Konflikt, solange die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Sinnzumutung an erster Zugposition auf Grund der Tatsache, dass ihr widersprochen wurde, korrigiert oder wieder zurückgenommen wird; eben sowenig ist auszuschließen, dass sich die Widerspruchskommunikation durch die Tatsache des Festhaltens an der ursprünglichen Sinnzumutung beeindrucken lässt. Erst wenn gewährleistet ist, dass sich beide Seiten als unnachgiebig erweisen, kann sich die Unnachgiebigkeit wechselseitig, und damit auch in Form der Negativversion doppelter Kontingenz reproduzieren.

128 Abbildung 4.1 Konflikt: Struktur und Prozess

Widerspruch

1. Zug (Alter)

2. Zug (Ego)

3. Zug (Alter)

Konflikt

Opposition

Sinn

fr

Gegensinn tzj> Widerspruch

1D> >

Widerspruch d¡> Unnachgiebigkeit 1|

4. Zug (Ego)

Struktur

Negativversion

Unnachgiebigkeit C ^ > d o p p e k e r Konlingenz

Die Abbildung zeigt in der Vertikalen den sequenziellen Ablauf der einzelnen Zugfolgen auf, in der Horizontalen den Strukturaufbau des Konflikts. Sinnlogisch wird deutlich, dass jede Paarsequenzierung in diesem Vierstufenmodell einer anderen Stoßrichtung folgt und zugleich den Prozess der Widerspruchskommunikation in einen jeweils neuen Aggregatzustand überfuhrt. Kennzeichnend für den Widerspruch ist, dass er den kommunizierten Sinn und Gegensinn unter Einheitsgesichtspunkten synthetisiert. Aber erst die Unvereinbarkeit zweier Sinnperspektiven erzeugt die für den Widerspruch maßgebliche Sinnparadoxie, die den Auslöseanlass von Konflikten begründet. Der Konflikt selbst knüpft an die Unvereinbarkeit von Sinnselektionen dadurch an, dass er den ersten Widerspruch mit einem zweiten Widerspruch konfrontiert, der zur Identität des ersten im Widerspruch steht. Der Konflikt synthetisiert demnach die Unvereinbarkeit v;weier Widerspräche zu einer eigenständigen Identität, und diese Synthese konstituiert ihn als eine abgrenzbare Form im Zuge der Widerspruchskommunikation, die zugleich den Auslöseanlass für eine Opposition etabliert. Im Sachverhalt der Opposition sind Widerspruch und Konflikt als konstitutive Tatsachen implizit schon enthalten. Während der Widerspruch zum Widerspruch die Unnachgiebigkeit Alters an dritter Zugposition deutlich markiert, braucht es noch das Festhalten Egos, damit auch der Sachverhalt der Unnachgiebigkeit zueinander in Widerspruch treten kann. Eine Opposition zieht demnach die Unvereinbarkeit zweier Unnachgiebigkeiten unter einer Einheit zusammen und erzeugt damit die für die Negatiwersion doppelter Kontingenz notwendige Sinnselektivität.

129 Im Zuge der Ausdifferenzierung einer Konfliktsituation werden somit in rascher Abfolge auf unterschiedlichen Sinnebenen Unvereinbarkeiten akkumuliert, die im sequenziellen Überlapp die einzelnen Sinnebenen des Konflikts miteinander verketten. Im Anschluss an das kommunizierte Sinnangebot braucht es maximal nur drei Züge der Widerspruchskommunikation, damit jeder der Beteiligten eine Position einnehmen kann, für die Unvereinbarkeit und Unnachgiebigkeit kennzeichnend ist. Widerspruch, Konflikt und Opposition sind jeweils formal unterschiedliche Synthesen dessen, was sinnlogisch nicht harmoniert. Auf diese Grundlage baut schließlich eine Erwartungsstruktur, in der die Auflösung unvereinbarer Sinnselektionen nicht die wahrscheinliche, sondern gerade die unwahrscheinlichere Variante der Weiterentwicklung ist. Wenn Alter nicht tut, was Ego möchte, da Ego nicht tut, was Alter möchte, tritt darüber eine zirkuläre Verkettung in Kraft, in der jede Reaktion weitere Reaktionen nach sich zieht und auf diese Weise den Konflikt perpetuiert.

Konfliktepisode als kommunikativer Prozess Im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen nunmehr die empirischen Bedingungen des Aufbaus und Zerfalls einer temporären bzw. vorübergehenden Ordnung, die speziell für eine Konflikt^iáWe kennzeichnend ist. Zum einen wollen wir zeigen, wie sich der oben dargestellte Sachverhalt empirisch konkretisiert, zum anderen versprechen wir uns davon weiterfuhrende Einblicke in die Binnenorganisation des Konflikts, besonders auch hinsichtlich seines Endes. Das folgende Textfragment, an dem wir unsere Überlegungen beispielhaft dokumentieren, ist einer Studie von Samuel Vuchinich (1987, S. 592 f.) entnommen, auf die wir noch ausführlicher zurückgreifen werden: [14] 01 02 03 04 05 06 07 08 09

M

(zu F)

S (zu M) D (zu S) F (zu D) S D (zu S) F (zu D) D (zu F)

I thought you were g o n n a send h i m to summer camp this year He needs to go to camp. SO DO YOU. SO SHUT UP! AWRIGHT! A work labor camp. YOU TOO! I told y o u to be quiet, d i d n ' t I? He needs to go to one too, Dad.

(Father slaps Daughter sharply on the u p p e r arm. T h e r e is a 6.5 s e c o n d silence and a new t o p i c of talk is s t a r t e d b y the mother.)

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Diese Konfliktepisode entfaltet sich während eines gemeinsamen Abendessens der Familie. Der jüngere von zwei Söhnen (12 Jahre), auf den sich die einleitende Äußerung der Mutter (M) zum Vater (F) bezieht, ist Anlass familiärer Probleme, weil er seinen Pflichten im Haushalt nicht nachkommt. Er hat das Zimmer bereits fünf Minuten vorher verlassen. Der ältere, hier anwesende Sohn (S) ist achtzehn, die Tochter (D) ist sechs Jahre alt. Bezogen auf das Thema der Auseinandersetzung ergreift die Tochter Position für den jüngeren (nicht-anwesenden) und gegen den älteren (anwesenden) Bruder. Den Widerspruch ihm gegenüber artikuliert sie mit lauter Stimme, welche die Aggressivität ihrer Wortwahl zusätzlich unterstreicht. Der Bruder hingegen schenkt dem Widerspruch seiner Schwester keine Beachtung und hält stattdessen ungerührt an seiner Darstellung fest. Daraufhin erneuert die Schwester ihren Einwand. Bereits nach der ersten Äußerung der Tochter hat sich der Vater in die Auseinandersetzung eingeschaltet, um eine weitere Zuspitzung zwischen den Geschwistern zu vermeiden. Sein Einspruch richtet sich einseitig an die Tochter und lässt den Sohn außer acht. Als die Tochter, davon ungerührt, weiter gegen ihren Bruder opponiert, verschärft der Vater ihr gegenüber den Ton. Daraufhin wendet die Tochter ihre Aufmerksamkeit dem Vater zu, mit deutlich gemäßigter Stimme und Wortwahl, jedoch unverändert fest in der Sache. Der Vater reagiert daraufhin unter Einsatz physischer Mittel, die andeuten, dass er keinen weiteren Widerspruch duldet. Das Ende dieser Konfliktepisode ist durch ein länger anhaltendes Schweigen und einen darauf folgenden Themenwechsel markiert. An diesem Textbeispiel lässt sich die auf den Konflikt bezogene Sinnselektivität hinsichtlich Anfang und Ende hinreichend präzise bestimmen. Die Konfliktepi-. sode ist zwar in dem Sinne komplex organisiert, als sich darin zwei separate Konfliktlinien kreuzen, gleichwohl begründet jede von ihnen eine eigenständige, wenn auch nicht voneinander unabhängige Konfliktepisode. Die erste Konfliktepisode wird eingeleitet mit der ersten Äußerung der Tochter (SO DO YOU. SO SHUT UP) an zweiter Zugposition, die sich damit vehement gegen die (nicht an sie gerichtete) Sinnzumutung des Bruders (He needs to go to camp) wendet. Sofern der Bruder an dritter Zugposition trotz des unmissverständlich gegen ihn gerichteten Widerspruchs an seiner ursprünglichen Meinung festhält (A work labor camp) bzw. deren Intention gegenüber der ersten Variante inhaltlich noch weiter verstärkt (camp/work labor camp), begründet er damit die Unvereinbarkeit von Sinnperspektiven und somit den Konflikt.18 Die Tochter, die sich von der brü-

18

Das Transkript gibt an dieser Stelle nicht zu erkennen, an welche Adresse genau der Bruder seine Äußerung richtet, jedenfalls ist es nicht mehr wie noch zu Beginn ausdrücklich die Mutter, aber auch nicht ausdrücklich die Schwester. Die Entscheidung des Bruders, trotz eines unmissverständlich an ihn adressierten und nicht nicht-^u-hemerkenden Widerspruchs an seiner ur-

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derlichen Unnachgiebigkeit nicht beeindrucken lässt, hält daraufhin ihrerseits unnachgiebig am Widerspruch fest (YOU TOO!) und begründet damit ihrerseits eine Opposition. Die zweite Konfliktlinie dieser Episode wird durch die erste Äußerung des Vaters eröffnet (AWRIGHT), der die Sinnzumutung der Tochter (gegen den Sohn) als Anlass für seinen Widerspruch nimmt. Damit steht er selbst an zweiter Zugposition, die vorhergehende Äußerung der Tochter (SO DO YOU. SO SHUT UP) hingegen an der ersten. Indem nun die Tochter an dritter Zugposition trotz Widerspruch auf die Fortführung der ersten Konfliktlinie insistiert (YOU TOO), wendet sie sich implizit auch gegen den Widerspruch ihres Vaters. Mit ihrer Äußerung an dritter Zugposition konstituiert sie eine Unvereinbarkeit, womit sie nun auch diese Konfliktlinie komplettiert. Ebenso wie die Tochter erweist sich jedoch auch der Vater als unnachgiebig, der ihr Festhalten am Widerspruch an vierter Zugposition mit einer Warnung quittiert (I told you to be quiet, didn't I?), so dass sich nun auch hier die Unnachgiebigkeit wechselseitig realisiert. Sieht man von den Besonderheiten der familiären Konfliktinteraktion einmal ab,19 so sticht im Hinblick auf den Konfliktbeginn zunächst eine gewisse Voraussetv(ungslosigkeit der Widerspruchskommunikation besonders hervor. Im obigen Beispiel knüpft die Tochter an eine Kommunikationssequenz an, in die sie persönlich nicht involviert ist und die sie thematisch selbst nicht betrifft. Gleichwohl erfolgt ihre Reaktion sehr spezifisch gegen den Bruder gerichtet, sie ist zudem stark affektiv gefärbt. Ebenso wenig ist auch der Vater in den sich anbahnenden Geschwisterkonflikt persönlich involviert, obwohl seine Intervention auf Grund familientypischer Rollenzuteilungen nicht unerwartet geschieht. Konflikte kön-

sprünglichen Sinnzumutung festzuhalten, rechtfertigt es u.E., sequenzanalytisch von einem dritten Zug in der Konfliktkonstitution zu sprechen. Man könnte im Zuge der weiteren Analyse versuchen, die Konflikteigenschaften in diesem Fallbeispiel mit Rekurs auf ihren spezifisch familiären Kausalkontext zu klären. Beispielsweise könnte man annehmen, dass innerhalb der Familien- bzw. Intimkommunikation verschiedene Normen des Takts und der Höflichkeit nicht gelten; in diesem Zusammenhang wären auch die familientypischen Rollenbeziehungen (Vater/ Mutter/ Tochter/ Sohn) unmittelbar relevant; das wiederum könnte erklären, warum die Präferenzorganisation für Zustimmung mitunter schneller als anderswo außer Kraft gesetzt wird und Widersprüche explizit, unverzögert und rigider als üblich erfolgen; nicht unwahrscheinlich ist ferner, dass die vorliegende Konfliktepisode nur einen Ausschnitt einer familienintern länger schwelenden Konfliktsituation zwischen den Geschwistern repräsentiert, die an dieser Stelle zum wiederholten Male aufbricht und möglicherweise die Spezifik der jeweiligen Gegnerschaften erklärt. Darüber (sowie über andere potenziell mögliche Kausalfaktoren) können wir auf Grund der Begrenztheit der vorliegenden Daten allenfalls spekulieren. Vor allem aber würden wir damit weniger den Konflikt als vielmehr die kontextspezifischen Bedingungen seiner Konstitution analysieren, was außerhalb unserer Fragestellung liegt.

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nen sich offenbar an jeder beliebigen Sinnzumutung auskondensieren, wenn sich daran nur ein Gegensinn anschließen lässt.20 Mit Bezug auf die Zeitdimension des Sinnerlebens machen die Beispiele deutlich, dass die Voraussetzungen für den Konflikt sich strukturell an jeweils zweiter Zugposition fundieren: [14a] S (zu M): D (zu S):

He needs to go to camp. SO DO YOU. SO SHUT UP!

D (zu S): F (zu D):

SO DO YOU. SO SHUT UP! AWRIGHT!

[14b]

An diesem Sachverhalt fallt Verschiedenes auf. Zunächst und vor allem: Obwohl die Widerspruchskommunikation erstmalig Konflikt indiziert, ist sie mit dem Konfliktanfang, das heißt mit der Auslöseanlass des Konflikts selbst nicht identisch. Vielmehr wird der Auslöseanlass des Konflikts durch die Widerspruchskommunikation erst im Nachhinein, also retrospektiv konstituiert: Was immer die Widerspruchskommunikation beabsichtigt, geschieht mit Bezug auf einen Sachverhalt, der bereits angefangen hat.21 Entgegen der Kausallogik ist die erste Zugposition im Konflikt somit Produkt derjeweils \weiten Zugposition·, sie erhält ihren Status als Auslöseanlass des Konflikts mit der Widerspruchskommunikation an zweiter Zugposition zugeschrieben, also erst dann, wenn sie als Kommunikation schon abgeschlossen zurückliegt. Im Vollzug des selbstreferenyiellen Sinnverstehens verschafft sich die Widerspruchskommunikation damit auf eigenmächtige Weise die Voraussetzungen ihrer eigenen Existenz. Sie konstituiert einen Konfliktanfang, der ohne sie nicht bestehen würde, den sie formal %warproduziert, als solchen aber selbst nicht ψ verantworten hat. Dadurch wird der Kommunikationsprozess im Konflikt auf befremdliche Weise strukturell asymmetrisch. Aus Sicht der (nunmehr) ersten Zugposition ist der Konfliktwert der Sinnzumutung fremdkonstituiert. Der Widerspruch Egos unterwirft die Sinnzumutung Alters somit einer nachträglichen Zurechnungsprozedur, die

Die Kehrseite dessen ist, dass willkürliche Anknüpfungspunkte der Widerspruchskommunikation feste Komplementärbeziehungen schaffen, die den je andern in das Konfliktgeschehen ,zwangsinkludieren'. Darauf kommen wir gleich näher zu sprechen. Diese Formulierung ist angelehnt an eine ähnliche Feststellung Goffmans hinsichtlich der zeitlichen Asymmetrie von Frage/Antwort-Sequenzen: „Whatever answers do, they must do this with something already begun", vgl. Goffman 1981, S. 5. Im übrigen ist interessant zu sehen, dass die retrospektive Dimension der Ausdifferenzierung auch für soziale Bewegungen zutrifft, vgl. W. Bergmann 1987, S. 362.

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sich Alters Einfluss (bis dahin) weitestgehend22 entzieht. Stattdessen sieht sich ein Alter mit einer Situation konfrontiert, die er möglicherweise weder berücksichtigt noch beabsichtigt hatte, obwohl er nunmehr als deren Verursacher gilt. In diesem Sinnhorizont gibt die nachträgliche Kennzeichnung des Konfliktbeginns dem Konflikt erstmals Struktur. Welche Sinnzumutung zum Ausgangspunkt einer potenziellen Konfliktsituation wird, wird durch den Sprecher an zweiter Zugposition entschieden, der damit nicht nur über die eigene (zweite), sondern zugleich auch über den Sinn der jeweils ersten Zugposition disponiert. Das Beispiel der Überkreuzung zweier Konfliktlinien [14a: Bruder/ Schwester-Konflikt; 14b: Vater/ Tochter-Konflikt] lässt diesen Sachverhalt in einem noch helleren Licht erscheinen. In diesem Fall steht ein und dieselbe Äußerung (SO DO YOU. SO SHUT UP) gemäß ihrer sequenziellen Position für zwei diskrepante Funktionen: Als Widerspruchskommunikation in [14a] kategorisiert die Äußerung die vorhergehende Sinnzumutung ihres Bruders als Anfang und Ursache des Bruder/ Schwester-Konflikts; in Bezug auf die nachfolgende Widerspruchskommunikation ihres Vaters [14b] erscheint sie dagegen als Sinnyumutung an erster Zugposition und damit selbst als Ursache und Auslöseereignis eines Konflikts. Damit kommt eine Prozesstypik in Gang, die zwischen erster und zweiter Zugposition gleich zu Anfang strukturell signifikante Unterschiede und konflikttypische Asymmetrien erzeugt. Konfliktursache ist immer die vorherige Sinnzumutung an erster Zugposition, auf die sich die Widerspruchskommunikation nachfolgend bezieht, die sie selbst aber dadurch erst produziert. Paradoxerweise positioniert sich die Widerspruchskommunikation in einer kausal nachgeordneten, eher erlebenden Position, obwohl gerade sie es ist, die diese Kausalstruktur faktisch in Gang setzt. Ein Widerspruch erschöpft sich demzufolge also nicht nur in seiner Ablehnungsfunktion, sondern konstituiert darüber hinaus sogleich auch die grundsätzlichen Bedingungen seines Wirkens. Insbesondere erzeugt er damit die ursächlich erforderliche Kausalstruktur, die seine Existenz als Widerspruch ausweist und legitimiert. Vergleichbares gilt auch für die Sinnverarbeitung in der Sachdimension des Konflikts. Dabei wird die Sinnzumutung der vorhergehenden Mitteilung zum Anlass genommen, um sie mit einem Gegensinn zu konfrontieren, der dann auf die ursprüngliche Sinnzumutung zurückprojiziert wird. Ein Widerspruch verdoppelt somit die Sinnperspektiven in Be%ug auf einen identischen Sachverhalt unter dem Gesichtspunkt seiner Ablehnungswürdigkeit. Im obigen Fall wird die Sinnzumutung des Bruders (He needs ...) um eine weitere Perspektive ergänzt (SO DO YOU ...) und ihr Sinn auf 22

Wir vernachlässigen hier den unter dem Begriff der Präferenzorganisation für Zustimmung behandelten Sachverhalt, dass die Ablehnungswahrscheinlichkeit mitunter ein Produkt der Rigidität einer Zustimmungszumutung ist.

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den Zumutungscharakter der vorhergehenden Information zurückdirigiert, was dann die Basis der Unvereinbarkeit schafft (He/ You). Für die sich daran anschließende zweite Konfliktlinie gilt entsprechend das gleiche: Hier ist es der Vater, der die Sinnzumutung der Tochter mit einer konfliktmeidenden Perspektive konfrontiert (AWBJGHT), also die Konfliktwilligkeit der Tochter mit einem Konfliktmeidungsgebot konfrontiert (Reden/ Schweigen). Entscheidend auch hier, dass sich der Konfliktsachverhalt erst im Nachhinein konstituiert, sofern die Widerspruchskommunikation den Vorgängersinn unter dem Gesichtspunkt seiner Ablehnungswürdigkeit variabel auswählt und als Antezedens für die Hervorbringung von Gegensinn nutzt. Kurz: Der Widerspruch verschafft der Sinnzumutung an erster Zugposition eigenmächtig eine Sinnqualität, die er unter umgekehrten bzw. negativen Vorzeichen verdoppelt und damit zum Thema einer Unvereinbarkeit macht. Die Konfrontation mit Gegensinn bzw. Sinn-Alternativen rückt die ursprüngliche Sinnzumutung mit all dem in einen besonderen, weil exponierten Rahmen der Kommunikation. Dies bleibt schließlich nicht ohne Folgen für die Sovyaldimension des Sinnerlebens im Konflikt. Durch die Widerspruchskommunikation wird die vorherige Sinnzumutung als eine kontingente Sinnselektion rekonstruiert, die auch hätte anders ausfallen können, sich insofern der mitteilenden Instanz als Entscheidung persönlich zurechnen lässt. Das gilt sowohl für die Auseinandersetzung zwischen Bruder und Schwester (He vs. YOU) wie auch in Betrug auf den Vater/ Tochter-Konflikt (Reden vs. Schweigen). Im ersten Fall wird dem Bruder Freiheit zur (themenbezogenen) Sinnselektion, im zweiten Fall der Tochter Freiheit in ihrem Mitteilungsverhalten unterstellt. Aus Sicht der %weiten, widersprechenden Zugposition wird die vorhergehende Sinn^umutung insofern als Erwartungsabweichung rekonstruiert, das heißt als eine spezifische, persönlich zurechenbare Handlungsqualität. In dieser Hinsicht affiziert die Widerspruchskommunikation schließlich auch die Sozialdimension im Konflikt. Durch den Widerspruch wird der Bruder zum Widersacher der Schwester stilisiert, in der zweiten Konfliktlinie diese wiederum zur Widersacherin gegenüber dem Vater. Mit anderen Worten: Qua Widerspruch wird durch Handlungszurechnung die Sonderrolle einer Gegnerschaft ausdifferenziert, welche die vorhergehenden, bzw. sonst geltenden Status- bzw. Rolleneigenschaften aufhebt und vorübergehend in den Hintergrund der Aufmerksamkeit schiebt. Der schwesterliche Widerspruch etikettiert den Bruder als AgentProvocateur, der, obwohl sich seine Sinnzumutung erkennbar nicht auf die Schwester bezieht, aus ihrer Sicht gleichwohl als Gegner ausweist; mit den gleichen Mitteln wird schließlich vom Vater die Beziehung zur Tochter geknüpft, die, obwohl von ihr selbst nicht beabsichtigt, die ihr zugeschriebene Rolle weder ignorieren noch meiden kann. Auf diese Weise verschafft sich die anlaufende Konfliktsituation

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die Grundlagen für ein spezifisches Rollenarrangement, das mit der sachlichen Unvereinbarkeit auch auf Beziehungsebene korrespondiert. Die Widerspruchskommunikation, das machen die Analysen deutlich, kann ihren Anknüpfungspunkt flexibel und voraussetzungslos wählen. Das gilt auch dann, wenn die widersprechende Seite selbst nicht als Adressat der vorhergehenden Sinnzumutung gemeint war. Der Widerspruch übernimmt diese Aufgabe im gleichen Zug, sozusagen ,in einem Aufwasch' gleich mit, indem er auch dafür die maßgeblichen Rollen und Sinnperspektiven ausdifferenziert: Wer der Sinnzumutung eines anderen widerspricht, konstituiert sich selbst eigenmächtig zum relevanten Adressaten und macht den anderen damit zum Widersacher der je eigenen Ansichten, Bedürfnisse und Interessen. Durch die Widerspruchskommunikation werden im selben Augenblick sehr heterogene Struktur- und Selektionsmuster aktiviert, die den vorhergehenden Sinn mitunter tiefgreifend und nachhaltig überformen: In der Zeitdimension des Sinnerlebens begründet die Widerspruchskommunikation einen ihr vorausliegenden Anfang, den sie als take-off einer möglichen Konfliktsituation diskriminiert; in der Sachdimension wird damit ein Thema aus differenziert, das die einander widersprechenden Sinnzumutungen strukturell relationiert; und in der So^ialdimension rechnet die Widerspruchskommunikation die Selektivität im Mitteilungsverhalten personal auf den jeweils anderen zu, was schließlich die Bedingungen der Möglichkeit einer socalen Gegnerschaft begründet. Die Widerspruchskommunikation interpunktiert den laufenden Kommunikationsprozess somit in einer Weise, dass dieser eine fundamentale Umstrukturierung seiner Sinnselektionen durchläuft, wodurch der Charakter der fraglichen Situation sich mitunter grundlegend und nachhaltig wandelt. Damit wird gewissermaßen eine neue Zeitrechnung eingeführt, die sich mit der vorhergehenden Sinnzumutung zu entfalten beginnt und solange andauert, wie diesbezüglich weitere Widersprüche folgen. Parallel dazu erhält auch die Sachdimension des Sinnerlebens damit ein neues Gesicht: Aus der bloßen Sinnzumutung ist unversehens ein Konfliktthema erwachsen und sofern jeder weitere Beitrag mit erkennbar negativen Vorzeichen ausgeflaggt wird, macht die Tatsache der Ablehnung den Inhalten der Kommunikation ihre Relevanz und Vorherrschaft streitig. In der Sozialdimension schließlich verändert sich durch die Widerspruchskommunikation nicht nur die Komplementarität der Beteiligtenrollen, sondern gleichzeitig auch die ihr zugehörigen Identitäten: Durch den Widerspruch wird eine gegeneinander gerichtete Beziehung begründet, die sich auf das Prinzip der Unvereinbarkeit stützt. Hinsichtlich all dieser Teilaspekte unterfüttert die Widerspruchskommunikation eine alternierende Sinnrealität, die vor allem für die andere Seite an erster Zugposi-

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üon folgenschwer ist: Ihr mutet die Widerspruchskommunikation die Bürde des Anfangens zu, exponiert ihre Sinnzumutung unter dem Gesichtspunkt ihrer Ablehnungswürdigkeit und zwingt so den sich Mitteilenden in die Rolle eines Widersachers und Gegners.23 Dieser Konnex verweist insofern erneut und mit Nachdruck auf die hervorragende Bedeutung einer dritten Zugposition für die Ausdifferenzierung des Konflikts. Zu den oben bereits angeführten Gründen, die für eine dreigliedrige Fundierung der Konfliktdefinition sprechen, kommt eine weitere, keineswegs unwichtige Überlegung hinzu: Da sich die Sinnzumutung an erster Zugposition stets nur fremdreferen^iell in den Konflikt integriert, spiegelt sich bis zur zweiten Zugposition die Konfliktrealität typischerweise nur einseitig, d.h. aus Sicht der widersprechenden Seite wider. Wie die sinnlogische Analyse des vorliegenden Textfragments nachdrücklich zeigt, lassen sich auf Grund der retrospektiven Sinnkonstitution deshalb noch keine verlässlichen Aussagen darüber machen, inwieweit die vorliegende Situation faktisch auf der Unvereinbarkeit zweier 'Perspektiven beruht. Bis dahin existiert der Konflikt vorläufig bloß virtuell, gewissermaßen als Projektion aus Sicht der zweiten Zugposition, während wir aus Sicht der ersten Zugposition demgegenüber keine gesicherten Aussagen machen können. Eine für die Konstitution des Konflikts wichtige Frage zielt deshalb auf Alters Reaktion auf die durch Egos Widerspruchskommunikation neu entstandene Situation. An ihr muss sich zeigen, ob und in welchem Umfang ein Alter den ihm zugedachten Konfliktstatus in zeitlicher, sachlicher oder sozialer Hinsicht akzeptiert. Diesbezüglich ist im obigen Textbeispiel die Reaktion des Bruders in formaler Hinsicht gespalten. Weder ist seine Reaktion unmittelbar an die Schwester zurückadressiert, noch knüpft sie inhaltlich explizit an deren Widerspruch an. Andererseits ist jedoch klar, dass der Bruder an dritter Zugposition trotz Widerspruch auf der ursprünglichen Sinnzumutung insistiert und diese zudem noch verstärkt. Im Unterschied zu seiner Äußerung an erster Zugposition handelt er damit bewusst - wenn auch indirekt - im Widerspruch zum Widerspruch seiner Schwester. An der dritten Zugposition wird die Konfliktrelevanz somit nicht mehr bloß fremdreferenziell, sondern primär selbstreferenziell, letztlich also in Eigenregie produziert. In Bezug auf die zweite Konfliktlinie gilt entsprechend dasselbe: Indem die Tochter trotz väterlichen Widerspruchs weiterhin auf ihren Standpunkt insistiert (YOU TOO), handelt sie nicht mehr nur implizit bzw. retrospektiv, sondern nunmehr auch explizit (wenngleich ungewollt) der Erwartung des Vaters zuwider.

...der man sich, wie unser Fallbeispiel zeigt, mit mehr (siehe Bruder) oder weniger Erfolg (siehe Tochter) zu entziehen versuchen kann.

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Die Frage, wo ein Konflikt seinen Ausgangspunkt nimmt, wird also immer auf derjenigen Seite entschieden, die selbst nicht Anlass der Konfliktsituation ist. Bildlich gesprochen wird der Konflikt strukturell ,hinterrücks' inauguriert, und das in einem sehr wörtlichen Sinne. Vor dem Hintergrund einer strukturell retrospektiv etablierten Kausalasymmetrie entsteht zwischen den Beteiligten zwangsläufig ein Akkordierungsproblem, sofern geklärt werden muss, inwiefern sich der andere auf diese nachträglich eingeführte Neuorientierung einlässt. Möglich ist, dass Alter den Widerspruch Egos als ein bloßes Missverständnis erklärt und darauf bezogen den Sinn seiner ursprünglichen Absicht erläutert; möglich ist ferner, dass Alter Zielsetzung und Charakter seiner Sinnzumutung inhaltlich korrigiert, was die Notwendigkeit weiterer Ablehnungen hinfällig macht. Möglich ist aber auch, dass sich Alter von der durch den Widerspruch projizierten Neuorientierung nicht abschrecken lässt und - trotz Widerspruch - unverändert zu seiner ursprünglichen Sinnselektion steht. In diesem Fall wird die Unvereinbarkeit zur Struktur, die, wenn Ego nun nicht seinerseits von seinem Widerspruch abrückt, in eine oppositionelle Beziehung mündet. Wir fassen zusammen: Widerspruch, Konflikt und Opposition bezeichnen ein sinnlogisch aufeinander aufbauendes, zugleich aber asymmetrisch strukturiertes Ordnungsgefüge wechselseitiger Negationen, in dem sichergestellt werden muss, dass Sinn auf Gegensinn, Widerspruch auf Gegenwiderspruch bzw. Unnachgiebigkeit auf Unnachgiebigkeit stößt. Wann immer dies geschieht, kann eine Struktur die Führung übernehmen, in der eine Ablehnung wahrscheinlicher als eine Zustimmung ist. Diese Struktur besitzt die Eigenschaft einer Negatiwersion doppelter Kontingent was aus konversationsanalytischer Sicht als Präferensprganisation für Negation ausgelegt werden kann.24 Sofern wir in dieser Untersuchung primär den Jüpisodencharakter einer Konfliktsituation analysieren, haben wir es hier mit einem Phänomen zu tun, das sich anschickt, sich strukturell auf Dauer zu reproduzieren, es dann aber zuletzt doch nicht ganz schafft.

Auflösung ubiquitärer Konfliktepisoden Auf der Basis der vorangegangenen Überlegungen wenden wir uns nunmehr der Frage zu, wie Konfliktepisoden aufgelöst werden, nachdem sich die Unverein24

Was aber deswegen noch nicht dasselbe bezeichnet. Das konversationsanalytische Konstrukt der Präferenzorganisation weist sich primär an den Formeigenschaften einzelner Redezüge aus, die Negatiwersion doppelter Kontingenz dagegen an den Formeigenschaften einer sozialen Beziehung. Sofern der Argumentationsduktus der vorliegenden Untersuchung durchgängig auf die Identität zweiwertiger Sinnrelationen (Sinn/ Gegensinn, Widerspruch/ Gegenwiderspruch, Unnachgiebigkeit/ Unnachgiebigkeit) beharrt, bevorzugen wir zur Kennzeichnung der Konfliktstruktur ebenfalls die zweiwertige Fassung.

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barkeit nach dem oben beschriebenen Muster aufgebaut hat. Auch in dieser Hinsicht ist das obige Textfragment mit zwei ineinandergreifenden Konfliktlinien nicht uninteressant. Es macht deutlich, dass der Vater mit Konfliktschlichtungsabsichten als außenstehender Dritter in den Geschwisterkonflikt interveniert und sich dabei primär gegen die Tochter wendet. Diese wird dadurch in eine zweite Konfliktlinie gedrängt, die sich für sie äußerst ungünstig, weil komplexitätssteigernd auswirkt; hinzu kommt, dass sie sich nunmehr auch mit einem deutlich machtüberlegenen Gegenüber auseinander zu setzen hat. Sie muss sich daher entscheiden, welche der beiden Konfliktlinien sie weiterfolgen will: Entweder stellt sie ihre Widerspruchsabsichten gegenüber dem Bruder vorläufig zurück und beschwichtigt zuerst ihren Vater, oder sie verfolgt ihre ursprünglichen Absichten weiter, gerät dann aber zwangsläufig zu ihrem Vater in Konflikt. In diesem Zusammenhang macht das Textfragment deutlich, dass in dem Maße, wie der Vater seinen Mitteleinsatz gegenüber der Tochter schrittweise steigert und konkretisiert - von der unpersönlichen Ermahnung (AWBJGHT) zur gezielten, persönlich an sie gerichteten Warnung (I toldyou to be quiet, didn't I?) bis hin zum Einsatz physischer Mittel (Schlag auf den Arm) -, er zunehmend deren Aufmerksamkeit auf sich zieht und die Tochter - ebenfalls schrittweise - auf diese Weise aus dem Geschwisterkonflikt hinausdirigiert: Während diese die Ermahnung zuerst noch komplett ignoriert, macht sie im nächsten Schritt als Reaktion auf die vom Vater ausgesprochene Drohung schon deutliche Konzessionen (Zuwendung zum Vater, gemäßigte Stimme); aber erst die physische Intervention veranlasst sie schließlich zum endgültigen Nachgeben und damit zur Aufgabe ihrer Konfliktposition. In diesem Fall werden beide Konfliktepisoden also gleichzeitig entschieden, wobei die erste Konfliktlinie durch eine stärkere zweite überlagert, absorbiert und schließlich auch zu Ende gebracht wird. Zweifelsohne liegt hier - im Embryonalzustand sozusagen - ein Konfliktlösungstypus vor, den die Fachliteratur unter dem Begriff der ,Third Party Intervention' rubriziert. Begrifflich erfasst sind damit alle richtenden, schlichtenden und vermittelnden Techniken der Konfliktintervention durch außenstehende Dritte. Gemäß den hierbei geltenden Konventionen dürfte sich die väterliche Konfliktintervention - gemessen an ihrer Eingriffsintensität - ungefähr in der Mitte zwischen .richten' und .schlichten' bewegen. Andererseits ist aber auch klar, dass die hier angewandte Konfliktlösungsprozedur hinsichtlich aller nur denkbaren Konfliktepisoden keineswegs der Normalfall ist - allein schon deswegen, weil sie die Anwesenheit von unbeteiligten Dritten erfordert. Man ahnt, dass ein Großteil aller Konfliktepisoden typischerweise anders aufgelöst werden, die Frage ist allerdings: Wie?

139 Anders als im Kontext gesellschaftlicher ,Großkonflikte', die mitunter Rechtsrelevanz erreichen oder die auf Grund ihrer Größe, Dauer oder sozialer Folgen konfliktanalytische Aufmerksamkeit auf sich ziehen, verfugen wir im Kontext der Konfliktepisode über verhältnismäßig wenig gesichertes Wissen. Eine bemerkenswerte Ausnahme stellt allerdings die schon erwähnte Studie von Samuel Vuchinich dar, aus der auch das obige Textbeispiel [14] stammt und die aus verschiedenen Gründen detaillierter besprochen zu werden verdient. Im Mittelpunkt dieser Studie steht ein Typ von Konfliktepisode, den der Autor analog zu den vorhergehenden Analysen ebenfalls als eine dreigliedrige Zugabfolge definiert. Datengrundlage der Studie waren die Tischgespräche in 52 Familien unterschiedlicher Schichten, Rassen und Familienzusammensetzungen in fünf USamerikanischen Staaten. Auf der Basis einer Analyse von Video- bzw. Audioaufzeichnungen ergaben sich dabei durchschnittlich 3,3 spontane Konfliktepisoden pro Gespräch, deren durchschnittlicher Umfang zwischen vier und fünf Redezüge pro Episode betrug.25 Auf insgesamt 327 Widerspruchskommunikationen an zweiter Zugposition wurde zu zwei Dritteln mit wenigstens einer weiteren Widerspruchskommunikation reagiert. Zu einem Drittel wurde demnach der Konflikt auf Grund ausbleibender Widerspruchskommunikationen an dritter Zugposition vermieden. Vollständig ausdifferenzierte Konfliktepisoden waren zu etwa 15 % mit der dritten Zugposition bereits wieder beendet; zu 85 % hat der Konflikt vier oder mehr Züge umfasst (vgl. Vuchinich 1987, S. 594 ff.). Sofern es also zu einer Unvereinbarkeit von Sinnzumutungen kommt, führt dies fast immer in eine Opposition. Insgesamt verweisen die Daten auf eine gewisse Ausgewogenheit zwischen Konftiktermögüchung und K.on?üktbegren^ung innerhalb der von Vuchinich untersuchten Familien. Familiäre Interaktion ist demnach prinzipiell offen für die Möglichkeit des Konflikts, durch den die Beteiligten unterschiedliche Standpunkte und Interessen im gemeinsamen Gespräch ventilieren. Zugleich wird deutlich, dass der überwiegende Anteil der Konfliktsituationen in Form kürzerer Episoden prozessiert. Nach den oben angeführten Befunden ist der Konflikt im Anschluss an eine Widerspruchskommunikation statistisch zu zwei Dritteln wahrscheinlicher als seine Meidung; fast sicher ist eine weitere Widerspruchskommunikation an vierter Zugposition, die damit (in unserer Terminologie) eine oppositionelle Beziehung begründet; danach sinkt die Wahrscheinlichkeit weiterer Widerspruchskommunikationen im proportional umgekehrten Verhältnis wieder ab. Unter

Zu ähnlichen, allerdings ausschließlich auf Konflikte zwischen Kleinkindern bezugnehmenden Zahlen kommen Corsaro/ Rizzo 1990, S. 27, 39); die durchschnittliche Anzahl von Redezugabfolgen in den Konfliktepisoden amerikanischer und italienischer Vorschulkinder betrug hier durchschnittlich 3.4 bzw. 4.9 Züge pro Episode.

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Zugrundelegung einer Zwei/Drittel-Wahrscheinlichkeit (bzw. eines festgestellten Kontinuitätskoeffizienten von 0.64) sind die meisten Konfliktepisoden nach sechs Redezugabfolgen wieder beendet. Das Epizentrum einer Konfliktepisode liegt demzufolge im unmittelbaren Moment ihrer Ausdifferenzierung an dritter Zugposition sowie einer darauf bezogenen weiteren Reaktion. Die Daten aus Vuchinich's Untersuchung legen insofern die Schlussfolgerung nahe, dass die Anfangsbedingungen einer Konfliktepisode mit den Bedingungen ihres Zerfalls sinnlogisch korrespondieren. Bemerkenswert ist zunächst die statistisch auffällige Parallelität hinsichtlich der Konstitutions- und Zerfallswahrscheinlichkeit einer Konfliktsituation·. Wie die Daten der Studie zeigen, ist es nach der ersten Widerspruchskommunikation zu zwei Dritteln wahrscheinlicher, dass sich der Konflikt vollständig ausdifferenziert, als dass sein Ordnungsaufbau vorher zerfällt; hat sich die Konfliktepisode dagegen erst einmal vollständig ausdifferenziert und sind beide Seiten zudem unnachgiebig geblieben, ist es umgekehrt zu zwei Dritteln wahrscheinlicher, dass dieser Ordnungsaufbau anschließend wieder zerfällt. Hat die Konfliktepisode mit dem vierten Zug das Stadium einer wechselseitigen Unnachgiebigkeit erreicht, nimmt die Wahrscheinlichkeit, an ihr festzuhalten, mit jeder weiteren Widerspruchskommunikation signifikant ab. Mit anderen Worten: In dem Augenblick, in dem eine Konfliktepisode Struktur auskondensiert und Gefahr läuft, sich über die Negatiwersion doppelter Kontingenz zu stabilisieren, sehen die Beteiligten von ihrer weiteren Fortführung tendenziell ab. Daraus schließt Vuchinich auf ein exponentielles Gesetz der Konfliktkontinuität, das unmittelbar vor und nach der vollständigen Ausdifferenzierung einer Konfliktepisode spiegelbildlich umgekehrten Prioritäten folgt (vgl. Vuchinich 1987, S. 598). Ein zweiter Befund dieser Studie hängt mit diesen Einsichten eng zusammen und betrifft die Frage nach den ,Stopp-Mechanismen ' der Konfliktkommunikation. Ausgehend von der Überlegung, dass die Beteiligten im Rahmen der Widerspruchskommunikation Züge produzieren müssen, die nicht zwangsläufig zu weiteren Widerspruchskommunikationen führen, unterscheidet der Autor zwei grundsätzliche Formen der Konflikttermination: Unterwerfung und Kompromiss. Die Unterwerfung reagiert auf die vorhergehende Widerspruchskommunikation mit Zustimmung, ein Kompromiss dagegen wird mit einem (Teil-) Zugeständnis eingeleitet, auf das der andere daraufhin ebenfalls mit einem (Teil-) Zugeständnis reagiert. Auf dieser Basis konnte Vuchinich (1990, S. 123 ff.) insgesamt fünf Stopp-Mechanismen identifizieren: Unterwerfung (to give in), dominante Intervention einer Dritten Partei (submission to other), Kompromiss find a middle ground), Stehen lassen (stand o f f ) und schließlich Rückzug (leaving in a h u f f ) .

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Jede dieser Formtypiken baut auf kommunikativ unterschiedliche Zugabfolgen, welche die jeweiligen Stopp-Mechanismen konstituieren. Im Falle der Unterwerfung gibt eine Seite der anderen nach, indem sie nicht länger mit Widerspruch, sondern mit Zustimmung reagiert. Im Falle der Drittintervention unterwirft man sich nicht dem unmittelbaren Opponenten, sondern der Sinnzumutung eines unbeteiligten Dritten. Beim Kompromiss stimmen beide Seiten einer Einigung zu, die von ihren jeweils ursprünglichen Standpunkten abweicht. Wiederum anders ist die Situation beim Stehen lassen des Konflikts: In diesem Fall wird auf explizite Zustimmung verzichtet, wenn auf beiden Seiten stillschweigend Einvernehmen darüber herrscht, einander weiterhin nicht mehr zu widersprechen. Mit dem Rückzug dagegen wird diese Art stillschweigenden Einvernehmens unterlaufen und weder Zustimmung noch Ablehnung verbalisiert. Wie die Verteilung von Anwendungshäufigkeiten der einzelnen StoppMechanismen zeigt, ist ,,Stehen Zossen' (stand-qff) zu zwei Dritteln die weitaus gebräuchlichste Form der Konflikttermination in den untersuchten Familien. Vuchinich erklärt diesen Befund mit Hinweis auf die relative Schlichtheit bzw. Folgenlosigkeit dieser Form: Weder sei sie (wie die Unterwerfung) mit möglichen Gesichtsverlusten verhaftet, noch (wie beim Kompromiss) mit Aushandlungsnotwendigkeiten belastet; zudem vermeide sie die Folgerisiken eines Rückzugs, der einen sanften Ubergang zu konsensuellen Kommunikations formen verbaut. Umgekehrt indiziert der hohe Anteil .stehengelassener' Konfliktsituationen die positiven Funktionen eines Konflikts. Vuchinich sieht diese darin, dass es in vielen Konfliktepisoden vornehmlich darum geht, individuelle oder soziale Positionen zu markieren bzw. einem negativen Gefühl Ausdruck zu geben, wobei allein schon die Expressivität des Ausdrucks eine Katharsis einleiten kann (ebd., S. 134 f.). Die primäre Funktion einer Konfliktepisode läge demnach vor allem in der Kenntlichmachung der je eigenen Standpunkte und Positionen, ohne dass damit zugleich auch ihre Durchsetzung beabsichtigt ist.

Konflikt als Elementarereignis der Interaktion Widersprüche, so war zu sehen, sind in einem hohen Maße beliebig. Sie sind an keine weiteren Voraussetzungen gebunden außer an die, dass eine Sinnzumutung existiert, an die ein Gegensinn anschließen kann. Im Prinzip ist jede Sinnzumutung gleich widerspruchstauglich, unabhängig davon, welche Inhalte wie zugemutet werden und wer der Adressat einer diesbezüglichen Mitteilung ist. Im scharfen Kontrast zu den nahezu beliebigen und grenzenlosen Anschlussmöglichkeiten der Widerspruchskommunikation steht die begrenzte Dauer und rigide Strukturselektivität der Konñiktepisode. Diese kennzeichnet eine Situation, in der

142 sich die Beteiligten auf einen Widerspruch hin für den Konflikt entscheiden, sich darin kurzfristig als unnachgiebig erweisen, um sich daraufhin, vielfach ohne den Konflikt gelöst zu haben, einer anderen Thematik zuzuwenden. Im selben Moment, in dem sich die Negativversion doppelter Kontingenz als reproduktions fähige Konfliktstruktur ausdifferenziert, wird offenbar eine soziale Gegentendenz wirksam, die diese Struktur destabilisiert und wieder rückgängig macht. Für diesen Sachverhalt sind nun verschiedene Erklärungen denkbar. Beispielsweise ließe sich vorstellen, dass vor dem Hintergrund des in Konfliktsituationen prinzipiell immer gegenwärtigen Zerrüttungspotenzials die zeitlich begrenzte Form der Konfliktepisode Ausdruck einer Vermeidungshaltung ist, die das für eine längerfristige Sozialbeziehung wichtige Prinzip der Präferenzorganisation für Zustimmung auf diese Weise aufrechterhält und somit schlimmere Folgen verhütet. Der Episodencharakter des Konflikts wäre demnach ein sichtbarer Ausdruck dessen, dass die Beteiligten die Präferenzorganisation für Zustimmung trotz unvereinbarer Standpunkte nicht außer Kraft gesetzt wissen wollen. Die unmittelbare Aufeinanderfolge von Ausdifferenzierung und Wiederrückgängigmachung der Konfliktstruktur deutet eine solche Möglichkeit an. Insofern hat es den Anschein, als wären sich die Beteiligten über die Risiken einer auf Ablehnung beruhenden Erwartungsstruktur durchaus im Klaren. Einmal als Struktur etabliert, würde die Wiederumkehr von Ablehnungs- auf Zustimmungserwartungen zunehmend zum Problem: Haben sich beide Seiten erst einmal unnachgiebig gezeigt, so wird jedes Zurückweichen mitunter als Nachgeben, wenn nicht schon als Niederlage ausgelegt. Umgekehrt wird mit jeder weiteren Widerspruchskommunikation der standpunktbezogene Gegensatz extensiviert (mitunter auch nachhaltig vertieft) und die Konfliktkomplexität entsprechend erhöht. Parallel dazu wird auch der Aufwand, um solch eine Entwicklung wieder zum Stillstand zu bringen, wesentlich höher26 — von den möglichen Folgen für die Beteiligten ganz zu schweigen. Den Konflikt in seiner episodischen Form unaufgelöst stehen lassen heißt demgegenüber: Man springt aus dem (sich eben anbahnenden) negativen Erwartungszirkel doppelter Kontingenz (wieder) heraus und sabotiert auf diese Weise die ihm zugrundeliegende Logik. Vor diesem Hintergrund zeichnen sich nicht unwichtige Einsichten ab, die auf die Funktion und Bedeutung der Konfliktepisode zielen. Der Hinweis auf ein exponentielles Gesetz der Konfliktkontinuität (in Verbindung mit der Tatsache überwiegend stehengelassener Konfliktepisoden) legt die Vorstellung nahe, dass

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Kotthoff 1993, S. 208 ff. diskutiert den Fall, dass Zustimmungen im Rahmen oppositioneller Erwartungsstrukturen mitunter dispräferiert sind, da sie die einmal etablierte Struktur unterlaufen und deshalb zurückgewiesen würden. Von dieser Möglichkeit sind allerdings nur bestimmte Formen der Auseinandersetzung tangiert.

143 die Widerspruchskommunikationen oftmals weniger die Durchsetzung von Standpunkten, als vielmehr ihre symbolische RJ'Präsentation intendiert. Die Tendenz, der zufolge sich die Beteiligten im Konflikt zunächst als unnachgiebig erweisen, zugleich jedoch auf die Durchsetzung ihrer Standpunkte verzichten, deutet auf eine Funktion der Konfliktepisode hin, die darin besteht, dass sie zwischen den Beteiligten eine Grenze markiert - eine Demarkationslinie also, welche vornehmlich die je eigenen Sinnreservate sichert und es dann dabei belässt. Dafür ist weniger die Durchsetzung eigener Absichten und Zielsetzungen konstitutiv, sondern weit mehr, diese vor dem Übergriff anderer wirksam ψ schütten. Wer qua Widerspruch die fremde Sinnzumutung abwehrt und diesbezüglich Erwartungen dämpft, markiert Grenzen in der Beziehungsstruktur, die den je anderen in seine Schranken verweisen; wer sich dabei unnachgiebig zeigt, macht zudem die Grenzen seiner Hinnahmebereitschaft deutlich. Dabei kommt es vornehmlich darauf an, einen Standpunkt zu haben, den man behaupten und verteidigen kann, und weniger, ihn gegen den Widerstand des anderen zu implementieren. Grenzen schützen die Territorien einer sozialen Entität vor unerwünschtem Zugriff von außen. An ihnen werden Unterschiede und Differenzen, letzthin also Identitäten sichtbar gemacht. Dieser Sachverhalt lässt sich am Konfliktverhalten von Kindern und heranwachsenden Jugendlichen gut belegen, dort also, wo die Frage der Grenzziehung für die persönliche Weiterentwicklung nicht nur wesentlich, sondern geradezu unumgänglich erscheint. Im Zuge einer kindlichen und präadoleszenten Sozialisation sind Widerspruch und Konflikt ein nicht wegzudenkender Bestandteil der sozialen Integration. Ebenso wie die familiäre ist auch die kindliche Konfliktkommunikation im hohen Maße durch die episodisch vorübergehende Natur des Konflikts, die hohe Beliebigkeit seines Beginnens und typischerweise auch durch ein unbekümmertes Stehen lassen bzw. Ubergehen der Widerspruchskommunikation geprägt (vgl. Shantz 1987). Demnach sind Konflikte keineswegs gleichbedeutend mit einer Störung, geschweige denn mit dem Zusammenbruch der Interaktion. Stattdessen handelt es sich vielfach nur um einen Ausdruck der Zurschaustellung von Konkurrenz und Opposition (vgl. Lein/ Brenneis 1978; Eisenberg/ Garvey 1981; Maynard 1985a). Mittels Konflikt verschaffen sich Kinder mithin eine Art idiosynkratischer ,Kleingruppen-Gesellschaft', in der sich vorübergehend eine Struktur etabliert, die sie in zwei verschiedene Lager spaltet. In der Auseinandersetzung mit anderen können sie lernen, Status und Zugehörigkeit zu den für sie relevanten Gruppen bewusster einzuschätzen und entsprechend zu klären; sie üben den Gebrauch und Umgang mit wechselnden Koalitionen; sie können Regeln und Normen fixieren, um ihre gegenseitigen Interessen und Bedürfnisse in Einklang zu bringen; und sie setzen Grenzen bezüglich der Solidarität und Intimität im

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Verhältnis zu anderen. 27 Was immer dabei sonst noch geschieht: Der Konflikt schärft die Sensibilität im Hinblick auf eine aktuell vorfindbare Situation, insbesondere mit Blick auf die ihr zugehörigen Regeln, Rollen und Identitäten.28 Man muss nicht eigens erwähnen, dass sich der Konflikt bei Kindern und Jugendlichen hauptsächlich in spielerischen Kontexten vollzieht, was aber nicht heißt, dass er deshalb von den Beteiligten nicht auch ernstgenommen würde. Ganz im Gegenteil deutet die unmittelbare Nachbarschaft zwischen Konflikt und dem identitätsbildenden Abtasten von Grenzen auf eine eher ernsthafte Einstellung hin, mit der sich die Kinder ihren Auseinandersetzungen widmen. Auch im Spiel können Konflikte rasch ausufern und eskalieren29, wenngleich dies vielfach eher auf friedfertige Weise, das heißt zum überwiegenden Teil rhetorisch geschieht. Dem steht zudem der von durchgängig allen Untersuchungen empirisch bestätigte Befund gegenüber, dass Auseinandersetzungen zwischen Kindern und Jugendlichen so gut wie nie wirklich gelöst, sondern typisch erweis e eher unbereinigt stehen gelassen werden.30 Widerspruch und Konflikt sind demnach wesentliche Eckpfeiler bei der Herausbildung einer frühkindlichen Erwartungsstruktur.31 Sie dienen der Einübung

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Douglas Maynard fasst die positiven Funktionen der kindlichen Konfliktkommunikation in folgenden Worten zusammen: "Through conflict, children produce social organization, create political alignments, and thereby realize their practical interests within a changing set of social relationships.", vgl. Maynard (1985b, S. 208); so auch Keppler 1994, S. 100: „Der Dissens koordiniert die Interaktion und schafft Kohärenz" - mit dem Zusatz, dass in Familien die Konfliktfronten ebenfalls häufig wechseln. So etwa Corsaro/ Rizzo 1990, S. 64 mit dem Hinweis auf die hohe identitäts- bzw. gruppenbildende Funktion der .discussione' insbesondere bei italienischen Vorschulkindern. Vergleichbare Befunde zeigen sich auch im Umgang präadoleszenter Jugendlicher untereinander. Dort werden insbesondere Fragen der Identität und des Charakters mit opponierenden Statusund Hierarchieansprüchen in Verbindung gebracht und in spielerisch-rituellen Formen der Interaktion erprobt. In dieser Funktion erscheint der Konflikt vor allem in seiner Eigenschaft als .character contest', in dessen Verlauf man sich vornehmlich für sich selbst und für andere im Hinblick auf seine eigenen Verhaltensstile interaktiv exponiert, vgl. Goffman 1967, S. 237; speziell in Bezug auf präadoleszente Jugendliche: Eder 1990; Goodwin 1990. Vgl. dazu näher Lein/ Brenneis 1978, S. 301; ferner auch die folgende Feststellung bei Boggs 1978, S. 332: "...there is a tendency for disputes to escalate from contradiction to challenge, insult, counter-insult, threat or trial. While any sequence may be repeated, or the dispute terminated, a lower-numbered sequence rarely follows a higher-numbered one. That is to say that a challenge cannot be strongly answered by repeating a prior assertion, claim, or allegation, just as an insult cannot be adequately met in this way, or even with a supporting argument, allegation, or appeal to authority." Vgl. Boggs 1978, S. 333; Eder 1990, S. 67; ferner Goodwin 1990, S. 157 f. mit folgender Formulierung: "...the end of an argument generally occurs without any sharp indication that either position has 'won' or 'lost'. A conflict tends to terminate when one of the two disputing parties does not tie talk to the topic of the prior dispute, but instead produces an action that breaks the ongoing argument frame." Mit anderen Worten, aber in dieselbe Richtung weisend: Spitz 1978, S. 84: „Die Verneinung ist ein Werk des Ichs und steht im Dienste der Urteilsfunktion des Ich."

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einer der je eigenen Identität angemessenen Rolle und stellen ferner die praktischen Routinen bereit, um die dazu erforderlichen kognitiven und kommunikativen Fertigkeiten daran zu schulen. So gesehen vermittelt die Konfliktepisode kontinuierlich im Spannungsverhältnis zwischen Abgrenzung und Assimilation, zwischen Einzelnem und Gemeinschaft, zwischen ,Ich' und ,Du' in der sozialen Beziehung.32 In der eher beiläufigen Auseinandersetzung wird eben sosehr ein Konkurrenz- wie ein Solidarbewusstsein gefördert, das einerseits auf Identitäts-, Status- und Hierarchieunterschiede zielt, das andererseits aber auch Lernen ermöglicht und der Herausbildung von Moral- und Gerechtigkeitsvorstellungen dient.33 Die Bedeutung einer ubiquitären, omnipräsenten, zugleich aber auch begrenzten Konfliktepisode ist demnach für den Aufbau einer individuell intakten Identität ebenso wesentlich wie für den einer sozial intakten Beziehung. Anders als die Behandlung von Negativität im Rahmen der klassischen Ontologie bzw. der neuzeitlichen Subjekt-Philosophie (Sartre 1952; Heinrich 1964; Schurz 1995) erscheinen Widerspruch und Konflikt in den hier erörterten Zusammenhängen zunächst einmal weniger gegen das Sein bzw. gegen Identitäten gerichtet, sondern kommen geradezu umgekehrt, namentlich als Ausdruck eines sich als autonom reflektierenden Individuums in den Blick, das sich mit den Erwartungen seiner Umwelt auseinandersetzen, sich ihnen anpassen oder von ihnen abgrenzen muss. Wer widerspricht, grenzt sich einerseits vom anderen ab, setzt sich andererseits aber auch spezifisch zu ihm in Beziehung.34 Im Vergleich zu den Formen einer kindlichen Konfliktkommunikation spielt der vornehmlich auf Charakter und Identität abgestellte Wettbewerbsaspekt in der Erwachseneninteraktion zwar nicht dieselbe, aber deswegen auch keine bloß untergeordnete Rolle. Festigkeit, Flexibilität und Grenzen sozialer Beziehungsstrukturen werden durch die Konfliktepisode fallweise immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt. Um die je eigene Identität stabilisieren zu können, müssen Beziehungen hinreichend flexibel und veränderbar sein. Gerade dieser Aspekt wird wiederum in den leichter zu überschauenden, weil nach außen hin abgrenzbaren Interaktionsprozessen der Familie plausibel. Häufig ist ein klares Konflikdösungsinteresse weniger von Belang als die Kenntlichmachung und Bekräftigung der je eigenen Positionen in einem sozialen Gefüge. 35 All dies macht schließlich die gleichsam selbstgenüg32

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Vgl. Corsaro/ Rizzo 1990, S. 64; ähnlich auch Collins 1981, der ebenfalls auf die positiven Nebeneffekte interaktiv fortlaufender Konfliktprozesse hinweist. So vor allem Piaget 1948; mit diesbezüglichen Forschungen zur empirischen Argumentationsund Diskursfähigkeit bei Kindern in Konfliktsituationen, vgl. Miller 1984. So bekanntlich die klassische These von Simmel. In Bezug auf soziale Systeme generell: Luhmann 1981, S. 42 f. Für Sprey 1971, sind Familienprozess und Konfliktprozess nahezu identische Größen; ähnliche Überlegungen auch in Bergmann 1990, S. 214; zusammenfassend Keppler 1994, S. 103.

146 same, über die unmittelbaren Interessen der Beteiligten hinausführende Qualität einer Konfliktepisode deutlich, die für die soziale Balance zwischen Anpassung und Abgrenzung notwendig ist und heterogene Anforderungen sozialer Inklusion in sich vereint.

In all interaction, either the social bond is being built, maintained, or repaired, or it is being damaged. Thomas ], Schejf/ Suzanne Recinger

Kapitel 5 SACHKONFLIKTE

Wie aus den Analysen des vorhergehenden Kapitels hervorgeht, sind viele, wenn nicht die meisten Konflikte eher kurzfristiger und vorübergehender Natur. Sie bleiben zumeist Episode. Die zentrale Erklärung dafür dürfte sein, dass viele Widerspruchskommunikationen eine Interessensdurchsetzung - zumal gegen den Widerstand eines anderen - erst gar nicht intendieren. Häufig geht es primär nur um die Kenntlichmachung unterschiedlicher Standpunkte, Einstellungen und Perspektiven, die sich gewissermaßen selbst genügt und nicht notwendig mit konkreten Veränderungs- oder Beeinflussungsabsichten einhergehen muss. Man zeigt an, dass man die Meinung des anderen nicht bedingungslos teilt oder nicht gewillt ist, den Zustimmungserwartungen uneingeschränkt zu entsprechen — und belässt es dabei. Gemessen an den Unwägbarkeiten und Risiken einer Konflikteskalation sind die Strategien des Nachgebens, des Stehenlassens oder der Kompromissbildung meist auch die weniger nachteiligen Alternativen. Andererseits wiederum bestehen vielfaltige Gründe, die zum Festhalten an unvereinbaren Standpunkten auch gegen den Widerstand des anderen motivieren. Möglicherweise hat der Konfliktsachverhalt für beide Seiten eine gewisse Bedeutung, was gemeinhin die Rigidität des Erwartens erklärt und aus Sicht der Beteiligten die Fortführung des Konflikts legitimiert; möglicherweise sehen beide Seiten die Erwartungen der je anderen als maßlos bzw. ungerechtfertigt an und stellen die Ablehnung entsprechender Sinnzumutungen deshalb auf Dauer; möglicherweise fühlen sie sich mit ihren Standpunkten auch im Recht und glauben soziale Regeln und Normen auf ihrer Seite; vielleicht rechtfertigt die eine Seite ihre Unnachgiebigkeit auf Grund eingeschränkter Handlungsfreiheiten bzw. durch situativ begründete Restriktionen, während die andere Seite darin vor-

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nehmlich nur Willkür erblickt und deshalb am Widerspruch festhält.1 Zahllose Gründe sind denkbar, die zum Festhalten an Konfliktstandpunkten motivieren. Sie variieren in Abhängigkeit der Beteiligten und deren Zielen, der Beschaffenheit einer Situation sowie den Kontexten ihrer Entstehung. Aber auch hier wiederum sind es weniger die externen Konfliktursachen, die unser Interesse auf sich ziehen. Die Problemstellung, die anstatt dessen im Vordergrund der nachfolgenden Analysen steht, konzentriert sich vor allem auf die Ausdifferenzierung einer Konfliktstruktur im Zusammenhang ausgreifender Sequenzen einer nicht-personalisierenden, sondern vorwiegend sachorientierten Widerspruchskommunikation. 2 Hiermit ist zunächst nur soviel gemeint, dass der Widerspruch nicht (oder zumindest nicht vorrangig) auf die Identität der Beteiligten zielt.3 Alle Konfliktformen, die diese Bedingung erfüllen, werden entsprechend als Sachkonflikte (im Unterschied zu Beziehungskonflikten) klassifiziert. Beispielhaft hierfür sind etwa wissenschaftlich geführte Diskussionen, in denen sich die Widerspruchskommunikation primär am Wahrheitsmedium orientiert und Persönlichkeitsfragen - wenn überhaupt - nur metareflexiv (etwa im Kontext einer Ideologisierung von Wissen) legitim und zulässig sind. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Überlegungen stehen die Formmerkmale einer sachlich extensivierten Widerspruchskommunikation. Die tragende Annahme ist, dass die Fortsetzbarkeit des Konflikts auf der Etablierung von Themen beruht, welche die Beiträge der Beteiligten konditionieren.4 Ein Sachkonflikt ist definiert durch die Aufeinanderfolge sich wechselseitig widersprechender Beiträge zu einem Thema. Als Einzelbeiträge ergeben sie zusammen genommen eine Argumentation, die sich auf die (abweichende) Überzeugung der jeweils anderen Seite konzentriert. Hierzu müssen die Beteiligten über einen gewissen Zeitrahmen verfügen, der es ihnen gestattet, mehrere Einzelbeiträge aneinander zu schließen bzw. auf diese zu reagieren. Gemäß den Analysen des vorherigen Kapitels muss deutlich sein, dass die Standpunkte untereinander divergieren. Der Schwerpunkt der primär sachlich orientierten Widerspruchskommunikation liegt demnach in einer Kombination von Sach- und Zeitdimension. Das unterscheidet den Sachkonflikt sowohl von kurzfristigen Konfliktepisoden wie auch von der mehr an Personen orientierten Widerspruchskommunikaüon.

1

2

3

4

Für ähnliche Überlegungen zu den Ursachen von Festhaltegründen im Konflikt, vgl. Pruitt/ Rubin 1986, S. 44 ff. Im Sinne der Rapoportschen Unterscheidung also eine .Debatte', deren maßgebliches Ziel darin besteht, die Anschauung eines anderen zu beeinflussen, vgl. Rapoport 1976, S. 239. Zur genauen Unterscheidung zwischen personalisierenden und nicht-personalisierenden Konfliktstrategien, vgl. ausführlich unten, Kap. 6. Grundlegend zur Differenz von Themen und Beiträgen, vgl. Luhmann 1984, S. 213 ff.; ders. 2000, S. 59 ff.; ferner Kieserling 1999, S. 179 ff.

149 Widerspruchskommunikation und Themenstruktur Mit dem folgenden Textfragment [1] wollen wir 2unächst die generellen Strukturen einer themenbezogenen Widerspruchskommunikation dokumentieren. Dabei handelt es sich um einen Teilausschnitt aus einem Telefongespräch, in dem D mit einer ihm nahestehenden Bekannten (C) Probleme seiner Ehe erörtert:5 [1]

01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

C:

D: C:

D: C: D: C:

D:

°hh Definitely fo:r the: fifteen years I:'ve known you, (0.3) yihknow you've really bo:th honestly gone yer own ways. (0.8) Essentially:: except we've hadda good relationship at home yihknow Ye:s but, I mean its a relationship whe: re uh yihknow £a:ss the butter dear, hh (0.5) Yihknow pmake a piece (a) toa:st dear L No not really this type'ν thing. (.) We've actually hadda a real health- I think we've hadda very healthy relationship y'know.= =°hhh Why : becuz you haven't knocked each other's tee^th ou:t? (0.7) Tha_^t, a:nd we've::: hadda good communica:tion and uh: the whole- yihknow I think it's been healthy,

Das Thema dieser Telefonkonversation zwischen Freunden ist die Ehebeziehung von D, deren Qualität von diesem selbst eher besser, von C hingegen eher schlechter eingeschätzt wird. C begründet ihren Standpunkt mit drei Hinweisen: Die Ehepartner hätten noch nie zueinandergefunden (Z 01 ff.), ihre Beziehung hätte sich zudem auf oberflächliche und banale Sachverhalte beschränkt (Z 07 ff.), und die Tatsache, dass die Beziehung nicht gewalttätig wäre, sei allein noch kein ausreichender Indikator für eine warme und herzliche Bindung (Z 16 f.). Diesen offenherzig geäußerten, teilweise mit Schärfe, teilweise mit Ironie durchsetzten Herausforderungen ist D nicht immer gewachsen. Seine Versuche, den Eindruck einer zufriedenstellenden Beziehung aufrecht zu halten, wirken relativ hilflos und C's Einwänden gegenüber vergleichsweise blass. D argumentiert, dass

5

Aus; Drew 1992, S. 503 f.

150

sich seine Beziehung im Privaten (at home) durchaus zufriedenstellend und gesund' gestaltet habe und dass ,gute' Gespräche möglich gewesen seien. Dadurch, dass die Qualität der Ehebeziehung auf der einen Seite positiv, auf der anderen negativ aufgefasst wird, wird das Thema der Widerspruchskommunikation unter dem Gesichtspunkt einer Unvereinbarkeit perspektivisch verdoppelt. Diese Verdopplung ist Bedingung für alle Themen der Widerspruchskommunikation. Um als Konfliktthema gelten zu können, reicht es nicht aus, dass sich die einzelnen Beiträge auf einen gemeinsamen inhaltlichen Nenner beziehen; erforderlich ist vielmehr auch eine deutliche Abgrenzung von der jeweils anderen Position. Ein Konfliktthema schreibt den Beteiligten daher nicht nur die inhaltliche Bezugnahme, sondern mit der Ablehnung ihrer Beiträge zudem auch die Richtung vor, die sich im vorliegenden Fall an der Differenz zwischen einer guten bzw. schlechten Beziehungsqualität bemisst. Letzthin ist natürlich jedes Thema an inkongruente Perspektiven gebunden. Wäre die Sinnselektion in der Kommunikation stets identisch, so gäbe es auch keine thematische Kontinuität. Inkongruenz ist aber nicht schon gleichbedeutend mit Widerspruch und Konflikt. Vielmehr kann die Themenentwicklung auch unter den Auspizien wechselseitiger Zustimmung prozessieren.6 Demgegenüber werden Konfliktthemen ausschließlich als ein Paradox inauguriert, die sich unter dem Gesichtspunkt einer unvereinbaren Perspektivität auf besondere Weise Geltung verschaffen. Dabei sind die jeweiligen Beiträge per se schon umstritten, so dass spezifische Anstrengungen notwendig werden, damit ein Widerspruch ausgeräumt und der Konflikt beigelegt werden kann. Entsprechend konzentriert das Konfliktthema die jeweiligen Beiträge gezielt auf die Uberzeugungskraft der je eigenen Position bzw. auf die Schwächung der des je anderen. Notwendig dazu ist einerseits das dezidierte Verstehen, andererseits die Markierung einer signifikanten Differenz. Hiervon hängen Fortdauer oder Zerfall einer Konfliktsituation ab. Mehr als sonst üblich muss im Rahmen der Widerspruchskommunikation deutlich werden, in welcher Weise sich ein einzelner Beitrag auf ein Thema bezieht. Im Rahmen einer an Themen orientierten Widerspruchskommunikation heißt ,überzeugen' die Beibringung neuer, schlagender und den anderen entwaffnender Informationen. Entsprechend ist jeder Einzelbeitrag daraufhin besonders sorgfältig zu prüfen. Erforderlich ist zunächst einmal die rückwärts gewandte Orientierung in der Widerspruchskommunikation im Sinne des Verstehens einer zuvor mit6

Beispielsweise redet man über abwesende Dritte und jeder trägt eine Episode bei; oder man plant ein Abendessen mit Freunden und ergänzt gemeinsam die Liste der benötigten Utensilien. Kurz: Themen benötigen Inkongruenz, aber nicht notwendig auch die Ablehnung der anderen Perspektive; vgl. dazu auch Graumann 1990.

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geteilten Information. Zugleich erfordert der Themenbezug auch eine vorwärts gewandte Orientierung, um alte von neuen, bereits gesagte von noch nicht gesagten Inhalten unterscheiden zu können. Vorausgesetzt ist, dass ein jeder Einzelbeitrag neue Information generiert und diesbezüglich Redundanzen vermeidet.7 In diesem Zusammenhang fallt auf, dass C im obigen Beispiel die Situation unter anderem deshalb dominiert, da sie mit ihren Beiträgen deutlich ,mehr' Information generiert. Gegenüber D ist ihr thematischer Zugriff einerseits inhaltlich präziser, andererseits sozial provokant, während D's Argumentation auf relativ informationsschwache Allgemeinplätze rekurriert (good communication/ healthy relationship). Auf Grand C's pointiert platzierten Extremrhetoriken geraten diese zudem rasch in Bedrängnis: Dem gemäß sei ,gute Kommunikation' lediglich als ein Unterfall oberflächlicher Kommunikationsstrukturen anzusehen und ,gesunde Beziehung' lediglich als Verzicht auf Gewalt.8 Daher erscheine die Ehebeziehung längst nicht so gut, wie D dies behaupte. Bedingt durch die Art der Beiträge bekommt das Konfliktthema generell wie auch im vorliegenden Fall einen strukturell deutlichen ,bias' in Richtung Fortentwicklung und Expansion. Unter den vorliegenden Bedingungen wäre beispielsweise ein Themenwechsel mithin nicht bloß Themenwechsel, sondern mithin auch zustimmungsimplikativ und insofern ein Signal zur Meidung weiterer Widerspruchskommunikation; er wäre nicht nur Ausdruck der Erschöpfung kommunikativer Ressourcen, sondern spiegelte weit mehr das Bedürfnis nach Rückzug aus dem Konflikt. Entsprechend zeigt sich in den Einzelbeiträgen jeweils auch die Einstellung der Beteiligten zum Konflikt - und darüber hinausführend wiederum die Art ihrer Beziehung. Diesen Zusammenhang betrachten wir nachfolgend etwas genauer.

Achtungskommunikation Trotz der provokativen, die Selbstachtung D's herausfordernden Äußerungen entsteht bei diesem Dialog dennoch nicht zwingend der Eindruck, als wollten die Beteiligten einander absichtlich schaden. Schon eher trifft das Gegenteil zu. Zwar halten beide Seiten erkennbar an inkongruenten Standpunkten fest, jedoch fehlt der Auseinandersetzung jedwede feindselige Attitude. Sachlich bedingte Unvereinbarkeit und sodale Harmonie schließen einander nicht notwendig aus. Diesen wichtigen

7 8

Vgl. näher Tracy 1984; Wilson 1987; Foppa 1990; Bergmann 1990, S. 202 ff. Zu dieser rhetorischen Stilistik, vgl. näher Pomerantz 1986. Drew 1992, S. 495 ff. (S. 505) spricht in diesem Zusammenhang von einem ,maximal device', der mit den Mitteln der Ironie operiert und immer dann eingesetzt wird, wenn es darum geht, die Äußerungen anderer unglaubhaft erscheinen zu lassen.

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Gesichtspunkt wollen wir nunmehr vertiefen. Denn er erklärt, wie man sich auf Konflikte einlassen kann, ohne deren destruktive Folgen furchten zu müssen. Am obigen Textfragment wird zunächst einmal sichtbar, dass sich beide Seiten mit ihren Beiträgen inhaltlich eng aufeinander beziehen. Dadurch entsteht - trotz Widerspruch - eine Form der Sinnkorrespondenz, die ihre Beziehung - trotz Konflikt - bis zu einem gewissen Grade positiv stabilisiert. In diesem Zusammenhang knüpfen die jeweiligen Redezüge durchweg an die fremdreferen^ielle Sinnselektion an, um den Widerspruch zu begründen. Dieser Vorgang setzt auf beiden Seiten eine gewisse Verstehensbereitschaft bezüglich dessen voraus, was der jeweils andere mit seinen Äußerungen meint und damit ausdrücken möchte. Vor diesem Hintergrund wird nachfolgend die These vertreten, dass eine Verstehensrhetorik wichtige Sinnkorresponden^en kenntlich macht, an denen die Beteiligten ihre Bereitschaft zu Kooperation bzw. den Wunsch zur Aufrechterhaltung ihrer Beziehung ablesen können. Bei der genaueren Betrachtung des obigen Textfragments wird deutlich, dass jede Reaktion auf die vorherige Sinnzumutung ihre Verstehensabsichten deutlich markiert. An verschiedenen Stellen wird eine Teilzustimmung zum Ausdruck gebracht, mit der die Beteiligten einander ihre Bereitschaft signalisieren, sich auf die Sinn^umutung des anderen einzulassen, bevor sie ihr widersprechen. Mitteilungen dieser Art stehen typischerweise immer am Anfang des jeweiligen Redezugs, also bevor man Widerspruch äußert. Im obigen Textfragment sind dies: „Essentially::" (Ζ 05), „Ye:s but" (Ζ 07), „not really" (Ζ 11), ..Why:" (Ζ 16) und schließlich: Tha:t" (Ζ 19). Mit „Essentially:: " stimmt D an zweiter Zugposition den Inhalten zu, mit der C die Beziehung der Eheleute negativ charakterisiert; erst dann leitet seine Äußerung zum Widerspruch über (except we hadda ...). Diesselbe Funktion erfüllt auch die nachfolgende Teilzustimmung im Statement von C an dritter Zugposition (Ye:s but...); damit deutet sie an, dass sie D's Widerspruch einerseits zwar versteht, gleichwohl aber eine andere Schlussfolgerung vorzieht (I mean its a relationship whe:re...). Mit „not really " wiederum kennzeichnet D seine Ablehnung als parti/'«//, sofern sie Teilzustimmung nicht von vornherein ausschließt; dann erst leitet sein Statement zur Begründung eines Widerspruchs über (We've actually hadda ...). Im fünften Zug knüpft das den Widerspruch einleitende ..Why:" wiederum an die inhaltliche Begründung des vorhergehenden Widerspruchs an und macht das Problem der Sinnakzeptanz mittels Nachfrage für den anderen sichtbar (becu^you haven't knocked ...). Mit „Tha:_t" greift D zuletzt C's ironisierenden Widerspruch zustimmend auf, den er als Ausgangspunkt für eine (nichtironisierende) Gegenüberstellung ,recycelt'; auch hier wird zunächst Verstehen signalisiert und erst dann eine abweichende Position verbalisiert (and we've::: hadda good communication).

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Mit diesen fünf aufeinanderfolgenden Redezügen wird eine für die Widerspruchskommunikation offenbar nicht untypische Form der Ablehnung sichtbar, die den jeweils anderen in zweierlei Hinsicht instruiert: Im ersten Teil wird zunächst ein Sinnverstehen explizit, das Teilhabe resp. Verständnis für die je andere Position indiziert. Damit werden zwischen die fremde und eigene Sinnselektion - gleichsam als Puffer - Verstehens- bzw. Anerkennungssignale geschoben, an denen sich die fremdreferen^ielle Orientierung des eigenen Redebeitrages explizit dokumentiert. Gleichzeitig werden damit aber auch schon erste Vorbehalte und Zweifel zum Ausdruck gebracht, da es sich nicht um uneingeschränkte Zustimmungen handelt. Somit deutet sich schon im Vornherein an, was im zweiten Teil des Redezugs dann zur Ablehnung wird: Zeile

Teilzustimmuno·/ Verstehen

Widerspruch

05

Essentially::

except we hadda good relationship

07

Ye: s but,

I mean its a relationship where ...

11/14

not really

We've actually hadda

16

Why:

becuz you haven't knocked

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Tha:t,

a:nd we've::: hadda good communica:tion

Aus hermeneutischer Sicht ließen sich solche Sinnkorrespondenzen und die Intentionen rhetorischer Stilmittel gegebenenfalls noch weiter vertiefen. Darauf kommt es hier jedoch weniger an. Wichtiger ist stattdessen der Hinweis auf eine Form der Widerspruchskommunikation, in der ein Redezug jeweils zwei gegenläufige Absichten realisiert, die sich wechselseitig neutralisieren. Damit wiederum korrespondiert eine Erwartung, die auf das Fremdverstehen spekuliert Der häufige Gebrauch des „yihknow" (Z 02, 06, 08, 10, 15, 20) kann in diesem Zusammenhang als ein rhetorisches Stilmittel der VerständigungsSicherung aufgefasst werden, welches zugleich auch den Zumutungscharakter der eigenen Sinnselektion für den je anderen unterstreicht. Die Form einer rhetorisch explizierten Verstehenszumutung und das in den oben beschriebenen Formen explizierte Sinnverstehen verhalten sich zueinander reziprok komplementär. Diesbezüglich ist die erkennbare Bereitschaft des sich Einlassens auf den gegnerischen Standpunkt gewissermaßen Ausdruck eines rhetorisch markierten Verstehensversprechens, das die Ablehnungszumutung sozial kompensiert. In diesem Zusammenhang sind - zweitens - auch die eine Ablehnung abschwächenden Stileigenschaften der Widerspruchskommunikation relevant. Zwischen-

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geschobene disclaimer (Ζ 07:1 meati), Ζ 14, 20:1 think) reduzieren die Zumutungsrigidität mitunter beträchtlich. Sie charakterisieren die selbstreferenzielle Sinnselektion als Produkt der individuellen Wahrnehmung und Interpretation, also relativ zu der jeweiligen Beobachterperspektive. Der Status der Mitteilung wird dadurch von Objektivitäts- und Gültigkeitsansprüchen teilweise endastet und die Rigidität der Sinnzumutung dadurch entschärft. Implizit räumt ein Sprecher damit Irrtumsmöglichkeiten ein und dokumentiert zugleich seine Bereitschaft zur Revision des eingenommenen Standpunkts. Drittens schließlich wird die kooperative Grundhaltung der Beteiligten auch über die sequenziellen Eigenschaften des turn-taking deutlich. Die Zugübernahme erfolgt (mit einer Ausnahme9) durchweg an sogenannten turn-taking relevant places. Die kommunikativen Schaltstellen eines möglichen Sprecherwechsels geben sich u.a. daran zu erkennen, dass (a) das Zugende eines Beitrags verbal explizit oder implizit kenntlich gemacht wird, (b) die Einheit der entsprechenden Äußerung phraseologisch bzw. grammatikalisch vollständig ausformuliert ist, (c) das Zugende des Beitrags durch fallende Satzintonation angedeutet wird, wobei (d) mitunter Redezugpausen entstehen (vgl. grundlegend Sacks/ Schegloff/ Jefferson 1974). Aus sequenzanalytischer Sicht operiert die Widerspruchskommunikation •im obigen Textfragment redezugtechnisch durchaus korrekt und geordnet: Die Beteiligten ,übernehmen' den nächsten Redezug immer erst dann, wenn der andere das Ende seiner Äußerung zuvor kenntlich gemacht hat. Damit signalisieren sich beide Seiten ihre Bereitschaft, die Rederechtew des anderen zu respektieren - und zwar auch dann, wenn sie im Rahmen der Widerspruchskommunikation eine voneinander abweichende Meinung vertreten. Auch dies ist ein wichtiger Hinweis auf wechselseitige Verständnisbereitschaft und Harmonie: Selbst wenn die Beteiligten inhaltlich ungleiche Positionen vertreten, aßrmieren sie dennoch ein Rede%ugsystem, das die Rederechte strukturell symmetrisch verteilt. Wenn immer solche Eigenschaften der Widerspruchskommunikation nachweisbar sind, ist nachfolgend von Achtungskommunikation die Rede.

9

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Die Überschneidung in Ζ 10/11 ist deutlich mehr ein Überlapp denn eine Unterbrechung. Dafür spricht, dass die vorherige Pause in Ζ 09 eine Zugübergabe signalisiert, während der in Ζ 07 begonnene Beitrag an dieser Stelle aber noch keineswegs - weder inhaltlich, noch grammatikalisch - vollständig ausformuliert ist. Die sequenzielle Ambivalenz dieser Stelle erklärt D's Versuch einer Zugübernahme in Ζ 11, der aber gleich wieder abbricht und dessen zweiter Teil erst an der nächstmöglichen zugübernahmerelevanten Stelle in Ζ 14 weiter fortgeführt wird. Verstanden als Anrecht auf die Komplettierung eines begonnen Zugs.

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Themenbezug Die sachliche bzw. themenzentrierte Widerspruchskommunikation zeichnet sich diesen Analysen gemäß hauptsächlich dadurch aus, dass sie die soziale Beziehung unberührt lässt bzw. - trotz Widerspruch - fortlaufend positiv affirmiert. Auf dieser Grundlage erreicht der Konflikt primär sachliche Stabilität, die sich solange fortfuhren lässt, wie der Widerspruch das soziale Sinnerleben der Konfliktbeteiligten nicht infiziert. In diesem Zusammenhang ist Ablehnung vielfach nur ein Vehikel der fordaufenden Beitragsproduktion, als solche selbst aber kein Thema. Das bloße ,Nein' vermag den Konflikt zwar zu inaugurieren, ist aber für weitere Anschlusskommunikationen inhaltlich ebenso unzureichend wie inadäquat, allenfalls ein Sonderfall der Konfliktkommunikation. Ein kurzer Seitenblick auf die pure Widerspruchskommunikation macht diesbezüglich die Grenzen dieser Widerspruchsform deutlich: [2] 11 ' 01 Β: 02 R: 03 Β: 04 05 06 07 08 09

R: Β: R: Β: R: Β:

No - no. No. I h a d it first. I w a n t one. But I h a d it first. I w a n t one Barbara. I h a d it first. I w a n t it. I h a d it first.

[3] 12 01 Τ 02 Η 03 04 05 06 07

Τ Η Τ Η Τ 08 Η

W h y w e r e y o u combing Peggy's h a i r I didn't. Yes y o u were! I was not.

yesterday?

Y o u w e r e feathering it back. I was not. Y o u w e r e too. I was not. You c a n go ask

Peggy.

An dieser speziellen Form des Konflikts wird sofort erkennbar, dass es sich bei den Beteiligten um Kinder bzw. Heranwachsende handeln muss. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass die Widerspruchskommunikation auf für sie eher untypische Weise, das heißt ohne Angabe von Gründen prozessiert und Merkmale der Achtungskommunikation weitgehend fehlen. Dementsprechend gerät

11 12

Aus: Corsaro/ Rizzo 1990, S. 32. Aus: Eder 1990, S. 70 f.

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auch das ,Thema' der Widerspruchskommunikation zur bloßen Tautologie. Ohne Rekurs auf den Kontext wüsste man beispielsweise nicht zu sagen, worüber sich die Beteiligten streiten bzw. warum sie das tun.13 Stattdessen wird mit dieser Form der Auseinandersetzung primär die Unnachgiebigkeit von Standpunkten dokumentiert. Bei dieser Form der Widerspruchskommunikation wird sozusagen pure Selbstreferenz prozessiert, Hinweise auf ein Sich-Einlassen auf die fremdreferenzielle Sinnselektion sind insgesamt spärlich. Auf dieser Basis kann sich ein Konflikt nur schwerlich entfalten. Allenfalls wird damit ein symmetrischer Reaktionszyklus stabilisiert, der sich - gewissermaßen auf der Stelle tretend - inhaltsleer reproduziert.14 Ohne Begründung von Standpunkten mündet die fordaufende Widerspruchskommunikation zwangs-läufig in Redundanz. Die Kenntlichmachung inkongruenter Perspektiven allein reicht nicht aus, um den Konflikt auf Dauer stellen zu können. Ohne themenbezogene Beiträge lassen sich die Brennpunkte der Auseinandersetzung nicht konkretisieren, so dass auch keine Konflikdösung herbeigeführt werden kann. Kurz: Ohne Thema bleibt die Widerspruchskommunikation immer nur punktuell, ein Grenzfall zwischen einer episodischen und sachlich extensivierten Konfliktkommunikation. Im scharfen Kontrast dazu liegt die Sinnhaftigkeit der sachlich orientierten Widerspruchskommunikation primär in der inhaltlichen Auseinandersetzung, das heißt in auf Überzeugung zielenden Erörterungen über ein strittiges Thema begründet. Damit wird die Konfliktintensität gleich in mehrfacher Weise wirksam gedämpft. Durch erklärende oder begründende Beiträge wird die Widerspruchskommunikation einerseits zwar ständig mit neuen Sinnzumutungen unterfüttert, andererseits wird den Beteiligten zugleich ein gewisses Maß an Verstehens- und Empathiebereitschaft abverlangt. Die Ablehnung an sich wirkt allein noch nicht überzeugend, es sei denn, die Demonstration puren Durchhaltewillens ist oberstes Ziel. Demgegenüber setzt eine beidseitige Orientierung am Thema die Berücksichtigung von Gründen der je anderen Seite voraus, ohne die eine .Überzeugung' nicht gelingt. In eben diesem Konnex wurzelt die konstruktive'Kraft des Konflikts·. Um überzeugen zu können, ist es notwendig, die inhaltliche Begründung des anderen Standpunkts zugleich anzuerkennen und zu entkräften, also selbst- und fremdreferenzielle Orientierungen themenbezogen zu relationieren.

13

14

In Textfragment [2] streiten sich zwei Kinder im Vorschulalter um einen Bauklotz, in Textfragment [3] ist Eifersucht der besten Freundin das zum Widerspruch motivierende Thema. Vgl. auch Spranz-Fogasy et al. 1993, dort am Beispiel von Mutter/ Tochter-Konflikten. Pure Behauptung und Gegenbehauptung bzw. Willensbekundung und Gegenwillensbekundung sind oft an Fakten orientiert, denen es an übergeordneten Wertgesichtspunkten mangelt; das heißt es fehlt auch ein inhaltsbezogenes, substanzielles Fundament, auf das sich die Widerspruchskommunikation aufstützen bzw. aus dem sie ihre Themen ableiten kann.

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Man muss den Standpunkt des anderen zuerst verstehen, bevor man ihn erfolgreich davon abbringen kann. Die zweite, hier festzuhaltende Einsicht betrifft die Sozialdimension des Konflikts, also die Art und Weise, wie sich die Beteiligten im Rahmen der sachlich begründeten Widerspruchskommunikation aufeinander beziehen. In Textfragment [1] war zu sehen, dass, obwohl die Widerspruchskommunikation themenbezogen expandiert, sie dennoch verschiedene Stilmittel der Achtungskommunikation aufweist, mit denen man sich Respekt voreinander signalisiert. Der Gefahr, dass der Widerspruch auch die soziale Beziehung der Beteiligten ,infiziert', wird damit schon vorbeugend Einhalt geboten. Diese primär der Erwachsenenwelt zugehörigen Stilmerkmale gehen den zuletzt zitierten Textbeispielen vollständig ab. Genau darin spiegelt sich letztlich auch die Egozentrik einer kindlichen Widerspruchskommunikation wider: Beide Seiten halten ausschließlich nur an der je eigenen Sichtweise fest, unfähig, die vorliegende Differenz mit Inhalten zu überbrücken. Im Gegensatz dazu gehört es zu den grundlegenden Eigenschaften der themenbezogen motivierten Widerspruchskommunikation, dass sich die Beteiligten ihre persönliche Anerkennung und Achtung wechselseitig dokumentieren: Man ist sich uneinig in der Sache, aber dennoch an der Fortführung einer intakten Beziehung interessiert. Sachlicher Widerspruch und Beziehungsvertrauen schließen einander nicht notwendig aus. Jedoch muss erkennbar werden, dass man am Weitervertrauen festhalten will. Hierzu stehen verschiedene Möglichkeiten offen. Die vielleicht wichtigste ist, dem jeweils anderen deutlich zu machen, dass man seinen Standpunkt, bevor man ihn ablehnt, ernsthaft erwägt. Der Schlüsselbegriff hierfür ist Fremdreferen¡ζ. In der Demonstration der Verstehensbereitschaft bezüglich der fremdreferenziellen Sinnselektion äußert sich immer auch die Wertschätzung für den je andern. Für diesen Zweck hält Sprache unterschiedliche Stilmittel bereit, um diesbezügliche Absichten mitteilen zu können. Dazu greift sie verschiedene Komponenten der Zustimmung auf, die sie - gleichsam als diplomatisches Handgepäck - in die Widerspruchskommunikation integriert. Klassisch hierfür ist die Form des ja aber', die Anerkennung und Widerspruch unmittelbar nacheinander in einer einzigen Kommunikation synthetisiert.15 In dieselbe Richtung weisen schließlich auch die Eigenschaften des turn-taking in Textfragment [1]. Mit der gegenseitigen Anerkennung der Rederechte wird zugleich das Recht auf eine eigenständige Sinnselektion konzediert, und zwar auch

15

Zu dieser rhetorischen Form, vgl. ausführlich Koerfer 1979; ferner die materialreiche Untersuchung von Werfen 1980; für eine sozialpsychologische Fundierung desselben Vorgangs siehe auch Tracy 1990.

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dann, wenn der andere vom eigenen Standpunkt inhaltlich abweicht. Das ist zunächst ganz allgemein eine Frage der kommunikativen Ethik', die sich formal näher aufschlüsseln lässt. Denn die Anerkennung der Rederechte ist ein indirekt kommunizierter Achtungserweis, mit dem man das Gelingen einer sequenziell abgestimmten Kommunikation positiv sanktioniert.16 ,Ausredenlassen' bzw. .Zuhören können' sind redezugtechnisch fundamentale Eigenschaften einer prinzipiell auf Kooperation angelegten Beziehung, und zwar auch dann, wenn sie - für den Augenblick - nicht auf Konsens, sondern auf Widerspruch und Ablehnung basiert. Auch darin spiegelt sich die Anerkennung von Fremdreferenz wider: Die beteiligten widersprechen sich in der Sache, respektieren zugleich aber die Normen der Kommunikation, die ihnen strukturell gleiche Zugangschancen den Mitteln der Uber^eugung gewähren. Die beiden Grundpfeiler einer sachlich begründeten Widerspruchskommunikation berücksichtigen deshalb Aspekte der Ablehnung und der Anerkennung gleichermaßen. Vordergründig dominiert zwar die Ablehnung einer fremdreferenziellen Sinnselektion das Geschehen, sonst wäre der Konflikt nicht existent; im Hintergrund wirken aber wichtige Einflussfaktoren, die den Ablehnungsvorgang in der sozialen Sinndimension nachhaltig kompensieren. Man widerspricht entzieht dem anderen aber deswegen nicht seine Achtung; man widerlegt - konzediert aber grundsätzlich das Recht auf authentische Sinnselektion; man signalisiert gegensätzliche Werte und Interessen — hält sich jedoch an die Regeln des Uberzeugens und vermeidet ansonsten jedwede Form der Ubelzufugung. Wie immer die soziale Kompensation im Einzelfall hergestellt wird - sie blockiert den Ubergriff der Widerspruchskommunikation auf der Ebene personaler Identitäten und sichert auf diese Weise ihren Themenbezug. 17

Prozesse der Konfliktintensivierung In diesem Abschnitt werden nachfolgend verschiedene Möglichkeiten aufgezeigt, die den Konflikt im Rahmen einer themenbezogenen Widerspruchskommunikation zuspitzen und intensivieren. Dieser Fragestellung liegt die These zugrunde, dass die Extensivierung der Widerspruchskommunikation die Bedingungen ihrer Intensivierung schon in sich trägt. Die Merkmale einer in diesem Rahmen zunehmen-

Grundlegend dazu Luhmann 1978b, S. 46 f., mit dem Hinweis, das Gelingen perspektivisch integrierter Kommunikation werde durch Achtungserweise entgolten. Auf sprachliche Ethik gemünzt: Bülow 1972. In diese Richtung deuten insbesondere auch die Analysen zur argumentativen Widerspruchskommunikation einander nahestehender Personen, vgl. etwa Schiffrin 1985, S. 42 ff.; dies. 1984; Tannen 1986.

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den Konfliktintensität lassen sich entsprechend auch als Vorboten einer auf Eskalation zusteuernden Konfliktdynamik interpretieren. Empirische Grundlage der Analyse sind längere Gesprächsausschnitte aus Nachrichteninterviews bzw. aus dem Bereich der medienöffentlichen Streit- und Erwägungskultur. Auch hier wiederum wird kein Anspruch auf empirische Vollständigkeit im Sinne einer Auslotung aller nur denkbaren Varianten einer Konfliktrhetorik erhoben. Vielmehr kommt es darauf an, ein typisches Szenario innerhalb einer Prozessstufenordnung der Konfliktentwicklung (hier: des Sachkonflikts) zu vertiefen. Für diesen Zweck ist das vorliegende Material besonders geeignet. Denn den medienöffentlichen Gesprächssituationen liegt im Allgemeinen ein klar umgrenztes Thema zu Grunde, über das man von den geladenen Gästen Aufklärung erwartet. Das öffentliche Interesse zielt einerseits auf Information, nicht selten aber auch auf die Strittigkeit des fraglichen Themas. Zudem ist häufig auch eine Gesprächsdynamik gefragt, die das Thema dem interessierten Zuschauer möglichst lebendig und unterhaltsam vorführen soll.18 Nicht zuletzt sind solche Gesprächsdaten dem interessierten Wissenschaftler mühelos zugänglich, so dass auch längere Konfliktsequenzen relativ unkompliziert aufgezeichnet und reproduziert werden können. Nachfolgend analysieren wir einzelne Gesprächsausschnitte im Rahmen der sachlichen Widerspruchskommunikation. Einleitend ein Beispiel19 aus dem Bereich der Nachrichteninterviews, das die zentralen Kategorien der Widerspruchskommunikation hinreichend scharf konturiert:

18

19

Die Bereitschaft, aus Sensations- bzw. Skandalisierungsgründen auf Maßnahmen der Interaktionskontrolle bzw. Konfliktdämpfung zu verzichten, ist im Bereich der privatrechtlichen Medienöffentlichkeit vielfach schon recht hoch. Gerade bei Gruppendiskussionen sind der Konfliktdynamik kaum noch Grenzen gesetzt. Das derzeit wohl bekannteste Beispiel: Die amerikanische Talkshow von Jerry Springer, die täglich von etwa 10 Millionen Zuschauern gesehen wird. Gäste sind miteinander liierte Paare, die vor laufender Kamera peinliche .Beziehungsgeheimnisse' voreinander enthüllen. Die Umgangssprache ist oft vulgär und wird in besonders eklatanten Fällen vom Sender akustisch zensiert. Von Springer dazu angestachelt, werden die Paare oftmals handgreiflich tätig und von eigens dazu anwesenden Polizisten (außer Dienst) wieder getrennt. Der Stadtrat von Chicago erwägt infolgedessen Maßnahmen gegen die Ausstrahlung dieser Sendung, vgl. auch SÜDDEUTSCHE ZEITUNG vom 15.04.1999, S. 23: ,Bitte recht unfreundlich: Tädicher Talk bei Amerikas Schock-Moderator Jerry Springer'. Später (August 2000) war auch ein erstes Todesopfer zu beklagen, das im Zusammenhang mit den gezielt eskalativen Enthüllungspraktiken dieser Talkshow stand. Aus: Heritage/ Greatbatch 1991, S. 100.

160 [4] 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20

IR: AS:

°hhh er W h a t ' s the d i f f e r e n c e b e t w e e n y o u r M a r x i s m a n d M i s t e r M c G a h e y ' s Communism. er The difference is that it's the p r e s s that c o n s t a n t l y call m e a M a : r x i s t w h e n I do not,

(.) a n d n e v e r have

(.) IR:

AS:

er er g i v e n that d e s c r i p t i o n of myself. |-°hh L B u t I've h e a r d y o u I've h e a r d y o u ' d be v e r y h a p p y to: to: er °hhhh er describe yourself as a Marxist. C o u l d it be that w i t h a n e l e c t i o n in the o f f i n g y o u are anxious to p l a y d o w n that you're a (-Marxist. L er N o t at all M i s t e r Da:y.= A n d I'm

(.) s o r r y to say I m u s t d i s a g r e e w i t h you,= you have n e v e r h e a r d m e describe m y s e l f °hhh er as a M a : r x i s t . = I have o:nly ((continues))

Auch ohne nähere Kontextinformation wird auf Grund des Frage/ AntwortFormats, des turn-taking, der sprachlichen Stileigenschaften, aber auch durch die Inhalte schnell klar, dass sich dieser Gesprächsausschnitt im Rahmen einer Interviewsituation bewegt, die für die Öffentlichkeit in Szene gesetzt wird. Das Thema dieser Gesprächssequenz wird eingeleitet durch die Frage des Interviewers (IR), der dem Interviewten (AS) implizit eine marxistische Ideologie unterstellt, die dieser daraufhin mit Hinweis auf die fälschliche Darstellung in der Presse bestreitet. Von diesen Widerspruch werden auch die beiden nachfolgenden Beiträge thematisch beherrscht. Der Interviewer bleibt bei seiner Behauptung, indem er dem Interviewten strategische Gründe unterstellt, die ihn zwängen, seine Einstellung als Marxist zu leugnen. Dieser bestreitet jedoch auch diese Begründung und weist darauf hin, er selbst habe sich noch nie als Marxist charakterisiert. Wie schon in Textfragment [1] konzentriert sich die Widerspruchskommunikation auch hier gezielt auf die Sachdimension des Konflikts mit der ideologischen Grundhaltung des Interviewten als rahmengebendes Thema. Im Hinblick auf die Themenprogression weisen die einzelnen Redebeiträge auch hier ein hohes Maß an fremdreferetitgellen Orientierungen auf, welche die themenbezogene Kohärenz der

161 Widerspruchskommunikation garantieren.20 Grundlage dafür ist wiederum das rückwärtsgewandte Verstehen der fremdreferenziellen Sinnselektion, die im obigen Fall vornehmlich mittels einer identischen Begrifflichkeit angezeigt wird: Auf die Frage des Interviewers (What's the difference ...) beginnt der Interviewte seinen Beitrag mit einer sprachlich identischen Einleitungsformel (The difference is ...); der sich daran anschließenden Begründung (never have ... ¿iven that description) widerspricht der Interviewer mit ähnlichem Wortlaut (I've heardyou'd be very happy to: ... describe yourself... ). die wiederum die Reaktion des Interviewten begrifflich vorstrukturiert (you have never heard me describe myself...). Erneut stoßen wir auf das bereits vertraute Prinzip der Duplizierung von Sinnwelten unter dem Gesichtspunkt ihrer Ablehnungswürdigkeit. In diesem Zusammenhang ist der Rekurs auf die fremdreferenzielle Sinnzumutung ein probates Mittel der Kenntlichmachung von Differenzen, insofern der Widerspruch die inhaltlichen Gegensätze mit identischen Formulierungen negiert. Der ausgewiesene Bezug zum vorhergehenden Beitrag plus seine Ablehnung kehrt die Unvereinbarkeit in der Sinnselektion zwischen den Sprechern besonders deutlich hervor, so dass sich - wie im vorliegenden Fall - zuletzt zwei Tatsachenbehauptungen gegenüberstehen, die sich inhaltlich widersprechen (AS: never have ... given that description - IR: But I've heardyou'd... describe yourself - AS: never heard me describe myself). Andererseits ist die fremdreferenzielle Orientierung in den eigenen Beiträgen wiederum Ausdruck der themenbezogenen Zusammenarbeit. Beide Seiten arbeiten gemeinsam an der Aufklärung eines strittigen Themas mit deutlich erkennbarer Verstehens- und Widerspruchsintention. Mit Bezug auf die fremdreferenzielle Sinnselektion besteht eindeutig Konflikt, mit Bezug auf das Thema hingegen dominiert eine kooperativ strukturierte Interaktion den Austausch von Argumenten. Ein zweiter Gesichtspunkt desselben Sachverhalts spiegelt sich im turn-taking der Widerspruchskommunikation wider. Im vorliegenden Fall vollzieht sich die Widerspruchskommunikation durchweg im Rahmen einer interviewtypischen Paarsequenzierung von Frage und Antwort. 21 Darüber wird die Zuteilung von Mitteilungsformen und -chancen schon vorab rollenspezifisch verteilt. Die Widerspruchskommunikation ist also insoweit restringiert, als die Ablehnung einer Sinnzumutung im Format von Frage und Antwort kommunÌ2Ìert werden muss. 22

20

21

22

Vergleichbare Befunde zeigen sich auch in den Analysen von Schiffrin 1984, bes. S. 324; ferner Lee/ Peck 1995 S. 36 ff. Dazu näher Heritage/ Greatbatch 1991, S. 97 ff.; ferner Drew/ Heritage 1992, S. 39, mit dem Hinweis, dass sich .Verhalten' in institutionellen Settings zum überwiegenden Teil in Form von Frage und Antwort vollzieht. Vgl. dazu auch unten die Analysen zur Anschuldigungskommunikation im gerichtlichen Setting.

162

Der Interviewer beispielsweise muss seine Widersprüche so organisieren, dass er sie in Frageform mitteilen kann; der Interviewte hingegen ist gezwungen, seinen Widerspruch als eine Antwort zu etikettieren. Im vorliegenden Beispiel gelingt dies auf beiden Seiten problemlos. Auf der Ebene der Paarsequenzierung von Frage und Antwort verhalten sich beide Seiten ihren Rollen gemäß und zudem kooperativ. Entsprechend reagiert der Interviewte immer erst dann, wenn die Frage vollständig ausformuliert vorliegt und nicht etwa schon auf ein frageeinleitendes Statement23 (Z 10-12), das den eigentlichen Widerspruch transportiert (I have heard you'd be very happy to: to: er "hhhh describe yourself as a Marxist). Umgekehrt nimmt der Interviewer Rücksicht auf den schrittweisen Aufbau von Informationen im Mitteilungsrahmen der nachfolgenden Antwort - die (wie in Ζ 16 ff.) zunächst formal mit einer Ablehnung beginnt (Not at all), die Ablehnung sodann (metakommunikativ) reflektiert (And I'm sorry to say that I must disagree with you) und schließlich den abweichenden Standpunkt inhaltlich ausführt (you had never heard...), bevor sie mit einer Begründung des Standpunkts beginnt (I have o:nly ...). All dies geschieht ohne Unterbrechung des anderen. Dabei fällt auf, dass die Zugübernahme rasch und ohne dazwischenliegende Pausen erfolgt, die einzelnen Beiträge also schnell aufeinander reagieren. Inwiefern die hohe Anschlussgeschwindigkeit hierbei ein sichtbarer Ausdruck bereits erhöhter Konfliktintensität ist, oder ob es sich eher um ein redezugspezifisches Phänomen der Interviewsituation handelt24, können wir an dieser Stelle nicht entscheiden. Ungeachtet dessen dominiert in Bezug auf den Sprecherwechsel Einverständnis und Harmonie, was ein weiterer Hinweis darauf ist, dass sich die Beteiligten hinsichtlich ihrer Rederechte akzeptieren. In diesem Zusammenhang kommen auch die rhetorischen stilistischen Formen gegenseitiger Achtungseiweise wieder in den Blick. Beim ersten Hinsehen unterscheiIn der ethnomethodologischen Terminologie spricht man in Anlehnung an einen Vorschlag von Graham Button von einer ,question delivety structure' bzw. ,question prefactory statements', vgl. näher Heritage/ Greatbatch 1991, S. 99; dazu auch Clayman 1988, S. 475 ff., wo zwischen 'statement formatted turn components' und 'question formatted turn components' unterschieden wird. Fragen müssen typischerweise zuerst eine Relevanz konstituieren, auf die sie Bezug nehmen können, um klar zu machen, welche Information damit nachgefragt wird. Solche ,question prefaces' werden nachfolgend durch den Terminus .frageeinleitendes Statement' übersetzt. Letzteres wird häufig behauptet: In der Interviewsituation werde die Präferen^Jür Dissens als eine Erwartungsstruktur schon vorab etabliert und der Konflikt über die strukturelle Asymmetrie in der Zuteilung von Rederechten wieder eingefangen und kontrolliert. Unter diesen Rahmenbedingungen erfolge die Ablehnung weder zeitlich verzögert noch sachlich gemildert. Man kann sich aber auch vorstellen, dass begrenzte Zeitkontingente das Reaktionstempo im System der Zugübernahme ebenfalls steigern; denkbar wäre darüber hinaus, dass auch die inhaltlich klare Beschränkung auf ein Thema oder der antizipierte Erwartungsdruck des für die Medienöffentlichkeit bestimmten Gesprächs die Reaktionsgeschwindigkeiten erheblich beeinflusst.

163 det sich der obige Gesprächsausschnitt von Textfragment [1] vor allem durch das Fehlen solcher Äußerungs formen, mit denen man den Beitrag des anderen inhaltlich würdigt. Anders als dort werden hier keine Teilzustimmungsmarkierer verbalisiert (Essentially::, Y:es but etc.,), die Ablehnung erfolgt insofern uneingeschränkt und direkter. Ferner enthalten sich beide Seiten einer Rhetorik, mit der man die eigene Sinnselektion unter Vorbehalt stellt bzw. ihren Zumutungsgrad abschwächt oder ganz neutralisiert (I mean; I think). Auch die Signale der Verständigungssicherung fehlen (yihknow). All dies zusammengenommen lässt die Widerspruckskommunikation hier härter erscheinen, die Standpunkte unnachgiebiger und die Begehung %wischen den Beteiligten formeller. In gewisser Weise gibt es dafür jedoch anderweitig Ersatz, der dem persönlich distanzierteren Verhältnis in diesem Setting auch eher entspricht. In der Äußerung an dritter Zugposition (Z 10-11) markiert der Interviewer den im ,question preface' eingebetteten Widerspruch nicht als Selbst- (I mean), sondern als Drittreferenz (I've heard), was ebenfalls Vorbehalt signalisiert und den Zumutungscharakter der betreffenden Ablehnung entsprechend entschärft. Ferner wird die Frage, die an das frageeinleitende Statement im selben Redezug anschließt, zudem als Möglichkeit verbalisiert (Could it be ...); damit bleiben dem Interviewten verschiedene Wahlmöglichkeiten offen, unter anderem die, ob er seine Reaktion vornehmlich als Antwort oder als Widerspruch etikettiert - wobei er sich im vorliegenden Fall letztlich für die ablehnungsintensivere Variante entscheidet: Der Interviewte widerspricht hier nicht nur, sondern verstärkt die Sinninkongruenz im Kontrast zur vorhergehenden Frage (not at all Mister Day). Dabei zeigt er sich in einer Weise resistent, die zu erkennen gibt, dass er keinen Widerspruch duldet (you have never heard me describe...). Gleichzeitig wird die Schärfe der Ablehnung mit einer förmlichen Entschuldigung kompensiert (Andh'm (.) soriy to say 1 must disagree with you). Auch wenn die gegenseitigen Achtungserweise quantitativ wie qualitativ geringer ausfallen als noch in Textfragment [1], so werden die geltenden Konventionen der Höflichkeit dennoch soweit berücksichtigt, dass erkennbar wird, dass sich beide Seiten trotz ihrer - an Schärfe zunehmenden - Ablehnungen um eine akzeptable Form der Beziehung bemühen. Allerdings ist im obigen Gesprächsausschnitt die Widerspruchskommunikation nicht mehr im selben Ausmaß vom ,Präferenzmuster für Zustimmung' bestimmt. War die Widerspruchskommunikation in Textfragment [1] noch deutlich mehr von rhetorischen Verzögerungen und Abschwächungskomponenten durchsetzt, so erweckt der obige Gesprächsausschnitt demgegenüber einen anderen Eindruck. Das Nachrichteninterview zeigt bereits deutlich mehr Merkmale einer auf Konfrontation ausgerichteten

164

Interaktionssituation: Die Ablehnung erfolgt rasch, direkt und inhaltlich eher rigide. Die thematisch auf Verstehen, sequentiell auf die Rede^ugorganisation und rhetorisch auf Achtung belogenen Merkmale der Widerspruchskommunikation gelten uns nachfolgend als interaktiv signifikante Gradmesser der Konfliktintensität. An ihnen wird sichtbar, wie sich die Beteiligten im Konfliktfall bezüglich der Inhalte, der Mitteilungsformen sowie im Hinblick auf ihre Beziehung zueinander verhalten. An ihnen spiegeln sich ferner die zentralen Elemente des sachlichen, zeitlichen und sozialen Sinnerlebens in einer Konfliktsituation wider. Sie reflektieren die unterschiedlichen Ebenen einer selbstreferenziellen Sinnselektion und ablehnend darauf bezugnehmender Reaktionen. Dementsprechend blieb der Widerspruch bislang inhaltlich auf das jeweilige Thema bezogen, die Ordnung des turn-taking hingegen davon weitestgehend unberührt. Ferner haben die Beteiligten sichtlichen Wert auf den Umstand gelegt, dass die Widerspruchskommunikation nicht auch die soziale Beziehung .infiziert'. Damit zeichnet sich zugleich schon in Umrissen ab, wo die den Konflikt intensivierenden Steigerungspotenziale liegen. Diese wollen wir nunmehr anhand einer etwas längeren, thematisch abgeschlossenen Interviewsituation genauer analysieren.

Rather contra Bush - eine Fallanalyse Am 25. Januar 1988 brachte der Nachrichtensender CBS in den Abendnachrichten ein live-Interview zwischen Nachrichtenreporter Dan Rather und dem damaligen Vizepräsidenten und Präsidentschaftskandidaten George Bush. Dem Interview ging ein fünfminütiger, von Rather konzipierter und kommentierter Videobeitrag voraus, der suggerierte, dass Bush über die illegale ContraWaffenlieferung Bescheid gewusst, diesbezüglich gegenüber der Öffentlichkeit aber falsche Angaben gemacht hätte. Diesen Videobeitrag verfolgte Bush zeitgleich wie die Zuschauer dieser Sendung unmittelbar vor dem Interview auf einem kleinen Monitor seitlich auf seinem Bürotisch. Während Rather das unmittelbar daran anschließende Interview hauptsächlich auf die Glaubhaftigkeit früherer Äußerungen von Bush zu seiner Rolle bei den Waffenlieferungen fokussierte, fühlte sich Bush von der CBS in seinen Absichten getäuscht, da der Sender ihn anscheinend glauben gemacht hatte, das Live-Interview bezwecke ein ,Politiker-Profil' im Zuge der amerikanischen Präsidentschaftsvorwahlen. Weniger seiner politisch spektakulären Inhalte wegen als auf Grund seiner sprachlichen .Turbulenzen' war das Interview Grundlage und Gegenstand des Interesses verschiedener konversationsanalytischer Untersuchungen und wurde

165 unter verschiedenen Fragestellungen ausfuhrlich kommentiert. 25 Im Kontext unserer Analysen einer primär sachlich orientierten Widerspruchskommunikation bietet es geradezu mustergültiges Anschauungsmaterial für die Mechanismen einer themenbezogenen Konfliktintensivierung im System der Redezugorganisation von Frage und Antwort. Es zeigt im Detail, wie der geordnete Ablauf im Rahmen einer durch Frage- und Antwortsequenzen strukturierten Interviewsituation schrittweise kollabiert und die Redezugorganisation selbst zum zentralen Schauplatz wechselseitiger Ablehnungen wird. Der Beginn dieses Interviews im Anschluss an den Videobeitrag wird von Dan Rather thematisch wie folgt eingeleitet: [5] R: ...Today, Donald Gregg still works inside the White House as Vice President Bush's trusted advisor. ((Ende des Videobeitrags; Beginn der Live-Übertragung)) (1.0)

0 0 1 R: °hh Mister Vice President, thank you for being with us toni:ght, °hh Donald Gregg still serves as your 002 trusted advisor, he was deeply involved in running 003 arms to the Contras, en' he didn't inform you. °hhh 004 Now when President Reagen's (0.2) trusted advisor: 005 Admiral Poindexter: (0.6) failed to inform HIM::, 006 (0.8) the President-(0.2) fired him. (0.5) Why is 007 Mister Gregg still:: (°) inside the White House 'n 008 still a trusted advisor. 009 010 B: Because I have confidence in him, (0.3) 'n because this matter, Dan:, as you well know :, .... 011 ((continues))

An dieser Eingangssequenz zum Live-Interview ist zunächst zu sehen, wie der Interviewer das übergreifende Thema der Widerspruchskommunikation (Wissen/ Nicht-Wissen des Vize-Präsidenten um illegale Waffenlieferungen) inhaltlich aufbereitet und thematisch fur die nachfolgende Frage präzisiert: Mit dem frageeinleitenden Statement kennzeichnet Rather das übergreifende Thema des

Vgl. beispielsweise das konversationsanalytische .Gemeinschaftsunternehmen' in Research on Language and Social Interaction 22 (1988/ 1989), S. 213 ff., bei dem sich mehrere namhafte konversationsanalytische Forscher ausfuhrlich auf dieses Interview beziehen; einleitend zu den Hintergründen des Interviews, vgl. Pomerantz; zu den daran anschließenden Analysen, vgl. Schegloff; Clayman/ Whalen; Nofsinger; Pomerantz. Im Anhang findet sich dort zudem die vollständige Wiedergabe von Rathers Kommentierung im Videoclip wie auch der vollständige Text des Live-Interviews, auf dessen Transkriptnotation und Zeilenzählung sich die folgenden Textausschnitte beziehen.

166

Interviews zunächst als ein logisches Paradox: Wenn - wie behauptet - der Vizepräsident über die Waffenlieferungen an die Contras nicht rechtzeitig informiert wurde, warum entlässt er dann nicht seinem Berater, der ihn darüber uninformiert ließ? Im logischen Umkehrschluss macht Rather damit implizit die Unglaubwürdigkeit des Vize-Präsidenten zum Thema: Wenn der Berater des Vizepräsidenten sein Amt weiterhin innehat, dann ist er notwendig auch seinen Pflichten nachgekommen und hat Bush (pflichtgemäß) von den Waffenlieferungen informiert, so dass dieser - entgegen seinen früheren Aussagen - davon im Bilde war. Vor dem Hintergrund des dem Interview vorangestellten Videobeitrags hat Rather mit dem frageeinleitenden Statement zwischen sich und Busch insofern einen Widerspruch etabliert, in dem Missverständnisse schon von vornherein logisch ausgeschlossen wurden. In dieser Form verfolgt das frageeinleitende Statement also vornehmlich den Zweck, die Zweifel an Bush' Glaubwürdigkeit für den Fernsehzuschauer hinreichend deutlich zu markieren.26 Dass Rathers Einleitung darauf angelegt ist, den Konflikt zu perpetuieren, versteht sich demnach von selbst. Trotz der opponierenden ,Absicht' des frageeinleitenden Statements verhält sich Bush zu diesem Zeitpunkt gleichwohl noch kooperativ. Zum einen knüpft seine Antwort an die fremdselektierten Frageinhalte an (R: Why is ..Β: Because I...), zum anderen führt sie aber auch darüber hinaus, indem sie mittels einer sehr ausführlichen Begründung (Z 010-042) den Vorwurf unwahrer Aussagen zu entkräften sucht. Dass Bush die konnotierten Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit in Rathers frageeinleitendem Statement vollständig erfasst, wird auch an den folgenden Gegenbeschuldigungen deutlich: Die in dem Videobeitrag ausgebreiteten Unterstellungen würden zu Unrecht seine persönliche Integrität untergraben und das sei „outrageous" (Ζ 016); ferner habe die CBS ihn getäuscht und unter dem Vorwand eines Wahlkampfinterviews zu dieser Live-Ubertragung bewogen: [6] 010 B:

Because X have confidence

011

t h i s m a t t e r Dan:, as y o u w e l l k n o w : ,

in him,

012

k n o w : , h a s b e e n l o o k e d at b y °hh t h e t e n m i l l i o n (.) S e n a t e

( ) 'η b e c a u s e 'n y o u r

editors

013

dollar study b y the

014

b e e n l o o k e d at b y t h e T o w e r C o m m i s s i o n ,

'n t h e H o u : s e , ° h h

015

Rodriguez testimony that y o u put on here I just

016

it's outrageous,

because he was totally

it's

°hh t h e think

vindicated,

(...)

26

Über die diesbezüglichen Techniken der Sichtbarmachung von Skepsis, vgl. näher Pomerantz 1988/ 89, S. 299 ff.; grundlegend ferner Pollner 1987, S. 69 ff., der zeigt, wie widersprüchliches Realitätserleben (,reality ¡¡¡¡junctures') sozial konstituiert und wieder aufgelöst wird.

167

024 025 026

Don Gregg w- worked for me:, °hh because I don't think he's done anything wro:nq °h an' I think if he ha:d, this exHAUstive examination, °hh that went

034 035 036 037 038 039 040 041 042

Mister Nick Brady, ( ) and HE has said that- (.) my (.) version is corre:ct, °hh and so I find this t' be a rehash°hh and a li :ttle bit(.)if you will excuse me a misrepresented- tation on the 2 a r t of CBS who said you're doin' political profiles °hh on all the candidates, °h and then you- (0.2) come up with something that has been exhaustively looked into. (0.3)

Es ist vor allem das Sich-Einlassen auf eine thematisch fremdreferentçelle Sinnselektion, wodurch Bush zunächst sachlich bzw. themenbezogen kooperiert. Zweitens kooperiert Bush auch unter den institutionell vorgegebenen Formgesichtspunkten der Kommunikation im Rahmen der Paarsequenzierung von Frage und Antwort. Obwohl die ablehnungsimplikativen Inhalte in Rathers einleitendem Statement zumal vor dem Hintergrund des Videobeitrags - bereits hinreichend deutlich geworden sind, wartet er zuerst die Ausformulierung einer förmlich vollständigen Frage ab, bevor er den eigenen Redebeitrag beginnt. Auf der anderen Seite hält sich der Interviewer ebenfalls an die Norm: Trotz der sehr ausfuhrlichen, über die unmittelbare Frage hinausführenden Antwort übernimmt auch er erst wieder an einem turn-taking relevant place die Initiative.27 Drittens schließlich wahren beide Seiten die konventionell-höfliche, auf gegenseitige Achtungserweise feiende Form im Konflikt. Rather beginnt das Interview mit einem distanzierten Höflichkeits- und Dankeserweis (R: Mister Vice President, thank you for being with us tonightj, während Bush eingangs mit einer vertraulichen Anrede (Β: ... 'η because this matter, Dan:. ...) ein gewisses Maß an sozialer Nähe suggeriert. Teilzustimmungsmarkierungen wie noch in Textfragment [1] (Essentially;yes, but) fehlen dagegen. Des öfteren finden sich aber disclaimer β think; I find, so in Ζ 015, 025, 035), die im Zusammenhang mit einer Gegenbehauptung bzw. Gegenanschuldigung die Schärfe der Widerspruchskommunikation erkennbar neutralisieren - so auch gegen Ende des Statements (Z 035-036), als Bush seinen Vorwurf erneuert, von der CBS über den wahren Zweck des Interviews getäuscht worden zu sein; mit zwei Abschwächungspartikeln (Ifind this ... a li:ttle bit)

Erkennbar daran, dass (a) die Argumentation Bush' redundant zu werden beginnt, (b) die letzte Äußerung seines Statements grammatikalisch vollständig ausformuliert ist, (c) die Satzintonation deutlich abfallt und (d) eine kurze Redezugpause anschließt: „... then you- (0.2) comi up with something that has been exhaustively looked into. (0.3) ".

168

und einer rhetorischen Entschuldigungsfloskel (ifyou'll excuse) wird der sachliche Gehalt der Anschuldigung sozial graduell kompensiert. Offensichtlich ist, dass die Thematik dieser Interviewsituation (Glaubwürdigkeitszweifel des zu befragenden Präsidentschaftskandidaten) die Widerspruchsinteressen beider Seiten nachhaltig präjudizieren. Entsprechend ist auch die Rollenverflechtung in diesem Nachrichteninterview nicht ohne Brisanz. Zum einen steht Dan Rather persönlich für den Inhalt des den Vizepräsidenten belastenden Videomaterials, zum anderen nimmt er aber auch die Rolle eines distanzierten Interviewpartners ein, die formell Neutralität für sich reklamiert.28 In umgekehrter Weise ergibt sich dieselbe Problematik fur Bush, der sich entscheiden muss, ob er seine Antworten an Rather eher in seiner Rolle als Konfliktgegner oder eher in seiner Rolle als Interviewpartner adressiert. Unter Formgesichtspunkten orientieren sich die beiden jeweils ersten Redebeiträge deutlich an einer Interviewsituation. Dass dies nicht so bleibt, wollen wir nachfolgend im Hinblick auf die dafür maßgeblichen Darstellungsebenen Thema, turn-taking und Achtungskommunikation eingehend zeigen.

Themenbezogene Konfliktintensivierung An die von Bush zuletzt geäußerte Sinnzumutung knüpft Rather eher beiläufig an und leitet dann - rhetorisch nicht ungeschickt - thematisch über zu „the re cord":29 [7] 043 044 045 046 047 048 049 050 051 052 053 054 055 056

28

29

R

Β

Mister Vice President what (.) we agreed to or didn't agree to I think- you will- agree fer the moment, °hh can be dealt with in another way, Let's talk about the record. You say that we' pve misrepresented your record '-Let's talk about the full record.

(.) R Β R Β R Β

Let's talk about the record. If wepve misrepresented^ L Yeah =your record in any way, (.) here's a chance t' set it straight. Right, pi just set it straight on one count, because= LNOW (for-) =you impli::ed, from that °hh uh:m little (.) thing,

Die Techniken der Kenntlichmachung einer (formell) neutralen Haltung von Nachrichteninterviewern wurden insbesondere von Clayman 1988 und ders. 1992 analysiert. Bezugnehmend auf die Inhalte von ,record' bzw. fall record' vgl. näher Nofsinger 1988/89, insbes. S. 278.

169 057

I'd- I have a little monitor sitting on the side

058 059 060

here, °h that I didn't tell thuh tru:th. Now °h this 'ez all been looked into. (0.2)

In diesem Interviewausschnitt bahnt sich erstmals sehr deutlich die Strittigkeit des zu verhandelnden Themas an. Die bislang stillschweigende Ubereinkunft über das Thema der Widerspruchskommunikation wird nicht mehr weiter kontinuiert. Anders als in den bisherigen Gesprächsausschnitten -wird der thematische Fokus - im Unterschied zu den Unteraspekten des Themas in den einzelnen Beiträgen - nunmehr selbst zum Thema der Widerspruchskommunikation: 046 R: 048 Β: 050 R:

Let's Let's Let's

talk about talk about talk about

the record. the full record. the record.

Das Ringen um die Agenda wird nachfolgend noch verschärft und an zwei weiteren Stellen zum - metareflexiven - Thema der Widerspruchskommunikation (Z 77-80; Ζ 267-276). Dabei wird deutlich, inwieweit die Kontrolle des übergreifenden Themas die Thematik der Widerspruchskommunikation insgesamt kontrolliert: [8] 076 077 078 07 9 080 081 082

R: B: R: B: R: B:

083 R:

=Well Mister Vice Preside [-nt we wanna talk about the re |-cord on= L L Yes Well let's =this, °hh because itWell let's talk ab r out the full record, thats what I l"th- the framework he::re, is that wanna |-talk about Dan L

one third of-

one third of the Republicans

((continues))

Die Auseinandersetzung um das Rahmenthema der Interviewsituation spiegelt gewissermaßen den wahren Interessensgegensatz wider, der im Laufe des Interviews auf beiden Seiten zunehmend an Bedeutung gewinnt. Bush möchte sich in dieser Sendung als Präsidentschaftskandidat profilieren, Rather hingegen ist vornehmlich am Nachweis einer Beteiligung an illegalen Waffengeschäften interessiert. Unter diesen Umständen sinkt die Bereitschaft zur Orientierung an der fremdreferenziell konstituierten Sinnselektion auf beiden Seiten beträchtlich. Die Beteiligten sind nicht länger bereit, themenbezogen zu kooperieren - was sich unter anderem daran zeigt, dass kein einziger Einzelbeitrag mehr ungestört passiert. Das gilt vor allem für die themengenerierende Funktion des frageeinleitenden Statements. In dem Maße, wie dieses den Informationsbedarf der daran anschließen-

170

den Frage begründet, wird das frageeinleitende Statement zum Kampfplatz hinsichtlich der Etablierung und Fortschreibung des Themas. Je früher dabei die Intervention, umso weniger Raum bleibt dem Interviewer für die Konkretisierung. In Textfragment [8] beispielsweise interveniert Bush zum frühestmöglich denkbaren Zeitpunkt (Z 078), sobald nur ersichtlich ist, dass Rather erneut auf das ihm missliebige Rahmenthema fokussiert. Rather seinerseits interveniert (Z 081), sobald er erkennt, dass Bush ihm damit die Themenfesdegung streitig zu machen versucht. Ein anderes Beispiel ist Textfragment [9]. Darin zitiert Rather eine frühere Aussage von Bush (outta thuh loop), die ihm als inhaltlicher Bezug der nachfolgenden Frage dient: [9] 146 R: 147 148 149 B: 150 151 B:

=he s a i d h i m s e l f he was > o u t t a t h u h loop. Nut^engesichtspunkten interpretiert und mit entsprechenden Attributen versehen. Generell wird die Verantwortungszuschreibung in beiderlei Hinsicht praktiziert.3 Anschuldigungen werden jedoch nur dann in Erwägung gezogen, wenn man den fraglichen Sachverhalt unter Wert-, Norm- oder Erwartungsgesichtspunkten nicht positiv, sondern negativ evaluiert. Unter diesen Voraussetzungen wird der Sachverhalt dann als ein Schaden, als Enttäuschung oder zumindest als ein Nachteil erfahren. In der So^ialdimension des Sinnerlebens schließlich ist für die Anschuldigung die Unterscheidung zwischen Ego und Alter konstitutiv. Zwar ist die Verantwortungszurechnung auch hier wieder prinzipiell in beide

So auch (aus sozialpsychologischer Sicht) Shaver 1985, mit der Feststellung: "An assignment of blame is a social explanation. It is the outcome of a process that begins with an event having negative consequences, involves judgements about causality, personal responsibility, and possible mitigation" (S. VII und S. 4), und ausführlich S. 30 ff. bezüglich den Konstruktionsprinzipien einer Verantwortungszuschreibung, die sich im Kern mit denen aus Pomerantz' diskursanalytischer Untersuchung decken. An dieser Schnittstelle von Wahrnehmung, Verhalten und Kommunikation treffen auch verschiedene, für die nachfolgenden Überlegungen nicht unwichtige Theoriestränge zusammen; erstens die der - klassischen und neueren - sozialpsychologischen Attributionstheorie, vgl. etwa Jones et al. 1971; Harvey/ Weary 1984; zweitens die der soziologischen bzw. sozialpsychologischen ,Account'-Theorie, vgl. beispielsweise Scott/ Lyman 1968; Cody/ McLaughlin 1990; Harvey/ Weber/ Orbuch 1990; und drittens schließlich die der Diskursanalyse und Ethnomethodologie. Dabei ist interessant zu sehen, wie sich mit fortschreitender Wissensakkumulation die Forschungs- und Theorieinteressen im Laufe der Jahre verlagern: von der intrapersonellen zur interpersonellen Kausalperzeption, von dort zu ihrer Verbalisierung und weiter zu Phänomenen einer - bilateralen - Diskursivität; in Bezug auf letztere, vgl. näher Edwards/ Potter 1992; Buttny 1993; Antaki/ Widdicombe 1998. Im Falle erfreulicher Ereignisse, unter Nutzengesichtspunkten also, mündet die Zurechnung dann in Lob, Komplimente, Ordensvergaben u.a.m.

189

Richtungen möglich4, relevant für den Konfliktprozess ist aber primär die Verantwortungszurechnung auf ein anderes Ego. Die systemtheoretischen Kategorien der Sinnverarbeitung und die konversationsanalytischen Kategorien der Anschuldigungskommunikation liegen insofern eng beieinander, als die Anschuldigung hier wie dort das Produkt einer mehrdimensionalen Sinnselektivität ist, die den fraglichen Sachverhalt sachlich unter dem Gesichtspunkt eines Schadens (unhappy inädent), zeitlich unter dem Gesichtspunkt eines Anfangs (antecedent action) und sozial unter dem Gesichtspunkt eines anderen Ego (actor-agent) registriert. Die sachlichen, zeitlichen und sozialen Sinndimensionen verschmelzen im Kontext der Verantwortungszurechnung zu einer feststehenden Trias der Sinnselektion, die, wird sie unvollständig oder lückenhaft kommuniziert, beinahe zwingend Nachfragen hervorruft: [l]5 01

N:

My f : f a c e

02

H:

=°W't-

03

(.)

04

Oh w h a t ' d ' e

hurts,=

do t i h

you.

Unerfreuliche Vorfälle wecken in Bezug auf ihr Zustandekommen kognitives und vor allem auch soziales Interesse: Wer ein unhappy incident verbalisiert, das sich von gängigen Normalitätsunterstellungen signifikant unterscheidet (Gesichter schmerzen nur im Ausnahmefall), ohne gleichzeitig auch über sein Zustandekommen Auskunft zu geben, kommuniziert kausal gesprochen eine Lücke: Das Gesicht schmerzt, aber warum? Im vorliegenden Fall ist H's Reaktion bereits die vorweggenommene Verantwortungsattribution, sofern sie ein Selbstverschulden suggeriert. Darin wird eine antecedent action erwogen (do tihyou) und diese auf einen actor-agent attribuiert (e — you ).

Anschuldigung und Widerspruchskommunikation Mit den nachfolgenden Analysen eines längeren Textfragments 6 wollen wir die charakteristischen Merkmale der Anschuldigungskommunikation nunmehr eingehender analysieren:

4 5 6

Wie man bekanntlich auch zwischen Selbst- und Fremdverschulden differenziert. Aus: Pomerantz 1978a, S. 117. Aus: Pomerantz 1978a, S. 115.

190

[2]

01

Ζ:

Jesus it's freezin outhh.

02 03 04 05 06 07 08

D: Ζ: D: Ζ: D: Ζ:

09

D:

I know I went u p to the (-Computer C e n t e r beforehh, L ((cough)) Do m y ho [-meL What? I h a d d a do m y h o m e w o r k assignment. 0 : h yeah. A n h h I went u p t h e r e 1 η it was freezing co:Id, a n the s t u p i d thing was closed. pi was L Tuhnight? - p i s s t i h |-h L I thought it was o p e n o n Friday night (.

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

Ζ: D: Ζ: D: Ζ:

O h well. Y e h that's what y i h t o l d me, thanks a lot h a h a |-hhh L N:o no last semester they kept o p e n on Friday night.

28 29

Ζ:

(1.0) Y e a h well a p p a r e n t l y u : h h h (1.0) time r e q u i r e m e n t s 've c h a n g e d b u t u h (1.0) M y p r o f e s s o r didn' even 1 - l e t m e know what de h o u r s wuh.(0.8) (Y)erah L-Very n e g l i g e n t o n his p a r t I m u s t rsay •-He p r o b ' l y d o e s n ' know h i m s e l f

30 31

D:

(0.5) Y e a h he looks like an idiot.

D:

Ζ: D:

Die einzelnen Komponenten der Anschuldigungskommunikation sind in diesem Textfragment relativ einfach zu identifizieren. Ausgangspunkt ist D's erfolgloser Gang durch die Kälte zum Computer-Zentrum der Universität (unhappy inädent)·, die Erwartung, dort eine anstehende Aufgabe erledigen zu können, wird enttäuscht, das Zentrum hatte geschlossen. Die Unerfreulichkeit dieses Sachverhalts wird gleich auf mehrfache Weise kenntlich gemacht (Z 09: freeing co:ld\ Ζ 10: stupid thing, Ζ 10 f.: 7 was pisstihh). Dabei bleibt die Frage der Verantwortlichkeit vorläufig noch offen. Wir kennen das Ergebnis, nicht aber die Ursache des misslungenen Unterfangens. Erst im Anschluss an Z's Mutmaßung, dass das Zentrum Freitag Abend eigentlich hätte geöffnet sein müssen (Tuhnieht? I thought

191

it was open on Friday night), vervollständigt D den Anschuldigungssachverhalt: 'Yeh that's whatyih told me". Mit dieser Erklärung wird dem unhappy inrídent eine Kausalstruktur zugrunde gelegt, die für die Wirkung eine Ursache bezeichnet: Der fragliche Sachverhalt hätte sich nicht ereignet, hätte Ζ nicht die falschen Öffnungszeiten genannt. Dabei steht Ζ für den actor-agent (yih) in der Anschuldigungskommunikation und seine Falschinformation (told me) für die antecedent action. Durch kausale Vorschaltung der Falschinformation wird das unhappy incident zum zeitlich nachgeordneten consequent event einer Handlung. Das Verhalten des anderen geht dem Schaden somit kausal-ursächlich voraus. Diesen Einsichten zufolge artikulieren Anschuldigungen Wahrnehmungen sozialer Kausalität, also von identifizierbaren Entitäten in Gang gesetzten Ursache/ Wirkungs-Beziehungen. Sie sind Ausdruck einer epistemischen Suche nach den Ursachen einer negativen Erfahrung, die nach einer Erklärung verlangt: Was ist die Ursache? Wer ist verantwortlich? Wen trifft die Schuld?7 Wer ein Schadensereignis verursacht, setzt sich insofern moralischen Urteilen aus, die seine Achtungswürdigkeit unterminieren. Anders als die Ablehnung, die Wertungen nicht zwingend erfordert, benötigt die Anschuldigungskommunikation implizit eine moralische Sinnselektion (gut/ schlecht), da sonst die Unerfreulichkeit des unhappy incident nicht angemessen zum Ausdruck gebracht werden könnte. Vor dem Hintergrund eines normativ abgesicherten Normalitätsverständnisses erscheint die antecedent action dementsprechend als Abweichung, als Defekt, als Versäumnis: Falsche Angaben, die - wie im obigen Fall - zu Unannehmlichkeiten führen, sind sozial dispräferiert. Entsprechend negativ wirkt die Anschuldigung auf den Adressaten zurück: Sie macht eine Differenz zwischen normativen und aktuellem Verhalten erkennbar und mutet dem anderen Selbstkritik zu, die mitunter auch den moralischen Charakter des Betreffenden reflektiert: Wer abweichend handelt, tut dies vielleicht nicht nur einmal, sondern möglicherweise permanent; wer die Regeln sozialer Sorgfalt in einer bestimmten Hinsicht missachtet, nimmt es in anderer Hinsicht womöglich ebenfalls nicht genau; wer sich gegenüber anderen nachlässig zeigt, bringt dadurch mitunter seine persönliche Geringschätzung zum Ausdruck. 8 So die Grundfragen, die Shaver a.a.O. 1985, S. 1, zufolge zu einer Anschuldigung motivieren. Zum Problem der Erklärungsbedürftigkeit sozialer Erfahrung und deren Explikation, vgl. grundlegend Pollner 1987, S. 53: "Competence as a mundane reasoner consists not only of the capacity to hear a puzzle on the occasion of a disjuncture, but to be able, as well, to formulate and recognize candidate correct solutions"; zum gleichen Problem Sacks 1985: "In setting up what it is that seems to have happened, prepatory to solving the problem, do not let your notion of what could happen decide for you what must have happened" (S. 15). Erving Goffman hat argumentiert, dass gerade in Fällen der Abweichung vom konventionell erwartbaren Handeln ein Beobachter dazu neigt, Einzelhandlungen personenbezogen zu pauschalisieren: „Durch diese Tendenz der Individuen, einzelne Handlungen als etwas Sympto-

192 Typischerweise schwingt in der Anschuldigung immer ein moralischer Unterton mit, der das positive Selbstbild ihrer Adressaten bedroht: „thanks a lot ha ha hhh". Deutlich wird, dass Widerspruchs- und Anschuldigungskommunikation sich in tiefgreifender Weise unterscheiden. Zunächst fällt auf, dass eine Anschuldigung qualitativ deutlich ,höherwertige' bzw. komplexere Sachverhalte transportiert, als es für die Ablehnung einer Sinnzumutung notwendig ist. Formal ist sie auf sinnlogisch mehrdimensionale Zurechnungsprozesse angewiesen, in deren Mittelpunkt das Konzept ,Verantwortlichkeit' steht. Das Thema der Anschuldigung steht somit keineswegs im Belieben, sondern setzt ein konkretes Verhalten voraus. Indem die Anschuldigung dieses als abweichend und den Charakter der Handlung implizit als moralisch fragwürdig konstituiert, schwächt sie das Selbstbild und die Identität der Person. Dies wiederum macht Widerspruchsreaktionen hoch wahrscheinlich. Im Moment der Anschuldigung wird somit eine Form der Beziehung etabliert, die als solche selbst zum Gegenstand möglicher Ablehnung wird. Das allein reicht schon aus, um die hohe Konfliktrelevanz einer Anschuldigungskommunikation zu verstehen9. Die Anschuldigung ist deutlich mehr als eine Sinnselektion, die vom anderen Verständnis und Zustimmung erwartet. Sinnlogisch greift sie dem Widerspruch schon dadurch vor, als sie zwischen Sein und Sollen signifikante Unterscheidungen trifft. Mit der Kenntlichmachung eines unhappy incident werden Erwartung und Enttäuschung in einer einzigen Kommunikation zusammengezogen und auf dieser Grundlage gleichzeitig Wiedergutmachungsinteressen signalisiert. Anders als das ,Nein' ist die Anschuldigung zudem nicht auf die fremdreferenzielle Sinnselektion angewiesen, sondern mutet sich gerade umgekehrt dem anderen selbstreferenziell zu. Die Anschuldigung negiert nicht, sondern kreiert. Dazu benötigt sie keine kommunikativ vorgängige Sinnreferenz, sondern kann frei nach Ermessen walten. Sofern noch kein Thema der Widerspruchskommunikaüon etabliert worden ist, steht sie typischerweise am Anfang einer Themensequenz operiert strukturell offensiv:

'

matisches aufzufassen, erhalten sogar Handlungen ganz eigenständiger Art eine beträchtliche indikatorische Bedeutung. Sie werfen ein Licht auf die allgemeine Beziehung des Akteurs zu einer Regel und darüber hinaus auf seine Beziehung zu dem Regelsystem, von dem die fragliche Regel bloß ein Teil ist. Natürlich wird eine solche Information oft auch als relevant für die Beurteilung des moralischen Charakters des Akteurs angesehen", vgl. Goffman 1982, S. 140 f.; in dieselbe Richtung argumentiert auch Heider 1944, mit Rekurs auf ein aus der Gestaltpsychologie generalisiertes .Minimum/ Maximum-Prinzip': Wahrnehmungsvorgänge haben die Tendenz, dass ihnen alles entweder so ähnlich oder so unähnlich wie nur möglich erscheint; ferner Jones/ Davis 1965. Auch Luhmann 1978b, S. 54 betont die „polemogenen, Streit enfachenden Züge der Moral", weil sie dem Konflikt zusätzliche Motive verschaffen; vgl. dazu auch Bergmann/ Luckmann 1999, S. 30 ff., die in diesem Zusammenhang auf den Affektbezug bzw. auf Polarisierungstendenzen moralnaher Kommunikationsformen verweisen.

193 [2a] 15 16 17 18 19 20 21

22

D:

Yeh that's what yih told me, thanks a lot ha ha |-hhh no

Z:

D:

l a s t semester they kept it

open on Friday night, (1.0) Yeah well apparently u:h hh (1.0)

time requirements 've changed butuh

An der Ablehnung der Verántwortungszuschreibung wird zunächst einmal deutlich, dass Ζ die vorausgehende Äußerung als Anschuldigung hört und D's Ironie (Z 016: thanks a lot) angemessen interpretiert. Die Anschuldigung ist somit Ausgangspunkt für Z's Widerspruchskommunikaüon, die sich zudem auch in der zu erwarteten Richtung vollzieht: Ζ lehnt die Verantwortung für den unerfreulichen Sachverhalt ab. Darin spiegelt sich eine konversationsanalytisch vielfach validierte Einsicht wider, der zufolge das präferierte Reaktionsmuster im Anschluss an die Anschuldigung ihre Ablehnung ist.10 Jede Anschuldigung, die nicht unmittelbar auf Ablehnung stößt, lässt dementsprechend auf ein Schuldeingeständnis schließen. Das Ausbleiben einer Ablehnung auf die Anschuldigung ist insofern .konditionell relevant'.11 Im vorliegenden Fallbeispiel wird der Anschuldigung dem gemäß widersprochen: Ζ gibt an, dass die das unhappy incident verursachende antecedent action (Falschinformation) weder aus Absicht, noch aus Nachlässigkeit geschah; stattdessen wird mit Hinweis auf die geänderten Öffnungszeiten des Computer-Zentrums eine alternative Zurechnungsadresse der Verantwortungs-attribution geltend gemacht, welche die Verantwortungszuschreibung externalisiert und den ,Beschuldigten' damit entlastet. Aus sequenzanalytischer Sicht sind Anschuldigung und Widerspruch komplementäre Aspekte der Konfliktkommunikation. Typischerweise steht die Anschuldigung im turn-taking an einer ersten Zugposition, wo sie den Part einer Sinnzumutung einnimmt. Sofern sie das Verhalten des anderen als unangemessen kritisiert, ist Widerspruchskommunikation strukturell präferiert. In diesem Sinne signalisiert die Anschuldigung zugleich die Inkaufnahme des Konflikts: Wer Anschuldigungen kommuniziert, weiß nahezu sicher, dass er damit auf Widerspruch stößt und der Konflikt dadurch vorprogrammiert wird. Dass sich im 10

11

Diese Einsicht wurde insbesondere im Rahmen von Analysen über Schuldzuschreibungen im gerichtlichen Kreuzverhör gewonnen und fortgeschrieben, vgl. dazu besonders Drew 1978; Atkinson/ Drew 1979, bes. S. 122 ff.; ferner Beach 1990/91. Vgl. beispielsweise die aus diesem Konnex von Buttny 1993, S. 38 herausdestillierte 'selfdefense rule': "This rule interactionally provides for a slot after the blame for the accused to respond to critics (...): upon receiving a blame, make a response (...) lest no response be heard by others as an admission to the blame."

194

vorliegenden Fall trotz Ablehnung dennoch kein Konflikt ausdifferenziert, liegt in der Reaktion an dritter Zugposition: begründet: In Ζ 20 wird der Widerspruch und die sich daran anschließende Begründung ohne weitere Einwände akzeptiert (D: Yeah well apparently u:h hh (1.0) time requirements 've changed). Mit diesem Zug wird die Anschuldigung nachträglich annuliert - und damit zugleich auch die Möglichkeit, die Schuldfrage als Thema der Widerspruchskommunikation zu etablieren. Parallel dazu finden sich vor, während und nach der Anschuldigungskommunikation zahlreiche Hinweise auf die Verstehens- und Zustimmungsbereitschaft der Beteiligten im Konflikt (well;yeah; I know etc., so in Ζ 03, 08, 14, 15, 20, 26, 31), flankiert von Abschwächungspartikeln, die den Zumutungsgrad der jeweiligen Sinnselektion entsprechend vermindern (Z 13: I thought·, Ζ 20: apparently·, Ζ 29: prob'ly). Dieser Sachverhalt korrespondiert ferner mit einer normativ adäquaten Organisation von Sprecherwechseln im turn-taking system der vorliegenden Situation, das mitunter schnelle Anschlüsse und geringfügige Überlappungen aufweist, jedoch keine Unterbrechungen mit der erkennbaren Absicht, den anderen an der Ausführung seines Redezugs zu behindern. Sofern die Beteiligten sich wechselseitig ihrer Verstehensbereitschaft sowie ihrer Rederechte versichern, machen sie ihre Orientierung am jeweils anderen auch hier wiederum deutlich erkennbar. Im vorliegenden Fall ist die Anschuldigung offensichtlich in einem prinzipiell zustimmungsorientierten Kontext verankert, der dadurch kurzfristig irritiert, aber nicht wirklich gefährdet erscheint. Anders hingegen die Verantwortungszuschreibung auf D's Professor als (nichtanwesender) Mitverursacher am unhappy inädent (Z 24-31). Diesbezügliche Formulierungen lassen erkennen, dass der Anschuldigung nicht nur Verantwortung, sondern darüber hinaus eine Absicht zugrunde gelegt wird (Z 024: my professor cUdn'even l-let me know...), was dann zu Verhaltensurteilen führt (Ζ 027: Very negligent on his part...), die eine Negativkategorisierung begründen (Ζ 031: Yeah he looks like an idiot)}1 Auf diese Weise werden Sach- und Sozialdimension des erlebten Verhaltens unter dem Gesichtspunkt ihrer Ablehnungswürdigkeit amalgamiert: Unerfreulich ist nun nicht mehr nur derfragliche Sachverhalt, sondern gleichzeitig auch die ihn verursachende Person.

Allerdings besteht auf Grund der Abwesenheit des Beschuldigten kein sozialer Konflikt; umso unverblümter tritt jedoch eine Eigenschaft der Anschuldigungskommunikation zu Tage, die zeigt, wie Sach- und Sozialdimension in D's Sinnerleben personenbezogen koinzidieren.

195

Prozesse der Konfliktintensivierung Mit den nachfolgenden Analysen soll nunmehr das Potenzial einer Konfliktintensivierung ausgeleuchtet werden, soweit es im Zusammenhang mit der Kommunikation einer Anschuldigung steht. Dazu die Eingangssequenz einer Fernsehdiskussion 13 zwischen Marie Wieczorek-Zeul und Norbert Blüm, die in diesem Fall ohne Talkmaster stattfindet, so dass sich die Beteiligten hier selbst moderieren: [3] 01 02 03 04 05 06 07

W:

Herr Blüm - e::h die: christlich-demokratische Arbeitnehmerschaft hat unter Ihrer maßgeblichen ehmStabführung ehm Thesen eh beschlossen, die ich persönlich als ne unglaubliche Bevormundung von Frauen empfinde - bei denen ich den Eindruck hab, daß hier der Pascha Mann, in dem Fall Herr Blüm eh den Frauen vorschreibt, wie sie leben sollen

((fährt fort))

Das einführende Statement von Wieczorek-Zeul gibt der Fernsehdiskussion Inhalt und Rahmen vor, auf den sich die nachfolgenden Beiträge beziehen, hier die familienpolitischen Steuerungsdirektiven der Christlich-Demokratischen Union. Das Einleitungsstatement ist - dem Zweck der Diskussionsrunde entsprechend - provokant formuliert und bringt die Anschuldigungskommunikation gleich zu Beginn auf den Punkt: unhappy inädent ist ein Programm der Bundestagung der Sozialausschüsse, das Wieczorek-Zeul als eine „unglaubliche Bevormundung von Frauen " interpretiert, da es „den Frauen vorschreibt, wie sie leben sollen "; antecedent action ist die Beschlussfassung der Thesen, actor-agent ist Norbert Blüm als zuständiger Minister der Regierungspartei. Die Verantwortungszurechnung ist somit kohärent ausdifferenziert: Sie enthält eine auf einen actor-agent zurechenbare antecedent action, die dem unhappy inädent zeitlich vorausgeht. Deren Konfliktrelevanz steht darüber hinaus insoweit außer Frage, als sie die moralische Angemessenheit der Handlung eines (anwesenden) anderen in Abrede stellt. Das Einleitungsstatement enthält zwar auch die Zumutungsrigidität abschwächende Sinnkomponenten (ichpersönlich ... empfinde ...- bei denen ich den Eindruck hab ...), die aber die Schärfe der Anschuldigung eher rhetorisch als faktisch neutralisieren - zumal der Eindruck einer ,,unglaubliche(n) Bevormundung von Frauen" nicht zuletzt auch aus einer Betroffenheitsperspektive heraus resultiert. Im Unterschied zu Textfragment [2] erfolgt die Anschuldigung hier auch nicht beiläufig, sondern gezielt

„Das Streitgespräch: Häuslicher Herd oder tägliches Fließband, ARD 1982", zitiert aus Kotthoff 1993, S. 164 f.

196

provokativ mit Blick auf die Eröffnung einer politischen Debatte; sie markiert zugleich eine Konfliktposition, die sich explizit als Widerspruch zur Position des anderen ausweist; und ferner dokumentiert sie eine gewisse Bereitschaft, den eigenen Standpunkt auch gegen Widerstand zu behaupten. Kurz: Das Eröffnungsstatement gibt zu erkennen, das der Konflikt nicht vermieden, sondern geradezu herbeigeführt werden soll. Darüber hinaus sind in diesem Textfragment noch zwei weitere Merkmale der Anschuldigungskommunikation interessant: Zunächst enthält die Anschuldigung eine explizite, auf die Person ,Blüm' zugeschnittene negative Kategorisierung4 (Z 06: der Pascha Mann, in dem Fall Herr Blüm); wie schon D's Anschuldigung in Textfragment [2] gegen den Professor, bleibt auch hier die Anschuldigung nicht bei der bloßen Verantwortungszurechnung stehen, sondern etikettiert die soziale Identität: unhappy inàdent und actor-agent haben nunmehr einen gemeinsamen negativen Nenner (die Unterdrückung), der mit dem Zähler sinnlogisch korrespondiert (Bevormundung von Frauen — Pascha Mann). Die Möglichkeit der negativen Kategorisierung ist eng an ein weiteres Merkmal der Anschuldigung geknüpft, mit dem sich ein solcher Schritt legitimiert: Sie benötigt - wir erwähnten dies schon - die Angabe von Motiven.,5 Denn sofern keine zureichenden Gründe für das inkriminierte Verhalten ersichtlich sind, vermindert sich auch die Verantwortlichkeit des jeweiligen actor-agent. Da beispielsweise Z's Falschinformation in Textfragment [2] auf keiner erkennbaren Absicht beruht, bleibt auch die Schwere des Vergehens gering und konkretisiert sich als entschuldbarer Irrtum. In anderen Situationen mag es sich als ein Ergebnis mangelnden Geschicks bzw. fehlender Sorgfalt erweisen.16 Für die Durchschlagskraft 14

15

16

Mit dem Begriff der .Kategorisierung' schließen wir an eine grundlegende ethnomethodologische Überlegung an, der zufolge Sprecher mit ihren Äußerungen zugleich auch die fiir ein Setting jeweils relevanten Identitäten selektieren, vgl. im Anschluss an die klassische Problemstellung von Goodenough 1973, vor allem die frühen Arbeiten von Sacks 1972a; ders. 1972b, mit dem Hinweis, dass Personen unter vielfaltigen Gesichtspunkten identifiziert werden können; die Selektion einer Identität sagt dann etwas über die Spezifik von Wahrnehmungen innerhalb eines bestimmten Setting aus, im vorliegenden Fall also über die Achtbarkeit bzw. NichtAchtbarkeit von Personen; speziell dazu: Watson 1978; Jayyusi 1984; Billig 1985; Edwards 1991. Bekanntlich hat schon Max Weber an prominenter Stelle auf die Motivabhängigkeit des Verstehens einer Handlung hingewiesen und Motive dabei als einen Sinnzusammenhang definiert, der dem Handelnden bzw. einem Beobachter als zureichender Grund eines Verhaltens erscheint; damit wird der Motivbegriff zu einem Zentralstück einer Verstehenden Soziologie, vgl. näher Weber 1922, S. 1 ff.; darauf aufbauend Mills 1940; Gerth/ Mills 1970, S. 102 ff.; ferner Burke 1954, mit dem Hinweis, bei Motiven handle es sich um eine verkürzte Situationsdefinition, was bereits auf die Flexibilität von Motivzurechnungen hinweist; vgl. auch ders. 1945. Vgl. Feinberg 1977, der drei Typen anfechtbarer Handlungen unterscheidet: 1.) Fälle mangelnder Geschicklichkeit, 2.) Fälle mangelnder Sorgfalt und 3.) Fälle ungehöriger Absichten, die - in dieser Reihenfolge - gewissermaßen einen zunehmenden Schweregrad der Verfehlung bezeichnen (S. 195). Entsprechend wird .Absicht' (intent) zur zentralen Variablen der Verantwor-

197

einer Anschuldigungskommunikation sind Motive von zentraler Bedeutung. Davon hängt ab, ob man die Verantwortung für einen unerfreulichen Sachverhalt eher auf die äußeren Umstände einer Situation oder eher auf die Person attribuiert. Je eindeutiger das (unterstellte) Motiv für ein inkriminiertes Verhalten, umso wahrscheinlicher die personale Negativattribution. Im vorliegenden Textfragment wird das von Wieczorek-Zeul angedeutete Motiv im weiteren Verlauf ihres Eingangsstatements noch näher konkretisiert: In den Thesen zur Sozialgesetzgebung der Christlich-Demokratischen Arbeitnehmerschaft werde eine geschlechtsspezifische Unterdrückungsform weitertradiert, die den Frauen in dem Maße schade, wie sie den Männern Vorteile bringt: [4] 14 15 16 17

W:

dahinter steckt nichts anderes als uns Frauen wieder, nachdem wir mal nützlich aufm Arbeitsmarkt waren, jetzt, wo die Arbeitslosigkeit größer wird, wieder an den - Herd zurückzuschicken

Wie das Textfragment weiter zeigt, führt die Wahrnehmung von Motiven geradewegs zu personenbezogenen Inferenzen, die man im Konfliktfall mit den entsprechenden negativen Attributen verknüpft: [3a] 05 W: 06 07

... bei denen ich den Eindruck hab' daß hier, der Pascha Mann, in dem Fall Herr Blüm, eh den Frauen vorschreibt, wie sie leben sollen

[2b] 24 25 -> 31

D:

My professor didn' even 1-let me know what de hours wuh.(0.8) (...) Yeah he looks like an idiot.

Überhaupt, wie bereits in Bezug auf die Widerspruchskommunikation begründet sich auch hier ein beträchtliches Potenzial der Konfliktintensivierung durch die Leichtigkeit, ja fast schon Willkür der Zurechnungsmodalitäten im Rahmen der Anschuldigungskommunikation. Inwieweit das Verhalten des Professors D's Etikettierung (idiot) rechtfertigt, ist als Außenstehender ebenso wenig zu beantworten wie die Frage, ob eine Beschlussfassung sozialpolitischer Thesen den zuständigen Minister als frauenfeindlichen Pascha entlarvt. Beide Zurechnungsformen sind möglich, aber logisch nicht zwingend, insoweit sozial kontingent.

tungsattribution; vgl. anstatt vieler: Fincham/ Bradbury/ Grych 1990, S. 168 ff.; ferner Ross 1993, S. 66, dort eher mit Blick auf gesellschaftliche Konfliktprozesse.

198 Natürlich braucht die Anschuldigung ein wie immer geartetes empirisches Korrelat, ansonsten wäre sie als Anschuldigung haidos; aber schon an der Frage, was an einem unerfreulichen Sachverhalt unerfreulich ist, können sich die Ansichten teilen. Das gilt umso mehr für die Zuschreibung der Verantwortlichkeit, die maßgeblich aus Motivunterstellungen resultiert.17 Hierzu reicht aus, dass ein Alter die Motive des anderen hypothetisch erwägt, für wahrscheinlich erachtet oder sonst wie ungeprüft unterstellt18, um daraus Sicherheit für das eigene Erleben zu gewinnen - das sich daraufhin durch die Anschuldigung Luft verschafft. Wer beispielsweise glaubt, nicht aus Versehen, sondern mit Absicht .falsch informiert' worden zu sein, wird sich mit einer Entschuldigung nicht begnügen; wer hinter dem unerfreulichen Sachverhalt eine Absicht erkennt, wird weitreichende Rückschlüsse auf die Art eines Ereignisses, den Typ einer Handlung und den Charakter des anderen ziehen. Motivzuschreibung und negative Kategorisierung besitzen demzufolge eine weit über den empirischen Sachverhalt hinausführende Verweisqualität. Die Zuschreibung von Motiven bezüglich eines unhappy inädent transformiert bloße Verantwortlichkeit auf die Ebene von Unrecht und Schuld. Das (normalerweise) Erwartbare bzw. Wünschbare wird vom (normalerweise) Unwahrscheinlichen bzw. Vermeidbaren auf diese Weise unterschieden. In diesem Fall ist die antecedent action nicht mehr einfach nur Handlung, sondern begründet einen Verstoß gegen Normen und Regeln. Das consequent event ist nicht mehr nur eine unerfreuliche Tatsache, sondern wird entsprechend als ein Unrecht gewertet, für das man Sanktionen in Erwägung ziehen und Wiedergutmachung einklagen kann.19 Der actor-agent handelt nicht mehr bloß als verantwortliche Entität, sondern läuft Gefahr, dass man ihn auf Grund seines Normverstoßes statusbezogen degradiert: Er ist schuldig, wird zum Täter, seine Achtungswürdigkeit als Person wird diskreditiert.

17

18

19

Grundsätzlich fällt auf, dass Motive im allgemeinen nicht von derjenigen Person mitgeteilt werden, zu der sie gehören; Motive werden meist von anderen, also von relevanten anderen Beobachtern verbalisiert. Nur unter sehr spezifischen Voraussetzungen teilt man anderen die Motive des eigenen Handelns mit. So auch Goffman 1982, S. 143, Fn.5, der diesbezüglich anmerkt: „Bei jeder Unterstellung eines Kausalzusammenhangs ist es offensichtlich, dass viele Faktoren, die zum Gegenstand einer näheren Betrachtung hätten gemacht werden können, unberücksichtigt blieben, und dass die jeweilige Auswahl etwas Willkürliches hat, so sehr sie auch einen wichtigen Grund angeben mag." Diese Verkettung von Inferenzen ist das Spezialgebiet der juristischen Dogmatik, welche die Schwere eines Vergehens hauptsächlich danach beurteilt, inwieweit das abweichende Handeln einer individuell zurechenbaren Absicht gefolgt ist; andere Bestimmungsfaktoren von Schuld sind die Kontrollierbarkeit des eigenen Verhaltens, die Vorhersehbarkeit von Handlungsfolgen, Affekteinfluss u.a.m.; zu den klassischen Formulierungen dieser Problemstellung, vgl. insbesondere Heider 1958, sowie Hart 1968.

199 Vor dem Hintergrund übereinandergeschobener und verschliffener Sinnselektionen ist die Anschuldigungskommunikation bewusst nur schwer zu durchdringen - sowohl für den, der die Anschuldigung kommuniziert, wie auch füir die davon betroffene Seite. Darin liegt eine wesentliche Voraussetzung ihrer Wirksamkeit im Konflikt. Erst wenn die Anschuldigung auf Widerspruch stößt, werden potenzielle Zurechnungsalternativen sichtbar und als Thema einer Widerspruchskommunikation explizit: Ist Egos Verhalten wirklich eine ihm zurechenbare Handlung, oder nicht doch das Produkt einer ihn in seinen Möglichkeiten begrenzenden Situation? Inwieweit hätte sich der unerfreuliche Sachverhalt auch ohne sein Zutun ereignet? Und überhaupt: Inwiefern ist das eigene Sachverhaltserleben angemessen und adäquat? Was für die einzelnen Komponenten der Anschuldigung gilt, gilt erst recht für die Zuschreibung von Motiven. Während unhappy inädent, antecedent action und actor-agent als Einzelaspekte der Anschuldigungskommunikation beobachtet, erlebt und beschrieben werden können, sind die Absichten und Motive mitunter tief im Bewusstsein und in der Psyche verborgen. Sie werden nur in Ausnahmefällen explizit, direkt und aufrichtig kommuniziert. Schon eher werden sie von der anderen Seite erschlossen, besonders dann, wenn eine Verhaltensbeobachtung nicht der Erwartung entspricht. In den vorliegenden Textfragmenten werden Motive teils subtil (dtdn ' even l-let me know), teils explizit (.unglaubliche Bevormundung von Frauen), immer aber vom jeweils anderen, also fremdreferenziell artikuliert, um das inkriminierte Verhalten plausibel zu machen. Als eine selbstreferenzielle Sinnselektion ist die Motivzuschreibung somit eng an ein idiosynkratisches Konflikterleben geknüpft, unhappy inädent und Verantwortlichkeit werden dadurch enger miteinander verflochten: Wer andere absichtlich enttäuscht oder schädigt, ist .schuldiger', als wenn er den Sachverhalt ohne Absicht bewirkt. In diesem Sinne sind Motivzuschreibung und Negativcharakterisierung probate Mittel der Konßktintensivierung im Rahmen der Anschuldigungskommunikation, sofern die Motivzuschreibung Rückschlüsse auf die Qualitäten und Eigenschaften des Beschuldigten provoziert: Wer vermeintlich schlechte Absichten verfolgt, wird selten moralisch geachtet. Auf diesem Wege fokussiert das Konflikterleben zunehmend schärfer auf die personale Disposition, jeweils erkennbar an der negativen Kategorisierung einer sozialen Identität. Dass die negative Kategorisierung überhaupt zum Ausdruck gebracht und dem anderen mitgeteilt wird, beinhaltet bereits ein gewisses Bedürfnis nach sozialer Dissoziierung, worin sich dann wiederum eine erhöhte Bereitschaft zur Konfliktintensivierung zeigt. Wer den anderen beschimpft, beleidigt oder anderweitig diskreditiert, treibt die Konfliktkommunikation unter Umständen bis an die Grenze dessen, worüber man sich noch sinnvoll verständigen kann:

200

[5] 01

D:

(-was u n t e r s t e l l e n Sie d e n n

(die g a n z e

02

P:

Wneine-

meiner

(

03

Meinung nach sprechen wir über den

04

i c h v e r b r e i t e Lügen.)

05

Sie

06

D:

07

Zeit?)

MeiOpernball

und ich bin dumm,

also ge

(-gehn m i r l a n g s a m a u f d i e N e r v e n g u t e Lja

m i t jedem zweiten Satz

Fr pau 4 a

punterstellen L

08

N:

09

D:

(-Sie i r g e n d w a s u n d Sie f r a g e n n i c h t

(Herr-)

10

N:

L

na. Herr Peithner ich bitte Sie

mal.

auch

Das vorliegende Fragment gibt einen Ausschnitt aus einer Fernsehdiskussion über die Durchfuhrung des Wiener Opernballs wieder20, bei der neben anderen Diskussionsteilnehmern der Kunsthistoriker Peithner-Lichtenfels (P) und die ,Grüne'-Politikerin Jutta Ditfurth (D) vorher schon mehrmals aneinandergeraten sind. In diesem Zusammenhang markiert die Paraphrase der Anschuldigungskommunikation den vorläufigen Höhepunkt im Konflikt: Motivzuschreibung (Z 01: was unterstellen Sie...) und negative Kategorisierung (Z 04: ich verbreite Lügen, und ich bin dumm ...) sind darin die Endprodukte einer iterativ übereinandergeschichteten Widerspruchskommunikation, die zuletzt in einer Negativcharakterisierung kulminiert (Z 05: Sie gehn mir langsam auf die Nerven gute Frau). Darin spiegelt sich die Gesamteinschätzung der vorhergehenden Auseinandersetzung wider, die aus der Sicht Peithners auf unsachlichen wie auf sozial unredlichen Grundlagen beruht. Die peryipierte Anschuldigung wird dabei zum Input der eigenen Anschuldigungskommunikation, also von Fremd- in Selbstreferenz überfuhrt und abwehrstrategisch ,recycelt'. Damit deutet sich die Möglichkeit einer ReaktionsSymmetrie an, die auf die Umkehr von Zuschreibungsprozessen baut: Wenn die Anschuldigung des anderen unangemessen, falsch oder ungerecht scheint, besteht die Möglichkeit, darüber eine eigenständige Anschuldigung ψ begründen. Auf diese Weise beginnen Verantwortungszuschreibungen in gegenläufiger Richtung zu zirkulieren: Egos consequent event wird zum unhappy inädent Alters, seine Motiv- oder Verantwortungszuschreibung zur antecedent action, und Ego zum Anlass moralischer Diskreditierung. Der Prozess der Anschuldigungskommunikation wird insofern selbstreflexiv.

20

.Feindbild Opernball', eine Ausstrahlung des ,Club 2'-Diskussionsforums im ORF 2 vom 22.2. 1990, zitiert aus Gruber 1996, S. 164 f.; die Wiedergabe dieses Textfragments ist vereinfacht wiedergegeben und vernachlässigt ein unbedeutende Äußerung im Überlapp mit Ζ 03 und Ζ 04.

201 In diesem Sinne fungieren Negativkategorisierung und Motivunterstellung als wichtige Parameter der Konflikteskalation: An ihnen kann abgelesen werden, wie die Beteiligten ihre gegenwärtige Situation im Prozess der Konfliktintensivierung interpretieren. Die Bereitschaft, auf konventionelle Formen der Achtungskommunikation zu verzichten, zeugt darüber hinaus von einem tiefgreifenden Wandel der Konfliktkommunikation, die sich zunehmend mehr auf personenbezogene Attribute wie Schuld und Verantwortung stützt. In dem Maße, wie die Anschuldigung Verantwortung bzw. Schuld attribuiert, werden die Konßiktursachen zwingend auf denje anderen externalisiert. Dieser Sachverhalt wird im Zuge einer reziproken Anschuldigungskommunikation in besonderem Maße bedeutsam: Er macht den Widerspruch reflexiv in dem Sinne, dass man sich darin widersprechen kann, wer für die Widerspruchskommunikation verantwortlich ist und Schuld daran trägt, wenn einvernehmliche Lösungen nicht gelingen.

Anschuldigungsbezogene Reaktionen Die in der Anschuldigungskommunikation durchscheinende Bedrohung für ein anderes Selbst liefert vielfältige und vor allem auch schwerwiegende Anhaltspunkte für eine darauf bezogene Reaktion. Bliebe sie aus, so wäre dies gleichbedeutend mit einem Eingeständnis moralisch bzw. normativ devianten Verhaltens. Auf Grund ihrer Zurechnungseigenschaften ist die Anschuldigungskommunikation im höchsten Maße widerspruchsimplikativ: Wer dem drohenden Achtungsverlust keinen Widerstand entgegenzusetzen hat, läuft Gefahr, damit auch seine Selbstachtung zu verlieren. „We live in the mind of others", so formuliert Charles H. Cooley (1902, S. 208) den Zusammenhang zwischen Selbstachtung und Fremdwahrnehmung in der Interaktion. Die Anerkennung des Selbst durch den anderen weckt Gefühle von Stolz, seine Missachtung dagegen erzeugt Scham, beides wird in und durch Interaktion virulent.21 Gleichzeitig bietet die Anschuldigung ihrer mehrfachen Sinnselektivität verschiedene Anhaltspunkte für widersprechende Reaktionen: Man selbst rechnet ebenfalls Verantwortung zu, indem man die qua Externalisierung attribuierte Verantwortlichkeit für ein unhappy tnädent entweder defensiv auf äußere Umstände oder aber offensiv auf den Absender der fraglichen Anschuldigung zurückadressiert.

21

So vor allem Scheff 1988; ferner Retzinger 1991.

202

Defensive Reaktionen In der Konversationsanalyse zählt die Anschuldigung zu den mittlerweile empirisch gut belegten Mustern einer adjacency /w'r-Organisation. Darin erscheint sie als first pair part innerhalb einer komplementären Paarbeziehung, die formal zwingend einen zweiten Paarteil vorsieht. 22 Für die Anschuldigung als ersten Paarteil des adjacency pair gilt typischerweise, dass als zweiter Paarteil (second pair part) eine Rechtfertigung folgt.23 Im Unterschied zu einer Entschuldigung wird durch die Rechtfertigung nicht primär die Verantwortlichkeit des Handelnden, sondern vielmehr der Unrechtscharakter der Handlung in Abrede gestellt. Um an diesem Punkt genügend Klarheit zu schaffen, greifen wir nochmals zurück auf Textfragment [2], in dem Z's Widerspruch auf einer Entschuldigung fußt: [2c] 15 16 17 18

D: Ζ:

Yeh that's what yih told me, thanks a lot ha ha r hhh L N:O no last semester they kept it open on Friday night,

Z's Widerspruch gründet sich im vorliegenden Fall primär auf Ursachen, die außerhalb seiner Verantwortlichkeit liegen. Der Vorwurf der Falschinformation wäre hinfällig gewesen, hätten sich die Öffnungszeiten des Computer-Zentrums zwischenzeitlich nicht geändert. Die Ursachen des unerfreulichen Sachverhalts liegen demnach nicht in seiner Person, sondern in den Bedingungen einer veränderten Situation. Demgegenüber bleibt aber die Unerfreulichkeit des fraglichen Sachverhalts ebenso wie die Zuschreibung der antecedent action unbestritten. Mit der von Ζ angeführten Entschuldigung wird insofern weniger die fragliche Handlung in Abrede gestellt, als vielmehr die Unschuld des Akteurs geltend gemacht. 24 Durch die Entschuldigung werden Verantwortungszurechnungen also vom Beschuldigten weg auf externe Ursachen umdirigiert. Damit macht ein Beschuldig-

22

23

24

Ein anderes Beispiel ist Frage und Antwort: Wer auf Fragen nicht antwortet, setzt sich im allgemeinen Nachfragen aus. Unter normalen Voraussetzungen hat der Fragende ein Anrecht auf Antwort. Ähnliches gilt beispielsweise auch für Gruß/ Gegengruß, Einladung/ Akzeptanz der Einladung, Angebot/ Dank u.a.m. Die Komplementarität einer adjacency pair-Struktur ist sozial also hochgradig normiert, wobei der zweite Paarteil immer die sozial präferierte Reaktion bezeichnet. ,Typischerweise' soll heißen, dass andere - zum Teil ebenfalls gängige Reaktionsmuster auf Anschuldigung hier zurückgestellt werden, weil sie für die Konfliktentwicklung nicht in gleicher Weise maßgeblich sind; so insbesondere die ,Leugnung' (welche den unerfreulichen Sachverhalt bzw. die Beteiligung daran bestreitet) und das .Geständnis' (welches die Anschuldigung uneingeschränkt akzeptiert); aus der umfangreichen Literatur zu account episodes vgl. näher Tedeschi/ Riess 1981; Cody/ McLaughlin 1988 und 1990; Schönbach 1990; Keller 199Ó. Für die klassische Formulierung der Unterscheidung von Entschuldigung und Rechtfertigung vgl. näher Austin 1956/57; als Forschungsüberblick dazu Snyder/ Higgins/ Stucky 1983.

203 ter geltend, dass ihm die volle Kontrolle über bzw. die Voraussicht auf das jeweilige Handlungsergebnis unmöglich war. Inwieweit diese Form der Verteidigung im Einzelfall angemessen ist, bedarf mitunter weiterer Klärung.25 Sofern sich beide Seiten im Hinblick auf die Unerfreulichkeit des eingetretenen Sachverhalts jedoch prinzipiell einig sind, kann derjenige, der ihn herbeigeführt hat, nicht gleichzeitig auch die ihn verursachende Handlung verteidigen wollen. Entsprechend fuhren Entschuldigungen im Rahmen der Anschuldigungskommunikation tendenziell eher zum Konsens und darüber zur Konflikttermination. Anders dagegen verhält es sich mit den folgenden Rechtfertigungsreaktionen auf eine Anschuldigungskommunikation. Mit ihnen wird weniger die Absicht der inkriminierten Handlung, sondern mehr ihr Unrechtscharakter in Frage gestellt. Aus Sicht der Rechtfertigung sind die durch die Handlung verursachten Wirkungen durchaus intendiert. Entsprechend steht mit ihr weniger die Verantwortungssgirechnung zur Disposition, als vielmehr die Einschätzung des behaupteten Übels. Dieses ist, anders als es die Anschuldigung suggeriert, unangemessen und inadäquat, wie beispielsweise in der folgenden Rechtfertigung Blüms: [6]

17 W: 18 19 20 21 22 23 B: 24 25 26 27 28 29 30

wieder an den - Herd zurückschicken, und ich persönlich hab das Gefühl, Sie ham das Ganze mit einem Mäntelchen manchmal auch noch der leichten Kapitalismuskritik eh umgeben und wollen auf die Art und Weise die Frauen zurückschicken, ich find das unglaublich. also Frau Wieczorek, eh zunächst mal war das kein Programm der Männer gegen Frauen, sondern die Bundestagung der Sozialausschüsse, die dieses Programm beschlossen hat, °h die besteht nicht nur aus Männern, sondern auch aus Frauen, und die Mehrheit der Frauen hat diesem Programm - zugestimmt, damit wir das gleich mal aus der Ecke rausbekommen, da Männer gegen Frauen.

Das Hauptaugenmerk der Rechtfertigung Blüms zielt hier vor allem auf das unhappy inddent als Ausgangspunkt der Anschuldigungskommunikation: Mit Hinweis auf die Mitwirkungs- und Zustimmungsbereitschaft der Mehrheit der auf der Bundestagung anwesenden Frauen wird der Vorwurf bestritten, die BeBeispielsweise könnte D dem Ζ vorwerfen, er hätte sich besser informieren, bzw. seine Informationen unter Vorbehalt stellen sollen, bevor er unzuverlässige Auskünfte gibt; Ζ wiederum könnte einwenden, dass seine Auskünfte durchaus den gängigen Sorgfaltspflichten entsprächen bzw. dass es sozial anerkannte Toleranzbereiche einer Irrtumswahrscheinlichkeit gibt; zur Frage sozial normierter Präzisionserwartungen in den Auskünften anderer, vgl. dazu sehr aufschlussreich Sacks 1988/89.

204 schlussfassung begründe einen Verstoß gegen die Gleichberechtigung der Geschlechter. Mit der Neuinterpretation des unhappy incident wird die Anschuldigung in ihren Grundlagen strittig: Der negativen Wertschätzung wird ein positiver, bzw. neutraler Wert entgegengesetzt, für den man(n) getrost eintreten kann, ohne sich dessen schämen zu müssen. Darüber hinaus enthält die Rechtfertigung Blüms auch relativierende Hinweise auf den actor-agent als Zurechnungsstrategie: Während Wieczorek-Zeul immer wieder die programmverantwortliche Rolle Blüms in den Vordergrund kehrt (zuletzt in Ζ 18: Sie harn das Garnie... und Ζ 20: und wollen auf die Art und Weise...), beruft sich dieser auf die Bundestagung der Sozialausschüsse als primäre Adresse der Verantwortungsattribution. Subtiler, zugleich aber auch klarer, zeigt sich die Stoßkraft in der Anschuldigungs- bzw. Rechtfertigungskommunikation in den vielfältigen Varianten der Gerichtskommunikation. Diese ist darauf spezialisiert, Sachverhalt, Verhalten und individuelle Verantwortung unter Unrechtsgesichtspunkten zu bewerten. Ihre kommunikative Praxis ist daher im Besonderen Umfang auf Schuldzuschreibung und Schuldabwehr konzentriert. Gleichzeitig werden auch die Konsequenzen der Anschuldigungskommunikation deutlicher sichtbar, da sich die Kommunikation an der vorgängigen Kategorisierung von Tätern und Opfern, das heißt vornehmlich an Schuldigen und Unschuldigen orientiert. Das nachfolgende Beispiel illustriert diesen Zusammenhang am Fall eines gerichtlichen Kreuzverhörs (cross-examination), das die Aufklärung einer versuchten Vergewaltigung zum Gegenstand hat. In den vorliegenden Textfragmenten versucht die Verteidigung vor Gericht den Nachweis zu führen, dass die Anzeigenerstatterin, die hier als Zeugin verhört wird, durch ihr Verhalten maßgeblich zu dem fraglichen Sachverhalt (rape) beigetragen hat:26 [7]

01

A:

An' you went to a: uh (0.9) uh you went to a ba:r? in ((city)) (0.6) is that correct?

W:

Its a clu:b.

A:

Its where uh (.) gitrls and fella : s meet isn't it? (0.9) People go: there.

02

03 04

(1.0)

[8]

01 02 03 04

26

W:

Aus: Drew 1992, S. 489; Ά ' steht für den Anwalt der Verteidigung, W gin als betroffenes Opfer.

(witness) für die Zeu-

205 An den Reaktionen der Zeugin wird klar, dass sie die Fragen der Verteidigung nicht als Fragen, sondern als Anschuldigungen hört und sich darüber bewusst ist, welche schuldrelevanten Inferenzen sich damit verknüpfen. Beispielsweise legt die Ortsbezeichnung (ba:r) Schlussfolgerungen auf mögliche Kontaktabsichten mit dem Tatverdächtigen nahe. Die Kennzeichnung des Ortes steht indexikalisch für ein spezielles Verhaltensmotiv, aus dem sich mögliche Anhaltspunkte für die Mitschuld der Zeugin ergeben: Wer eine Bar aufsucht, sucht häufig auch den (zwischengeschlechtlichen) Kontakt zu Fremden.27 Ein solches Verhaltensmotiv wiederum lässt Rückschlüsse auf den moralischen Charakter der Betroffenen zu. Außerdem informiert es über ihre Bereitschaft, die Risiken einer solchen Begegnung bewusst in Kauf genommen zu haben. In diesem Sinne greift die Zeugin der logischen Verkettung schuldimplikativer Inferenzmöglichkeiten vor: Eine die Person potenziell negativ charakterisierende Kennzeichnung des Ortes wird durch eine neutralere Ortsbezeichnung ersetzt (clu:b). Dieselbe Präventivtaktik greift auch in Textfragment [8]. Wiederum wird in der Rekonstruktion der Vorgeschichte des Tathergangs ein durch die Verteidigung konnotiertes Motiv offenkundig (where uh (.) gi:rls and fella:s meet), das Rückschlüsse auf schuldrelevante Verhaltensabsichten der Zeugin erlaubt. Erneut greift die Zeugin der Anschuldigung vor: Der Suggestion einer speziellen, für sie verfänglichen Verhaltensabsicht wird durch Angabe eines allgemeineren, und deshalb auch: sozial konsensfähigeren Verhaltensmotivs entgegengetreten. Bei diesem Club handelt es sich um einen Ort, den alle frequentieren, nicht nur Leute mit speziellen Motiven. Solche Textbeispiele sind für den vorliegenden Untersuchungszusammenhang besonders instruktiv: Auf der einen Seite machen sie das hohe Konfliktpotenzial der Anschuldigungskommunikation deutlich, da schon eine geringfügige Abwandlung in der Semantik der Sachverhaltsdarstellung die Aussicht auf Schuldzuschreibungen mitunter gravierend modifiziert. Kaum merkliche Begriffsvariationen haben in den kausallogischen Verkettungen der Anschuldigungskommunikation mitunter weitreichende Folgen. Die Anwesenheit an Orten lässt auf spezifische Handlungsabsichten schließen, und diese wiederum geben Auskunft über die moralische Einstellung der Person. Dieser Kausalkonnex erklärt die hohe Wort- und Begriffssensibilität des betroffenen Opfers. Auf der anderen Seite wird deutlich, dass unter Umständen schon die Andeutung der Möglichkeit einer Verantwortungszuschreibung ausreicht, um entsprechende Abwehrreaktionen zu provozieren. Dieser Zusammenhang ist ebenfalls leicht zu begreifen, da jede Mitverantwortung am Sachverhalt Schuld impliziert und entsprechende

Zu den Techniken der Aufdeckung unglaubhafter Zeugenaussagen im Zusammenhang sexueller Gewaltdelikte, vgl. auch Frohmann 1991.

206 Sanktionen begründet - bzw. wie im vorliegenden Fall bestehende Wiedergutmachungsansprüche bzw. Tatausgleiche hinfállig macht. Die hier behandelten Reaktionen auf die Anschuldigung sind vornehmlich defensiv eingestellt. Sie dienen in erster Linie der Abwehr von schuldimplikativen Kommunikationen und führen (vorläufig) noch nicht über diese Absicht hinaus. Die Gründe dafür mögen fallweise variieren 28 , jedoch ändern sie am begrenzten Aktionsradius dieser Reaktionsform grundsätzlich nichts. Vor diesem Hintergrund ist die Konfliktkommunikation vornehmlich asymmetrisch bzw. komplementär strukturiert: Die eine Seite beschuldigt, die andere wehrt ab; die eine Seite vertritt den first pair part der adjacency pair organisation, die andere Seite deren Pendant; die eine Seite behauptet, die andere widerlegt. Obwohl sich die defensive Reaktion (sei es nun Entschuldigung oder Rechtfertigung) gegenüber der Anschuldigung in einer strukturell eher inferioren Position befindet, sagt dies inhaltlich jedoch noch nichts über deren Erfolgsmöglichkeiten aus. Jeder Eingriff in das fragile Geflecht der Verantwortungsattribution kann die Anschuldigung bzw. die von ihr behauptete Kausalbeziehung nachhaltig kontaminieren. Ob man dabei eher die ,Unerfreulichkeit' des unhappy incident oder mehr seinen diesbezüglichen Einfluss als actor-agent bestreitet bzw. eher auf die inkorrekte Darstellung einer antecedent action oder mehr auf deren Umstände rekurriert: In jedem Fall wird eine wesentliche Komponente der Verantwortungszurechnung zu entkräften versucht, was den Anschuldigungssachverhalt an maßgeblicher Stelle neutralisiert. Was ehemals als inakzeptables Verhalten erschien, erscheint mithin eher tolerabel.

Offensive Reaktionen Im Unterschied zur defensiven rechnet die offensive Rechtfertigung die Verantwortung für ein unhappy inädent nicht auf externe Einflussfaktoren zu, sondern unmittelbar auf den am Konflikt beteiligen anderen. Bei Vorliegen eines solchen Sachverhalts ist nachfolgend von Gegenanschuldigungen die Rede. Mit der Gegenanschuldigung wird eine Reaktionssymmetrie etabliert, die den Konflikt auf der Ebene der Anschuldigungskommunikation mitunter drastisch verstärkt. 29 Dazu

28

29

Textfragment [2]: Beiläufigkeit der Anschuldigungskommunikation; Textfragment [6]: komplexer Anschuldigungssachverhalt; Textfragment [7/8]: eingeschränkte Reaktionsmöglichkeiten. Andere Ursachen liegen möglicherweise in der Art der Anschuldigung selbst begründet, die ähnlich wie die anfängliche Widerspruchskommunikation im Rahmen eines prinzipiell noch an der Präferenz für Zustimmung orientierten Interaktionssettings - mitunter zögerlich und vage ausgedrückt wird, vgl. etwa Günthner 1999, S. 234 ff. zu den Verfahren konversationeller Indirektheit in diesem Bereich. Dazu ausführlich auch Messmer 1996, insbes. S. 199 ff.

207 zunächst ein weiteres Zitat aus der Fernsehdiskussion zwischen Wieczorek-Zeul und Blüm. Im Anschluss an die bereits erwähnte Rechtfertigung Blüms (vgl. Textfragment [6]), dass auch die auf der Bundestagung anwesenden Frauen dem hier kritisierten Programmentwurf zugestimmt hätten, macht Wieczorek-Zeul daraufhin geltend, dass Blüm schon im Vorfeld der Ausschusssitzungen ein frauenfreundlicheres Thesenpapier zur Arbeitsmarktpolitik abgelehnt habe: [9] 38 39 40 41

W: B:

d r i n s t a n d ja die Frage

pder P a r t n e r s c h a f t a l s o da sind Sie a u c h e i n e r F a l s c h m e l d u n g zum O p f e r gefallen, °h die V o r b e r e i t u n g e n w a r e n .... L

((fährt fort))

Anders als beim ersten Mal wird hier die der Anschuldigung zugrundeliegende Sinnselektion nicht nur defensiv abgeschwächt bzw. korrigiert, vielmehr wird eine Verantwortungszurechnung an ihren Absender zurückadressiert: Demnach ist es vor allem Wieczorek-Zeuls Falschwahrnehmung, die zu einer fehlerhaften Einschätzung des unhappy inrídent führt. An einer späteren Stelle, an der sich die Widerspruchskommunikation bereits merklich intensiviert30, zieht die offensive Rechtfertigung Blüms zum Zwecke der Schuldabwehr zusätzlich auch noch Motivzuschreibungen mit ins Kalkül: [10] 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

W:

= d e n n M ä n n e r sind ja auch, w e n n sie u n v e r h e i r a t e t sind, oder a l l e i n leben, pvollwertig.

B:

l-also ich h a b aber |-auch n i r g e n d w o L S i e d e f i n i e r e n die F r a u e n nur als M u t t e r pund das ist = •-also das ist = u n d das find ich ne U n g e r e c h t i g k e i t (-gegenüber =

W: B: W: B: W: B: W: B:

•-das ist eine = e i g e n t l i c h e i n e m g r o ß e n Teil, fast d e r Hälfte d e r [-Bevölkerung. Lalso Frau W i e c z o r e k des ist fast ü b l e Nachrede, H E H E wieso hab pich d e n n = L

Herr B l ü m = gesagt, n u r die M u t t e r war Frau, also e r s t e n s m a e h m ...

((fährt fort))

30

Erkennbar vornehmlich an der Häufigkeit und Rigidität wechselseitiger Unterbrechungen.

208

Im obigen Textfragment klingen nunmehr auch Motivunterstellungen an, die Wieczorek-Zeul im Zuge einer Gegenanschuldigung als Person diskreditieren: Der Motivzuschreibung in der Anschuldigungskommunikation (unglaubliche Bevormundung von Frauenj steht nunmehr eine Rechtfertigung gegenüber, die strukturell mit identischen Zurechnungsmerkmalen operiert (Z 17: üble Nachrede): Sie attribuiert Verantwortung auf ein Gegenüber und validiert den Zurechnungsvorgang durch Annahme eines Motivs. Im Bestreben nach Rechtfertigung wird somit ein eigenständiger Anschuldigungssachverhalt etabliert, demzufolge die andere Seite nicht wahrheitsgemäß handelt (Z 18 f.: wieso hab ich denn gesagt...). Aus der Rechtfertigungsdefensive entwickelt sich so eine gegenoffensive Anschuldigungskommunikation, die sich nicht mehr allein auf die Schuld- und Verantwortungsabwehr beschränkt, sondern den Zurechnungsvorgang der Anschuldigung spiegelbildlich auf die andere Seite projiziert. Unter Strukturgesichtspunkten gleichen sich beide Konfliktstrategien graduell an, Anschuldigung und Rechtfertigung werden zunehmend ähnlich. Auf Grund dieser Entwicklung verschiebt sich letztlich auch das sachliche Sinnerleben zusehends mehr in Richtung auf die soziale Beziehung. Was sich anfänglich noch als inhaltliche Korrektur der Anschuldigung präsentiert (Textfragment 6, Ζ 25: sondern die Bundestagung der Sorgalausschüsse), rechnet im nächsten Schritt bereits personenbespgen zu (Textfragment 9, Ζ 39 f.: sind Sie auch einer Falschmeldung %um Opfer gefallen) und steigert sich weiter bis zur Zuschreibung von Motiven (Textfragment 10, Ζ 17: üble Nachrede). Während in der ersten Rechtfertigungsphase die Person des anderen noch gänzlich unberücksichtigt bleibt, nimmt die Verantwortungszurechnung danach schon implizit darauf Bezug; mit dem nächsten Schritt steht die Rechtfertigung der Anschuldigung schon nicht mehr nach: Spätestens hier klingen moralische Erwägungen an, welche die Achtungswürdigkeit der anderen Seite diskreditieren. Insoweit die Rechtfertigung Verantwortungszurechnungen an ihren Absender zurückkommuniziert, wird die Beziehung der Konfliktbeteiligten zunehmend symmetrisch. Die Rechtfertigung agiert mit denselben Mitteln der Verantwortungszurechnung wie die Anschuldigung auch: Sie identifiziert ein unhappy inädent bzw. einen Schaden, den sie als Konsequenz einer Handlung des jeweiligen Gegenübers interpretiert. Bezogen auf das aktuelle Thema der Auseinandersetzung stehen sich Anschuldigung und Gegenanschuldigung gleichberechtigt gegenüber. Die Anschuldigungen (Wieczorek-Zeuls) werden (von Blüm) als unangemessen erlebt und ihrerseits zum unhappy inàdent der Auseinandersetzung über ein Thema. Mit der Gegenläufigkeit verbalisierter Motivzuschreibungen gewinnt die Konfliktintensität deutlich an Schärfe. Dabei hat es den Anschein, als %öge die Anschuldigungskommunikation ihre Themen immer mehr aus dem Konfliktablauf selbst

209

Es ist nicht mehr so sehr der ursprüngliche Konfliktanlass, über den man sich hauptsächlich streitet (Häuslicher Herd; Wiener Opernball), sondern das Verhalten des je anderen im Konflikt. Deren Äußerungs formen, Strategien und Mittel rükken zusehends in den Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Der Widerspruch gewinnt damit seine Themen zusehends mehr aus dem Process der Widerspruchskommunikation selber, schöpft also sein Steigerungspotenzial aus der ihm eigenen kommunikativen Dynamik. In dem Maße, wie die Identität des je anderen in den Vordergrund rückt, verliert die Sachdimension des Konflikterlebens an Bedeutung.

Von der Konfliktbeziehung zum Beziehungskonflikt Anschuldigungen, sofern sie in Negativkategorisierung bzw. Stigmatisierung des anderen münden, sind zwangsläufig sozial regressiv. Indem sie Selbstbild und Status des anderen unterminieren, grenzen sich beide Seiten - sei es für einen Moment, sei es nachhaltig - wechselseitig vom anderen ab. In der personenbezogenen Ablehnung spiegelt sich insofern ein Beziehungskonflikt: Wer den anderen anschuldigt, stellt ihn mithin auf eine sozial inferiore Position; wer ihn negativ kategorisiert, bringt damit moralische Vorbehalte zum Ausdruck. Eine anschauliche Illustration dieses Sachverhalts bieten Paarbeziehungen, in denen sich der Konflikt explizit als Beziehungskonflikt reproduziert:31 [11] 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17

51

T: What kinds of problems were there. (1.2) J: Uhm hh (0.4) again back to th- >you know what I said originally I think ya know just this:: inabil: ity to: communicate feeling like we were °hh (1) living in in you know separate (0.9) houses and that we weren't really: (0.6) working as a couple we weren't like a couple, I mean we really didn't have °hh (0.9) a relationship >so to speak< I mean uhm I felt that if if things happened to Larry he couldn't talk to me about them ) °hhhh r if ( T: LHe didn't talk to you about it?= J: =No he (°hh)'s >he's< very introverted and and very ah: private, very private person=

Aus Buttny 1993, S. 68 f.; für die vollständige Transkription, vgl. auch Sluzki 1990; Autor und Therapeut (T) sind in diesem Fall identisch.

210 [12] 01

L: = W e ' r e different in that way, she has a p r o b l e m

02

likes to talk

03

a n u m : b e r of times

04

(0.5) about it or reiterate on it

a large number of times T:

06

L: A n :d and I

(0.4) so

>Yes that's a problem


Slu sarl

"

Qualitative Soziologie Herausgegeben von Klaus Amann, Bielefeld, Jörg R. Bergmann, Gießen, und Stefan Hirschauer, Bielefeld phischen Materials. Er konfrontiert uns mit der zentralen Aporie des offiziellen Entwicklungsdiskurses, die mit großem Aufwand unsichtbar gehalten wird: Um den Erfolg der Förderung berechenbar kontrollieren zu können, werden zusammen mit den Mitteln unvermeidbar Zwecke, Verfahren und Modelle transferiert, die in einen unauflösbaren Widerspruch zum politischen Ziel eigenverantwortlicher Entwicklung geraten. Beide Seiten der Kooperation suchen kommunikative Übereinstimmung auf der Ebene objektivierungsfähiger technischer und organisatorischer Lösungen, die überall gelten sollen. Jenseits dieser 'weit hergeholten Fakten' versuchen sie ihre kulturelle Heterogemtät als politisch heikles Thema auszuklammern. Die Studie zeigt, daß dieses Lösungsmuster zu einer selbstgeschaffenen Falle wird. Was gemeinhin als kleinster gemeinsamer Nenner einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit gilt, entpuppt sich als Hauptursache ihres Scheiterns. Band 3

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LUCIUS »LUCIUS

des Dokumentierens in der Visuellen Anthropologie, der Ethnomethodologie und der soziologischen Ethnographie. Aus der Perspektive einer methodologischen Supervision heraus kommt die innere Rationalität jeder untersuchten Forschungshaltung zur Geltung. Der Vergleich zeigt, dass sich Positionen, die sich erkenntnistheoretisch bestreiten, praxeologisch aufs Trefflichste ergänzen. Die Autorin plädiert daher für eine kulturwissenschaftliche Forschungspraxis, die "Orthodoxiekosten" vermeidet und pragmatische Wechsel zwischen epistemologischen Registern anstrebt. Band 4

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