Religion, Moral und Kirchenglaube: Beiträge zu Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) 9783111063935, 9783111063645

A religion within the limits of bare reason is, according to Kant, something different from a religion out of mere reaso

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German, English Pages 259 [260] Year 2023

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Religion, Moral und Kirchenglaube: Beiträge zu Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793)
 9783111063935, 9783111063645

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
I Positive Religion und Vernunftreligion
Einleitung
Was Kants Religionsphilosophie den historischen Religionen zumutet
Religiöser Fanatismus und der Weg zum Ideal der unsichtbaren Kirche aus Kantischer Sicht
Kant und die Erzählung vom Ursprung des Bösen
Kant über die Stufen des Bösen
Geist und Buchstabe. Hermeneutik und Evangelienkritik bei Reimarus und Lessing
Religion and Morality before Kant’s Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (1793): Joachim Spalding and Moses Mendelssohn
II Vernunftreligion und Moral
Einleitung
Kants Konzeption des Höchsten Gutes als systematische Einheit der Zwecke
Recht und Religion. Der Begriff des ethischen Naturzustandes in der Religionsschrift Kants
„Vielerlei Arten des Glaubens“: Der Glaubensbegriff in der Religionsschrift und in den Logik-Kompendien Kants
Das Reich Gottes auf Erden. Geschichtliche, soziale und politische Aspekte der Religionsphilosophie Immanuel Kants
„Wehe aber dem Gesetzgeber…“ – Politischer und ethischer Staat bei Kant und Hölderlin
Beiträger/innen des Bandes
Die Herausgeber
Personenregister

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Religion, Moral und Kirchenglaube

Kantstudien-Ergänzungshefte

Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger, Heiner F. Klemme und Konstantin Pollok

Band 223

Religion, Moral und Kirchenglaube Beiträge zu Kants „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) Herausgegeben von Sebastian Abel und Dieter Hüning

Die Herausgeber danken Helmut Winkelvoss, Trier, Gymnasiallehrer i. R., für seinen großzügigen Zuschuss zu den Druckkosten.

ISBN 978-3-11-106364-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-106393-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-106407-9 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2023939190 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books Gmbh, Leck www.degruyter.com

Inhalt Sebastian Abel Einleitung VII

I Positive Religion und Vernunftreligion Bernd Dörflinger Was Kants Religionsphilosophie den historischen Religionen zumutet

5

Carsten Olk Religiöser Fanatismus und der Weg zum Ideal der unsichtbaren Kirche aus 17 Kantischer Sicht Stefan Klingner Kant und die Erzählung vom Ursprung des Bösen Achim Vesper Kant über die Stufen des Bösen

43

67

Sebastian Abel Geist und Buchstabe. Hermeneutik und Evangelienkritik bei Reimarus und 85 Lessing Guillem Sales Vilalta Religion and Morality before Kant’s Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (1793): Joachim Spalding and Moses Mendelssohn 103

II Vernunftreligion und Moral Andree Hahmann Kants Konzeption des Höchsten Gutes als systematische Einheit der Zwecke 125

VI

Inhalt

Gianluca Sadun Bordoni Recht und Religion. Der Begriff des ethischen Naturzustandes in der 147 Religionsschrift Kants Alyona Kharitonova „Vielerlei Arten des Glaubens“: Der Glaubensbegriff in der Religionsschrift und in den Logik-Kompendien Kants 171 Michael Städtler Das Reich Gottes auf Erden. Geschichtliche, soziale und politische Aspekte der 183 Religionsphilosophie Immanuel Kants Gideon Stiening „Wehe aber dem Gesetzgeber…“ – Politischer und ethischer Staat bei Kant und Hölderlin 205 Beiträger/innen des Bandes Die Herausgeber

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Personenregister

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Einleitung Mustert man die Schriften der ‚kritischen Phase‘ durch, so fällt auf, dass sich der Fokus derselben im Laufe der Jahre verschiebt. Das Jahrzehnt der Kritiken, d. h. die 1780er Jahre, war – um einige der Metaphern Kants zu bespielen – von dem Versuch getragen, den „ganz verwachsenen Boden“ der Philosophie zu „reinigen und zu ebnen“ (A XXI), um so einen sicheren „Fußsteig“ (KrV A 856/B 884) für nachfolgende Vernunftforscher zu errichten. Kunst, Naturwissenschaft und auch theoretische sowie praktische Philosophie stehen am Ende dieses Jahrzehnts auf einem soliden Fundament. In den 1790er Jahren, mit denen Kants publizistische Tätigkeit endet, sind verstärkt Übergangs- und Applikationsfragen von Interesse: Dies gilt (mit Abstrichen¹) für die Metaphysik der Sitten, die an die Grundlegung und die Zweite Kritik anschließt und auch für das Opus Postumum, das an die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft zumindest hätte anschließen sollen. Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht untersucht – eben als Anthropologie, nicht als Anthroponomie² – den Menschen in seiner empirischen Verfasstheit und damit in letzter Konsequenz auch die Anwendungsbedingungen von Moral³. Schließlich fügt sich auch die Religionsschrift in die von uns vorgenommene Unterteilung, da sie, als eine auf die Empirie und auf die Anwendung von Moral bezogene Schrift, keinen Grundlegungscharakter hat. Sie ist, wie Kant in der Metaphysik der Sitten schreibt, „nicht aus bloßer Vernunft abgeleitet“ (MS, AA 06: 488) und stellt also keine „Religion aus bloßer Vernunft“ (SF, AA 07: 6 Anm.) dar, weshalb sie keinen Platz in einer „Ethik, als reiner praktische[r] Philosophie“ (MS, AA 06: 488) hat. Polemisch zugespitzt, haben wir es also nicht mit einer „vierten Kritik“⁴, sondern mit einem Appendix zur Zweiten zu tun. Damit ist wenigstens in gröbsten Strichen der Hintergrund skizziert, vor dem die Religionsschrift zu betrachten ist: Die in den 1780er Jahren grundgelegten Theoreme – Moralgesetz und höchstes Gut – aufgreifend, nimmt sie die Mannigfaltigkeit empirisch gegebener Offenbarungsreligionen in den Blick und bestimmt

1 Insbesondere für die Rechtslehre, die in der Metaphysik der Sitten überhaupt erst entwickelt wird, kann das oben Gesagte nicht gelten. Was die Tugendlehre angeht, so schließen wir uns dem Urteil Kerstings (1983, S. 89) an, der die Leistung dieser Schrift in einer „vollständige[n] Darstellung“ der bereits zuvor (GMS, KpV) grundgelegten Pflichten sieht. 2 Vgl. MS, AA 06: 406 3 So ist die pragmatische Anthropologie von der Frage getragen, was der Mensch „als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (Anth, AA 07: 119, herv. S.A.). 4 So auch Höffe 2011, S. 1 ff. https://doi.org/10.1515/9783111063935-001

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die gemeinsame Schnittmenge zwischen diesen und einer„reinen Vernunftreligion“ (RGV, AA 06: 12). Dabei zeigt Kant sich durchaus konziliant und baut seiner christlichen Leserschaft goldene Brücken, indem er beispielsweise die Kompatibilität verschiedener Theologumena (Prädestinations- und Satisfaktionslehre, Christologie, Gnadenmittel usw.) mit dem Vernunftglauben nachzuweisen versucht⁵. Andererseits macht er aber auch unmissverständlich klar, dass der „Kirchenglauben“ ebenso wie der anhängige „Kram frommer auferlegter Observanzen“ (RGV, AA 06: 179) für sich genommen moralisch wertlos ist. Es ist nicht schwer, zu erkennen, dass diese Doppelstrategie didaktisch motiviert ist und in letzter Konsequenz auf eine Instrumentalisierung des Kirchenglaubens zum Zwecke der Beförderung moralischer Kultur⁶ abzielt. Damit wird aber auch klar, dass es Kant um mehr geht als die moralische Bewertung christlicher Lehrstücke: So nimmt er anthropologische Bestimmungen vor (etwa die Annahme eines ‚Hanges zum Bösen‘), die für seine eigene Moraltheorie weitreichende Folgen besitzen. Er führt mit dem ethischen Gemeinwesen eine neue Art von Pflicht ein, nämlich eine Gattungspflicht „des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ (RGV, AA 06: 97). Schließlich wird der Grundsatz einer bloß formalen Bestimmung des Willens, auf dem schon die Pflicht zur Beförderung des Höchsten Guts lastet, mit dem Hinweis, dass man Pflichten zugleich als göttliche Gebote ⁷ zu betrachten habe, mit einer weiteren Hypothek belegt. Wenngleich Kant in einer späteren Schrift erklären wird, dass der Unterschied zwischen Religion und Moral „blos formal“ (SF, AA 07: 36) sei, so ist in Anbetracht der Gesamtheit der Modifikationen und Ergänzungen, die in der Religionsschrift zu finden sind, nicht weniger als die Frage nach der Kohärenz der kantischen Morallehre zu stellen. Dieser Frage, die sich präzisierend als die Frage nach dem Verhältnis zwischen positiver Religion und Vernunftreligion einerseits sowie die zwischen Vernunftreligion und Moral andererseits⁸ verstehen lässt, stellt sich der

5 „The aim of Religion within the Boundaries of Mere Reason was to explain to an audience of Christians (of eighteenth-century Lutherans) how their faith might be reconciled with a rational Enlightenment morality.“ (Wood 2010, S. 144) 6 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen bei Klingner 2012, S. 179 f. und die ebendort in Anmerkung 12 gegebenen Literaturhinweise. 7 Vgl. RGV, AA 06: 99 8 Hiermit ist nicht zuletzt die „hard-dying conviction that Kant’s ethics is „corrupted“ by the inclusion of human happiness in the ends of morality.“ (Wood 1970, S. 167) angesprochen. Ein prominenter Anhänger dieser Überzeugung ist Beck, der in seinem Commentary on Kant’s Critique of Practical Reason (1984, S. 244) schreibt: „Kant simply cannot have it both ways. He cannot say that the highest good is a motive for the pure will, and then say that it is so only under the human limitation that man must have an object which is not exclusively moral (for there is nothing moral in happiness except insofar as its condition is the worthiness to be happy, an even then the moral value lies in the worthiness, not in the enjoyment).“ Freilich ohne damit schon eine adäquate Skizze dieser bis heute

Einleitung

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vorliegende Band. Beiden Themenkomplexen trägt er Rechnung, indem er den gegenwärtigen Forschungsstand in sich aufnimmt, ohne den Rückbezug auf die für Kant maßgeblichen Autoren (in den nachfolgenden Beiträgen sind u. a. Rousseau, Hobbes, Leibniz, Reimarus, Spalding, Mendelssohn und Baumgarten thematisch) zu vernachlässigen.

Forschungsstand Da der Fülle an vorhandener Forschungsliteratur in einer Einleitung wie der hier Vorliegenden unmöglich Rechnung getragen werden kann, mag zumindest ein Vergleich zwischen der neueren und der neuesten Forschungsliteratur zeigen, welche Akzentverschiebungen in den letzten 50 Jahren zu beobachten waren und welche seinerzeit vernachlässigten Aspekte der kantischen Religionsphilosophie in den Fokus der heutigen Forschung gerückt sind. Denn anders als man vielleicht vermuten mag und anders als die noch in das späte 20. Jahrhundert hineinwirkende Säkularisierungsthese nahelegt, hat der ‚Kirchenglaube‘ in der Forschung des 21. Jahrhunderts eine Aufwertung erfahren – „Kant scholars are increasingly recognizing aspects of his philosophy that are more amenable to theism“ (Palmquist 2007, S. 17) – auch das Höchste Gut, das im Zentrum der Religion (im kantischen Sinne des Wortes) steht, erhält beständig aktualisierende Deutungen.

Positive Religion und Vernunftreligion Während beispielsweise im Hinblick auf das erstgenannte Spannungsfeld die wegweisende Monographie von Allen Wood ⁹ der von dem Bestreben getragen war,

andauernden Debatte gegeben zu haben, sei auf den wirkmächtigen Aufsatz von Silber 1963, S. 179– 197 („The importance of the highest good in Kant’s ethics“) und die Replik von Auxter 1979, S. 121–134 („The Unimportance of the Highest Good“) verwiesen; zur neueren Literatur vgl. die Arbeiten von Pasternack (2011, S. 305 ff.; 2014, S. 31 ff.; 2017), DiCenso (2011, S. 202 ff.; 2012, S. 131 ff.; 2017, S. 28 ff.). 9 Woods (im besten Sinne des Wortes) moderate Interpretation hebt die „universal communicability“ als das „genuine mark of truth and validity“ (Wood 1970, S. 204) hervor und stellt der zufälligen und damit nicht allgemeinen Offenbarung eine „“inner“ revelation „through our own reason““ (Wood 1970, S. 205) gegenüber. Historische Religionen seien „imperfect and conditioned by historical circumstances, bur they are nonetheless recognizable approximations to the idea of a „people of God““ (Wood 1970, S. 193). Auch noch in seinem 2020 veröffentlichten Werk „Kant and Religion“ schlägt Wood ähnliche Töne an; auch hier akzentuiert er insbesondere die im Kontext des Ethischen Gemeinwesens getroffenen Aussagen: „Religion must be subject to a historical dynamic, through which the two contrasting thoughts can be brought together. We must accept the existence of

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zwischen dem Christentum als „a religion of reason“ und dem Christentum als „an ecclesiastical faith based on religion“ (Wood 1970, S. 199) zu unterscheiden und dem Letzteren eine allenfalls instrumentelle Rolle zukommen zu lassen, erschien nur drei Jahre später mit Michel Desplands ‚Kant on History and Religion‘ eine völlig gegenläufige Interpretation, in der die Vernunft geradezu in einem Abhängigkeitsverhältnis steht – als für sich genommen insuffizientes Vermögen sei sie der Offenbarung bedürftig.¹⁰ In der Tradition dieser – vom Standpunkt des Kirchenglaubens und der Offenbarung aus gesehen – affirmativen Kantinterpretation stehen beispielsweise die Arbeiten von John E. Hare¹¹, Stephen Palmquist¹² und Chris Firestone¹³. Gemäßigtere, aber dennoch christlich motivierte Standpunkte werden in der neuen Kantforschung von Rudolf Langthaler¹⁴, Sebastian Maly¹⁵ und Giovanni Sala¹⁶ vertreten. Auch Burkhard Nonnenmacher¹⁷, der in seiner breit ange-

churches with statutory laws allegedly revealed empirically through scripture, but then we must struggle to reform these churches so as to bring them gradually into agreement with the idea of the ethical community.“ (Wood 2020, S. 171, vgl. Wood 170, S. 193 f.). 10 Despland geht dabei so weit, dass er, kurz gesagt, die Vernunft als Normquell historisch relativiert: „[…] reason appears not as an a-historical sum of eternal principles but as historically conditioned, dependent on the community of thought and action.“ (Despland 1973, S. 223). Ähnlich wie Despland kehrt auch Ricken (1992, S. 184) das Bedingungsverhältnis zwischen Vernunft und Offenbarung um. Zur Kritik an Desplands Position s. auch Enns 2007, S. 112 f. 11 Der Anspruch seines Buches „The Moral Gap“ findet in den folgenden Worten Ausdruck: „He [sc. Kant] is seen as having taken a decisive step, perhaps the decisive step, away from the traditional faith. […] This book will take the opposite approach of seeing how close Kant is to the Christian tradition he grew up in.“ (Hare 2002, S. 35) 12 Vgl. Palmquist 2016, S. 278. Palmquist stützt sich dabei in der Hauptsache auf den Passus RGV VI:10511-10612. Palmquist dreht in seinen Arbeiten das Bedingungsverhältnis zwischen Kirchen- und Vernunftglaube geradezu um: „[…] also the title of Religion ought to remind us that this book is designed more as the Critical (or even transcendental) prolegomena to real (empirical) religion, than as an attempt to replace all empirical manifestations of religion with a „pure“ alternative.“ (Palmquist S. 133 f. 13 Eine knappe Zusammenfassung der Kontroverse Hare/Despland/Wood findet sich bei Firestone 2009, S. 151 14 Vgl. dessen monumentales Werk ‚Geschichte, Ethik und Religion im Anschluss an Kant‘, in dem er sich, der oben vorgenommenen Einordnung entsprechend, gegen „einen unkritischen ‚Offenbarungspositivismus‘“ (Langthaler 2014 (Bd.1.), S. 570) – wie man ihn etwa Despland und Palmquist vorwerfen könnte – ausspricht. 15 Vgl. Maly 2012, S. 285 ff. Maly verweist hierbei insbesondere auf einen Zusatz zur zweiten Auflage der Religionsschrift (RGV VI:135Anm.). 16 Als Einstieg in das Denken Salas bzw. als vorbereitende Lektüre zu seiner groß angelegten, sich von der Nova Dilucidatio bis zu den Kritiken erstreckende Untersuchung „Kant und die Frage nach Gott“ (1990) eignet sich der auch immerhin 29 Seiten starke Aufsatz „Die Gottesfrage in den Schriften Kants“ (2001).

Einleitung

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legten und durch eine subtile Argumentation bestechenden Studie die Prämissen der kantischen Religionskritik auslotet und bestrebt ist, vor allem unter Rückgriff auf Hegel einen elaborierten, gegen rationalistische Kritik immunen Offenbarungsbegriff zu entwickeln, ist in diesem Zusammenhang zu nennen. In der durch Wood vorgezeichneten Interpretationslinie dagegen, die das Projekt einer Vernunftreligion unangetastet lässt, dem Offenbarungsglauben aber kritisch gegenübersteht¹⁸, steht neben Bernd Dörflinger¹⁹ und Carsten Olk (hier sei natürlich auf die Beiträge im vorliegenden Band verwiesen) beispielweise auch Denis Savage²⁰. Den zumindest im Opus Postumum vorgenommen Versuch, Gott und praktische Vernunft schlechthin zu identifizieren, denkt Gerhard Schwarz²¹ in einer viel beachteten Studie konsequent weiter und versucht dabei, die Identifikationsthese auch mit den einschlägigen Äußerungen der Zweiten Kritik zu harmonisieren. Einen neben der Gottesidee auch den Vernunft- und Kirchenglauben ablehnenden Autoren wird man in den Reihen orthodoxer Kantexegeten sicherlich lange suchen müssen, darum sei hier ein in freierer Anlehnung an die kantische Morallehre arbeitender Philosoph genannt, nämlich Bernard Williams. Auch Williams differenziert, ähnlich wie Kant, zwischen verschiedenen Reflexionsniveaus religiösen Glaubens, betrachtet Moral und Religion aber dennoch als Antagonisten: It is true that the development of the ethical consciousnessmeans the collapse of religion, but not because a religious ethics, even a crude one, is logically debarred from being ethical. It israther for a dialectical reason, that if the self-understanding ofreligion is not to be left behind by the ethical consciousness, it has to move in a direction that will destroy religion. (Williams 2006, S. 33)²²

17 Als einleitende Lektüre zu Nonnenmacher (2018a) sei insbesondere Nonnenmacher 2017 und auch 2018b empfohlen. 18 Vgl. hierzu Woods späteren Aufsatz „Kant‘s Deism“, in dem er seine Position nochmals zuzspitzt: „[…] it seems clear that Kant’s position is a rationalist one. From this it follows that he is committed to denying pure supernaturalism, since pure supernaturalism affirms, while rationalism denies, that arevealed religion is morally necessary.“ (Wood 1991, S. 11). 19 Vgl. hierzu auch dessen Veröffentlichungen aus den Jahren 2004, 2006, 2009 und 2012. 20 Savage 1991 21 Schwarz 2004 22 Zur Stellung Williams gegenüber Kants Moral- und Religionsphilosophie vgl. auch Williams 1981, S. 12 ff. und, um noch einen Text über Williams und dessen Haltung zu Kant zu nennen, vgl. Louden 2007, S. 125 ff.

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Vernunftreligion und Moral Eine Diskussion des zweiten Spannungsfeldes – und damit des Verhältnisses von Religion und Moral – kann unmöglich geführt werden, ohne dabei das Höchste Gut zum Mittelpunkt zu machen, denn schließlich stellt das Höchste Gut gerade den Übergang zwischen Moral (im Sinne bloßer Pflichtbefolgung) und Religion her²³. Nun zeichnet sich auch die neuere Geschichte der Deutung des Höchsten Gutes nicht eben durch Kontinuität aus. Nach dem wegweisenden Aufsatz von John Silber²⁴ war es insbesondere die bereits erwähnte, heute als Standardwerk geltende Arbeit Woods, die die Lehre vom Höchsten Gut zum Kern der Religionsschrift machte. Wood untersucht dabei den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit eines Vernunftglaubens²⁵ dem Höchsten Gut²⁶ und der Postulatenlehre. Im Hinblick auf das Höchste Gut vertritt Wood – gegen Beck²⁷ – die Auffassung, „that there can be no ‚reign of law‘ without a purposeful relation to the world of action and a genuine attempt to transform that world in accordance with the law of morality“ (Wood 1970, S. 64). Auch die Notwendigkeit der Postulatenlehre wird von Wood nicht bestritten, einzig die kantische Beweisführung lasse uns „somewhat unsatisfied“ (Wood 1970, S. 146) weswegen sie, was Kant versäumt habe, auf den Vernunftglauben zurückbezogen werden müsse. Der affirmativen Lesart Woods, für die das Höchste Gut im Zentrum der Religionsschrift steht und deren Kerngedanke sich mit der Vermeidung eines ‚absurdum practicum‘ zusammenfassen lässt, folgten in den 1980er Jahen eine Reihe von Beiträgen, in denen die Bedeutsamkeit des Höchsten Guts – und damit die Bedeutung der Religion für die kantische Philosophie – bestritten wurde. Nach dem programmatischen Aufsatz von Thomas Auxter²⁸ entwickelte beispielweise Annette Baier die Theorie eines säkularen, d. h. von der Postulatenlehre unabhängigen ethischen Gemeinwesens, das nicht auf dem Glauben an Gott, sondern dem Glauben an die moralische Integrität der Mitglieder des Gemeinwesens beruht.²⁹ Auch Zev Friedman folgt der Kritik Becks und Auxters,

23 Vgl. hierzu den Passus RGV, AA 06: 05 24 Silber 1963, S. Literaturangaben 25 Wood 1970, S. 31 f. 26 Wood 1970, S. 40 ff. 27 Wood 1970, S. 62 f.; vgl. Beck 1960, S. 135 28 Vgl. Auxter 1979. Auxters Kritik des höchsten Gutes stellt nun freilich kein Novum dar – in diesem Zusammenhang sei, um nur auf zwei der wichtigsten Beiträge zu verweisen, Beck 1960, insbes. S. 144 f. und Murphy 1965 genannt. 29 „Each new member gives other potential members new assurance that the faith is not in vain, and it also confirms the faith of that new member himself, in that, after his act, the club of which he is an ’honorary’ member is the larger by one, and its point depends on the size and persistence of its membership.“ (Baier 1980, S. 147)

Einleitung

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gesteht aber, anders als diese, zu, dass die Idee des höchsten Gutes uns immerhin davor bewahrt, einem die Moralität unterminierenden Fatalismus anheim zu fallen: „one cannot harbor the idea of a moral life in a natural, morally blind universe“ (Friedman 1984, S. 339). Zusammenfassend kann man – wenigstens für die englischsprachige Forschung – mit Beiser (2006, S. 589) einen Trend zu ‚antimetaphysischen‘ Deutungen des höchsten Gutes konstatieren: „Since the 1960s there has been a movement afoot in the Anglophone world to purge Kant’s philosophy of all metaphysics, to make Kant scrubbed and sanitary for a more positivistic age.“ Ebenfalls ‚antimetaphysisch‘, allerdings nicht im Sinne des analytisch geprägten Teils der Forschungsdiskussion, ist schließlich auch der Beitrag von Michael Städler im vorliegenden Band, der das Höchste Gut im Kontext der Sozialphilosophie betrachtet und der damit einen neuen und interessanten Zugang zu Kants Theorie bieten dürfte.

Die Beiträge des Bandes Dörflinger. Dörflingers Überlegungen³⁰ stellen eine Antwort auf die Frage dar, von welcher Beschaffenheit diejenige Religion eigentlich ist, zu der Moral, wie Kant in der Religionsschrift schreibt, „unausbleiblich“ führen soll. Den kantischen Text genau und den Begriff der Vernunftreligion ernst nehmend, führt er aus, dass der Gott einer solchen Religion nichts anderes sein kann „als die seitens des Menschen externalisiert gedachte praktische Vernunft“, genauer gesagt „die Vergegenständlichung praktischer Vernunft […], ergänzt um das Vermögen, Glückswürdigkeit und Glück in ein rationales Verhältnis zu bringen“³¹ – schließlich erzeugt gerade das empirisch zu beobachtende Missverhältnis zwischen Glückswürdigkeit und Glück überhaupt erst das (Vernunft‐)Bedürfnis nach einer vermittelnden Instanz, die zwischen beidem einen Nexus herstellt, der nicht, wie in der Erscheinungswelt, bloß zufällig ist, sondern der das Gepräge der Notwendigkeit besitzt. Daraus folgt

30 Diese können insgesamt als eine Stellungnahme zu der oben bereits zititeren, von Palmquist konstatierten Entwicklung verstanden werden: „Kant scholars are increasingly recognizing aspects of his philosophy that are more amenable to theism“ (Palmquist 2007, S. 17). 31 Wenn daher Wood 1970, S. 164 schreibt: „A concept of God which is to be adequate for moral faith must include not only „ontological“ perfections, but the perfections of a living and personal being, and, most important, moral perfections. It is God’s moral attributes, all of which are of necessity specifically personal, which Kant sees as fundamental to the concept of God“, so darf dabei nicht vergessen werden, dass dieser Begriff (concept) ein von der Vernunft entworfener ist und dass der eigentliche Glaube in der Annahme besteht, dass diesem vernunftursprünglichen Begriff auch ein Gegenstand – nämlich Gott – korrespondiert.

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nun aber, dass neben den religiösen Praktiken und Observanzen³² auch der Aktus der Offenbarung obsolet wird, sodass es sich bei diesen Kernmerkmalen aller positiven Religion nur „um falsche Religion […], nur [um] Vorspiegelung von Religion“ handeln kann.Vorspiegelung ist eine solche Religion auch deswegen, weil sich unter den menschlichen Vermögen, so wie sie in der theoretischen Philosophie Kants beschrieben werden, kein „Sensorium“ findet, das uns gestatten würde, Übersinnliches zu perzipieren. Auch die oft zu apologetischen Zwecken herangezogene Äußerung Kants, dass „Offenbarung […] Vernunftreligion in sich […] begreifen kann“ (RGV, AA 06: 12) ist, so Dörflinger, mit Vorsicht zu genießen, „denn die jeweiligen Gesetze koinzidieren bloß dem Inhalt nach“ und sind – was für den moralischen Status der daraus resultierenden Handlungen von höchster Bedeutung ist – im Hinblick auf ihren Normquell unterschieden. Erst recht gilt dies für Gesetze, die nicht einmal dem Inhalt nach mit den Gesetzen praktischer Vernunft übereinstimmen, womit insbesondere solche Pflichten angesprochen sind, die sich vorrangig oder ausschließlich an Gott selbst richten. Doch gerade diese nicht auf freier Selbstverpflichtung, sondern einzig und allein auf die Autorität eines kontingenten Schriftwerks sich stützenden Gesetze sind nicht nur moralisch heteronom, sondern stellen eine beständige Quelle von inner- und interreligiösen Konflikten dar: Erstens wird, aufgrund der fehlenden Rationalität dieser Gesetze, innerhalb der Religionsgemeinschaft beständig über ihre Auslegung gestritten, zweitens führt derjenige, der sich nicht an diese statutarischen Gesetze hält, in den Augen der Gläubigen als „ein falsches, gottloses Leben“ und stellt insofern eine Provokation dar. Olk. Dem Typus des Gläubigen, der das „falsche[], gottlose[] Leben“ des Anderen als Provokation ansieht und der seine eigene, subjektiv-zufällige Auslegung des „Kirchenglaubens“ verabsolutiert sehen möchte – kurzum: Dem religiösen Fanatiker – ist der Beitrag von Olk gewidmet. Religiöser Fanatismus gründet dabei in der in eine Maxime eingehende[n] und luststeigernde[n] Neigung, Gottes Wort zu folgen und sich ihm somit wohlgefällig zu machen. Damit bestimmt sich das Subjekt dazu, unabhängig aller vernünftigen, d. h. moralisch-praktischen Aufforderungen der Vernunft, bloß dasjenige zu tun, was Gott, und nicht die praktische Vernunft angeordnet hat.

32 Vgl. demgegenüber die Ausführungen bei Palmquist 1997, S. 593: „In other words, Kant is suggesting that the true heart (or pure core) of all prayer is an internal, dispositional spirit, not an external, verbal construction.“ Palmquists Überlegungen münden, diesem Verständnis des Gebets folgend, schließlich in die Frage, ob Kant selbst „a man of prayer“ (ebd., S. 598) gewesen war – was er bejaht – und schließt mit dem Hinweis, es sei Kants Absicht gewesen, das Gebet „once and for all as a philosophically justifiable act“ (ebd., S. 604) zu legitimieren.

Einleitung

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Dass aus solchen Maximen resultierende Handlungen in Ansehung ihres moralischen Status nur heteronomer Natur sein können, erklärt sich von selbst. Interessanter und auch wesentlich schwieriger zu beantworten ist die Frage nach der Zurechenbarkeit dieser Handlungen, da ja gerade der Fanatiker im Bewusstsein einer (vermeintlichen) Pflichterfüllung handelt. Ein moralisches Defizit kommt jedoch, wie Olk weiter ausführt, auch und gerade dem religiösen Fanatiker zu, da er, wenn er nicht bestrebt wäre, seine eigene Vernunft mit Gewalt zum Schweigen zu bringen, die Inkompatibilität seiner Handlungen mit dem Sittengesetz einsehen müsste, denn in den vorkommenden Fällen wäre es Pflicht, zumindest einen möglichen Irrtum bezüglich der gebildeten Maxime in Erwägung zu ziehen. Ein irrendes Gewissen kann es in diesem Zusammenhang nicht geben, weil dieses Gewissen die sich selbst richtende Vernunft (sich selbst richtende moralische Urteilskraft) ist.

Das Phänomen des Fanatismus ist also – so das Beweisziel Olks – als eine bewusste Entscheidung gegen das Sittengesetz und für die „luststeigernde Neigung“ im moralischen Hang zum Bösen zu suchen. Nun ist es leider so, dass die verschiedenen Arten des Kirchenglaubens auch solche extremen Ausprägungen des „Wahnglauben[s]“ (RGV, AA 06: 194) zumindest begünstigen, weil sie aufgrund ihrer (partiellen) Irrationalität „keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig“ (RGV, AA 06: 109) sind und sich daher im Hinblick auf die Handlungsmotivation vorrangig den Gefühlen der „Furcht oder Hoffnung“ (RGV, AA 06: 115 f.) bedienen müssen. Der von Furcht oder Hoffnung, von „Heilsversprechen und sonstige[n] Kuriositäten geoffenbarter Schriften“ getriebene Fanatiker, der hofft, durch die Befolgung willkürlicher Gesetze „Gott wohlgefällig zu werden“ (RGV, AA 06: 115 f.) zeichnet sich aber gerade nicht durch einen Gott wohlgefälligen Lebenswandel aus, sondern er wird, kurz und knapp, „zum moralisch Bösen verführt“. Klingner. Mit dem Hang zum moralisch Bösen, der, wie Olk zu zeigen versuchte, ursächlich für das Phänomen des religiösen Fanatismus ist, ist ein Passus aus der Religionsschrift angesprochen, der sich ohne Zweifel durch eine „nicht immer einfach zu durchschauende Führung des Gedankenganges“ auszeichnet und der daher in dem Beitrag von Klinger einer eingehenden Analyse unterzogen wird. Diese Analyse fußt, kurz gesprochen, auf der These, dass sich der Ursprung der menschlichen Willkür als nicht objektiv erkennbar erweist und das daher auf eine moralanthropologische Reflexion, die sich zum Zwecke der „Versinnbildlichung“ auch biblischer Erzählungen bedient, zurückgegriffen werden muss. Es muss also das nach Kants eigenem Bekunden „unerforschlich[e]“ Faktum verständlich gemacht werden, dass die Willkür „subordinierte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen“ (RGV, AA 06: 43) vermag – und zwar bei immer vorauszu-

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setzender moralischer Zurechenbarkeit. Die Möglichkeit einer solchen Priorisierung von eigentlich zu subordinierenden Triebfedern ist nun dem ‚Hang zum Bösen‘ geschuldet und mit dem ‚Hang zum Bösen‘ ist ein Begriff angesprochen, dem, wie Klingner weiter ausführt, ein eigentümlicher Status zukommt, weil er – ganz wie der Begriff der Bewegung in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft – „einen apriorischen Inhalt und zugleich bloß empirische Realität“ besitzt. Nicht zuletzt um die bereits erwähnte Zurechenbarkeit zu gewährleisten, muss die Erwerbung dieses Hanges nun als eine Tat gedacht werden, die selbst „nicht von diesem Hang beeinflusst“ ist. Schließlich muss, um wenigstens eine bildliche Darstellung dieses an sich „unerforschlich[en]“ Vorganges zu gewinnen, die biblische Erzählung vom Sündenfall herangezogen werden, die diesen Aktus symbolisch darstellt. Vesper. Der Beitrag zeigt auf, dass Kants Ausführungen über die Stufen des Bösen in der Forschung zu Unrecht geringe Aufmerksamkeit erfahren. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass Kant mit den Stufen des Bösen eine für seine Moralphilosophie allgemein wichtige Typologie moralischer Verfehlungen präsentiert. Dabei wird deutlich gemacht, dass Kant die Stufen in eine Reihenfolge nach der Schwere der Schuld bringt. Außerdem geben die Stufen des Bösen auch die oft bei Kant vermisste Antwort auf die Frage, wodurch wir zu moralisch bösartigen Menschen werden. Mit seinen knappen Ausführungen über die Stufen des Bösen eröffnet Kant eine „Phänomenologie unmoralischen Handelns“, die es erlaubt, jenseits der Binarität von Tugend und Untugend auch zwischen Graden der Schuld zu differenzieren. Immerhin zu einem geringen Grad böse handelt demnach, wer das Moralgesetz affirmiert, aber keine Gewichtung der Maximen vornimmt – Grund des (unvorsätzlich) Bösen ist hier also eine „unstrukturierte Willensbildung“. Gleichermaßen unvorsätzlich, aber moralisch schon schwerwiegender ist dagegen das Unvermögen, allein die moralische Triebfeder zum Bestimmungsgrund des Handelns zu machen. Wer die Verbindlichkeit des Moralgesetzes anerkennt, aber zum Vollzug einer Handlung ‚unterstützender‘ sinnlicher Motive bedarf, der kennzeichnet sich durch Unlauterkeit. Vesper weist diesbezüglich nach, dass die in der Grundlegung zu findende und am Beispiel des ‚klugen Kaufmanns‘ diskutierte Entgegensetzung von Moral und Klugheit einer „neue[n] Auffassung“ weicht: In der Religionsschrift geht es um eine mögliche Vermischung von Motiven, nicht bloß um die Wahl zwischen Pflicht und Eigennutz. Dadurch erweist sich das in der Forschung projektierte Modell der‚Überdeterminiertheit‘ als textfern und inapplikabel, denn ob eine gegebene Neigung zufällig in den Bereich der Legalität weist, ist unter moralischen Gesichtspunkten 1785 ebenso belanglos wie 1793. Vorsätzlich bösartig handelt schlussendlich, wer das moralische Gesetz dem Eigennutz bzw. der Selbstliebe bewusst unterordnet, d. h. wer „die sittliche Ordnung der Triebfedern“ (RGV, AA 06: 36) willentlich umkehrt. Interpretationen, die sich aber nur auf ei-

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gentliche Bösartigkeit festlegen und die folglich die Vorstufen derselben unberücksichtigt lassen, können den Feinheiten einer anwendungsbezogenen Moral nicht gerecht werden – das zeigt Vespers Beitrag eindrucksvoll. Abel. Der von Kant anempfohlene und „doktrinale Hermeneutik“ oder einfach „symbolische Deutung“ genannte Umgang mit sakralen Texten, der auch in den Beiträgen von Olk, Dörflinger und Klingner angesprochen wird, soll in dem Beitrag von Abel eine ideengeschichtliche Rekonstruktion erfahren. Dabei geht es weniger um das verwickelte, auf einer Verhältnisanalogie basierende Verfahren der symbolischen Deutung selbst, sondern um die historischen Vorläufer Kants, in deren Bahnen er trotz seines originellen Einbezuges der reflektierenden Urteilskraft bleibt. Ausgehend von dem in der Scholastik gepflegten und von Luther überwundenen vierfachen Schriftsinn, der diesen „auf das grundsätzliche [sc. biblische³³] Verhältnis zwischen Geist und Buchstabe zurückgeführt“ hatte, werden die Vertreter zweier Traditionslinien untersucht, die einmal dem „Geist“ und einmal dem „Buchstaben“ verpflichtet sind und die schließlich auch in der kantischen Unterscheidung zwischen „doktrinaler“ (sprich: allegorischer) und „authentischer“ (sprich: auf die Autorintention zielender) Hermeneutik Widerhall finden. Als einen Vertreter des „Buchstabens“, der insofern der „authentischen Hermeneutik“ nahesteht, untersucht Abel das Werk von Hermann Samuel Reimarus, der, seiner Buchstabentreue zum Trotz, als Apologet der Vernunft, nicht aber der Bibel bezeichnet werden kann. Obschon die authentische Hermeneutik nicht die von Kant Favorisierte ist, ist Reimarus Kant in seiner Betonung des Praktischen sehr ähnlich. Lessing dagegen, als zweiter, auf der Seite des „Geistes“ (und in gewissem Sinne auch der Allegorese) stehender Autor, lässt eine größere Nähe zum kantischen Denken vermuten, unterscheidet sich aber, den Vorerwartungen wiederum zum Trotz, in seiner Annahme von außer- und übervernünftigen Wahrheiten ganz eindeutig von Kant, der diese strikt ablehnt. Vilalta. Von Hume erweckt und durch Rousseau zurechtgebracht, ist Kant zweifelsohne aber auch zu den ausgewiesenen Kennern der zeitgenössischen theologischen Debatte zu zählen – ein eindrucksvolles, in seiner Gründlichkeit wohl immer noch unüberbotenes Zeugnis hierfür ist die Monographie von Josef Bohatec³⁴. Dass das religionsphilosophische Werk Kants in mancherlei Hinsicht durchaus als anschlussfähig an das Schaffen zeitgenössischer Theologen gelten kann, ist ein Umstand, der in der tendenziell eher zwischen Kantexegese und Aufklärungstheologie separierenden Forschung gerne übersehen wird. Diese Spur nimmt Vilalta auf und strebt dabei den Nachweis an, dass die Religion, so wie in der

33 2. Kor 3:6 34 Bohatec 1938

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Religionsschrift projektiert wird, signifikante Ähnlichkeiten mit den Religionsbegriffen Spaldings und auch Mendelssohns hat. Genauer gesagt, soll demonstriert werden, dass sowohl für Spalding als auch für Mendelssohn der religiöse Glaube keine notwendige Voraussetzung für moralisches Handeln darstellt: Man darf sich hierzu gerne den ersten Satz aus der ersten Vorrede der Religionsschrift in Erinnerung rufen: „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten“ (RGV, AA 06: 03). Zweitens – und auch hier drängen sich Gedanken an diverse Parallelstellen im kantischen Werk auf – zeigt Vilalta, dass der Gottesglaube von Spalding und Mendelssohn damit nicht als funktionslos abgetan wird, sondern seine Wirkung als eine Art moralisches Stimulans entfaltet: Für den Erfolg moralischer Handlungen ist der Glaube eben nicht unwesentlich. Hahmann. Geht es um Kants Konzeption des Höchsten Gutes, so werden üblicherweise die verschiedenen Fassungen desselben – von der Ersten über die Zweite und Dritte Kritik bis eben zur Religionsschrift – verglichen oder es wird das Verhältnis derselben zu den antiken Vorläufern³⁵ erfragt. Unüblich dagegen ist ein Rückgriff auf die Frühschriften Kants, namentlich die Inauguraldissertation und die Nova dilucidatio. In seinem hier vorliegenden Beitrag vermag Hahmann eindrucksvoll zu zeigen, dass sich ein neuer und überaus interessanter Zugang zum Höchsten Gut gewinnen lässt, wenn man diese sich durch gut vierzig Jahre geistigen Arbeitens ziehenden Bahnen freilegt. Die die Erste Kritik bestimmende Frage nach der Möglichkeit der Einheit der Erfahrung wird in der Nova dilucidatio noch mit dem begrifflichen Instrumentarium der Wolff’schen Schulphilosophie bearbeitet; eine Antwort kann dort nur durch den Rückbezug auf Gott als gemeinsame Ursache aller Substanzen gegeben werden. Diesen Ansatz verfolgt Kant grosso modo auch noch in der Inauguraldissertation, in der Kritik der reinen Vernunft wird dieses Problem aber, gemäß der in ihr vollzogenen ‚Revolution‘, einer neuen Lösung zugeführt. Der dogmatisch-metaphysische Begriff einer selbstständigen Substanz wird dort zugunsten der Annahme raumzeitlich erscheinender Substanzen aufgegeben, die der Verstand mithilfe der Einbildungskraft zu einer einheitlichen Erfahrung verknüpft. Wenn nun in der theoretischen Philosophie die Einheit der Erfahrung einmal mit und einmal ohne Gottesbezug beantwortet wurde, dann stellt sich die Frage, ob eine ähnliche Entwicklung auch in der praktischen Philosophie und der im Höchsten Gut gedachten Einheit der Zwecke zu beobachten ist. Im Praktischen

35 Sehr erhellend hierzu ist Düsing 1971, S. 7–14

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bleibt Kant jedoch (Schul‐)Metaphysiker. In der Ersten Kritik projektiert er eine Art Harmonie zwischen den Reichen „Natur“ und „Freiheit“, die ohne Gott nicht auskommt und die offenkundig eine gewisse Nähe zu Leibniz besitzt. Eine ähnliche Argumentation lässt sich auch in der Rechtsphilosophie beobachten, wenn Kant konstatiert, dass die substanzanalog gedachten Staaten nur durch göttliches Eingreifen in die vernunftgeforderte Einheit eines Staatenbundes gebracht werden können. Der Gedanke, dass Gott als extramundanes Prinzip notwendig ist, um Einheit und Harmonie herzustellen – sei es die Verknüpfung von Moral und Glück im höchsten abgeleiteten Gut oder die Verrechtlichung der Einzelstaaten im höchsten politischen Gut – wurzelt also tief im kantischen Denken und ‚überlebt‘ wenigstens in der praktischen Philosophie bis in die Spätschriften. Bordoni. Die eigentümliche Doppelfunktion des Naturzustandes (juridisch bzw. ethisch) zu erfassen und ihre Bedeutung für das Verständnis der Religionsschrift zu erschließen, ist das Anliegen von Bordoni. Dass neuere Arbeiten wie etwa die oben bereits erwähnte Monographie von Pasternack³⁶ dieses in der Religionsschrift neu eingeführte(!) Theorieelement nicht einmal mit einem eigenen Eintrag im Sachregister würdigen, ist symptomatisch für die Unterschätzung der Wichtigkeit desselben. Bordonis These, die sich aus der in der von Kant vorgenommenen Unterscheidung zwischen ethischem und juridischen Naturzustand, aber auch zwischen ethischem und politischem höchsten Gut ableitet, besteht darin, dass die „Verfolgung des höchsten [sc. ethischen] Gutes […] auch die Verfolgung des höchsten politischen Gutes“ (herv. S.A.) voraussetzt. Diese setzt nun wiederum ein Verlassen des juridischen Naturzustandes voraus und die Pflicht hierzu ist, wie Kant in Übereinstimmung mit Hobbes erklärt, keine Pflicht a natura, sondern eine moralische Pflicht. Nun stellt sich aus der Schaffung von Rechtsverhältnissen, d. h. dem Austritt aus dem juridischen Naturzustand, noch nicht die Überwindung des ethischen Naturzustand als direkte Folge ein – trotzdem wäre es aber „voreilig, daraus zu folgern, dass laut Kant ein solcher Fortschritt keine moralische Bedeutung hätte“. Vielmehr erweist sich das Verhältnis zwischen bürgerlichem, d. h. juridischem und ethischem Fortschritt als ein durch Wechselseitigkeit gekennzeichnetes. Moralische Kultur begünstigt die Einrichtung „eines authentischen Weltbürgertums“ und der bürgerliche Fortschritt begünstigt vice versa die moralische Kultur. Kharitonova. Dass der Glaubensbegriff als Modus des Fürwahrhaltens für die kantische Philosophie insgesamt Bedeutung besitzt, ist allgemein anerkannt. Ob bzw. inwiefern dieser Begriff aber nun aber noch weiterer Differenzierungen bedürftig ist, die dem jeweiligen Anwendungskontext Rechnung tragen, darüber gehen die Meinungen auseinander. Man muss nur die Kritik der reinen Vernunft zur

36 Pasternack 2014

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Hand nehmen, um zu sehen, dass alleine in diesem Werk der Begriff des Glaubens auf zwei verschiedene, scheinbar gegensätzliche Arten verwendet wird. So wird in einem vielzitierten Passus aus der Vorrede³⁷ das Wissen dem Glauben scheinbar entgegengesetzt, während sich in der Methodenlehre derselben Schrift im Kapitel „Vom Meinen, Wissen und Glauben“ ein gerade nicht auf Entgegensetzung beruhendes Stufenmodell der Modi des Fürwahrhaltens findet. Nimmt man nun noch die Vorlesungsnachschriften aus der ersten Hälfte der 1780er Jahre, d. h. dem Zeitraum der Arbeit an der Zweitauflage der KrV, hinzu, so ergibt sich ein abermals anderes Bild, weshalb hier eine systematische Analyse des Glaubensbegriffs geboten scheint. Ausgehend von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen einem empirischen und einem moralischen Glauben systematisiert Kharitonova zunächst die mannigfaltigen, in der Religionsschrift zu findenden Glaubensbegriffe, um dann, auf Meier zurückgehend, erneut die Dichotomie von historischem Glauben und Vernunftglauben (der bei Meier einen Sonderfall des historischen Glaubens darstellt) zu untersuchen. Dabei wird sich zeigen, dass die Systematik der kantischen Begriffe in Grundzügen bereits bei Meier zu finden ist, wenngleich Kant nicht alle Termini Meiers (etwa die Unterscheidung zwischen einem fide pura bzw. mixta) von Kant übernommen werden. Letztendlich werden sich alle Formen des Glaubens auf eine der beiden Gattungen – Vernunftglaube und historischer Glaube – zurückführen lassen und es wird sich zeigen, dass Kant aus sachlichen Gründen gezwungen ist, entsprechend den verschiedenen Arten des Glaubens auch zwischen verschiedenen Arten von Gewissheiten zu unterscheiden. Für die Religionsphilosophie entscheidend ist natürlich die moralische Gewissheit und von dieser wird sich zeigen, dass sie, anders als bei Meier, keine bloße Vorstufe der „Vernunftgewissheit“ ist und sich, als einer natürlichen Anlage entspringend, nicht mehr weiter steigern lässt. Städtler. Nicht juridische und auch nicht ethisch-formale, sondern genuin soziale Bedingungen macht Städtler zum Gegenstand seiner Interpretation des „ethischen Gemeinwesens“ und eröffnet damit eine unkonventionelle Perspektive auf die Religionsschrift. Insofern die dort projektierte Moralisierung nämlich kollektiver Natur ist, wird man nicht umhin kommen, „das Böse begünstigende[] Faktoren in den sozialen Beziehungen zu minimieren, oder einander in der ethischen Gesinnungsbildung zu unterstützen.“ Auszuschließen sind daher „nicht ethisch gesetzesförmig[e]“, partikulare, bloß auf den Privaterfolg zielende Zwecksetzungen, die in sozialer Hinsicht Neid, Herrschsucht u. dgl. begünstigen. Diesem vernunftwidrigen „pathologische[n] Ideal der gemeinsamen Verfolgung von Partikularzwecken“ stellt Städtler ein Gemeinwesen gegenüber, das, als dezidiert ethi-

37 „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen“ (KrV B XXX)

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sches, auf „freie[r] Kooperation“ beruht. In einer so verstandenen, nur durch beständige moralische Kultivierung zu erreichenden Gemeinschaft werden Zwangsgesetze schließlich obsolet³⁸ – Städtler interpretiert das zu „ethischer Vollkommenheit“ entwickelte Gemeinwesen als ein bloß ethisches Gemeinwesen. Wie dieses dereinst bewerkstelligt werden soll, veranschaulicht Kant anhand einer Analogie: Wie auch die wahre aus der historischen Kirche erwachsen soll, d. h. wie eine sich durch zwangsbewehrte Dogmen und Statuten kennzeichnende Kirche in eine rein moralische Gemeinschaft transformiert, so soll sich auch das juridischbürgerliche Gemeinwesen zu einem Ethischen entwickeln. Eine bruchlose Transformation – so Städtlers Fazit – ist aber aufgrund der Inkommensurabilität von Anfangs- und Endpunkt nicht möglich: Die „politische[] Macht“ wird denjenigen Staatsbürger, der geneigt ist, in ein ethisches Gemeinwesen einzutreten, nicht von seinen staatsbürgerlichen Pflichten befreien. Insofern juridische und ethische Pflichten im besten Falle, aber eben nicht notwendig konkordant sind, empfiehlt es sich, den inhärent konfliktären Partikularismus auch aus der bürgerlichen Gesetzgebung herauszuschaffen und „das ethische Gemeinwesen zum Maßstab des juridischen“ zu erheben. Stiening. Das spannungsgeladene Verhältnis zwischen rechtlicher und ethischer Vergemeinschaftung, auf das Städtler am Ende seines Beitrags hinweist, greift Stiening in seiner auch die poetische Rezeption mit in den Blick nehmenden Interpretation auf. Stiening spricht sich dabei gegen die Obsoleszenz zwangsbewehrter Normen aus und bringt damit Kant etwa gegen Fichte in Stellung, der in seinen „Excursen zur Staatslehre“ schreibt: „Das vermittelnde Glied ist nemlich schon gefunden: es ist die Erziehung Aller zur Einsicht vom Rechte. Nur wenn der Zwangsstaat diese Bedingung erfüllt, hat er selbst das Recht zu existieren, denn in ihr bereitet er die eigene Aufhebung vor“ (SW VII, S. 574). Kant gibt sich als Antipode nicht nur Fichtes, sondern auch Mendelssohns und Wielands zu erkennen, wenn er schreibt: „Wehe dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte!“ (RGV, AA 06: 95). In seiner Auffassung, dass eine bloß moralische Vergemeinschaftung, die der juridischen entbehren könne, eine Utopie und ein Hirngespinst sei, nimmt Kant in der Spätaufklärung eine isolierte Position ein. Nach dieser Verortung Kants auf dem Tableau zeitgenössischer Staatstheorien geht Stiening im zweiten Teil seines Beitrags auf das Verhältnis zwischen ethischem und juridischem Gemeinwesen ein und beschreibt die unterschiede zwischen beiden. Ihr Verhältnis ist insofern harmonisch, als das juridische Gesetz das Ethische ‚bricht‘ und Pflichtenkollisionen damit ausgeschlossen sind:

38 Dies ist, so Stiening in seinem Beitrag, die „anti-etatistische[] Tradition eines Teils der Spätaufklärung“, zu der etwa Wieland, Mendelssohn und Fichte zu zählen sind.

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Staatsbürger können nicht auf Grundlage privater ethischer Reflexionen darüber entscheiden, welche Gesetze für sie verbindend sind und welche nicht. Was nun die Unterschiede angeht, so liegt der erste derselben im Umfang der beiden Gemeinwesen: Während das juridische Gemeinwesen auf globaler Ebene nicht über eine kosmopolitische Republik³⁹ hinauskommt, besitzt das ethische Gemeinwesen globalen Charakter. Während das juridische Gemeinwesen gewaltenteilig regiert wird, beherrscht das ethische Gemeinwesen ein alle Gewalten in seiner Person⁴⁰ vereinigender Gott. Und während das juridische Gemeinwesen ist in Gestalt souveräner Einzelstaatlichkeit schon vielfach verwirklicht wurde, ist die Verwirklichung des ethischen Gemeinwesens ins Unendliche hinausgeschoben. Blickt man schließlich auf die staatstheoretischen Reflexionen in Hölderlins Hyperion, so zeigt sich, dass die dort entwickelte Vorstellung einer juridischen Einhegung des „Garten[s] menschlicher Früchte und Blumen“ durchaus anschlussfähig an die Position Kants ist. Eine Selbstaufhebung des Staates widerspricht dem hobbesianisch geprägten Menschenbild Hölderlins. Unterschieden sind Kant und Hölderlin aber letztendlich darin, dass ethisches und juridisches Gemeinwesen für Letzteren keine disparaten Formen der Vergemeinschaftung darstellen, sondern sich gegenseitig durchdringen müssen, sofern der Staat nicht zu einem „mechanischen Zwangssystem“ denaturieren soll.

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39 Folgt man der sehr überzeugenden Darstellung Hirschs (2018, insbes. S. 34 ff.). so votiert Kant für eine „kosmopolitische Republik“, die mehr als ein Staatenbund, aber weniger als eine Universalmonarchie ist. 40 Eine argumentativ starke Widerlegung des damit einhergehenden Despotismus-Verdachts findet sich bei Klinge 2018, S. 127 ff.

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I Positive Religion und Vernunftreligion

Um deutlich zu machen, welcher Teil der Offenbarungsreligionen innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft zu verorten ist, bedient Kant sich einer Analogie aus der euklidischen Geometrie: Positive Religion und Vernunftreligion, so das sattsam bekannte Beispiel, verhalten sich zueinander wie zwei „concentrische Kreise“ (RGV, AA 06: 12). Es liegt aber im Wesen der Analogie¹, dass sie nicht den Sinn einer Sache selbst (logos) wiedergibt, sondern sich im Bereich des Sinngemäßen (ana-logos) bewegt. Konzentrische Kreise sagen uns also über das Verhältnis zwischen positiver Religion und Vernunftreligion also genau so viel, wie uns die Mechanik Newtons über die „rechtlichen Verhältnisse menschlicher Handlungen“ (Prol, AA 04: 357 Anm.) belehrt. Kurzum: Über ein „als ob“ (Prol, AA 04: 357) geht Kants Beispiel nicht hinaus, das Verhältnis bleibt weiterhin uneindeutig. Eindeutiger – um nur einige Beispiele rhapsodisch aufzuzählen – ist der an Lessings Erziehungsschrift erinnernde Hinweis, dass das „Leitband der heiligen Überlieferung“ eine „Hülle[]“ und letztlich gar eine „Fessel“ sei, die „abgelegt werden“ (RGV AA 06: 121) müsse. Diese Hülle erweist sich bei näherem Hinsehen als eine „mythische[] Hülle“ (RGV, AA 06: 83), weil sie moralische Fragestellungen im Modus der Narration verhandelt und sie ist letztlich, um in der analogisch-symbolischen Ausdrucksweise zu verbleiben, nicht der ‚Kern‘. Auch die mehrfach wiederholte² Bezeichnung der positiven Religion als Vehikel weist in diese Richtung und letztlich spricht es auch für sich, wenn Kant den nicht vernunftursprünglichen und also statutarischen Glauben dem „Religionswahn“ (RGV, AA 06: 168) zurechnet. An anderer Stelle, nämlich in seiner Theorie des Ethischen Gemeinwesens, scheint er diese Lesart allerdings zu konterkarieren, indem er den historischen Kirchenglauben, der ja auf der positiven Religion ruht, als unverzichtbar ausweist: „Die Constitution einer jeden Kirche geht allemal von irgend einem historischen (Offenbarungs‐)Glauben aus, den man den Kirchenglauben nennen kann, und dieser wird am besten auf eine heilige Schrift gegründet“ (RGV, AA 06: 102) – das erfahren wir bereits aus einer der Kapitelüberschriften. Die Menschheit ist, nehmen wir Kant hier beim Wort, in der eigentümlichen Situation, im Hinblick auf das zu stiftende Gemeinwesen notwendig auf etwas angewiesen zu sein, das seiner Natur nach kontigent ist. Eine sachgerechte, nicht vorschnell vereindeutigende Auslegung muss also behutsam verfahren: Welche Zumutungen ein durch die Vernunft eingehegter Offenbarungsglaube dabei erdulden muss, das werden die nachfolgenden Beiträge ausloten.

1 Genauer gesagt, des Denkens und nicht des Schließens nach der Analogie, denn Religionen und Kreise gehören keiner gemeinsamen Gattung an. 2 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, sei diesbezüglich auf RGV, AA 06: 106, 107, 118, 123 und 135 Anm. verwiesen. https://doi.org/10.1515/9783111063935-002

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Was Kants Religionsphilosophie den historischen Religionen zumutet Es ist Kant offenbar wichtig, gleich im ersten Satz der Vorrede seiner Religionsschrift unmissverständlich klarzustellen, woran seine wie immer zu entwickelnde rationale Religionsidee nichts ändern wird, nämlich nichts an der Moral unter den Gesichtspunkten ihrer autonomen Grundlegung allein in reiner praktischer Vernunft und ihrer rein intrinsisch motivierten Applikation. „Die Moral, so fern sie auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens, gegründet ist, bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm, um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten.“ (RGV, AA 06: 3). Wenig später heißt es entsprechend: „Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst (sowohl objectiv, was das Wollen, als subjectiv, was das Können betrifft) keineswegs der Religion, sondern vermöge der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug.“ (ebd.) Und dennoch findet sich ein paar Seiten später in derselben Vorrede die berühmte Konklusion „Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, AA 06: 8). Dazwischen hat – über den Grundlegungs- und den Applikationsaspekt hinaus – eine konsequenzialistische Überlegung in Hinsicht auf Moral stattgefunden. Diese erachtet Kant für zwingend, denn es könne „Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein, wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: w a s d a n n a u s d i e s e m u n s e r m R e c h t h a n d e l n h e r a u s k o m m e “ (RGV, AA 06: 5). Seine Antwort auf die Frage, was vernünftigerweise herauskommen sollte, lautet schon seit der Ersten Kritik: dass „das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich […] verbunden sei“ (KrV A 809/B 837). Gefordert ist, anders gesagt, „das System der sich selbst lohnenden Moralität“ (ebd.). Dem Geforderten steht allerdings die missliche Einsicht in einen irrationalen Zug des Lebens entgegen, den der Mensch kraft eigenen Vermögens nicht heilen kann. Dieser Zug besteht in dem vernunftwidrigen Umstand, dass der Nexus zwischen der moralischen Qualität des Menschen und seiner sinnlichen Existenz kein notwendiger ist, sondern bloß ein zufälliger. Das heißt: Im Leben kann es der Mensch durch Moral nicht weiter als bis zur Glückswürdigkeit bringen. Weder ist der Moralische notwendig glücklich noch der Unmoralische notwendig unglücklich. Und eben deshalb, „weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, [muss] ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses gehttps://doi.org/10.1515/9783111063935-003

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schieht“ (RGV, AA 06: 8); eben deshalb führt Kant zufolge „Moral […] unausbleiblich zur Religion“ (ebd.). Es handelt sich dabei offensichtlich um Religion, die rein in Gedanken entwickelt ist, um natürliche Religion also, die keine Offenbarung beansprucht, keine Selbstmitteilung eines von Anfang an extern gedachten Gottes, der gegenüber der Mensch sich als passiv und empfangend verstehen müsste. Umgekehrt lässt sich der durch Kants rationale Religionsidee gedachte Gott als die seitens des Menschen externalisiert gedachte praktische Vernunft verstehen, die er im Streit der Fakultäten bezeichnenderweise auch den „Gott in uns“ (SF, AA 07: 48) nennt. Weil der gemäß der selbst erzeugten Religionsidee gedachte Gott nur als die Vergegenständlichung praktischer Vernunft zu denken ist, ergänzt um das Vermögen, Glückswürdigkeit und Glück in ein rationales Verhältnis zu bringen, wird durch den Gedanken an ihn die Zahl der Menschenpflichten nicht vermehrt. Vernunftreligion kennt also keine außer- bzw. irrationalen Pflichten, die Kant statutarische Pflichten nennt, sondern nur dieselben Pflichten von Menschen gegenüber Menschen, die auch ohne Religion allein aus praktischer Vernunft herzuleiten sind. Der Gott der Vernunftreligion verlangt demnach, kurz gesagt, nichts weiter als einen guten Lebenswandel. Was er nicht verlangt, sind über moralische Praxis hinausgehende spezifisch religiöse Praktiken – doch dazu später. Dem Gesagten entspricht Kants Standarderklärung der Vernunftreligion, in ihr würden unsere Pflichten – die Pflichten also, die uns vermöge praktischer Vernunft schon bekannt sind – zugleich bzw. zusätzlich als göttliche Gebote betrachtet. Die bis hierhin skizzierte Vernunftreligion nennt Kant die einzig wahre. Daraus folgt, dass alles, was noch darüber hinaus den Titel Religion beansprucht, nur falsche Religion sein kann, nur Vorspiegelung von Religion. Unverblümt gesprochen, gehören dazu die historischen Offenbarungsreligionen, diejenigen also, die nicht aus Vernunft entwickelt sind, sondern sich auf geschichtlich in Raum und Zeit situierte Selbstmitteilungen Gottes berufen. Aufgrund dieser raumzeitlichen Situiertheit nennt Kant den Glauben an solche Mitteilungen auch „empirischen Glauben, den uns dem Ansehen nach ein Ungefähr“ – also der Zufall – „in die Hände gespielt hat“ (RGV, AA 06: 110). Er verweigert denn auch den Arten solchen Glaubens konsequent die Bezeichnung „Religion“ und nennt sie „bloße Kirchenglaubensarten“. Im Folgenden seien sie dennoch weiterhin Offenbarungsreligionen genannt, denn erstens hat sich Kant, wie wir wissen, mit seiner Sprachbereinigungsintention nicht durchsetzen können und zweitens sind die Kirchenglaubensarten wenigstens ihrem Selbstverständnis und der Prätention nach Religionen. Wenn nun der Sache nach die Frage ist, warum die historischen Religionen die Bedingungen des kantischen Religionsbegriffs nicht erfüllen, liegt es nahe, zu allererst den Begriff der Offenbarung in den Blick zu rücken. Religion ist in diesen, wie gesagt, empirischen Religionen nicht wie bei Kant aus Begriffen praktischer Vernunft a priori hergeleitet, sondern sie beanspruchen theoretische Offenba-

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rungserfahrungen. Solche übernatürlichen Erfahrungen sind aber nach Kants kritischer Erkenntnislehre nicht zu legitimieren. Für sie fehlt dem Menschen dieser Lehre zufolge das Sensorium; weder der äußere Sinn noch der innere Sinn verfügen über die dazu nötige Empfänglichkeit. Wenn auch, so Kant, „Gott zum Menschen wirklich spräche, so kann dieser doch niemals w i s s e n , daß es Gott sei, der zu ihm spricht. Es ist schlechterdings unmöglich, daß der Mensch durch seine Sinne den Unendlichen fassen, ihn von Sinnenwesen unterscheiden und ihn woran k e n n e n solle“ (SF, AA 07: 63). Doch nicht nur die Grenzen der Sinnlichkeit sind nicht beachtet, wenn sie widersprüchlicherweise auf sinnliche Art etwas Nicht-Sinnliches empfinden soll. Es kann auch, so wieder Kant, Erfahrung „(als übernatürlich[e]) auf keine Regel der Natur unseres Verstandes zurückgeführt und dadurch bewährt werden“ (SF, AA 07: 57). Die Restriktionen insbesondere der Kausalitätsregel unseres Verstandes, der zufolge erscheinende Wirkungen immer nur auf Ursachen bezogen werden können, die ihrerseits Erscheinungen sind, sind außer Kraft gesetzt, wenn Offenbarungserfahrungen beansprucht werden. Mit besonderer Schärfe formuliert Kant seine Kritik an solchen vermeinten Erfahrungen, wenn es sich um solche mittels des inneren Sinns handeln soll, wenn also ein „Gefühl der unmittelbaren Gegenwart des höchsten Wesens“ (RGV, AA 06: 175) beansprucht wird. Derart „[h]immlische Einflüsse in sich w a h r n e h m e n zu wollen“, nennt er „eine Art Wahnsinn“ (RGV, AA 06: 174), dem er den Namen „Illuminatism innerer Offenbarungen“ gibt (SF, AA 07: 46). Im Fall solcher Offenbarung hätte von den illuminierten Subjekten mit exklusivem Status „jeder alsdann seine eigene“ und es fände „kein öffentlicher Probierstein der Wahrheit mehr Statt“ (ebd.). Über das Defizit eines überschwänglichen Erkenntnisanspruchs hinaus schreibt Kant den Virtuosen innerer Offenbarungen auch ein moralisches Defizit zu. Der an sie adressierte Vorwurf ist, allgemein gesprochen, der der moralischen Passivität. Im Blick auf Religionserscheinungen seiner Zeit, nämlich im Blick auf den „S p e n e r - F r a n c k i s c h e n und den M ä h r i s c h - Z i n z e n d o r f s c h e n Sectenunterschied (den Pietism und Moravianism)“ (SF, AA 07: 55), die er beide zur Gattung der „mystische[n] Gefühlstheorie“ (SF, AA 07: 56) zählt, diagnostiziert Kant, dass beide „keine Besserung aus eigenen Kräften hoffen“ (SF, AA 07: 54). Stattdessen verlangten sie von den Offenbarungsaspiranten, um sich dafür empfänglich zu machen und um sich um diese Gunst zu bewerben, in sich gewisse Gefühlszustände zu erzeugen, die eine Sekte Gefühle herzzerschmelzender Art und die andere das Gefühl der Selbstverachtung. Kants Kommentare dazu sind: Der, der in der Empfindelei „zärtlicher Rührungen“ befangen ist, dessen „Herz welk“ ist, der ist „für die strenge Vorschrift der Pflicht unempfindlich“ (KU, AA 05: 273); und der, der sich selbst verachtend, „kriechende, niedrige Gunstbewerbung“ betreibt, der hat „alles Vertrauen auf eigenes Vermögen zum Widerstande gegen das Böse“ (ebd.) aufge-

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geben. Der Selbstverachtung entgegen soll der Mensch vielmehr, so Kant in der Tugendlehre, „die moralische Selbstschätzung […] nicht verläugnen“ (MS, AA 06: 435). Insofern Kant diese Selbstschätzung hier ausdrücklich als Tugendpflicht aufführt und dem Laster der Kriecherei entgegensetzt, ist zu erkennen, dass er die beiden Spielarten von Gefühlsreligion nicht bloß für falsche Religionslehren, ansonsten aber für moralisch indifferent hält, sondern dass er sie auf der Seite der moralischen Verwerflichkeit ansiedelt. Die bisherige strikte Entgegensetzung von Vernunft- und Offenbarungsreligion wird dem Anschein nach durch eine berühmte Passage in der Vorrede zur 2. Auflage der Religionsschrift konterkariert, die denn auch von interessierter Seite gerne in harmonisierender Absicht herangezogen wird. In dieser Passage sagt Kant in der Tat, dass „O f f e n b a r u n g […] V e r n u n f t r e l i g i o n in sich […] begreifen kann“ und dass es möglich sei, „von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung auszugehen“, sie an „moralische Begriffe“ zu „halten“ und auf diese Weise zum „V e r n u n f t s y s t e m der Religion“ zurückzukommen (RGV, AA 06: 12). Das potentielle Verhältnis beider drückt er durch das Bild zweier konzentrischer Kreise verschieden großen Umfangs aus. Der kleinere Kreis innerhalb des Umfangs des größeren repräsentiert dabei Vernunftreligion, die, wie gesehen, nichts weiter ist als der Inbegriff der moralischen Gesetze praktischer Vernunft, insofern diese zusätzlich noch als göttliche Gesetze betrachtet werden. Die Möglichkeit, die Kant dadurch ausdrückt, dass der kleine Kreis mit dem inneren Teil des großen Kreises übereinstimmt, der seinerseits für eine dafür gehaltene Offenbarung steht, ist die, dass die Lehren solcher vermeinter Offenbarungen auch moralische Gesetze mit beinhalten können. Man denke etwa an das Verbot der Lüge aus dem Dekalog der Bibel. Im verbleibenden Teil des großen Kreises, der über die Schnittmenge mit dem kleinen hinausgeht, sind die statutarischen religiösen Lehren zu verorten, also solche, die aus Vernunft nicht zu entwickeln sind und die folglich ohne die Offenbarung dessen, was Gott willkürlich festgesetzt hat, nicht bekannt wären. Als Beispiel dafür kann ein anderes Gesetz aus dem Dekalog dienen, nämlich die Vorschrift zur „periodischen Gottesverehrung“ an jedem siebten Tag der Woche. Angesichts der skizzierten Verhältnisse kann man Kants Aussage durchaus zustimmen, eine dafür gehaltene Offenbarung könne das Vernunftsystem der Religion beinhalten, denn offensichtlich beinhaltet der Dekalog das Lügenverbot reiner praktischer Vernunft. Gleichwohl handelt es sich dabei nur um eine sehr eingeschränkte Übereinstimmung zwischen ihr und der vorausgesetzten Offenbarung, denn die jeweiligen Gesetze koinzidieren bloß dem Inhalt nach, indem sie eben das Lügen verbieten; der Form nach, die von entscheidender Wichtigkeit ist, koinzidieren sie nicht, indem im ersten Fall der Geltungsgrund ein äußerer und im zweiten Fall ein innerer ist. Der von Kant ansonsten stets betonte Unterschied, der durch seine

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Übereinstimmungsthese bzw. durch seine Kreismetaphorik allerdings nicht dementiert ist, ist der zwischen Heteronomie und Autonomie. Wenn das Lügenverbot als ursprünglich geoffenbart und als den diesbezüglich zunächst unsicheren Menschen erst nachträglich bekannt gemacht zu betrachten wäre, wäre es ein heteronomes statutarisches Gesetz, also kein auf freier Selbstverpflichtung beruhendes, sondern ein auf die Willkür eines anderen zurückgeführtes. So verstanden, könnte das Lügenverbot nicht den Status eines kategorischen Imperativs haben; es stünde als hypothetischer Imperativ bloß unter den Bedingungen der Beständigkeit der Willkür des besagten anderen und des Glaubens an dessen Offenbarung in Geltung. – Solche Konsequenzen und deren Voraussetzung, eine vorgängige Offenbarung, sind allerdings durch Kants Verhältnisbestimmung keineswegs nahegelegt. Indem er empfiehlt, eine dafür gehaltene Offenbarung an moralische Begriffe zu halten, um so eventuell zum Vernunftsystem der Religion zurückzukommen, wenn die jeweilige Offenbarungsreligion das hergibt, ist umgekehrt die Priorität reiner praktischer Vernunft und der aus ihr hergeleiteten rationalen Religionsidee vorausgesetzt, eine Priorisierung der vermeinten Offenbarung also zu vermeiden. Insgesamt eignet sich Kants Modell der konzentrischen Kreise nicht dazu, um daran anknüpfend Unterschiede zu verwischen oder Kritik zu verundeutlichen. Das gilt nicht zuletzt für seine Kritik am Gesetzestypus „statutarisches Gesetz“ im Allgemeinen und an gewissen statutarischen Gesetzen, die er – unterschiedlich spezifiziert – in allen Offenbarungsreligionen vertreten sieht. Zu den letzteren gehört die schon angesprochene Vorschrift zur Gottesverehrung bzw. das Gottesdienstgebot. Die historischen Religionen, insofern sie eigens an Gott adressierte Handlungen verlangen, eine spezifisch gottesdienstliche religiöse Praxis also, stehen in eben diesem Punkt in scharfem Kontrast zur Vernunftreligion. Der durch diese moralische Religion zur Moral hinzukommende Gedanke ist allein der, dass durch die Erfüllung der in reiner praktischer Vernunft gründenden Pflichten „auch göttliche Gebote“ (RGV, AA 06: 103) befolgt werden.Von diesem Gedanken hängen aber weder Geltung noch Ausübung der Moral ab, so dass denjenigen, denen er nicht überzeugend vorkommt, kein moralisches Defizit zugeschrieben werden kann. Agnostiker, die sich des Urteils enthalten, und Atheisten, die ihn explizit verwerfen, müssen also als moralisch dadurch unangefochten betrachtet werden. Der Gedanke, durch moralische Praxis auch noch „i m D i e n s t e G o t t e s “ zu stehen (RGV, AA 06: 103), bedarf keiner eigens ihm korrespondierenden äußeren Manifestation, also keiner ihm korrespondierenden spezifisch gottesdienstlichen religiösen Praxis, die über die moralische Praxis als solche, den guten Lebenswandel also, hinausginge. Es ist den Menschen, so Kant, sogar „schlechterdings unmöglich […], Gott auf andere Weise näher zu dienen“ als auf die Weise der Erfüllung der Pflichten gegen Menschen, „weil sie doch auf keine andern, als blos auf

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Weltwesen, nicht aber auf Gott wirken und Einfluß haben können“ (RGV, AA 06: 103). Der Gottesdienst dagegen, der„gemeiniglich so benannt wird“ (RGV, AA 06: 192), der also aus jenen direkt an Gott adressierten Handlungen besteht, wird von Kant sogar als „Wahn“ bezeichnet, wenn mit ihm das Bewusstsein verbunden ist, er (und nicht der gute Lebenswandel allein) sei der wahre Gottesdienst. Speziell drückt sich ihm zufolge die Verirrung, etwas für Gottesdienst zu halten, was kein Gottesdienst ist, durch das als Gnadenmittel eingesetzte Gebet aus. Davon überzeugt zu sein, der Mensch könne in einem solchen Verhältnis zu Gott stehen, dass er wie im Verhältnis zu einem Mitmenschen zu einem Mittel der Beeinflussung greifen könne, um erwünschte Rückwirkungen zu erzielen, hier die der Gnade, zählt Kant zusammen mit dem Glauben an Wunder und an Geheimnisse zum Wahnglauben (vgl. RGV, AA 06: 194). Die Vehemenz, mit der Kant der spezifisch gottesdienstlichen religiösen Praxis entgegentritt, erklärt sich wohl größtenteils daraus, dass er darin eine Kraft sieht, die gegen dasjenige wirkt, was ihm zufolge die adäquate Zentralstelle menschlichen Selbstverständnisses ist, nämlich reine praktische Vernunft, durch die der Mensch sich selbst, also autonom, zur Moralität gegenüber Menschen verpflichtet. Für die Akteure der abgelehnten gottesdienstlichen Praxis dagegen ist Pflichterfüllung „Betreibung einer A n g e l e g e n h e i t Gottes, nicht des Menschen“ (RGV, AA 06: 103). „Sie können sich ihre Verpflichtung nicht wohl anders, als zu irgend einem D i e n s t denken, den sie Gott zu leisten haben; wo es nicht sowohl auf den innern moralischen Werth der Handlungen, als vielmehr darauf ankommt, daß sie Gott geleistet werden, um, so moralisch indifferent sie auch an sich selbst sein möchten, doch wenigstens durch passiven Gehorsam Gott zu gefallen.“ (RGV, AA 06: 103) Wo keine innere moralische Motivation unterstellt werden kann, muss die zweite Art eines Beweggrundes unterstellt werden, die Selbstliebe. Wo Pflicht nicht als innere Angelegenheit des Menschen betrieben, sondern als heteronom durch Gott statuiert aufgefasst wird, da ist die dadurch gestellte Anforderung im Grunde unverständlich; solche äußerlich befohlene Pflicht dennoch zu befolgen, kann dann nur noch bedeuten, sich im genannten Geist passiven Gehorsams um Gunst und Belohnung zu bewerben und Ungunst und Bestrafung zu vermeiden. Auf die ungute gottesdienstliche Art und im Geist passiven Gehorsams ist die Pflichterfüllung, wie gesehen, schon dann betrieben, wenn es sich um eine dem Inhalt nach moralische Pflicht handelt, also etwa um die schon genannte, nicht zu lügen, ganz und gar dann aber, wenn es sich um völlig moralunbezügliche vermeinte Pflichten handelt. Dazu zählt Kant „Feierlichkeiten“, „öffentliche Spiele“, „Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten u.d.g.“ Davon sind ihm die „Selbstpeinigungen“ besonders suspekt, zu denen er sagt: Sie scheinen „eben darum, daß sie in der Welt zu gar nichts nutzen, aber doch Mühe kosten, lediglich zur Bezeugung der Ergebenheit gegen Gott abgezweckt zu sein.“ (RGV, AA 06: 169) Die zuletzt genannten Erscheinungen laden

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dazu ein, zu wiederholen, dass Vernunftreligion gar keine Religionsphänomene erzeugt. Kants Erklärung zufolge ist es einer „Schwäche der menschlichen Natur“ (RGV, AA 06: 103) geschuldet, dass es den Menschen nicht leicht fällt, sich in der rein gedanklichen Sphäre der Idee der moralischen Vernunftreligion zu halten. Es ist in seinen Worten die Schwäche des „Unvermögens in Erkenntniß übersinnlicher Dinge“ (ebd.), die dazu führt, „zu den höchsten Vernunftbegriffen und Gründen immer etwas Sinnlich-Haltbares, irgend eine Erfahrungsbestätigung u.d.g. zu verlangen“ (RGV, AA 06: 109). Sich Verpflichtung so vorzustellen, dass sie heteronom von Gott als Befehl an das passive Subjekt ergeht und dieses ihr dann auf gottesdienstliche Art nachkommt, d. h. die Pflicht um dieses äußeren Gottes willen erfüllt, stellt Kant als die Übertragung einer Über- bzw. Unterordnungsbeziehung dar, wie sie in der sinnenfälligen Welt unter den Menschen vorkommt. Es hat, so Kant, „ein jeder großer Herr der Welt ein besonderes Bedürfniß […], von seinen Unterthanen g e e h r t und durch Unterwürfigkeitsbezeigungen gepriesen zu werden, ohne welches er nicht so viel Folgsamkeit gegen seine Befehle, als er wohl nöthig hat, um sie beherrschen zu können, von ihnen erwarten kann“ (RGV, AA 06: 103). Sich Gott auf diese Art anthropomorphistisch vorzustellen, hieße, ihm Eigenschaften zuzuschreiben, die von der moralisch wenig vorteilhaften sinnlichen Natur des Menschen hergenommen sind, allgemein gesprochen von der Selbstliebe her. Gott müsste nach dem Vorbild des großen Herren der Welt als eitel vorgestellt werden, als durch das Bedürfnis getrieben, aus Unterwürfigkeitsbezeigungen einen Lustgewinn zu erzielen, zusätzlich als von der Angst besetzt, seine Herrschaft zu verlieren. Gegen diese Angst wären ihm die Unterwürfigkeitsbezeigungen als Zeichen der Einübung seiner Untertanen in den Geist des passiven Gehorsams, d. h. in eine Befehlsempfängermentalität, willkommen. – Nach den Maßstäben reiner praktischer Vernunft, die in dieser Frage entscheidend sind, kann eine mit solchen Eigenschaften behaftete Figur, die an ihren Untertanen die Untugend der Kriecherei schätzt und die Tugend der Selbstachtung fürchtet, nicht Gott sein. Reine praktische Vernunft besitzt nun nach Kant noch in einer weiteren Hinsicht die oberste normative Autorität: wenn es nämlich um die Auslegung der Texte der historischen Religionen geht, die diese als heilige Texte verehren. Der allgemeine Grundsatz seiner hermeneutica sacra ist, dass diese Texte „nach Vernunftbegriffen praktisch ausgelegt werden“ (SF, AA 07: 46) müssen und dass „die Philosophie“, verstanden als Sachwalterin praktischer Vernunft, „im Falle des Streits über den Sinn einer Schriftstelle sich das Vorrecht anmaßt, ihn zu bestimmen“ (ebd.). Das Vorrecht der Vernunft geht sogar so weit, dass Schriftstellen auch verworfen werden können, wenn nämlich statutarische Lehren mit „Pflichten, die die Vernunft unbedingt vorschreibt […] in Streit kommen“; dann „muß jener ihr Ansehen diesen weichen“ (RGV, AA 06: 154). Ein Beispiel für einen solchen Widerstreit

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ist für Kant die Bibelstelle, aus der herausgelesen werden könnte, dass Gott, wenn es ihm gefällt, Menschenopfer verlangen darf. Es ist die Stelle, an der von Abraham „auf göttlichen Befehl“ die Opferung seines Sohnes verlangt wird. Dazu schlägt Kant nichts Geringeres als die Neufassung der Heiligen Schrift vor, indem er sagt, was Abraham hätte „antworten müssen“, nämlich: „Daß ich meinen guten Sohn nicht töten solle, ist ganz gewiß; daß aber du, der du mir erscheinst, Gott sei, davon bin ich nicht gewiß“ (SF, AA 07: 63). Für Fälle moralischer Ambiguität, d. h. für nicht ganz rettungslose, aber doch zweifelhafte Fälle, propagiert Kant das Unterlegen moralischen Sinns, selbst wenn das zuweilen gezwungen scheinen und auch wirklich sein mag, selbst wenn also der Interpret dem Text diesen Sinn gegen die wahrscheinliche Autorenintention „aufdringt“ (SF, AA 07: 46). Als Beispiel dafür kann ein biblisches Gebet gelten, in dem ein Betender um Rache an seinen Feinden bittet. Kant erwägt dazu die symbolische Deutung, die Feinde könnten für die bösen inneren Neigungen des Betenden stehen oder es könne, wenn nicht, auch den Verzicht auf die eigene Rache ausdrücken, wenn sie der himmlischen Gerechtigkeit überlassen wird (vgl. RGV, AA 06: 110). Kant ist sich dessen bewusst, dass solches Unterlegen und Aufdringen moralischen Sinns „wider die oberste[n] Regeln der Interpretation zu verstoßen“ (SF, AA 07: 41) scheinen. Es stellt sich also die Frage, wie dieses kreative, bis an die Grenze des Manipulativen gehende Auslegen gerechtfertigt werden kann. Es ist, so der Vorschlag, als Versuch zu rechtfertigen, den mit dem Anspruch der Heiligkeit daherkommenden Text zu verbessern, und zwar auf der Grundlage dessen, was nach Kant die Heiligkeitsauszeichnung ursprünglich verdient, d.i. das moralische Bewusstsein dessen, der seinen Willen autonom durch das Sittengesetz bestimmt. Der Versuch der Textverbesserung durch den Interpreten ist also als Versuch zu betrachten, dem in seinem Anspruch auf Heiligkeit ernst genommenen Text diese zu implementieren. Dem kontrafaktisch normativen philosophischen Interpreten stellt Kant einen anderen Typus des Auslegers entgegen, den er, bezogen auf das Christentum, den biblischen Theologen nennt. Dieser ist ganz an der Faktizität seiner Offenbarungsschrift orientiert und zieht der symbolischen die buchstäbliche Auslegungsart nach dem Grundsatz „[ D ] a s t e h t s g e s c h r i e b e n “ (RGV, AA 06: 107; vgl. RGV, AA 06: 163) vor. Zudem wird ihm als einem speziell ausgebildeten theologischen Schriftgelehrten eine herausgehobene Position unter den Gläubigen seiner Kirchenglaubensart zugestanden, aufgrund seines bevorzugten Zugangs zu Gottes Wort also ein besonderer Rang in der kirchlichen Hierarchie. Dieser nach Kant „erniedrigende Unterschied zwischen L a i e n und K l e r i k e r n “ (RGV, AA 06: 122), der sich in seiner hierarchiefreien Konzeption der Vernunftreligion insgesamt nicht findet, ist auch kein Bestandteil seiner hermeneutica sacra, insofern hier alle mit reiner praktischer Vernunft Begabten gleichermaßen zur Auslegung befugt sind.

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Die Bevorzugung dieses Interpreten vor dem Typus des biblischen Theologen impliziert, dass etwaige Ansprüche auf exklusive Auslegungskompetenz der Religionsspezialisten besonderer Offenbarungsreligionen, also etwaige Nichteinmischungsgebote bzw. andere Immunisierungsvorkehrungen, abzuweisen sind. Besonders weit reichende Konsequenzen hat der Grundsatz „Da steht’s geschrieben“ im Fall von in jeder Hinsicht statutarischen religiösen Gesetzen. Das sind die Gesetze, die nicht nur wie das geoffenbarte Lügenverbot aufgrund des heteronomen Geltungsgrundes der Form nach statutarisch sind, dem Inhalt nach aber moralisch, also mit dem Vernunftgebot koinzidieren, sondern die ihrem Inhalt nach für Vernunft auf keine Weise nachvollziehbar sind, die also vollständig auf die Willkür des Gottes zurückgeführt werden müssen, der sich in einer dafür gehaltenen Offenbarung zeigt. Da von solchem historisch situierten Sich-Zeigen abhängig, ist das religiöse statutarische Gesetz als empirisch zufällig zu qualifizieren. Als nicht mit reiner praktischer Vernunft koinzidierendes außermoralisches Gesetz kann es entweder amoralisch oder moralindifferent sein; amoralisch etwa in einem solchen Fall, der in der Geschichte der Kirchenglaubensarten bis heute nicht untypisch ist, wenn die vermeintliche göttliche Anweisung lautet, Ungläubige, Andersgläubige oder Häretiker in ihrem Inneren zu bekämpfen; moralisch indifferent dann, wenn es sich etwa, was auch ein verbreiteter Regeltypus ist, um auf Gott zurückgeführte diätetische Vorschriften handelt. Die letzteren begründen nach den Maßstäben Kants – allerdings nicht nach denen der jeweiligen Kirchenglaubensart – kein Verdienst im Fall der Befolgung und keine Schuld in dem der Übertretung. Besonders unter den Bedingungen mehrerer präsumierter Offenbarungen und sich darauf berufender Kirchenglaubensarten hält Kant gleichwohl auch die moralisch indifferenten religiösen statutarischen Gesetzgebungen für keineswegs unbedenklich, sondern sogar für gefährlich. Nach seinem Urteil kann „über historische Glaubenslehren der Streit nie vermieden werden“ (RGV, AA 06: 115) und es sind ihm zufolge „die sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben, nie etwas anders als Zänkereien um den Kirchenglauben gewesen“ (RGV, AA 06: 108). Ein Grund dafür ist, dass jede der historischen Religionen, so Kant, „für kein Gesetz“ hält, „was nicht das ihrige ist“ (SF, AA 07: 50), dass sie also auf der Exklusivität ihrer eigenen als gottursprünglich vermeinten statutarischen Gesetze besteht. Zugleich ist damit den anderen Glaubensarten bestritten, sich ihrerseits berechtigterweise auf Offenbarung zu berufen. Wie könnte auch Gott konkurrierende oder gar widersprüchliche Statute erlassen? Darüber hinaus liegt in der Konsequenz des Exklusivitätsanspruchs, dass das Leben der Anderen nach deren statutarischen Lebensregeln nicht bloß als ein schlicht anderes erscheinen muss, sondern als ein falsches, gottloses Leben. Wenn statutarische Gesetze, die, um es zu wiederholen, nicht aus reiner Vernunft herzuleiten und einzusehen sind, nicht als durch Menschen auf der Grundlage pragmatischer

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empirischer Zweckmäßigkeitserwägungen etabliert betrachtet werden, sondern als von Gott etabliert, wenn ihre Befolgung also als eine Angelegenheit Gottes betrieben wird, dann erhalten sie einen im Vergleich zu menschengemachten Regeln bis zum Absoluten getriebenen Bedeutsamkeitsüberschuss. Der besonders hitzige Charakter von Religionskriegen kann damit erklärt werden. Über menschengemachte statutarische Regeln, wozu etwa der ganze Bereich der positiven Rechtsgesetze gehört, ist ein fortgesetztes Deliberieren mit dem Ergebnis, Änderungen vorzunehmen, möglich. Es können hier unter Menschen der Konsens gesucht und Kompromisse geschlossen werden, was dagegen aussichtslos erscheint, wenn die an einem Konflikt Beteiligten im Selbstverständnis stehen, für Gott zu sprechen, und dem Gegenüber das bestreiten. Angesichts der Unvermeidlichkeit des Streits und der Aussichtslosigkeit einer Verständigung ist Kants letztendliche Forderung, die als normativ und als Projekt eines ewigen Religionsfriedens zu verstehen ist, dass „Religion […] endlich von allen empirischen Bestimmungsgründen, von allen Statuten, welche auf Geschichte beruhen, […] allmählig losgemacht werde, und so reine Vernunftreligion zuletzt über alle herrsche“ (RGV, AA 06: 121). Der allmähliche Charakter des Prozesses erklärt sich von daher, dass das Mittel, den Endzustand zu erreichen, nur fortschreitende Aufklärung sein kann, was kontinuierliche Gedankenreform voraussetzt und wodurch ausgeschlossen ist, dass Vernunftreligion etwa um des Friedensziels willen selbst als eine physische Partei unter Krieg führenden Religionsparteien auftritt. Bei aller Moderatheit des Wegs, der dorthin führen soll, ist die Idee des genannten Endzustandes aber eine durchaus radikale. Wenn Religion wirklich von allen empirischen Bestimmungsgründen und von allen statutarischen Gesetzen frei gemacht sein sollte, dann bedeutet das, dass in diesem Zustand die historischen Offenbarungsreligionen gar nicht mehr existieren und es spezifische Religionserscheinungen nicht mehr gibt, weil die Manifestationen der Vernunftreligion sich von denen der reinen Moral in nichts unterscheiden. Im gedachten Endzustand ohne alle empirischen Elemente wird die Berufung auf Offenbarung insgesamt entfallen, weil eine solche als dem Anspruch nach in Raum und Zeit historisch situiert etwas derart Empirisches ist, ebenso wird es darin keine konfliktträchtigen statutarische religiöse Gesetzgebungen geben. Ganz zum Schluss möchte ich die erzielten Ergebnisse noch – erstmals explizit – auf den Titel meines Beitrags beziehen. Neben einer Reihe von Teilzumutungen, die im Zuge des Bogens, den ich zu schlagen versucht habe, erkennbar geworden sein dürften, ist die fundamentale Provokation, die Kants Religionsphilosophie für die historischen Religionen darstellt, die, diese unter einem dezidiert normativen Gesichtspunkt, wodurch sich also eine Forderung reiner praktischer Vernunft ausdrückt, mit ihrem Ende zu konfrontieren. Diese Forderung nach Auflösung der

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historischen Religionen lässt sich auch durch den Imperativ „Es soll kein Religionskrieg sein!“ ausdrücken, d. h. als Spezifikation des kategorischen Friedensimperativs praktischer Vernunft „Es soll kein Krieg sein!“

Literaturverzeichnis Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). Berlin, Göttingen: De Gruyter

Carsten Olk

Religiöser Fanatismus und der Weg zum Ideal der unsichtbaren Kirche aus Kantischer Sicht I Die Wurzel religiösen Fanatismus im Subjekt: Das radikal Böse im Menschen und der selbstverschuldete Hang zum Bösen

Kants Moralkonzeption und die Unterscheidung von Autonomie und Heteronomie, also die Unterscheidung von Selbst- und Fremdbestimmung im Zusammenhang mit der Frage nach dem Status der freien Willkür, sieht den Ursprung des Bösen in einem moralischen Hang zum Bösen. Dieser ist zwar angeboren, obgleich er nicht als bloß angeboren vorgestellt, sondern als „sich z u g e z o g e n gedacht“¹ (RGV, AA 06: 29) werden muss, d. h. „als etwas, was dem Menschen zugerechnet werden kann“ und dergestalt „selbstverschuldet“ ist, andernfalls er, als bloße Naturanlage, niemals zurechenbar wäre. Weil er selbstverschuldet und zugleich ursprünglich ist, ist er „ein r a d i k a l e s , angebornes (nichts destoweniger aber uns von uns selbst zugezogenes) B ö s e in der menschlichen Natur“ (RGV, AA 06: 32). Kant geht es dabei, wie er im 1. Teil der Religionsschrift ausführt, nicht um den zeitlichen, sondern den intellektuellen Ursprung des Moralisch-Bösen (vgl. RGV, AA 06: 39 ff. sowie Anm. 2), also um die Auffindung des „subjectiven Grunde[s] der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze“ (RGV, AA 06: 29). Wenn im Folgenden dieser subjektive Grund böser Maximen mit Blick auf den die Maxime verderbenden religiösen Fanatismus untersucht wird, so wird der Aspekt der Selbstverschuldung zum einen gänzlich innerlich, auf das individuelle Subjekt bezogen, zum anderen aber auch äußerlich, als kollektiv-öffentliches Phänomen zu beleuchten sein. Nur so kann später verständlich werden, was Kant mit dem Ideal der unsichtbaren Kirche meint, nach dem alle sichtbaren Kirchen streben sollen. Zunächst aber muss einmal deutlicher werden, warum Kant den Ursprung des Bösen in einem moralischen, nicht in einem physischen Hang (vgl. RGV, AA 06: 31) sieht.

1 Kants Schriften werden im Folgenden nach der Akademieausgabe (AA) unter Angabe von Siglen und Seitenzahlen zitiert. Hervorhebungen Kants sind dabei durchgängig g e s p e r r t , eigene Hervorhebungen kursiv gesetzt. https://doi.org/10.1515/9783111063935-004

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Das Böse ist deshalb „r a d i k a l , weil es den Grund aller Maximen verdirbt“ und „zugleich auch, als natürlicher [aber dennoch erworbener, C.O.] Hang, durch menschliche Kräfte nicht zu vertilgen ist, weil dieses nur durch gute Maximen geschehen könnte, welches, wenn der oberste subjective Grund aller Maximen als verderbt vorausgesetzt wird, nicht statt finden kann“ (RGV, AA 06: 37). Der Grund des Bösen liegt, so Kant, niemals „i n d e r S i n n l i c h k e i t des Menschen, und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen“ (RGV, AA 06: 34).² Denn „[n]atürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen“ (RGV, AA 06: 58), mithin ist die „Anlage für die T h i e r h e i t des Menschen, als eines lebenden“ (RGV, AA 06: 26) gut und die Beförderung der Selbstliebe indirekte Pflicht. Er liegt aber ebenso wenig in einer verdorbenen moralisch-gesetzgebenden Vernunft, weil die praktische Vernunft als der gute Wille selbst nicht „das Ansehen des Gesetzes selbst in sich vertilgen, und die Verbindlichkeit aus demselben ableugnen“ (RGV, AA 06: 35) kann. Wenn auch Neigungen den Willen affizieren und damit die Wahl der Maxime, mithin die freie Willkür,³ beeinflussen können, so ist

2 Wie Serck-Hanssen 2012, S. 129 herausstellt, darf Kants Theorie des Handelns nicht als ein „BeliefDesire-Modell“ aufgefasst werden, insofern der Mensch nicht unmittelbar aus Neigungen und Bedürfnissen heraus handelt, sondern alle Handlungen, auch die unmoralischen, auf Vernunft gründen. Auch wenn dies prinzipiell richtig ist, da auch die unmoralischen Handlungen nach Kant zuschreibbar sein müssen und damit aus einer zuvor selbst gesetzten, intellektuellen Maxime gründen, gibt es bei Kant freilich Affekthandlungen, die gar nicht vom Willen bzw. der Willkür gesteuert werden, sondern direkt aus dem zuvor affizierten Begehrungsvermögen entspringen, was ausschließlich als Heteronomie aufzufassen ist, weil die Handlungen notwendig aus dieser Affektion hervorgehen (vgl. Anm. 4). Wood 1970, S. 225 stellt ebenfalls fest, dass Kant mit dem radikal Bösen nicht das Böse als ein natürlich Böses im Menschen erklären, sondern die universelle Möglichkeit zum Bösen einsichtig machen will, d. h. die Möglichkeit der Wahl des bösen Charakters, den sich jedermann aneignen bzw. zuziehen kann. 3 Als uneingeschränkt gut kann dabei nur die gute Willkür gelten; sie ist aber nur dann eine freie und zugleich gute Willkür (vgl. Anm. 4), wenn sie sich an praktischer Vernunft ausrichtet, also in Form der Selbstgesetzgebung vom Sittengesetz selbst bestimmen lässt, der Wille folglich „Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung“ (MS, AA 06: 213) ist. Wenn sie hingegen egoistische Motive zur Grundlage der Maximenbildung macht, dann ist sie zwar immer noch eine freie, aber zugleich böse Willkür. Da der Mensch anders als Gott keinen schlechthin guten Willen (vgl. GMS, AA 04: 426, 437) respektive keine schlechthin gute Willkür besitzt, bleibt die Willkür immer von außen affizierbar, wenngleich sie nicht eigentlich heteronom bestimmt wird, da dies eine Bestimmung der Willkür mit Notwendigkeit bedeuten würde (vgl. Anm. 5). In diesem Sinne spricht auch SerckHanssen 2012, S. 135 davon, dass der Mensch sich von seinem egoistischen Wahn und damit von seinem Hang zum Bösen niemals ganz befreien kann. Dieser Hang zum Bösen sollte dabei nicht nur mit einer „illusorischen Selbstvorstellung verbunden“ gedacht werden, die „als Bedingung der

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die Entscheidung des Subjekts, nach welcher Maxime es handeln will, jederzeit eine gänzlich freie. Denn sie ist ein Akt der freien Willkür (die allein frei zu nennen ist⁴), d. h. sie liegt in der „Unabhängigkeit der Willkür von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ (KrV, AA 03: 363). Somit liegt die Freiheit darin, sich auch gegen das moralische Gesetz, mithin die moralisch-praktische Vernunft in Form des Kategorischen Imperativs, entscheiden zu können, wobei der Entschluss alleine als ein freier gedacht wird: Denn eine Willkür ist sinnlich, so fern sie pathologisch (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) afficirt ist; sie heißt thierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch necessiert werden kann. Die menschliche Willkür ist zwar ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen.⁵ (KrV, AA 03: 363; vgl. auch MS, AA 06: 213)

Hier liegt der Grund für die Verantwortlichkeit des Subjekts und die Möglichkeit, die „eine oder die andere Gesinnung“, die „als angeborne Beschaffenheit von Natur“ aus besteht, dennoch erwerben zu können. Die Gesinnung aber ist „der erste subjektive Grund der Annehmung der Maximen“ und sie „kann nur eine einzige sein“ (RGV, AA 06: 25), entweder sittlich gut oder sittlich böse (tertium non datur, vgl. RGV, AA 06: 22 f., Anm.), woraus sich ableiten lässt, dass die Gesinnung „in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent (niemals keines von beiden, weder gut noch böse)“ (RGV, AA 06: 24) sein kann. Also wird die gute oder böse Gesinnung erworben, d. h. durch freie Willkür angenommen, „denn sonst könnte sie nicht zugerechnet werden“ (RGV, AA 06: 25). Dass es für Kant keine moralisch-indifferenten Handlungen geben kann, scheint mit Blick auf Maximen der Gestalt ‚Ich will abends kaltes Bier trinken‘ zunächst wenig einleuchtend, da die Verallgemeinerung dieser Maxime zum objektiven Gesetz keine Handlungsaufforderung beinhalten kann, dass jedermann Bier trinken soll. Auch leuchtet nicht auf Anhieb ein, weshalb Maximen dieser Form

Glückseligkeit (als Absicht) betrachtet werden kann“, sondern auch „als eine subjektive, unentbehrliche Bedingung menschlicher Motivation überhaupt“. 4 In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten spricht Kant noch davon, allein der gute Wille sei uneingeschränkt gut zu nennen (vgl. GMS, AA 04: 393). In der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant später konsequent die freie Willkür, die allein uneingeschränkt gut zu nennen ist, vom reinen Willen, der – da er nichts anderes als die reine praktische Vernunft selbst ist, die sich autonom das moralische Gesetz gibt – im eigentlichen Sinne weder frei noch unfrei ist (vgl. MS, AA 06: 226). 5 Vgl. auch Refl. 1021, AA 15: 458: „Das arbitrium humanum ist nicht necessitirt per stimulos, also nicht brutum, sondern liberum, aber als liberum subiectiv auch nicht necessitirt durch Motiva, also nicht purum, sondern sensitiv, affectum stimulis.“

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überhaupt moralisch relevant sein sollen. Jedoch geht es bei der Maximenbildung dieser Art vielmehr darum, ob die entsprechende Maxime bei der Verallgemeinerung zum Gesetz eine moralische Erlaubnis impliziert, im vorliegenden Falle also, ob der Bierkonsum für den Biertrinkenden selbst und andere möglicherweise gefährlich ist. Wenn der Alkoholkonsum um jeden Preis umgesetzt wird, wenn sich der Biertrinkende bspw. anschließend ins Auto setzt und somit seine sowie die Gesundheit anderer gefährdet, dann kann die Maxime nicht widerspruchsfrei verallgemeinert werden und somit auch nicht als allgemeines Gesetz für jedermann vernünftigerweise gewollt werden; andernfalls ist sie unproblematisch und liegt innerhalb der Grenzen des moralisch Erlaubten. Eine andere Frage ist es, ob die Maxime, Alkohol trinken zu wollen, ohne dabei sich und andere zu gefährden, wirklich aus moralischer Gesinnung, also aus Pflicht, entspringt, oder doch nur pflichtgemäß ist, da das handelnde Subjekt etwa mögliche Konsequenzen befürchtet. Nur die Erfüllung der Pflicht ist dabei „V e r d i e n s t (meritum)“ = + a: ihre Übertretung aber ist nicht sofort Verschuldung (demeritum) = – a, sondern bloß moralischer U n w e r t h = 0, außer wenn es dem Subject Grundsatz wäre, sich seinen Pflichten nicht zu fügen“ (MS, AA 06: 390). Das bedeutet, nur dann, wenn eine freie Entscheidung zur Übertretung der Pflicht durch die Wahl böser Maximen vorliegt, kann überhaupt von Verschuldung gesprochen werden (vgl. Anm. 3); im anderen Fall ist die pflichtmäßige Erfüllung der Pflicht aber noch kein Verdienst, sondern ist, wenn ein weiterer als allein der moralische Zweck verfolgt wird, durchaus moralischer Unwert, also auch hier nicht moralisch indifferent, wenngleich keine Verschuldung im eigentlichen Sinne vorliegt. Nicht jede nicht-moralische Handlung muss folglich schädlich, sondern kann durchaus nützlich sein und auch in Form hypothetischer Imperative geboten werden, obschon sie dadurch keinesfalls moralischen Wert hat. Eine wirkliche Änderung der Gesinnung wäre folgerichtig auch nur so denkbar, dass die „V e r k e h r t h e i t des Herzens“ – denn die Bosheit, „das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen“ (RGV, AA 06: 37) wäre teuflisch⁶ – durch 6 Nach Kant nimmt der Mensch natürlicherweise beide Triebfedern in seine Maxime auf, d. h. sowohl die sinnliche als auch die sittliche Triebfeder ziehen ihn gleichermaßen. Da er aber nicht zugleich gut und böse sein kann (vgl. RGV, AA 06: 36), was aber der Fall wäre, wenn bloß die Triebfedern, mithin die Materie der Maximen in Betracht gezogen würden (als ein Mehr oder Weniger an gut und böse, (vgl. RGV, AA 06: 22, Anm.), so muss der Unterschied des guten oder bösen Charakters in der„U n t e r o r d n u n g “ der Maximen, der Form der Triebfedern nach, bestehen, also darin, „w e l c h e v o n b e i d e n e r z u r B e d i n g u n g d e r a n d e r e n m a c h t “, ob er also die Triebfeder der Selbstliebe der moralischen unter- oder überordnet und so „die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt“, mithin welche Triebfeder er „a l s f ü r s i c h a l l e i n h i n r e i c h e n d zur Bestimmung der Willkür“ (RGV, AA 06: 36) macht und so entweder gut oder böse ist.

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eine wahrhafte „H e r z e n s ä n d e r u n g “ als eine „Änderung der S i t t e n “ (RGV, AA 06: 47) aufgehoben würde. Eine solche Veränderung ist aber„nicht durch allmählige R e f o r m “ möglich, weil dadurch „die Grundlage der Maximen unlauter“ bliebe, sondern nur „durch eine R e v o l u t i o n in der Gesinnung im Menschen“ (RGV, AA 06: 47).⁷ Der (moralische) Hang zum Bösen (ebenso wie der zum Guten, d. h. nicht zur egoistischen Selbstliebe, sondern zum Moralgesetz) kann dem Gesagten zufolge bloß in moralischer Hinsicht als zur Willkür eines moralischen, mithin autonomen Wesens gehörig betrachtet werden. Denn ein physischer Hang als eine „P r ä d i s p o s i t i o n zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subject die Erfahrung davon gemacht haben wird, N e i g u n g hervorbringt“ (RGV, AA 06: 28 Anm.), würde zur Willkür des Menschen als Naturwesen gehören und wäre niemals auf Freiheit zurückzuführen, weshalb es in diesem Sinne „keinen Hang zum moralisch Bösen“ (RGV, AA 06: 31) geben kann. Zwar ist die Sinnlichkeit nicht der „Grund des Moralisch-Bösen im Menschen“ (RGV, AA 06: 31), insofern Neigungen den freien Entschluss, wie gesagt, gerade nicht notwendig bestimmen, mithin die „Freiheit der Willkür [von] der ganz eigentümlichen Beschaffenheit [ist], daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann“ (RGV, AA 06: 23 f.); doch sind es jederzeit Neigungen, die – im Falle des moralisch Bösen – die Entscheidung des Subjekts negativ beeinflussen, indem sie die Willkür graduell mehr oder weniger affizieren: „Wenn nun das Gesetz jemandes Willkür, in Ansehung einer auf dasselbe sich beziehenden Handlung,

7 Diese „Art von Wiedergeburt“ als eine wahrhafte „Änderung des Herzens“ (RGV, AA 06: 36) ist die „Erwerbung einer v e r l o r n e n Triebfeder zum Guten“, die allein „in der Achtung fürs moralische Gesetz besteht“. In der „Herstellung der R e i n i g k e i t “ sieht Kant also die von ihm schon zu Beginn des 1. Hauptstücks anvisierte „Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten in uns“ (RGV, AA 06: 46). Zwei Dinge sind damit gesagt: Zum einen, dass die Triebfeder zum Guten nur deshalb wiedererwerbbar ist, weil wir sie prinzipiell „nie verlieren“ (ebd.) können, andernfalls sie nicht wieder erworben werden könnte. Zum anderen ergibt sich aus dem Vorigen, dass das, „[w]as der Mensch im moralischen Sinne ist, oder werden soll, gut oder böse“, nicht einfach vom Himmel fällt, sondern dass der Mensch „sich selbst [dazu] machen, oder gemacht haben [muss]“, beides als „eine Wirkung seiner freien Willkür“ (RGV, AA 06: 44). Hier liegt demnach die Verantwortlichkeit des Menschen begründet, weil ihm seine Taten nur unter dieser Voraussetzung zugerechnet werden können, er also als Täter seiner Taten zur Verantwortung gezogen werden kann; nur durch diese seine „freie Wahl“ (ebd.) wird er also gut oder böse, nur hierdurch erwirbt und verdient er sich einen guten oder bösen Charakter. Inwiefern dem graduellen zeitlichen Progress hin zum Guten eine wahrhafte Änderung des Herzens, gleichsam durch eine intelligible Tat im Sinne von Anm. 9, als Bedingung der Möglichkeit vorausgehen muss, verdeutlicht Wood 1970, S. 229 f. Aufgrund der Unerkennbarkeit der moralischen Gesinnung kann man dennoch nie sicher sein, ob diese Herzensänderung wirklich stattgefunden hat: „[B]ecause this change of heart can be known only through a gradual temporal reform, we can never be sure that it has staken place.“ (ebd.)

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doch nicht bestimmt: so muß eine ihm entgegengesetzte Triebfeder auf die Willkür desselben Einfluß haben.“ (RGV, AA 06: 24) Im Falle des religiösen Fanatismus ist es speziell die in eine Maxime eingehende und luststeigernde Neigung, Gottes Wort zu folgen und sich ihm somit wohlgefällig zu machen. Damit bestimmt sich das Subjekt dazu, unabhängig aller vernünftigen, d. h. moralisch-praktischen Aufforderungen der Vernunft, bloß dasjenige zu tun, was Gott, und nicht die praktische Vernunft angeordnet hat. Nun sind es historische Offenbarungsschriften, die Gottes Werke und Gesetze verkünden – oder wie im Fall des Koran sogar den Anspruch erheben, exakt das Wort Gottes abzubilden.⁸ Sie bedürfen jedoch immer der Deutung durch Schriftgelehrte oder durch Religionsanhänger. Der religiöse Fanatismus hat seine Quelle also in heiligen Schriften. Warum aber sind heilige Schriften per se problematisch, wenn sie doch auch so gedeutet werden können, dass sie – wie noch zu sehen sein wird – durchaus auch im Sinne einer geoffenbarten als natürlicher Religion (vgl. RGV, AA 06: 155) interpretiert werden, mitunter gar eine moralische Botschaft enthalten können? Das Kernproblem liegt in der Deutungsbedürftigkeit heiliger Schriften überhaupt, d. h. im Umstand begründet, ein heteronomes Prinzip, das Wort Gottes bzw. seine verkündeten Gesetze, die Willkür bestimmen zu lassen, mithin die Moralität entweder Gott ganz unterzuordnen oder sich scheinbar Moralisches von Gott vorgeben zu lassen. Diese faule Vernunft (vgl. KrV A 688/ B 716) wird von Kant in höchstem Maße getadelt, da Gott, und nicht die reine praktische Vernunft das Gesetz vorschreibt, nach dem der Mensch handeln soll: Alles Beginnen in Religionssachen, wenn man es nicht bloß moralisch nimmt, und doch für ein an sich Gott wohlgefällig machendes, mithin durch ihn alle unsere Wünsche befriedigendes Mittel ergreift, ist ein Fetischglaube, welcher eine Überredung ist. […] Selbst, wo die Überzeugung: daß alles hier auf das Sittlichgute, welches nur aus dem Tun entspringen kann, ankomme, schon durchdrungen ist, sucht der sinnliche Mensch doch noch einen Schleichweg, jene beschwerliche Bedingung zu umgehen, nämlich, daß, wenn er nur die Weise (die Förmlichkeit) begeht, Gott das wohl für die Tat⁹ selbst annehmen würde; welches denn freilich eine

8 Wie Dörflinger 2012a, S. 163 treffend feststellt, sind religiöse statutarische Gesetze „aufgrund des ihnen zugestandenen göttlichen Ursprungs nicht unter Menschen verhandelbar und also keinen Modifikationen zugänglich“, anders als im analogen Fall statutarischer Rechtsgesetze (also im Fall des positiven Rechts), die zwar auch nicht aus Prinzipien der Rechtsvernunft zu deduzieren sind und auf fehlbaren menschlichen Setzungen beruhen, sich aber nicht, wie religiöse statutarische Gesetze, gänzlich der „Unterordnung unter das Aufklärungsideal des Selbstdenkens“ entziehen. Zum Problem statutarischer religiöser Gesetze vgl. auch die frühere Abhandlung Dörflingers 2008, S. 99–119. 9 Die „oberste Maxime (dem Gesetze gemäß oder zuwider) in die Willkür aufgenommen“, als ein durch freie Willkür entsprungener Entschluss, bestimmt weiter „die Handlungen selbst (ihrer Materie nach, d. i. die Objekte der Willkür betreffend)“, weshalb also der Entschluss, mithin der dar-

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überschwengliche Gnade desselben genannt werden müßte, wenn es nicht vielmehr eine im faulen Vertrauen erträumte Gnade, oder wohl gar ein erheucheltes Vertrauen selbst wäre. (RGV, AA 06: 193)

Mit der Berufung auf Gott als externen Gesetzgeber gibt der Mensch seine Verantwortung gänzlich aus der Hand. Im schlimmsten Fall lässt sich damit, wie das Beispiel fanatischer Glaubensanhänger zeigt, aus Sicht praktischer Vernunft sogar gänzlich Unmoralisches, als gottgewollter moralischer Akt, rechtfertigen, z. B. Selbstmordattentate im Namen Gottes, vor dem Hintergrund scheinbarer Heilsversprechen (wie dem Paradies mit 72 Jungfrauen¹⁰).¹¹ Da Kant den Gedanken an eine „b o s h a f t e V e r n u n f t “ als einem „schlechthin böse[n] Wille[n]“ (RGV, AA 06: 35) verwirft, weil ein solcher nur einem „t e u f l i s c h e n Wesen“ (RGV, AA 06: 35; vgl. Anm. 6) zukommen würde, das den bloßen „Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder macht“ (RGV, AA 06: 35), d. h. das Böse allein um des Bösen und nicht um des eigenen Vorteils willen, mithin nicht aus egoistischer Motivation heraus will, muss beim Menschen demzufolge bei einer noch so grausamen Handlung immer eine subjektiv-egoistische Triebfeder des Egoismus als „subjective[s] Princip der Selbstliebe“ (RGV, AA 06: 35; 42) vorausgesetzt werden, die auf Steigerung der eigenen Lust hinausläuft. Im vorliegenden Falle dergestalt, dass der Gläubige sich zur Offenbarung bekennt und dabei hofft, sich „Gott wohlgefällig“ zu machen, wodurch „ein gefährlicher“, aber luststeigernder „Religionswahn“ entsteht (RGV, AA 06: 170 f.; vgl. auch Anm. 11). Das Vertrauen des Strenggläubigen, Gott werde ihn schon „ewig glücklich machen, ohne daß er eben nötig habe, e i n b e s s e r e r M e n s c h z u w e r d e n (durch Erlassung seiner Verschuldungen)“, ist als ein bloßer Wunsch so viel als dass „eigentlich nichts getan sein würde“, denn wäre der bloße Wunsch ausschlaggebend, „so würde jeder Mensch gut sein“ (RGV, AA 06: 51). Vielmehr muss der Mensch das moralisch Gute unter Aufbringung aller ihm möglichen Mittel umzusetzen versuchen. Ein (Selbstmord‐)Attentäter wird aus aufklärerischer Sicht also nicht auf Glückseligkeit hoffen dürfen, weil er die notwendige moralische Verantwortung hat

nach zu bestimmende Hang zum Guten oder Bösen „v o r j e d e r [ zeitlichen, C . O . ] T a t v o r h e r g e h t “ (RGV, AA 06: 31); hierbei handelt es sich um eine „intelligibele Tat“, die im Gegensatz zur konkreten Handlung „durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar ist“ (ebd.). Mit der doppelten Bedeutung des Begriffs der„Tat“ setzt sich auch Serck-Hanssen 2012, S. 131 auseinander: „[D]ie Bedingung der Möglichkeit aller bösen Handlungen kann nicht selbst eine böse Tat [im Sinne einer einzelnen Handlung, C.O.] sein.“ 10 Vgl. Der Koran: Sure 56, Vers: 22–40. 11 Es ist eine empirisch-psychologische Frage, ob dieser gefährliche Religionswahn an Heilsversprechen gebunden ist oder nicht.

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fehlen lassen, weshalb er sich folglich schuldig macht. Die moralische Schuld ist für Kant aber schon durch den bloßen Umstand gegeben, dass jemand auf die Gefahr hin handelt, dass sein Handeln unrecht sein könnte (vgl. RGV, AA 06: 185 ff.). So ist es „ein moralischer Grundsatz, der keines Beweises bedarf“, dass man „n i c h t s a u f d i e G e f a h r w a g e n [ s o l l ] , d a ß e s u n r e c h t s e i (quod dubitas, ne feceris! Plin.)“ (RGV, AA 06: 185). Kant spricht in diesem Zusammenhang das Beispiel vom Ketzerrichter an, das freilich auch für heutige Glaubensideologen geltend gemacht werden kann. Jemanden aus Glaubensgründen zu richten, weil man „vermutlich des festen Glaubens [ist], daß ein übernatürlich geoffenbarter göttlicher Wille (vielleicht nach dem Spruch: compellite intrare) es ihm gar erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den vermeinten Unglauben zusamt den Ungläubigen auszurotten“ (RGV, AA 06: 186), ist in keiner Weise entschuldbar, etwa durch eine fehlgeleitete Urteilskraft, die nicht in der Lage ist, die gewählte Maxime als inkompatibel mit dem moralischen Gesetz zu erkennen (wobei dieser Sachverhalt nicht weiter ausführbare Probleme ganz eigener Art mit sich bringt). Kant macht geltend, dass die moralische Schuld darin liegt, dass der Täter in einem solchen Fall „nie ganz gewiß sein konnte, er thue hierunter nicht vielleicht unrecht“ (RGV, AA 06: 186). Die Schuld liegt also im Umstand begründet, dass das Subjekt nach einer Maxime handelt (‚Menschen, die nicht rechten Glaubens sind, töten zu dürfen‘), deren Richtigkeit, wenn er es auch nicht gleich einsieht, dass eine solche Maxime nicht dem moralischen Gesetz entsprechend verallgemeinerbar ist, zumindest hätte bezweifelt werden müssen, da die Erwägungen und Gründe, auf denen die gebildete Maxime fußt, offensichtlich anzweifelbar bzw. augenscheinlich fehlerhaft sind (auch wenn dieser Zweifel weitere intellektuelle Einsicht voraussetzt). Im vorliegenden Falle kann der Mord an einem Menschen „seines Religionsglaubens wegen“ schon deshalb niemals apodiktisch gewiss sein, weil der Umstand, dass „Gott diesen fürchterlichen Willen jemals geäußert habe“, allein „auf Geschichtsdokumenten“ (RGV, AA 06: 186 f.) beruht, also auf zufälligen Schriftstücken.¹² Kant wirft einem solchen Menschen Gewissenlosigkeit vor, weil der rich12 Vgl. RGV, AA 06: 187: „So ist es nun mit allem Geschichts- und Erscheinungsglauben bewandt: daß nämlich die M ö g l i c h k e i t immer übrig bleibt, es sei ein Irrthum darin anzutreffen, folglich ist es gewissenlos, ihm bei der Möglichkeit, daß vielleicht dasjenige, was er fordert, oder erlaubt, unrecht sei, d. i. auf die Gefahr der Verletzung einer an sich gewissen Menschenpflicht, Folge zu leisten. Noch mehr: eine Handlung, die ein solches positives (dafür gehaltenes) Offenbarungsgesetz gebietet, sei auch an sich erlaubt, so fragt sich, ob geistliche Obere oder Lehrer es nach ihrer vermeinten Überzeugung dem Volke als G l a u b e n s a r t i k e l (bei Verlust ihres Standes) zu bekennen auferlegen dürfen? Da die Überzeugung keine andere als historische Beweisgründe für sich hat, in dem Urtheile dieses Volks aber (wenn es sich selbst nur im mindestens prüft) immer die absolute Möglichkeit eines vielleicht damit, oder bei ihrer klassischen Auslegung vorgegangenen Irrthums übrig bleibt, so würde der Geistliche das Volk nöthigen, etwas, wenigstens innerlich, für so wahr, als

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tende Mensch etwas auf die Gefahr hin wagt, „etwas zu thun, was höchst unrecht sein würde“ (RGV, AA 06: 187). Das Gewissen ist dabei ein Bewusstsein, „das für sich selbst Pflicht ist“ (RGV, AA 06: 185), d. h. in einem solchen Fall wäre es Pflicht, zumindest einen möglichen Irrtum bezüglich der gebildeten Maxime in Erwägung zu ziehen. Ein irrendes Gewissen kann es in diesem Zusammenhang nicht geben, weil dieses Gewissen die sich selbst richtende Vernunft (sich selbst richtende moralische Urteilskraft) ist.¹³ Dem Gesagten zufolge kann zwar „vielleicht Wahrheit im Geglaubten“ sein, „aber doch zugleich Unwahrhaftigkeit im Glauben (oder dessen selbst bloß innerem Bekenntnisse) […], und diese ist an sich verdammlich“ (RGV, AA 06: 187). So kann dasjenige, an das geglaubt wird – etwa eine Überzeugung, die freilich „keine andere als historische Beweisgründe für sich hat“ (RGV, AA 06: 187) – vielleicht sogar eine Art von Wahrheit enthalten, wie denn überhaupt der Glaube zumindest ein subjektiv zureichendes, wenn auch objektiv unzureichendes Führwahrhalten ist (vgl. KrV A 822/B 850); doch wenn diese Wahrheit bspw. von Glaubenslehrern dogmatisch und durch die Androhung von Sanktionen gewaltsam verbreitet wird, ohne dass diese den geringsten Irrtum ihrer verkündeten Lehre in Erwägung ziehen, dann liegt die von Kant benannte Unwahrhaftigkeit im Glauben vor. Mit anderen Worten, ein Glaubenslehrer macht sich dann schuldig, wenn er gewissenlos handelt, also etwas „vor Gott für gewiß“ ausgibt, „wovon er sich doch bewußt ist, daß es nicht von der Beschaffenheit sei, es mit unbedingtem Zutrauen zu betheuern“ (RGV, AA 06: 188 f.). Der reine Vernunftglaube hingegen ergibt sich, gleichsam natürlich, aus der praktischen Vernunft selbst. Ein jeder könnte allein hier den Willen Gottes, der

es einen Gott glaubt, d. i. gleichsam im Angesichte Gottes, zu bekennen, was es, als ein solches, doch nicht gewiß weiß, z. B. die Einsetzung eines gewissen Tages zur periodischen öffentlichen Beförderung der Gottseligkeit, als ein von Gott unmittelbar verordnetes Religionsstück, anzuerkennen, oder ein Geheimniß, als von ihm festiglich geglaubt zu bekennen, was es nicht einmal versteht. Sein geistlicher Oberer würde hier selbst wider Gewissen verfahren, etwas, wovon er selbst nie völlig überzeugt sein kann, andern zum Glauben aufzudringen, und sollte daher billig wohl bedenken, was er thut, weil er allen Mißbrauch aus einem solchen Fronglauben verantworten muß.“ 13 Anders als in ihrer Funktion als bloß moralische Urteilskraft, die Handlungen als „Casus“ betrachtet, die unter dem Gesetz stehen (also den Fall zur Regel beurteilt), überprüft hier die Vernunft als Gewissen die Beurteilung der moralischen Urteilskraft darauf hin, ob sie auch „jene Beurtheilung der Handlungen mit aller Behutsamkeit (ob sie Recht oder Unrecht sind) übernommen habe“. Im Zuge dieser Überprüfung stellt sie „den Menschen wider oder für sich selbst zum Zeugen auf, daß dieses geschehen oder nicht geschehen sei“ (RGV, AA 06: 186). Die Schuld liegt also im fehlenden bzw. ausbleibenden Gewissen, mithin macht sich ein Mensch, der sich eines Verbrechens schuldig macht, deshalb schuldig, weil er die Maxime seiner Handlung nicht gründlich genug überprüft hat, d. h. sein Gewissen in diesem Fall ausgeblieben ist.

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seiner Religion zum Grunde liegt, einsehen, denn dieser Wille wird immer nur derjenige sein, der mit der autonomen, reinen gesetzgebenden Vernunft des Menschen überhaupt kompatibel ist, d. h. der Wille Gottes muss sich jederzeit in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz in mir, d. i. dem kategorischen Imperativ, befinden.¹⁴ So entspringt „der Begriff von der Gottheit nur aus dem Bewußtsein dieser Gesetze und dem Vernunftbedürfnisse, eine Macht anzunehmen, welche […] den ganzen, in einer Welt möglichen, zum sittlichen Endzweck zusammenstimmenden Effekt verschaffen kann“ (RGV, AA 06: 104). Um es mit anderen Worten zu sagen: Im Falle, dass der Begriff Gottes auf diese Weise entspringt, ist er der moralisch-praktischen Vernunft nachgeordnet, d. h. er bestimmt nicht die freie Willkür in ihrer praktischen Tätigkeit, denn dafür kommt allein der kategorische Imperativ in Frage. Moralität ist also der Ursprung für den Gottesbegriff, d. h. der Begriff ist aus der Moralität abgeleitet, umgekehrt gründet Moralität aber nicht im Begriff Gottes. Andernfalls würde, wie demonstriert, die freie Willkür nach statutarischen Gesetzen, in denen der Wille Gottes zum Ausdruck kommt, von außen affiziert, d. i. im uneigentlichen Sinne – denn die freie Willkür selbst ist immer frei (vgl. Anm. 3 und 5) – Heteronomie der Willkür.¹⁵ Dies würde – wie gesehen – bedeuten, dass nicht das vernünftige, frei handelnde Subjekt, sondern ein externer 14 Dörflinger 2008, S. 109 diskutiert ausführlich den Unterschied zwischen einer reinen Vernunftreligion und historischen Offenbarungsreligionen. Insofern der Primat der praktischen Vernunft von Kant als das Göttliche in uns bezeichnet wird, spricht, so Dörflinger, im Fall rein moralischer Lehren nichts gegen ihre Göttlichkeit, im Fall statutarischer Gesetze ohne moralischen Gehalt hingegen schon, weshalb dem Göttlichen in uns, d. i. dem moralischen Gesetze, jederzeit die Beurteilungskompetenz zukomme, „alles, was uns mit dem Anspruch entgegentritt, göttlichen Ursprungs zu sein, also etwa Heilige Schriften, daraufhin zu qualifizieren, ob es einsichtig zu machen ist oder nicht“ (ebd.). Die Anweisung an Abraham, er solle seinen Sohn töten, könne somit niemals eine wahrhaft göttliche sein. 15 Die durch äußere Motive veranlasste Bildung böser Maximen, mithin der Hang zum Bösen, resultiert dabei immer aus einer durch bloß sinnliche Neigungen beeinflussten Schwäche des Subjekts, auch wenn die Neigung durch intellektuelle Verblendung (basierend auf falschen intellektuellen Vorstellungen) hervorgerufen wird und die sich somit habitualisiert. Im Falle des religiösen Wahns, etwa der Selbstgeißelung zum Zwecke der Sühne, kann daraus eine negative Lust entstehen, die der eigenen Selbstliebe (freilich in pervertierter Weise) wiederum dienlich ist. Kants Aussage, durch die rein moralische Gesetzgebung sei „der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben“, darf deshalb nicht dahingehend missverstanden werden, dass sich das moralische Gesetz von Gottes Willen ableiten ließe. Sie besagt nur, dass wir uns, „wie nur e i n e n Gott, also auch nur e i n e Religion denken [können], die rein moralisch ist“. Alle statutarischen, geoffenbarten Gesetze hingegen, „die sich nicht von selbst als verpflichtend, sondern nur als geoffenbarter göttlicher Wille für solche erkennen lassen“, gehören im Gegensatz zur moralischen Gesetzgebung nicht zur „unumgängliche[n] Bedingung aller wahren Religion überhaupt“ (RGV, AA 06: 104); vielmehr kann eine solche statutarische Gesetzgebung nur das Mittel ihrer Beförderung und Ausbreitung enthalten kann, wovon weiter unten noch die Rede sein wird (vgl. auch Anm. 26).

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Gesetzgeber die – nicht notwendigerweise moralischen – Handlungen bzw. Maxime zu Handlungen festlegen würde.

II Die Wurzel des religiösen Fanatismus in Glaubensgemeinschaften: Historischer vs. Moralischer Glaube „Das Kennzeichen der wahren Kirche ist ihre A l l g e m e i n h e i t “ (RGV, AA 06: 115), wie Kant im 3. Stück der Religionsschrift feststellt. Vergegenwärtigt man sich Kants religions- und kirchenkritische Position in der Religionsschrift, könnte für mit seiner Abhandlung nicht vertraute Leser der Eindruck entstehen, es gäbe für Kant die richtige Kirche und damit auch die richtige Religionsgemeinschaft. Tatsächlich meint Kant jedoch, dass es nur „e i n e (wahre) R e l i g i o n “, hingegen „vielerlei Arten des G l a u b e n s “ geben könne, weshalb die „sogenannten Religionsstreitigkeiten, welche die Welt so oft erschüttert und mit Blut besprützt haben“, in Wahrheit „nie etwas anders als Zänkereien um den Kirchenglauben“ (RGV, AA 06: 107 f.) gewesen sind. Was nun aber meint Kant mit der wahren Kirche genau und warum zeichnet sie sich durch Allgemeinheit aus? Da Allgemeinheit und Notwendigkeit als Wechselbegriffe in der theoretischen, aber auch praktischen Philosophie von der Erfahrung unabhängige und universell gültige Einsichten kennzeichnen, so wird die wahre, im Gegensatz zur historischen als einer gelehrten Religion, die nur „particuläre Gültigkeit“ beanspruchen kann, „für die nämlich, an welche die Geschichte gelangt ist“ (RGV, AA 06: 115), einen absoluten Geltungsanspruch besitzen. Eine sich auf bloß „empirischen Glauben“ (RGV, AA 06: 110) gründende Kirche, d. i. ein sich auf Offenbarungsschriften gründender Kirchenglaube wird den von Kant geforderten Anspruch auf Universalität und allgemeine Verbindlichkeit folglich niemals erfüllen können. Warum der historische Glaube defizitär ist, woran es ihm mangelt und welche Anforderungen eine Kirche erfüllen muss, um zur wahren Kirche zu werden, erfordert freilich eine eingängigere Betrachtung. Das grundlegende Defizit des Kirchenglaubens ist, allgemein gesprochen, der in ihm zum Ausdruck kommende Mangel an wahrhaft moralischer Gesinnung. Als bloß „auf Facta gegründeter historischer Glaube“ lässt er sich nicht „jedermann zur Überzeugung mittheilen“, eine Eigenschaft, die der noch zu erläuternde „r e i n e R e l i g i o n s g l a u b e [ … , ] weil er ein bloßer Vernunftglaube ist“ (RGV, AA 06: 102 f.), freilich besitzt. Wenn sich moralische Überzeugungen nicht ohne allgemeine Übereinstimmung mitteilen lassen, wird der Kirchenglaube, dem jede Allgemeinheit fehlt, notwendigerweise keine

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Einhelligkeit in Fragen der Moralität finden.¹⁶ Das grundlegende Problem dabei ist, dass der göttliche Wille, der „entweder durch an sich b l o ß s t a t u t a r i s c h e , oder durch r e i n m o r a l i s c h e Gesetze“ gebieten kann, beim Kirchenglauben „nur durch Offenbarung möglich“ ist und dadurch nur „durch Tradition oder Schrift unter Menschen fortgepflanzt“ (RGV, AA 06: 104), nicht aber durch praktische Vernunft selbst eingesehen werden kann. Ein Offenbarungsglaube aber, „der als historischer (obwohl durch Schrift weit ausgebreiteter und der spätesten Nachkommenschaft zugesicherter) Glaube doch keiner allgemeinen überzeugenden Mittheilung fähig ist“ (RGV, AA 06: 109), bedarf zur Auslegung der „S c h r i f t g e l e h r s a m k e i t “ (vgl. RGV, AA 06: 114), die aber jederzeit nur „doctrinal ist, um den Kirchenglauben für ein gewisses Volk zu einer gewissen Zeit in ein bestimmtes, sich beständig erhaltendes System zu verwandeln“ (RGV, AA 06: 114). Über das Problem der Schriftgelehrsamkeit wurde ja bereits gesprochen. Übertragen auf das ethisch gemeine Wesen, in dem „das Verhältniß der Menschen untereinander“ gemeinschaftlich nicht unter „ö f f e n t l i c h e n R e c h t s g e s e t z e n “ steht, sondern nur auf „zwangsfreien, d. i. bloßen T u g e n d g e s e t z e n “ (RGV, AA 06: 95) basiert, ergibt sich nun eine Pflicht ganz eigener Art, „nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ (RGV, AA 06: 97). Denn, da die einzelne Person das höchste sittliche Gut durch ihre individuelle Bestrebung zu ihrer moralischen Vollkommenheit schon alleine oft nur unzureichend bewirken kann, ist eine Vereinigung vieler Personen „zu einem System wohlgesinnter Menschen“ (RGV, AA 06: 97 f.) erforderlich; eine Vereinigung, die also der Gattung vernünftiger Wesen auferlegt ist und „in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts“ (vgl. RGV, AA 06: 97) besteht. Da in einem solchen ethischen gemeinen Wesen das Volk selbst nicht gesetzgebend sein kann, weil alle Gesetze nur auf die Beförderung der „M o r a l i t ä t der Handlungen [abzielen] (welche etwas I n n e r l i c h e s ist)“ (RGV, AA 06: 98), zur Durchschauung des „In-

16 Vgl. dazu Dörflinger 2008, S. 112 f., der die Zersplitterung auf dem Feld der verschiedenen Glaubensarten und Glaubensunterarten diskutiert, die dem Staatszweck der Friedenssicherung gerade zuwider sind, weil jede von ihnen auf die Exklusivität ihrer eigenen als gottursprünglich vermeinten statutarischen Gesetze besteht: „Die Inkonsistenz der Regeln also wird zum Problem, und zwar zu einem bei aller scheinbaren Geringfügigkeit zuhöchst bedeutungs- und affektbeladenen, denn der Ursprung der jeweiligen widersprüchlichen Anweisungen soll, wie peripher ihr Gehalt auch scheinen mag, doch jedesmal kein geringerer als Gott sein. Da Gott keine widersprüchliche Gesetzgebung unterstellt werden kann, da zudem aufgrund des außervernünftigen Ursprungs der Gesetze ein auftretender Widerspruch prinzipiell durch Vernunft nicht zu lösen ist, liegt nahe, ihn durch Machtspruch zugunsten der eigenen historischen Glaubensart zu lösen, dem sich der andere unterwerfen soll. Tut er es nicht, dann liegt aufgrund der Unmöglichkeit rationaler Entscheidung auch die Anwendung von Gewalt nicht fern.“ (S. 113)

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nerste[n] der Gesinnungen eines jeden“ aber jederzeit ein wahrer „Herzenskündiger“ erforderlich ist, kann dieses Volk nur als ein gemeines Wesen unter göttlichen Geboten, d. h. als „ein V o l k G o t t e s , und zwar n a c h T u g e n d g e s e t z e n “ (RGV, AA 06: 99) gedacht werden. Ein „Volk Gottes nach s t a t u t a r i s c h e n G e s e t z e n “ gedacht würde hingegen nur auf die „Legalität der Handlungen“ achten, mithin käme es bei der Befolgung der Gesetze „nicht auf die Moralität“ (RGV, AA 06: 99) an. Der zugrunde gelegte Begriff des „Volk Gottes“ ist hier also der „von Gott als einem moralischen Weltherrscher“ (RGV, AA 06: 99).¹⁷ Mag auch die Idee eines ethischen gemeinen Wesens nie völlig erreichbar sein ebensowenig wie die der individuellen, personifizierten Heiligkeit (vgl. Anm. 24) , so ist es doch Pflicht des Einzelnen wie auch der Gemeinschaft aller, sich diesem Ideal approximativ anzunähern (vgl. RGV, AA 06: 100 f. sowie Anm. 24). Insofern diese Idee nie anders als in der Form einer Kirche angestrebt werden kann, braucht es entweder die unsichtbare oder die sichtbare Kirche, um „ein moralisches Volk Gottes zu stiften“ (RGV, AA 06: 100). Wenn aber die sichtbare Kirche als „die wirkliche Vereinigung der Menschen zu einem Ganzen“ nicht mit dem Ideal der unsichtbaren Kirche als der bloßen Idee „von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung, wie sie jeder von Menschen zu stiftenden zum Urbilde dient“ (RGV, AA 06: 101), zusammenstimmte, könnte auch kein wahrhaft moralisches Volk gegründet werden. Umgekehrt dient die sichtbare Kirche als (sinnliche) Darstellung des moralischen Reichs Gottes auf Erden (vgl. RGV, AA 06: 101). Ziel einer jeden Offenbarungsreligion muss es daher sein, sich der reinen Vernunftreligion anzunähern, damit die wahre Religion sich ausbreiten kann.¹⁸ Der 17 Dass Gott hier allein in der Eigenschaft eines moralischen Weltherrschers gedacht werden muss, wirft ein unmittelbar in die Theodizee-Problematik führendes Problem auf. Wenn Gott als Herzenskünder nämlich in das Innerste der Gesinnungen eines jeden sehen kann, mithin neben der Eigenschaft der Allgütigkeit zumindest auch Allwissenheit besitzen muss, andernfalls er nicht mit Sicherheit wüsste, welche wahrhafte Gesinnung der Einzelne hat, dann fragt es sich, wieso er aufgrund seiner Allmacht nicht von vorneherein vollkommenere Wesen geschaffen hat, die sich nicht erst moralisch zur Glückseligkeit qualifizieren müssen. Wenn also überhaupt eine Welt mit all ihren Übeln da ist, dann muss der Endzweck des Menschen darin liegen, moralisch zu sein, um zumindest dem moralischen Übel entgegenzutreten. Warum aber überhaupt eine solche Welt da ist, diese Frage wird damit nicht beantwortet. 18 Wenn der reine Vernunftglaube unter dem Ideal der unsichtbaren Kirche von Kant als dasjenige Ziel ausgewiesen wird, auf das hin sich alle drei abrahamitischen Religionen entwickeln sollen, dann ist die kantische Forderung, wie Dörflinger 2008, S. 115 feststellt, keine „in Absicht auf die Vernichtung aller Religion“. Die Etablierung der einen Vernunftreligion aber kennt keine „statutarischen religiösen Gesetze mehr […], sondern nur noch moralische“, was freilich eine Forderung ist, die den Offenbarungsreligionen zugemutet werden muss, wie Dörflinger 2012a, S. 161, an anderer Stelle konstatiert. Das Aufklärungsideal der „Alleinherrschaft des reinen Religionsglaubens“ (RGV,

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bloße Offenbarungsglaube, also „[d]er Glaube einer gottesdienstlichen Religion“, ist hingegen „ein F r o h n - und Lohnglaube (fides mercennaria, servilis) und kann nicht für den seligmachenden angesehen werden, weil er nicht moralisch ist“ (RGV, AA 06: 115). Es fehlt ihm gleichsam ein „freier, auf lautere Herzensgesinnungen gegründeter Glaube (fides ingenua)“, d. h. die „moralisch gute Gesinnung“, weil er lediglich versucht, durch „Handlungen (des Cultus)“, die keinerlei moralischen Wert haben und „nur durch Furcht und Hoffnung abgenöthigte Handlungen sind, die auch ein böser Mensch ausüben kann, Gott wohlgefällig zu werden“ (RGV, AA 06: 115 f.). Versucht dieser historisch-empirische Glaube überdies, das Prinzip des guten Lebenswandels, d. i. der „lebendige Glaube an das Urbild der Gott wohlgefälligen Menschheit“, allein als historischen Glauben an eben dasselbe Urbild „i n d e r E r s c h e i n u n g “ (RGV, AA 06: 119) zu binden, und etwa den Geschichtsglauben an den Sohn Gottes „zur Bedingung des allein seligmachenden Glaubens“ (RGV, AA 06: 119) zu machen, pervertiert er eine moralische Vernunftidee als Richtschnur für den guten Lebenswandel. Denn der ausschließlich historische Glauben an den Sohn Gottes als die personifizierte Gottheit, „der durch seine Heiligkeit und Verdienst sowohl für sich (in Ansehung seiner Pflicht) als auch für andere (und deren Ermangelung in Ansehung ihrer Pflicht) genug gethan […] habe“ (RGV, AA 06: 120), bedient wieder nur die faule Vernunft. Und zwar deshalb, weil die Hoffnung auf das eigene Seligwerden in einem solchen guten Lebenswandel gründet, der „nur kraft jenes Glaubens“ möglich wird und nicht durch das eigene Bemühen, „mit allen Kräften der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels nach[zu] streben“ (RGV, AA 06: 120). In gesteigerter Form wird dieser Glaube als mit einer besonderen Kraft begabt vorgestellt, und zwar so, dass er einen „solchen mystischen (oder magischen) Einfluß habe“, als ob er dem Menschen „unmittelbar vom Himmel (mit und unter historischem Glauben) ertheilt und eingegeben“ (RGV, AA 06: 120 f.) würde. Dergestalt würde jede moralische Beschaffenheit des Menschen letztlich nur auf einen unbedingten Ratschluss Gottes hinauslaufen; die Anlage zum Guten oder Bösen würde sich also einer Gnadenwirkung¹⁹ Gottes verdanken, der sich dem einen er-

AA 06: 115) erlaube jedenfalls „bei konsequenter Denkart kein Koexistenz- oder Ergänzungsverhältnis zwischen historischen Religionen und Vernunftreligion“ (Dörflinger 2012a, S. 161). 19 An dieser Stelle wird der Begriff der Gnadenwirkung als Gnadenwahl von uns sehr weit gefasst und nicht so eng, wie beim Dogma von der Prädestination infolge der Gnadenwahl und Ungnadenwahl (vgl. Röm. 9, 11–24), demzufolge ja der auserwählte Mildtätige sein Gegenüber jederzeit schonen müsste. Da aber auch die Bekehrung der Ungläubigen, wie sie etwa von rechtgläubigen Muslimen angestrebt wird, jederzeit als ein solcher Gnadenakt Gottes gedacht, mithin Moralität auch die etwaige gewaltsame Bekehrung der Lasterhaften nicht ausschließen würde, so ist es sicherlich nicht falsch, wenn hier gesagt wird, es ließe sich durch solch eine von außen zugetragene

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barmt und dem anderen verschließt (vgl. RGV, AA 06: 120 f.). Dies bedeutet nicht nur, dass Moralität eben keinerlei Verdienstlichkeit mehr voraussetzt, sondern auch, dass sich mit einer solchen Moralitätsauffassung die Verfolgung von Ungläubigen, Irrgläubigen und Ketzern jederzeit rechtfertigen ließe (vgl. RGV, AA 06: 108 f.), weshalb Kant mit Blick auf einen solchen mystifizierenden Glauben völlig zurecht vom „salto mortale der menschlichen Vernunft“ (RGV, AA 06: 121) spricht: „Himmlische Einflüsse in sich w a h r n e h m e n zu wollen, ist eine Art Wahnsinn, in welchem wohl gar auch Methode sein kann (weil sich jene vermeinte innere Offenbarungen doch immer an moralische, mithin an Vernunftideen anschließen müssen), der aber immer doch eine der Religion nachtheilige Selbsttäuschung bleibt.“ (RGV, AA 06: 174) Hingegen geht der einzig zu rechtfertigende, rationale Glaube als Prinzip des guten Lebenswandels, der mit einer Hoffnung auf (moralische) Glückseligkeit durch Verdienstlichkeit (vgl. RGV, AA 06: 67 f.) verbunden ist, davon aus, dass dem Glauben jederzeit die Maxime untergelegt werden müsse, dass er „nämlich von der Besserung des Lebens anfange, als der obersten Bedingung, unter der allein ein seligmachender Glaube stattfinden kann“ (RGV, AA 06: 118). Der moralische Glaube setzt also voraus, dass man „mit allen Kräften der heiligen Gesinnung eines Gott wohlgefälligen Lebenswandels“ nachstrebt, „um glauben zu können, daß die (uns schon durch Vernunft versicherte) Liebe desselben zur Menschheit“, sofern sie Gottes heiligen Willen so gut wie möglich umzusetzen versucht, „den Mangel der That, auf welche Art es auch sei, ergänzen werde“ (RGV, AA 06: 120). Wie Kant sagt, enthält dieser Glaube „eigentlich kein Geheimniß; weil er lediglich das moralische Verhalten Gottes zum menschlichen Geschlechte ausdrückt“ und sich zugleich „aller menschlichen Vernunft von selbst“ (RGV, AA 06: 140) erschließt. Die Anlage zur moralischen Religion, die in der menschlichen Vernunft überhaupt liegt, zu befördern und, mit Blick auf einen Hang zum Guten auszubilden, soll nun nach Kant das Hauptziel aller Offenbarungsreligionen sein. Es beschreibt dies „das Princip des allmähligen Überganges des Kirchenglaubens zur allgemeinen

Moralität auch Unrecht rechtfertigen. – Dörflinger 2008, S. 117 verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass Kant den mystischen Gefühlsglauben als ‚Illuminatism‘ vermeinter ‚innerer Offenbarungen‘ abqualifiziert: Über privatsubjektive Gefühle und etwas durch sie Geoffenbartes lässt sich – anders als über die moralischen Gesetze der allgemeinen praktischen Menschenvernunft, die in der Vernunftreligion zugleich als göttliche Gesetze angesehen werden – in keiner Weise intersubjektive Verständigung erzielen. Ein privater Gefühlsglaube ist somit der Antipode zum Vernunftglauben. Während der Vernunftglaube Gemeinschaft unter den Menschen stiftet, und zwar unter moralischen Gesetzen, woran der Staat ein Interesse nehmen muss, wirkt der Gefühlsglaube partikularisierend, ja atomisierend, wenn wirklich ein jeder seinen eigenen hat.“ Vgl. auch Dörflinger 2012a, S. 161.

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Vernunftreligion“ (RGV, AA 06: 122), also den Weg von der sichtbaren Kirche zur unsichtbaren Kirche, der im Anschluss noch genauer zu thematisieren sein wird. Dieser Weg ist für Anhänger von Offenbarungsreligionen als bloß gelehrtem Glauben (vgl. RGV, AA 06: 163 ff.) schon insofern problematisch, als sie anstelle von Gott ihre eigene Vernunft als Richtmaß setzen und zugleich akzeptieren müssen, dass der Kirchenglaube tatsächlich nur provisorisch zu Beförderung des Guten (vgl. RGV, AA 06: 121 f.) wird dienen können. Im schlimmsten Fall aber wird die Beförderung des Guten sogar durch die Offenbarungslehre erschwert oder sogar ganz pervertiert. Wenn also bspw. etwa der Koran, als Niederschrift von Gottes Wort verstanden, vorschreibt, dass es ein moralisch legitimer Akt ist, Ungläubige, die sich nicht zum Islam bekennen oder ihn ablehnen, prinzipiell töten zu dürfen, wäre auf diese Weise also selbst die frevelhafteste, durch moralisch-praktische Vernunft unter allen Umständen untersagte Handlung, durch rein statutarische Gesetze erlaubt bzw. geboten.²⁰ Die meist mit Offenbarungslehren einhergehende und anfangs angesprochene Hoffnung aber, das bloße Vertrauen auf Gott als Weltrichter werde schon „ewig glücklich machen“, weicht in einer reinen Vernunftreligion der Idee Gottes und der damit verbundenen These einer Glückseligkeit als Glückswürdigkeit. Dieser zu verdienenden Glückseligkeit als einem aus der Moral hervorgehenden objektiven Zweck kann sich aber kein Mensch entziehen, da es reiner Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein [kann], wie die Beantwortung der Frage ausfallen möge: w a s d a n n a u s d i e s e m u n s e r n R e c h t h a n d e l n h e r a u s k o m m e , und worauf wir, gesetzt auch, wir hätten dieses nicht völlig in unserer Gewalt, doch als auf einen Zweck unser Thun und Lassen richten könnten, um damit wenigstens zusammen zu stimmen (RGV, AA 06: 05).

Vor diesem Hintergrund ist sodann auch Kants berühmte Aussage, Moral führe unumgänglich zur Religion (vgl. RGV, AA 06: 06) zu verstehen. Die Glückseligkeit als höchstes Gut muss bei Kant verdient werden, indem sich das Subjekt durch sein moralisches Handeln glückswürdig macht. Insofern der Mensch als moralischvernünftiges Wesen in der Welt handelt, ergibt sich natürlicherweise die Idee „eines machthabenden moralischen Gesetzgebers außer dem Menschen […], in dessen Willen dasjenige Endzweck (der Weltschöpfung) ist, was zugleich der Endzweck des

20 Vgl. zu diesem Aspekt Dörflinger 2012a, S. 163: „Als aus Vernunft nicht deduzierbare [religiöse statutarische] Gesetze beinhalten sie außermoralische Handlungsanweisungen, im günstigen Fall moralindifferente, etwa das Gebiet einer religiösen Diätetik betreffende, möglicherweise auch amoralische, z. B. solche, die Menschenopfer verlangen. Ihnen gemäß zu handeln, erfordert eine nicht über Einsichten vermittelte Anerkennung göttlicher Autorität und Befehlsgewalt, setzt in den Adressaten also blinden Gehorsam und die Mentalität von Befehlsempfängern voraus.“

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Menschen²¹ sein kann und soll“ (RGV, AA 06: 06). Der Mensch darf also die Hoffnung auf Glückseligkeit haben, insofern er sich – aus wahrhaft moralischen Bestimmungsgründen veranlasst – dazu entschließt, ein guter Mensch zu sein bzw. zu werden. Da er jedoch keinesfalls selbst das höchste Gut, gleichsam die Belohnung für seine Mühen, herbeiführen kann, „so muß, weil das Menschenvermögen dazu nicht hinreicht, die Glückseligkeit in der Welt einstimmig mit der Würdigkeit glücklich zu sein zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (RGV, AA 06: 08, Anm.; vgl. auch 139).²²

21 Würde man fragen, wozu überhaupt die Idee eines höchsten Guts eingeführt wird, dann müsste wohl folgende Antwort gegeben werden: Ohne die Annahme eines Endzwecks allen Daseins, der im moralischen Handeln liegt, und die sich daraus ergebende Hoffnung, dass eine Art ewige Gerechtigkeit sein wird, die in dieser Welt, trotz der eigenen Bemühungen um einen guten Lebenswandel in der Welt, die ein Sammelsurium so vieler ‚krummer Hölzer‘ (vgl. RGV, AA 06: 100 sowie auch IaG, AA 08: 23) ist, niemals stattfinden wird, kann auch die – letztlich anthropologische – Frage, wozu der Mensch überhaupt da ist, nicht befriedigend beantwortet werden. Oder, einfacher formuliert: Eine moralisch-vernünftige Welt ist wünschenswerter als eine bloß zweckmäßig-vernünftige oder unvernünftige. Und eine Welt, in der die Glückswürdigen glücklich sind, ist vernünftiger, als eine Welt, in der es keinen Nexus zwischen Moral und Glück gibt. Die Realisierung der Glückseligkeit hängt also allein vom moralischen Verdienst ab, der die Rechtschaffenheit eines jeden belohnt. Freilich ist hier nur die moralische Glückseligkeit angesprochen, der es anders als der physischen nicht um „die Versicherung eines immerwährenden Besitzes der Zufriedenheit mit seinem p h y s i s c h e n Z u s t a n d e (Befreiung von Übeln und Genuß immer wachsender Vergnügen)“ (RGV, AA 06: 67) geht. Klingner 2012, S. 179 ff., betont vor dem Hintergrund einer prägnanten Analyse aller Kantischen Bestimmungen der Zweckmäßigkeit die objektive, materiale und äußere Zweckmäßigkeit des religiösen Glaubens. Dergestalt sei er zur Beförderung der Moralität, selbst für den Atheisten nützlich (vgl. S. 179); die entsprechende Handlungsanweisung hätte dabei die Form eines hypothetischen Imperativs, wobei der religiöse Glaube als Mittel zur Beförderung der moralischen Gesinnung als Zwecks, d. h. des zu verwirklichenden Objekts gedacht würde: „Wenn Du die Achtung vor dem moralischen Gesetz stärken willst, dann mache die Annahme des Daseins Gottes zu Deinem beharrlichen Grundsatz!“ (vgl. S. 183 f.) Dabei sei der religiöse Glaube zwar ein hinreichendes, aber kein notwendiges Mittel für die Stärkung der moralischen Gesinnung, da etwa ein Zweifelsgläubiger die Stärkung seiner moralischen Gesinnung auch von anderer Seite erfahren könne (vgl. S. 189 f.). 22 Vgl. KpV, AA 05: 124: „Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen Wesens in der Welt, dem es im Ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht, und beruht also auf der Übereinstimmung der Natur zu seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichen Bestimmungsgrund seines Willens.“ Da jedoch diese permanente Übereinstimmung nicht möglich ist, die Prinzipien der Moral nicht durchgängig mit der eigenen – physischen – Glückseligkeit zusammenstimmen können, mithin kein Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionierten Glückseligkeit eines Wesens, das Teil dieser Welt ist, vorliegt, braucht es die Idee eines von der Welt unabhängigen Wesens. Also ist Gott als Ursache des Menschen als moralischen Vernunftwesens allein in der Lage, dem Menschen die gebührende Glückseligkeit zukommen zu lassen, weil dieser durch seinen Willen nicht

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III Der Weg zur unsichtbaren Kirche: Natürliche Religion vs. Offenbarungsreligion Im 4. Hauptstück der Religionsschrift weitet Kant seine Überlegung zum reinen Vernunftglauben als natürlicher Religion im Gegensatz zum historischen Glauben als Offenbarungsreligion weiter aus, indem er den vorhin bereits thematisierten allmählichen Übergang der Offenbarungsreligionen hin zur natürlichen Religion insbesondere am Beispiel des Christentums näher beschreibt. Um das für Anhänger gottesdienstlicher Ritualien sehr ernüchternde Ergebnis der Untersuchung vorwegzunehmen: Diese Rituale als bloßer „D i e n s t (cultus)“ an Gott, ohne eine „continuierliche Annäherung“ zu einem reinen Vernunftglauben zu befördern, sind für Kant nicht nur unvorteilhaft; sie sind vielmehr als schädlich abzulehnen, wenn sie den „historischen und statutarischen Theil des Kirchenglaubens für allein seligmachend erklären“. Dies bezeichnet Kant als bloßen „A f t e r d i e n s t “ der Kirche, der bloß auf „Überredung“ setzt,“ jemande[m] durch solche Handlungen zu dienen“, anstatt diesen Dienst unter die „Herrschaft des guten Princips“ (RGV, AA 06: 153) zu stellen. Unter dem guten Prinzip freilich versteht Kant nichts weiter als die Befolgung des allgemein gültigen Moralgesetzes. Für die Religion, die ursprünglich und subjektiv betrachtet als die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote (vgl. RGV, AA 06: 153 f.) definiert werden kann und entweder als geoffenbarte oder als natürliche auftreten kann, bedeutet dies, dass sie nur als natürliche Religion einen moralischen Wert hat. Denn hier muss man, anders als im ersten Fall, nicht zuvor wissen, „daß etwas ein göttliches Gebot sei, um es als meine Pflicht anzuerkennen“, sondern zuvor wissen, „daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“ (RGV, AA 06: 154). Um es anders zu sagen: Alle Religion muss der Moralität untergeordnet sein, damit daraus Religion (als natürliche) entspringen kann. Das moralische Gesetz ist dabei allein der Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen (vgl. RGV, AA 06: 185 ff.; vgl. auch Anm. 14). Alle Offenbarungsreligionen müssen dem Gesagten zufolge auf den letzten Zweck gerichtet sein, zum öffentlichen, reinen Religionsglauben unter der Herrschaft des guten Prinzips zu werden. Da die natürliche Religion sich aus der reinen Vernunft eines jeden natürlicherweise ableiten lässt, sie damit „die Qualification zur Allgemeinheit“ als ein „Erforderniß der wahren Kirche“ (RGV, AA 06: 157) in sich

Ursache der Natur sein kann, andernfalls die Natur auf seine individuellen Glücksbedürfnisse zugeschnitten wären. Vgl. zu diesem Aspekt auch die konzise Darstellung Dörflingers 2012a, S. 159 f.

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trägt, wird sie keiner auszulegenden Statuten bedürfen,²³ um einen unbedingten Geltungsanspruch erheben zu können. Aus reinem Vernunftglauben entspringend stützt sich natürliche Religion ferner nicht auf Geschichte und Überlieferung mit dem Versuch, die Religion anstelle der Tugendgesinnung, sondern die Religion „zur Beförderung der Tugendgesinnung, die in einem guten Lebenswandel thätig erscheint“ (RGV, AA 06: 201), in sich aufzunehmen. Natürliche Religion versucht dabei keine Handlungsanweisungen zu geben, mit denen man sich durch Lohndienste Gott wohlgefällig machen kann (vgl. etwa RGV, AA 06: 177). Als oberste „unnachläßliche Bedingung eines jeden Religionsglaubens“ (RGV, AA 06: 158) ist allein „Heiligkeit das Ziel“²⁴ (RGV, AA 06: 159), d. h. die Gesinnung, mit der wir den Tu-

23 Während die sichtbare Kirche „auf Satzungen gegründet ist“ und dadurch der „Organisation durch Menschen bedürftig und fähig ist“, mithin Priester als Schriftausleger und Zeremonienmeister bedarf, erlaubt „eine reine Vernunftreligion als öffentlicher Religionsglaube nur die bloße Idee von einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren, [mithin, nicht auf Satzungen fußenden, C.O.])“, die höchstens „gesetzliche[r] Diener, als B e a m t e [ n ] eines ethischen gemeinen Wesens“ (RGV, AA 06: 152) bedarf. Dies bedeutet freilich, dass religiöse Institutionen mit Blick auf die Errichtung einer ‚unsichtbaren Kirche‘ in letzter Konsequenz nicht mehr zwingend erforderlich wären bzw. nur mit den in Anm. 26 diskutierten Einschränkungen. 24 Diese Heiligkeit mit Blick auf den Menschen ist, speziell mit Blick auf die Kritik der praktischen Vernunft, niemals so zu verstehen, dass der Mensch wirklich heilig werden könnte, denn dann besäße er keinen auch durch Neigungen affizierbaren, sondern einen heiligen, d. h. göttlichen Willen. Dass alles moralische Handeln nur eine approximative Annäherung an diesen heiligen Willen, durch einen unendlichen Progressus ist, betont Kant immer wieder (vgl. KpV, AA 05: 32 f., 122 ff.).Vgl. dazu auch Wood 1970, S. 231: „Thus even the man whose disposition is good, even the best of men, in Kant’s view, cannot attain the moral perfection of holiness.“ – So wie für das einzelne Subjekt die Annäherung an die Heiligkeit des Willens gefordert wird, so wird für die einzelnen Offenbarungsreligionen als sichtbarer Kirche gefordert, sich dem Ideal der unsichtbaren Kirche, die als reine Vernunftreligion auftritt, anzunähern (vgl. etwa RGV, AA 06, 122). Dementsprechend hat man es auch nicht nötig, hinsichtlich Jesus Christus als der personifizierten Idee des Guten dieses Urbild des Guten noch „in einem besondern Menschen hypostasirt anzunehmen“, da vielmehr „die Erhebung eines solchen Heiligen über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur der praktischen Anwendung der Idee desselben auf unsere Nachfolge nach allem, was wir einzusehen vermögen, eher im Wege sein“ (RGV, AA 06: 64) würde. Dass die in Jesus Christus gedachte moralische Perfektion mit Blick auf den Menschen nicht erkannt werden kann, betont Dörflinger 2012b, insbesondere auf den S. 185 und 189. Allerdings sei die Idee des personifizierten Guten dadurch noch keine bloß regulative, da die Restriktion regulativer Ideen mit Blick auf die „durch die notwendige Möglichkeit der Realisierung der durch die Idee gedachten Pflicht aufgehoben“ (S. 189) würde. Ob Kant jedoch eine notwendige Möglichkeit der Realisierung der Pflicht behauptet, insofern in keinem einzigen Fall die mögliche moralische Motivation eingesehen werden kann (vgl. GMS, AA 04: 407 f.), ist fraglich. Jedenfalls wäre in dem Fall, dass die personifizierte Idee des Guten tatsächlich konstitutiv wäre, wie Dörflinger konstatiert, die Möglichkeit zur Erreichung dieses Endziels der Heiligkeit eingeräumt, wodurch der Wille des Menschen heilig würde. Dies wiederum würde ihn per definitionem zum göttlichen Wesen machen, was für die Gattung Mensch als sinnlich-vernünftigem

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gendgesetzen als „Vorschriften der H e i l i g k e i t “ (RGV, AA 06: 161) nachstreben sollen. Wäre an dieser Stelle Schluss, so müsste man annehmen, Kant räumte den Offenbarungsreligionen keinerlei Existenzberechtigung ein. Nun geht die Sache aber weiter durch Kants Unterscheidung von Ursprung und äußerer Beschaffenheit einer Religion. Was die äußere Beschaffenheit einer Religion anbelangt, so stellt Kant fest, dass auch die natürliche Religion „g e o f f e n b a r t “ (RGV, AA 06: 155) sein kann, bzw. die Offenbarungsreligion als natürliche Religion wird auftreten können. Dies ist immer dann der Fall, wenn die Menschen „durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hä t t e n kommen k ö n n e n und s o l l e n “, so dass, „wenn die dadurch eingeführte Religion einmal da ist, und öffentlich bekannt gemacht worden, forthin jedermann sich von dieser ihrer Wahrheit durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann“ (RGV, AA 06: 155 f.). In einem solchen Falle ist es eigentlich um eine natürliche Religion zu tun, weil die Religion „o b j e c t i v eine natürliche, obwohl s u b j e c t i v eine geoffenbarte“ (RGV, AA 06: 156) ist. Während die bloß geoffenbarte als eine gelehrte Schriftreligion ohne eine ganz sichere Tradition oder Aufbewahrung in heiligen Büchern als Urkunden verschwinden würde bzw. von Zeit zu Zeit immer wieder öffentlich bekannt gemacht werden müsste, ist die natürliche als Vernunftreligion von diesem Schicksal nicht betroffen, da sie auf die Vernünftigkeit eines jeden Menschen gegründet ist. Dennoch bedarf auch die natürliche Religion – wie schon besprochen – der Vermittlung und Sichtbarmachung (durch einen Stifter der einer sichtbaren Kirche), um eine „collective Allgemeinheit, d. i. Vereinigung der Gläubigen in eine (sichtbare) Kirche nach Principien einer reinen Vernunftreligion“ (RGV, AA 06: 158) zu errichten. Denn „durch Vernunftreligion jedes Einzelnen [existiert] noch keine Kirche als allgemeine V e r e i n i g u n g (omnitudo collectiva)“, weshalb sich auch die „allgemeine Einhelligkeit“ der wahren Kirche kaum von selbst erhalten würde, ohne dass die natürliche Religion in Form einer sichtbaren Kirche in „einen beharrlichen Zustand“ als einer „G e m e i n s c h a f t der Gläubigen gebracht“ (RGV, AA 06: 157 f.) würde. Dieser S t i f t e r einer sichtbaren Religion, in der „jene allgemeine Vernunftreligion zur obersten unnachläßlichen Bedingung eines jeden Religionsglaubens gemacht“ (RGV, AA 06: 158) wird, ist „zwar nicht als S t i f t e r der von allen Satzungen reinen in aller Menschen Herz geschriebenen R e l i g i o n “ (RGV, AA 06: 159) anzusehen, denn diese ist nicht – wie die sichtbare Kirche – willkürlich gemacht. Er darf aber als Stifter der ersten wahren Kirche verehrt werden, weil er Wesen aber ausgeschlossen ist (vgl. Anm. 3, 6). Als ein mit einem heiligen Willen begabtes Wesen jedoch würde der Mensch folglich auch in der Lage sein, die eigentliche Motivation seines Handelns – und die eines jeden anderen – auch zu erkennen. Deshalb muss die personifizierte Idee des Guten notwendig eine bloß regulative sein.

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eine rein moralische Lehre der wahrhaften Herzensgesinnung verbreitet, deren Ziel Heiligkeit und wahrhafte Tugend ist (vgl. RGV, AA 06: 159 ff.), wozu er ferner alle Pflichten in einer allgemeinen Regel sowie einer besonderen Regel zusammenfasst; das erste betrifft das Handeln aus Pflicht aus Achtung vor dem göttlichen Gesetz bzw. aus Achtung vor Gott, das zweite speziell das äußere Verhältnis zu anderen Menschen als allgemeine Pflicht, das Wohlwollen der Mitmenschen zu befördern, d. h. liebe einen jeden als dich selbst (vgl. RGV, AA 06: 160). Es bedarf keiner großen Anstrengung, um zu bemerken, dass Kant an dieser Stelle mit Jesus Christus einen solchen Stifter der wahren Kirche vor Augen hat. In der Tat hält Kant das Christentum gegenüber dem Judentum oder dem Islam für bevorzugt deshalb, weil die Lehre „a u s d e m M u n d e d e s e r s t e n L e h r e r s als eine nicht statutarische, sondern moralische Religion hervorgegangen, vorgestellt wird“ (RGV, AA 06: 167). Somit spricht einiges dafür, das Neue Testament und die in ihm vertretene Mitleidsethik sowie damit die christliche Religion als ein Idealbeispiel anzusehen für die beschriebene approximative Annährung ²⁵ einer geoffenbarten an die natürliche Religion. Damit ist auch gesagt: Wenn der Anspruch einer sichtbaren Kirche darauf hinausläuft, Moralität zu befördern, wird sie nicht nur weiterbestehen dürfen; der von ihr vertretene Kirchenglauben kann sogar einen „nützliche[n] Einfluß als ein[] Vehikel[]“ (RGV, AA 06: 123, Anm.) zur Beförderung der Moralität haben. Im Kern muss er freilich als ein reiner Vernunftglauben betrachtet werden, und zwar„als ein von jedem frei angenommener (fides elicita)“ (RGV, AA 06: 163), von dem sich also „jeder durch seine Vernunft überzeugen“ kann und der sogar als Geschichtsglaube „ein theoretisch freier Glaube“ sein könnte, „wenn man das Glauben nur nicht zur Pflicht machte“ (RGV, AA 06: 163 f.). Insofern also der offenbarte Religionsglaube sich auf „die allgemeine Menschenvernunft in einer natürlichen Religion“ bezieht und sich dementsprechend dem moralischen Gesetz unterordnet und es „für das oberste

25 Dass das Christentum nicht ohne nähere Differenzierung als Prototyp der Religion gelten kann und dergestalt der reine Vernunftglaube nicht als ein Kompromiss zwischen Christentum und einem Glauben, der auf moralischem Grund fußt, angesehen werden darf, verdeutlicht bereits Wood 1970, S. 197 ff. Insofern das Christentum nicht als natürliche, sondern nur als gelehrte Religion auftritt, unterscheidet sie sich in keinem Fall von jeder anderen gelehrten Religion, die auf Schriften und Satzungen beruht. Allerdings hat die christliche Religion den Vorteil, weil sie ausgehend von den Lehren Jesu Christi als eine nicht religiös statutarische, sondern moralische Religion vorgestellt wird, dem Prinzip der natürlichen als reiner Vernunftreligion näher zu stehen. Dieser Vorzug bedeutet allerdings nichts, wenn die moralische Lehre nicht der reinen Vernunftreligion weiter angenähert wird, so dass die christliche zur reinen Vernunftreligion werden kann. Erst dann wäre auch das Endziel der christlichen als natürlicher Religion erreicht, wie jede Offenbarungsreligion genau dann, wenn sie von allen nicht-moralischen Inhalten befreit wäre, als natürliche Religion auftreten würde.

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gebietende Princip“ anerkennt, so kann er, etwa in Gestalt der christlichen Glaubenslehre als Offenbarungslehre, als „höchst schätzbares Mittel“ betrachtet werden, um die „Faßlichkeit, selbst für Unwissende“ sowie die „Ausbreitung und Beharrlichkeit“ (RGV, AA 06: 165) der natürlichen Religion zu kultivieren.²⁶ Bleibt die Offenbarungslehre (fides statutaria) aber dem Prinzip des gebotenen Glaubens (fides imperata) verhaftet und trägt „Glaubenssätze als nothwendig vor“, die in keinem Fall „durch die Vernunft als solche erkannt werden können“ (RGV, AA 06: 163), verliert sie sämtlichen Wert; ja sie wird dann geradezu schädlich und gefährlich, weil sie den „A f t e r d i e n s t , wodurch die moralische Ordnung ganz

26 Vgl. dazu Dörflinger 2012a, S. 169, der in überzeugender Weise versucht, der Vehikelfunktion der Offenbarungsreligionen einen entsprechenden Sinn zu geben, speziell mit Blick auf die für Kant entbehrlichen kirchlichen Observanzen und Rituale wie die gottesdienstliche Praxis. Begreife man diese Rituale „als ästhetisch spielerische Praxis“, müssten den historischen Religionen nicht ‚der Dienst aufgesagt‘ werden; vielmehr könnten sie der äußeren Handlung nach bleiben. Als eine solche spielerische Praxis fehlte ihnen zwar noch der Charakter der Pflichterfüllung gegenüber Gott und gegenüber Menschen sowie der damit verbundene Ernst. Doch sei Gottesdienst in diesem Verständnis ein „Quasi-Gottesdient bzw. Gottesdienstspiel“, das trotz seiner „Moralindifferenz als auf Moral hin finalisiert bewertet“ werden müsse und durch „Kants Lehrstück von der Schönheit als dem Symbol der Sittlichkeit“ untermauert werden könnte. Die Forderung, zu den moralischen Begriffen etwas sinnlich Haltbares zu verlangen (vgl. RGV, AA 06: 109), werde damit erfüllt, wenngleich die ästhetisch-religiöse Praxis „in die Sphäre des Geschmacks, nicht in die der Moral“ (Dörflinger 2012a, S. 174) gehöre. „Unter der Voraussetzung eines derart veränderten Verständnisses der religiösen Praxis der historischen Religionen“ könne somit letztlich die Frage beantwortet werden, „worin ihr nützlicher Einfluss als Vehikel auf dem Weg zur Alleinherrschaft der Vernunftreligion bestehen mag“ (ebd., S. 169). Die These vom Schönen als Symbol des Sittlich-Guten vertritt, wie bereits der Buchtitel („Ästhetik der Sitten“) ankündigt, dezidiert Recki 2012, insbes. S. 162–169. Auch Maly 2012, S. 358 ff., diskutiert ausführlich die Vehikelfunktion der Offenbarungsreligionen und des Kirchenglaubens. In diesem Zusammenhang versucht er insbesondere den Begriff einer symbolischen Vorstellung zu analysieren, die von Kant speziell in Hinblick auf den Aspekt der göttlichen Ergänzung unserer moralischen Vollkommenheit nicht erörtert werde (vgl. S. 363). Auch er macht in verschiedenen Zusammenhängen geltend, das Schöne sei das Symbol des SittlichGuten, (vgl. etwa S. 207, Anm. 290, S. 382 sowie S. 386 f.). Wichtig ist dabei seine Feststellung, dass der Kirchenglaube nur hinführende und unterstützende Funktion habe, „auch wenn er diese Funktion möglicherweise immer und nicht nur zeitlich begrenzt hat“ (S. 387). Dann aber wäre der Übergang zur reinen Vernunftreligion tatsächlich unmöglich und würde Malys weiterem Befund, dieser Übergang liege im Bereich des (real) Möglichen (vgl. S. 388), gerade zuwiderlaufen. Mit Blick auch auf das in Anm. 24 diskutierte Problem der prinzipiell unerreichbaren personifizierten Idee des Guten, die durch die Gattungszugehörigkeit des sinnlich-vernünftigen Lebewesen per se nicht zu erreichen ist, müsste hier die Frage aufgeworfen werden, ob Kant die – letztlich anthropologisch wirksame – Idee der reinen Vernunftreligion in einer (Welt‐)Gemeinschaft von moralisch-vernünftigen Lebewesen tatsächlich für möglich und damit den Übergang für realisierbar hält; oder ob Kant hier wie dort eine unerreichbare regulative Idee etabliert, der es sich zwar anzunähern gilt, deren Realisierung aber von vorneherein ausgeschlossen ist.

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umgekehrt“ (RGV, AA 06: 165) wird, befördert und unmittelbar zum „R e l i g i o n s w a h n “ (RGV, AA 06: 168) führt. Dieser versucht, den „statutarischen Glauben“, der allenfalls „auf ein Volk eingeschränkt ist und nicht die allgemeine Weltreligion enthalten kann“, gerade „für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen“ (RGV, AA 06: 168). Darauf zu hoffen, durch einen Anthropomorphismus Gott „zu unserem Vortheil gewinnen zu können“ und durch „Aufopferungen“ jeglicher Art, wozu auch „Selbstpeinigungen“ (RGV, AA 06: 169) gehören, aber auch sämtliche „kirchliche Andachtsübungen“²⁷ (RGV, AA 06: 173), insofern ihnen der höchste Wert zukommen soll, ist jedoch völlig vernunftwidrig. Durch „religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten“ ist ein „religiöse[r] A b e r g l a u b e “, der Wahn, durch diese Bestrebung zu einem vermeintlichen Umgang mit Gott befähigt zu sein, „religiöse S c h w ä r m e r e i “ (RGV, AA 06: 174). Einen solchen Fetisch verwirft Kant mit Nachdruck: Wer also die Beobachtung statutarischer einer Offenbarung bedürfenden Gesetze als zur Religion nothwendig, und zwar nicht bloß als Mittel für die moralische Gesinnung, sondern als die objective Bedingung, Gott dadurch unmittelbar wohlgefällig zu werden, voranschickt und diesem Geschichtsglauben die Bestrebung zum guten Lebenswandel nachsetzt (anstatt daß die erstere als etwas, was nur b e d i n g t e r w e i s e Gott wohlgefällig sein kann, sich nach dem letzteren, was ihm allein schlechthin wohlgefällt, richten muß), der verwandelt den Dienst Gottes in ein bloßes Fetischmachen, und übt einen Afterdienst aus, der alle Bearbeitung zur wahren Religion rückgängig macht. So viel liegt, wenn man zwei gute Sachen verbinden will, an der Ordnung, in der man sie verbindet! – In dieser Unterscheidung aber besteht die wahre A u f k l ä r u n g ; der Dienst Gottes wird dadurch allererst ein freier, mithin moralischer Dienst. (RGV, AA 06: 179)

Es gilt also, die geltungslogischen Begründungs- und Bedingungsverhältnisse zu beachten, wenn man Wert und Unwert offenbarungsreligiöser Grundsätze diskutieren möchte. Alle kirchlichen Observanzen wie Feierlichkeiten und durch Glau-

27 Dazu zählt streng genommen schon das Beten „als ein i n n e r e r f ö r m l i c h e r Gottesdienst“, d. i. der Glaube an ein Gnadenmittel, das Kant als einen „abergläubische[n] Wahn (ein Fetischmachen)“ (RGV, AA 06: 194) bezeichnet sowie das Kirchengehen „als feierlicher ä u ß e r e r G o t t e s d i e n s t ü b e r h a u p t in einer Kirche“ (RGV, AA 06: 198), aber auch Rituale wie Taufe, Kommunion, Firmung bzw. Konfirmation als feierliche Einführung in eine bzw. Bestätigung der Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinschaft (vgl. RGV, AA 06: 199). – Zu dieser Art von Wahnglaube kommen noch der Wunderglaube hinzu als etwas, das sich jeglichen objektiven Erfahrungsgesetzen entzieht sowie der Glaube an Geheimnisse, d. h. etwas, von dem wir uns durch Vernunft nicht einmal einen Begriff machen können, „zu unserm moralisch Besten nöthig, aufnehmen zu müssen“ (RGV, AA 06: 194).

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bensbekenntnisse geoffenbarte Gesetze sind letztlich „moralisch-indifferente Handlungen“ (RGV, AA 06: 106) und haben keinerlei moralischen Wert.²⁸ Hinsichtlich des zu Beginn mit Blick auf das einzelne Subjekt behandelten Problems des religiösen Fundamentalismus als Wurzel des moralisch Bösen lässt sich nun ein Anspruch an die geoffenbarten Religionen ableiten: Nicht nur der Einzelne hat als moralisches Subjekt die Pflicht, sich von dogmatischen Glaubenssätzen zu lösen und allein der praktischen Vernunft als moralischer Triebfeder zu folgen. Es ist auch die Pflicht der jeweiligen Offenbarungsreligion, reine Glaubenssätze, „die nicht durch die Vernunft als solche erkannt werden können“ (RGV, AA 06: 163), zu verwerfen oder „nach Princip einer reinen Vernunftreligion“ (RGV, AA 06: 158) auszurichten, mithin die sichtbare in eine unsichtbare Kirche zu überführen. Nur so kann die Anlage jedes Einzelnen zur moralischen Religion befördert und diese, in der Vereinigung mit anderen zum Zwecke der Beförderung eines ethisch allgemeinen Wesens, insgesamt als „allgemeine Weltreligion“ (RGV, AA 06: 168) ausgebreitet werden. Das übergeordnete und letztlich unter anthropologischen Gesichtspunkten zu betrachtende Ziel dieser Bemühungen wäre somit die flächendeckende Verbreitung des moralisch Guten in der Gemeinschaft aller auch für sich nach moralischen Prinzipien handelnden Subjekten. Ebenso eröffnet sich damit eine Chance, die Anlage zum moralisch Guten auch bei denjenigen wiederherzustellen, die durch Heilsversprechen und sonstige Kuriositäten geoffenbarter Schriften schon zum moralisch Bösen verführt wurden. Der Kirchenglaube sollte künftig also niemals verführen, der faulen Vernunft zu folgen und die scheinbare Moralität in dogmatischen Glaubenssätzen zu gründen, die jederzeit auch zu bösen Zwecken missbraucht werden können. Ein historischer Kirchenglaube ist daher unter allen Umständen zu verwerfen, wenn er dem aufklärerischen Prinzip der reinen Vernünftigkeit zuwiderläuft. Ob von den drei großen monotheistischen Weltreligionen überhaupt eine schon auf dem Weg zum Ideal der unsichtbaren Kirche als alleiniger Weltreligion ist, darf bezweifelt werden. Jedenfalls zeigt auch die jüngere Vergangenheit noch, dass selbst das Christentum, dem Kant mit Blick auf den moralischen Kern seiner heiligen Schrift eine besondere Fähigkeit auf dem Weg zur reinen Vernunftreligion attestiert (vgl. Anm. 25), nicht zuletzt durch die unmoralische Praxis seiner Lehrer und Vermittler, noch weit davon entfernt ist, zur rein moralischen Religionslehre zu werden.

28 Vgl. dazu Dörflinger 2008, S. 110.

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Literaturverzeichnis Dörflinger, Bernd (2008): Kant über moralische, juridische und religiöse Gesetze. In: Werner Zager (Hrsg.): Die Macht der Religion. Göttingen: Neukirchener Verlag, S. 99–119. Dörflinger, Bernd (2012a): Kant über das Ende der historischen Religionen. In: Hiltscher, Reinhard; Klingner, Stefan (Hrsg.): Kant und die Religion – Die Religionen und Kant (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 83). Hildesheim: Olms, S. 159–175. Dörflinger, Bernd (2012b): Die personifizierte Idee des Guten. – Zugleich ein Beitrag zu Kants Christologie. In: Dörflinger, Bernd; Kruck, Günter (Hrsg.): Worauf Vernunft hinaussieht (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 84). Hildesheim: Olms, S. 177–189. Kant, Immanuel (1900 ff.): Gesammelte Schriften (Akademie-Ausgabe). Berlin, Göttingen: De Gruyter Klingner, Stefan (2012): Kant und die Zweckmäßigkeit des religiösen Glaubens. In: Hiltscher, Reinhard; Klingner, Stefan (Hrsg.): Kant und die Religion – Die Religionen und Kant, (Studien und Materialeien zur Geschichte der Philosophie 83). Hildesheim: Olms, S. 177–192. Maly, Sebastian (2012): Kant über die symbolische Erkenntnis Gottes (Kantstudien-Ergänzungshefte 165). Berlin/Boston: De Gruyter. Recki, Birgit (2001): Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant (Philosophische Abhandlungen 81). Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann. Serck-Hanssen, Camilla (2012): Das radikale Böse, das Ich und die Illusion der praktischen Vernunft. In: Dörflinger, Bernd; Kruck, Günter (Hrsg.): Worauf Vernunft hinaussieht (Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie 84). Hildesheim: Olms, S. 125–135. Wood, Allen (1970): Kant’s Moral Religion. Ithaca/London: Cornell University Press.

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Kant und die Erzählung vom Ursprung des Bösen Kants Überlegungen zum „Bösen“ im „ersten Stück“ seiner Religionsschrift werden gemeinhin als besonders schwierig und interpretationsbedürftig eingeschätzt. Die Gründe hierfür liegen einerseits in der nicht immer einfach zu durchschauenden Führung des Gedankengangs, andererseits aber vor allem in dem alles andere als einfach zu durchschauenden Verhältnis des dort Behaupteten zur kritischen Moralphilosophie. Besonders die Rede von einem ‚Hang zum Bösen‘, einer‚intelligiblen Tat‘ und einer ‚Revolution der Denkungsart‘ veranlasste einerseits bei der zeitgenössischen Rezeption Befremden ebenso wie Ablehnung und Anerkennung,¹ andererseits im Rahmen jüngerer Interpretationen wiederholt die Behauptung einer grundsätzlichen Revision vorheriger moralphilosophischer Theoreme oder wenigstens einer wesentlichen Spannung zwischen diesen.²

1 Befremden löste die Religionsschrift beispielsweise bei Schiller, Ablehnung bei Goethe, Anerkennung dagegen bei Schelling aus.Vgl. Schiller 1854–1857, I 872 (Brief an Gottfried Körner, 28. 2.1793): „Zwar ist einer seiner ersten Grundsätze darin empörend für mein […] Gefühl. Er behauptet nämlich eine Propension des menschlichen Herzens zum Bösen, das er das radicale Böse nennt […]. Er setzt es über die Sinnlichkeit hinaus in die Person des Menschen, als den Sitz der Freiheit. […] Gegen seine Beweise läßt sich nichts einwenden, so gern man auch wollte.“; Goethe 1887–1912, X 75 (Brief 2986 = an Johann Gottfried und Caroline Herder, 7.6.1793): „Dagegen [h]at aber auch Kant seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radicalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.“; Schelling 1856–61, VII 388: „Nur jenes durch eigne That, aber von der Geburt, zugezogene Böse kann daher das radikale Böse heißen, und bemerkenswerth ist, wie Kant, der sich zu einer transcendentalen alles menschliche Seyn bestimmenden That in der Theorie nicht erhoben hatte, durch bloße treue Beobachtung der Phänomene des sittlichen Urtheils in späteren Untersuchungen auf die Anerkennung eines, wie er sich ausdrückt, subjektiven, aller in die Sinne fallenden That vorangehenden Grundes der menschlichen Handlungen, der doch selbst wiederum ein Actus der Freiheit seyn müsse, geleitet wurde“. 2 In der Kant-Forschung hat etwa Prauss 1983, S. 94 f. die entsprechenden Lehrstücke als eine Revision von Kants früherer Einsicht in die enge Verknüpfung zwischen ‚reiner Vernunft‘, ‚Freiheit‘ und ‚gutem Willen‘ verstanden. Ähnlich hatte bereits Reinhold 1797, S. 399 f. im ersten Teil der Religionsschrift eine nicht nur verbesserte, sondern ganz neue Freiheitskonzeption erblickt. Eine Revision sieht auch Vesper 2019 im ersten Teil der Religionsschrift, allerdings hinsichtlich Kants Verständnis des moralischen Werts von Handlungen. – Für Willaschek 1991, S. 158 f. sind Kants Überlegungen zum radikal Bösen und zur intelligiblen Tat „überaus problematisch“, da sie der „Sinnlosigkeit“ verdächtigt werden könnten bzw. nicht das erklärten, was sie erklären sollten. https://doi.org/10.1515/9783111063935-005

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Im Folgenden wird ein Interpretationsvorschlag skizziert, der Kants dortige Überlegungen plausibilisiert und dadurch mögliche Irritationen mit Blick auf seine Moralphilosophie vermeidet.³ Dabei wird allerdings nicht „das Böse“ überhaupt, sondern es werden vor allem Kants Rede von einem Hang zum Bösen sowie seine Angabe des Ursprungs des Bösen im Vordergrund stehen.⁴ Denn nur bei diesen strapaziert er ausdrückliche Verweise auf die „Geschichtserzählung“⁵ der Heiligen Schrift. Dass und warum dieser Verweis innerhalb des Programms der Religionsschrift legitim und wie er im Rahmen von Kants Philosophie am besten zu verstehen ist, sollen die folgenden Überlegungen verständlich werden lassen. Die These ist dabei folgende: Mittels einer besonderen moralanthropologischen Überlegung kennzeichnet Kant im ersten Teil der Religionsschrift die menschliche Willkür als eine spezifische, beschreibt sie dann ausführlich und fragt schließlich nach dem Ursprung ihrer Eigenart.⁶ Da sich der gesuchte Ursprung jedoch als nicht

Wolterstorff 1991, bes. S. 48–50 zufolge steht Kants Gottesbegriff mit wesentlichen Elementen seiner Moralphilosophie – wie der „stoischen Maxime, dass der moralische Wert einer Person allein der Person selbst zuzurechnen ist“ – nicht nur in einer Spannung, sondern sogar im Widerspruch. Horn 2011, S. 64–68 gibt einen handlichen Überblick über die „höchst problematische[n] Konsequenzen für Kants Moralphilosophie“, die mit seiner „Theorie des Bösen“ einhergehen. 3 Mit Blick auf die behauptete Kompatibilität des im ersten Teil der Religionsschrift Entwickelten mit der kritischen Moralphilosophie reihen sich die folgenden Überlegungen in den anhaltenden Trend der jüngeren Interpretationen ein. Vgl. exemplarisch die relevanten Beiträge in den kooperativen Kommentaren Höffe 2010 und Michalson 2014. 4 Siehe zur systematischen Anbindung von Kants Überlegungen zum Bösen an neuere moralphilosophische Debatten z. B. Anderson-Gold / Muchnik 2010. 5 RGV, AA 06: 43. Auf Kants Schriften wird unter Angabe der gebräuchlichen Siglen sowie von Band, Seiten- und Zeilenzahl(en) der Akademie-Ausgabe (Kant 1900 ff.) verwiesen. Bei Verweisen auf die Kritiken wird zudem die Originalpaginierung der ersten oder zweiten Auflage (A/B) angegeben. 6 Die Interpretationsperspektive, die hier ‚moralanthropologisch‘ genannt wird, teilt mit dem Gros der Forschung zur Religionsschrift die Überzeugung, dass die dort zu findenden moralphilosophisch relevanten Überlegungen Kants keine grundsätzliche Revision der kritischen Moralphilosophie bzw. ihr wesentlicher Elemente darstellen, sondern eher eine Ergänzung oder Weiterentwicklung liefern. Dabei unterscheidet sie sich allerdings grundsätzlich von denjenigen Interpretationen, die die Lehre vom höchsten Gut in den Mittelpunkt stellen (vgl. z. B. Pasternack 2014), in zentralen Theorieelementen der Religionsschrift eine Erweiterung der kantischen Moralphilosophie um eine nichtindividualistische Perspektive ausmachen (vgl. z. B. Anderson-Gold 2001) oder die Religionsschrift als Akkommodation an christliche Theologoumena verstehen (vgl. z. B. Firestone / Jacobs 2008). Im Zentrum steht vielmehr die eigenartige Verschränkung apriorischer und empirischer Überlegungen, die Kants für alle Teile der Religionsschrift wesentliche Kennzeichnung der menschlichen Natur ausmachen. Dazu, wie ein „gemischtes Apriori“ im Fall der praktischen Philosophie zu denken ist, liefert die Religionsschrift die meisten ausdrücklichen Überlegungen Kants. Die folgende Interpretation versucht, das anhand von deren erstem Teil zu verdeutlichen. Siehe allgemein zur Interpretationsperspektive auch Klingner 2021.

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objektiv erkennbar herausstellt, seine Angabe aber für Fragen der moralischen Kultur durchaus relevant ist, darf zum Zweck seiner Veranschaulichung auf eine bestimmte Geschichtserzählung, nämlich die biblische Erzählung vom Sündenfall des Menschen zurückgegriffen werden. Die Entfaltung und Bewährung dieser These erfolgen in drei Hauptschritten: Im ersten, bloß rekonstruktiven Teil wird der Gedankengang des ersten Teils der Religionsschrift nachvollzogen, wodurch die besondere Perspektive sowie der spezifische Gegenstand der dortigen Überlegungen Kants verdeutlicht werden (1). Darauf wird im zweiten, ausdrücklich interpretatorischen Teil Kants Verfahren als eine metaphysische Deduktion des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘ mit anschließender symbolischer Darstellung der dessen ‚Grund‘ bezeichnenden Idee gedeutet, um Klarheit sowohl über Inhalt und Realität des Begriffs eines Hangs zum Bösen als auch über den Verweis auf die biblische Erzählung vom Sündenfall zu erlangen (2). Im abschließenden Teil erfolgt schließlich auf der Grundlage der Rekonstruktion und Interpretation eine pointierte Einschätzung von Kants Überlegungen zu Hang und Ursprung des Bösen mit Blick auf deren systematischen Ort sowie deren Kompatibilität mit der kritischen Moralphilosophie (3).

1 Rekonstruktion: moralische Natur des Menschen Mit dem ersten Teil seiner Religionsschrift beantwortet Kant die alte Frage, ob die Welt einfach nur schlecht oder ob sie auf dem Weg „zum Bessern“⁷ sei. Im Anschluss an den moralischen Optimismus einiger zeitgenössischer Aufklärungsphilosophien gibt er seine Antwort in Form einer Kennzeichnung der Natur des Menschen in moralischer Hinsicht. Sie lautet: Der Mensch ist trotz seiner ursprünglichen Anlage zum Guten böse.⁸ Was unter der ‚Natur des Menschen in moralischer Hinsicht‘ zu verstehen sei, erläutert Kant unmittelbar zu Beginn des ersten Teils der Religionsschrift. Ohne hier weiter auf die verschiedenen Argumente einzugehen,⁹ kann die dort der Wendung (moralische) ‚Natur des Menschen‘ gegebene Bedeutung durch folgende drei Punkte näher gekennzeichnet werden:

7 RGV, AA 06: 20.01. 8 Wie Höffe 2011, S. 11 f. herausstellt, lehnt Kant neben einer „naturhaft-biologische[n] Auffassung“ und einem „heroischen Pessimismus“ auch den „naiven Optimismus“ ab, der „an naturhaft gute Menschen glaubt, die nur durch gesellschaftliche Zustände schlecht und böse geworden sind“. 9 Obige Rekonstruktion beschränkt sich auf die Angabe der wesentlichen Argumentationsschritte Kants, ohne die zugrunde gelegten Prämissen weiter zu problematisieren oder zu plausibilisieren.

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(1) Beschaffenheit der Willkür. Die gesuchte moralische Natur des Menschen zielt auf die Angabe des „subjective[n] Grund[es] des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objectiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne fallenden That vorhergeht“¹⁰. Da den empirisch erkennbaren Handlungen der Menschen als (endlich‐)vernünftige Wesen die Ausbildung von Maximen vorangeht, bezeichnet Kant den genannten Grund auch etwas ausführlicher als den „subjective[n] erste[n] Grund der Annehmung dieser oder jener Maxime in Ansehung des moralischen Gesetzes“¹¹. Es geht demnach um die Frage, ob im Fall der menschlichen Willkür das Fungieren des moralischen Gesetzes als Triebfeder auf eine bestimmte Weise geregelt ist. Insofern der Grund einer solchen Eigenart der menschlichen Willkür nicht als natürliche qua ihr äußerliche Ursache verstanden werden dürfe, sondern nur als ein „Actus der Freiheit“¹² denkbar sei, so dass „der Mensch selbst Urheber desselben“¹³ sein soll, muss er aber als „unerforschlich“¹⁴ gelten. Damit könne dann die Rede von einer Natur des Menschen dennoch als gerechtfertigt gelten. Denn insofern der der menschlichen Willkür zuzuschreibende subjektive Grund für die moralische Qualifikation ihrer Maximen nicht erkannt, mithin auch nicht manipulierbar ist, darf er als „eine Beschaffenheit der Willkür, die ihr […] von Natur zukommt“¹⁵, bezeichnet werden. (2) Gute oder böse Willkür. Die gesuchte moralische Natur des Menschen betrifft demnach das Verhältnis der menschlichen Willkür zum moralischen Gesetz als potentielle Triebfeder. Da Triebfedern bei Wesen, denen eine freie Willkür zukommt, nur dann als handlungsrelevant angesehen werden können, wenn sie deren Maximen betreffen, stellt sich die Disjunktivfrage nach der Rolle das moralischen Gesetzes bei der Bildung moralisch relevanter Maximen: Ist es dabei selbst die entscheidende Triebfeder – oder nicht?¹⁶ Im ersten Fall gilt der Mensch als gut. Im zweiten Fall wird zumindest die Abweichung vom moralischen Gesetz in Kauf genommen und der Mensch gilt als böse. Entsprechend kann die moralische Natur

Es geht vielmehr um einen systematischen Überblick über den Argumentationsverlauf. Für eine ausführliche Darstellung siehe Horn 2011, S. 44–64. 10 RGV, AA 06: 21.02–04. 11 RGV, AA 06: 22.03–05; vgl. auch bereits 21.20–22, ferner 25.05 f. und 25.13 f. 12 RGV, AA 06: 21.06. 13 RGV, AA 06: 21.28. 14 RGV, AA 06: 21.20. 15 RGV, AA 06: 25.15–17. 16 Vgl. hierzu und den folgenden Sätzen den dritten Absatz der „Anmerkung“ (RGV, AA 06: 23.03– 24.15).

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des Menschen nicht „indifferent“ sein: Die menschliche Willkür ist entweder gut oder böse.¹⁷ (3) Menschliche Willkür. Die gesuchte moralische Natur des Menschen betrifft Kant zufolge den Menschen „allgemein als Mensch, mithin so, daß er durch dieselbe zugleich den Charakter seiner Gattung ausdrückt“¹⁸. Diese Zuordnung des subjektiven Grunds des Freiheitsgebrauchs zur menschlichen Gattung – und nicht etwa zum einzelnen, mit moralischen Ansprüchen konfrontierten Menschen – betont Kant in seinen einleitenden Bemerkungen zu den Abschnitten des ersten Teils der Religionsschrift mehrfach¹⁹ und ist für die Rekonstruktion des folgenden Argumentationsverlaufs wesentlich. Denn durch die Beachtung der gattungsanthropologischen Thematik verlieren viele der dort von Kant vorgelegten Überlegungen ihre Rätselhaftigkeit.²⁰ Zudem erlaubt sie eine genaue Bestimmung von deren systematischem Ort innerhalb der sog. kritischen Philosophie Kants. Auf beides wird zurückzukommen sein. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass Kants fortlaufende Rede vom ‚Menschen‘ bzw. von ‚dem Menschen‘ gattungsanthropologisch zu verstehen ist und daher allein die spezifisch menschliche Willkür den genuinen Gegenstand des ersten Teils der Religionsschrift ausmacht. Die gesuchte moralische Natur des Menschen betrifft demnach die moralische Qualifikation derjenigen Willkür, die ausnahmslos allen Menschen gemeinsam ist. Deren Feststellung und Beschreibung sowie die Frage nach den Gründen für ihre Eigenart geben den Inhalt der vier Abschnitte des ersten Teils ab. Kant gibt im ersten Abschnitt eine Erläuterung der guten Anlage des Menschen, im zweiten eine Erläuterung des menschlichen Hangs zum Bösen, im dritten einen Nachweis sowie eine präzisierende Beschreibung der bösen Natur des Menschen und im vierten schließlich einige Überlegungen zu deren Ursprung. Seine Überlegungen lassen sich entsprechend in folgenden vier Punkten zusammenfassen: (4) Anlage zum Guten. Kant schreibt dem Menschen drei natürliche Fähigkeiten zu, die moralisch relevant sind und die er unter die Schlagworte ‚Tierheit‘, ‚Menschheit‘ und ‚Persönlichkeit‘ bringt.²¹ Die erste umfasst den Selbsterhaltungstrieb, den Fortpflanzungstrieb und den Geselligkeitstrieb. Die zweite erlaubt einen

17 Im folgenden Absatz (vgl. RGV, AA 06: 24.15–22) schließt Kant auch noch aus, dass der Mensch „in einigen Stücken gut, in andern zugleich böse sein“ könne. In einer Fußnote zum zweiten Absatz der „Anmerkung“ schließt Kant zudem aus, dass es ein „Mittleres“ zwischen ‚Gutem‘ und ‚Bösem‘ geben könne (vgl. RGV, AA 06: 22.29–23.12 Anm.). 18 RGV, AA 06: 21.22 f. 19 Vgl. neben RGV, AA 06: 21.18–23 auch 25.17–20 sowie 20.20. 20 Vgl. die ähnlichen Überlegungen in Muchnik 2010, S. 117 f. 21 Vgl. hierzu und zum Folgenden den ersten Abschnitt des „ersten Stücks“ (RGV, AA 06: 26.01– 28.24).

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gewissen Vernunftgebrauch, nämlich den Vergleich mit Anderen. Die dritte ermöglicht die Ausbildung eines guten Charakters, also das Fungieren des moralischen Gesetzes als Triebfeder. Alle drei Anlagen gehören Kant zufolge zur Möglichkeit der menschlichen Natur und können insofern auch nicht „vertilgt“ werden. Sie sind moralisch relevant, da sie nicht nur mit dem moralischen Gesetz kompatibel, sondern für dessen Befolgung notwendig oder wenigstens nützlich sind. Kurz: Sie stellen denjenigen natürlichen qua gegebenen Bestand menschlicher Fähigkeiten dar, der für eine Beurteilung der moralischen Natur des Menschen berücksichtigt werden muss. (5) Hang zum Bösen. Im Unterschied zu diesem gegebenen Teil der menschlichen Natur gibt es Kant zufolge aber noch einen weiteren moralisch relevanten, der zwar ebenfalls „angeboren“ ist, aber gerade nicht als bloß gegeben gelten darf:²² die moralische Qualifikation der menschlichen Willkür als gut oder böse. Wie bereits erwähnt plädiert Kant für böse – und zwar in dem unter Punkt (2) genannten Sinn, dass im Fall menschlicher Willkür das moralische Gesetz nicht die entscheidende Triebfeder bei der Bildung moralisch relevanter Maximen darstellt.²³ Er unterscheidet dabei drei Stufen des Bösen: das Scheitern bei der Befolgung, die Einmischung anderer Triebfedern und das bewusste Zurückstellen der moralischen Triebfeder zugunsten anderer bei der Bildung von gesetzeskonformen Maximen.²⁴ Die letzte Stufe, die „Bösartigkeit“ oder „Verderbtheit“, ist die für Kants Qualifikation der menschlichen Willkür als böse wesentliche: Denn insofern der hier thematisierte Teil der menschlichen Natur nicht als bloß gegeben, sondern als „erworben“ bzw. „zugezogen“, d. h. als „Hang“ gelten soll,²⁵ muss er als eine spezifische Leistung der Willkür, also als „Tat“²⁶ gedacht werden. Und diese Tat ist nichts anderes als die Bildung einer obersten, das Fungieren des moralischen Gesetzes als Triebfeder regelnden Maxime – im Fall des Menschen: die Bildung einer obersten Maxime, die das Zurückstellen der moralischen Triebfeder zugunsten anderer zur Regel erklärt und damit billigt.²⁷ (6) Böse Natur des Menschen. Diese Unterscheidung zwischen ‚Anlage zum Guten‘ und ‚Hang zum Bösen‘ führt Kant im nächsten Schritt zu der bereits genannten Kennzeichnung der Natur des Menschen in moralischer Hinsicht: Der Mensch ist trotz seiner ursprünglichen Anlage zum Guten böse, in Kants Worten: „[E]r ist sich des moralischen Gesetzes bewußt und hat doch die (gelegentliche)

22 23 24 25 26 27

Vgl. RGV, AA 06: 28.27–29.04. Vgl. RGV, AA 06: 29.04–11. Vgl. RGV, AA 06: 29.16–18. Vgl. RGV, AA 06: 28.29–29.04. Vgl. RGV, AA 06: 31.14. Vgl. RGV, AA 06: 31.21–34.

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Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen“, wobei „dieses […] von ihm in seiner Gattung betrachtet [gilt]“²⁸. Dass die Natur des Menschen als böse zu qualifizieren ist, sie also einen Hang zum Bösen einschließt, sei durch die Erfahrung bestätigt. Sowohl im ‚Naturzustand‘ als auch im ‚gesitteten Zustand‘ als auch im ‚äußeren Völkerzustand‘ fänden sich eine schlagende ‚Menge schreiender Beispiele‘ für die böse Natur des Menschen.²⁹ Dem Begriff ‚Hang zum Bösen‘ kommt demnach empirische Realität zu, sein Inhalt lässt sich dagegen Kant zufolge durchaus a priori erkennen.³⁰ Denn da der Mensch aufgrund seiner Anlagen sowohl für die moralische Triebfeder als auch für Triebfedern der Sinnlichkeit empfänglich ist und er auch beide bei seiner Maximenbildung berücksichtigen muss, hat er angesichts der ‚Menge schreiender Beispiele‘ offenkundig die moralische den sinnlichen Triebfedern untergeordnet³¹. Der Begriff ‚Hang zum Bösen‘ bezeichnet dann genau diesen Fall, dass der Mensch „die Triebfeder der Selbstliebe […] zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht“³². (7) Ursprung der bösen Natur. Damit stehen Dasein und Beschaffenheit der bösen Natur des Menschen, d. h. eines die menschliche Willkür charakterisierenden Zusammenbestehens einer Anlage zum Guten und eines Hangs zum Bösen, fest. Abschließend fragt Kant noch nach ihrem „Grund“ – aber nicht in der bereits erwähnten Hinsicht einer Umkehrung der Triebfedern³³ in einer intelligiblen Tat³⁴, sondern in Hinsicht auf ihr zufälliges Dasein³⁵ als eine natürliche Grundanlage³⁶ der spezifisch menschlichen Willkür. Kants Antwort ist ernüchternd: Der Vernunftursprung aber dieser Verstimmung unserer Willkür in Ansehung der Art, subordinirte Triebfedern zu oberst in ihre Maximen aufzunehmen, d. i. des Hanges zum Bösen, bleibt uns unerforschlich […].³⁷

28 RGV, AA 06: 32.14–17. 29 Vgl. RGV, AA 06: 32.34–34.17. 30 Vgl. RGV, AA 06: 35.27–37. 31 Vgl. RGV, AA 06: 36.01–23. 32 RGV, AA 06: 36.29 f. 33 Vgl. RGV, AA 06: 36.34. 34 Vgl. RGV, AA 06: 31.32. 35 Vgl. RGV, AA 06: 43.10. Im Unterschied zur Anlage zum Guten als dem einen Teil der menschlichen Natur in moralischer Hinsicht ist der Hang zum Bösen als deren anderer Teil nicht ursprünglich, mithin ist er zufällig, da er nicht zur‚Möglichkeit des Menschen‘ gehört, sondern auf eine bestimmte Tat zurückgeht (vgl. RGV, AA 06: 28.19–21). 36 Vgl. RGV, AA 06: 43.02. 37 RGV, AA 06: 43.12–14.

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Da der Mensch nur eine Anlage zum Guten habe, der Grund des Hangs zum Bösen aber bloß in einem ihm nicht wesenhaft zukommenden moralisch Bösen liegen könne, sei es unmöglich, diesen Grund zu erkennen.³⁸ Zwar könne er durchaus als jene bereits ins Spiel gebrachte intelligible Tat gedacht werden und insofern liege er sogar jeder bösen Handlung als ‚Vernunftursprung‘ zugrunde.³⁹ Allerdings treffe dies auch nur auf den Menschen im ‚Stand der Unschuld‘ zu, also einen Menschen, dessen Willkür gerade kein Hang zum Bösen zukommt.⁴⁰ Die bösen Handlungen der empirisch bekannten Menschen lassen sich dagegen eben gerade mit Verweis auf den Hang zum Bösen erklären: Dieser Hang aber bedeutet nichts weiter, als daß, wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen seinem Zeitanfange nach einlassen wollen, wir bei jeder vorsetzlichen Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unsers Lebens bis zurück in diejenige, wo der Vernunftgebrauch noch nicht entwickelt war, mithin bis zu einem Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen, welcher darum angeboren heißt, die Quelle des Bösen verfolgen müßten […].⁴¹

Die erste Ursache der bösen Handlungen der empirischen Menschen ist demnach der ihnen allen gemeinsame Hang zum Bösen. Von diesem wiederum eine Ursache erkennen zu wollen, hieße, eine Erklärung der intelligiblen Tat, also einer ‚ursprünglich‘⁴² willkürlichen Umkehrung der Triebfedern zu verlangen. Bei der Frage nach der ersten Ursache der bösen Taten des Menschen sind demnach zwei Perspektiven zu unterscheiden: Entweder wird lediglich die Willkür eines sinnlichen und zugleich mit dem moralischen Gesetz vertrauten Wesens oder die insofern spezifische Willkür eines solchen Wesens thematisiert, als dieses zwar ebenfalls sinnlich und zugleich mit dem moralischen Gesetz vertraut ist, aber beide Triebfedern in ein bestimmtes Bedingungsverhältnis bringt. Im ersten Fall geht es um die Willkür eines endlichen Wesens überhaupt (d. h. hier: in einer allgemeinen Bedeutung), dessen böse Taten ausschließlich mittels Rekurses auf eine intelligible Tat erläutert werden könnten. Im zweiten Fall geht es dagegen um die spezifische Willkür eines endlichen Wesens, dessen böse Taten auch durch Rekurs auf seine spezifische, zu seiner Natur zu zählende Willkür erklärt werden können. Kant zufolge beschreibt nur der zweite Fall die moralische Natur der empirisch bekannten Menschen. Beide Fälle haben aber eine Gemeinsamkeit: die Unerkennbarkeit des jeweiligen Grundes der jeweiligen bösen Handlungen. Denn weder ist es klar, warum ein Mensch im Stand der Unschuld überhaupt von seiner Anlage zum 38 39 40 41 42

Vgl. RGV, AA 06: 43.15–22. Vgl. RGV, AA 06: 41.01–25. Vgl. RGV, AA 06: 42.02–13. RGV, AA 06: 42.26–43.03. Vgl. RGV, AA 06: 41.08 f.

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Guten durch eine entsprechende intelligible Tat abweicht – noch ist es verständlich, wie es zur moralischen Natur des empirisch bekannten Menschen kommen konnte, die ja durch eine solche Abweichung ausgezeichnet ist. Bei beiden Punkten, die im vierten Abschnitt des ersten Teils der Religionsschrift ausdrücklich auseinandergehalten werden, strapaziert Kant schließlich die ‚Vorstellungsart‘⁴³ bzw. ‚Geschichtserzählung‘⁴⁴ der Heiligen Schrift: In dieser werde der Ursprung des Bösen nämlich ‚vorstellig‘ gemacht, indem dort die Geschichte vom prälapsarischen Menschen erzählt wird, der – entgegen seiner Anlage zum Guten – seine Willkür durch andere Triebfedern bestimmt.⁴⁵ Anlass dafür ist in dieser Geschichte die ‚Verführung‘ durch einen bösen ‚Geist‘⁴⁶, so dass mit ihr sowohl die intelligible Tat selbst als auch ihr Resultat in einer angemessenen Weise veranschaulicht werden. Die genannten sieben Punkte zusammenfassend lautet Kants Argumentation für die Kennzeichnung der moralischen Natur des Menschen als böse also folgendermaßen: (a) Die moralische Qualifikation der menschlichen Natur betrifft die allen Menschen gemeinsame Willkür. Diese ist als entweder gut oder böse zu kennzeichnen. (b) Mit Blick auf die moralische Qualität der menschlichen Willkür sind zwei Eigenschaften zu unterscheiden, eine ihr wesentliche und eine zufällige. Die erste garantiert deren Bestimmbarkeit durch das moralische Gesetz, die zweite betrifft dessen Priorisierung gegenüber der Selbstliebe. (c) Dass die menschliche Willkür eine böse ist, zeigt das empirische Vorkommen böser Taten. Sie hat demnach die Besonderheit, zwar durch das moralische Gesetz bestimmbar (‚gute Anlage‘) zu sein, es aber der Selbstliebe unterzuordnen (‚böser Hang‘). (d) Diese Besonderheit der menschlichen Willkür ist als Resultat einer solchen Tat zu denken, bei der die Willkür nicht durch das moralische Gesetz bestimmt und zugleich nicht schon böse ist. Veranschaulicht werden kann diese Tat in der biblischen Erzählung vom Sündenfall.

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Vgl. RGV, AA 06: 41.30. Vgl. RGV, AA 06: 43.24. Vgl. RGV, AA 06: 42.06–19. Vgl. RGV, AA 06: 43.22–44.11.

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2 Interpretation: menschliche Willkür und Sündenfall Aus der gegebenen Rekonstruktion des Gedankengangs ergeben sich ohne größere Schwierigkeiten sowohl eine Angabe der Perspektive als auch eine Angabe des Gegenstands von Kants Überlegungen im ersten Teil der Religionsschrift: Die Perspektive ist offenkundig eine moralanthropologische. Weder Geltungsgrund, Inhalt oder Realität von Moralbegriffen bzw. -urteilen noch biologische, psychologische, historische oder geographische Variationen menschlichen Lebens, sondern ausschließlich die moralische Qualität des Menschen werden in den Blick genommen und näher bestimmt. Die Perspektive ist also weder eine strikt moralphilosophische noch eine physiologisch- oder pragmatisch-anthropologische. Der Gegenstand ist die spezifische Willkür des Menschen, wobei damit alle Menschen eingeschlossen sind, die tatsächlich gelebt haben, tatsächlich leben und tatsächlich leben werden, d. h. die Menschengattung. Weder geht es um die Willkür von sinnlich-bedingten vernünftigen Wesen überhaupt noch um diejenige eines einzelnen sinnlich-bedingten vernünftigen Wesens.⁴⁷ Beide Angaben dürften schon allein aufgrund des Textbefunds weitgehend unstrittig sein. Schwieriger ist dagegen die Angabe der von Kant im ersten Teil seiner Religionsschrift verwendeten Methode. Augenscheinlich fließen dort wiederholt verschiedene empirische und apriorische Überlegungen ineinander, zu denen sich auch noch Bibelzitate und Verweise auf christlich Theologisches gesellen. Und Kant selbst gibt explizit kaum Auskunft zu seinem Vorgehen. Daher wird im Folgenden in Rücksicht auf das bisher Erarbeitete und mit Rückgriff auf einige systematisch-methodologische Bestimmungen, die Kant andernorts vorlegt, eine eigene Interpretation vorgeschlagen. Ihr Ziel ist die Beantwortung der Fragen: Welcher Art von Begriff ist der Begriff ‚Hang zum Bösen‘? (2.1) – und: Warum ist der Grund dieses Hangs symbolisch darzustellen? (2.2)

2.1 Realität und Inhalt des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘ Der heuristische Ausgangspunkt für die Beantwortung der ersten Frage ist die Beobachtung einer gewissen Ähnlichkeit zwischen Kants Umgang mit dem Begriff

47 Kants Terminologie aus dem letzten Absatz des ersten Abschnitts aufnehmend (vgl. RGV, AA 06: 28.14–21), wäre zu formulieren: Es geht weder um die Möglichkeit der menschlichen Natur noch um einen einzelnen wirklichen Menschen, sondern um die Wirklichkeit der menschlichen Natur.

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‚Bewegung‘, der im Rahmen seiner Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaften ein zentrales Merkmal der Materie bezeichnet, und dem Begriff ‚Hang zum Bösen‘. Sie betrifft deren eigentümlichen begrifflichen Status. Wie bereits Peter Plaass herausgestellt hat, kommt dem Bewegungsbegriff, also der „Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll“⁴⁸, insofern ein eigentümlicher begrifflicher Status zu, als sein Inhalt zwar a priori erkannt werden könne, seine objektive Realität aber nur empirisch sei.⁴⁹ A priori erkannt werden kann sein Inhalt, da er Kant zufolge lediglich „Veränderung des Ortes im Raume“⁵⁰ bedeutet, somit ‚Raum‘ und ‚Zeit‘ als seine wesentlichen Elemente umfasst und lediglich eine bestimmte Einheit von Raum- und Zeitbestimmungen bezeichnet.⁵¹ Hinzukommt noch die (schematisierte) Substanzkategorie, so dass der Materiebegriff durch Kombination bestimmter – nämlich für den Fall ‚Gegenstand äußerer Sinne‘ relevanter – apriorischer Elemente erzeugt werden kann.⁵² Dass aber ‚Bewegung‘ ein objektiv realer und nicht nur ein willkürlich konstruierter Begriff und damit auch tatsächlich die Grundbestimmung des mit Blick auf die empirische Welt zutreffenden Materiebegriffs ist, kann nicht auf apriorische Weise gezeigt werden. Die Existenz derjenigen Materie, die die äußere Natur unserer empirischen Welt ausmacht, ist ausschließlich mittels Verweises auf Beispiele in der empirischen Anschauung beweisbar. ‚Bewegung‘, mithin ‚Materie‘ sind demnach Begriffe mit apriorischem Inhalt und empirischer Realität. Trotz der offensichtlichen Unterschiede hinsichtlich des konkreten Inhalts und des Kontexts teilt der Begriff ‚Hang zum Bösen‘ den skizzierten begrifflichen Status mit dem Bewegungsbegriff. Auch er hat einen apriorischen Inhalt und zugleich bloß empirische Realität. Kant weist auf diesen besonderen begrifflichen Status im dritten Abschnitt des ersten Teils der Religionsschrift auch ausdrücklich hin: Wenn nun aber gleich das Dasein dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur durch Erfahrungsbeweise des in der Zeit wirklichen Widerstreits der menschlichen Willkür gegen das Gesetz dargethan werden kann, so lehren uns diese doch nicht die eigentliche Beschaffenheit desselben und den Grund dieses Widerstreits; sondern diese, weil sie eine Beziehung der freien Willkür (also einer solchen, deren Begriff nicht empirisch ist) auf das moralische Gesetz als Triebfeder (wovon der Begriff gleichfalls rein intellectuell ist) betrifft, muß aus dem

48 MAN, AA 04: 476.09 f. 49 Vgl. Plaass 1965, bes. S. 84–99. 50 FM, AA 20: 272.29. Vgl. auch MAN 04: 482.15 f. und dazu Plaass 1965, S. 97. 51 Vgl. auch KrV B 58, 03: 64.21 f. 52 Vgl. dazu Hiltscher 2006, S. 257 f. sowie zu Kants (bloß spärlichen) Überlegungen zur Prädikabilienproblematik auch Klingner 2012, S. 100–103.

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Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori erkannt werden.⁵³

Demnach ist die Existenz („Dasein“) des mit dem Begriff ‚Hang zum Bösen‘ Bezeichneten empirisch belegbar, der Inhalt dieses Begriffs – Kant schreibt hier von der„Beschaffenheit desselben“ – muss aber a priori erkannt werden. Auf den ersten Aspekt, also Kants empirischen Ausweis der Existenz des Hangs zum Bösen, kann hier nicht weiter eingegangen werden.⁵⁴ Es mag ausreichen, darauf hinzuweisen, dass der Hang zum Bösen als eine kontingente Eigenschaft der Natur des Menschen angenommen wird – wie auch die Bewegung im Fall der äußeren Natur. Nur die Existenz der besonderen Beschaffenheit der moralischen Natur des Menschen, nicht aber die Existenz einer moralischen Natur des Menschen überhaupt wird hier von Kant als empirisch ausweisbar deklariert.⁵⁵ Der zweite Aspekt, also die apriorische Erkenntnis des Inhalts des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘, wird von Kant direkt im Anschluss an die zitierte Stelle in den Blick genommen. Diese – wie Kant es dort nennt – „Entwickelung“⁵⁶ des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘ lässt sich folgendermaßen rekonstruieren: (a) Laut gegebenem Zitat sind die drei relevanten apriorischen Begriffe: die ‚freie Willkür‘, das ‚moralische Gesetz als Triebfeder‘ und das ‚Böse, sofern es nach Gesetzen der Freiheit möglich ist‘. (b) Der Begriff ‚freie Willkür‘ enthält zwei wesentliche Merkmale: ‚pathologisch affiziert (aber nicht bestimmt) durch Antriebe‘ und ‚bestimmbar durch reine Vernunft‘.⁵⁷ Der Begriff ‚moralisches Gesetz als Triebfeder‘ bezeichnet den Fall, dass die freie Willkür tatsächlich durch reine Vernunft bestimmt wird, diese also den entscheidenden Antrieb abgibt. Der Begriff ‚Böses, sofern es nach Gesetzen der Freiheit möglich ist‘, bezeichnet den Fall, dass die freie Willkür tatsächlich durch Sinnliches bestimmt wird, dieses also den entscheidenden Antrieb abgibt. (c) Dieses Schema wendet Kant auf den vorliegenden Kontext der Bildung einer obersten Maxime an: Entweder sei hier allein die moralische Anlage des

53 RGV, AA 06: 35.27–36. 54 Vgl. dazu etwa die Darstellung in Bojanowski 2006, 272–275 oder auch die Richtigstellung geläufiger Argumente gegen einen empirischen Ausweis der Existenz des Hangs zum Bösen als „universaler“ Eigenschaft der Menschen in Louden 2010, 108–114. 55 Die moralische Natur des Menschen überhaupt wird durch die Angabe der ‚Anlagen zum Guten‘ (s. o.) bzw. der ‚moralischen Anlage‘ (vgl. z. B. Anth 07: 324.12–32) angezeigt. 56 RGV, AA 06: 35.36. 57 Vgl. bes. KpV A 36, 05: 19.17, KpV A 57, 05: 32.26 f. sowie MS 06: 213.29–35 u. ö.

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Menschen oder allein die Naturanlage bestimmend. Im ersten Fall sei er als gut, im zweiten als böse zu bezeichnen.⁵⁸ (d) Allerdings ist die freie Willkür sowohl durch das moralische Gesetz als auch durch die Triebfedern der Sinnlichkeit bestimmbar. Im vorliegenden Kontext sind somit beide Anlagen zu berücksichtigen,⁵⁹ so dass sie entweder beide gleichgültig nebeneinander bestünden, der Mensch also gut und zugleich böse wäre,⁶⁰ oder sie in ein Bedingungsverhältnis gebracht würden, der Mensch also – je nach Priorisierung der einen und anderen Anlage – entweder gut oder böse wäre. (e) Da Kant die erste Option als logisch unmöglich ansieht⁶¹, bleibt nur die Alternative der zweiten Option, aus der sich zwei Begriffe ergeben: Der eine bezeichnet diejenige Festlegung des Verhältnisses der beiden Anlagen, bei der das moralische Gesetz die entscheidende Bedingung für das Verfolgen der Selbstliebe ist, also einen ‚Hang zum Guten‘, der andere diejenige, bei der die Selbstliebe die entscheidende Bedingung für die Befolgung des moralischen Gesetzes ist, also einen ‚Hang zum Bösen‘.⁶² (f ) Somit bezeichnet entweder der Begriff ‚Hang zum Guten‘ oder der Begriff ‚Hang zum Bösen‘ die besondere Beschaffenheit der moralischen Natur des Menschen. Eine apriorische Entscheidung wäre hier genau dann möglich, wenn der Satz ‚Der Mensch hat einen Hang zum Guten (resp. Bösen)‘ ein analytischer wäre, der Begriff ‚Hang zum Guten (resp. Bösen)‘ also ein notwendiges Merkmal des Menschen bezeichnete. Dies ist aber nicht der Fall, womit nur die Möglichkeit eines empirischen Ausweises bleibt. Da aber nur Handlungen empirisch erkennbar sind, von diesen sowohl legale als auch illegale beobachtet werden und nur im Fall illegaler Handlungen auch gültig auf die moralische Qualität der zugrunde liegenden Maxime geschlossen werden kann,⁶³ ist die Entscheidung, dass der Begriff ‚Hang zum Bösen‘ tatsächlich die besondere ‚Beschaffenheit‘ der moralischen Natur des Menschen bezeichnet, hinreichend gerechtfertigt. Diese apriorische Erkenntnis bzw. Entwicklung des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘ ist offenkundig weder eine transzendentale Deduktion noch eine bloße Begriffsana-

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Vgl. RGV, AA 06: 36.01–13. Vgl. RGV, AA 06: 36.13–15. Vgl. RGV, AA 06: 36.15–18. Vgl. RGV, AA 06:36.18 f. – Kant begründet dies ausführlich in RGV, AA 06: 22.11–24.22. Vgl. RGV, AA 06: 36.19–33. Vgl. etwa RGV, AA 06: 20.22–34.

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lyse.⁶⁴ Insofern sie den apriorischen ‚Ursprung‘ des Begriffsinhalts angibt, wäre sie treffender als metaphysische Deduktion zu bezeichnen, was sowohl mit Kants eigener Wortverwendung als auch mit der Rekonstruktion von Plaass für das Verfahren, das Kant für die apriorische Erzeugung des Inhalts und den empirischen Ausweis der Realität des Bewegungsbegriffs verwendet, übereinstimmt.⁶⁵ Aus apriorischen Elementen wird hier der Inhalt eines solchen Begriffs konstruiert, der eine mögliche besondere moralischen Natur von Wesen mit freier Willkür bezeichnet. Dabei werden verschiedene Typen freier Willkür unterschieden und dann unter Verweis auf Erfahrung aussortiert bzw. bestätigt. Die besondere moralische Natur des empirisch bekannten Menschen, mithin derjenige Typ von freier Willkür, die ihn als Menschen auszeichnet, ist diesem Verfahren zufolge eben eine freie Willkür mit einem Hang zum Bösen. Damit ist die erste der beiden gestellten Fragen beantwortet: Der Begriff ‚Hang zum Bösen‘ ist ein Begriff a priori mit empirischer Realität.⁶⁶

64 Siehe zur Idee und zu einem Vorschlag einer transzendentalen Deduktion des Hangs zum Bösen Allison 1990, S. 154–157. Dass es sich bei der Qualifikation der menschlichen Natur als böse nicht bloß um eine empirische These (Wood 1999, S. 287) bzw. Hypothese (Willaschek 1992, S. 153) handeln kann, belegt allein schon das oben angeführte Zitat Kants (vgl. nochmals RGV, AA 06: 35.27–36). Für eine Kritik beider Deutungsoptionen siehe etwa Muchnik 2010, S. 128–132. Forschner 2011, S. 72 f., hält wiederum die „Rede vom ‚Hang zum Bösen‘“ für ein „wohlbegründetes anthropologisches Interpretament“, das sich nicht nur „empirischer Generalisierung verdankt“, sondern „in praktischpragmatischer Hinsicht getroffen wird“. 65 Vgl. zum Deduktionsbegriff v. a. KrV B 116 f., 03: 99.15–100.10 und dazu (bes. mit Blick auf nichtkategoriale Begriffe a priori) ausführlich Plaass 1965, S. 73–106. 66 Im Anschluss an Plaass’ Analyse des Bewegungsbegriffs (vgl. Plaass 1965, bes. S. 68–73) kann man ihn einen nicht-reinen Begriff a priori, im Anschluss an eine Bemerkung Kants über den Unterschied zwischen ‚transzendentalen‘ und ‚metaphysischen Prinzipien‘ in der dritten Kritik (vgl. KU B XXIXf., 05: 181.12–182.09) kann man ihn auch einen metaphysischen Begriff nennen. – Muchnik 2010, S. 142, weist ebenfalls auf die genannte Stelle der dritten Kritik im Kontext seiner Interpretation der kantischen Theorie vom Hang zum Bösen hin. Seine Interpretation gehört zu den wenigen, die Kants Überlegungen hier als gemischt-apriorische rekonstruieren. Muchnik findet in der „Vorrede“ der Religionsschrift die entscheidenden Einlassungen Kants für ein quasi-transzendentales Argument, um der Menschengattung einen Hang zum Bösen zuzuschreiben. Auch ihm zufolge lege Kant kein rein apriorisches Argument vor, da es „empirische Elemente“ anthropologischer Art enthalte (vgl. ebd., S. 142). Dem entspricht in gewisser Hinsicht durchaus die hier vorgeschlagene Interpretation, wobei allerdings das empirische Element eben im Nachweis der Realität des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘ und nicht in einem Rekurs auf den „anthropologischen Fakt“ eines teleologischen Weltzugangs (ebd., S. 141 f.) gesetzt wird. Entgegen Muchniks Vorschlag liegen die Dinge hinsichtlich des Setzens von Zwecken oder eines Aus-Seins auf Zwecke komplizierter: Im Rahmen der kantischen Überlegungen ist die Notwendigkeit technischer Vernunft für die Deutung und Gestaltung der Welt gerade keine irgendwie „anthropologische“ Tatsache, sondern ergibt sich aus der Anwendung transzendentaler Prinzipien auf konkrete Subjektivität (vgl. dazu Klingner 2012). Der Verweis auf

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2.2 Ursprung des Hangs zum Bösen Dieser Versuch einer Plausibilisierung der von Kant im ersten Teil der Religionsschrift verwendeten Methode kann sich bisher jedoch nur auf den Großteil der Überlegungen der ersten drei Abschnitte berufen. Vor dem Hintergrund einer Parallelisierung mit Kants Umgang mit dem metaphysischen Bewegungsbegriff scheint nämlich noch unklar zu bleiben, warum im Fall des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘ auch noch nach dem Ursprung qua ‚erste Ursache‘⁶⁷ der besonderen moralischen Natur des Menschen zu fragen ist. Diese Frage nach einer ersten Ursache kann offenkundig auch mit Blick auf ‚Bewegung‘ als Grundeigenschaft der empirisch bekannten Materie gestellt werden. Sie ist sogar – wie Kant in der ersten Kritik bemerkt – ein „Bedürfniß der Vernunft“⁶⁸. Jedoch ist ihre Beantwortung für Funktionalität sowie Relevanz des Bewegungsbegriffs als zentraler Begriff der Physik von keinerlei Bedeutung. Dies scheint mit Blick auf den Ursprung des Hangs zum Bösen als Grundeigenschaft der empirisch bekannten moralischen Natur des Menschen anders zu sein. Dass die Frage nach dem Ursprung des Hangs zum Bösen im Kontext der metaphysischen Deduktion seines Begriffs nicht nur interessant, sondern unvermeidlich ist, liegt daran, dass der Hang zum Bösen zwar als Grundeigenschaft, zugleich aber als Tat, also als Resultat des Freiheitsgebrauchs zu denken ist.⁶⁹ Wie Kant wiederholt betont, ist der Hang zum Bösen zwar ein Teil der menschlichen Natur und insofern ‚angeboren‘, ‚natürlich‘, ‚unausrottbar‘ und ‚radikal‘ zu nennen,⁷⁰ zugleich ist er aber kein ursprünglicher, sondern insofern ein zufälliger Teil der menschlichen Natur,⁷¹ als er selbst zugezogen, also selbstverschuldet ist.⁷² Der Begriff ‚intelligible Tat‘ betrifft demnach den letzten Schritt der vorgestellten metaphysischen Deduktion des Begriffs ‚Hang zum Bösen‘ (vgl. oben Schritt (f )): die Entscheidung, ob die spezifisch menschliche Willkür durch einen Hang zum Guten

einen anthropologischen Fakt, der im teleologischen Weltzugang menschlicher Subjektivität besteht und als Prämisse für den Beweis eines Hangs zum Bösen dient, ist damit zumindest missverständlich. Er trifft jedenfalls nicht den entscheidenden Punkt, warum Kants Gesamtargumentation keine rein apriorische, sondern eine ‚metaphysische‘ im kantischen Sinne ist. 67 Vgl. RGV, AA 06: 39.09–11. 68 KrV B 478, 03: 312.21. Vgl. zur Unterbestimmtheit des Begriffs ‚erster Beweger‘ KU B 479 f., 05: 483.12–31. 69 Vgl. bes. den letzten Absatz des zweiten Abschnitts (RGV, AA 06: 31.06–32.04) sowie die Wiederaufnahme im ersten Absatz des vierten Abschnitts (RGV, AA 06: 39.15–07). 70 Vgl. RGV, AA 06: 29.01, 06: 29.11, 06: 31.36, 06: 32.31. 71 Vgl. zum Unterschied zwischen ursprünglichen und zufälligen Eigenschaften (‚Bestandsstücken‘) der menschlichen Natur RGV, AA 06: 28.19–21. 72 Vgl. bes. RGV, AA 06: 29.03 f. und 06: 32.30–32.

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oder durch einen Hang zum Bösen ausgezeichnet ist. Er ist also in gewisser Weise systematisch äquivalent zur Idee eines ersten Bewegers, nur dass die Idee einer intelligiblen Tat den Freiheitsgebrauch betrifft und daher bei dieser das Interesse an einer genaueren Bestimmung dringlicher ist als bei jener. Denn obwohl sie nur im Kontext einer moralanthropologischen Überlegung entsteht und mit ihr der Ursprung einer lediglich anthropologischen Kennzeichnung thematisiert wird, stellt sie doch ausschließlich denjenigen Freiheitsgebrauch vor, der gerade kein spezifisch menschlicher, also kein vom Hang zum Bösen betroffener ist. An der Idee einer intelligiblen Tat als Ursprung des Hangs zum Bösen sind somit zwei Punkte zu unterscheiden: der ursprüngliche, also nicht von irgendeinem Hang beeinflusste Gebrauch der Willkür (1) und derjenige Grund, der den Ausschlag für die Verkehrung der Triebfedern, die den Hang zum Bösen ausmacht, gibt (2). Genau diese beiden Punkte unterscheidet auch Kant selbst im vierten Abschnitt des ersten Teils der Religionsschrift, indem er zuerst den ‚Ursprung der bösen Handlung‘⁷³ und dann im Anschluss den ‚Ursprung des Hangs zum Bösen‘⁷⁴ betrachtet: (1) Ursprünglicher Gebrauch der Willkür. Die intelligible Tat als Grund für den Hang zum Bösen muss selbst als eine solche Tat gedacht werden, die nicht von diesem Hang beeinflusst, d. h. Ausdruck eines ursprünglichen Gebrauchs der Willkür ist. Dass der Gebrauch der Willkür als ‚ursprünglich‘ bezeichnet wird, heißt dabei lediglich, dass für ihn ausschließlich dasjenige konstitutiv ist, was der Begriff ‚freie Willkür‘ umfasst: sowohl durch (sinnliche) Antriebe als auch durch reine Vernunft bestimmbar sein.⁷⁵ Insofern dieser Begriff der freien Willkür auch für die moralphilosophische Erklärung sowie die moralische Beurteilung von menschlichen Handlungen den Maßstab abgibt, ist es gleichgültig, ob vom Ursprung einer bösen Handlung oder von der intelligiblen Tat als Ursprung des Hangs zum Bösen gesprochen wird. Denn in beiden Fällen ist die Handlung frei, die Pflicht bekannt und deren Einhaltung möglich.⁷⁶ Und in beiden Fällen wird das als böse qualifizierte Resultat – einerseits die böse Handlung, andererseits die böse Grundmaxime – als ‚Überschritt‘ aus dem ‚Stand der Unschuld‘⁷⁷ vorgestellt. Mit der Idee einer intelligiblen Tat ist demnach ein Szenario verbunden, das auf den empirisch bekannten Menschen niemals zutrifft, aber für seine moralischen Überlegungen und Einschätzungen durchaus relevant ist. Denn bei der moralischen Beurteilung böser Handlungen wird der den Menschen auszeichnende Hang zum Bösen ausgeblendet, mithin so getan, als ob der Ursprung einer jeden Handlung in der intelligiblen Tat 73 74 75 76 77

Vgl. RGV, AA 06: 41.01–42.20. Vgl. RGV, AA 06: 42.20–44.11. Vgl. bes. KpV, AA 05: 19.17, 05: 32.26 f. sowie MS, AA 06: 213.29–35 u. ö. Vgl. RGV, AA 06: 41.06, 06: 41.22–24, 06: 41.21. Vgl. RGV, AA 06: 41.24 f.

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läge.⁷⁸ Das mit der Idee einer intelligiblen Tat verbundene Szenario ist offenkundig kein anderes als die Vorstellung eines einzelnen Menschen, dessen freie Willkür noch keinen Hang zum Bösen aufweist, der diese Willkür gebraucht und dabei die Bildung einer Maxime bewerkstelligt, die seine Triebfedern regelt, indem sie die moralische und die sinnlichen in ein Bedingungsverhältnis setzt. (2) Ausschlag zum Bösen. Dieses Szenario hat gegenüber der oben vorgeschlagenen metaphysischen Deduktion immerhin den Mehrwert, als es eine konkretere Vorstellung von deren letztem Schritt (vgl. oben Schritt (f )) liefert. Es macht die Entscheidung, ob die spezifisch menschliche Willkür durch einen Hang zum Guten oder durch einen Hang zum Bösen ausgezeichnet ist, als eine konkrete Situation vorstellig. Allerdings gibt es bisher keinen Mehrwert mit Blick auf den konkreten Ausschlag, also auf den Grund, warum die vorstellig gemachte Entscheidung in die eine, aber nicht in die andere Richtung ausfiel. Tatsächlich gesteht Kant dann auch an dieser Stelle – aber immerhin erst im letzten Absatz des vierten Abschnitts – ein, dass dieser Grund ‚unerforschlich‘ sei.⁷⁹ Seine Begründung für diese Behauptung lautet: Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können; und doch ist die ursprüngliche Anlage (die auch kein anderer als der Mensch selbst verderben konnte, wenn diese Corruption ihm soll zugerechnet werden) eine Anlage zum Guten; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne.⁸⁰

Da Böses nur aus Bösem folgen könne, das mit der Idee einer intelligiblen Tat verbundene Szenario aber etwas Böses noch gar nicht beinhaltet, ist es in der bisher erarbeiteten Form für die Frage, warum die menschliche Willkür denn nun böse und nicht etwa gut sei, nicht hilfreich. Es müsste somit um eine Annahme bereichert werden, die über das bisher Angenommene – ursprünglicher Willkürgebrauch und Bildung einer Grundmaxime – hinausgeht: die Wirklichkeit des Bösen, aber eines solchen Bösen, das zwar keine wesentliche Eigenschaft der freien Willkür bzw. des Menschen im Stand der Unschuld ist, zugleich aber auf diese bzw. diesen dennoch Einfluss nehmen kann. Damit sind schließlich die drei Aspekte benannt, durch die die Idee einer intelligiblen Tat näher bestimmt ist: der ursprüngliche Gebrauch der freien Willkür, die Bildung einer die Einflussnahme der ursprünglichen Anlagen auf diese regelnden Maxime sowie die Wirklichkeit eines entscheidenden äußeren Einflusses

78 Vgl. hierzu bes. Kants Verwendung von ‚als ob‘ in RGV, AA 06: 41.02 und 06: 41.23. 79 Vgl. nochmals RGV, AA 06: 43.12–14. 80 RGV, AA 06: 43.17–22.

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auf diese Regelung. Wird diese Idee in einem Szenario vorstellig gemacht, das genau diese drei Aspekte berücksichtigt, dann ist es nichts anderes als eine Darstellung der Idee einer intelligiblen Tat. Zieht man an dieser Stelle Kants Überlegungen zur Darstellung von Begriffen (‚Hypotypose‘) aus § 59 der dritten Kritik heran, dann kann schließlich auch noch sein Verweis auf die biblische Erzählung vom Sündenfall plausibilisiert werden. Als Darstellung einer Vernunftidee kann die Darstellung der intelligiblen Tat bloß ‚symbolisch‘, nicht aber ‚schematisch‘ sein.⁸¹ Als Darstellung ist sie aber dennoch eine „Versinnlichung“⁸², macht also etwas empirisch-anschaulich vorstellig. Eine der Idee einer intelligiblen Tat angemessene Darstellung muss somit einen einzelnen, vom Hang des Bösen nicht betroffenen Menschen, seine Bildung einer besonderen Maxime sowie einen äußeren Einfluss auf den Ausschlag dieser Maximenbildung als etwas empirisch Anschauliches zur Verfügung stellen. Als eine solche Versinnlichung muss sie die vorstellig zu machende Situation also „ausmalen“ und sich dennoch auf das für die Darstellung des mit der darzustellenden Idee Bezeichneten konzentrieren – etwa Auskunft geben über das Umfeld dieses Menschen, den Anlass seiner Maximenbildung und die Gestalt des äußeren Einflusses. Zudem muss sie eine Erzählstruktur aufweisen, um Gelegenheit, Maximenbildung, Handlung und äußeren Einfluss in eine zeitliche Reihung bringen zu können. Und schließlich wird sie die intelligible Tat als ein Ereignis am Anfang der Geschichte der Menschengattung ausgeben, indem das in der Idee der intelligiblen Tat als erster Grund vorgestellte auch als zeitlich-schematisierte erste Ursache präsentiert wird. Alle genannten Bedingungen einer symbolischen Darstellung der Idee der intelligiblen Tat als Grund des Hangs zum Bösen erfüllt die biblische Erzählung vom Sündenfall: Sie erzählt eine Geschichte vom Anfang der Menschengattung, von einem Menschen im Stand der Unschuld, der sowohl eine sinnliche Natur hat, als auch mit dem moralischen Gesetz vertraut ist, von seiner Verführung durch einen bösen Geist und von seiner Bildung einer die Neigung zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes festsetzenden Maxime sowie seinem bewussten Verstoß gegen das Gebotene.⁸³ Damit darf die biblische Erzählung vom Sündenfall als eine angemessene Darstellung von Kants Idee einer intelligiblen Tat gelten. Dass eine solche Darstellung im Fall der Idee einer intelligiblen Tat dringlicher ist als im Fall anderer Ideen, etwa der eines ersten Bewegers, wird zwar erst bei einem Blick in die „Allgemeine Anmerkung“ des ersten Teils der Religionsschrift deutlich, ist aber auch schon in der letzten Fußnote des vierten Abschnitts durch Kant selbst ange-

81 Vgl. KU, AA 05: 351.26–31. 82 Vgl. KU, AA 05: 351.23 f. 83 Vgl. RGV, AA 06: 41.30–42.20 und 06: 43.22–44.11.

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zeigt. Denn das, was oben bloß unspezifisch ‚Interesse‘ genannt wurde, ist genauer als ein durchaus moralisch-praktische Interesse an einer Besserung der (empirisch bekannten, also bösen) Menschen zu verstehen. Ausschließlich aus deren Perspektive ist es Kant zufolge legitim, „sich einen historischen Vortrag moralisch zu Nutze [zu machen]“⁸⁴. Dass und inwiefern dieses Vorgehen, also die Beurteilung einer bestimmten ‚Geschichte‘ hinsichtlich ihrer Angemessenheit zur Darstellung der Idee einer intelligiblen Tat, Kant zufolge nicht nur legitim, sondern auch dringlich im Sinne von hilfreich ist, kann hier nicht mehr ausführlich gezeigt werden, soll aber bei der folgenden Einschätzung wenigstens noch einmal angezeigt werden.

3 Einschätzung: Rätselhaftigkeit des Hangs zum Bösen und der intelligiblen Tat? Nach der vorgeschlagenen Rekonstruktion und Interpretation macht Kant im ersten Teil der Religionsschrift die spezifisch menschliche Willkür zum Gegenstand einer komplexen moralanthropologischen Überlegung und spricht ihr dabei einen Hang zum Bösen zu. Diese metaphysisch deduzierte und empirisch belegte Kennzeichnung betrifft allerdings offenkundig nicht Kants Freiheits- und Moraltheorie, wie er sie in seiner zweiten Kritik vorgelegt hat – weder seine dortige Begründung der kategorischen Geltung des moralischen Gesetzes noch deren Darstellung und die damit verbundene differenzierte Terminologie. Sie fügt ihnen lediglich eine besondere anthropologische Überlegung hinzu, die sich zentralen Lehrstücken von Kants Moralphilosophie bedient, indem sie auf die empirisch eruierte Natur des Menschen angewendet werden. Diese moralanthropologische Überlegung ist insofern auch völlig kompatibel mit der kritischen Moralphilosophie.⁸⁵

84 RGV, AA 06: 43.28 f. Anm. 85 Kant macht in seinen Ausführungen zum radikalen Bösen dann auch ausdrücklich Gebrauch von einigen Lehrstücken seiner Grundlegungsschriften, etwa von der Unterscheidung zwischen Moralität und Legalität (z. B. KpV, AA 05: 71.30–72.11 und RGV, AA 06: 47.01–19), vom Gefühl der Achtung als besondere, durch reine Vernunft bewirkte Triebfeder (z. B. KpV, AA 05: 74.26–30 und RGV, AA 06: 27.28 f. und 28.01 f.), von der aus seinem Gebotensein folgenden Möglichkeit moralisch richtigen Handelns (z. B. KpV, AA 05: 37.09–13 und RGV, AA 06: 41.21 und 45.07–09) und vor allem vom Begriff der Maxime als Regel des subjektiven Willkürgebrauchs (z. B. KpV, AA 05: 19.14–23 und RGV, AA 06: 21.11 f.). Und auch Kants Bemerkung, dass nicht die Sinnlichkeit der Grund des Moralisch-Bösen sei, ist kein Novum der Religionsschrift. Gegen Reinholds Deutung ist darauf hinzuweisen, dass Kant vielleicht in der Grundlegung noch eine solche Position vertritt, indem er dort ausschließlich dem ‚guten Willen‘ Autonomie zuzuschreiben scheint (etwa GMS, AA 04: 437.06–09). Allerdings weist er in

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Das dabei entwickelte Konzept einer spezifischen, also durch einen Hang zum Bösen ausgezeichneten freien Willkür, die den empirischen Menschen auszeichnet, ist jedoch nicht bloß kompatibel mit Kants kritischer Moralphilosophie, sondern schließt auch direkt an sie an⁸⁶ und wird schließlich einschlägig für deren dogmatischen Teil, die Metaphysik der Sitten. Denn diese muss Kant zufolge „oft die besondere Natur des Menschen, die nur durch Erfahrung erkannt wird, zum Gegenstand nehmen“⁸⁷. Es kann aus dieser Perspektive kaum verwundern, dass Kant gerade in demjenigen Teil der Metaphysik der Sitten, der nicht die Handlungen des Menschen, sondern dessen Maximen in den moralphilosophischen Blick nimmt, also in der Tugendlehre, die Besonderheit der menschlichen Willkür auch tatsächlich erwähnt, wenn er bereits in der ersten Fußnote in deren Einleitung ausdrücklich von einem „Hang“ des Menschen schreibt, „mehr […] der Neigung als dem

der zweiten Kritik ausdrücklich darauf hin, dass sowohl dem Guten als auch dem Bösen das vernünftige qua Maximen geregelte Wollen zugrunde liegt und dass das Glücksstreben für die endliche Natur des Menschen notwendigerweise der ‚materiale Bestimmungsgrund‘ seines Wollens ist (z. B. KpV, AA 05: 60.13–25 sowie 05: 25.12–22, zum zweiten ähnlich schon GMS, AA 04: 415.28–35). Dass die Willkür sowohl durch das Gesetz als auch durch die Sinnlichkeit bestimmt wird, behauptet Kant somit bereits in der zweiten Kritik. Wenn es überhaupt eine Revision in puncto böse Tat gibt, dann also in der zweiten Kritik, nicht aber in der Religionsschrift. Darauf, dass Kant erst in der Metaphysik der Sitten terminologisch präzise zwischen ‚Wille‘ und ‚Willkür‘ unterscheidet, hat Beck 1960, S. 199 f. hingewiesen.Vgl. dazu ausführlich Allison 1990, S. 129–136, der auch Reinholds (und Prauss’) Einwand mit Verweis auf jene terminologische Schwierigkeit zurückweist und bereits mit der Grundlegung die Möglichkeit der bösen Tat gesichert sieht. Eine Kompatibilität der Moralphilosophie in Kants Grundlegungsschriften mit den anthropologischen Überlegungen im ersten Teil seiner Religionsschrift sehen auch Louden 2000, S. 132–139 und Bojanowski 2006, S. 277–285. 86 Dass Kant im ersten Teil der Religionsschrift direkt an die kritische Moralphilosophie anschließt, behauptet z. B. auch Hiltscher 2004, S. 172 f., der mit der zweiten Kritik zwar die Möglichkeit der guten und bösen Tat gesichert, nicht aber die kriteriologische Funktion des moralischen Gesetzes ausgewiesen sieht. Gegen die Konzeption der Religionsschrift führt er an, dass für die Etablierung der Alternative ‚gut oder böse‘ neben dem „praktischen Prinzip“ noch „Zusatzbedingungen“ angeführt werden müssten, damit „auch die Alternative eine autonome Wahl sein kann“ (ebd., S. 176). Auflösen lässt sich diese Schwierigkeit im Anschluss an die hier vorgelegte Interpretation vielleicht folgendermaßen: Mit Blick auf das konkrete moralische Subjekt besteht – sofern es ein Mensch ist – dieses Problem gar nicht, da es eo ipso einen Hang zum Bösen hat, mithin die geforderte „selbstspezifizierende Selbstbezüglichkeit des praktischen Prinzips“ (ebd.) für es immer schon vorliegt; mit Blick auf den ‚Menschen im Stande der Unschuld‘ ist dessen Abweichung von der‚Anlage zum Guten‘ dagegen nur durch die Vorstellung eines „verführenden Geiste[s]“ (RGV, AA 06: 44.06), also einen äußeren Anlasses erklärbar. In beiden Fällen ist es – jedenfalls Kant zufolge – somit weder der (jeweilige) Mensch allein noch die reine praktische Vernunft allein, der bzw. die die geforderte Selbstspezifikation leistet, sondern für sie müssen bereits vorliegende Zusatzbedingungen hinzugedacht werden. 87 MS, AA 06: 217.01–03. Vgl. auch KpV, AA 05: 08.16–19.

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Gesetz Gehör zu geben“⁸⁸. Entsprechend muss dem der menschlichen freien Willkür eigentümlichen Überwiegen sinnlicher Antriebe auch durch einen „Selbstzwang (durch die Vorstellung des Gesetzes allein)“⁸⁹ entgegengewirkt werden, um die „der Pflichtvollziehung […] widerstrebenden Kräfte […] zu besiegen“⁹⁰. Den Vorsatz, dem menschlichen Hang zum Bösen das durch das moralische Gesetz Gebotene absichtlich gegenüberzustellen, um ihm damit entgegenzuwirken, nennt Kant dann auch ‚Tugend‘: ‚Widerstand‘ gegen einen ‚ungerechten Gegner‘.⁹¹ Dieses Konzept eines Widerstands gegen einen in der menschlichen Natur wurzelnden ‚Gegner‘ ist in einem nächsten Schritt der Ausgangspunkt für die Annahme spezifisch moralischer Zwecke, um dem überwiegenden Einfluss der sinnlichen Triebfedern etwas bloß Vernünftiges entgegenzustellen.⁹² Darauf muss hier nicht weiter eingegangen werden.⁹³ Es dürfte aber deutlich geworden sein, dass die oben heuristisch herangezogene Ähnlichkeit zwischen dem Bewegungsbegriff und dem Begriff eines Hangs zum Bösen auch deren systematische Funktionen betrifft. Wie jener als ‚Grundbestimmung‘ der Materie der ‚Grundbegriff‘ der Physik ist, muss dieser als ‚Grundeigenschaft‘ der spezifisch menschlichen Willkür den ‚Grundbegriff‘ der Ethik abgeben. Damit bleibt noch die Frage nach dem Wert der Idee einer intelligiblen Tat und ihrer symbolischen Darstellung zu beantworten. Insofern Kant sie im zweiten und vierten Abschnitt des ersten Teils der Religionsschrift als Grund der Besonderheit menschlicher Willkür einführt, darf auch sie als irrelevant für das genuine Geschäft der Moralphilosophie eingeschätzt werden. Und tatsächlich findet sie sich in den moralphilosophischen Hauptschriften Kants kein einziges Mal in ausdrücklicher Weise. Beachtet man allerdings Kants Bestimmung des Nutzens von Religion, dann wird nicht nur verständlich, warum er überhaupt so viel Mühe auf die Angabe des Grunds des menschlichen Hangs zum Bösen verwendet, sondern vor allem kann dann auch deren Dringlichkeit besser beurteilt werden. Der Nutzen der Religion ist Kant zufolge bekanntlich „die moralische Besserung des Menschen“⁹⁴ und dieser ist es auch, der in der Religionsschrift durchweg thematisiert wird.⁹⁵ Der Aspekt der moralischen Besserung taucht im ersten Teil der Religionsschrift in der angehängten „Allgemeinen Anmerkung“ auf und wird dort auf die vorangegangene Kenn-

88 89 90 91 92 93 94 95

MS, AA 06: 380.32 Anm. MS, AA 06: 380.01 f. MS, AA 06: 380.06–10. Vgl. MS, AA 06: 380.13–18. Vgl. auch MS, AA 06: 405.11–25 und RGV, AA 06: 57.04–10. Vgl. MS, AA 06: 380.22–381.03. Vgl. dazu ausführlicher Klingner 2020. RGV, AA 06: 112.04 f. Vgl. zum auch moraldidaktischen Programm der Religionsschrift Klingner 2021.

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zeichnung der menschlichen Willkür als böse bezogen. Kant stellt in diesen Passagen heraus, dass jede moralische Kultivierung ihren Ausgang von einer „Revolution in der Gesinnung im Menschen“⁹⁶ nehmen müsse und sich nicht in einer „Änderung der Sitten“⁹⁷ erschöpfen dürfe. Dass diese Forderung vor dem Hintergrund der kantischen Moralphilosophie gerechtfertigt ist, macht die vorangegangene Kennzeichnung der menschlichen Willkür als böse deutlich. Denn solange ein Mensch das moralische Gesetz deshalb befolgt, weil er sich etwas davon verspricht, kann er nicht als gut in sensu stricto gelten. Wie dieser Forderung entsprochen werden kann, ist allerdings weder vor dem Hintergrund der kantischen Moralphilosophie allein noch bei Hinzunahme der bloßen Kennzeichnung menschlicher Willkür als böse einsichtig: „Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe“.⁹⁸ Ebenso ‚unerforschlich‘ wie der Ursprung des Hangs zum Bösen ist demnach die Möglichkeit seiner Revision. Einen Anhaltpunkt gibt aber die Angabe des Grunds der bösen menschlichen Natur, indem die intelligible Tat diesen Grund als Bildung einer die Neigung zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes festsetzenden Maxime vorstellt und ihre symbolische Darstellung ihn sogar als ein empirisches Geschehen vorstellig macht. Diesem Anhaltspunkt entsprechend müsste jede moralische Selbstkultivierung mit einer Korrektur der obersten Maxime beginnen: [W]enn er [d. h. der Mensch, S.K.] den obersten Grund seiner Maximen, wodurch er ein böser Mensch war, durch eine einzige unwandelbare Entschließung umkehrt […], so ist er so fern dem Princip und der Denkungsart nach ein fürs Gute empfängliches Subject […].⁹⁹

Das bedeutet nicht, dass ein einzelner Mensch durch eine besondere, selbst bewerkstelligte intelligible Tat schlagartig zur Heiligkeit – im Sinne des irreversiblen Habens einer guten Grundmaxime – avancieren könnte. Weder ist dem einzelnen Menschen seine oberste Maxime gut bekannt, noch kann er seine moralische Natur grundsätzlich ändern. Er kann es sich aber vornehmen: Somit ist die Idee einer intelligiblen Tat zumindest insofern hilfreich, als sie eine notwendige Bedingung für moralische Kultur¹⁰⁰ angibt, nämlich die Tugend als ‚überlegter Vorsatz‘¹⁰¹, dem 96 RGV, AA 06: 47.24 f. 97 RGV, AA 06: 47.11 f. 98 RGV, AA 06: 44.32 f. 99 RGV, AA 06: 47.36–48.03. 100 Vgl. ausführlicher zur moralischen Kultur bei Kant (allerdings ohne Bezug zur Religion) Klingner 2022. 101 Vgl. nochmals MS 06: 380.13–15.

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bösen Hang ohne Ausnahme entgegenzuwirken.¹⁰² Dass diese Einsicht auch ohne Rekurs auf einen kanonischen Text einer historischen Religion zu gewinnen sein dürfte, steht außer Frage. Es darf auch mit Recht bezweifelt werden, dass eine Versinnlichung jener intelligiblen Tat überhaupt notwendig ist. Insofern aber im Fall moralischer Kultur das Vernunftinteresse besonders dringlich ist, darf auch dieses Mittel als legitim angesehen werden – solange es dem Menschen hilft, moralisch besser zu werden.¹⁰³

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102 Vgl. RGV, AA 06: 51.01–05. 103 Ich danke den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des 7. Trierer Kant-Kolloquiums für ihre Diskussionsbeiträge und Sebastian Abel für einige Literaturhinweise sowie seine Geduld. Schließlich danke ich den Herausgebern der Kantstudien-Ergänzungshefte für ihre wohlwollenden kritischen Hinweise.

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Achim Vesper

Kant über die Stufen des Bösen In der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift hebt Kant hervor, dass nach dem Inhalt des Werks der Gottesglaube aus moralischen Erwägungen gerechtfertigt ist. Moralphilosophisch verdient das Buch aber nicht nur aufgrund der These Aufmerksamkeit, dass die Moral unvermeidlich zum Gottesglauben führt. Für Kants Moralphilosophie ist die Religionsschrift auch deshalb von Bedeutung, weil sie grundlegende Aspekte seiner Moralpsychologie zu erkennen gibt. Eine besondere Rolle nimmt in diesem Zusammenhang das erste Stück ein, in dem Kant den Fragen nachgeht, wie die moralische Qualität des Menschen beschaffen ist, was das Böse ist und was Menschen zu moralisch schlechten Handlungen führt. Dieser Beitrag wendet sich lediglich einer kurzen Textpassage innerhalb des ersten Stücks zu, in der Kant seine Auffassungen über die Stufen des Bösen entwickelt (RGV, AA 06: 29– 30). Obwohl sich die Ausführungen lediglich über zwei Seiten erstrecken, kommt ihnen eine größere Relevanz für Kants Moralphilosophie zu, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

1 Die Stufen des Bösen in der gegenwärtigen Forschung Enthalten sind Kants Ausführungen über die Stufen des Bösen im zweiten Unterkapitel des ersten Stücks, in dem Kant erklärt, dass der Mensch statt einer für ihn unentrinnbaren Anlage einen selbstzugezogenen Hang zum Bösen besitzt. Motiviert ist die Auseinandersetzung mit den Stufen des Bösen dabei durch die Frage, wie sich der Hang zum Bösen in der Willensbildung des Einzelnen zeigt. Eine Voraussetzung besteht in der von Allison als incorporation thesis bezeichneten Behauptung Kants, dass Menschen nicht blind durch Triebfedern, sondern erst durch die Aufnahme von Triebfedern in ihre Maximen zu Handlungen geleitet werden.¹ Auf dieser Basis

1 Die einschlägige Stelle lautet: „die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat (es sich zur allgemeinen Regel gemacht hat, nach der er sich verhalten will)“ (RGV, AA 06: 23 f.). Wie Allison deutlich macht, beruhen gemäß dieser Aussage alle Handlungen auf freigewählten Maximen (zur incorporation thesis vgl. Allison (1990), u. a. S. 39 f.). In der Literatur wird in der Regel die Meinung geteilt, dass Menschen laut Kant immer aus Maximen handeln, so in O’Neill, (1989, S. 151): „(mere reflex apart) we always act on some https://doi.org/10.1515/9783111063935-006

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erklärt Kant, dass die „Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen, oder nicht,“ über „das gute oder böse Herz“ entscheidet (RGV, AA 06: 29). Daran anschließend bezieht sich Kant mit den Stufen des Bösen auf drei Fälle, in denen Menschen aufgrund unterschiedlicher Faktoren daran scheitern, das moralische Gesetz in ihre Maxime aufzunehmen und aus dieser Maxime zu handeln. Das Ziel dieses Beitrags besteht darin, die einzelnen Stufen darzustellen und ein dem Stufenbau zugrundeliegendes Muster aufzudecken. Dabei gibt es drei Punkte, in denen der Beitrag in kritische Auseinandersetzung mit Positionen der aktuellen Forschung tritt: (1) In Teilen der aktuellen Forschung wird Kants Auffassung von bösen Handlungen als problematisch oder zumindest erweiterungsbedürftig betrachtet. Dieser Auffassung zufolge verfügen Menschen lediglich über zwei mögliche Prinzipien der Handlungswahl, die sich darin unterscheiden, ob die Konformität mit dem moralischen Gesetz oder die Konformität mit dem Selbstinteresse die oberste Bedingung der Wahl der Handlungen ausmacht (vgl. RGV, AA 06: 36). Mit Blick auf das böse Prinzip der Handlungswahl wird oft kritisch geltend gemacht, dass sich Kant auf ein vereinheitlichendes Bild von moralischen Verfehlungen festlegt und der Phänomenologie unmoralischen Handelns keinen Raum lässt.² Dementgegen soll dieser Beitrag darauf aufmerksam machen, dass Kant mit den Stufen des Bösen über eine Typologie moralischer Fehler verfügt, die sich auf verschiedene Anwendungsfälle des bösen Handlungsprinzips erstreckt. Aus den Stufen des Bösen geht hervor, dass Kant ein differenziertes Verständnis moralischer Verfehlungen besitzt und dieses nicht erst – wie aktuell von Laura Papish – durch eine über den Text hinausgreifende erweiterte Lesart gewonnen werden muss.³

maxim“. Vgl. außerdem Gressis (2010b, bes. S. 235). Angegriffen wird diese Auffassung in Nyholm (2017). Vgl. allgemein zu Kants Maximenbegriff Timmermann (2000) sowie Gressis (2010a und b). 2 Bernstein etwa betrachtet die Auffassung, dass böses Handeln aus Selbstliebe resultiert, als zu eng (vgl. Bernstein (2002, S. 42). Das Problem liegt darin, dass die Geschichte reich an böse handelnden Personen ist, denen sich keine egoistischen Motive nachsagen lassen. 3 Vgl. Papish (2018), die sich für ein „expansive reading“ der Theorie immoralischen Handelns bei Kant ausspricht. Ihr zufolge erscheint Kants Theorie des Bösen als krude, wenn sie nur aus der Priorisierung der Selbstliebe gegenüber dem moralischen Gesetz verstanden wird (Papish (2018, S. 41 f.). Autoren wie Allison (1996) und Louden (2008), denen sie eine erweiterte Lesart (expansive reading) zuschreibt, reagieren auf das Problem, indem sie den Begriff der Selbstliebe nicht im Sinne eines egoistischen Hedonismus deuten, sondern auf eine breitere Grundlage zu stellen versuchen. Papishs eigene Lesart stützt sich u. a. auf den Fall von Überdeterminiertheit, bei dem ein Akteur sowohl durch das Gesetz als auch durch die Selbstliebe zum Vollzug einander entgegengesetzter Handlungen gleichermaßen motiviert ist (vgl. Papish (2018, S. 47–54)). Damit bezieht sie sich auf eine Situation, in der die handelnde Person zwischen beiden Motiven schwankt. Gegen diese Interpretation spricht jedoch, dass Kant in seinen Ausführungen zu den Stufen des Bösen Überdetermi-

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(2) Wenn den Stufen des Bösen in der gegenwärtigen Literatur Aufmerksamkeit zukommt, werden diese oft zur Untermauerung der These herangezogen, dass Kant Selbsttäuschung als eng verbunden mit bösem Handeln oder sogar als notwendige Eigenschaft von bösem Handeln betrachtet (z. B. Allison 1990, S. 158–160, Pasternack 2014, S. 119 f., Papish 2018, Wood 2020, u. a. S. 69). Für diese These spricht auch, dass Kant in einer Textstelle die Stufen des Bösen auf „eine gewisse Tücke des menschlichen Herzens (dolus malus), sich wegen seiner eigenen guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen“ (RGV, AA 06: 37), zurückführt. Allerdings geht aus der angeführten Stelle nicht hervor, worin der Inhalt der Selbsttäuschung auf den einzelnen Stufen des Bösen jeweils besteht. Gegenwärtige Interpretationen ziehen als Schlüssel zum Verständnis des moralischen Selbstbetrugs gelegentlich den Begriff des Vernünftelns heran, mit dem sich Kant auf eine aus einer falschen Anwendung der Vernunft resultierende Befangenheit in Irrtümern bezieht.⁴ Es fällt jedoch auf, dass Kant in seinen Ausführungen über die Stufen des Bösen den Begriff des Vernünftelns nicht verwendet. Deshalb geht der Beitrag auch den Fragen nach, inwiefern auf den jeweiligen Stufen Selbsttäuschung vorliegt und eine falsche Rationalisierung ein zentrales Element bildet. (3) Die Stufen des Bösen erlauben es zudem, eine von Teilen der Forschung geteilte Annahme über Kants Moralphilosophie in Zweifel zu ziehen. Interpreten des ersten Teils der Grundlegung vertreten oft die These, dass Kant ein bloß pflichtgemäßes Handeln nicht als moralisch vorwerfbar betrachtet.⁵ Nach ihrer Auffassung dient die Unterscheidung eines pflichtgemäßen Handelns aufgrund der Pflicht von einem bloß pflichtgemäßen Handeln aufgrund der Neigung lediglich der Herleitung des kategorischen Imperativs und geht nicht mit einer Abwertung des bloß pflichtgemäßen Handelns einher. Mit Blick auf Kants Erklärung der Unlauterkeit als zweiter Stufe des Bösen stellt sich diese Ansicht jedoch als falsch heraus. Wie aufgezeigt werden soll, geht aus seiner Erläuterung der Unlauterkeit klar hervor, dass Akteure einen erheblichen moralischen Fehler begehen, wenn sie dem moralischen Gesetz nicht aus dem Bewusstsein des moralischen Gesetzes, sondern aus Opportunität nachkommen.

niertheit in keiner Form in seine Betrachtung einbezieht (vgl. dazu den vierten Abschnitt im Folgenden). 4 In Anlehnung an den Begriff des Vernünftelns entwickelt Papish die Auffassung eines durch falsche Handlungsrationalisierung der Selbsttäuschung anheimfallenden Akteurs.Vgl. Papish (2018, bes. S. 73–76). 5 Vgl. z. B. Wood 2008, S. 28, mit Blick auf die Beispiele bloß pflichtgemäßer Handlungen: „None of these actions is ever subjected to blame, or indeed any sort of negative evaluation.“ Vgl. außerdem Guyer 1993, S. 28, und Timmermann 2009, S. 50.

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2 Keine Stufen des menschlich Bösen: Die Rebellion gegen das moralische Gesetz und ein Handeln nur aus Selbstliebe Die Untersuchung der Stufen des Bösen folgt der Frage, aus welchen Maximen böse Handlungen gewählt werden. Im Verlauf des ersten Stücks äußert sich Kant jedoch auch dazu, aus welchen zumindest theoretisch denkbaren bösen Maximen Menschen nicht handeln können. Vor allem ist es Menschen seiner Meinung nach nicht möglich, „das Böse als Böses“ zu wählen und damit „den Widerspruch gegen das Gesetz selbst“ als Triebfeder in ihre Maximen aufzunehmen (RGV, AA 06: 35). Nach seiner Argumentation im dritten Unterkapitel des ersten Stücks können Menschen nicht um des Bösen willen handeln, weil sie dies zu „teuflischen Wesen“ (RGV, AA 06: 35) machen würde, von denen sie aber nach dem Ergebnis des ersten Unterkapitels dadurch unterschieden sind, dass sie neben dem Hang zum Bösen auch über eine ursprüngliche Anlage zum Guten verfügen. Dabei „dringt sich“ dem Menschen wegen seiner Anlage zum moralisch Guten das moralische Gesetz „unwiderstehlich auf“ und bildet eine Triebfeder, die nur zugunsten einer anderen Triebfeder zurückgestellt, nicht aber vollständig ausgeschaltet werden kann (RGV, AA 06: 36). Da Menschen durch ihre Vernunft das moralische Gesetz erfassen und ihm Autorität zuschreiben, kann „der Mensch (selbst der Ärgste) […] auf das moralische Gesetz nicht gleichsam rebellischerweise (mit Aufkündigung des Gehorsams) Verzicht“ (RGV, AA 06: 36) tun. Eine „boshafte Vernunft“, mit der wir „den Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder erheben“, scheidet nach Kant aufgrund der Anlage zum Guten aus und kann nicht die Quelle des bösen Handelns bilden (RGV, AA 06: 35). Kant zieht damit eine Trennlinie zwischen den Menschen und teuflischen Wesen, die das moralisch Gute überhaupt nicht in ihre Handlungsorientierung aufnehmen und sich ihm sogar grundsätzlich entgegenzustellen versuchen.⁶ Nach der weiteren Argumentation Kants im dritten Unterkapitel kommt aber auch nicht die der menschlichen Naturanlage zugehörige Sinnlichkeit als alleinige Triebfeder für böses Handeln in Frage (vgl. RGV, AA 06: 36 f.). So räumt Kant

6 Louden stellt zurecht fest, dass Kants Zurückweisung der Auffassung, dass Menschen als teuflische Wesen um des Bösen willen handeln können, auch gegen eine Mystifizierung oder Romantisierung des Bösen gerichtet ist (vgl. Louden (2008), bes. S. 19 f.). Einen anderen Grund für die Zurückweisung sieht Louden darin, dass sich teuflische Wesen in der Wahl ihrer Handlungen nicht frei entscheiden können und ihnen deshalb keine moralische Verantwortung zukommt (vgl. Louden (2008), S. 19, ähnlich bereits Allison (1996), bes. S. 176).

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gleichfalls die Möglichkeit aus, dass sich Akteure der Triebfeder des moralischen Gesetzes gegenüber vollständig ignorant verhalten und ihre Handlungsmotivation ausschließlich aus der Sinnlichkeit beziehen: Er hängt aber doch auch, vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage, an den Triebfedern der Sinnlichkeit, und nimmt sie (nach dem subjektiven Prinzip der Selbstliebe) auch in seine Maxime auf. Wenn er diese aber, als für sich allein hinreichend zur Bestimmung der Willkür, in seine Maxime aufnähme, ohne sich an’s moralische Gesetz (welches er doch in sich hat) zu kehren: so würde er moralisch böse sein. (RGV, AA 06: 36)

Auch hier stützt sich Kant auf die Voraussetzung, dass Menschen neben dem Hang zum Bösen eine Anlage zum Guten besitzen. Würden Menschen allein aufgrund ihrer aus der Sinnlichkeit resultierenden Selbstliebe und ohne jede Aufmerksamkeit auf das moralische Gesetz handeln, würde das ihrer Anlage zum Guten widerstreiten. Da der Mensch das moralische Gesetz ‚in sich hat‘, kann er das moralische Gesetz nicht vollständig ausblenden und sich allein von seiner Selbstliebe zu Handlungen führen lassen. Zusammengefasst können Menschen nach der Auffassung Kants weder ihre Vernunft zur allgemeinen Rebellion gegen das moralische Gesetz gebrauchen noch das moralische Gesetz als Triebfeder ignorieren und allein aufgrund ihrer Sinnlichkeit handeln. Stattdessen geht Kant davon aus, dass die Handlungsmotive des Menschen sowohl im moralischen Gesetz als auch in der Selbstliebe liegen, wobei sich das Motiv der Selbstliebe seiner Naturanlage und das Motiv des moralischen Gesetzes seiner Anlage zum Guten verdankt (vgl. RGV, AA 06: 36). Die über den guten oder bösen Charakter menschlicher Handlungen entscheidende Frage besteht nach seiner Meinung allein darin, welcher der beiden Handlungsgründe der Vorzug gegeben wird. Da Menschen sowohl durch das moralische Gesetz als auch durch ihre Selbstliebe zu Handlungen motiviert sind, bemisst sich der gute oder böse Charakter ihrer Handlungswahl ausschließlich daran, welchem Handlungsmotiv sie das stärkere Gewicht zumessen. In anderen Worten unterscheiden sich die handlungsleitenden guten oder bösen Maximen darin, ob sie das moralische Gesetz oder die Selbstliebe in der Gegenüberstellung der beiden Triebfedern als ausschlaggebend betrachten.⁷ Dieser Sachverhalt findet sich auch in Kants Aussage wieder, dass sich die Prinzipien der guten oder bösen Handlungswahl nicht in ihrer Materie, sondern in 7 Die Selbstliebe allein ist nicht moralisch problematisch. Laut Kritik der praktischen Vernunft fallen alle Prinzipien, „die den Bestimmungsgrund der Willkür in der aus irgend eines Gegenstandes Wirklichkeit zu empfindenden Lust oder Unlust setzen“, unter das „Princip der Selbstliebe oder eigenen Glückseligkeit“ (KpV, AA 05: 22). Damit verträglich ist eine vernünftige Selbstliebe, die mit der moralischen Willensbestimmung vereinbar ist (vgl. KpV, AA 05: 73).

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ihrer Form unterscheiden (vgl. RGV, AA 06: 36). Während die Triebfedern des moralischen Gesetzes und der sinnlichen Neigung die Materie der Handlungswahl bilden, bestimmt das für den moralischen oder immoralischen Charakter ausschlaggebende Prinzip, welche der beiden Triebfedern der anderen übergeordnet wird: Also muß der Unterschied, ob der Mensch gut oder böse sei, nicht in dem Unterschiede der Triebfedern, die er in seine Maxime aufnimmt (nicht in dieser ihrer Materie), sondern in der Unterordnung (der Form derselben) liegen: welche von beiden er zur Bedingung der andern macht. (RGV, AA 06: 36)

Nach der sich anschließenden Erläuterung Kants gelangt der Mensch aufgrund beider Triebfedern zu zwei verschiedenen Maximen, denen er nicht gemeinsam folgen kann. Da die beiden Maximen nicht miteinander harmonieren, müssen sie in ein Verhältnis der Über- und Unterordnung gebracht werden: Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt: das moralische Gesetz zwar neben dem der Selbstliebe in dieselbe aufnimmt, da er aber inne wird, daß eines neben dem andern nicht bestehen kann, sondern eines dem andern als seiner obersten Bedingung untergeordnet werden müsse, er die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht, da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte. (RGV, AA 06: 36)

Auch wenn ein jeder Akteur sowohl das moralische Gesetz als auch die Selbstliebe in seine Maximen aufnimmt, so besteht die moralische oder immoralische Handlungswahl darin, einer der beiden Maximen einen Vorrang zuzusprechen. Das hat Kant im Sinn, wenn er die moralischen Verfehlungen des Menschen auf ein Prinzip zurückführt, mit dem der Mensch „die sittliche Ordnung der Triebfedern, in der Aufnehmung derselben in seine Maximen, umkehrt“ (Religion, 6:36). Die sittliche Ordnung der Triebfedern liegt vor, wenn die Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz zur Bedingung des Strebens aus Selbstliebe erhoben wird. Dagegen wird die sittliche Ordnung umgekehrt, wenn die Übereinstimmung mit der Selbstliebe zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes erhoben wird. Kehren Menschen die sittliche Ordnung der Triebfedern um, so handeln sie böse, weil sie sich Ausnahmen von der Befolgung des moralischen Gesetzes erlauben.⁸

8 Kant bezeichnet die für den moralischen oder immoralischen Charakter der Handlungswahl entscheidende Regel immer wieder als Prinzip. Damit bringt er zum Ausdruck, dass es sich um eine höherstufige Maxime handelt. Zur besseren Klarheit bezeichne ich im Folgenden die höherstufige

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Während Menschen nicht dazu imstande sind, sich grundsätzlich gegen das moralische Gesetz oder nur auf die Seite der Selbstliebe zu stellen, müssen sie zwischen denen ihnen gleichermaßen gegenwärtigen Motiven des moralischen Gesetzes und der Selbstliebe abwägen. Mit der Handlungswahl nimmt der Handelnde eine Hierarchisierung zwischen den Triebfedern des moralischen Gesetzes und der Selbstliebe vor, die ihn entweder zu moralischem oder zu immoralischem Handeln führt. Das böse Handeln resultiert dabei daraus, dass die Triebfeder des moralischen Gesetzes zugunsten der Triebfeder der Selbstliebe zurückgestellt wird. Entsprechend lassen sich die Stufen des Bösen danach unterscheiden, warum Akteure auf den einzelnen Stufen des Bösen dazu gelangen, das moralische Gesetz zugunsten der Selbstliebe einzuschränken und die Selbstliebe als das stärkere Motiv zu betrachten.⁹

3 Die erste Stufe des Bösen: die Gebrechlichkeit Zu Beginn seiner Ausführungen über die Stufen des Bösen gibt Kant den folgenden Überblick: Man kann sich drei verschiedene Stufen desselben (des bösen Herzens, A. V.) denken. Erstlich ist es die Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt, oder die Gebrechlichkeit der menschlichen Natur; zweitens der Hang zur Vermischung unmoralischer Triebfedern mit den moralischen (selbst wenn es in guter Absicht und unter Maximen des Guten geschähe), d. i. die Unlauterkeit; drittens der Hang zur Annehmung böser Maximen, d. i. die Bösartigkeit der menschlichen Natur, oder des menschlichen Herzens. (RGV, AA 06: 29)

Auch wenn alle moralisch fehlerhaften Handlungen aus dem gleichen Prinzip der Handlungswahl resultieren, so erstreckt sich das Prinzip jedoch auf die verschiedenen Stufen von Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Verderbtheit, in denen sich auch bekannte moralische Phänomene wie moralische Willensschwäche (Ge-

Maxime, anhand deren die Maximen des moralischen Gesetzes und der Neigung in ein Verhältnis der Über- und Unterordnung gebracht werden, als Prinzip. 9 Dazu passt Kants Erklärung in der ersten Fußnote der Anmerkung zum ersten Stück, weshalb Handlungen immer moralisch gut oder böse, aber niemals moralisch neutral sind. Nach seiner Argumentation gibt es kein moralisch „Mittleres“ zwischen guten oder bösen Handlungen, weil das moralisch Gute in der „Zusammenstimmung der Willkür mit dem Gesetze“ nur von „einer realiter entgegengesetzten Bestrebung der Willkür“ als einer „Widerstrebung“ aufgehoben werden kann (RGV, AA 06: 23).

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brechlichkeit) oder moralische Selbstgerechtigkeit (Unlauterkeit) wiedererkennen lassen. Aufmerksamkeit verdient der Begriff der Stufen, da nicht unmittelbar klar ist, mit Blick worauf Kant eine Abstufung vornimmt. Da der Gesichtspunkt, aus dem Kant die einzelnen Phänomene aufeinander folgen lässt, nicht leicht greifbar ist, wird in der Literatur sogar in Frage gestellt, dass den Stufen des Bösen eine Rangordnung unterliegt.¹⁰ Nach der These, die ich im Folgenden vertrete, bringt Kant die drei Fälle immoralischen Handelns nach der mit ihnen einhergehenden Schwere der Schuld in eine Reihenfolge. Dass Kant eine Abstufung nach der Schwere der Schuld vornimmt, lässt sich (erstens) auf eine Rückschau auf die Stufen des Bösen im dritten Unterkapitel stützen, nach der Gebrechlichkeit und Unlauterkeit darin von der Verderbtheit unterschieden sind, dass sie nicht auf Vorsatz beruhen. Wörtlich sagt Kant, dass die Schuld „in ihren zwei ersteren Stufen (der Gebrechlichkeit und der Unlauterkeit) als unvorsätzlich (culpa), in der dritten aber als vorsätzliche Schuld (dolus) beurtheilt werden“ (RGV, AA 06: 38) kann. Kant nimmt jedoch nicht nur eine Differenzierung zwischen den ersten beiden Stufen und der letzten Stufe anhand der Vorsätzlichkeit vor. Wie aus der näheren Betrachtung hervorgehen wird, kommt (zweitens) Akteuren auf der Stufe der Unlauterkeit eine größere Schuld als Akteuren auf der Stufe der Gebrechlichkeit zu, da die Unlauterkeit dazu einlädt, zur Bösartigkeit überzugehen. Damit stellt Kant klar, dass Akteuren auf allen Stufen des Bösen eine Schuld zugerechnet werden kann, wobei ihnen auf den ersten beiden Stufen von Gebrechlichkeit und Unlauterkeit aufgrund der Unvorsätzlichkeit ihres Handelns eine verringerte Schuld gegenüber der Bösartigkeit zukommt. Akteuren auf der Stufe der Unlauterkeit kommt zudem eine größere Schuld als Akteuren auf der Stufe der Gebrechlichkeit zu, da lediglich die Unlauterkeit eine psychologische Tendenz zum Übergang zur Bösartigkeit mit sich bringt. Wendet man sich der Gebrechlichkeit als erster Stufe des Bösen zu, so wird schnell deutlich, dass sich Kant mit dieser Bezeichnung auf die moralische Willensschwäche bezieht. So liegt die im vorausschauenden Absatz als „Schwäche des menschlichen Herzens in Befolgung genommener Maximen überhaupt“ (RGV, AA 06: 29) beschriebene Gebrechlichkeit vor, wenn sich ein Akteur eine moralisch gute

10 Obgleich dies offenkundig Kants These ist, möchte Papish ihm nicht die Vorstellung zuschreiben, dass das Böse über Stufen verfügt und Grade der Immoralität bestehen (vgl. Papish 2018, bes. S. 58 f.). Ihr zufolge geht es Kant nicht darum, eine Abstufung zwischen den einzelnen Formen des Bösen vorzunehmen: „my own proposal is that Kant does not have in mind an especially clear account of how to differentiate the three stages of evil“ (Papish 2018, S. 59). Auch Pasternack zieht in Zweifel, dass es sich um Grade des Schlechten handelt und eine echte Stufenordnung vorliegt (Pasternack 2014, S. 118–120).

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Maxime zu eigen gemacht hat, aber aus dieser nicht zu handeln imstande ist. Noch direkter geht aus Kants sich anschließender näherer Erläuterung der Gebrechlichkeit hervor, dass es sich bei ihr um moralische Willensschwäche handelt: Erstlich, die Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur ist selbst in der Klage eines Apostels ausgedrückt: Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt, d. i. ich nehme das Gute (das Gesetz) in die Maxime meiner Willkür auf; aber dieses, welches objektiv in der Idee (in thesi) eine unüberwindliche Triebfeder ist, ist subjektiv (in hypothesi), wenn die Maxime befolgt werden soll, die schwächere (in Vergleichung mit der Neigung).“ (RGV, AA 06: 29)

Nach Kants Darstellung besteht die Gebrechlichkeit darin, dass das Gesetz zwar affirmiert und in die Maxime aufgenommen wird, der Akteur aber aufgrund seiner Neigung gegen das Gesetz verstößt. Dieser Fall kommt dadurch zustande, dass sich der Akteur anhand der Triebfedern des moralischen Gesetzes und der Selbstliebe zwei Maximen zu eigen macht, die ihn zu konkurrierenden Handlungen motivieren. Da sich die auf der Neigung basierende Maxime als stärker erweist, stellt sich jedoch die Frage, weshalb der Akteur der „in der Idee“ (RGV, AA 06: 29) als unüberwindlich aufgefassten Maxime des moralischen Gesetzes nicht folgt und gegen sein besseres Urteil handelt. Dabei besteht Klarheit darüber, dass der Fehler des Akteurs nicht in einer höheren Gewichtung der Maxime der Neigung bestehen kann, da kein Vorsatz vorhanden ist. Stattdessen bietet sich als Erklärung an, dass der Akteur nicht aus der moralisch guten Maxime zu handeln imstande ist, weil er keine Gewichtung zwischen den beiden Maximen vornimmt. Unter dieser Voraussetzung beruht das Vergehen der Gebrechlichkeit darauf, dass der Akteur seine Maximen trotz ihrem widerstreitenden Charakter nicht hierarchisiert. Entsprechend lässt sich dem Akteur, der sich ein Handeln aus Gebrechlichkeit zu Schulden kommen lässt, nicht vorwerfen, dass er das moralische Gesetz nicht als Maxime angenommen hat. Sein Fehler besteht vielmehr darin, dass er die moralische Triebfeder der unmoralischen vorzuordnen unterlässt und stattdessen – mit dem Ausdruck Kants aus der Vorschau über die Stufen – beide vermischt.¹¹ Fasst man den von Kant allerdings nur grob skizzierten Sachverhalt zusammen, so besitzen Akteure im Bereich der Gebrechlichkeit zwei Maximen, von denen eine auf dem moralischen Gesetz und die andere auf der Neigung beruht. Da die Maximen unhierarchisiert sind, kann der Fall auftreten, dass sie aus Neigung handeln, obgleich sie die Autorität des moralischen Gesetzes akzeptieren. Kant bezieht sich mit der moralischen Willensschwäche auf einen Fehler, der nicht auf eine unmo-

11 In diese Richtung geht bereits Willaschek, da auch er die Gebrechlichkeit aus einer Inkonsistenz in der Gesamtmenge der Maximen einer Person begreift (vgl. Willaschek 1992, S. 239–248, bes. S. 245 f.).

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ralische Absicht, sondern auf eine unstrukturierte Willensbildung zurückgeht. In diesem Rahmen erschließt sich auch, warum mit der Gebrechlichkeit eine unvorsätzliche Schuld vorliegt. Obgleich Akteure auf der Stufe der Gebrechlichkeit den Vorsatz besitzen, dem moralischen Gesetz nicht zuwiderzuhandeln, werden sie schuldig, weil sie ihre Maximen nicht in eine Reihenfolge bringen. Unvorsätzlich schuldig wird der Akteur aufgrund von Fahrlässigkeit, da er es unterlässt, seine Maximen zu vereinheitlichen.¹² Demgegenüber bereitet es größere Schwierigkeiten, den nach der Aussage Kants auf allen Stufen des Bösen anzutreffenden Selbstbetrug in seiner Beschreibung der Gebrechlichkeit aufzufinden. Insofern der Begriff des Selbstbetrugs für das Verständnis der Gebrechlichkeit weiterhilft, kann er sich nur darauf beziehen, dass Akteure fälschlich glauben, die Autorität des moralischen Gesetzes vollständig anzuerkennen, obgleich sie ihm die Triebfeder der Sinnlichkeit nicht unterordnen. Auch wenn Kant nicht selbst Bezug auf diese Form der Selbsttäuschung nimmt, so ist sie doch mit seiner Charakterisierung der Gebrechlichkeit vereinbar.

4 Die zweite Stufe des Bösen: die Unlauterkeit Im Vergleich mit der Gebrechlichkeit kommt die Unlauterkeit unter veränderten Bedingungen auf. Zwar ist Akteuren auf der Stufe der Gebrechlichkeit und auf der Stufe der Unlauterkeit gemeinsam, dass sie über eine anhand des moralischen Gesetzes und eine anhand der Neigung gebildete Maxime verfügen und sich die Maxime der Neigung in der Handlungswahl durchsetzt. Während die beiden Maximen auf der Stufe der Gebrechlichkeit aber Motive zu konkurrierenden Handlungen darstellen, motivieren sie auf der Stufe der Unlauterkeit zum Vollzug der gleichen Handlung. Dies hebt Kant auch in seiner näheren Erläuterung der Unlauterkeit hervor: Zweitens, die Unlauterkeit (impuritas, improbitas) des menschlichen Herzens besteht darin: daß die Maxime dem Objekte nach (der beabsichtigten Befolgung des Gesetzes) zwar gut und vielleicht auch zur Ausübung kräftig genug, aber nicht rein moralisch ist, d.i. nicht, wie es sein sollte, das Gesetz allein zur hinreichenden Triebfeder in sich aufgenommen hat: sondern mehrentheils (vielleicht jederzeit) noch andere Triebfedern außer derselben bedarf, um dadurch die Willkür zu dem, was Pflicht fordert, zu bestimmen; mit andern Worten, daß pflichtmäßige Handlungen nicht rein aus Pflicht gethan werden. (RGV, AA 06: 29 f.)

12 In anderen Worten betrachtet Kant die Unvorsätzlichkeit nicht als Entschuldigungsgrund. Meines Erachtens wird der Akteur mit der Gebrechlichkeit wie der Unlauterkeit laut Kant nicht aus Vorsatz, aber aus Fahrlässigkeit schuldig. Nach Klemme dagegen besteht die Schuld, obgleich echtes subjektives Unvermögen vorliegt (vgl. Klemme (1999, S. 136 f.).

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Zwar ist die Maxime ‚dem Objekte nach‘ gut, weil sie zu einer mit dem moralischen Gesetz übereinstimmenden Handlung führt, sie ist jedoch nicht rein moralisch, da sie in der Verbindung der Triebfeder des moralischen Gesetzes mit der Triebfeder der Sinnlichkeit besteht. Unter dem Titel der Unlauterkeit diskutiert Kant den Fall eines Akteurs, der zu einer mit dem moralischen Gesetz übereinstimmenden Handlung nur in Verbindung mit der Neigung und nicht durch das moralische Gesetz allein ausreichend motiviert ist. Die Immoralität der Handlung besteht demnach darin, dass sie der Akteur ohne einen zusätzlichen Handlungsgrund in der Neigung nicht ausführen würde. Bekanntlich beschäftigt Kant das Thema eines nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung erfolgenden pflichtgemäßen Handelns bereits in der Grundlegung (vgl. GMS, AA 04: 397–399). Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich, dass die Religionsschrift von teilweise verschiedenen Voraussetzungen ausgeht. Die Darstellung im ersten Abschnitt der Grundlegung rückt den Fall in den Vordergrund, dass Akteure allein aufgrund ihrer sinnlichen Neigung in Übereinstimmung mit dem Moralgesetz handeln. Das kommt bereits im Eingangsbeispiel des klugen Kaufmanns zum Ausdruck, der allein aus Gewinnstreben handelt und aus Klugheitsüberlegungen dennoch keine Kunden übervorteilt (vgl. GMS, AA 04: 397).¹³ Diese Möglichkeit wird in der Religionsschrift ausgeschlossen, da nach Kants neuer Auffassung das moralische Gesetz für alle Akteure eine Triebfeder darstellt, die zugunsten der Triebfeder der Neigung lediglich zurückgestellt werden kann. Auch der in der Literatur prominente Fall der Überdeterminiertheit, bei dem der Akteur sowohl durch das moralische Gesetz als auch durch seine Neigung zum Vollzug der moralkonformen Handlung ausreichend motiviert ist, ist kein Gegenstand der Betrachtung in der Religionsschrift.¹⁴ Mit der Unlauterkeit bezieht sich Kant stattdessen lediglich darauf, dass der Akteur in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz handelt, obgleich er durch das Gesetz nicht ausreichend zur Handlung motiviert ist. Der Grund dafür, dass durch Vernunft und Neigung überdeterminierte Handlungen nicht vorkommen, mag darin bestehen, dass eine Person in diesem Fall auch bei Verlust ihrer in der Neigung begründeten Handlungsmotivation durch das Gesetz zum Vollzug der moralisch richtigen Handlung motiviert bleibt. Der sachlich relevante Kern der Debatte besteht der Religionsschrift zufolge in der Frage, weshalb es ein moralisches Problem darstellt, wenn ein Akteur eine moralische

13 Für eine Diskussion der Beispiele vgl. Vesper 2018, S. 145–148. 14 Die Diskussion geht auf Henson (1979) zurück. Henson ist der Meinung, dass es nach Kant durch Vernunft und Neigung als jeweils allein ausreichende Motive überdeterminierte Handlungen möglich sind und ein Akteur in diesen Fällen aus Neigung handeln kann, ohne dass die Handlung ihren moralischen Wert verliert.

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Handlung trotz seinem Bewusstsein des moralischen Gesetzes ohne ein hinzukommendes Motiv durch die Neigung nicht ausführen würde. In allgemeiner Hinsicht scheint Kant jedoch in beiden Schriften die gleiche Kritik gegenüber einer auf Neigung beruhenden Handlungswahl vorzubringen. Den ‚bloß pflichtgemäß‘ handelnden Akteuren der Grundlegung und den ‚nicht rein aus Pflicht‘ handelnden Akteuren der Religionsschrift ist gemeinsam, dass sie eine vom Moralgesetz geforderte oder zumindest erlaubte Handlung aus dem falschen Grund vollziehen.¹⁵ Beide Male bezieht sich Kant auf Einzelne, die ihre Handlung unter dem Einfluss der Neigung und nicht allein aufgrund des moralischen Gesetzes vollziehen. Diesem Problem kommt eine größere Tragweite zu, da ein Akteur, der aufgrund von Neigung in Konformität mit dem moralischen Gesetz handelt, unter anderen Umständen auch gegen das moralische Gesetz verstoßen würde. Wie Hermann in ihrer klassischen Interpretation des bloß pflichtgemäßen Handelns hervorhebt, sind aufgrund ihrer Neigung in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz handelnde Akteure moralisch unzuverlässig, da sich aus ihren Neigungen unter anderen Bedingungen auch dem moralischen Gesetz widerstreitende Handlungen ergeben können (vgl. Herman 1993). Tatsächlich macht Kant in beiden Schriften den Punkt stark, dass eine wegen ihrer Neigung in Übereinstimmung mit dem Gesetz handelnde Person nicht moralisch integer ist, weil sie durch ihre Neigung geleitet dem Gesetz auch zuwiderhandeln kann. Wendet man sich der Behandlung der Unlauterkeit in der Religionsschrift näher zu, so kommen jedoch Neuerungen gegenüber der Grundlegung zum Vorschein. Einschlägig ist hier die Gegenüberstellung von „einem sittlich guten Menschen“ mit „Menschen von guten Sitten“ (RGV, AA 06: 30), die Kant seiner Beschreibung der Stufen des Bösen direkt anschließt: Es ist aber zwischen einem Menschen von guten Sitten (bene moratus) und einem sittlich guten Menschen (moraliter bonus), was die Übereinstimmung der Handlungen mit dem Gesetz betrifft, kein Unterschied (wenigstens darf keiner sein); nur daß sie bei dem einen eben nicht immer, vielleicht nie das Gesetz, bei dem andern aber es jederzeit zur alleinigen und obersten Triebfeder haben. Man kann von dem Ersteren sagen: er befolge das Gesetz dem Buchstaben nach (d.i. was die Handlung angeht, die das Gesetz gebietet); vom Zweiten aber: er beobachte es dem Geiste nach (der Geist des moralischen Gesetzes besteht darin, daß dieses für sich allein zur Triebfeder hinreichend sei). Was nicht aus diesem Glauben geschieht, das ist Sünde (der Denkungsart nach). Denn wenn andre Triebfedern nöthig sind, die Willkür zu gesetzmäßigen Handlungen zu bestimmen, als das Gesetz selbst (z. B. Ehrbegierde, Selbstliebe überhaupt, ja gar gutherziger Instinct, dergleichen das Mitleiden ist), so ist es bloß zufällig, daß diese mit dem Gesetz übereinstimmen: denn sie könnten eben sowohl zur Übertretung antreiben. Die Ma-

15 Vgl. Vesper 2018, bes. S. 142.

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xime, nach deren Güte aller moralische Werth der Person geschätzt werden muß, ist also doch gesetzwidrig, und der Mensch ist bei lauter guten Handlungen dennoch böse. (RGV, AA 06: 30 f.)

In den verbreiteten Kommentaren zu den Stufen des Bösen wird diese Passage durchgängig nicht berücksichtigt, obwohl es sich um eine Kants Erläuterung der Unlauterkeit ergänzende Textstelle handelt. Zunächst fällt auf, dass die zwei von Kant herausgestellten Akteurstypen aus verschiedenen Handlungsgründen in Übereinstimmung mit dem Gesetz handeln. Moralisch kritikwürdig ist der Mensch von guten Sitten, weil er durch den Handlungsgrund der Neigung nur zufällig mit moralkonformen Handlungen verbunden ist und dieser ihn „eben sowohl zur Übertretung antreiben“ kann (RGV, AA 06: 31). Während der Menschen von guten Sitten in seinen Handlungen nicht durchgehend mit dem Gesetz übereinstimmt, weicht der gute Mensch zu keiner Zeit vom Gesetz ab, da dieses das für sein Handeln ausschlaggebende Motiv darstellt. Darüber hinaus gibt Kant anhand des Menschen von guten Sitten eine neue Auskunft über die Psychologie des unlauteren Menschen. Kennzeichnend für den Menschen von guten Sitten ist, dass er die Lauterkeit seiner Handlung hervorhebt. Wie aus dem von Kant für den Menschen von guten Sitten an erster Stelle in Erwägung gezogenem Motiv der Ehrbegierde hervorgeht, rechtfertigt er seine Handlungen aus dem moralischen Gesetz, obgleich er sie aus seinem Streben nach Ehre vollzieht. Um soziales Ansehen zu gewinnen, zieht ein Akteur dieses Typs zur Rechtfertigung seiner Handlung einen Grund heran, aus dem er die Handlung in Wahrheit nicht ausgeführt hat. Es liegt nahe, in diesem Fall den Begriff des Vernünftelns heranzuziehen, da der Akteur seine Handlung unter Ausblendung des handlungsleitenden Motivs rationalisiert.¹⁶ Internalisiert der Akteur seine Handlungserklärung, so liegt ein Selbstbetrug über das für die Handlung ausschlaggebende Motiv seiner Handlung vor. Neben der Ehrbegierde können nach Kant aber auch andere zur Unlauterkeit führende Handlungsmotive vorkommen. Im ebenfalls genannten Fall des Mitleids täuscht sich der Akteur nicht über sein Handlungsmotiv, sondern über die gegenüber der einer moralischen Handlung richtige Einstellung. Gemeinsam ist den aus Ehrbegierde und der aus Mitleid handelnden

16 In der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht schreibt Kant: „Vernünftelei (ohne gesunde Vernunft) ist ein den Endzweck vorbeigehender Gebrauch der Vernunft, theils aus Unvermögen, theils aus Verfehlung des Gesichtspunkts.“ (Anth, AA 07: 200) Gemäß dieser Aussage ist von Vernünfteln zu sprechen, wenn ein Sachverhalt aus partiellen Hinsichten erklärt wird und andere wichtige Hinsichten übergangen werden. Ein Verstoß gegen den Zweck der Vernunft lässt sich darin erkennen, weil die Vernunft auf das das Besondere übergreifende Allgemeine zielt, wie Kant im Umfeld des Zitats ausführt.

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Menschen, dass sie dem Gesetz nach dem Buchstaben d. h. nach der Handlung, nicht aber nach dem Geist d. h. nach der Maxime folgen. Den engeren Grund dafür, dass eine aus Ehrbegierde oder Mitleid handelnde Person einen erheblichen moralischen Fehler begeht, macht Kant erst an späterer Stelle deutlich. Laut einer wichtigen Aussage Kants im dritten Teil des ersten Stücks ist „die Denkungsart, sich die Abwesenheit desselben [des Lasters, A.V.] schon für Angemessenheit der Gesinnung zum Gesetze der Pflicht (für Tugend) auszulegen (da hiebei auf die Triebfeder in der Maxime gar nicht, sondern nur auf die Befolgung des Gesetzes dem Buchstaben nach gesehen wird), selbst schon eine radicale Verkehrtheit im menschlichen Herzen zu nennen“ (RGV, AA 06: 37). Die Täuschung des unlauteren Akteurs besteht demnach darin, dass er von der moralischen Richtigkeit seiner Handlung auf die Richtigkeit seines handlungsverursachenden Motivs schließt. Damit übersieht der unlautere Akteur jedoch, dass er sich mit der Erhebung seiner Neigung zum ausschlaggebenden Handlungsmotiv ein Handlungsprinzip zu eigen macht, das ihn auch zum Vollzug moralisch schlechter Handlungen führen kann. Da ihm nur die moralische Richtigkeit seiner Handlung vor Augen steht, nimmt er nicht wahr, dass er sich einem den Bruch mit dem Gesetz erlaubenden Prinzip verschreibt. Zusammengefasst erklärt Kant die Psychologie des unlauteren Akteurs anhand von zwei Aspekten: Zum einen betrachtet der Akteur seine für den Vollzug der Handlung ausschlaggebende Neigung als moralisch angemessen, da aus ihr eine moralisch gute Handlung hervorgeht. Zum anderen macht er sich damit unbewusst die generelle Auffassung zu eigen, dass Neigungen ein höherer Rang als dem moralischen Gesetz in der Handlungswahl zukommen. Während der Fehler des Akteurs auf der Stufe der Gebrechlichkeit darin besteht, dass er es unterlässt, seine Maximen durch das moralische Prinzip der Handlungswahl zu vereinheitlichen, macht sich der unlautere Akteur unbewusst das immoralische Prinzip der Handlungswahl zu eigen.¹⁷ Auch wenn der unlautere Akteur dem immoralischen Prinzip der Handlungswahl nicht vorsätzlich folgt, so würde sich ihm nach kritischer Überlegung aber zeigen, dass er sich fahrlässig darauf einlässt. Zieht man Kants Aussagen über eine natürliche Dialektik der praktischen Vernunfterkenntnis am Ende des ersten Abschnitts der Grundlegung hinzu, so wird deutlich, dass nach Kant der Fehlschluss von der Richtigkeit der Handlung auf die Richtigkeit des Motivs als ein Akt des Vernünftelns zu klassifizieren ist. Die natürliche Dialektik bestimmt Kant als 17 Dass Maximen im Allgemeinen nach Kant auch unbewusst sein können, betonen Timmermann (2003, bes. S. 154–159), und Schönecker / Wood (2004, S. 102 f.). Auch wenn man sich einer Maxime immer bewusst werden kann, kann man aber auch über eine Maxime verfügen, ohne sich ihrer bewusst zu sein.

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ein Hang, wider jene strenge Gesetze der Pflicht zu vernünfteln und ihre Gültigkeit, wenigstens ihre Reinigkeit und Strenge in Zweifel zu ziehen und sie wo möglich unsern Wünschen und Neigungen angemessener zu machen, d.i. sie im Grunde zu verderben und um ihre ganze Würde zu bringen, welches denn doch selbst die gemeine praktische Vernunft am Ende nicht gut heißen kann. (GMS, AA 04: 405)

Demnach buchstabiert Kant unter dem Titel der Unlauterkeit aus, wie eine auf der Grundlage von Neigung handelnde Person ihr Handlungsmotiv subjektiv rechtfertigt, obgleich sie sich mit ihm objektiv auf die Seite der moralwidrigen Denkungsart stellt. Das Vernünfteln kommt darin zum Ausdruck, dass der Akteur mit dem Schluss von der moralisch lauteren Handlung auf die Lauterkeit seines Handlungsmotivs eine vermeintlich vernünftige Erklärung für seine Handlungswahl gibt, ohne dass ihr zugrunde liegende Prinzip in den Blick zu nehmen. Vor diesem Hintergrund erscheint es auch als abwegig, Kants Unterscheidung des pflichtmäßigen Handelns aus Pflicht vom pflichtmäßigen Handeln aus Neigung in der Grundlegung eine nur methodische Funktion zuzuerkennen. In der Religionsschrift macht Kant deutlich, dass eine aus Neigung in Übereinstimmung mit dem moralischen Gesetz handelnde Person bereits die Verkehrtheit des Herzens angenommen hat. Auch wenn wir uns heute anderer Ausdrücke bedienen, so ist uns das moralische Problem vertraut, mit dem sich Kant auseinandersetzt. Ihm steht das Problem der moralischen Selbstgerechtigkeit vor Augen, wobei sich eine Person als moralisch selbstgerecht verstehen lässt, wenn sie sich auf die moralische Richtigkeit ihrer Handlungen beruft, ohne ihre Handlungsmotive kritisch zu überprüfen. Nach Kant entstammen die Motive eines Akteurs aber auch dann einer moralisch schlechten Denkungsart, wenn sie ihn zufällig zu einer moralisch guten Handlung führen.

5 Die dritte Stufe des Bösen: die Bösartigkeit Die oberste Stufe des Bösen, die mit dem höchsten Grad an Schuld einhergeht, stellt Kant unter die verschiedenen Titel der Bösartigkeit und Verkehrtheit oder Verderbtheit des menschlichen Herzens. Nach seiner Erläuterung ist diese Stufe wie folgt beschaffen: Drittens, die Bösartigkeit (vitiositas, pravitas), oder, wenn man lieber will, die Verderbtheit (corruptio) des menschlichen Herzens ist der Hang der Willkür zu Maximen, die Triebfeder aus dem moralischen Gesetz andern (nicht moralischen) nachzusetzen. Sie kann auch die Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens heißen, weil sie die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt, und obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart dadurch in

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ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet. (RGV, AA 06: 30)

Der Akteur auf der Stufe der Bösartigkeit macht es sich zur allgemeinen Regel, die Selbstliebe dem moralischen Gesetz vorzuordnen und nur solche Handlungen zu wählen, die seiner Selbstliebe entsprechen. Während die Unlauterkeit im Vollzug der moralisch richtigen Handlung aus dem falschen Motiv besteht, nimmt der bösartige Akteur gegen das moralische Gesetz verstoßende Handlungen bewusst in Kauf. Zwar ist sich die bösartige Person der Triebfeder des moralischen Gesetzes bewusst, sie erlaubt sich aber zugunsten ihrer Selbstliebe Ausnahmen von der Befolgung des Gesetzes. Der Kontrast zur unlauteren Person beruht darauf, dass sich die bösartige das Prinzip der unmoralischen Handlungswahl absichtlich zu eigen macht. Da das Primat der Neigung mit Vorsatz zum Prinzip der Handlungswahl erhoben wird, bestimmt Kant diese Denkungsart auch als „in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt“ (RGV, AA 06: 30). Die von Kant angesprochene Verkehrtheit des Herzens besteht darin, dass die sittliche Ordnung der Triebfedern mit Bewusstsein umgekehrt und die Selbstliebe gegenüber dem moralischen Gesetz privilegiert wird. Daher verbindet Kant die Bösartigkeit anders als die Unlauterkeit auch nicht mit einem Selbstbetrug über die eigenen Handlungsmaximen. Die Selbsttäuschung kann beim bösartigen Akteur stattdessen lediglich im falschen Glauben bestehen, dass die Autorität des moralischen Gesetzes Ausnahmen zugunsten seiner Selbstliebe zulässt.

6 Schluss Den Akteuren auf den drei Stufen des Bösen ist gemeinsam, dass sie die beiden Triebfedern des moralischen Gesetzes und der Neigung in ihre Maximen aufgenommen haben und aus der Maxime der Neigung handeln. Dennoch gehen mit den drei Stufen drei unterschiedliche moralische Fehler einher: Während der Akteur auf der Stufe der Gebrechlichkeit aufgrund einer Unordnung unter seinen Maximen nicht imstande ist, aus der Maxime des moralischen Gesetzes zu handeln, legt sich der unlautere Akteur unbewusst auf das Prinzip der immoralischen Handlungswahl fest. Der bösartige Akteur geht darüber hinaus, da er das immoralische Handlungsprinzip bewusst annimmt und sich dafür entscheidet, der Selbstliebe einen Vorrang vor dem moralischen Gesetz einzuräumen. Dabei kommt der Unlauterkeit in der Abfolge der Stufen eine besondere Rolle zu. Sie lässt ersichtlich werden, wie wir uns trotz moralisch guten Handlungen eine immoralische Denkungsart aneignen. Zu moralisch bösen Menschen werden wir, indem wir uns fälschlich moralisch gute Motive zuschreiben, obgleich diese in den Neigungen

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liegen.¹⁸ Der moralisch erhebliche Fehler eines Handelns aus unlauteren Motiven besteht darin, dass sich der Mensch unter der Hand eine Gesinnung zu eigen macht, die den Wert des moralischen Gesetzes zugunsten der Neigung relativiert.

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18 Dagegen macht Louden (2008, S. 10) gegen Kritiker geltend, die bei Kant eine hilfreiche Antwort auf die Frage vermissen, wodurch wir moralisch böse werden: „Kant is quite clear in stating that his doctrine of radical evil is in no way intended to explain why human beings choose to adopt evil maxims.“ Meiner Auffassung nach sagt Kant tatsächlich etwas darüber, wodurch wir für die Bösartigkeit anfällig werden – durch die Unlauterkeit.

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Geist und Buchstabe. Hermeneutik und Evangelienkritik bei Reimarus und Lessing Kant unterscheidet im Umgang mit heiligen Schriften zwischen zwei Auslegungstechniken, deren erste er als „authentisch“¹ (RGV, AA 06: 114) bezeichnet, während die zweite, in der Religionsschrift angewandte Technik „doctrinal“² (RGV, AA 06: 114)³ genannt wird. Ausleger der „authentischen“ Hermeneutik ist die „Schriftgelehrsamkeit“ (RGV, AA 06: 113), Ausleger der „doctrinalen“ Hermeneutik dagegen ist die Vernunftreligion selbst. Um darzustellen, inwieweit der kantische Umgang mit Offenbarungstexten sich von seinen Vorgängern unterscheidet – oder eben auch nicht unterscheidet – soll der Blick auf zwei derselben gerichtet werden, die nach landläufigem Urteil der Schriftgelehrsamkeit bzw. der Vernunftreligion zugeordnet werden und deren Namen zudem auf eine eigentümliche Weise verbunden sind: Gemeint sind Hermann Samuel Reimarus und Gotthold Ephraim Lessing. Als verbunden können die Namen der beiden insofern gelten, als Lessing nicht nur Teile von Reimarus’ Apologie anonym publizierte, sondern in den Kontroversen, die diese Publikationen auslösten, selbst Stellung bezog. Im Hinblick auf Kants Religionsschrift wird nun aber zu untersuchen sein, welche Inhaltlichen oder Methodischen Gemeinsamkeiten sich zwischen Kant und Lessing einerseits, dem „Fragmentisten“ andererseits feststellen lassen. Denn während Kant einige von Reimarus’ Druck-

1 Die von Kant in der Religionsschrift und im Streit der Fakultäten vorgenommene Marginalisierung der‚authentischen‘ Auslegung bedeutet zugleich einen Bruch mit den Hermeneutiken der Früh- und Hochaufklärung, die mehrheitlich darauf abzielten, die mens autoris zu erfassen. Vgl. hierzu Madonna 1994, S. 30: „Die intentio auctoris oder mens auctoris aufzudecken, ist Ziel nicht nur der Wolffschen Hermeneutik, sondern wohl aller Hermeneutiken der Aufklärung. Diese Zielvorstellung bringt es nun in fast unvermeidlicher Weise mit sich daß die authentische Auslegung eine unumstrittene Vorrangstellung einnimmt. Von Christian Thomasius (1655–1728) bis Meier wird immer wieder die Idee hervorgebracht, der Autor sei der beste Interpret seiner selbst. Und deshalb sei diejenige Interpretation die beste, die der Autor selbst geben würde.“ Dieser im kartesischen Denken wurzelnden Annahme (vgl. Madonna 1994, S. 31) hält Kant selbstbewusst entgegen, dass die beste Deutung nicht die des Autoren, sondern vielmehr die Moralisch-Praktische ist und dass es im Kontext einer solchen Hermeneutik völlig irrelevant ist, was „der heilige Verfasser mit seinen Worten für einen Sinn verbunden haben mag“ (SF, AA 07: 67) – schließlich kann er, eben „als Mensch[] auch geirrt haben“ (SF, AA 07: 66). 2 Zur Begriffsgeschichte des Gegensatzpaares ‚authentisch – doktrinal‘ vgl. die Artikel ‚Interpretatio Juris‘ und ‚Interpretatio Juris doctrinalis‘ in Zedler 1739:781 und auch Madonna 1994:35. 3 Vgl. hierzu auch TP, AA 07: 66 https://doi.org/10.1515/9783111063935-007

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schriften besaß und diese bisweilen auch lobend erwähnt⁴, war ihm nicht bekannt⁵, dass ebendieser gleichzeitig auch Urheber der sogenannten „Fragmente“ war, weshalb Kant an den entsprechenden Stellen eben bloß von einem „Wolfenbüttelsche[n] Fragmentist[en]“ (RGV, AA 06: 81 Anm.) spricht. Lessing dagegen ist in diesem Zusammenhang nicht bloß in seiner Rolle als Herausgeber zu betrachten – auch wenn auf die von ihm verfassten „Antifragmente“ einzugehen sein wird – sondern als den Autor zahlreicher religionsphilosophischer Schriften, die, wie beispielsweise die Erziehungsschrift, auch von Kant aufgegriffen werden⁶ und von denen daher zu fragen ist, in welchem Verhältnis sie zu der in der Religionsschrift entwickelten Hermeneutik stehen. Wenngleich Reimarusʼ Evangelienkritik zumindest in einem gewissen, noch zu präzisierenden Sinne Neuheitswert besaß, soll natürlich nicht behauptet werden, dass dies auch auf die in der Apologie angewandte Methode – eben die historischkritische Hermeneutik – zuträfe. So kann beispielsweise Grotius – von Reimarus oft zitiert – als ein Wegbereiter derselben angesehen werden⁷, doch interessanter dürfte hier ein Werk sein, das Reimarus gerade nicht erwähnt, nämlich der Theologisch-Politische Traktat Spinozas.⁸ Die Gemeinsamkeiten zwischen Reimarus’ Apologie und Spinozas Traktat sind so auffällig, dass sich die Frage stellt, weshalb sich Reimarus beharrlich über jenes Werk ausschweigt, wo er doch nachweislich ein Exemplar desselben besaß⁹ und zudem in einem anderen Werk, den Vornehmsten Wahrheiten, wenigstens auf Spinozas Ethik ausführlich eingeht. Spinoza, der Wunder für theoretisch unmöglich ¹⁰ hält, vertritt, grob gesprochen, den Standpunkt, dass die biblischen Wunder Erklärungsversuche von Unverstandenem 4 Vgl. etwa KU, AA 05: 476 5 Reimarus’ Verfasserschaft wurde erst 1814 öffentlich bekannt, vgl. hierzu die Einleitung in den 1. Band der Apologie (Reimarus 1972, I, S. 14) 6 Vgl. etwa RGV, AA 06: 121 7 Vgl. hierz etwa Stemmer 1983, S. 14 ff., zu den Unterschieden zwischen Grotius und Reimarus vgl. Schmidt-Biggemann 1998, S. 33–38 8 Neben Spinoza macht Höffe 2011, S. 238 auch Hobbes Einfluss auf Kants Hermeneutik stark. Zum Verhältnis Hobbes-Kant vgl. insbesondere auch den Beitrag Recht und Religion. Der Begriff des ethischen Naturzustandes in der Religionsschrift Kants von Gianluca Sadun Bordoni im vorliegenden Band. 9 Vgl. hierzu Schetelig 1978 10 Vgl. hierzu Walter 1991, S. 70: „Wunder, definiert als Ereignisse, die ihre – zureichende – Ursache nicht in dem allgemeinen Kausalzusammenhang der Einzeldinge unter allgemeinen Gesetzen haben, sind nun aber mit einer solchen Theorie der Wirklichkeit schlechthin unvereinbar. Der Wunderglaube stellt also eine prinzipielle Negation von Philosophie im Sinne Spinozas dar, für den Kontingenz nichts anderes als eine subjektive Relationsbestimmung ist, die auf unvollständigem Wissen beruht und sich zugleich dieser Unvollständigkeit als Bedingung ihres Wunderbegriffes nicht bewußt ist.“

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darstellen und dass man ihnen mit den Mitteln der historisch-kritischen Hermeneutik zu Leibe rücken müsse: „Das Volk meint nämlich eines Sache dann völlig zu verstehen, wenn es sich nicht mehr über sie verwundert. Die Alten und fast alle bis auf den heutigen Tag hatten daher keine andere Norm für das Wunder als eben diese, und darum wird ohne Zweifel in der Heiligen Schrift vieles als Wunder erzählt, dessen Ursache sich aus bekannten Grundgesetzen der natürlichen Dinge ohne Mühe erklären lassen.“ (Spinoza 1965, S. 97) Weiter: „Um also die Wunder in der Schrift erklären und aus ihrer Darstellung den wirklichen Verlauf zu ermitteln, muß man die Anschauung derer kennen, die sie zuerst berichtet, und derer, die sie uns schriftlich hinterlassen haben, und diese Anschauungen müssen von ihren etwaigen sinnlichen Wahrnehmungen unterschieden werden; sonst würden wir ihre Anschauungen und Urteile mit dem Wunder selbst, wie es sich wirklich zugetragen hat, vermengen“ (Spinoza 1965, S. 107). Um letztlich verstehen zu können, was sich wirklich zugetragen hat, ist eine nüchtern-wissenschaftliche Herangehensweise geboten, weshalb Spinoza schließt: „Die Methode der Schrifterklärung [unterscheidet] sich in nichts von der Methode der Naturerklärung“ (Spinoza 1965, S. 114). Interessant ist auch, dass in diesem Werk, wie auch in Reimarus’ Apologie, ausführliche Anmerkungen zur Philologie des Althebräischen und zu einzelnen Übersetzungsproblemen zu finden sind.¹¹ Zudem stellen beide Autoren Überlegungen zur Quellengeschichte der Bücher Mose an und kommen dabei zu demselben Ergebnis, nämlich dass diese eine lose Sammlung von Erzählungen darstellen, die von Abraham ibn Esra redigiert wurden und allenfalls zu einem geringen Teil tatsächlich aus der Feder Mose stammen.¹² Besonders auffallend ist nun allerdings der ebenfalls von beiden Autoren unternommene Versuch, biblische Zahlenangaben rechnerisch zu überprüfen¹³. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide Werke eine ausführliche Wunderkritik enthalten, welche Spinoza

11 Spinoza 1965, S. 124 ff.; Reimarus 1972.II, S. 41, ebd., S. 48 ff. 12 Reimarus 1972, I, S. 915 13 Während Spinoza die Verlässlichkeit der Zeitrechnung im 1. Buch der Könige anzweifelt, strebte Reimarus in dem von Lessing veröffentlichten „Dritten Fragment“ den Nachweis an, dass die Mengenangaben im Buch Exodus unzuverlässig sind. Vgl hierzu Reimarus 1972, I, S. 299 ff. bzw. Lessing 1954, VII, S. 734 ff. Reimarus’ berühmt gewordener Nachweis der Unzuverlässigkeit der Zahlenangaben bei der Erzählung von der Wanderung der Juden durch das rote Meer stellt jedoch keine erstmalige Beschäftigung mit dieser Materie dar. Bereits Luther beschäftigte sich mit den im Buch Exodus gemachten Angaben, kam aber zu dem Schluss, dass diese die Größe des Wunders unterstreichen. Wenn daher Holl 1921, S. 443 schreibt: „[E]s ist nicht Reimarus oder Colenso, sondern Luther, der diese Überlegungen anstellt“, dann darf das nicht dahingehend missverstanden werden, dass Luther – wie nach ihm Reimarus – die Bibel mit den Mitteln der historisch-kritischen Hermeneutik traktiert hätte. Über Luthers Auslegungstechniken wird, insofern sie für das Verständnis derjenigen Lessings relevant sind, weiter unten noch zu reden sein.

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allerdings auf Grundlage der eigenen Substanzmetaphysik führt, während Reimarus vor allem Gedanken aus Leibniz’ Theodizee aufnimmt und weiterentwickelt. Warum nun Reimarus den Traktat Spinozas dennoch nicht erwähnt, kann hier nicht entschieden werden – womöglich wollte er nicht einmal in einem nicht für die Publikation bestimmten Werk in den Verdacht der „Atheisterey“¹⁴ geraten, die er mit der Ethik Spinozas untrennbar verknüpfte. Dass Reimarus jedoch nicht bloß aus vorgefundenen Quellen schöpft, sondern auch neue, eigene Gedanken entwickelt – und zwar auf eine Weise, die derjenigen Kants nicht unähnlich ist – soll nun ein genauerer Blick in die bereits erwähnte Apologie des Reimarus zeigen. Denn diese erweist sich bei näherem Hinsehen als so vielschichtig, dass es fraglich bleibt, ob Lessings Vorwurf, Reimarus arbeite sich bloß an „Buchstaben“ ab, wirklich statthaft ist. Knapp zusammengefasst, strebt Reimarus nämlich erstens den Nachweis an, dass Jesus zwei voneinander zu unterscheidende Lehren predigte: Eine in Vernunft gründende, praktische Religion einerseits und ein reformatorisches Judentum andererseits¹⁵. Diese Unterscheidung findet sich letztlich auch bei Kant, der die levitischen Bräuche und Observanzen als Mittel der „Introduktion unter Leuten, die gänzlich und blind am Alten hingen“ (RGV, AA 06: 162) ansah und der dieses Mittel von dem „reinen Vernunftglauben“ (RGV, AA 06: 153) unterschied, der in reiner praktischer Vernunft gründet¹⁶. Zweitens unterscheidet Reimarus nicht allein zwischen zwei verschiedenen Lehren Jesu, sondern auch zwischen deren jeweils ursprünglichem Gehalt und der Deutung desselben durch die Apostel¹⁷. Und auch diese Unterscheidung trifft schon der vorkritische Kant, wenn er etwa 1775 in einem Brief an Lavater schreibt: „Ich unterscheide die Lehre Christi von der Nachricht die wir von der Lehre Christi haben und, um iene rein herauszubekommen, suche ich zuvörderst die moralische Lehre abgesondert von allen neutestamentischen [!] Satzungen herauszuziehen“ (Br, AA 10: 176). Was Reimarus

14 Reimarus 1772, S. 734 15 Vgl. Reimarus 1972, II, S. 25 16 Auch diese Unterscheidung geht mindestens bis auf Spinoza zurück: Im oben erwähnten Traktat führt er aus, dass das göttliche Gesetz keine Zeremonien (Spinoza 1965, S. 70), die auch für Kant zum „statutarischen Teil des Kirchenglaubens“ (RGV, AA 06: 153) gehören, verlangt, weil Zeremonien Handlungen sind, die „an sich indifferent sind“ (Spinoza 1965, S. 70) und insofern zur Vervollkommnung des Verstandes ebenfalls nichts beitragen. Nun fungiert aber gerade die Vervollkommnung des Verstandes, d. h. Erkenntnis der natürlichen Dinge als Wesen Gottes (Spinoza 1965, S. 67 f.) bei Spinoza als das höchste Gut, auf welches das göttliche Gesetz letztendlich ausgerichtet ist. 17 „Sie [sc. die Apostel] wollten auch nicht in den Fußstapfen ihres gewesenen Meisters bleiben, sondern eine neue Religion stiften, welche beides Juden und Heyden gerecht wäre.“ (Reimarus 1972, II, S. 307). Vgl. hierzu auch Stemmer 1983, S. 162 ff.

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also mit den Mitteln der historisch-kritischen Hermeneutik¹⁸ aus den Evangelien zu extrahieren sucht, ist eine von apostolischen und levitischen Zusätzen bereinigte, vernünftige Religion, die er darum auch als „praktische Religion“ bezeichnet. Eine „authentische“ Auslegung im kantischen Sinne verfolgt Reimarus damit nicht, da diese in erster Linie „dem Sinne des Verfassers […] angemessen sein“ (SF, AA 07: 66) muss. Der Sinn eines Verfassers interessiert Reimarus aber nur dann, wenn er auch vernünftig ist. Schlussendlich wird daher auch die Frage, ob sich diese „praktische Religion“ auch als „Geist“ der Evangelien bezeichnen lässt, letztendlich zu einem Streit über Worte führen; in jedem Fall ist mit dem oben Gesagten aber behauptet, dass das von unvernünftigen Zusätzen (wie etwa der angeblichen Auferstehung Jesu) entkleidete Neue Testament – anders als das Alte Testament – eine natürliche Religionslehre enthält. Dass Jesus zwei Lehren predigte, lag, so Reimarus, daran, dass er die Absicht hegte, „ein Messias der Juden zu werden“ (Reimarus 1972, II, S. 176). Damit verlieh er seinen Verdiensten in Bezug auf die allgemeine, praktische und vernünftige¹⁹ Religion einen „schwartzen Anstrich“ (Reimarus 1972, II, S. 148). Denn in den Evangelien sieht Reimarus keine Hinweise darauf, dass Jesus tatsächlich göttlicher Abstammung gewesen sein könnte: Die von ihm gewirkten Wunder bieten sich für betrügerische Effekthascherei geradezu an (jeder beliebige Komplize kann sich taub, blind, lahm oder wahnsinnig stellen²⁰) und er weigert sich zudem, den Hohepriestern seine göttliche Abstammung durch das Wirken von weiteren Wundern zu beweisen. Auch mit Johannes sei er eine Komplizenschaft eingegangen, damit „sie sich einander vor dem Volke groß“ Reimarus 1972, II, S. 148) machen und sich Jünger zuschanzen konnten. Sein eigentliches Ziel, ein Himmelreich auf Erden zu errichten und die Juden aus der Unterdrückung zu befreien, schlug offensichtlich fehl, sodass die Apostel in Erklärungsnot gerieten. Die eigentliche Pointe dieses Gedankens besteht also darin, dass Jesus selbst Schuld an der Entstellung seiner Lehre durch die Apostel trägt, was schlussendlich in der oben angesprochenen Unterscheidung zwischen einem „ursprünglichen“ und einem „apostolischen“ Christentum resultiert. Dies begründet Reimarus wie folgt: Jesus überzeugte seine Jünger davon, dass er der im alten Testament²¹ verkündete Messias sei. Die alttestamentarischen Propheten verstanden unter jenem Messias einen „Fürst[en]“

18 Reimarus selbst schreibt zu seiner Methodik: „Die gantze Theologia positiva ist historisch und Exegetisch. Es kommt auf rem facti an, was die Stifter einer neuen Sekte gesagt und geschrieben haben, und wie ihre Worte zu verstehen sind.“ (Reimarus 1972, II, S. 21) „Unsere Herrn Theologi aber kehren sich an keine historische, critische und exegetische Regeln“ (ebd., S. 24) 19 Vgl. Reimarus 1972, II, S. 173 20 Vgl. Reimarus 1972, II, S. 175 21 Vgl. Dan 9:25

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(Reimarus 1972, II, S. 148), der kommt, das Volk Israel zu einen und aus der Unterdrückung zu befreien.²² Mit dem Kreuztod Jesu zerschlug sich allerdings die Hoffnung auf ein von ihm gestiftetes Himmelreich auf Erden ²³ – „das letzte, was noch in aller Leute Gedächtnis und Vorstellung schwebte, war, daß er als ein von Gott verlassener am Kreutze gestorben, und daß seine bey Lebzeiten damaliger Generation und Umherstehenden versprochene Wiederkunft vom Himmel bisher ausgeblieben sei“ (Reimarus 1972, II, S. 432). Daher transzendierten die Apostel gewissermaßen ihre enttäuschte Erwartung und machten aus Jesus einen geistigen Erlöser, einen Regenten eines jenseitigen Reiches. Um diese neue Theorie hoffähig zu machen, schreckten sie nicht davor zurück, die Auferstehung Jesu zu fingieren (woraus sich dann auch erklärt, dass sich Jesus nach seiner Auferstehung niemandem außer eben denjenigen zeigte, die dieses neue System erdacht hatten.²⁴) Wenig überraschend, wird die vernünftige Prüfung dieses neuen, „apostolischen Christentums“ (Reimarus 1972, II, S. 346) ergeben, dass es „vom Anfange bis zum Ende auf lauter falschen Sätzen beruht“ (Reimarus 1972, II, S. 346). Von der Wolff’schen Vorstellung einer Identität von Vernunft und Offenbarung²⁵ hatte sich Reimarus damit vollständig emanzipiert. Vielmehr nimmt sein Gedanke, dass die Bibel nicht in sich selbst begründet ist, sondern einer Prüfung durch die Vernunft

22 Vgl. Hes 11:16–20 23 Vgl. z. B. Mt 10:7; Joh 1:51 – Dass Jesus eine weltliche Herrschaft anstrebte, wird von Kant mit dem Argument bestritten, dass Jesus (anlässlich des letzten Abendmahls) seine Jünger anwies, seinem Vorbild zu folgen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass ihm eine weltliche Regentschaft versagt bleiben wird. Vgl. hierzu auch RGV, AA 06:81 Anm. 24 Vgl hierzu Reimarus 1972, II, S. 179 ff. 25 Für Wolff, der eine äußerst umfangreiche natürliche Religionslehre verfasste, stellten die biblischen Bücher – und nicht die Vernunft – die höchste Autorität dar. In seiner zweibändigen Abhandlung über die Natürliche Gottesgelahrtheit schreibt er: „Die natürliche Gottesgelahrtheit dienet dazu, die Göttlichkeit der heiligen Schrift zu erweisen“ (Wolff 1995, XXIII.I, S. 30). Nun ist jedoch die natürliche Religion für Wolff keine Propädeutik der positiven, christlichen Religion; vielmehr besteht ein Verhältnis der vollständigen Übereinstimmung: Gerade der Umstand, dass sich die biblischen Bücher – wie Wolff meint – rational vollständig durchdringen lassen und insofern das geoffenbarte Gegenstück der natürlichen Religion darstellen, ist ein Beweis ihrer göttlichen Abkunft. Hierzu noch ein weiteres Zitat: „Denn diese Übereinstimmung weiset uns darauf, die Vernunft und Offenbarung habe einerley Verfasser, nemlich Gott, davon die Vernunft selbst zu erkennen giebt, daß er der Urheber der Vernunft seye.“ (Wolff 1995, XXIII.I, S. 18). Allerdings ging Wolff – dem Grundsatz der Kongruenz von Vernunft und Offenbarung (scheinbar) zum Trotz – auch von suprarationalen Offenbarungswahrheiten aus; ein Beispiel hierfür ist etwa das Dogma bzw. das „Geheimnis“ der Satisfaktion. Dieses sei, so Wolff, theoretisch nicht beweisbar, aber dennoch praktisch notwendig und insofern der Kritik enthoben, vgl. hierzu Gawlick 1983, S. 143

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unterzogen werden muss,²⁶ bereits einen wichtigen Grundsatz der kantischen Religionsphilosophie vorweg. Wenngleich Kant nicht zwischen zwei verschiedenen Lehren Jesu unterscheidet und wenn er auch nicht annimmt, dass Jesus ex post zum Gottessohn hochstilisiert wurde, so hallt Reimarus‘ profanisierende Lesart auch in der Religionsschrift nach. Kants Jesus ist kein Engel, ja nicht einmal ein Heiliger ²⁷, sondern ein von Neigungen affiziertes Wesen, das sich allerdings durch maximale Tugend auszeichnet: Den gleichen Verlockungen ausgesetzt wie jeder andere Mensch, handelte er immer und ausnahmslos – sofern man „keine Beweise des Gegentheils hat“ (RGV, AA 06: 66) – aus Pflichtbewusstsein, was als die größte menschenmögliche Annäherung an das Ideal der Heiligkeit verstanden werden kann. Wäre dem anders, so könnte er nicht „mehr zum Beispiel aufgestellt werden“ (RGV, AA 06: 64). Er ist ein „göttlich gesinnte[r], aber ganz eigentlich menschliche[r] Lehrer“ (RGV, AA 06: 65), dessen Leistung darin besteht, „eine reine, aller Welt faßliche (natürliche) und eindringende Religion“ (RGV, AA 06: 158) vorgetragen zu haben. Fragt man zuletzt nach der Gestalt dieser natürlichen, von Jesus gelehrten Religion, so ist sie, wiederum Reimarus zufolge, als eine „thätige“ (Reimarus 1972, II, S. 28) zu kennzeichnen, in der eine „theoretische Erkenntnis von Gott“ (Reimarus 1972, II, S. 28)²⁸ allenfalls untergeordnete Bedeutung besitzt: „alles ist praktisch“ (Reimarus 1972, II, S. 29).²⁹ Die beiden praktischen Grundsätze, auf denen sie beruht und deren „Haupt-Triebfeder“ (Reimarus 1972, II, S. 29) die Liebe ist, lauten: Liebe Gott von ganzem Herzen und liebe deinen nächsten wie dich selbst.³⁰ Zu exakt demselben Ergebnis gelangt schlussendlich auch Kant, der schreibt: Endlich faßt er [sc. Jesus] alle Pflichten 1) in einer a l l g e m e i n e n Regel zusammen […], nämlich […] liebe Gott (den Gesetzgeber aller Pflichten) über alles, 2) einer b e s o n d e r e n Regel, nämlich […] liebe einen jeden als dich selbst […]. (RGV, AA 06: 160)

26 Diese Prüfung fällt insbesondere für die Bücher des alten Testaments ernüchternd aus: Im ersten Band der Apologie wird „ausführlich gezeigt, warum es denkenden Menschen, nach dem ersten Grundsatze des Wiederspruchs, unmöglich falle, die Schriften der Hebräer vor Christo, und deren Inhalt für eine göttliche übernatürliche Offenbarung einer seligmachenden Religion zu halten.“ (Reimarus 1972, I, S. 813) 27 Vgl. RGV, AA 06: 64 28 Auch Kant insistiert darauf, dass die „natürliche Religion […] wenig theoretisches Vernunftvermögen voraussetzt“ (RGV, AA 06: 157) 29 Kant übt scharfe Kritik an denjenigen, die „ihr Religionsprinzip allein in der Frömmigkeit“ (RGV, AA 06: 184 Anm.) sehen, weil sie eben nicht tätig sind, sondern, „in beständiger Ängstlichkeit“ (ebd.) verharrend, bloß passiv auf eine „Gottseligkeit“ (ebd.) warten. 30 Vgl. Reimarus 1972, II, S. 30

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Lessing schließlich, durch Reimarus’ Manuskripte und durch die ihnen anhängende Kontroverse selbst zu verschiedenen historisch-kritischen Untersuchungen angeregt,³¹ beschreitet allerdings einen abweichenden Weg. An die Stelle der „saubere[n], kalte[n], trockene[n] Philologie“ (Schmidt-Biggemann 1998, S. 36) tritt bei ihm eine freiere Haltung zu den biblischen Texten, die sich in den „Antifragmenten“ durch folgende Worte ausgedrückt findet: „Kurz: der Buchstabe ist nicht der Geist; und die Bibel ist nicht die Religion. Folglich sind Einwürfe gegen den Buchstaben, und gegen die Bibel, nicht eben auch Einwürfe gegen den Geist und gegen die Religion“ (Lessing 1954,VII, S. 813). Mit dieser Unterscheidung knüpft nun auch Lessing an den ebenfalls zwischen „mens“ und „litera“³² trennenden Spinoza an und reiht sich damit in eine Auslegungstradition ein, die über Luther, Augustinus und Origenes, wie eingangs erwähnt, bis zur Bibel³³ zurückreicht³⁴ und die, wenn schon nicht ausführlich diskutiert, so doch wenigstens skizzenhaft erläutert werden soll, weil sie insbesondere zum Verständnis von Lessings schwer greifbarer Hermeneutik beiträgt. Denn wie sich noch zeigen wird, lehnt Lessing die in seiner Zeit geläufige Annahme einer Dualität von Vernunft und Offenbarung ab: Weder ist er der Auffassung, dass die Schrift sich selbst auslegt (wie bei Luther), noch ist bloße Vernunft ihre oberste Auslegerin (wie bei Reimarus und Kant); Vernunft und Schrift sind weder Kongruent (wie Wolff meinte), noch macht eine allein aus der Vernunft zu schöpfende natürliche Religion alle Offenbarung überflüssig (so Reimarus). Klar ist nur, dass es Lessing um den „Geist“, nicht um den „Buchstaben“ geht – doch was soll das heißen, wenn man nicht einer trivialen Gleichsetzung von „Geist“ mit „Vernunft“ folgen möchte, um daraus eine Vernunftreligion abzuleiten, wie sie

31 So verfasst er etwa im Winter 1777/78 die kurze Schrift „Neue Hypothese über die Evangelisten, als bloss menschliche Geschichtsschreiber betrachtet“, in welcher er die Theorie eines „Ur-Evangeliums“ aufstellt und zu begründen versucht: „Denn wir dürfen uns nur erinnern, von wem sich das Evangelium der Nazarener eigentlich herschrieb. Von lauter Leuten, die persönlichen Umgang mit Christo gehabt hatten […]“ (Lessing 1954, XIII, S. 129), zur Entstehungsgeschichte der Schrift vgl. ebd., S. 637. 32 Die entsprechende Stelle im Originaltext lautet wie folgt: „[…] et profecto non satis mirari possum, quod rationem, donum maximum et lucem divinam mortuis literis et quae humana malitia depravari potuerunt, submittere velint, et quod nullum existimetur scelus, contra mentem, verum Dei verbi syngraphum , indigne loqui, eamque corruptam, caecam et perditam statuere, at maximum habeatur scelus, alia de litera et verbi Dei idolo cogitare. „ 33 Vgl. 2. Kor 3:6 34 Zur Geschichte der Textauslegung, die, wie manche meinen, als selbstständige Disziplin erst 1567 mit Flacius Illyricus’ Clavis scripturae sacrae auftritt, vgl. Leiner 1997, S. 471 ff., zur Hermeneutik Luthers vgl. Ebeling 1951, S. 182 und Schilson 1980, S. 23 f.

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Reimarus (und später Kant³⁵) projektiert? Denn anders als Reimarus, der (zusammen mit Spinoza) mit seiner Ineinssetzung von hermeneutica sacra und hermeneutica profana durchaus als Vorreiter³⁶ der modernen, historisch-kritisch verfahrenden Hermeneutik gelten kann, wird man Lessing, der Reimarus vorwirft, „nur den tötenden Buchstaben ins Auge“ (Stengel 2013, S. 64)³⁷ gefasst zu haben, nur gerecht, wenn man die reformatorische Auslegungstradition mit berücksichtigt. Aus zahlreichen, noch in den Blick zu nehmenden Äußerungen Lessings geht hervor, dass er der beschriebenen Gleichsetzung von „Vernunft“ und „Geist“ gerade nicht folgt, sondern Wahrheiten annimmt, die über die Vernunft hinausgehen und die in Ansehung ihres Ursprungs überhaupt nicht auf diese verweisen. So kennt auch die noch von dem frühen Luther gepflegte Auslegung der Bibel nach dem vierfachen Schriftsinn³⁸ einen geistlichen Sinn, den „der eigentliche Urheber der Schrift, der heilige Geist, selbst mit hineingelegt hatte“ (Holl 1921, S. 416). Es kann als Verdienst Luthers gelten, den vierfachen Schriftsinn überwunden und auf das grundsätzliche Verhältnis zwischen Geist und Buchstabe zurückgeführt zu haben.³⁹ Die Auslegung nach dem geistlichen Sinn stellt allerdings keine gleichsam mechanische Anwendung einer bestimmten Methode dar, sondern setzt eine Empfäng-

35 Für Kant dienen Offenbarungstexte, allgemein gesprochen, dazu,Vernunftbegriffe (die als solche keinerlei anschaulichen Gehalt besitzen) zu illustrieren, genauer: Symbolisch darzustellen. Das heißt, dass diese Texte nicht als etwas zu verwerfendes anzusehen sind, wohl aber als etwas, das keinen eigenen Quell von Normen darstellt. 36 Eine hermeneutica generalis, die nicht zwischen sakralen und profanen Texten unterscheidet, konzipiert auch Wolff im siebten Kapitel der Lateinischen Logik (und andernorts, etwa in den Horae subsecivae Marburgenses). Anders als Reimarus ist Wolff jedoch bestrebt, durch die Anwendung der Demonstrativen Methode die Autorintention zu erfassen, d. h. seine Auslegung ist eben authentisch und nicht historisch-kritisch. 37 Zu 2. Kor. 3:6 vgl. Stengel 2014, S. 64; Stengel 2016, S. 61, ebd. S. 74 38 Namentlich handelt es sich hierbei um den buchstäblichen, den tropologischen (bzw. moralischen) und den anagogischen (bzw. „geistlichen“) Schriftsinn.Vgl hierzu Holl 1921, S. 415 und Ebeling 1951, S. 175; ebd., S. 181 f. 39 Vgl. Holl 1921, S. 434 ff. Ebeling 1951, S. 200 ff. präzisiert Luthers hermeneutischen Dualismus von Geist und Buchstabe dahingehend, dass er ein aus dem christologischen Verständnis der Bibel gewonnener ist. Es ist das Wort bzw. der Buchstabe, der den Zugang zu Christus eröffnet. Und weil die „Heilige[] Schrift […] Zeugnis von Christus ist“ (ebd., S. 202), verweist speziell ihr Buchstabe auf einen geistigen Sinn, genauer: Dieser ist in jenem verborgen. Anders formuliert: Geist und Buchstabe verweisen wechselseitig auf einander, insofern der hinter dem Buchstaben liegende Geist zugleich das hermeneutische Schema für die Deutung des Buchstabens an die Hand gibt. Dementsprechend besteht ein ähnliches Verhältnis zwischen altem und neuem Testament: Christus macht aus dem (mosaischen) Gesetz (dem Buchstaben) das Evangelium (den Geist). Die mosaischen Gesetze sind wiederum nur für den vom Evangelium Kommenden mit Geist zu füllen. Zu diesem Beziehungsgeflecht vgl. auch Ebelings Ausführungen auf den S. 209 ff.

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lichkeit des Auslegenden für den geistigen Sinn voraus.⁴⁰ Empfänglich ist, wer die Selbstliebe aufgibt und sich allein Gott unterwirft – so spricht Luther in Bezug auf eine Bibelstelle etwa davon, dass man, um „hic versum istum bene saperet“⁴¹, „animam Bernandi“, also die Seele des heiligen Bernhard haben müsste. Wenngleich man Lessing nicht in die Nähe derartiger Überlegungen wird stellen können, so stimmt seine Hermeneutik mit derjenigen Luthers zumindest darin überein, dass Unstimmigkeiten in Bezug auf den Wortlaut, d. h. den Buchstaben der biblischen Texte nicht notwendig gegen die Bibel selbst sprechen (diese Auffassung vertritt Reimarus), sondern auf einen Geist verweisen, dessen „Inhalt über das gemeine menschliche Verstehen hinausreicht“ (Holl 1921, S. 435). Ähnlichkeiten zwischen beiden bestehen auch in Bezug auf die in Lessings Erziehungsschrift zu findende und für die Epoche der Aufklärung typische geschichtsteleologische Reflexion über eine „Entwicklung“ vom Judentum über das Christentum hin zu einer Vernunftreligion (und, dieser Entwicklung entsprechend, eine Abwertung des Alten und eine Aufwertung des Neuen Testaments). Ausgehend von der eigentlich trivialen Feststellung, dass gar nicht alle Gebote des Dekalogs für Christen gelten (namentlich sind sie nicht verbunden, den Sabbat zu heiligen, so wie es das vierte Gebot vorschreibt), schloss Luther, „daß Moses nichts anderes ist denn der Juden Sachsenspiegel“ (Holl 1921, S. 429), oder noch deutlicher: „In lege Mosi neque verbum neque opus bonum est“ (z.n. Ebeling 1951, S. 211) – eine Einschätzung, die sich noch bei Kant findet, wenn er in der Religionsschrift die mosaische Gesetzgebung zum Inbegriff statutarischen, d. h. kontingenten und nicht vernunftursprünglichen Rechts hochstilisiert.⁴² Während Luthers Aufwertung des neuen Testaments letztlich in seiner christozentrischen Auslegung resultiert (dergemäß auch das alte Testament als auf Jesus verweisend interpretiert wird⁴³), ist die kantische Auslegung im Wesentlichen eine symbolische, insofern in ihr die biblischen Erzählungen mit praktischen Vernunftideen zusammengehalten und verglichen werden.⁴⁴ Unterschieden

40 „Nur der vom Heiligen Geist Erleuchtete, nur der Glaubende kann die Schrift verstehen und auslegen“ (Ebeling 1951, S. 205). Vgl. auch Stengel 2016, S. 50 und Leiner 1997, S. 478 f. 41 Z.n. Holl 1921, Anm. 1 42 Vgl. etwa RGV, AA 06: 162 43 Eine von dieser Auslegungstradition anhängenden Interpreten gerne herangezogene Bibelstelle ist der Sündenfall: Bereits in der Ursünde ist die Notwendigkeit der stellvertretenden Genugtuung durch den Tod Jesu angelegt. Da Gott unendlich ist, ist auch die Ursünde unendlich, d. h. ein endliches Wesen kann nicht für sie büßen. Gott muss daher selbst für die Sünde büßen, indem er in seiner unendlichen Liebe zum Menschen seinen Sohn gibt. Für Reimarus ist die christologische Auslegung ein beständiger Stein des Anstoßes. 44 Diesbezüglich lässt sich wieder auf Reimarus zurückverweisen, der schrieb, dass die Religion „um des Volks Willen […] in allerley Bilder und Ceremonien eingekleidet werden müsse“ (Reimarus

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sind Luther und Lessing aber darin, dass für Luther im Laufe der Zeit „der buchstäbliche und der geistliche Sinn innerlich aneinander“ (Holl 1921, S. 417) rückte, während Lessing den Geist gerade jenseits des Buchstabens sucht bzw. die die buchstäbliche Auslegung zu überwinden sucht. Zudem geht er – ganz anders als Luther – davon aus, dass die Gestalt (und nur diese!), in die die biblischen Erzählungen eingekleidet sind, kontingent ist: Immer wieder weist er auf die Praxis der mündlichen Tradierung testimonialen Wissens in den frühen nachchristlichen Jahrhunderten hin, um dem Leser klar zu machen, dass die biblischen Bücher nichts anderes als schriftliche Fixierungen dieser Kette von Überlieferungen darstellen.⁴⁵ Zu für die Theologie eminent wichtigen Themen wie der Verbalinspiration nimmt Lessing daher eine ambivalente Haltung ein. Um es auf eine Formel zu bringen: Für Lessing liegt der Geist nicht hinter dem Buchstaben; er ist vielmehr von diesem unabhängig – aus diesem Grund ist es für ihn so wichtig, dass das Urchristentum des (geschriebenen) Buchstabens überhaupt nicht bedurfte. Es ist, wie Schilson (1980, S. 73) schreibt, „die Vernunft das eigentliche Organ für das Vernehmen göttlicher Wahrheit“ und ebendiese Wahrheit ist es, was Lessing unter Geist versteht. Präzise ist Schilsons Formulierung auch deswegen, weil sie berücksichtigt, dass vernehmen etwas anderes als verstehen ist: Man kann auch hier eine Parallele zwischen Lessing und Luther herstellen, die darin besteht, dass beider Verständnis auf einen Sinn verweist, der mystisch ist⁴⁶ – Lessing spricht in diesem Zusammenhang etwa davon, dass die Bibel uns ein „Rätsel“ aufgibt oder uns zu Wahrheiten führt, die selbst keinen vernunftursprünglichen Charakter haben. Unter Bezugnahme auf die vorangegangenen Ausführungen zur reformatorischen Hermeneutik soll nun Lessings Begriff des Geistes vor allem anhand seiner religionsphilosophischen Texte rekonstruiert werden, doch zunächst dürfte es lohnend sein, zu erläutern, was er unter „Buchstabe“ versteht. Das, was Lessing nun den „Buchstaben“ nennt, ist der historische Bericht eines Ereignisses, welcher seinerseits noch einmal von dem Ereignis selbst zu unter-

1972, I, S. 278). Dies entspricht exakt der Auffassung Kants, nämlich, dass Menschen „zu den höchsten Vernunftbegriffen […] immer etwas Sinnlichhaltbares“ (RGV, AA 06: 109) benötigen. 45 Obgleich Lessings Begriff des Geistes – der eben einen Geist bezeichnet, der nicht die Vernunft selbst ist – gewisse Ähnlichkeiten mit der Funktion des heiligen Geistes in der reformatorischen Schriftauslegung besitzt, so steht Lessing zumindest in diesem Punkt in direkter Opposition zu Luther, der, anders als seine Gegner und auch anders als seine eigenen Anhänger, darauf beharrte, dass der Geist niemals ohne die Schrift wirken könne. Vgl. hierzu die erwähnte Schrift Lessings „Neue Hypothese über die Evangelisten, als bloss menschliche Geschichtsschreiber betrachtet“, Goeze 1778, S. 127 sowie Stengel 2016, S. 120 46 „Alles geistliche Verständnis ist allerdings zugleich „mystisch“, sofern es einen über das bloße Wortverständnis hinausgehenden inneren Sinn ausdrückt“ (Holl 1921, S. 426). Vgl hierzu auch Schilson 1980, S. 84

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scheiden ist: Denn obwohl er einräumt, dass die Evangelien offene Widersprüche enthalten und obwohl er damit die Lehre der Inspiration bzw. Theopneustie zumindest kritisch beäugt⁴⁷, lehnt er die von Reimarus gezogenen Folgerungen⁴⁸ ab: „Wenn Livius und Polybius und Dionysus und Tacitus eben dieselbe Eräugnung, etwa eben dasselbe Treffen, eben dieselbe Belagerung, jeder mit so verschiedenen Umständen erzählen, daß die Umstände des einen die Umstände des anderen völlig Lügen strafen: hat man darum jemals die Eräugnung selbst, in welcher sie übereinstimmen, geleugnet?“ (Lessing 1954, VIII, S. 29). An der „Eräugnung selbst“ nahmen jedoch nur einige wenige der Zeitgenossen Jesu teil; alle nachfolgenden Generationen müssen sich auf Berichte, d. h. vor allem auf die kanonischen und nicht kanonischen Evangelien⁴⁹ stützen, die aber allesamt unzuverlässig sind. Dies sei jedoch, wie Lessing weiter ausführt, überhaupt kein Problem, weil die Faktizität der gewirkten Wunder und auch die Faktizität der Wiederauferstehung Jesu für die Nachwelt schlichtweg irrelevant sind:⁵⁰ „Die Wunder, die Christus und seine Jünger taten, waren das Gerüste, und nicht der Bau. Das Gerüste wird abgerissen, sobald der Bau vollendet ist“ (Lessing 1954, VIII, S. 36)⁵¹. Ein Offenbarungsdokument zeichnet sich also, was nach dem Vorangegangenen klar geworden sein dürfte, durch seinen Geist aus und nicht dadurch, dass es als eine zuverlässige Quelle für historische Nachforschungen dient. Da nun aber Lessing, anders etwa als Kant, unter„Geist“ nicht den Inbegriff praktischer Vernunftwahrheiten versteht, sondern diesem einen Sinn zuschreibt, der mitunter „mystisch“ sein kann, wird hier zwischen zwei weiteren Arten von Wahrheiten zu unterscheiden ein, die im Folgenden als extrarational und als suprarational bezeichnet werden sollen. Ebensolche extrarationalen Wahrheiten scheint Lessing im Sinn zu haben, wenn er, wie gesehen, einräumt, dass es um die historische Wahrheit von Offenbarungstexten „mißlich“ (Lessing 1954, VIII, S. 610) bestellt ist, gleichzeitig aber auch betont, dass deren Aufgabe vielmehr darin besteht, uns beispielsweise auf „nähere und bessere Be-

47 Auf den Seiten 33 f. (Lessing 1954, VIII) strebt Lessing dennoch den Nachweis an, dass selbst eine faktische Inspiration nicht in vollkommen übereinstimmenden Evangelien resultieren muss. Vollkommene Übereinstimmung sei nämlich nur möglich durch Allwissenheit, doch „daß der Antrieb des h. Geistes die Evangelisten allwissend gemacht habe“ (ebd.), das hat sich auch noch „kein Orthodox einfallen lassen“ (ebd.). 48 „Ich gab den Vordersatz zu; und leugnete die Folge“ (Lessing 1954, VIII, S. 28) 49 Reimarus zählt deren 40 (vgl. Reimarus 1972, II, S. 529). 50 Die Facta selbst sind, so Lessing, „nur die leichte christliche Spreu“ (Lessing 1954, VIII, S. 221). 51 Eine Einschätzung, die derjenigen Kants nicht gleich, aber zumindest ähnlich ist: So können wir sie [sc. die Wunder Jesu] insgesamt auf ihrem Werte beruhen lassen, ja auch die Hülle noch ehren, welche gedient hat, eine Lehre, deren Beglaubigung auf einer Urkunde beruht, die unauslöschlich in jeder Seele aufbehalten ist und keiner Wunder bedarf, öffentlich in Gang zu bringen […].“ (RGV, AA 06: 85)

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griffe vom göttlichen Wesen“ (Lessing 1954, VIII. S. 610) zu leiten, auf die – und dies ist das entscheidende – „menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“ (Lessing 1954, VIII, S. 611). In kantische Diktion übersetzt, hieße das, dass die Möglichkeit einer Idee nicht in der Vernunft selbst liegt, sondern äußerlich bewirkt ist. Was dabei mit „näheren“ und „besseren“ Begriffen von Gott gemeint sein soll, erläutert Lessing zunächst an der Lehre von der Dreieinigkeit. Diese – im neuen Testament zumindest andeutungsweise enthaltene – Lehre sei ein der menschlichen Reflexion aufgegebenes Rätsel, durch welches der menschliche Verstand, „nach unendlichen Verirrungen“ (Lessing 1954, VIII, S. 609) zuletzt begreifen lernen soll, dass die Singularität Gottes von fundamental anderer Beschaffenheit als die Singularität eines „endliche[n] Dinge[s]“ (Lessing 1954,VIII, S. 609) sei.⁵² Ein anderes dieser nicht vernunftursprünglichen „Geheimnis[se]“ (Lessing 1954, VIII, S. 609) stellt die Lehre von der stellvertretenden Genugtuung durch den Kreuztod Jesu dar. In dieser ist nicht die Hinrichtung des Unruhestifters Jesus von Nazareth thematisch, sondern die Frage, warum Gott einem unvollkommenen Wesen wie dem Menschen „moralische Gesetze“ (Lessing,VIII, S. 609) gab. Des Rätsels Lösung dürfte Lessing von Leibniz entnommen haben, der in seiner Theodizee den Römerbrief paraphrasiert und kommentiert: „Bedenken mögen wir auch, daß wir Jesum Christum erst durch die Sünde erlangt haben!“ (Leibniz 1968, S. 103). Und da die Sünde das moralische Gesetz zwingend voraussetzt, ist „eine Verkettung von Dingen, in welchen die Sünde einbegriffen ist, besser […] als eine Verkettung ohne die Sünde“ (Leibniz 1968, S. 103). Besser ist diese Verkettung deswegen, weil eine Welt, der ein moralisches Gesetz gegeben ist, trotz der mit diesem Gesetz zwangsweise einhergehenden moralischen Übel vollkommener ist als eine Welt, in der alle Wesen unfrei sind.⁵³ Diejenigen Wahrheiten nun, die der endliche Geist nicht zu erfassen vermag und die darum als suprarational bezeichnet wurden, spricht Lessing an, wenn er das Verhältnis von Vernunft und Offenbarung folgendermaßen beschreibt: „So muß es der Vernunft eher noch ein Beweis mehr für die Wahrheit derselben [sc. der Offenbarung], als ein Einwurf darwider sein, wenn sie Dinge darin findet, die ihren Begriff übersteigen“ (Lessing 1954, VII, S. 817). Ganz ähnlich unterscheidet er in einem erst 1780 entstandenen Fragment,⁵⁴ welches den Titel „Die Religion Christi“ trägt, zwischen der „Religion Christi“ und der „christliche[n] Religion“ (Lessing 1954, VIII, S. 538). Die Religion Christi stellt Jesus, vereinfacht ausgedrückt, als einen Menschen vor, dessen mustergültiger Lebenswandel für jedermann zur Nachahmung empfohlen wird. Die christliche Religion dagegen nimmt 52 Zur Stellung Luthers zum Begriff der Trinität vgl. Stengel 2016, S. 79. 53 Vgl. hierzu Leibniz 1968, S. 101 f.; zu Kants (von Leibniz und Lessing abweichender) Interpretation der stellvertretenden Genugtuung vgl. RGV, AA 06: 64 Anm. 54 Vgl. Lessing 1954, VIII, S. 646; Schilson 1980, S. 90 ff.

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dagegen an, dass Jesus „mehr als [ein] Mensch“ (Lessing 1954, VIII, S. 538) gewesen sei und macht ihn dementsprechend nicht zum Vorbild, sondern zum Gegenstand der „Verehrung“ (Lessing 1954, VIII, S. 538). Wie diese beiden Lehren in einer Person zusammen bestehen können, sei „unbegreiflich“ (Lessing, VIII, S. 538) oder, um einen zuvor bereits verwendeten Begriff erneut zu gebrauchen, ein Mysterium. Speziell diese Amalgamierung von Vernünftigem und Über- oder schlicht Unvernünftigem lehnt Kant ab, indem er die Annahme, man könne „zwei Religionen in einer Person haben“ (RGV, AA 06: 13) als „ungereimt“ (RGV, AA 06: 13) abtut. In Anbetracht des bisher Ausgeführten erscheinen nun auch die auf den ersten Blick religions- und offenbarungskritischen Äußerungen Lessings in einem neuen Licht. Entscheidend ist, dass Lessing einen anderen Begriff von „Vernunftreligion“ besitzt als die englischen Deisten, als Wolff, dessen Anhänger oder letztlich auch Kant. Was ihn von diesen unterscheidet, ist, dass er eine Religion aus bloßer und insbesondere ungeschichtlicher ⁵⁵ Vernunft, d. h. ohne Zuhilfenahme aller Erfahrung, nicht für möglich hält. Eine Vernunftreligion muss vielmehr aus der bzw. den positiven Religion(en) heraus erwachsen. Daraus erklärt sich auch, warum der Geist dieser Religion Wahrheiten und Begriffe enthält, auf die „menschliche Vernunft von selbst nimmermehr gekommen wäre“ (Lessing 1954, VIII, S. 611). Die Ausbildung geoffenbarter Wahrheiten in Vernunftwahrheiten ist schlechterdings notwendig, wenn dem menschlichen Geschlechte damit geholfen sein soll. Als sie geoffenbaret wurden, waren sie freilich noch keine Vernunftwahrheiten, aber sie wurden geoffenbaret, um es zu werden. Sie waren gleichsam das Fazit, welches der Rechenmeister seinen Schülern voraus sagt, damit sie sich im Rechnen einigermaßen darnach richten können. Wollten sich die Schüler an dem voraus gesagten Facit begnügen: so würden sie nie rechnen lernen, und die Absicht, in welcher der gute Meister ihnen bei ihrer Arbeit einen Leitfaden gab, schlecht erfüllen (Lessing 1954, VIII, S. 76; herv. S.A.)

Der Schüler, der sich nicht selbst zum Lehrer erziehen kann – dieses Motiv ist der Schlüssel zum Verständnis von Lessings Erziehungsschrift. Dem scheinbar widersprechende Aussagen wie die, dass „Offenbarung dem Menschengeschlechte nichts [gibt], worauf die menschliche Vernunft, sich selbst überlassen, nicht auch kommen würde“ (Lessing 1954, VIII, S. 42) sind in dem Sinne korrekt, wie man auch sagen kann, dass sich ein Schüler ohne Vorkenntnisse im Alleingang und durch bloßes Nachdenken die gesamte Mathematik von Archimedes über Leibniz bis zu Gödel herleiten könne – alles, was er dazu benötigt, liegt in seiner Vernunft bereit. Schlussendlich sei aber auch noch angemerkt, dass der vorliegende Versuch, einige von Lessings Gedanken zum Umgang mit sakralen Texten zu ordnen und in Zusammenhang zu bringen, nicht dem Ziel dient, die Widersprüche und Unstimmig55 S. hierzu Schilson 1980, S. 40 ff.; ebd. S. 68 ff.

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keiten, die sein Werk durchziehen, einzuebnen. So ist beispielsweise die „Erziehung des Menschengeschlechts“ als eine für die Aufklärung typische geschichtsteleologische Reflexion zu lesen, welche eine sukzessive Transformation der positiven Religionen in eine Vernunftreligion beschreibt. In den „Gedanken über die Herrenhuter“ findet sich nun aber eine völlig konträre Auffassung: „Wie einfach, leicht und lebendig war die Religion des Adams?“ (Lessing 1954, VII, S. 189) fragt Lessing und führt anschließend aus, dass die Absichten Jesu nicht – wie in der Erziehungsschrift – dahin gingen, die Menschheit von dem Knaben- ins Erwachsenenalter zu führen, sondern „die Religion [d. h. die Religion Adams, S.A.] in ihrer Lauterkeit wieder herzustellen“ (Lessing 1954, VII, S. 190). Einmal ist Jesus ein Lehrer (Lessing 1954,VII, S. 190), einmal – im Rahmen des Trinitätsdogmas – „von Gott nicht zu unterscheiden“ (Lessing 1954, VII, S. 198). Konstant ist in Lessings Denken hingegen die Betonung des Praktischen (hier stimmt er mit Reimarus und Kant überein) sowie durch die Charakterisierung des Prozesses der Wahrheitsfindung als ein unendliches Streben. Die (dem Rationalismus nahestehende) Auffassung, man könne Wahrheiten aufsuchen, um sie fortan unverlierbar zu besitzen, hält er nicht bloß für unrealistisch, sie sei darüber hinaus nicht einmal wünschenswert: Der – bloß hypothetisch angenommene – „Besitz“ von Wahrheiten müsse „ruhig, träge [und] stolz“ (Lessing 1954, VIII, S. 27) machen. Und mit seiner unkonventionellen These von einem mündlichen, nicht auf der Bibel beruhenden Christentum, das jedoch auch mehr als eine bloße Vernunftreligion ist, steht er in direkter Opposition zu Goeze, der hierzu schreibt: Ich gestehe es zu, daß das Gegentheil hätte stat haben können, wenn Gott alle 20 oder 30 Jahre, wenigstens unter zehen Menschen einen dargestellet hätte, der aus unmittelbarer Eingebung des heil. Geistes dasjenige mündlich wieder erzählt hätte, was Jesus auf Erden gethan und gelehret hat, und die Wahrheit seiner Nachrichten durch Wunderwerke bestätiget hätte. Da aber Gott dieses Weg nicht erwählt hat, die Nachrichten von den Lehren und Thaten Jesu fortzupflanzen und unverfälscht zu erhalten; so schließen wir daraus mit Recht, daß solches seiner Weisheit nicht gemäß gewesen. (Goeze 1778, S. 141)

Daraus folgt: In Dingen, welche die Lehren und Thaten Christi, und die Geheimnisse der christlichen Religion betreffen, sind die Schriften des N.T. Der einzige Weg, die Menschen zu erleuchten und zu bessern, und mündliche Überlieferung, wofern sie nicht aus unmittelbarer Eingebung des heil. Geistes fliesset, ist hier nichts! Denn sie hat keine Beweise der Göttlichkeit und Wahrheit für sich, und kan sie auch nicht haben. (Goeze 1778, S. 145)

Unbestritten ist jedoch auch, dass auch Lessings eigene Ausführungen zur Bibel in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander stehen. Auf der einen Seite kritisiert er diejenigen, die, wie Goeze, dem Christentum zu wenig zutrauen, wenn sie

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lehren, „daß der heilige Geist ohne Schrift nichts vermöge“ (Lessing 1954, VIII, S. 448). Auch verteidigt er (ebenfalls gegen Goeze) vehement die Auffassung, dass der Wesenskern des Christentums in einer nicht schriftlichen regula fidei zusammengefasst ist und dass die christliche Religion folglich auch ohne Bibel bestehen kann. Doch wenngleich insbesondere das in der Erziehungsschrift zu findende, prozessuale Religionsverständnis eine nicht zu leugnende Nähe zum kantischen Denken besitzt, steht Kant in seiner Betonung des Praktischen und in seiner Ablehnung des Suprarationalen dem als staubtrockener Philologe geltenden Reimarus näher – das und nicht mehr sollten die vorliegenden Ausführungen zeigen.

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Geist und Buchstabe. Hermeneutik und Evangelienkritik bei Reimarus und Lessing

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Religion and Morality before Kant’s Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft (1793): Joachim Spalding and Moses Mendelssohn¹ Introduction Aim and structure of the article In the first preface to the RGV, Kant outlines the relation between Morality and Religion. According to the already published KpV, Morality requires nothing else that an autonomous rational subject, capable of acting in accordance with laws and rules forged by her own reason. To put it in Kant’s words: So far as morality is based on the conception of the human being as one who is free but who also, just because of that, binds himself through his reason to unconditional laws, it is in need neither of the idea of another being above him in order that he recognize his duty, nor, that he observes it, of an incentive other than the law itself. (RGV, AA 06: 4; Kant 2001, S. 57).

In regard to its foundation, Morality is independent of religious belief: humans need no reference to God nor to know what they ought to do, neither to feel constrained to do so. In regard to the consequence of moral action, though, things turn out to be slightly different. After establishing the autonomous laws and rules that ground moral action, reason can legitimately reflect on the consequences of moral actions: “it cannot possibly be a matter of indifference to reason how to answer the question, What is then the result of this right conduct of ours? nor to what we are to direct our doings or nondoings” (RGV, AA 06: 5; Kant 2001, S. 58). According to Kant, to answer the question concerning the effects or consequences of moral action requires the idea of an object containing both the formal condition of moral obligation and the conditioned elements by which such obligations can be realized successfully. This idea corresponds to

1 My most sincere thanks to Adri Rodríguez and Pablo Genazzano for their careful reading of the text and their useful observations. https://doi.org/10.1515/9783111063935-008

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[T]he idea of a highest good in the world, for whose possibility we must assume a higher, moral, most holy, and omnipotent being who alone can unite the two elements of this good. This idea is not (practically considered) an empty one; for it meets our natural need […] to think for all our doings and non doings taken as a whole some sort of final end which reason can justify […] What is most important here, however, is that this idea rises out of morality and is not its foundation; that it is an end which to make onc’s own already presupposes ethical principles (RGV, AA 06: 5; Kant 2001, S. 58).

Though irrelevant for the grounding of moral action, Religion is said to be crucial with respect to the expectation of moral action. Believing in a benevolent God that makes the existence of good possible is indispensable for the subject to be certain that his rationally determined action will not be vain. In this sense, Religion as depicted here by Kant can be said to be a necessary complement of Morality: Morality constitutes a self-grounded, prior domain, to which Religion serves as a final, non-negligible complement by which the subject gains psychological motivation for moral praxis. The goal of this paper is to show that Kant’s conception of Religion in the RGV is very close to the concept of Religion traceable in both Joachim Spalding’s widely read Die Bestimmung des Menschen (1748) and Moses Mendelssohn’s enthusiastic comments on Spalding’s best-seller (Orakel, die Bestimmung des Menschen bettreffend, 1764). To argue that, I will show that for both Spalding and Mendelssohn moral action (i) can be brought about with no need religious belief; (ii) is definitely stimulated by believing in a Benevolent God responsible for the success of moral activity and its proper reward. Therefore, the paper will consist of a first part on Die Bestimmung des Menschen, and a second part devoted to scrutinizing Mendelssohn’s response to it.

State of the art The importance of Spalding’s Die Bestimmung des Menschen within the German Enlightenment has been excellently outlined by Laura Anna Macor (2013). Macor offered a vast Begriffgeschichte by which she succeeded in showing: (i) the relevance that the theological question regarding the destination of men had for German enlightened intellectuals, particularly after Spalding; (ii) the complex intertwining of religious and moral elements that it involved. From a historical point of view, Macor’s emphasis on Mendelssohn’s and Kant’s dealing with the question attests to the influence that Spalding’s deistic approach to Religion had on one of the two (if not the two) most influential German enlightened philosophers. Other relevant contributions concerning the historical significance of Spalding’s enlightened theology include: Reinhard Brandt’s (2007) original effort to survey Kant’s whole philosophical project as engaged with the question about the destination

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of men; Andreas Kubik (2009) analysis of Spalding’s concept of piety; Michael O’Neil Printy’s (2013) interpretation of Die Bestimmung des Menschen as a first, paradigmatic exponent of the interplay between theology and philosophy characteristic of modern Protestant culture; and Albrecht Beutel’s (2014) exhaustive intellectual biography of Spalding. Mendelssohn’s interest for and connections to Die Bestimmung des Menschen have been widely studied by Anne Pollok (2010). By means of her titanic reconstruction of the anthropology grounding Mendelssohn’s philosophy, Pollok managed to show the central role that the theological horizon of human destination plays in Mendelssohn’s approach to human nature and its moral condition. Mainly indebted to Pollok’s contextualized interpretation of Mendelssohn and Macor’s conceptual history on the destination of men, the present article aims at offering a novel, systematic comparison of the relation between Religion and Morality as conceived by Spalding, Mendelssohn, and Kant. As it seems to me, doing such a comparison and evincing the existing links between the three contributes: (i) to gaining a richer comprehension of Kant’s philosophical reflections on Religion under the light of his intellectual context, just as Jonathan Head (2021) has recently done by studying the influence of the Pantheismustreit in Kant’s treatment of Religion; (ii) to remarking that some important tenets of Kant’s thought, like his consideration of Religion as crucial for the consequences of moral action, are already traceable in other major figures of the German Enlightenment.

1 Religion and Morality in Joachim Spalding’s Die Bestimmung des Menschen (1748) In 1747, the Protestant preacher and theologian Joachim Spalding begins to reflect on the meaning of human life as his father lies dying². After his father’s death, Spalding undertakes the definitive writing of the originally entitled Betrachtung über die Bestimmung des Menschen; on May 14, 1748, its first edition finally appears³. As soon as this very first edition is published, the repercussion of Die Bestimmung des Menschen turns out to be great and long-lasting: by 1763, for instance, its seventh edition causes the discussion between Moses Mendelssohn and Thomas Abbt that gives rise to Mendelssohn’s Orakel, die Bestimmung des Menschen bettre-

2 Concerning the state of Lutheran theology at the time and Spalding’s contribution to it, see: Beutel 2014. 3 Regarding Die Bestimmung des Menschen’s different editions and variations, see: Londolfi Petrone 2011.

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fend. Spalding begins Die Bestimmung des Menschen by observing that every individual must lead her own life according to a fundamental guiding rule [Grundregel]. In his opinion, everyone has the ability [Fähigkeit] to choose and prefer one rule over another: carefully looking for a sensible life path is thus a task that all humans can perform. Die Bestimmung des Menschen aims at resolving this question: its goal is to reflect on what rules may govern human existence and to argue which one or ones are preferable (Spalding 2011, S. 119–121) Once the purpose of the work is clear, the first few paragraphs contain some relevant methodological remarks. According to Spalding, paying attention to the conduct of men does not provide valid evidence [gültige Gewahrleistungen] to grasp which is the best rule. The great differences existing between men and their guiding rules lead to a situation of confusion, only overcome when a specific model is chosen without properly analysing it or comparing it with others. Therefore, it is methodologically justified to put aside “external observation” and to try to find the guiding rule of human life by means of introspection⁴. Spalding adds that inquiring this rule through introspection requires a careful study of human nature, supposed to reveal its essential and constitutive elements⁵. After all these procedural reflections, Spalding begins to list five different guiding rules or principles and the lifestyles resulting from each one. The enumeration occurs so that each of the rules must be seen as an overcoming of the antecedent; compared to the editio princeps, the structure in the 1763 edition is much clearer, as each rule and its associated vital phase own an independent, self-titled section (Spalding 2011, S. 164–227). For Spalding, the pleasures of the senses [Vergnügen der Sinne] are the first crucial tenet of human nature revealed by introspection; these pleasures give raise to the “moment” of the Sinnlichkeit, the first of the five sections constituting the 1763 edition of Die Bestimmung des Menschen. For Spalding, the instinct [Trieb] for pleasure is a deeply rooted pulsion, to which humans are frequently subjected. Those who dwell in the realm of pleasure believe that human beings should not renounce to any of the pleasures offered to them. Persuaded by the sensation of numbing [Betäubung] that accompanies the passage from one pleasure to another,

4 After clarifying the procedure to be followed, the author indicates that it can easily be concluded that the pursuit of wealth [Reichtum] and honor [Ehre] followed by many does not fit the true purpose of human life [der wahren Zwecke des Menschen]. Their happiness [Glückseligkeit] is profoundly vain because it is based on an empty imagination [blosse Einbildung] plunged into a huge misery after fulfilling its capricious intentions (Spalding, 2011, S. 122–123). Regarding the role of introspective experience in Spalding, see: Balbiani, 2011. 5 As we will see, Spalding grounds each of the “vital phases” described along the work in a specific impulse [Trieb] or sentiment [Empfindung] allegedly inherent to human nature.

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such people indulge in a multiplicity of pleasures that leave them “drunk with voluptuousness” [von Wollust trunken] and remove all immediate discomfort. The problems involved by this modus vivendi are nonetheless many. As soon as pleasures are over, the condition of those who take sensible pleasure to be their fundamental principle becomes very sad. Some are driven to poverty after managing their desires and resources recklessly; others suffer from illness and pain. The misery brought about by their incontinence entails a profitable teaching: in some cases, the pleasures of the senses can be harmful. The evasion of such harm requires cultivating moderation [Mässigung] and abstinence [Enthalsamkeit], a source of less intense but more lasting and delicate pleasures⁶ (Spalding 2011, S. 122–127). Despite the balance resulting from prudence [Fürsichtigkeit] and care [Sorgfalt], Spalding goes on, the individual focused on sensitive pleasure might feel empty quite easily. New pleasures only temper the mood for a while; the resort to already experienced pleasures turns out to be repetitive and insufficient. The person facing this annoyance realizes that there must be something beyond sensitivity, a source of a more solid and profound satisfaction. As a result of these reflections, a hitherto unknown disposition is discovered: the ability to correct and improve the spirit [Geist] and its faculties. At this point, the dedication to spiritual perfection becomes the new guiding vital principle; following the 1763 edition, the initial “moment” presided by sensitivity gives rise to a second phase of spiritual pleasure [Vernügen des Geistes] (Spalding 2011, S. 180). The preservation of the body is still perceived as necessary and pleasurable. However, Spalding believes, to notice the improvement of one’s own abilities or faculties [Kräfte, Fähigkeiten ⁷] leads us to feel members of a higher order [höhere Ordnung]. Specifically, this improvement requires the amendment of each of the spiritual faculties, that is, refining memory [Gedächtniss], clarifying concepts [Begriffe], sharpening ingenuity [Witz] and strengthening intuition [Einsicht] (Spalding, 2011, S. 128–130). According to Spalding, the modus vivendi associated with the rule of spiritual improvement can also raise doubts. The individual taking into account the people around her discovers inside her new instincts, even more essential than self-centred desires for sensitive and spiritual pleasure⁸: to take this step forward means

6 It should be noted that, at this stage, reason [Vernunft] performs a crucial, balancing task in the service of sensations [Empfindungen]. 7 Kräfte, Fähigkeiten, and Vermögen are seemingly used interchangeably to mean the powers or faculties of the soul. 8 The experience given by the author is particularly decisive: “Ich sehe andere Wesen um mich, und ich frage mich dabey: sind diese alle um meinetwillen da? Haben sie keinen andern Zweck, als mein Besstes?” Spalding 2001, S. 130.

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moving from the individual sphere to the social sphere that constitutes the third moment in the 1763 edition, that is, the phase of virtue [Tugend] (Spalding, 2011, S. 186). For Spalding, the experiences revealing the presence in the soul of impulses beyond selfish inclinations are many: this would be the case of the satisfaction provoked by others’ happiness [Glückseligkeit] or the pleasure [Wolgefallen] felt when performing correct actions. Inexplicable on the grounds of selfish impulses, Spalding argues, these experiences demand the existence of natural sentiments of good and order [Empfindugen der Güte und der Ordnung] that drive the will [Wille]. As in the case of the two previous vital principles, Spalding begins by elucidating a natural instinct on the basis of which a fundamental rule and its subsidiary way of life are defined (Spalding, 2011, S. 134)⁹. The individual motivated by the sentiment of good aims at the happiness of humankind [Glückseligkeit des menschlischen Geschechts]. For Spalding, behavior in accordance with this inner law [Gesetze in mir] consists of some unequivocal manifestations: correctness of individual actions, patriotic respect for one’s own homeland, love for all congeners and, more generally, universal love for all creatures [allgemeine Liebe]. As Spalding puts it, the individual that normalizes such actions and comprehends their goodness becomes aware of an objective moral reality, constituted by eternal rules [ewige Regeln] of law and order. On the one hand, the serenity entailed by this discovery grounds a solid happiness, capable of eliminating the displeasures occurring in previous stages such as the feelings of shame and regret [Scham und Reue], now neutralized by the conviction that what should be done is actually done. On the other hand, adopting this way of life also moulds the way Nature is perceived. The virtuous individual driven by the sentiment of good can only grasp beauty [Schönheit] and regularity [Regelmässigkeit] wherever she stares at: presided over by a perfect proportion, Nature turns out to be an invaluable source of pleasure [Wolgefallen], love and joy [Freude] (Spalding 2001, S. 138–143). The person at this stage, able to know which actions are good and which are bad, has therefore displayed her innate moral sense. Once the moral attitude is consolidated, the ability to grasp goodness and beauty determines her knowledge of the external world as well, resulting in the concept of a universal beauty [allgemeine Schönheit] presiding over Nature, of a necessary order of which rational

9 Despite being innate, the author points out that the preeminence of sensitive pleasure can keep it eclipsed and inoperative. In fact, overcoming this obstacle is not an easy task. Whoever manages to overcome the obstacle feels like a tree reluctantly subjected to the designs of a gardener. (Spalding 2001, S. 134). As for the stoic elements in Spalding’s intellectual context suggested by images such as that of the gardener, see: Brandt 2007, S. 61–77. My thanks to professor Salvi Turró for making me notice this interesting contextual element.

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human souls feel to be a part. These thoughts lead to the fourth “moment” or vital phase depicted by Spalding in the 1763 edition, namely, that of Religion [Religion]. The individual facing a harmonious and carefully structured world ends up conceiving a model of perfection [Urbild der Volkommenheiten], an “original beauty” [ursprüngliche Schönheit] or primordial source [Quelle] of order responsible for the prevailing universal harmony. Spalding defines this divine entity as an intellect [Verstand] that thinks and organizes the Whole, as a spirit that imparts being [Daseyn], persistence [Dauern], force [Kräfte] and beauty to everything through His “ineffable emanations” [unbegreifliche Ausflüsse] (Spalding 2001, S. 143–147). According to Spalding, the individual delving into the knowledge of this ultimate source of harmony must infer its absolute goodness: because of His archetypical perfection, God assures that every created thing is good both individually and in relation to all reality. Furthermore, His infinite goodness leads God to set laws to structure the functioning of reality, both in its material dimension (the occurrence of bodily movements depends on invariable laws) and in its immaterial dimension (as seen, rational beings have many different innate instincts). Whoever discovers that the natural sentiment of good is a manifestation or expression of God assumes the fundamental rule of true religion: striving to know and to approach the excellence of God by exercising the noblest impulse He has infused into humans. From this point of view, the value [Wehrt] of actions lies exclusively in the pursuit of this goal, the approval or sanction professed by other men being irrelevant (Spalding 2001, S. 147–148) At this point, however, human beings must still tackle a last, non-negligible obstacle. Spalding points out that some mundane situations may overshadow the belief in a divine order of the universe. One might legitimately wonder: how can an uncorrupted spirit [rechtschaffenes Gemüth], meant to be happy, see his existence marred by misfortune and adversity? Why does virtuous behaviour sometimes generate cruel reactions, contrary to the reward they deserve? This apparent shadow of injustice can only be vanished by an illuminating thought: the inexorable divine order requires that, at the end of earthly existence, everyone receives the reward or punishment that she deserves depending on her degree of virtue. Reasoning in these terms means to affirm the immortality of human beings and to reach the top human existence, the “moment” of immortality [Unsterblichkeit] that puts the 1763 version to end (Spalding 2001, S. 169). In fact, analyzing the constitution of humans being further consolidates this belief: how could an infinite wisdom [undendliche Weisheit] allow the power [Vermögen] to know the truth and the good vanish after an arduous, life-long lasted effort? Whoever thinks in this way realizes his intimate unity as a spirit devoted to self-improvement. Therefore, this self [ich] which is recognized as unitary and identical over time corresponds to the soul, that is, to the underlying substrate or unit which (i) has repre-

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sentations, (ii) judges [urtheilet] and (iii) can determine herself [sich entschliessen] (Spalding 2001, S. 149–155). By means of a lyrical and pedagogical writing, Spalding reflects on the different ways of leading one’s own life. Of course, his account is particularly marked by theological interest: after all, Spalding was a theologian, primarily interested in the nature of God and the relationship between God and His creatures, especially humans. Therefore, it is not surprising that the last two phases within Spalding’s catalogue of vital rules fall into the realm of Religion. Such detail is by no means trivial: within the “progressive” itinerary of vital rules depicted by Spalding, the moment of Religion is finally completed by knowing with certainty that every human being is immortal. This final stage in Die Bestimmung des Menschen is the culmination of human existence, the way of life entailing a higher degree of completion and happiness. Just before reaching this climax, however, the individual following each of the phases as depicted by Spalding has already become a fully moral being. The moral condition is acquired in the third of the phases described in the Die Bestimmung des Menschen, that is, in the moment of virtue [Tugend]. As in the two preceding moments, namely, those of sensitivity and of spiritual pleasure, the stage of virtue is based on a principle supposedly inherent to human nature. Consequently, human Morals is said to depend on an innate sentiment of good; incidentally, the centrality of this notion when explaining Morality evinces the influence of British philosophers (especially Shaftesbury) on Spalding¹⁰. Be that as it may, and because of the few pages Spalding devotes to the question, the moral theory set out by him is concise and slightly diffuse. However, I think, its main features can be summarized as follows: 1. Humans have some altruistic attitudes: we enjoy helping others, we get pleased when noticing that other people are happy… Spalding believes that these dispositions and acts can only be explained by reference to a natural sentiment of good, that is, an innate inclination to seek the good in general and, not to privilege the individual’s self-interested perspective. 2. The individual guided by this feeling performs some acts and attitudes that could not be performed otherwise, such as respect for one’s own homeland or love for all congeners. Whoever naturalizes these acts concludes that there is an objective moral order, that is, a set of universal rules meant to

10 Regarding the influence of Shaftesbury in German Enlightement, see Dehrmann 2008. For a much more general overview on the influence that British philosophers had on German Enlightened thinkers, see: Kuehn, 1996 S. 252–273.

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guide the interaction between individuals. Although Spalding says nothing in this regard, it might be assumed that human beings moved by the sentiment of good eventually grasp these rules and observe them spontaneously. Acting in this way brings a solid happiness: regret and shame fade away thanks to the conviction that to behave according to the sentiment of good means actually doing what should be done.

All in all, it is clear that an objective moral order is discovered without appealing to God at the stage of Morality, prior to the knowledge of God obtained in the two posterior phases. In other words: humans attain a fully moral condition at a “prereligious” stage. From this point of view, the moral domain as conceived by Spalding is independent and prior to the domain of Religion. To act in accordance with duty, individuals must simply reach the third of the five phases that Spalding exposes: they only need to discover the feeling of good inherent in them, to strengthen it, and to act accordingly, regardless of any beliefs concerning the existence of God and the possibility of an afterlife. In fact, believing in God and in an afterlife arises a posteriori, as a result of the moral phase. Spalding believes that, when properly developed and consolidated, moral sentiment eventually determines knowledge about nature. Once their moral condition is consolidated, individuals can: (i) grasp the perfect order presiding over reality and (ii) infer the necessary existence of God as the ultimate cause of this order. It is to make this universal order possible that God is said to endow humans with the sentiment of good sustaining moral behaviour. At this point, the individual gains a crucial stimulus for moral praxis: to act in accordance with the sentiment of good means to strengthen the noblest divine gift bestowed on men and, to that extent, to get as close as possible to God. Religion in its “greatest version” at the so-called moment of immortality reinforces Morality by eliminating any fissure with respect to the effects of moral action and its reward. Consequently, Religion improves human life and culminates it unsurpassably: the moral individual acquiring knowledge about God and the immortality granted to humans to reward their virtue (or punish their vice) achieves a supreme serenity, by which moral action is brought about most naturally and joyfully.

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2 Religion and Morality in Moses Mendelssohn’s Orakel, die Bestimmung des Menschen bettrefend (1764) Thomas Abbt’s Zweifel über die Bestimmung des Menschen (1763) recalls on Mendelssohn’s attention: Orakel, die Bestimmung des Menschen betreffend is an optimistic writing, aiming at illustrating how Abbt’s doubts regarding Spalding’s work are easily solvable¹¹. Mendelssohn begins his work by stating that the question concerning the destiny of humankind matters to all humans and that it can only be resolved by resourcing both to reason [Vernunft] and to experience [Erfahrung]. In response to the example by which Abbt begins Zweifel über die Bestimmung des Menschen, Mendelssohn grants that future appears to be uncertain for those immersed in a war. Still, is this circumstance applicable to all human beings? Mendelssohn denies such possibility, assuming that the fate of humankind is indeed knowable. In the first place, the author refers to a destiny proper to all creatures in general, a destiny which also includes humans as divinely shaped creatures. God, an absolutely perfect being, must shape the universe and its creatures by giving it a perfect, unsurpassable order. From this point of view, both instinctive animals and humans endowed with freedom are a part of the divine plan¹² (JubA 6.1, S. 19–20). After elucidating this general dominion shared by all creatures, Mendelssohn goes on to look for something more specific to humanity. Following Spalding’s model, the author detects in humans a unique impulse to improve their own selves [eigene Verbesserung]. The author concedes that, at first glance, some observable lifestyles may not seem to fit with this pulsion. In this regard, Mendelssohn points out, the existence of Greenlandic aborigines is cited as a counterexample by some of his contemporaries: for these critics, the care for one’s own spiritual faculties [Seelenkräften, Seelenfähigkeiten, Geisterkräfte] is non-existent in these seemingly wild and rudimentary humans. Nevertheless, Mendelssohn claims that beings like the Greenlanders also have an impulse to self-improvement. No doubt, their lives are guided by the most basic instincts. Notwithstanding, their capabilities must be put at work, exercised, and sophisticated in other to satisfy them. The ex-

11 Regarding the discussion on Spalding’s work hold by Mendelssohn and Abbt, see: Pollok 2010, S. 79–116; 2018. 12 It is worth noting that in this first stage of argument, rational reflection [Vernunft] predominates over experience [Erfahrung]: Mendelssohn has concluded that all creatures belong to the same universal order by reference to the concept of God.

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ample adduced to argue so is as simple as illustrative: to take advantage of a tree, it is necessary to forge a representation of it, to think about its possible benefits and to discover how to achieve them¹³. Therefore, the scrutiny of extreme cases such as that of the aborigines shows the universality of the human tendency to self-perfection: according to the author, there is no moment in history in which human beings have not developed if only a little any of their capabilities, whether practical or cognitive (JubA 6.1, S. 19–21). The specific destiny of human existence is consequently clear: humans must devote themselves to “improving the powers of the soul according to the intentions of God¹⁴” (JubA 6.1, S. 20). In relation to the limits inherent to human improvement, Mendelssohn concedes that spiritual faculties cannot be infinitely increased during the earthly existence, as a result of the limits imposed by corporeality. Though limited along earthly life, this tendency, as imparted by the Creator, must be shared by all humankind: even people ignorant of God and of universal harmony, like the aforementioned Greenlanders, are endowed with and driven by this pulsion. At this point, God’s benevolence turns out to be crucial. Because of God’s almighty plan, the trial of self-improvement cannot be suddenly interrupted by death: otherwise, humans would have taken a long-lasted effort in vain. Persuaded by this thought, Mendelssohn points out that a human’s earthly existence must be linked to an eternal future condition in which the improvement of psychic faculties goes on unhindered. In arguing so, Mendelssohn displays a graphic and evocative image: just as the flower to be born would not live without a now-dead flower that had spread its pollen before, future existence is inconceivable without a current existence to be fulfilled “afterwards”. Mendelssohn’s subsequent conclusion is emphatic: Divine order is governed by ‘unity of purpose’. All disorganized ends constitute means, and all means are, in turn, ends. Do not think that this life’s only purpose is being a preparation for the afterlife: both are means, and both are ends […]. Like the propositions of a correct demonstration, divine designs always trace the most direct path to [the achivement of ] their purpose¹⁵ (JubA 6.1, S. 21).

13 Here is the first stage of the text in which experience is crucial: in the face of a supposed counterexample (wild humans have no tendency to improve), the scrutiny of a particular anthropological example (greenland populations) is the tool used to refute it. 14 “Die Ausbildung der Seelenfähigkeiten nach göttlichen Absichten”. 15 “In der göttlichen Ordnung herrscht “Einheit des Endzwecks”. Alle ungeordnete Endzwecke sind zugleich Mittel; alle Mittel sind zugleich Endzwecke. Denke nicht, dieses Leben sey bloss Vorbereitung, das künfitige bloss Endzweck. Beyde sind Mittel, beyde sind Endzwecke. […] Die Absichten Gottes gehen wie die Schlussfolgen einer richtigen Demonstration, allezeit dem nächsten Weg zum Ziele”.

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So far, Mendelssohn has set out his ideas about the destiny and condition of humankind. In order to complete them and make them more persuasive, he now proceeds to invoke the figure of Leibniz: according to Mendelssohn, the greatness of Leibnizian philosophy is a seemingly useful tool to finally dispel Abbt’s doubts¹⁶. To revive Leibniz’ philosophical spirit, the author juxtaposes quotations as if uttered by an oracle of Minerva¹⁷. From the Leibnizian point of view expressed by the oracle, all the beings belonging to a specific class [Gattung] must have the same destiny [Schicksal]. In particular, spiritual improvement is said to be a global spiritual task, inherent to every spirit. As the oracle puts it, the perfecting of the soul takes place gradually and arduously. The case of Sisyphus reveals how easily the result of a persistent work can collapse all at once: “there was one who lost in a fleeting moment all he had achieved after a long dedication. The works of Sisyphus! Nothing is ever lost in vain¹⁸” (JubA 6.1, S. 22). According to the Leibnizian oracle, every spirit must go on perfecting herself without ever forgetting the changes occurring in her nature nor the unity and coherence of her effort [Uebung]. The individual that goes on perfecting herself is said to finally grasp the infinite extension of her spiritual improvement and the need of an eternal, non-mundane life to make this extension possible. Although doubts about the cosmic order and the fate of humanity usually fade away as perfection becomes completed, attention to figures like Socrates helps to overcome states of disillusionment altogether. Socrates persevered effortfully in the strive for virtue and took it to be an end in itself. Of course, it can be both worrying

16 In regards to Leibniz’s influence on Mendelssohn, see: Altmann 1971, S. 21–44; Feiner 2010, S. 17– 34 and 35–55. Concerning the complex reception of Leibniz among Eighteenth century German philosophers in general, see: Buschmann 1989; Wilson 1995. 17 After all, the alleged connection between Spalding’s reasoning and Leibnizian philosophy is not unfounded. As it seems to me, the Nouveaux Essais (1704) evince so. Against Locke, Leibniz points out that pre-established harmony results in the necessary communication between souls and bodies. Every soul contains lots of obscure, non-concious percpetions: this stream of not necessarily conscious perceptions guarantees the continuity both of every soul and of the individual constituted by an specific soul in conjunction with a body. Since the permanence or identity of the soul is therefore necessary, the individual can go a step further and gain a moral identity by becoming aware of the obscure perceptions occurring in the soul. (Leibniz 1921, S. 182–194; II, 27, §1–20). The link between substantial unity and Morality might be completed by reference to the concluding remarks of the Monadologie (1710). After all, immortality appears to be the indispensable horizon of Morality: the moral individual, harmoniously endowed with a single immortal soul, will strive to follow the path of virtue by bearing in mind the joyfull future that God grants to her (Leibniz 1883, S. 165–167, §88–90). The theoretical resemblance with Spalding’s fifth “moment” in Die Bestimmung des Menschen is quite remarkable. Concerning this issue, see: Sales Vilalta, 2018. 18 “Es fand sich eine, in welcher sie zwar eine zeitlang zunehmen, aber auf einmal alles Erwobene wieder verlieren sollten. Die Arbeit der Sisifus! Nicht ist ohne Früchte verloren”

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and discouraging to see worldly injustices and miseries afflicting most virtuous individuals like Socrates. Again, this worries can only be overcome by considering God’s providence and benevolence. Because of his benevolence, God cannot allow the highest virtue to be punished unfairly: justice stricto sensu requires the efforts made by virtuous souls to be rewarded with happiness; because of the injustice often prevailing in earthly life, this happiness can only be guaranteed by granting humans a joyful ultra-mundane and eternal existence (JubA 6.1, S. 22– 23). Mendelssohn concludes the text with a final synthesis supposed to answer Abbt’s suspicions. According to Mendelssohn’s view, Abbt’s skepticism is unjustified. (i) Humans are destined to perfect their faculties according to divine, benevolent intentions. (ii) Individuals ignoring this destination do realize it unconsciously. (iii) In the case of a prematurely died child, her death occurs after tracing a minimal spiritual improvement, especially evident in the abilities to feel and move that kept her alive until death. (iv) To object that the development of human faculties is limited during earthly existence is futile, for each of these powers is deployed as much as the divine order permits. (v) The fact that not all individuals realize their destiny equally is explained by the necessary diversity of Creation, analogous to a mechanism in which the different pieces have unequal and heterogeneous outputs that make a harmonious global functioning possible. (vi) The rest of the animals are a model of disorderly life, an ideal counterexample that might help humans becoming aware of his unique task. (JubA 6.1, S. 24). Mendelssohn’s review of Die Bestimmung des Menschen focuses on the theological dimension of Spalding’s work: the theoretical element that arises Mendelssohn’s enthusiasm and underpins his “praise of Spalding” is the belief in human immortality, the only guarantee for virtuous individuals to receive the reward they deserve. In fact, Mendelssohn’s enthusiastic commentary on Die Bestimmung des Menschen gives rise to a theoretical defence of the immortality of the soul further developed in his later Phaedon (1767). The argument for immortality within Orakel is based on the notion of human perfectibility. For Mendelssohn, humans have capabilities that can be improved. Experience and observation corroborate this: even allegedly savage beings must improve their faculties and abilities to some extent. If such trial of self-improvement ended abruptly at the end of earthly existence, humans would not manage to complete it and would not achieve as much virtue as they could if only the trial had no limits. The granting of immortality to humans is therefore the only way to safeguard that self-perfection is realized without hindrance and eventually receives its proper reward. Despite Mendelssohn’s praise of Spalding, it is noteworthy that he adds some nuances to Spalding’s thesis. Instead of relying on a supposedly innate sentiment of

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the good, the moral condition now depends on the tendency to perfection inherent in every individual. God, the ultimate source of order and goodness, acts in accordance to the best possible intentions. So as to guarantee the order and goodness prevailing in God’s creation, human beings, a crucial part of creation, are endowed with the tendency to perfect themselves. It is therefore clear that the imperative to perfect one’s own condition comes from God: as the Creator of everything, God is responsible for determining the properties of His creatures. However, and here is the key point that brings Mendelssohn closer to Spalding, the realization of the imperative by each individual does not depend on God. In other words: regardless of his knowledge of God and His perfections, every individual is able to (and, in fact, will) perfect his state to a greater or lesser extent. To grasp in more detail how the tendency to perfection functions, it is worthwhile to turn briefly to the Rhapsodie, oder Suzätze zu den Briefe über die Empfindungen (1761). As the title of the work suggests, Mendelssohn devotes the Rhapsodie to completing some ideas which were primarily expounded in the Briefe über die Empfindungen of 1755; in the Briefe, incidentally, the notion of a human impulse to self-perfection is referred to and analysed for the first time within Mendelssohn’s career. Be that as it may, almost the whole second half of the Rhapsodie is focused in explaining the role that the notion of perfection plays in Morals. Mendelssohn begins by tackling the objection that Morality becomes constitutively selfish if one considers the pursuit of one’s own perfection to be its guiding principle. The objection is refuted by the observation that looking for individual perfection is an essentially collective enterprise, since everything that perfects someone involves her relating to other individuals. To argue that, Mendelssohn refers to the habit [Fertigkeit] of seeking other people’s benefit, and to the acts of loving, of being generous [Grossmuth] and of caring for freedom [Freyheit] and justice [Gerechtigkeit]. For Mendelssohn, such actions enclose an intimate brotherhood among moral spirits [Verbrüderung des Geistes], a brotherhood that can only be explained if the quest for perfection is taken as a universal plan of creation, i. e. an ever-lasting principle operative in each and every moral being (Mendelssohn 2009, S. 228– 230¹⁹). In explaining what it means to be moral through self-improvement, Mendelssohn assumes the theoretical framework of the so-called “moderns”. The Moral philosophy of the so-called moderns is said to rest on the following principles: (i) speculative knowledge [spekulative Erkenntnis] is distinct from practical or ef-

19 Since the 1761 editio prínceps of the Rhapsodie was excluded from the Jubiläumausgabe, which only includes the amended 1771 edition (JubA 1, S. 383–424), I have decided to quote here the only modern edition of Mendelssohn’s work (2009) including the 1761 edition of the Rhapsodie.

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fective knowledge [pragmatische, mächtige] in that practical knowledge does give rise to desires and aversions that may drive the will; (ii) obscure practical knowledge results in motivations [Triebfedern], while clear practical knowledge results in rational motives [Bewegungsgründe]; (iii) a soul is free only when it reflects on and compares multiple rational motives and chooses its action in accordance with this reflection. For Mendelssohn, the degree of effectiveness of a practical representation is directly proportional to three factors: (i) the degree of perfection inherent to the object; (ii) the degree of clarity inherent to the thought by which the object is represented; (iii) the soul’s speed to generate representations. Therefore, an obscure emotion or affect [Affekt] can be more effective than a deliberately chosen rational motive if the affect leads to a quick representation of an object containing a grand perfection. Because of this, Mendelssohn puts the text to end by remarking the importance of good habits, which are indispensable for virtuous actions to be carried out naturally and without hindrance of noxious emotions (Mendelssohn 2009, S. 234–237).

Conclusion The relationship between Morality and Religion traceable both in Spalding’s Die Bestimmung des Menschen and in Mendelssohn’s Orakel is clearly similar. As argued in the first section, the separation of the two realms in Spalding’s case is quite unquestionable. Religion emerges after Morality, to put it in Kantian words, in relation to the consequences of moral action. Morality emerges prior to Religion and functions per se, without the need to go through it, in the so-called stage of virtue within Die Bestimmung des Menschen. Because of its priority to the final phases of Religion and immortality, individuals can be absolutely moral before ever believing in God and in human immortality. In a more implicit and covert way, Mendelssohn also conceives the domain of Religion as a later complement to Morality, said to culminate the moral condition of humans. The vital purpose of every human being is to perfect one’s own condition. Realizing this goal, however, does not require any knowledge or belief in God: each and every human being can realize it, even the most ignorant of God and His perfections. As in Spalding, knowing that God grants immortality to humans is a culminating achievement, a source of supreme joy and tranquillity: the moral individual with a religious belief removes any doubt as to the meaning of his moral destination and devotes herself to it joyfully. Spalding’s and Mendelssohn’s conception of Religion as crucial for the consequences of moral action come very close to the excerpts from the RGV quoted in the Introduction. Under the light of the two main sections of this paper, Kant’s con-

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siderations in the preface to the RGV consolidate a tendency already at work in two other antecedent major figures of the German Enlightenment. Nonetheless, Kant’s peculiarity and relevance with respect to Spalding and Mendelssohn should not be underscored. Though practically independent of religious belief, moral action as conceived by Spalding and Mendelssohn keeps on depending on the concept of God from a theoretical point of view: whether the sentiment of good or the impulse to self-perfection are still a product of God’s benevolence, and cannot be understood without reference to the concept of an absolutely perfect God that grants them. The theoretical grounding of Morals with no resort to Religion is a merit of Kant’s critical philosophy, alien to Spalding and Mendelssohn. To put it in Kant’s words once again: So far as morality is based on the conception of the human being as one who is free but who also, just because of that, binds himself through his reason to unconditional laws, it is in need neither of the idea of another being above him in order that he recognize his duty, nor, that he observes it, of an incentive other than the law itself. (RGV, AA 06: 4; Kant 2001, S. 57).

By realizing such a novel theoretical foundation, Morals gains a stronger ground that may protect them better from any theologically-based confutation. In this regard, it is worthwhile to recall on Spalding’s enthusiastic response to the second edition of the KrV. Just after reading the KrV, Spalding congratulates Kant for giving a solid and definitive grounding to the moral intuitions resulting from his liberal Luthertan theology. The Prussian preacher gratitude’s towards his philosophical congener could not be greater: A few weeks ago, your Critique of Pure Reason was sent to me from Halle, with the enclosed announcement that it was published by you. […] It has done my soul all the more good what you, pretentious man, have put in such a bright and honourable light with regard to the foundation of morality. […] The idea of several primordial, independent powers of the soul gradually became more and more difficult for me to entertain; and although I tried to simplify the matter by the general concept of a natural inclination to perfection, propriety, order, and to include among them the overruling of the mind with the essential relations of things, I was never able to bring it completely to clarity […]. From this […] you shall only see, esteemed Professor, how much I am indebted to you in my part for having established virtue in its true, nightly and all the more awe-inspiring beauty, as right and lawfulness, on the highest throne due to it, and for having outlawed every usurper, no matter how fond he may be of it²⁰ (Br, AA 10: 527–528).

20 Vor einem Paar Wochen ward mir aus Halle ihre Kritik der reinen Vernunft zugesandt, mit der beigefügten Anzeige, dass es auf Ihr Verlagen geschehe. […]. Desto mehr dagegen hat das meiner Seele wohl gethan was Sie, vortrefflicher Mann, in Ansehung des Grundes der Moralität in ein so helles und ehrwürdiges Licht gestezt haben. […] Die Vorstellung von mehren ursprünglichen, un-

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abhängen Seelenkräften ward mir nach und nach immer schwerer zu unterhalten; und ob ich gleich die Sache durch den allgemeinen Begriff von einer durch die Natur eingepflanzten Reinigung zur Vollkommenheit, Schicklichkeit, Ordnung, zu vereinfachen, und darunter auch die Übereinstimmung des Gesinnungen mit den wesentlichen Verhältnissen der Dinge einzufassen suchte, so konnte ich doch damit nie völlig zur Deutlichkeit […] bringen. Daraus […] sollen Sie nur sehen, hochgeschätzter Herr Professor, wie viel ich an meinem Theile Ihnen dafür Dank weiss, dass sie die Tugend in ihren wahren, nackten und desto erfurchtwürdigen Schönheit, als Recht und Gesetzmässigkeit, auf den ihr gebührenden höchsten Thron fest gesetzt und jeden noch so liebhosenden Usurpator davor vergrämt haben. My thanks again to professor Salvi Turró for showing me this letter.

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II Vernunftreligion und Moral

Wo Kants bisweilen ambivalent erscheinende Haltung zur positiven Religion hohe Anforderungen an eine sachgerechte Auslegung stellte, spiegeln dagegen die Äußerungen zum Verhältnis von Vernunftreligion und Moral eine trügerische Simplizität vor: Der Unterschied beider sei, so belehrt uns der Streit der Fakultäten, „blos formal[er]“ (SF, AA 07: 36) Natur. Diese Feststellung ist nun nicht nur schon für sich genommen interpretationsbedürftig, sie verdeckt darüber hinaus auch die Akzentverschiebungen, denen das hier thematische Verhältnis in den beiden ‚kritischen‘ Jahrzehnten unterworfen war. So konterkariert der Hinweis auf einen ‚bloß formalen‘ Unterschied die in der ersten Einleitung der Religionsschrift zu findende Festlegung, dass Religion die Folgeerscheinung einer bereits etablierten Moralität ist: Aber, was hier das Vornehmste ist, diese Idee geht aus der Moral hervor und ist nicht die Grundlage derselben; ein Zweck, welchen sich zu machen, schon sittliche Grundsätze voraussetzt. (RGV, AA 06: 06)

Unstrittig ist hier die Rede vom Höchsten Gut als dem „notwendig[] höchste[n] Zweck eines moralisch bestimmten Willens“ (KpV, AA 05: 115), doch auch hier lässt sich wiederum fragen, wie sich dies alles mit dem Hinweis aus der Grundlegung zusammenbringen lässt, dass der „schlechterdings gute Wille […] in Ansehung aller Objecte unbestimmt“ (GMS, AA 04: 444) ist. Kurzum: Das in der KrV ¹ diskutierte, in der Grundlegung dann aber weitgehend absente² und erst mit der KpV wieder in die Morallehre integrierte Höchste Gut ist problembelastet. Diese Probleme treffen folglich auch Kants Theorie einer Vernunftreligion, denn diese ruht ja ganz wesentlich auf dem Höchsten Gut und der korrespondierenden Postulatenlehre. Welchen Grund haben wir, unsere konkreten Pflichten in einem Endzweck zusammenzudenken³ und was ist der moralische ‚Mehrwert‘, der aus dieser über die ‚bloße‘ Pflichtbefolgung hinausgehenden Zwecksetzung folgt? Kommt der Vernunftreligion damit eine motivationale Funktion (z. B. die Vermeidung des ‚absurdum practicum‘⁴) zu und kann diese innerhalb der kantischen Morallehre legitimiert werden? Und was ist von Kants Absage⁵ an einen moralisch gebotenen Glauben zu halten, wenn Gott gerade diejenige Instanz darstellt, die den Nexus von Tugend und Glück realisiert? Wie diese abermals in rhapsodischer Unordnung 1 Und auch schon viel früher, vgl. hierzu den unmittelbar nachfolgenden Beitrag von Andree Hahmann. 2 Zumindest im Sinne des Höchsten abgeleiteten Guts, d. h. einer Welt, in der Glückswürdigkeit und Glückseligkeit in einem quasi-kausalen Verhältnis zueinander stehen.Vom Höchsten ursprünglichen Gut, also von Gott, spricht Kant auch in der Grundlegung, vgl. hierzu GMS, AA 04: 408 f. 3 Vgl. Wood 2020, S. 39 4 Vgl. Wood 1970, S. 245 5 Vgl. z. B. KpV, AA 05: 144 https://doi.org/10.1515/9783111063935-009

vorgelegten Fragen zeigen, ist auch das Verhältnis zwischen Vernunftreligion und Moral konfliktträchtig; einen Beitrag zur Befriedung mögen die nachfolgenden Beiträge leisten.

Andree Hahmann

Kants Konzeption des Höchsten Gutes als systematische Einheit der Zwecke Dass Kants Konzeption des höchsten Gutes seine Wurzeln in der vorkritischen Auseinandersetzung mit den antiken Vorstellungen zum höchsten Gut hat, ist in der Forschung hinreichend belegt.¹ Ebenso bekannt sind die Bezüge zu Leibniz, wie sie etwa bei dem in der Kritik der reinen Vernunft dargelegten Ansatz des höchsten Gutes sichtbar werden.² Mein Aufsatz wird diesen bekannten Hintergrund durch einen weiteren historisch-sachlichen Ansatz ergänzen, der bislang wenig Aufmerksamkeit gefunden hat.³ So wird gezeigt, dass Kants Vorstellung des höchsten Gutes als systematische Einheit der Zwecke wesentliche Gedanken seiner vorkritischen Ontologie aufgreift und diese variiert. Eine zentrale Rolle spielt hierbei ein 1 Kant selbst führt das höchste Gut als „sittliches Ideal der alten“ ein (Refl 6601, AA 19: 104; siehe auch Refl 6874, AA 19: 188; Refl 6611, AA 19: 108). In den frühen Reflexionen diskutiert Kant neben der stoischen und epikureischen Position auch die Ansichten Platons und der Kyniker. Er betont, dass erst die Christen zwischen beiden Elementen des höchsten Gutes scharf genug getrennt haben (Refl 7060, AA 19: 238 von 1776–78). Siehe Düsing 1971. 2 Siehe Hahmann 2009, S. 214–224. 3 Die aktuelle Debatte zum höchsten Gut wird vor allem durch die Frage nach der genauen Verbindung der beiden Teile (also Glückseligkeit und Sittlichkeit) bestimmt: Kant soll unterschiedliche und zum Teil widersprüchliche Konzeptionen des höchstens Gutes vertreten haben. So soll das höchste Gut in der Zuteilung von Glückseligkeit proportional zur Sittlichkeit bestehen, zugleich aber auch in einem Maximal- bzw. Bestzustand, in dem die größte Sittlichkeit mit dem höchsten Glück verbunden werden. Einige Interpreten nehmen an, dass sich dieser Widerspruch nur durch die Annahme einer Entwicklung in Kants Konzeption des höchsten Gutes auflösen lässt.Vermutet wird, dass Kant eine metaphysisch-theologische Konzeption des höchsten Gutes zugunsten einer innerweltlichen aufgegeben habe. Prominent vertreten werden diese und verwandte Versionen der Entwicklungsthese von Rawls 2000, Reath 1988 und Yovel 1980. Siehe zu dieser Debatte Pasternack 2017 sowie Hahmann (im Erscheinen). In der älteren Forschung wurden zwei andere Probleme diskutiert. Im Anschluss an Silber 1959 ging man davon aus, dass die Forderung der vollständigen Realisierung zu einem transzendenten Gut führen müsse, wohingegen es sich bei der am sittlichen Verdienst orientierten proportionalen Zuteilung der Glückseligkeit um eine immanente Version des höchsten Gutes handelt. Diskutiert wird diese Deutung u. a. von Auxter 1979 und Mariña 2000. Silbers Ansatz ist damit der später von Rawls and Reath vertretenen Position in gewisser Weise entgegengesetzt. In der deutschsprachigen Forschung hat man sich im Anschluss an die ersten Kritiker vor allem auf die Frage nach der motivationalen Funktion des höchsten Gutes konzentriert. Exemplarisch sei hier etwa auf Schopenhauer verwiesen. Siehe dazu ausführlich Zobrist 2008 sowie Marwede 2018. Ich werde in der vorliegenden Untersuchung nicht unmittelbar auf diese Probleme eingehen, auch wenn die hier vorgestellten Bezüge zur sog. vorkritischen Ontologie Konsequenzen für die in der Forschung diskutierten Fragestellungen haben. https://doi.org/10.1515/9783111063935-010

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aposteriorischer Gottesbeweis, den Kant in der Nova dilucidatio sowie der sog. Inauguraldissertation vorgelegt hat. Mein Beitrag gliedert sich in sechs Abschnitte. Im ersten Abschnitt stelle ich Kants aposteriorischen Gottesbeweis aus der Nova dilucidatio vor. Der zweite Abschnitt stellt heraus, dass Kant dieselben Überlegungen nahezu unverändert in die Inauguraldissertation übernommen hat. Im dritten Abschnitt wird die Aufnahme dieser Problematik in der Kritik der reinen Vernunft diskutiert. Im vierten Abschnitt soll die kritische Umformung des Beweises im Kanonkapitel behandelt werden. In den Abschnitten fünf und sechs werden Variationen des Gedankens in der politischen Philosophie bzw. der Religionsschrift thematisiert.

1 Gott, Substanzen und die Welt Bereits in der frühen Nova dilucidatio verfolgt Kant ein im weitesten Sinn erkenntniskritisches Projekt. Im letzten Abschnitt der Schrift stößt er auf ein besonderes Problem, welches notwendig aus den gemachten Voraussetzungen zu folgen scheint: Die einzelnen Substanzen, deren keine die Ursache des Daseins einer anderen ist, haben ein getrenntes, d. h. ohne alle anderen durchaus verständliches Dasein. Wird mithin einfach das Dasein einer beliebigen gesetzt, so ist in ihr nichts, was das Dasein anderer, von ihr verschiedener, dartäte. (Übersetzung: Monika Bock)⁴

Die angeführte Schwierigkeit folgt unmittelbar aus dem vorausgesetzten Substanzbegriff. Geht man davon aus, dass es sich bei der Substanz um eine selbstständige Entität handelt, die als solche unabhängig von anderen Dingen existieren muss („exsistentiam habent separatam“), so ist fraglich, wie eine Gemeinschaft mit anderen Substanzen zustande gebracht wird. Denn ließe sich von den Bestimmungen einer Substanz auf diejenigen einer anderen schließen, würde die Ursache der Bestimmungen in die zweite Substanz verlegt, was wiederum die begrifflich

4 PND, AA 01: 413: „Substantiae singulae, quarum neutra est causa exsistentiae alterius, exsistentiam habent separatam h. e. absque omnibus aliis prorsus intelligibilem. Posita igitur cuiuslibet exsistentia simpliciter, nihil ipsi inest, quod arguat exsistentiam aliarum a se diversarum.“ Kants Schriften werden zitiert mit Bandnummer und Seitenzahl nach: Immanuel Kant, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen [später: Deutschen] Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff.). Die Kritik der reinen Vernunft wird zitiert mit den Seitenzahlen der ersten (A) und zweiten (B) Auflage. Die Siglen sind dem Verzeichnis der Kant-Studien entnommen. Am Ende des Beitrags findet sich ein Verzeichnis der verwandten Siglen.

Kants Konzeption des Höchsten Gutes als systematische Einheit der Zwecke

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geforderte unabhängige Existenz der Substanzen aufheben würde, da eine notwendige Verbindung zwischen den Substanzen gesetzt worden wäre.⁵ Kant stellt nun aber fest, dass trotz dieser Schwierigkeit, „alles im All in wechselseitiger Verknüpfung verbunden angetroffen wird“.⁶ De facto gibt es also eine einheitliche Erfahrung der Welt, die wiederum voraussetzt, dass die Welt nicht in ihre einzelnen substantiellen Bestandteile zerfällt, sondern einheitlich verbunden ist. Wir erhalten somit den widersprüchlichen Befund, dass es aus begrifflichen Gründen zwar nicht möglich sein kann, dass die Substanzen eine Gemeinschaft bilden, zugleich wird aber eine solche Gemeinschaft durch die Erfahrung bedingt. Wie ist die Verbindung der Substanzen möglich, wenn diese aufgrund ihres Begriffes kausal isoliert und zugleich wechselseitig aufeinander bezogen sein müssen? Kant zufolge kann das nur so geschehen, „daß dies Verhältnis von der Gemeinsamkeit der Ursache, nämlich von Gott als dem allgemeinen Grund (Prinzip) des Daseienden abhängt“ (Übersetzung: Monika Bock)⁷. Das Eingreifen Gottes wird somit in gewisser Hinsicht zur Möglichkeitsbedingung der Erfahrung. Im Detail erklärt sich das folgendermaßen: Das Schema des göttlichen Verstandes, der Ursprung des Daseienden, ist ein fortdauernder Akt, den man Erhaltung nennt, in welchem, wenn beliebige Substanzen für sich allein und ohne Verhältnis der Bestimmungen von Gott vorgestellt werden, keine Verknüpfung zwischen ihnen und keine wechselseitige Beziehung entstände; wenn sie aber in dessen Verstande als in Beziehung stehend vorgestellt werden, so beziehen sich die Bestimmungen später im steten Fortgang des Daseins dieser Vorstellung entsprechend immer aufeinander, d. h., sie wirken und wirken zurück, und es besteht ein äußerer Zustand der einzelnen, den es, wenn man von diesem Grundsatze abwiche, durch ihr bloßes Dasein gar nicht geben würde. (Übersetzung: Monika Bock, modifiziert)⁸

5 Siehe auch Refl 3829, AA 17: 305: „Die Begriffe der substantzen, in so fern sie abstrahirt seyn, sind nur respectiv: daher die Korper substantzen sind, in so fern sie die subiecten der inhaerentz ihrer accidentien seyn und keinem andern bekannten subiect inhaeriren; sie würden aber nicht substantzen heissen, in so fern sie wiederum ein ander subiect [seyn] haben, davon sie blos die Wirkungen seyn.“. 6 PND, AA 01: 413: „[…] nihilo tamen minus omnia in universo mutuo nexu colligata reperiantur […]“. 7 PND, AA 01: 413: „[…] relationem hanc a communione causae, nempe Deo, exsistentium generali principio, pendere confitendum est.“ 8 PND, AA 01: 414: „Schema intellectus divini, exsistentiarum origo, est actus perdurabilis (conservationem appellitant), in quo si substantiae quaevis solitario et absque determinationum relatione a Deo conceptae sunt, nullus inter eas nexus nullusque respectus mutuus orietur; si vero in ipsius intelligentia respective concipiantur, huic ideae in continuatione exsistentiae conformiter postea determinationes semet semper respiciunt, h. e. agunt reaguntque, statusque quidam singularum externus est, qui, si ab hoc principio discesseris, per solam ipsarum exsistentiam nullus esse potest.“

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In der anschließenden Erläuterung betont Kant, als erster erkannt zu haben, dass das Zugleichsein der Substanzen nicht hinreichend für ihre gemeinschaftliche Verbindung ist, sondern dass diese nur durch ihre Beziehung auf einen göttlichen Verstand gestiftet werden kann, genauer durch das Schema des göttlichen Verstandes. Auch wenn im Detail unklar bleibt, wie genau sich Kant dieses Schema vorstellt, fest steht jedenfalls, dass es sich um so etwas wie einen andauernden Akt handeln soll, der zum einen die endlichen Substanzen in ihrem Dasein erhält und zum anderen für die Möglichkeit ihrer Gemeinschaft verantwortlich ist. Nur unter der Voraussetzung, dass die Substanzen durch den göttlichen Verstand in Gemeinschaft stehend gedacht werden, können sie sich in ihrem Dasein tatsächlich aufeinander beziehen. Das göttliche Eingreifen ist somit eine Bedingung der Möglichkeit für die Gemeinschaft der Substanzen, da ansonsten ihre kausale Verknüpfung dem isolationistischen Substanzbegriff widerspräche. Im Umkehrschluss folgt hieraus, dass es einen göttlichen Verstand geben muss, sobald die Gemeinschaft der Substanzen wirklich existiert. Aus diesem Grund glaubt Kant von der Existenz der Körper und des Raumes (beides setzt eine Verbindung von Substanzen voraus) auf die Realität des göttlichen Verstandes schließen zu dürfen (PND, AA 01: 413). Im Nachfolgenden werden wir sehen, dass Kant an den Grundzügen dieser Überlegungen selbst nach der sog. kritischen Wende seiner Philosophie festhält, auch wenn er dem Problem eine neuartige Lösung zuführt.

2 Die Inauguraldissertation Zwischen der Nova dilucidatio und der Kritik der reinen Vernunft liegen 26 Jahre und eine ganze Reihe von Schriften, die Kants zunehmend kritische Haltung gegenüber der leibniz-wolffschen Philosophie bezeugen und zugleich den Einfluss der britischen Empiristen (teils vermittelt durch Kants Zeitgenossen) aufzeigen. Aber ähnlich wie Tetens, Meier oder Lambert legt auch Kant das begriffliche Korsett der wolffschen Philosophie nicht vollständig ab. Die Fragestellungen und konzeptuellen Voraussetzungen bleiben zwar nicht immer, aber doch in vielen Fällen dieselben. Das wird besonders deutlich, wenn man die zentralen Problemstellungen der 1750er Jahre bis in die kritische Periode nachverfolgt. Mit Blick auf unsere Fragestellung gilt, dass trotz einiger Neuerungen Kant dieselbe Problematik auch in seiner 1770 erschienenen Inauguraldissertation diskutiert.⁹ Im Großen und Ganzen stimmt die

9 MSI, AA 02: 390; 407; 408: „Substantiae mundanae sunt entia ab alio, sed non a diversis, sed omnia ab uno. Fac enim illas esse causata plurium entium necessariorum: in commercio non essent ef-

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dort vorgeschlagene Lösung des Problems mit dem Entwurf der Nova dilucidatio überein. Kant sieht sich lediglich genötigt, seine Konzeption noch einmal dezidiert von Leibniz’ prästabilierter Harmonie abzuheben. So weist er darauf hin, dass seine Theorie eine allgemeine Harmonie und keine spezielle, d. h. für die einzelnen Substanzen bestimmte Harmonie darstellt.¹⁰ Kant bleibt 1770 jedoch dabei, dass Substanzen aus begrifflichen Gründen isoliert existieren müssen und die Verbindung der Substanzen folglich das Eingreifen Gottes voraussetzt. Die Verknüpfung aber, welche die wesentliche Form der Welt ausmacht, wird als der Grund der möglichen Einflüsse der die Welt ausmachenden Substanzen betrachtet. Denn die wirklichen Einflüsse gehören nicht zum Wesen, sondern zum Zustand, und die übergehenden Kräfte selbst, die Ursachen der Einflüsse, setzen irgendeinen Grund voraus, durch den es möglich ist, daß die Zustände von mehreren, deren Subsistenz im übrigen voneinander unabhängig ist, sich wechselweise als begründet aufeinander beziehen […]. (Übersetzung: Wilhelm Weischedel)¹¹

Wie Kant herausstellt, kann sich der wirkliche Einfluss einer Substanz auf eine andere nicht auf das Wesen der anderen beziehen, er betrifft lediglich ihren Zu-

fectus, quorum causae ab omni relatione mutua sunt alienae. Ergo UNITAS in coniunctione substantiarum universi est consectarium dependentiae omnium ab uno. Hinc forma universi testatur de causa materiae et nonnisi causa universorum unica est causa universitatis, neque est mundi architectus, qui non sit simul creator.“ Siehe auch die folgende, ungefähr aus dieser Zeit stammende Reflexion (Refl 4137, AA17: 430): „Eine substantz der Welt mag nicht der Schopfer einer andern seyn, weil sie sonst von sich selbst (ihrer ganzen Existenz nach) abhangen würde (ob commercium). (Denn Dinge, die in commercio stehen, können nur durch das, was ihre Existentz als äusserlich abhangig moglich macht, in commercio stehen). Die substantia creatrix est extramundana. Der Schopfer einer substantz ist zugleich der Schopfer aller, weil sie alle übrige in abhangigkeit von dieser Versetzt. (Es ist keine Gemeinschaft ohne ein gemeines principium.) Die Erschaffung ist eine Einheit, d.i. es kamen nicht nach und Nach mehrere substantzen zu den erschaffnen hinzu. Denn sonst würden wir keine Regel oder Einheit zu dem Gebrauche unseres Verstandes haben. Wenn z.E. beym Wachsthum eines Baumes substantzen dazu entstünden; also muß das principium stabile perpetuum auch invariabile in Ansehung der qvantitaet seyn.“ 10 MSI, AA 02: 409: „Harmoniam autem talem voco generaliter stabilitam, cum illa, quae locum non habet, nisi quatenus status quilibet substantiae individuales adaptantur statui alterius, sit harmonia singulariter stabilita […].“ („Eine solche Harmonie aber nenne ich allgemein bestimmt, während diejenige, welche nur statthat, sofern beliebige individuelle Zustände einer Substanz dem Zustand einer anderen angepaßt werden, eine einzeln bestimmte Harmonie ist […].“ Übersetzung: Wilhelm Weischedel). 11 MSI, AA 02: 390: „Nexus autem, formam mundi essentialem constituens, spectatur ut principium influxuum possibilium substantiarum mundum constituentium. Actuales enim influxus non pertinent ad essentiam, sed ad statum, et vires ipsae transeuntes, influxuum causae, supponunt principium aliquod, per quod possibile sit, ut status plurium, quorum subsistentia ceteroquin est a se invicem independens, se mutuo respiciant ut rationata […].“

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stand, d. h. ihre Akzidenzen. Vielmehr wird auch hier ein zusätzlicher Grund benötigt, der die Substantialität der einzelnen Substanzen trotz realem Einfluss erhält. Ohne diesen lässt sich eine übergehende Kraft nicht denken (MSI, AA 02: 407). Aufgrund ihres Daseins beziehen sich Substanzen nicht notwendig auf andere Substanzen, mit Ausnahme auf die Ursache ihrer Existenz, d. h. auf Gott. Die Beziehung des Bewirkten auf die Ursache kann nach Kant jedoch keine Gemeinschaft oder Beiordnung sein, sondern drückt ein Abhängigkeitsverhältnis aus oder eine Unterordnung. Somit wird man auf eine außerweltliche Substanz oder Gott verwiesen, die selbst notwendig ist und Ursache des Daseins der zufälligen Substanzen.¹² Die Einheit der Welt in der Verbindung der Substanzen folgt also aus ihrer Abhängigkeit von einer außerweltlichen Substanz, nämlich Gott (MSI, AA 02: 408). In ihrem Dasein sind die Substanzen somit nicht nur erschaffen von Gott, sondern werden in einem dauernden Akt von ihm erhalten. Aufgrund der durch eine gemeinsame Ursache ausgehenden Erhaltung aller Substanzen von einer, ist auch die harmonische Verknüpfung der Substanzen nach gemeinsamen Gesetzen in Gott selbst gegründet. Eine solche Harmonie aber nenne ich allgemein bestimmt, während diejenige, welche nur statthat, sofern beliebige individuelle Zustände einer Substanz dem Zustand einer anderen angepaßt werden, eine einzeln bestimmte Harmonie ist […]. (Übersetzung: Wilhelm Weischedel)¹³

Trotz vieler Unterschiede, die die Inauguraldissertation von den vorkritischen Schriften Kants trennen, vertritt Kant 1770 noch einen isolationistischen Substanzbegriff, sodass das Eingreifen Gottes notwendig ist, um eine gemeinschaftliche Verbindung der getrennt existierenden Substanzen herzustellen.

3 Einheit der Substanzen in der Kritik der reinen Vernunft In diesem Abschnitt werden wir sehen, dass Kant selbst in der Kritik der reinen Vernunft davon überzeugt bleibt, dass sich Substanzen aus begrifflichen Gründen vollständig isolieren müssen und ihre Verbindung daher problematisch ist. Das

12 Siehe noch einmal Refl 4137, AA 17: 430 (wie Anm. 9). 13 MSI, AA 02: 409: „Harmoniam autem talem voco generaliter stabilitam, cum illa, quae locum non habet, nisi quatenus status quilibet substantiae individuales adaptantur statui alterius, sit harmonia singulariter stabilita […].“

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hebt Kant ausdrücklich in einer allgemeinen Anmerkung zum System der Grundsätze hervor: Endlich ist die Kategorie der Gemeinschaft ihrer Möglichkeit nach gar nicht durch die bloße Vernunft zu begreifen und also die objective Realität dieses Begriffs ohne Anschauung und zwar äußere im Raum nicht einzusehen möglich. Denn wie will man sich die Möglichkeit denken, daß, wenn mehrere Substanzen existieren, aus der Existenz der einen auf die Existenz der anderen wechselseitig etwas (als Wirkung) folgen könne, und also, weil in der ersteren etwas ist, darum auch in den anderen etwas sein müsse, was aus der Existenz der letzteren allein nicht verstanden werden kann? Denn dieses wird zur Gemeinschaft erfordert, ist aber unter Dingen, die sich ein jedes durch seine Subsistenz völlig isolieren [Hervorhebung: A. H.], gar nicht begreiflich. Daher Leibniz, indem er den Substanzen der Welt, nur wie sie der Verstand allein denkt, eine Gemeinschaft beilegte, eine Gottheit zur Vermittelung brauchte; denn aus ihrem Dasein allein schien sie ihm mit Recht unbegreiflich. Wir können aber die Möglichkeit der Gemeinschaft (der Substanzen als Erscheinungen) uns gar wohl faßlich machen, wenn wir sie uns im Raume, also in der äußeren Anschauung vorstellen. Denn dieser enthält schon a priori formale äußere Verhältnisse als Bedingungen der Möglichkeit der realen (in Wirkung und Gegenwirkung, mithin der Gemeinschaft) in sich. (KrV, B 292–293)¹⁴

Das Zitat verdeutlicht, dass Kant auch noch 1787 der Überzeugung ist, dass sich Substanzen ihrem Begriff nach „völlig isolieren“ (B 293). Selbst der erste Schluss, den Kant daraus zieht, stimmt mit dem bekannten Argument von 1755 überein. So soll es nämlich unbegreiflich sein, wie die so verstandenen Substanzen ihrer Existenz nach aufeinander bezogen sein können. Aus diesem Grund ist auch die Anwendung der Kategorie der Gemeinschaft problematisch. Denn die durch den reinen Verstandesbegriff vorgestellte Gemeinschaft von Substanzen widerspricht der durch den Substanzbegriff vorausgesetzten absoluten Selbstständigkeit der Substanz. Die anschließende Kritik an Leibniz, die fast schon entschuldigend darauf hinweist, dass Leibniz das Problem nicht anders als durch die Zuhilfenahme eines 14 Siehe auch die folgenden Reflexionen aus der Zeit nach der Publikation der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft: Refl CIX E 39 – A 235 [s. B 294], AA 23: 35: „Mundus phaenomenon oder ein Ganzes von Substanzen im Raum läßt sich leicht denken, aber gar nicht als noumenon, weil jene isolirt sind.“ Refl 5863, AA 18: 371: „Im Begriffe des Raums liegts, daß eine substantz der Welt in eine andere nicht einfließen kan, ohne von ihr zu leiden.“ Refl 5985, AA 18: 416: „Das commercium der substantzen als phaenomene im Raum macht keine Schwierigkeit – das andere ist transscendent.“ Refl 5988, AA 18: 416–417: „Das sind nicht drey systemata, das commercium zu erklären, sondern die harmonie der substantiarum entweder per commercium oder absqve commercio. Jenes ist der influxus physicus. In der Sinnenwelt ist vermoge des Raumes schon eine Bedingung des commercii, und die äußere caussalitaet (des Einflusses) ist nicht schweerer zu begreifen, als die innere caussalitaet der actionum immanentium. Caussalitaet läßt sich gar nicht begreifen. Nehmen wir aber substantzen als noumena an (ohne Raum und Zeit), so sind sie alle isolirt; folglich anstatt des Raumes muß eine dritte substantz gedacht werden, darin sie alle unter einander in commercio stehen können per influxum physicum.“

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göttlichen Verstandes lösen konnte, richtet sich, wie wir oben gesehen haben, implizit auch gegen Kants eigene frühere Position. Denn der Kant aus den Jahren 1755 und 1770 hat genauso wie Leibniz Gott als Vermittler zur Herstellung der Gemeinschaft der Substanzen eingesetzt, weil diese Gemeinschaft in Ansehung des Begriffes „mit Recht“ (B 293), wie Kant hier noch einmal unterstreicht, nicht eingesehen werden kann. Kant macht deutlich, dass die Bezugnahme auf den göttlichen Verstand lediglich eine Verlegenheitslösung sein kann, die zwar begrifflich gefordert, aber noch immer falsch ist. Dass und warum diese Vorstellung falsch ist, begründet Kant im letzten Teil des Zitats mit dem Hinweis auf seine transzendentalphilosophische Konzeption des Raumes. Denn diese ermöglicht eine neuartige Lösung des Problems: So stellt sich die Frage der Möglichkeit der Verbindung der Substanzen nicht mehr, sobald man die subjektiven Formen der Anschauung, insbesondere das Wesen des Raumes berücksichtigt. Der Raum als äußere Anschauungsform enthält in sich bereits „formale äußere Verhältnisse als Bedingungen der Möglichkeit der realen (in Wirkung und Gegenwirkung, mithin der Gemeinschaft)“. Aus dem Vorausgehenden wissen die Leser der Kritik der reinen Vernunft, dass die reinen Verstandesbegriffe, um überhaupt Anwendung zu finden, schematisiert werden müssen. Das bedeutet, dass diese als allgemeine Regeln auf die Formen der Anschauung bezogen werden müssen. Kant konzentriert sich zwar im Schematismus vor allem auf die Zeit als Form der inneren Anschauung, aber wie die Anwendung der Kategorie der Gemeinschaft in der dritten Analogie der Erfahrung deutlich macht, schließt das ihren räumlichen Bezug nicht nur nicht aus, sondern erfordert diesen sogar. Derselbe Anschauungsbezug bietet nun auch eine neuartige Möglichkeit zur Hebung des Problems, weshalb Substanzen im Raum bereits aufgrund der relationalen Struktur des Raumes als in Gemeinschaft stehend gedacht werden müssen. So erklärt sich nun auch die in der dritten Analogie ausgeführte reale Gemeinschaft der Substanzen, die auf einem wechselseitigen Einfluss beruht.¹⁵ Zugleich wird jedoch klar, dass sich die von Kant in der dritten Analogie ausgeführte Position grundlegend von der vorkritischen Theorie des physischen Einflusses unterscheiden muss. Denn auch wenn Kant dort zumindest dem Namen nach von einem allgemeinen, wechselseitigen Einfluss der Substanzen spricht, besteht doch ein alles entscheidender Unterschied zur Theorie des influxus phyiscus der Jahre vor 1781. Was Kant nämlich in der dritten Analogie in eine wechselseitige

15 KrV, A214/B261: „Soll diese subjektive Gemeinschaft auf einem objektiven Grunde beruhen, oder auf Erscheinungen als Substanzen bezogen werden, so muß die Wahrnehmung der einen, als Grund, die Wahrnehmung der andern, und so umgekehrt, möglich machen, damit die Sukzession, die jederzeit in den Wahrnehmungen als Apprehensionen ist, nicht den Objekten beigelegt werde, sondern diese als zugleichexistierend vorgestellt werden können. Dieses ist aber ein wechselseitiger Einfluß, d. i. eine reale Gemeinschaft (commercium) der Substanzen […].“

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Gemeinschaft setzt, sind keine selbstständigen Substanzen, die durch ihre Gemeinschaft die Existenz des Raumes bewirken könnten. Stattdessen hat man es nur mit Substanzen in der Erscheinung, d. h. aber Substanzen, die bereits durch die beiden transzendentalen Anschauungsformen Raum und Zeit formal bestimmt sind, zu tun. Vor dem Hintergrund der leibniz-wollfschen Metaphysik genauso wie der oben ausgeführten vorkritischen Position Kants folgt somit, dass Kant das Problem der Gemeinschaft der Substanzen löst, indem er den traditionellen Substanzbegriff aufgibt und stattdessen nur Substanzen in der Erscheinung, d. h. also phaenomenale Substanzen zulässt. Entsprechend gibt Kant ausschließlich die Beharrlichkeit als Kriterium für Substantialität an, die selbst wiederum zur Repräsentation der zeitlichen Dauer eine räumliche Ausdehnung verlangt.¹⁶

4 Systematische Einheit der Zwecke als höchstes Gut Vor diesem Hintergrund kommen wir nun zurück zum höchsten Gut. Im zweiten Abschnitt des Kanons der reinen Vernunft thematisiert Kant das Ideal des höchsten Guts. In diesem Kontext macht er auf den Vorteil aufmerksam, den seine Moraltheologie gegenüber der spekulativen Theologie besitzt. Diesen sieht er darin, daß sie unausbleiblich auf den Begriff eines einigen, allervollkommensten und vernünftigen Urwesens führet, worauf uns spekulative Theologie nicht einmal aus objektiven Gründen hinweiset, geschweige uns davon überzeugen konnte. Denn, wir finden weder in der transzendentalen, noch natürlichen Theologie, so weit uns auch Vernunft darin führen mag, einigen bedeutenden Grund, nur ein einiges Wesen anzunehmen, welches wir allen Naturursachen vorsetzen, und von dem wir zugleich diese in allen Stücken abhängend zu machen hinreichende Ursache hätten. […] Denn, wie wollten wir unter verschiedenen Willen vollkommene Einheit der Zwecke finden? (KrV, A814–815/B842–843)

Bevor wir Kants Argument genauer in Augenschein nehmen, möchte ich an ein wesentliches Ergebnis der obigen Diskussion erinnern: Kant war in seiner vorkritischen Philosophie davon überzeugt, dass die Existenz einer Gemeinschaft von Substanzen den Schluss auf ihre außerweltliche, notwendige Ursache erlaubt: einen göttlichen Verstand. Denn ohne diesen wäre die Verbindung von Substanzen, die sich ihrem Begriff nach vollständig isolieren, unmöglich. Auf diesen Gottesbeweis

16 Siehe ausführlich zum kantischen Substanzbegriff mit weiteren Literaturangaben Hahmann 2009.

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sowie auf die Begründung der Gemeinschaft der Substanzen als Voraussetzung der erfahrbaren Welt verzichtet Kant 1781 aufgrund der transzendentalphilosophisch veränderten Voraussetzungen, wie wir im vorausgehenden Abschnitt gesehen haben. Auffallend ist jedoch, dass Kant mit einem ähnlichen Problem konfrontiert wird: „wie wollten wir unter verschiedenen Willen vollkommene Einheit der Zwecke finden?“ In welchem Verhältnis steht die Frage der Vereinigung einzelner Willen zu einer vollkommenen Einheit der Zwecke zum vorkritischen Problem der Verbindung selbständiger Substanzen zu einer Welt? Warum kann auch in diesem Fall ausschließlich ein höchst vollkommenes Wesen die systematische Einheit herbeiführen? Zunächst steht fest, dass Anlass für die Frage nicht mehr das kosmologische Problem der Gemeinschaft der Substanzen in ihrer Verbindung zu einer Welt liefert, sondern das Problem ist durch ein praktisches Interesse der Vernunft motiviert. Die Untersuchung geht also von der Frage aus: „wenn ich nun tue, was ich soll, was darf ich alsdenn hoffen?“ (KrV, A805/B833) Nach Kant zeichnet sich die Frage dadurch aus, dass sie sowohl theoretische als auch praktische Elemente aufweist. So wird zwar eine theoretische Erkenntnis gefordert, doch diese kann nur im Hinblick auf das Praktische gewonnen werden. Während also die theoretische Erkenntnis auf eine Erweiterung über die Grenzen der Erfahrung hinaus abzielt, somit ihrem Wesen nach metaphysisch ist, enthält die Antwort die wichtige Einschränkung, dass sie nur in Bezug auf das Praktische gültig ist. In der späteren Preisschrift bezeichnet Kant diesen Ansatz als praktisch-dogmatische Metaphysik, die selbst die letzte Stufe in der Entwicklung der Metaphysik darstellt.¹⁷ An dieser Stelle setzt Kant voraus, dass die moralischen Gesetze als (praktisch) sicher existieren und daher keiner weiteren Begründung bedürfen.¹⁸ Fraglich ist jedoch, wie sich die Erfüllung ihrer Forderung auf das Ziel der menschlichen Hoffnung, die Glückseligkeit, bezieht. Da es aber moralische Gesetze gibt, die das menschliche Handeln bestimmen, muss es nach Kant möglich sein, dass solche

17 KrV, A818/B846: „Und so hat am Ende doch immer nur reine Vernunft, aber nur in ihrem praktischen Gebrauche, das Verdienst, ein Erkenntnis, das die bloße Spekulation nur wähnen, aber nicht geltend machen kann, an unser höchstes Interesse zu knüpfen, und dadurch zwar nicht zu einem demonstrierten Dogma, aber doch zu einer schlechterdings notwendigen Voraussetzung bei ihren wesentlichsten Zwecken zu machen.“ 18 KrV, A807/B835: „Ich nehme an, daß es wirklich reine moralische Gesetze gebe, die völlig a priori (ohne Rücksicht auf empirische Bewegungsgründe, d. i. Glückseligkeit,) das Tun und Lassen, d. i. den Gebrauch der Freiheit eines vernünftigen Wesens überhaupt, bestimmen, und daß diese Gesetze schlechterdings (nicht bloß hypothetisch unter Voraussetzung anderer empirischer Zwecke) gebieten […].“

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Handlungen, die nach diesen Gesetzen geschehen sind, auch tatsächlich in der Geschichte zu finden sind. Denn, da sie [die reine Vernunft; A. H.] gebietet, daß solche geschehen sollen, so müssen sie auch geschehen können, und es muß also eine besondere Art von systematischer Einheit, nämlich die moralische, möglich sein, indessen daß die systematische Natureinheit nach spekulativen Prinzipien der Vernunft nicht bewiesen werden konnte […]. (KrV, A807/B835)

Dieser letzte Hinweis ist bemerkenswert, denn er erinnert uns zum einen daran, dass es unmöglich ist, eine solche systematische Einheit allein durch spekulative Prinzipien zu begründen, mit anderen Worten: Die systematische Einheit der Welt nach ihrer Substanz kann nicht theoretisch erkannt werden (wie wir oben gesehen haben). Andererseits, und das wird uns später beschäftigen, weist Kant bereits auf die theoretische Funktion dieses praktisch gewonnenen Ideals der reinen Vernunft hin, nämlich im Hinblick auf die Verwirklichung einer zweckmäßigen Einheit der Natur, die als solche von der Vernunft gefordert wird. Wenn nun aber die Welt nach den moralischen Gesetzen und damit als systematische Einheit gedacht wird, ist sie eine moralische Welt. Hierbei wird von den sinnlichen Hindernissen der Handlungen abstrahiert, abhängig davon, was sittlich geboten ist: Dies ist eine praktische Idee, die zwar nicht mit der sinnlichen Welt zusammenfällt, aber dennoch als Vernunftidee auf das einwirken soll, was Kant nun „Sinnenwelt“ nennt (KrV, A808/B836). Der in der Inauguraldissertation eingeführten Welt der Sinne (mundus sensibilis) stellt Kant eine moralische Welt (als mundus intelligibilis) gegenüber. Im Hinblick auf die moralische Welt sind zwei Dinge zu beachten: Erstens hat sie die Realität nicht als Gegenstand einer intelligiblen Anschauung und zweitens zeichnet sie sich dadurch aus, dass sie eine durchgehende systematische Einheit der freien Willen eines jeden Individuums mit sich selbst und mit allen anderen aufweist. Letzteres folgt aus dem Sittengesetz, nämlich aus der notwendig vorausgesetzten Einheit der moralischen Vernunftprinzipien in ihrem praktischen Gebrauch. Diese vorausgesetzte Einheit im praktischen Gebrauch entspricht nach Kant im theoretischen Gebrauch der Vernunft die Annahme der Zuteilung des Glücks nach Maßgabe der Würdigkeit, es verdient zu haben. Damit ist die erkenntniserweiternde Hoffnung gemeint, deren Gegenstand nun als verdiente Folge solcher Handlungen spezifiziert wird, die mit der moralischen Forderung übereinstimmen. Aus dieser theoretischen Annahme zusammen mit den praktisch notwendigen Prinzipien ergeben sich zwei Systeme: das des Glücks und das der

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Moral. Beide Systeme sollen „in der Idee der reinen Vernunft“ verbunden sein.¹⁹ Der Zusammenhang besteht darin, dass in einer intelligiblen Welt die Glückseligkeit tatsächlich im Verhältnis zum Glück ausgeteilt wird. Dies wiederum kann nur in einer intelligiblen Welt geschehen, „weil die durch sittliche Gesetze teils bewegte, teils restringierte Freiheit, selbst die Ursache der allgemeinen Glückseligkeit, die vernünftigen Wesen also selbst, unter der Leitung solcher Prinzipien, Urheber ihrer eigenen und zugleich anderer dauerhafte Wohlfahrt sein würden“ (KrV, A809/B837). Kant geht offenbar davon aus, dass unter dieser Voraussetzung jedes Individuum sein Glück durch Handeln nach den moralischen Gesetzen herbeiführen kann. Aber dieses System der sich selbst lohnenden Moralität ist nur eine Idee, deren Ausführung auf der Bedingung beruht, daß jedermann tue, was er soll, d. i. alle Handlungen vernünftiger Wesen so geschehen also ob sie aus einem obersten Willen, der alle Privatwillkür in sich, oder unter sich befaßt, entsprängen. (KrV, A809–810/B837–838)

Die systematische Einheit ist also auch in diesem Fall nur dann gegeben, wenn sie durch einen einheitlichen höchsten Willen parallel zur Vereinigung der selbstständigen Substanzen zur Welt begründet wird. Problematisch erweist sich jedoch, dass die notwendige Hoffnung auf den Zusammenhang des Glücks mit der Sittlichkeit der tatsächlichen Erfahrung widerspricht. Anders als der Nachweis des Zusammenhangs der Substanzen (für den die Existenz des Raumes gesprochen hat), kann der Zusammenhang in diesem Fall nicht durch Erfahrung bezeugt werden, er widerspricht ihr vielmehr. Wird somit lediglich die Natur als Grundlage für die Erfüllung der Hoffnung genommen, so wäre die Hoffnung vergeblich. Der Lohn der Sittlichkeit kann also nur dann als möglich zugestanden werden, wenn ein „höchste Vernunft, die nach moralischen Gesetzen gebietet, zugleich als Ursache der Natur zum Grunde gelegt wird“ (KrV, A810/B838). Die Idee dieser höchsten Vernunft, die Kant hier wohl nicht zufällig als „Intelligenz“ bezeichnet, soll nun das „Ideal des höchsten Guts“ (KrV, A810/B838) sein. Er fügt sogleich hinzu, dass es sich um das höchste ursprüngliche Gut handelt, denn von diesem wird das abgeleitete höchste Gut unterschieden: die intelligible oder moralische Welt.²⁰ Die moralische Welt setzt sich also aus zwei Elementen zusammen, der Sittlichkeit und der Glückseligkeit. Und weil diese Welt offensichtlich nicht existiert, wird man sie als „künftige Welt“ (KrV, A811/B839) betrachten müssen. Das bedeutet für Kant in der Kritik der reinen Vernunft (noch), dass diese Welt mit einem zukünftigen Leben verbunden ist.

19 KrV, A809/B837: „[…] daß also das System der Sittlichkeit mit dem der Glückseligkeit unzertrennlich, aber nur in der Idee der reinen Vernunft verbunden sei.“ 20 Zur Unterscheidung zwischen ursprünglichem und abgeleitetem höchsten Gut siehe Hahmann (im Erscheinen).

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Wichtig für uns ist aber vor allem die Feststellung, dass die Moral ein System darstellt und dass Kant den systematischen Charakter vorerst nur in der Moral entdeckt. Nur bei ihr findet sich die von der Vernunft geforderte Einheit, in der die freien Willen der Menschen mit sich und untereinander in Einklang stehen. Das Glück hingegen ist durch Beliebigkeit gekennzeichnet (also abhängig davon, worin die einzelnen Akteure ihr Glück suchen). Diese Beliebigkeit hat allerdings zur Folge, dass die freien Willen der Einzelnen nicht einer übergeordneten Systematik folgend eingeschränkt werden. Die systematische Einheit ist, wie Kant noch einmal hervorhebt, „nur möglich in der intelligibelen Welt, unter einem weisen Urheber und Regierer“ (KrV, A811/B839; A813/B 841). Dass diese Zweckeinheit zugleich der Garant für die Triebfeder des moralischen Gesetzes sein soll (KrV, A811–812/B839–840), ist für die Argumentation an dieser Stelle wichtig, wird aber später von Kant aufgegeben.²¹ Im Hinblick auf die oben dargestellte vorkritische Debatte ist der folgende Hinweis auf Leibniz aufschlussreich: Kant erinnert daran, dass Leibniz den Zusammenhang der Wesen nach sittlichen Gesetzen als ein Reich der Gnaden betrachtete und dieses vom Reich der Natur unterschieden hat. Bekanntlich findet für Leibniz die Verbindung der beiden Reiche durch eine prästabilierte Harmonie statt. Hiergegen hat Kant sich bereits zuvor in der Schrift von 1755 gewandt. Bei allen Unterschieden zwischen Kants vorkritischem Ansatz und der in der Kritik der reinen Vernunft dargelegten Theorie stimmen beide Ansätze darin überein, dass die geforderte Einheit nur durch eine göttliche Vernunft – nun verstanden als das höchste ursprüngliche Gut – begründet werden kann. Nur Gott „gründet, erhält und vollführet“ (KrV, A814/B842) die geforderte systematische Einheit. Auf dieser Grundlage argumentiert Kant 1781 für die Existenz Gottes (KrV, A815/B843). Im Hinblick auf die vorangegangene Diskussion ist zudem beachtlich, dass Kant an dieser Stelle dezidiert nicht von noumenalen Substanzen, sondern von den freien Willen der Individuen spricht. Substanz bezeichnet für Kant seit 1781 (mittels der Anwendung des reinen Verstandesbegriff ) nur noch das beharrliche Substrat der Erscheinungen. Wir haben oben gesehen, dass diese Einschränkung für die Lösung des Problems der Vereinigung der Substanzen zu einer Welt entscheidend ist. Kant grenzt die systematische Einheit der Zwecke ausdrücklich von der Sinnenwelt ab und stellt sie stattdessen als intelligible oder moralische Welt dar

21 Dass die kantischen Ausführungen zum höchsten Gut und der Stellenwert, den Kant diesem beimisst, zwischen der Kritik der reinen Vernunft und den späteren Texten zum Teil erhebliche Unterschiede aufweisen, ist bekannt. Zur frühen Konzeption des höchsten Gutes siehe Refl 7097 (1776–1778), AA 19: 248; Refl 6110, AA 18: 458. Diese Ansicht wird von Kant später explizit zurückgewiesen. Siehe KpV, AA 05: 71 ff., 109; KU AA 05: 450. Zur Entwicklung der kantischen Position siehe Düsing 1971, Forschner 1988 und Hahmann (im Erscheinen).

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(„regnum gratiae“ KrV, A815/B843). Diese Einheit soll aber auch zur systematischen Einheit aller Dinge führen. Es geht Kant also um nichts Geringeres als um die Vereinigung von spekulativer und praktischer Vernunft, d. h. der Verbindung des Reichs der Natur mit dem Reich der Gnaden, wie Leibniz es formulierte.²² In dieser Funktion gibt nun das Ideal des höchsten Gutes die Richtung für die Erforschung der Natur vor. Denn nur unter der Bedingung, dass diese systematische Einheit der Zwecke überhaupt besteht, somit praktische und theoretische Zwecksetzung verbunden sind, darf man auch in der spekulativen Naturbetrachtung eine systematische Einheit voraussetzen. Letzteres ist aber Kant zufolge durch das Wesen der Vernunft selbst gefordert (siehe den unmittelbar folgenden Abschnitt über die Architektonik der reinen Vernunft). Das bezeichnet für Kant an dieser Stelle die transzendentale Theologie, „die sich das Ideal der höchsten ontologischen Vollkommenheit zu einem Prinzip der systematischen Einheit nimmt, welches nach allgemeinen und notwendigen Naturgesetzen alle Dinge verknüpft, weil sie alle in der absoluten Notwendigkeit eines einigen Urwesens ihren Ursprung haben“ (KrV, A816/B844). In den folgenden beiden Abschnitten werde ich darlegen, dass Kant in der kritischen Philosophie nicht nur an diesem Gedanken festhält, wie anhand der später publizierten Religionsschrift deutlich wird, sondern auch auf weitere Problemstellungen ausdehnt, was anhand einer Fragestellung aus Kants politischer Philosophie verdeutlicht werden soll.

5 Höchstes politisches Gut Kant beschließt seine Rechtslehre mit der Feststellung, dass die „fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Theil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausmache“ (MS, AA 06: 355). Dieser „ewige[…] Frieden“ wird von Kant als das „höchste[…] politische[…] Gut“ (ebd.) bezeichnet. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Staaten den rechtlosen

22 KrV, A815–816/B843–844: „Aber diese systematische Einheit der Zwecke in dieser Welt der Intelligenzen, welche obzwar, als bloße Natur, nur Sinnenwelt, als ein System der Freiheit aber, intelligibele, d. i. moralische Welt […] genannt werden kann, führet unausbleiblich auch auf die zweckmäßige Einheit aller Dinge, die dieses große Ganze ausmachen, nach allgemeinen Naturgesetzen, so wie die erstere nach allgemeinen und notwendigen Sittengesetzen, und vereinigt die praktische Vernunft mit der spekulativen. Die Welt muss also aus einer Idee entsprungen vorgestellt werden, wenn sie mit demjenigen Vernunftgebrauch, ohne welchen wir uns selbst der Vernunft unwürdig halten würden, nämlich dem moralischen, als welcher durchaus auf der Idee des höchsten Guts beruht, zusammenstimmen soll.“

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Zustand, der zwischen ihnen besteht, aufheben und in ein Rechtsverhältnis treten. Kant vergleicht den real existierenden rechtlosen Zustand zwischen den Staaten mit dem Naturzustand der Menschen.²³ Aber anders als im Naturzustand der Menschen können die Staaten nicht gezwungen werden, ihre eigene Souveränität aufzugeben und in einen gemeinschaftlichen rechtlichen Zustand überzugehen, den Kant auch als „Völkerstaat“ (ZeF, AA 08: 354) bezeichnet.²⁴ Als Substitut stellt Kant in der Friedensschrift einen Völkerbund sozusagen als „negative[s] Surrogat“ (ZeF, AA 08: 357)²⁵ einer Weltrepublik in Aussicht. Das Zurückschrecken Kants vor dem Völkerstaat wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Kant begründet die Einschränkung an dieser Stelle mit dem Hinweis, dass sich daraus ein Widerspruch ergeben soll.²⁶ Diese Begründung wird meist als kryptisch oder nicht nachvollziehbar betrachtet.²⁷ Unklar ist nicht nur, von welcher Art der Widerspruch ist, sondern auch, worauf sich dieser beziehen soll.²⁸ Ich werde im Nachfolgenden zeigen, dass Kants Zurückhaltung vor dem Hintergrund der oben herausgestellten Problematik der Verbindung der Substanzen zu einer Welt gesehen werden muss.

23 Geismann 1983 und Kleingeld 2004 bezweifeln, dass es keine relevanten Unterschiede zwischen einzelnen Personen und Völkern gibt. 24 Siehe auch TP, AA 08: 312: „Die menschliche Natur erscheint nirgend weniger liebenswürdig, als im Verhältnisse ganzer Völker gegen einander. Kein Staat ist gegen den andern wegen seiner Selbstständigkeit oder seines Eigenthums einen Augenblick gesichert. Der Wille einander zu unterjochen oder an dem Seinen zu schmälern ist jederzeit da; und die Rüstung zur Vertheidigung, die den Frieden oft noch drückender und für die innere Wohlfahrt zerstörender macht, als selbst den Krieg, darf nie nachlassen. Nun ist hierwider kein anderes Mittel, als ein auf öffentliche mit Macht begleitete Gesetze, denen sich jeder Staat unterwerfen müßte, gegründetes Völkerrecht (nach der Analogie eines bürgerlichen oder Staatsrechts einzelner Menschen) möglich […].“ Siehe Höffe 2004, S. 113; 119. 25 ZeF, AA 08: 357: „Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völkerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positiven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren werden soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abwehrenden, bestehenden und sich immer ausbreitenden Bundes den Strom der rechtscheuenden, feindseligen Neigung aufhalten […].“ 26 ZeF, AA 08: 354: „Darin aber wäre ein Widerspruch: weil ein jeder Staat das Verhältnis eines Oberen (Gesetzgebenden) zu einem Unteren (Gehorchenden, nämlich dem Volk) enthält, viele Völker aber in einem Staat nur ein Volk ausmachen würden, welches (da wir hier das Recht der V ö l k e r gegen einander zu erwägen haben, so fern sie so viel verschiedene Staaten ausmachen, und nicht in einem Staat zusammenschmelzen sollen) der Voraussetzung widerspricht.“ 27 Siehe Dörflinger 2017. 28 Ausführlich zur Art des Widerspruchs siehe Höffe 2004, S. 109–115; Kleingeld 2004, S. 213; Dörflinger 2017; Hahmann 2018.

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Den entscheidenden Hinweis hierauf liefert uns Kant selbst in einer Reflexion, die von Adickes auf den Zeitraum zwischen 1780 und 1789 datiert wird. Dort heißt es:²⁹ Einzelne Menschen in statu naturali können gezwungen werden mit andern in statum civilem zu treten. Auch Völker, die keine eigentliche bürgerliche Verfassung haben, so daß ein benachbartes civilisirtes Volk wieder einzelner Personen Gewalt bey ihnen Gerechtigkeit finde. Aber Völker können einander nicht so in den Statum civilem Zwingen, daß eines den andern oder mit dem andern einen gemeinschaftlichen Herrn erkenne, es sey denn daß seine Läsion den Frieden auf alle Zukunft vergeblich macht, und da kann dieses auch nur mit Zustimmung anderer Geschehen. Ein einzelner Mensch, weil er keine andere Sicherheit wegen künftiger Beleidigungen leisten kann, ist iuridisch nur accidens, welches nur existiren kan inhaerendo. Ein bürgerliches Ganze ist Substanz. Es ist die Frage, ob die Verwandlung der substantzen in accidentia oder dieser in substantzen der Zwek der Menschheit und Pflicht des Staats gegen sich selbst sey, sich als besondern Staat zu erhalten und diese Pflicht nicht könne aufgegeben werden. Im letzteren Fall bleibt Einheit des commercii (Völkerbund) das einzige, was den Zwek der Menschheit ausmacht, nicht Einheit der Inhärenz, nicht Einheit der dependentz von einem obersten Schiedsrichter sondern der Freyheit jedes einzelnen Staats unter allgemeinen Gesetzen. Autonomie. (Ref. 8065, AA 19: 599–600.)³⁰

Kant ist also der Ansicht, dass so wie die Vereinigung der Substanzen zu einer Welt die Substantialität der einzelnen Substanzen (also ihren Selbststand) aufheben und diese zu einer allumfassenden (spinozistischen) Substanz verwandeln würde, was, wie gesagt, in einem begrifflichen Widerspruch zur Substanz steht, würde auch der Völkerstaat die Souveränität der einzelnen Staaten zugunsten einer allumfassenden

29 Dass Kant in seinen politischen bzw. geschichtsphilosophischen Überlegungen sowie in anderen Kontexten auf naturphilosophische Überlegungen zurückgreift, bemerken Brandt 1997, S. 230–231 und Hüning 2014, S. 259. 30 Siehe auch eine bemerkenswerte Passage aus den Vorarbeiten zur Friedensschrift, wo Kant das äußere Verhältnis der Staaten mit den Wellen vergleicht, die Kieselsteine auf der Wasseroberfläche erzeugen, wenn sie zusammen ins Wasser geworfen werden (VAZeF, AA 23: 171): „Die Idee des Völkerrechts setzt voraus daß es verschiedene benachbarte Staaten gebe die von einander getrennt wegen ihrer Rechte in Streit mit einander kommen können denn selbst dieser Zustand der Zwietracht ist doch besser als die Eintracht welche aus dem Zusammenschmeltzen vieler Staaten in einen großen der Universalmonarchie die mehrmalen ist versucht worden aber keinen Bestand haben kann weil das Vermögen der Regierung nach Gesetzen nur desto schwächer wird je mehr die zu regierende Menge zunimmt und so der Despotism in eine sich selbst zerstöhrende Anarchie ausschlägt. – ein jeder noch so kleine Staat ist immer bestrebt sich als den Mittelpunkt der Erweiterung über alle andere anzusehen die Natur aber will daß dieses doch ohne Vermengung geschehe so wie eine Menge Kieselsteine auf die ruhige Oberfläche des Wassers geworfen jeder von seiner Stelle aus seine kreisförmige Wellen (oder eine) in unabsehliche ausbreitet die sich zwar regelmäßig durchkreutzen aber nicht vermischen. Zu dem Ende nämlich diese Absonderung zu bewirken hat sie sich jener Mittel bedient der Verschiedenheit der Sprachen und der Religionen. Sprach- und Religionsunterschied lassen Staaten nicht zusammenfließen.“

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Zwangsgewalt aufheben. Die Staaten würden sich mithin als einzelne Staaten auflösen, weshalb der Völkerstaat die Selbstständigkeit oder Substantialität der Staaten in ein Inhärenzverhältnis verwandeln würde. Wir haben gesehen, dass diese Schwierigkeit nur durch göttliches Eingreifen gehoben werden kann. So betrachtet ist es nicht überraschend, wenn Kant auch in der Errichtung eines Völkerstaates auf göttliche Lenkung vertraut: Aber solchen Zwangsgesetzen […] werden sich Staaten doch nie unterwerfen; und der Vorschlag zu einem allgemeinen Völkerstaat, unter dessen Gewalt sich alle einzelne Staaten freiwillig bequemen sollen […] mag in der Theorie eines Abbé von St. Pierre, oder eines Rousseau noch so artig klingen, so gilt er doch nicht für die Praxis: […] Ich meinerseits vertraue dagegen doch auf die Theorie, die von dem Rechtsprincip ausgeht, wie das Verhältniß unter Menschen und Staaten sein soll […] – zugleich aber auch (in subsidium) auf die Natur der Dinge, welche dahin zwingt, wohin man nicht gerne will (fata volentem ducunt, nolentem trahunt). […] So bleibt es also auch in kosmopolitischer Rücksicht bei der Behauptung: Was aus Vernunftgründen für die Theorie gilt, das gilt auch für die Praxis. (TP, AA 08: 312–313)

Kant spricht hier zwar von der „Natur der Dinge“ bzw. in der Friedensschrift von einer „Naturgarantie“, die den Willen der „große[n] Künstlerin Natur“ (ZeF, AA 08: 360) enthält, wie das lateinische Zitat aus Seneca jedoch andeutet, ist damit nichts anderes als die göttliche Vorsehung gemeint. In diesem Sinne löst Kant dieselbe Schwierigkeit in der Kritik der Urteilskraft mit den Hinweis auf die „oberste[…] Weisheit“³¹, die Kant selbstverständlich mit dem „intellectus divini“ (also dem

31 KU, AA 05: 432–33: „Die formale Bedingung, unter welcher die Natur diese ihre Endabsicht allein erreichen kann, ist diejenige Verfassung im Verhältnisse der Menschen untereinander, wo dem Abbruche der einander wechselseitig widerstreitenden Freiheit gesetzmäßige Gewalt in einem Ganzen, welches bürgerliche Gesellschaft heißt, entgegengesetzt wird; denn nur in ihr kann die größte Entwickelung der Naturanlagen geschehen. Zu derselben wäre aber doch, wenn gleich Menschen sie auszufinden klug und sich ihrem Zwange willig zu unterwerfen weise genug wären, noch ein weltbürgerliches Ganze, d. i. ein System aller Staaten, die auf einander nachtheilig zu wirken in Gefahr sind, erforderlich. In dessen Ermangelung und bei dem Hinderniß, welches Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht vornehmlich bei denen, die Gewalt in Händen haben, selbst der Möglichkeit eines solchen Entwurfs entgegen setzen, ist der Krieg (theils in welchem sich Staaten zerspalten und in kleinere auflösen, theils ein Staat andere, kleinere mit sich vereinigt und ein größeres Ganze zu bilden strebt) unvermeidlich: der, so wie er ein unabsichtlicher (durch zügellose Leidenschaften angeregter) Versuch der Menschen, doch tief verborgener, vielleicht absichtlicher der obersten Weisheit ist, Gesetzmäßigkeit mit der Freiheit der Staaten und dadurch Einheit eines moralisch begründeten Systems derselben, wo nicht zu stiften, dennoch vorzubereiten und ungeachtet der schrecklichsten Drangsale, womit er das menschliche Geschlecht belegt, und der vielleicht noch größern, womit die beständige Bereitschaft dazu im Frieden drückt, dennoch eine Triebfeder mehr ist (indessen die Hoffnung zu dem Ruhestande einer Volksglückseligkeit sich immer weiter entfernt) alle Talente, die zur Cultur dienen, bis zum höchsten Grade zu entwickeln.“

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göttlichen Verstand, PND, AA 01: 414) bzw. der „höchste[n] Vernunft“ (KrV, A810/ B838) und somit schließlich dem „höchsten ursprünglichen Gut“ (KrV, A810/B838) assoziiert.

6 Das höchste Gut als sittliches Gemeinwesen Werfen wir zum Schluss einen Blick auf Kants Religionsschrift. Ausgangspunkt ist diesmal nicht der rechtliche, sondern der ethische Naturzustand.³² Erneut haben wir es mit der Schwierigkeit zu tun, dass man anders als im rechtlichen Naturzustand nicht dazu gezwungen werden kann, den ethischen Naturzustand zugunsten eines ethischen Gemeinwesens aufzugeben. Auch hier konstatiert Kant einen Widerspruch, „denn daß jenes seine Bürger zwingen sollte, in ein ethisches gemeines Wesen zu treten, wäre ein Widerspruch (in adjecto), weil das letztere schon in seinem Begriffe die Zwangsfreiheit bei sich führt“ (RGV, AA 06: 95). Weil der Einzelne nun aber unmöglich die durch das moralische Gesetz geforderte Reinheit des Willens verwirklichen kann, kann auch die Beförderung des höchsten Gutes nicht als ausschließliche Verpflichtung eines einzelnen Menschen angesehen werden, sondern als eine Pflicht „des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ (RGV, AA 06: 97). Die Pflicht bezieht sich folglich auf die ganze Gattung und betrifft das einzelne Subjekt nur insoweit, als es Teil der Gattung ist, weshalb die Beförderung des höchsten Gutes auch zur gemeinschaftlichen Aufgabe aller Menschen wird. Kant fasst den Gedanken der erforderlichen gemeinsamen Anstrengung zur Realisierung des höchsten Gutes prägnant zusammen: Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht der Art und dem Princip nach von allen andern unterschieden. – Man wird schon zum voraus vermuthen, daß diese Pflicht der Voraussetzung einer andern Idee, nämlich der eines höhern moralischen Wesens, bedürfen werde, durch dessen allgemeine Veranstaltung die für

32 RGV, AA 06: 95. Auf die Parallele zum rechtlichen Naturzustand macht Kant wiederholt aufmerksam. Siehe etwa RGV, AA 06: 33–34.

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sich unzulänglichen Kräfte der Einzelnen zu einer gemeinsamen Wirkung vereinigt werden. (RGV, AA 06: 97–8)

Dass es die Macht der Individuen übersteigt, in ihrem Leben die im höchsten Gut geforderte vollständige Angleichung der Gesinnung an das moralische Gesetz zu bewirken, folgt bereits aus der Reinheit bzw. Heiligkeit dieses Gesetzes.³³ Dahinter steht der von Kant in der Religionsschrift ausgeführte Gedanke, dass der Mensch eine ständige Neigung zum Bösen hat und vollständige Angleichung der Gesinnung an das moralische Gesetz letztlich nur so erreicht werden kann, dass die Menschen sich der gegenseitigen Unterstützung versichern, um die Herrschaft des guten Prinzips zu erwirken.³⁴ Gefordert ist somit eine nach Tugendgesetzen geordnete Gesellschaft, was wiederum nur in einer Kirche möglich sein soll (RGV, AA 06: 94),³⁵ da nur so die Herrschaft des guten Prinzips bzw. die vollständige Verwirklichung des Sittengesetzes erreicht werden kann. Diese Gemeinschaft erstreckt sich notwendig auf das ganze Menschengeschlecht: „Denn so allein kann für das gute Princip über das Böse ein Sieg erhofft werden.“ (RGV, AA 06: 94) Die Idee einer solchen nach Tugendgesetzen geordneten Gemeinschaft, zur deren Errichtung die Menschen verpflichtet sind, ist jedoch in gewisser Hinsicht unterschieden von der Forderung, dem Sittengesetz Folge zu leisten, auch wenn Ersteres, wie sich nun deutlicher zeigt, aus Letzterem folgen muss, da die vollständige Angleichung der Gesinnung nur unter der Voraussetzung einer solchen Gemeinschaft gedacht werden kann. Gleichwohl steht es anteilig in der Macht des Einzelnen, seinen Beitrag zur Realisierung dieser Gemeinschaft als der notwendigen Voraussetzung zur Verwirklichung des höchsten Gutes als Reich Gottes zu leisten, und zwar indem dieser danach strebt, seine Gesinnung vollständig dem moralischen Gesetz anzugleichen. Dazu ist der Mensch verpflichtet, auch dann, wenn es nicht in seiner Gewalt steht, das höchste Gut als diese gemeinschaftliche Verbindung zu bewirken. Denn die Verwirklichung des höchsten Gutes verstanden als umfassendes System der Zwecke erfordert den Beistand eines höheren Wesens.

33 Zum Ideal der Heiligkeit siehe Refl 7312, AA 19: 309 sowie die sowie die Erläuterung Kants in VMet/Heinze (1790–1), AA 28: 801. Zur Vorstellung des Ideals in den 1760er und 70er Jahren siehe Refl 6611, AA 19: 109–9. Zum Unterschied zwischen Idee und Ideal siehe V-Met/Volckmann, AA 28: 1133. Zu den Unterschieden zwischen Ideal, Idee und Urbild siehe DiCenso 2013. 34 Zu den Einzelheiten dieser Vorstellung siehe ausführlich Pasternack 2017, 451–455. 35 Wie Pasternack 2017, 456 allerdings anmerkt, kann auch diese Aufgabe zuletzt nicht von den Menschen selbst vollbracht werden, sondern nur mit Gottes außerordentlicher Hilfe. Siehe RGV, AA 06: 100: „Ein moralisches Volk Gottes zu stiften, ist also ein Werk, dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann.“ Kants Vorstellung des außerordentlichen Beistands siehe Hahmann 2017.

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Ich fasse zum Schluss die Ergebnisse der Untersuchung zusammen: Ausgangspunkt bildete eine vorkritische Überlegung Kants. So ist Kant der Ansicht, dass die Substanz begrifflich gefordert eine getrennte Existenz haben muss. Unter dieser Voraussetzung bleibt die Gemeinschaft der Substanzen jedoch unbegreiflich. Hat die gemeinschaftliche Verbindung hingegen Realität, muss es auch einen Grund der Möglichkeit der Verbindung geben. Diesen Grund erkennt Kant in den Schriften aus den Jahren 1755 und 1770 im göttlichen Verstand. Wir haben gesehen, dass Kant dieselben begrifflichen Schwierigkeiten, die mit dem Substanzbegriff verbunden sind, auch noch in der Kritik der reinen Vernunft thematisiert. Das kosmologische Problem löst sich jedoch auf, da die Welt als Erscheinung durch die transzendentalen Formen der Anschauung bestimmt wird, weshalb man es auch nur mit Substanzen in der Erscheinung zu tun hat, auf die jedoch die begrifflich geforderte Isolation nicht zutrifft. Theoretisch kann das Problem somit als gelöst angesehen werden. Praktisch stellt sich die Problematik jedoch von neuen, allerdings unter anderen Vorzeichen. So hat man es zwar nicht mit der notwendig geforderten Unabhängigkeit der Substanzen zu tun, allerdings wirft die Freiheit des Willens ein ähnliches Problem auf, wenn es um die systematische Einheit der Welt im höchsten Gut geht. Diese Verbindung kann, in Übereinstimmung mit der vorkritischen Position, nur durch das Eingreifen Gottes bewirkt werden. Schließlich haben wir gesehen, dass sich dieselbe Schwierigkeit auch im Kontext des politischen höchsten Gutes und der dazu notwendigen Errichtung des Völkerstaates sowie mit Blick auf die Realisierung eines ethischen Gemeinwesens in der Religionsschrift stellt. In allen Fällen schließt Kant auf die Notwendigkeit eines göttlichen Beistandes.

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Gianluca Sadun Bordoni

Recht und Religion. Der Begriff des ethischen Naturzustandes in der Religionsschrift Kants I. Einer der interessantesten Aspekte von Kants Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft ist die Art und Weise, in der die Analyse des Problems des Bösen Kant dazu zwingt, noch einmal das Problem des status naturae und seine Beziehung zum status civilis anzugehen. Die zentrale Stellung, die dieses Problem in der Religion einnimmt, zwingt dazu, die Frage der Beziehung zwischen Recht und Religion in Kant zu stellen: Dass dieser Zusammenhang in gewisser Weise besteht, wird auch dadurch hervorgehoben, dass dem Recht häufig ‚Heiligkeit‘ zugeschrieben wird, wobei das Recht nicht per Zufall zwei Jahre danach, im Ewigen Frieden, als „Augapfel Gottes“ definiert wird (ZeF, AA 08: 352 Anm.). Das Konzept des status naturae steht ab den Bemerkungen im Zentrum des Moraldenkens Kants, verbunden mit der Reflexion über Hobbes und Rousseau. Auch das Geflecht zwischen der juridischen Reflexion und dem Problem des Bösen ist frühzeitig dokumentierbar: In einer Reflexion (wahrscheinlich aus den Siebzigerjahren) lesen wir: „Der Mensch muß unter Zwangsgesetzen stehen; dieses ist ein Beweis, daß er von Natur böse sey.“ (Refl., 7765 AA 19: 510)¹. Dies ist eine Beobachtung, die identisch im Ewigen Frieden wiederauftaucht: „das Bösartige der menschlichen Natur ist, welches den Zwang nothwendig macht“ (ZeF, AA 08: 381), sowie im Streit der Fakultäten (AA 07: 43). Obwohl dieser Zusammenhang zwischen juridischer und religiöser Reflexion ein wichtiger Aspekt im kantischen Projekt ist, die Religion auf die reine Vernunft zurückzuführen, wird diesem für gewöhnlich wenig Raum in den Analysen der kantischen Religionsschrift gewidmet. Es besteht der Eindruck, dass die Geschichtsschreibung über die Religionsschrift bis jetzt nicht in der Lage gewesen sei, zu klären, welche Rolle diese Analyse des Problems des Naturzustandes, den Kant nun in ethisch und juridisch unterscheidet, in der Ökonomie der Reflexion Kants spielt². 1 Alle Zitate beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf die Akademie-Ausgabe. Bei den verwendeten Abkürzungen handelt es sich um die Standardabkürzungen. 2 Dies gilt ab den ersten, noch klassischen Studien des 20. Jahrhunderts: vgl. Delbos 1905, S. 641 ff. Die immer noch wichtige Studie von Bohatec erweist sich auch hier als nützlich, insbesondere für die Analyse der theologischen Quellen, auch bezüglich des Konzepts des ‚Naturzustandes‘: vgl. https://doi.org/10.1515/9783111063935-011

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Doch Kant verdeutlicht im dritten Kapitel, dass die Herrschaft des guten Prinzips, was die menschliche Handlung betrifft, nur durch die Errichtung einer ethischen Gesellschaft „durch die Vernunft“ verwirklicht werden kann, die ihrerseits nur auf der Grundlage einer rechtbürgerlichen Gesellschaft möglich ist (RGV, AA 06: 94). Wie sich der zuletzt genannten ein juridischer Naturzustand entgegenstellt, so stellt sich der ethischen Gesellschaft oder dem ethischen Gemeinwesen entgegen, was Kant hier zum ersten Mal „ethischer Naturzustand“ nennt (RGV, AA 06: 95). Zu klären, was für Kant der Naturzustand der Menschen ist, erscheint somit grundlegend für das Verständnis des allgemeinen Zwecks des Werkes, d. h. die Klärung des Verhältnisses zwischen Religion und natura humana (RGV, AA 06: 11). Diese Klärung scheint auch für die Definition des Verhältnisses zwischen philosophischem und theologischem Chiliasmus (RGV, AA 06: 34) nötig, die die Überwindung des ‚juridischen‘ beziehungsweise ‚ethischen‘ Naturzustandes betreffen. Wir werden sehen, ob die Analyse des Verhältnisses zwischen Recht und Religion, die unter dem Gesichtspunkt des Konzepts des Naturzustandes geführt wird, bei der allgemeinen Interpretation des Werkes helfen kann. Wie man sehen wird, stellen wir eine Hypothese vor, die wir im Voraus so formulieren können: Die Verfolgung des höchsten Gutes in der Welt erfordert sicherlich die Gründung einer ethischen Gemeinschaft, für deren Erlangung die Hilfe Gottes notwendig ist; doch wir können darauf nur hoffen, wenn wir uns derer würdig machen, und dies erfordert auch die Verfolgung des höchsten politischen Gutes. II. Die hauptsächliche Neuheit der Schrift des Jahres 1793 über die Religion, was die Analyse des Bösen in der menschlichen Natur angeht, besteht in der Charakterisierung dessen als ‚radikales Böse‘. Dieser radikale Charakter des Bösen bedeutet nämlich, dass im Menschen „ein natürlicher Hang zum Bösen“ (RGV, AA 06: 37) existiert, der sich sowohl im status naturae als auch im status civilis manifestiert und daher außerhalb der geschichtlichen Dialektik zu stehen scheint. Auf grausamste Weise zeigt sich das Böse, wie Kant ironisch anmerkt, gerade in jener Zusammensetzung der beiden Zustände, die durch die internationalen Beziehungen zwischen den Staaten verkörpert wird, die durch beständige Kriegsverfassung gekennzeichnet sind (RGV, AA 06: 34)³.

Bohatec 1966, S. 401 ff. Zum entscheidenden Problem der Rezeption Hobbes‘ vgl. infra. Auch im Zuge des wieder aufgekommenen Interesses für die Religionsschrift in den letzten Jahren wird dem Thema wenig Beachtung geschenkt, wie man in den bekanntesten Kommentaren zum Werk sehen kann, die manchmal nicht einmal das Stichwort ‚Naturzustand‘ im Sachindex haben: vgl. z. B Pasternack 2014 3 Die Gegenwart des ‚radikalen Bösen’ in der menschlichen Natur erkennen wir, laut Kant, „durch Erfahrung“ (RGV, AA 06: 32), sie wird somit offensichtlich von der Beobachtung der Struktur des

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Das Thema der conditio humana im status naturae wird von Kant natürlich spätestens seit den Bemerkungen aufgegriffen (AA 20: 74), kennzeichnet die Auseinandersetzung mit der Naturrechtslehre, wie aus dem hervorgeht, was wir von den Vorlesungen Kants über das Naturrecht wissen, und durchzieht dann die gesamte anthropologische Reflexion. So liest man im Naturrecht Feyerabend: „Vor dem wildesten Thiere dürfte man sich nicht so fürchten, als vor einem Gesetzlosen Menschen. Daher erschrak Robinson Crusoe auf seiner wüsten Insel nach einigen Jahren, da er Fußtapfen eines Menschen sahe, so sehr, daß er von der Zeit an nicht ruhig war und er die Nächte schlaflos zubrachte“ (V-NR/Feyerabend, AA 27: 1320)⁴. Und in den Anthropologievorlesungen derselben Zeit: „Der Mensch ist ungesellig und im Natur Zustande ist ieder Fremde ein Feind“ (V-Anth/Mron, AA 25: 1421)⁵. In keiner späteren Schrift hat Kant jemals diese seine grundlegende Überzeugung verleugnet, und in der abschließenden Anthropologie (1798) antwortet Kant in unmissverständlicher Weise auf die entscheidende Frage hinsichtlich der Geselligkeit des Menschen: „ob er [der Mensch] von Natur ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschaftscheues Thier sei; wovon das letztere wohl das Wahrscheinlichste ist.“ (Anth, AA 07: 322). Das Neue an der Religionsschrift ist, dass Kant ein neuartiges Konzept einführt, das des ‚ethischen Naturzustandes‘, das Seite an Seite mit dem Konzept des ‚juridischen Naturzustandes‘ steht (ein wenig gelungener Ausdruck, dessen Sinn jedoch im Kontext klar ist) und, wie wir sehen werden, einen neuen Bereich im moralischen Denken Kants einführt. Die Reflexion über diese Themen impliziert natürlich von Beginn an die Auseinandersetzung Kants mit Hobbes und Rousseau. Diese war schon in den Naturrechtsvorlesungen des Jahres 1784 ausdrücklich als vorrangig bezeichnet worden (vgl. V-NR/Feyerabend, AA 27: 1337). Doch während der Einfluss Rousseaus in der Literatur weitläufig bekannt und analysiert ist, gilt dies vergleichsweise weitaus weniger für den Einfluss, den Hobbes auf Kant ausgeübt hat, was meiner Meinung nach sehr negative Auswirkungen auf das Verständnis des moralischen und politischen Denkens Kants nach sich zieht⁶.

menschlichen Verhaltens in jeder Bedingung (‚natürlich‘ oder ‚zivilisiert‘), jeder Epoche und jedem Breitengrad abgeleitet. Vgl. die Kritiken Woods an jenen Verfassern, die versuchen, eine ‚transzendentale Ableitung‘ des natürlichen Hangs zum Bösen zu bestimmen: Wood 2014, S. 54 f. 4 Für das Naturrecht Feyerabend zitieren wir die Seitenzahlen der Akademie-Ausgabe, folgen aber dem kritischen Text in: Delfosse/Hinske/Sadun Bordoni 2010–2014 (nachgedruckt als Taschenbuch in Sadun-Bordoni 2023). 5 Hier denkt Kant natürlich an Cicero: „hostis enim apud maiores nostros is dicebatur, quem nunc peregrinum dicimus“ (De officiis, I, 12, § 37). 6 Für eine umfassendere Analyse erlaube ich mir den Verweis auf Sadun Bordoni 2019.

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Dies zeigt sich besonders bei der Analyse des Konzeptes des status naturae, wo Kant – wie wir in Kürze noch besser sehen werden – gänzlich die Charakterisierung übernimmt, die Hobbes von diesem Konzept abgegeben hatte, auf den dieses Konzept übrigens zurückgeht⁷. Natürlich mangelte es, von Ebbinghaus an, nicht an Anerkennung dieser Tatsache⁸. Nicht gänzlich geklärt bleibt jedoch, wie schon die Tatsache dieser kantischen Zustimmung zum hobbesschen Konzept des Naturzustandes einen radikalen Bruch mit dem Denken der Epoche (und mit dem in der Naturrechtslehre vorherrschenden Konzept des status naturae) darstellte. Noch unklarer sind, unserer Ansicht nach, die Implikationen dieser fundamentalen Tatsache für das Verständnis des Denkens Kants und seiner inneren Spannungen. Jenseits der verschiedenen Interpretationen, die das Konzept des ‚ethischen Naturzustandes‘ hervorrufen kann und hervorgerufen hat, ist es sicherlich unmöglich, dieses Konzept in der Religionsschrift zu verstehen, ohne aufmerksam die Auseinandersetzung Kants mit dem hobbes‘schen Konzept des status naturae zu berücksichtigen. Genau dies ist die Aufgabe, die ich hier zunächst in Angriff nehme. Man beachte insbesondere, dass Kant – wie man schon in den früher zitierten Textabschnitten sieht – mit Hobbes und Rousseau die Kritik an der traditionellen, von Grotius wieder aufgenommenen These von der ‚natürlichen Geselligkeit‘ des Menschen teilt. Hobbes hatte dies auf radikale Weise vertreten: „We do not by nature seek society for its own sake, but that we may receive some honour or profit from it; these we desire primarily, that secondarily […] man is made fit for society not by nature, but by education“ (De Cive, I, 2). Doch auch Rousseau war diesbezüglich sehr deutlich gewesen: amour de soi (Selbsterhaltung) und pitié (Mitleid) sind die Gründe des Naturrechts „sans qu’il soit nécessaire d’y faire entrer celui de la sociabilité“⁹. Und Kant stellt in der Anthropologie klar, nachdem er, wie gesehen, die Ungeselligkeit des Menschen behauptet hat: „Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein […]“ (Anth, AA 07: 324; Herv. d. Verf.). Es ist bedeutsam, dass, wo Kant von einem „Trieb zur Gesellschaft“ (RGV, AA 06: 26) spricht, dieser der Anlage im Menschen für die Thierheit zugeschrieben wird, wie der Trieb zum Geschlecht, nicht der Anlage für die Menschheit. In der Entwicklung letzterer kommen hingegen die Laster der Zivilisation zum Vorschein,

7 Dies bedeutet nicht, dass das Konzept nicht Wurzeln im antiken Denken hätte, die Hobbes gut bekannt waren. Die Rolle jedoch, die dieses Konzept im modernen Denken zu spielen bestimmt war, geht auf die Charakterisierung zurück, die Hobbes von ihm abgab. Bezüglich der klassischen Wurzeln des Konzepts des status naturae erlaube ich mir den Verweis auf Sadun Bordoni 2020. 8 Vgl. Ebbinghaus 1964 und Hüning 1998, S. 70 f. 9 Vgl. Rousseau 1964a, S. 126.

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der gesellschaftliche Konflikt, den nur die moralische Vernunft überwinden kann. Im Übrigen hatte Kant ab dem Naturrecht Feyerabend Achenwall dafür kritisiert, zwischen status naturalis und socialis unterschieden zu haben, wobei er behauptete, dass ein status socialis auch innerhalb des status naturae gut möglich sei, wie die familiären Bindungen zeigten (vgl. V-NR/Feyerabend, AA 27: 1338, 1381; vgl. auch Refl. 7253, AA 19: 446). Wie die zeitgenössische Anthropologie Mrongovius bekräftigt, handelt es sich um eine durch Bedürfnis veranlasste Geselligkeit¹⁰. Im status naturae besteht diese jedoch neben einer ursprünglichen Freiheit und einem permanenten Zustand der Feindschaft unter den Menschen. Weder für Rousseau noch für Kant ist es also auf dieser Grundlage möglich, Hobbes zu kritisieren (wie ein Großteil der Anhänger der Naturrechtslehre dachte). III. Wenn man sich nun fragt, welches die Gründe sind, die Kant dazu führen, die hobbes‘sche Sicht des Naturzustandes zu übernehmen, glaube ich, dass es grundlegend zwei gibt: a) Der anthropologische Pessimismus. Wenn er nicht den Gesetzen unterworfen ist, ist der Mensch gefährlich. Er ist nicht einfach durch den Instinkt reguliert, und daher ist sein Verhalten unvorhersehbar. Es ist nicht nötig, nicht einmal für Hobbes, eine angeborene Bosheit des Menschen zu postulieren¹¹. Es sind die strukturellen Bedingungen der strategischen Interaktion, die Bedingungen radikaler existentieller Unsicherheit schaffen (dieser Aspekt wird heute von der ‚Spieltheorie‘ wieder aufgegriffen, die, beginnend mit Gauthier, eine Richtung hobbes‘scher Neuauslegungen inspiriert hat¹²). Gerade in der Religionsschrift drückt Kant diesen Gesichtspunkt auf besonders explizite Weise aus, indem er die Auffassung vertritt, dass es zur Erklärung der Verdorbenheit der Menschen nicht nötig ist, ihre Bosheit zu postulieren; es reicht die soziale Interaktion: „es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben, und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben und sich einander böse zu machen.“ (RGV, AA 06: 94). Man beachte, dass die berühmte kantische These der „ungeselligen Geselligkeit“ in der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht sich auf eine Spannung bezieht, die in den Menschen „in der Gesellschaft“ vorhanden ist: „Das Mittel, dessen sich die Natur bedient, die Entwickelung aller ihrer Anlagen zu Stande zu bringen, ist der Antagonism derselben in der Gesellschaft […] Ich verstehe hier unter dem Antagonism die ungesellige Geselligkeit der Menschen…“ (IaG, AA 08: 20). Diese charakterisiert also nicht die Beziehung zwischen status naturae und status civilis; sie besteht vielmehr inner10 Vgl. V-Anth/Mron, AA 25: 1416 11 Vgl. z. B. die Vorrede von De Cive: „illud vero, homines natura malos esse, ex hoc principio non sequitur“. Vgl. aber II, 11, über den „pravum ingenium maximae partis hominum“. 12 Vgl. Gauthier 1969

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halb des status civilis, wo die Menschen jedoch von der Spannung zwischen der Tendenz sich zusammenzuschließen, der Vergesellschaftung, und der Tendenz, sich zu isolieren, gekennzeichnet sind. Die Menschen sind aufeinander angewiesen, aber sie ertragen sich gegenseitig nicht, woher der letztlich hilfreiche Antagonismus rührt, der den Fortschritt der Gesellschaft begünstigt. Die Gesellschaft kann sich so von einer „pathologisch-abgedrungenen Zusammenstimmung“ in ein „moralisches Ganzes“ wandeln (IaG, AA 08: 21). Die Annahme dieser optimistischen Sicht des sozialen Antagonismus, die für die schottische Aufklärung charakteristisch ist, schließt nicht aus, dass dies für Kant nur möglich ist, wenn die Menschen den echten status naturae aufgegeben haben; wo dieser fortbesteht, herrscht hingegen die „ungereizte Grausamkeit“ ohne geringsten kollektiven Vorteil, wie Kant ihn in der Religionsschrift charakterisiert (RGV, AA 06: 33). Der zweite Grund, der Kant an den Ausgangspunkt Hobbes‘ annähert, ist b) Die Ablehnung der Heteronomie als Wurzel des moralischen und politischen Denkens. Der historisch betrachtet innovativste Aspekt der Theorie des ‚Naturzustandes‘ ist, dass sie eine ursprüngliche Unabhängigkeit und Freiheit der Menschen postuliert und sich auf diese Weise zunächst den Theorien über den göttlichen Ursprung der zivilen Macht entgegenstellt – Theorien, die einen Zustand natürlicher Abhängigkeit von der Autorität, beginnend mit der des Vaters, behaupten. Indem der ursprüngliche Zustand der Menschen in den status naturae gesetzt wird, wird jede religiöse oder paternalistische Begründung der zivilen Macht ipso facto beseitigt, und jede Form von Autorität muss durch eine freie Vereinbarung unter den Menschen legitimiert werden. Dies steht offensichtlich in Einklang mit der kantischen Idee, dass die menschliche Existenz auf einer ursprünglichen Freiheit ruht, die zwar unter Gesetzen geführt werden muss, aber unter Gesetzen der Freiheit. Der Mensch ist frei geboren, und das Recht „beruht bloß auf Freiheit“ (VNR/Feyerabend, AA 27: 1336; TP, AA 08: 289). In der Bestimmung der Art und Weise, wie Sicherheit und Freiheit miteinander in Einklang gebracht werden können, trennen sich die Wege Kants (und Rousseaus) von den Wegen Hobbes’, doch dies stellt nicht in Abrede, dass das Konzept einer ursprünglichen ‚wilden‘ Freiheit und Gleichheit der Menschen den konkreten Ausgangspunkt einer rationalen Legitimation des Gesellschaftsvertrags darstellt. Es bestanden dennoch verschiedene Versionen des Naturzustandes, und wenn Kant gänzlich (wie wir noch besser sehen werden) die Version von Hobbes unterstützt (und nicht die von Locke oder von Rousseau), bedarf dies einer Erklärung, die folglich zunächst in einem evidenten anthropologischen Pessimismus Kants zu suchen ist, ohne den man sein moralisches und politisches Denken, das charakteristische Pathos, nicht erklären kann und leicht in eine vereinfachte Sichtweise verfällt, wie in dem so verbreiteten ‚pazifistischen‘ Kantverständnis.

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Während also der Materialismus und der Empirismus in der Moraltheorie Hobbes‘ von Kant von Anfang an zurückgewiesen werden (V- Mo/Kaehler, (Stark), S. 25), ist seine Haltung völlig anders, wenn es um das ‚natürliche‘ Fundament der Gesellschaft und des Rechts geht. IV. Bis hierher haben wir die Analyse des Naturzustandes jedoch essentiell aus der anthropologischen Sichtweise geführt. Der anthropologischen Analyse schreibt Kant eine ganz besondere Bedeutung zu, weil sie, obwohl sie empirisch ist, ausreichend erscheint, den Hang zum Bösen in den Menschen, in jeder Bedingung und unter jedem Himmel, aufzuzeigen (RGV, AA 06: 32). Nichtsdestoweniger stellt Kant dieser eine normative Analyse an die Seite, die darauf abzielt, zu zeigen, wie der Naturzustand a priori mit dem reinen Konzept des Rechts unvereinbar sei. Denn aus Sicht der juridischen Analyse erscheint der Naturzustand nicht einfach negativ im anthropologischen Sinne, sondern anti-juridisch a priori, anti-juridisch in seinem Konzept. Es ist auch hier möglich, die Entstehung dieser Analyse im juridischen Denken Kants zu rekonstruieren, durch die postumen Reflexionen¹³. In Anbetracht des Zwecks dieses Aufsatzes gehen wir jedoch direkt zur Analyse über, die Kant in den ausgereiften juridischen Schriften geführt hat, angefangen vom Naturrecht Feyerabend bis hin zur Rechtslehre. Was Kant aufzuzeigen beabsichtigt, ist, dass der Naturzustand nicht tout court mit einem Zustand offener Gewalt gleichgesetzt werden darf. Die effektive Ausübung von Gewalt ist daher analytisch nicht im Konzept des Naturzustandes enthalten. In diesem sind auch Konzepte des Rechts möglich, aber derart, dass jeder sie nach seinen Vorlieben interpretiert, so dass der Konflikt unausweichlich ist und es keine öffentlichen Gesetze und Richter gibt, die ihn schlichten könnten. Bis öffentliche Gesetze eingreifen, kann jeder tun, was er will: „Bevor ein öffentlich gesetzlicher Zustand errichtet worden vereinzelte Menschen, Völker und Staaten niemals vor Gewaltthätigkeit gegen einander sicher sein können“ (MS, AA 06: 312; Herv. d. Verf.). In diesem Sinne muss klar sein, dass der Naturzustand nicht ein ‚ursprünglicher‘ Zustand ist (auch wenn Kant ihn gelegentlich als „status der Kindheit“ (V-NR/ Feyerabend, AA 27: 1381) definiert), sondern eine strukturelle Bedingung der menschlichen Interaktion, die auch im zivilisierten Zustand vorhanden ist, wie das

13 Vgl. z. B. Refl. 6593, AA 19: 99–100. Anders als von Herb und Ludwig vertreten, glaube ich, dass die Kopräsenz der beiden Ebenen, der anthropologischen und der normativen, seit der ersten Phase des kantischen Denkens bis zur Rechtslehre nebeneinander bestand und dass man nicht von einer Aufgabe der hobbes‘schen Sicht, von einer „Selbstkritik“ sprechen kann, die in den §§ 41–44 der Rechtslehre erfolge: vgl. Herb/Ludwig 1993 und meine Analyse (2019) „Il concetto di status naturae tra Hobbes e Kant“.

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Beispiel des Krieges zeigt. In jedem Stadium der menschlichen Interaktion sind daher Konzepte des Rechts und eine fundamentale gegenseitige Feindseligkeit zugleich vorhanden; in Ermangelung der Zwangsgewalt des Staates macht dies es unmöglich, Kontroversen zu schlichten. Die anthropologische Analyse ist in diesem Sinne in den Augen Kants nicht ausreichend. Man kann annehmen, dass die Menschen gut sind, sagt Kant; irgendjemand kann immer denken, wie Rousseau, dass im Naturzustand die Menschen glücklicher sind. Kant glaubt nicht, dass es so ist, aber er möchte betonen, dass der Naturzustand eben ein Zustand der Rechtslosigkeit und der Austritt aus diesem nicht einfach eine auf Vorsicht beruhende Wahl ist, um sich vor Gewalt zu schützen, sondern eine moralische Wahl, um sich einem Zustand der strukturellen Ungerechtigkeit zu entziehen. Hier besteht sicherlich ein Unterschied gegenüber Hobbes, aber das ändert nichts daran, dass die hobbes‘sche Charakterisierung des Naturzustandes so weit in die kantische Analyse integriert ist, dass sie manchmal mit Hobbes‘ eigenen Worten beschrieben wird. In drei Abschnitten des Naturrechts Feyerabend, einem auf Deutsch, zwei auf Latein, wird der status naturae sogar mit einem hobbes‘schen Krypto-Zitat beschrieben: alter jure aggreditur, alter jure resistit ¹⁴. Um eine Vorstellung des Realismus zu bekommen, mit dem Kant die Gefährlichkeit des Naturzustandes betrachtet, sollte man sich vergegenwärtigen, dass Kant im Naturrecht Feyerabend bis zu der Behauptung geht, dass im Naturzustand keine Grenze für das Recht auf Verteidigung bestehe, wie es die Juristen (zum Beispiel Achenwall) forderten, so dass ich gegen denjenigen, der meine Sicherheit bedroht, jede Form von Gewalt anwenden kann, „alle möglichen Arten von Violenz“, bis hin zur internecio aggressoris, der Tötung des Angreifers (V-NR/Feyerabend, AA 27: 1373–74). Und dies, während er die Grundlegung schrieb, mit der Pflicht, den Menschen stets auch als Zweck zu betrachten! Auf der Grundlage dieser Charakterisierung des Naturzustandes versteht man, warum Kant es für notwendig hält, aus diesem auszuzutreten, wenngleich er immer wieder erklärt, beginnend mit dem Naturrecht Feyerabend, dass es keine natürliche Verpflichtung geben kann, aus dem Naturzustand auszutreten. „A natura ist kein Mensch verbunden, mit dem andern in societatem civilem zu treten“ (V-NR/Feyerabend, AA 27: 1381). Was wiederum Hobbes‘ These ist: „Non est igitur existimandum,

14 Vgl. V-NR/ Feyerabend, AA 27: 1387; 1390; 1392; vgl. auch Refl. 7939, AA 19: 560–561. Vgl. Hobbes, De Cive, I, 12: im status naturalis „alter iure invadit, alter iure resistit“; vgl. auch Hobbes 1640, XIV, 11.

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natura, hoc est, ratione, obligari homines ad exercitium earum omnium, in eo statu hominum, in quo non exercentur ab aliis“ (De Cive, III, 27; Herv. d. Verf.)¹⁵. Was ist also eine solche Verpflichtung? Um dies zu klären, verweilen wir bei der Art und Weise, in der Kant, gerade bei der Einführung des Postulats des öffentlichen Rechts in § 42 der Metaphysik der Sitten, die Unmöglichkeit charakterisiert, dass im Naturzustand die Verpflichtung gelte, die eigene Freiheit zu beschränken. Denn im Naturzustand habe ich das Recht, wie es auch Hobbes vertrat, auf jedes Mittel, das ich für notwendig erachte, um mein Überleben sicherzustellen. Niemand ist daher verpflichtet, seine Freiheit zu beschränken, wenn er keine adäquate Zusicherung hat, dass der andere es ebenso macht. Und es ist nicht nötig, sagt Kant, dies damit zu rechtfertigen, dass man auf die „traurige Erfahrung“ der natürlichen Tendenz der Menschen zurückgreift, die anderen auszunützen, eine Tendenz, die jeder feststellen kann, wenn er in sich schaut. Es ist daher nicht einmal notwendig abzuwarten, dass die Feindseligkeit real wird, um sich für befugt zu halten, Zwangsmittel gegen den anzuwenden, der uns „schon seiner Natur nach“ bedroht, so dass Kant in rein hobbes‘schen Ausdrücken schlussfolgert: „quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi“ (jeder wird als schlecht angesehen, bis er eine Garantie des Gegenteils gegeben hat). Auf diese Weise entsteht eine offensichtliche Spannung zwischen dem Recht, das jeder hat, sich mit jedem Mittel im Naturzustand zu verteidigen, und dem Recht, das ebenfalls jeder in Anspruch nehmen kann und muss, aus ebendiesem Naturzustand auszutreten. Kant löst diese Spannung durch die Auffassung, dass, wenn im Naturzustand niemand Unrecht gegen die anderen begeht, indem er sie bekämpft, trotzdem jeder Unrecht gegen das Konzept des Rechtes selbst begeht, indem er im Zustand „wilder Gewalt“ verbleibt (MS, AA 06: 307). Wenngleich also die wilde Gewalt nicht analytisch im Konzept des Naturzustandes enthalten ist, zeigt uns die traurige Erfahrung, dass es de facto so ist. Die normative Ebene (die Verpflichtung, aus dem Naturzustand als Zustand der Rechtslosigkeit auszutreten) ist komplementär zur anthropologischen und politischen Analyse, die die tatsächlich katastrophalen Konsequenzen der conditio humana im Naturzustand zeigt.

15 Vgl. Refl. 7732, AA 19: 502: „Ich bin nicht verbunden mich in ansehung eines andern einem Naturgesetze zu unterwerfen, wenn ich nicht sicher weiß, daß er dieses Gesetz auch als das seinige erkennen wird“; vgl. auch Refl. 7937, AA 19: 560: „A natura ist zwar jedermann frey und nicht verbunden, mit jemand in ein pactum unionis civilis zu treten, so fern man auch gewiß ist, daß er nicht laediren werde, d. i. so fern ich für ihn gesichert bin.“ Diese These besteht fort bis zur Rechtslehre, § 42: „Niemand ist verbunden […] donec securitatem dederit oppositi“ (MS, AA 06: 307): vgl. infra im Text.

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Hier scheint Kant also definitiv Abstand von Rousseau zu nehmen, um bedingungslos der hobbes‘schen Position zuzustimmen. Die Schrift über die Religion scheint ein deutliches Anzeichen dafür zu enthalten. Einerseits kritisiert Kant die Philosophen, die sich falsche Hoffnungen darauf gemacht hatten, die Güte des Menschen im Naturzustand zu finden (RGV, AA 06: 33), sowie im Allgemeinen die „gutmüthige Vorausetzung der Moralisten, von Seneca bis zu Rousseau“ (RGV, AA 06: 20), und andererseits zitiert er mit Zustimmung die These Hobbes‘ über den status naturae und weitet den Anwendungsbereich sogar aus, indem er das Konzept „ethischer Naturzustand“ einführt (RGV, AA 06: 97)¹⁶. Die Dinge sind in Wirklichkeit komplexer, sowohl hinsichtlich der Position Kants in Bezug auf Hobbes und Rousseau, als auch hinsichtlich der Position Rousseaus in Bezug auf Hobbes. Was Kant angeht, haben wir schon gezeigt, wie seine Zustimmung zur hobbes‘schen Charakterisierung des status naturae auf die erste Phase des kantischen Denkens zurückgeht und nie aufgegeben wurde. Dies impliziert jedoch nicht eine Aufgabe der rousseauschen Position, sondern ihre Überarbeitung, die mit der Anmerkung ‚Verteidigung‘ und Interpretation der verschiedenen Aspekte des rousseauschen Denkens in Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte begann (AA 08: 116). Man beachte, dass auch in der Religion, wo Kant behauptet, dass das Böse nicht von den natürlichen Anlagen herrühren kann, die Charakterisierung, die er davon abgibt, der rousseau‘schen sehr ähnlich ist. Die Ursachen des bösen Prinzips sind nicht in der rohen Natur des Menschen zu finden sofern er abgesondert da ist, sondern von Menschen [ge]kommen, mit denen er in Verhältniß oder Verbindung steht. Nicht durch die Anreize der ersteren werden die eigentlich so zu benennende Leidenschaften in ihm rege, welche so große Verheerungen in seiner ursprüngliche guten Anlage anrichten. Seine Bedürfnisse sind nur klein und sein Gemüthszustand in Besorgung derselben gemäßigt und ruhig. Er ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, wenn er unter Menschen ist, und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind […] (RGV, AA 06: 93–94; Herv. d. Verf.).

Es ist leicht, die rousseausche Prägung dieser Passage zu bemerken, wenn man sie mit einigen berühmten Seiten des Zweiten Diskurs vergleicht: Die zivilisierten Menschen

16 Bohatec hat deshalb vertreten: „Im dritten Stück der Religion verläßt Kant Rousseau und nimmt nach seiner ausdrücklichen Erklärung Hobbes‘ Theorie von dem ‚Kriegszustand‘ in seine Gedankenwelt auf“; Bohatec 1966, S. 401. Tatsächlich hatte Kant Hobbes‘ Theorie schon lange in seine Gedankenwelt aufgenommen, und er gab die rousseau‘sche Sichtweise nie gänzlich auf.

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comptent pour quelque chose les regards du reste de l’univers […] savent être heureux et contents d’eux mêmes sur le témoignage d’autrui plûtôt que sur le leur propre […] le Sauvage vit en lui-même; l’homme sociable toûjours hors de lui ne sait vivre que dans l’opinion des autres […]d’une telle disposition naît tant d’indifférence pour le bien et le mal […]¹⁷.

Tatsächlich liegt es für Rousseau wie für Kant nicht in der Natur der Instinkte, sondern vielmehr in der sozialen Interaktion, dass die endemische Konfliktsituation zwischen den Menschen zum Vorschein kommt und sich ihre Bosheit entfesselt. Dies erlaubt auch ein Missverständnis aufzuklären, was das Verhältnis Rousseaus zu Hobbes betrifft. Rousseau greift, wie bekannt, die Kritik Montesquieus an Hobbes auf und vertritt, dass der englische Philosoph dem Naturzustand eine Bedingung zuschreibt, die in Wirklichkeit dem schon zivilisierten Menschen eigen ist. Es handelt sich um eine Kritik von zweifelhafter Stichhaltigkeit: Es genügt, sich nur die Tatsache in Erinnerung zu rufen, dass Hobbes in der Diskussion mit dem Bischof Bramhall erklärt, dass es einen ‚reinen‘ Naturzustand wahrscheinlich nie gegeben hat: „it is very likely to be true, that since the creation there never was a time in which mankind was totally without society“¹⁸. Dieselbe These wurde übrigens von Rousseau in einem sehr bekannten Passus des Vorworts zum Zweiten Diskurs vertreten, wo er über den Naturzustand sagt: „qui n’existe plus, qui n’a peut-être point esisté, qui probablement n’existera jamais“¹⁹. Und diese These wird auch von Kant geteilt, der in der Metaphysik der Sitten Vigilantius schreibt: „der status naturalis existiert an sich gar nicht, und hat nie existirt, es ist eine bloße Vernunft-Idee“ (AA 27: 589). Hobbes beobachtet dennoch, dass, wenn es auch nie eine Zeit gegeben hätte, in der Individuen, „particular men“, in Bedingungen des Krieges der einen gegen die anderen gewesen wären, sich trotzdem die Staaten immer in einer solchen Bedingung befunden haben²⁰. Dies ist auch die Meinung von Rousseau und Kant, jenseits ihrer Auspizien eines zukünftigen Friedens²¹. Es ist daher klar, dass unterschieden werden muss zwischen einem reinen oder absoluten Naturzustand, der ein reines Grenzkonzept ist, und einer Bedingung, die, auch wenn sie socialis sein kann, trotzdem nicht civilis ist, wie Kant in der Kritik an Achenwall behauptet, die wir am Anfang gesehen hatten.

17 Rousseau 1964a, S. 193 18 Vgl. Hobbes 1866, S. 183–84 19 Rousseau 1964a, S. 123 20 Hobbes 1651, I, 13 21 Hier besteht sicherlich ein klarer Unterschied zwischen Hobbes auf der einen Seite und Rousseau und insbesondere Kant auf der anderen, da Hobbes es nie für möglich hielt, dass der Austritt aus dem Naturzustand im Verhältnis der Staaten untereinander replizierbar sei.

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Doch wenn man von der Frage des Grenzkonzepts einer idealen vorgesellschaftlichen Bedingung absieht, ist, was die Analyse der effektiven Interaktion zwischen den Menschen betrifft, auch das Urteil Rousseaus näher an jenem von Hobbes als er selbst zugeben wollte. Wenn man aus dem hypothetischen Naturzustand austritt und in Gesellschaft eintritt, folgt also auch für Rousseau der Kriegszustand: „la Société naissante fit place au plus horrible état de guerre“, sagt er im Émile ²². Und in demselben Werk (das Kant wohlbekannt war) gesteht Rousseau Hobbes zu, dass „c’est une disposition naturelle à l’homme de regarder comme sien tout ce qui est en son pouvouir. En ce sens le principe de Hobbes est vrai jusq’à certain point“²³. Darüber hinaus herrscht der Kriegszustand zwischen den Staaten vor: „l’ètat de guerre est naturel entre les puissances“²⁴. Ausgehend von diesen kurzen Beobachtungen versteht man somit, dass das Problem des Verhältnisses zwischen Hobbes, Rousseau und Kant komplexer ist als man generell meint, und dies wird gerade durch die Analyse des entscheidenden Konzepts des status naturae herausgestellt. Doch der Punkt, der uns hier interessiert, ist die Art, in der Kant das Problem des status naturae in seine Analyse der Religion einführt. V. Gelangen wir so zum letzten Teil, d. h. zu der Art und Weise, in der sich die kantische Sicht des Naturzustandes in der Religionsschrift darstellt, die die kantische Position auf gewisse Weise zu extremen Konsequenzen führt. Darin wird nämlich der entscheidende Begriff des ‘radikalen Bösen’ eingeführt, das in der menschlichen Natur gegenwärtig ist (radikal, weil es nicht aus menschlicher Kraft ausgemerzt werden kann). Den formellen Beweis dessen, dass der Mensch von Natur aus böse ist, sagt Kant in jener Schrift, können wir uns sparen, da es ausreichend ist, Beispiele gerade von dort heranzuziehen, wo einige Philosophen hofften, die Güte des Menschen zu finden, „nämlich aus dem sogenannten Naturzustande“ (RGV, AA 06: 33), der Grausamkeit der Naturvölker, wovon die Reiseliteratur (die Kant gerne las) zahllose Beispiele lieferte. Aber auch in der zivilisierten Welt sind die Beziehungen zwischen den Staaten, auf hobbes‘sche Weise betrachtet, jene „des rohen Naturstandes (eines Standes der beständigen Kriegsverfassung)“. Man beachte daher, dass für Kant der Naturzustand keine bloße Fiktion ist, wie der contractus originarius, den es in der Realität nie gegeben hat: Der wirkliche Ursprung des Staates ist vielmehr gerade in der Gewalt zu suchen²⁵.

22 Rousseau 1964c, S. 176 23 Rousseau 1964c, S. 314 24 Rousseau 1964a, S. 607 25 Von den zahlreichen Passagen im veröffentlichten und postumen Werk, die diese These Kants dokumentieren, beschränke ich mich hier darauf, die folgende zu zitieren: Es ist „auf keinen andern

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Da man also den Menschen keine natürliche Neigung zur Eintracht unterstellen kann, ist man gezwungen, die anti-juridische Natur des Naturzustandes schrecklich ernst zu nehmen. Angesichts dessen ist es also nicht überraschend, im Buch über die Religion den vielleicht ausdrücklichsten Abschnitt Kants in Bezug auf Hobbes zu lesen, einen Abschnitt, der nun ganz zitiert werden muss: Hobbesʼ Satz: status hominum naturalis est bellum omnium in omnes, hat weiter keinen Fehler, als daß es heißen sollte: est status belli etc. Denn wenn man gleich nicht einräumt, daß zwischen Menschen, die nicht unter äußern und öffentlichen Gesetzen stehen, jederzeit wirkliche Feindseligkeiten herrschen: so ist doch der Zustand derselben (status iuridicus), d. i. das Verhältniß, in und durch welches sie der Rechte (des Erwerbs oder der Erhaltung derselben) fähig sind, ein solcher Zustand, in welchem ein jeder selbst Richter über das sein will, was ihm gegen andere Recht sei, aber auch für dieses keine Sicherheit von andern hat oder ihnen giebt, als jedes seine eigene Gewalt; welches ein Kriegszustand ist, in dem jedermann wider jedermann beständig gerüstet sein muß. Der zweite Satz desselben: exeundum esse e statu naturali , ist eine Folge aus dem erstern: denn dieser Zustand ist eine continuirliche Läsion der Rechte aller andern durch die Anmaßung in seiner eigenen Sache Richter zu sein und andern Menschen keine Sicherheit wegen des ihrigen zu lassen, als bloß seine eigene Willkür. (RGV, AA 06: 97)

Der Naturzustand ist also für Kant, genau wie für Hobbes (und anders als von allen anderen Vertretern der Naturrechtslehre angenommen), ein Kriegszustand, der als solcher eine ständige Verletzung der Rechte aller darstellt. Der ‚Fehler’, den Kant in der hobbesschen Definition sieht, besteht natürlich in Wirklichkeit nicht, da Hobbes ausdrücklich den bellum in Begriffen einer erklärten Feindseligkeit versteht, nicht notwendigerweise eines effektiven Krieges²⁶. Wenn man von dieser sekundären Frage absieht, zeigt sich gut, wie Kant die hobbessche Analyse voll und ganz teilt („… hat weiter keinen Fehler…“). Hier scheint also eine ganze Phase des kantischen Denkens, gemäß einer jahrelangen Tendenz, ihren vollendeten und endgültigen Ausdruck zu finden. Paradoxerweise vollzieht sich diese explizite Zustimmung Kants zur Perspektive Hobbes‘ hinsichtlich des status naturae in einem Kontext, nämlich im dritten Teil der Religionsschrift, in dem Kant ein neues Feld der Analyse eröffnet, das zu einer Abkehr von Hobbes bestimmt ist, und zwar in Richtung einer weiteren Radikalisierung, in der, wie wir gesehen haben, auch rousseausche Konzepte wieder in den Vordergrund treten.

Anfang des rechtlichen Zustandes zu rechnen, als den durch Gewalt, auf deren Zwang nachher das öffentliche Recht gegründet wird“ (ZeF, AA 08: 371). 26 Vgl. Hobbes 1651, I, 13

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Der Kontext, in dem Kant hier die völlige Gleichsetzung von Naturzustand und Kriegszustand betont, ist tatsächlich jener, in dem er sogar den Bereich des status naturae ausweitet, indem er dem Konzept des ‚juridischen Naturzustandes‘ jenes des ‚ethischen Naturzustandes‘ an die Seite stellt, das von unversöhnlichen öffentlichen moralischen Feindseligkeiten gekennzeichnet ist, die vom Bösen geschürt werden, das in jedem Menschen vorhanden ist²⁷. Bei Hobbes ist das zweite eine Konsequenz des ersten, da im Naturzustand nicht nur die Konzepte von gerecht und ungerecht, sondern auch die von gut und böse unbestimmt sind. Aber während bei Hobbes, zumindest in gewissen Grenzen, die Verfassung der zivilen Ordnung auch der moralischen Anarchie ein Ende setzt, vertritt Kant die Auffassung, dass der ethische Naturzustand nicht durch den Staat überwunden werden kann. Kant kann nämlich die hobbes‘sche These nicht akzeptieren, auf deren Grundlage es der Souverän ist, der über die korrekte Interpretation des Naturgesetzes entscheidet. Dies entspricht, für Hobbes, dem Moralgesetz und ist in der ‚Goldenen Regel‘ zusammengefasst: „Do not that to another which thou thinkest unreasonable to be done by another to thyself“²⁸. Von diesem Gesetz sagt Hobbes, seine Interpretation könne nicht abhängen „on the books of Moral Philosophy“. Obwohl dieses Gesetz ein Gesetz der Vernunft ist, bezieht es für Hobbes seine Gesetzeskraft aus der Tatsache, dass der Souverän es will „yet it is by the Soveraigne Power that it is Law“²⁹. Im Gegensatz dazu warnt Kant vor der Idee, die moralische Ausrichtung mit Gewalt aufzuzwingen, so wie er ab Beginn der Vorlesungen über das Naturrecht im Jahr 1784 die paternalistische Idee des Staates kritisiert hatte, die den Bürgern weisen wollte, wie diese glücklich zu sein haben: Weder die Moral noch das Glück der Menschen sind Aufgabe des Staates. Doch die Konsequenz der kantischen Ablehnung des ethisch-politischen Absolutismus Hobbes‘ besteht darin, dass es eben keinen politischen, weltlichen Weg gibt, um aus dem ethischen Naturzustand auszutreten. Dieser ist nicht einmal durch das individuelle Moralgesetz überwindbar, und wir wissen nicht, ob es in unserer Macht steht, ihn zu überwinden. Dass innerhalb eines Rechtsstaates der moralische Relativismus nicht überwunden werden kann, scheint natürlich eines der grundlegenden Probleme unserer Epoche vorwegzunehmen, das so aktuell ist, wie es zu Hobbes‘ Zeiten das Problem des Bürgerkrieges gewesen ist, oder zu Kants Zeiten die Revolution. Was 27 Für die Analyse der theologischen Quellen des kantischen Konzepts vgl. Bohatec 1966, S. 401. Die Funktion, die das Konzept im Denken Kants erfüllt, ist jedoch nicht auf die theologische Tradition und allgemein auf den mittelalterlichen Horizont des status naturae lapsae reduzierbar. 28 Hobbes 1651, II, 26. 29 Ibid.

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hier betont werden muss, ist, dass sich für Kant aus dem Konzept der Freiheit selbst ein endemischer Konflikt ergibt, der den gesamten Bereich des öffentlichen Lebens betrifft. Die Geschichte der Freiheit, so hatte Kant schon in Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte gesagt, beginnt mit dem Bösen (AA 08: 115). Was die politische Überwindbarkeit des Bösen betrifft, so scheint Kant ein geringeres Vertrauen zu haben als Hobbes. Der Prozess der Zivilisation, mit anderen Worten, erzeugt, wenn er wenigstens teilweise die Überwindung des Naturzustandes zulässt, eine ethische Anarchie, die von der Selbstliebe bewirkt wird, die innerhalb eines nicht-absolutistischen Staates nicht überwindbar ist. Paradoxerweise ist es genau an dieser Stelle, dass Kant erneut auf Rousseau und seine Kritik des Prozesses der Zivilisation trifft, eine Kritik, auf die er nicht per Zufall in einer grundlegenden Passage seiner Anthropologie zurückkommen wird (Anth, 07: 326). Man beachte, dass Rousseau auf einem anderen Wege auch die Hypothese aufgestellt hatte, dass man am äußersten Ende des Zivilisationsprozesses dazu bestimmt sei zurückzukehren „au point d’où nous sommes partis“, wo „les notions du bien et les principes de la justice“ vergehen und sich „un nouvel Etat de nature“ bewahrheitet³⁰. Für Kant steht der ethische Naturzustand, der Konflikt zwischen den Konzepten des Guten, da er vom radikalen Bösen herrührt, trotzdem außerhalb der geschichtlichen Dialektik, wie wir schon beobachtet haben. Er ist immer gegenwärtig und kann unterdrückt werden, doch für seine Überwindung scheinen die moralischen Kräfte des Menschen nicht ausreichend. Kant lehnt jedoch jegliche Idealisierung des Naturzustandes ab und übernimmt die Sicht von Hobbes, nach der es nur innerhalb des zivilen Staates möglich ist, die Freiheit zu verteidigen. Doch dies führt ihn gleichzeitig dazu, Hobbes‘ politische Idealisierung des zivilen Staates, der durch absolutistische Willkür befriedet ist, zurückzuweisen mit der Konsequenz, dass sich die rousseau‘sche Diagnose der Übel der Zivilisation ohne Ausweg durchzusetzen scheint. Kant verzichtet trotzdem nicht darauf – wie Rousseau nicht darauf verzichtete – eine Überwindung der Übel zu suchen, die der Prozess der Zivilisation verursacht, jene Zwischenbedingung zwischen dem Naturzustand und der völligen Moralisierung des menschlichen Lebens, die Rousseau schon als die schlechteste Bedingung für den Menschen gekennzeichnet hatte³¹. Diese Überwindung entwickelt sich nun 30 Vgl. Rousseau 1964b, S. 191 31 Nach Kant befinden sich die Menschen, wie bekannt, „in dem zweyten Grade des Fortschritts zur vollkomenheit, zwar Cultivirt und civilisirt, aber nicht moralisirt.“ (Refl. 1460, AA 15: 641). Nötig für die Moralisierung sind Erziehung, Staatsverfassung und Religion. Bedeutsam ist, dass Kant in dieser Reflexion schließt: „Jetzt ist die Religion nichts anderes als eine civilisirung durch eine disciplin“,

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auf zwei Ebenen, politisch und religiös, die beide essentiell erscheinen³². Unser Problem ist es an dieser Stelle, abschließend, zu sehen wie Kant in der Religion das Verhältnis zwischen diesen beiden Ebenen anzugehen scheint, beziehungsweise zwischen dem philosophischen und dem religiösen Chiliasmus (RGV, AA 06: 34). In beiden Fällen geht es darum, den ‚juridischen‘ beziehungsweise ‚ethischen‘ Naturzustand zu überwinden, doch es ist nicht sofort klar, welches Verhältnis zwischen den beiden Prozessen besteht, beziehungsweise zwischen dem zivilen und dem moralischen Fortschritt. Sicherlich rühren beide von einer Selbstverpflichtung her: Auch das Joch des Glaubens ist süß und leicht, sagt Kant, wobei er das Evangelium zitiert (Mt 11,30), weil es ein – moralisches – Gesetz ist, das der Mensch sich selbst gibt, nicht anders als das bürgerliche Gesetz (RGV, AA 06: 179 Anm.). Es gibt jedoch diesbezüglich zwei gegensätzliche Interpretationstendenzen, die dazu neigen, dem religiösen Moment oder dem politischen den Vorrang zuzuweisen. Gemäß der ‚religiösen‘ Interpretation kann für Kant nur der Aufbau der ethischen Gemeinschaft den Erfolg der bürgerlichen Gemeinschaft fördern³³, während gemäß der ‚politischen‘ Interpretation dieselbe ethische Gemeinschaft im Grunde eine Artikulation der bürgerlichen Gemeinschaft ist³⁴. Wir wollen hingegen versuchen, die gegenseitige Abhängigkeit aufzuzeigen, die Kant zwischen den beiden Ebenen anzunehmen scheint³⁵. Wenn man berücksichtigt, dass Kant Beispiele des radikalen Bösen gerade in den verheerenden Zeugnissen des Naturzustandes im ‚juridischen‘ Sinne sucht, d. h. im Wesentlichen im Krieg, scheint es vernünftig anzunehmen, dass für ihn die Moralisierung des Menschen in einem menschlichen Kontext, der von den Lastern der Zivilisation und den Schrecken des Krieges gekennzeichnet ist, nicht denkbar ist. Auch kann dieses Ziel, laut Kant, nicht allein durch menschlichen Einsatz erreicht werden, wenn er auch notwendig ist: Hier denkt Kant jedoch, von der Idee des Jahres 1784 bis Zum ewigen Frieden 1795, an einen „Plan der Natur“, einen inneren Antrieb in der natürlichen Ordnung, mit seinem „mechanischen Lauf“ (Zef, AA 08:

was ein Stadium der kantischen Reflexion widerspiegelt, das der Religionsschrift vorhergeht. Rousseau spricht von der„condition mixte où nous nous trouvons“ zwischen dem Naturzustand und dem status socialis in Jugement sur le projet de paix perpétuelle (erschienen postum im Jahr 1782, das Kant wahrscheinlich nicht kannte). In: Rousseau 1964b, S. 610. 32 Die religiöse Dimension ist natürlich auch bei Rousseau vorhanden, wie die berühmte Profession de foi in Èmile zeigt, aus der Kant sicherlich eine starke Inspiration zog und in der sich Motive wiederfinden, die dem kantischen Moraldenken zugrunde liegen. 33 Ein maßgebliches Beispiel dieser Interpretation bietet Pera 2019. 34 Unter den Interpreten aus jüngerer Zeit vgl. Rossi 2005 und DiCenso 2019 35 Das scheint mir auch der Ansatz von Mori 2008, S. 271 f. zu sein.

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360). Es ist sicherlich zulässig, hinter diesem mechanischen Lauf eine teleologische Ordnung zu postulieren, sagt Kant (ZeF, AA 08: 361 Anm.), doch nach der Kritik der Urteilskraft ist klar, dass es sich um eine Voraussetzung der reflektierenden Urteilskraft handelt (KU, AA 05: 429 § 83), wieder aufgegriffen in ZeF, AA 08: 362³⁶. Es ist daher vorzuziehen, sagt Kant im Ewigen Frieden, von ‚Natur’ zu sprechen, anstelle von ‚Vorsehung‘, einem Ausdruck, der angemessener für einen nicht theoretischen, sondern religiösen Diskurs ist (ZeF, AA 08: 362) ³⁷. Somit bestätigt Kant auch im Ewigen Frieden (zwei Jahre nach der Religion) die Vision der Idee aus dem Jahr 1784, und erwartet, wenn auch unter der Bedingung der reflektierenden Urteilskraft, die Erreichung des philosophisch-politischen Chiliasmus vom Lauf der Natur, den zu nutzen wir die moralische Pflicht haben, um den ewigen Frieden zu erlangen (ZeF, AA 08: 362). Jedenfalls ist klar, dass die Aufgabe, den ‚juridischen‘ Naturzustand zu überwinden, ganz dem Menschen überlassen ist, der hier in sich selbst die notwendigen Kräfte findet, um dieses Ziel anzustreben: So sehr dies schwierig ist, ist es für die Menschen erreichbar und sogar für ein ‚Volk von Teufeln‘ im berühmten kantischen Beispiel (ZeF, AA 08: 366). Hier kann die Vernunft handeln, wobei sie auch den Mechanismus der Natur nutzt, ohne dass es dennoch notwendig wäre, eine moralische Besserung der Menschen vorauszusetzen: Es ist vielmehr die gute Verfassung des Staates, die die moralische Bildung fördern kann, nicht umgekehrt (ZeF, AA 08: 366)³⁸. Um den ethischen Naturzustand zu überwinden und ein ethisches Gemeinwesen aufzubauen, sind hingegen die Kräfte der Menschen nicht ausreichend (RGV, AA 06: 98). Da die Gesinnung auf dem Spiel steht und nicht die reine äußere Übereinstimmung mit dem Gesetz, kann hier in der Tat die Gesetzgebung nicht von den Menschen selbst stammen, sondern nur von dem, der in der Lage ist, die Herzen zu erforschen (Lk 16,15), d. h. von Gott. Dennoch dürfen sich die Menschen auch hier nicht einfach auf Gott verlassen, sondern müssen handeln, als ob es von ihnen abhinge: Nur so können sie den Beistand Gottes auf dem Weg zu jener reinen

36 Derselbe moralische Glaube wird in der Religion „reflektierend“ genannt, in Entgegensetzung zum dogmatischen Glauben (RGV, AA 06: 52). 37 Ich glaube nicht, dass man es als Zufall betrachten kann, dass Kant die Abhandlung über die „Garantie“ der Natur (ZeF, AA 08: 360) mit einem Zitat von Lukrez einführt, natura daedala rerum (De rerum natura, V, 234), quasi um zu betonen, dass die Finalität auf jeden Fall innerhalb des ‚Systems‘ der Natur gedacht wird. 38 In den Vorarbeiten zum Gemeinspruch stellt Kant die Frage: „Müssen die Menschen besser werden ehe der Staat gut wird oder umgekehrt?“ (VATP, AA 23: 140). Die Antwort bietet Loses Blatt Krakau: „das letztere scheint der Fall zu seyn“; vgl. Weyand 1959–1960, S. 4.

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Religion erwarten, in der es keine „streitenden Meinungen“ mehr geben kann und in der dann allein der ethische Naturzustand überwunden ist (RGV, AA 06: 131)³⁹. Doch welches Verhältnis besteht zwischen den beiden Prozessen? Sind sie unabhängig voneinander, oder gibt es eine wechselseitige Bedingtheit? Sicherlich ist das letzte Ziel dasselbe: der ewige Frieden⁴⁰. Auch wenn Kant das Problem nicht ausdrücklich anging, glaube ich, dass man aus den Texten einige Hinweise dazu entnehmen kann. Das Problem berührt das ganze moralische und politische Denken Kants und erfordert eine Studie für sich. Wir können hier trotzdem, zum Schluss, einige Linien aufzeigen, die die Untersuchung dieses entscheidenden Aspekts des kantischen Denkens leiten müssten. Es dürfte deutlich geworden sein, dass für Kant kein bürgerlicher Fortschritt an sich ausreichend ist, um das radikale Böse in der menschlichen Natur auszumerzen. Ein solcher Fortschritt kann stattfinden, und wird stattfinden, „ohne daß dabei die moralische Grundlage im Menschengeschlechte im mindesten vergrößert werden darf;“ (SF, AA 07: 92). Die Überwindung des juridischen Naturzustandes garantiert nicht an sich die Überwindung des ethischen Naturzustandes. Es wäre trotzdem voreilig, daraus zu folgern, dass laut Kant ein solcher Fortschritt keine moralische Bedeutung hätte⁴¹. Es ist leicht, Passagen anzugeben, in denen Kant dem bürgerlichen Fortschritt auch eine Bedeutung für den moralischen Fortschritt zuschreibt⁴². Die Art selbst, in der Kant den bürgerlichen Fortschritt beschreibt, scheint mit moralischen Implikationen beladen (SF, AA 07: 91–92): Die Verringerung der Gewalttätigkeit, die Zunahme der Wohltätigkeit, „mehr Zuverlässigkeit im Worthalten“, wenn auch immer durch ein Interesse motiviert und daher nicht rein moralisch, weisen deutlich auf ein menschliches Streben nach moralischer Verbesserung hin. In diesem Sinne kann Kant sagen, dass angesichts der menschlichen Bosheit der Respekt vor dem Gesetz „ein großer Schritt zur Moralität (obgleich noch nicht moralischer Schritt)“ ist (ZeF, AA 08: 375 Anm.). Ich glaube nicht, dass es ein Zufall ist, dass Kant die Anthropologie – sein letztes Werk –

39 Habermas entgegnete Kant dennoch in seinem interessanten Dialog mit der Religionsphilosophie Kants, dass die Ideen einer ethischen Gemeinschaft sich unausweichlich als Pluralität erweisen. Vgl. Habermas 2005. Dies ist offensichtlich das Gegenteil dessen, was Kant denkt, für den – wie wir zu zeigen versuchen – die Überwindung des ethischen Naturzustandes auch Bedingung für den Erfolg des kosmopolitischen Projekts ist. Die Pluralität der Glaubensformen ist ohne weiteres eine positive Tatsache, sagt Kant, aber nur aus politischer Sicht, da sie anzeigt, dass Freiheit besteht, allerdings ist es negativ, dass es keine universelle Religion gibt (SF, AA 07: 52). Kant war nämlich der Meinung, dass der Konflikt im Bereich der historischen Religionsformen unausweichlich ist (RGV, AA 06: 115). Dieser Punkt wird hervorgehoben von Dörflinger 2012, S. 163. 40 Vgl. ZeF, AA 08: 386; MS, AA 06: 355; RGV, AA 06: 124 41 Dies ist die These von Geismann 2009, S. 11–118. 42 Vgl.z. B. TP, AA 08: 311

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mit dem Hinweis schließt, dass der Übergang „aus dem Bösen zum Guten“ nur erwartet werden kann „durch fortschreitende Organisation der Erdbürger in und zu der Gattung als einem System, das kosmopolitisch verbunden ist“ (Anth, AA 07: 333). Im Allgemeinen scheint es, dass für Kant der bürgerliche Fortschritt die Funktion habe, die Hindernisse politisch-bürgerlicher Natur zu beseitigen, die sich der – an sich natürlichen – Verbreitung der Tendenz der Menschen zum Guten in den Weg stellen (RGV, AA 06: 123)⁴³. Es ist zum Beispiel klar, wie wir gesehen haben, dass die Geißel des Krieges gegen jegliche menschliche Bemühung zur moralischen Verbesserung agiert und dass folglich seine Überwindung eine ‚negative‘ Versicherung des Erfolgs zum Besseren bildet (SF, AA 07: 86). Dass die Menschen wie Tiere behandelt werden und sich gegenseitig vernichten, ist kein Detail, „sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst.“ (SF, AA 07: 89). In diesem Sinn, glaube ich, scheint Kant in der rechtbürgerlichen Gemeinschaft eine Vorbedingung der ethischen Gemeinschaft aufzuzeigen: Diese könnte sich nicht bilden, ohne die erstere als Grund zu haben⁴⁴. Derselbe Fortschritt des Kirchenglaubens hin zur reinen moralischen Religion scheint auch von der Verbreitung der „wahren Aufklärung“ abzuhängen (RGV, AA 06: 123 Anm.), in der das Handeln des Staates eine Rolle zu spielen scheint⁴⁵. Zugleich ist es völlig klar, dass, wenn auch die Menschen die Pflicht haben, jede Kraft aufzuwenden, um auf die Überwindung des ‚bösen Prinzips‘ hinzuarbeiten, es trotzdem nach Kant unmöglich ist, einen wahren und dauerhaften Sieg zu erwarten, ohne auf die Hilfe Gottes hoffen zu können, auch wenn man sich hier vor dem „Abgrund eines Geheimnisses“ wiederfindet (RGV, AA 06: 139)⁴⁶. Es ist dennoch der 43 Die Regierungen können natürlich auch im gegensätzlichen Sinne handeln, indem sie die Glaubensfreiheit verwehren und sich so dem Fortschritt der ethischen Gemeinschaft der Glaubenden entgegenstellen (RGV, AA 06: 133). Im Allgemeinen ist klar, dass Kant das Bündnis ThronAltar, das für den Absolutismus charakteristisch ist, als sehr schädlich betrachtete (vgl. RGV, AA 06: 180). 44 Vgl. RGV, AA 06: 9431-33 45 Die wahre Aufklärung ist geknüpft an eine „Gesetzlichkeit, die aus der moralischen Freiheit hervorgeht“; ‚Moralisch’ ist in der zweiten Edition hinzugefügt (RGV, AA 06: 123 Anm.). Der moderne Staat hatte auch nach Kant die Aufgabe, die Religionskriege einzudämmen und so den Fortschritt vom kirchlichen hin zum moralischen Glauben zu fördern (RGV, AA 06: 131). Die Aufgabe der wahren Aufklärung besteht darin, den Vorrang des moralischen Glaubens gegenüber jedem einfachen Geschichtsglauben wiederherzustellen (RGV, AA 06: 179). In diesem Sinne kann die Annäherung an die reine moralische Religion „unter Begünstigung der Regierung“ erfolgen (SF, AA 07: 52). 46 Kant war verständlicherweise im Zweifel hinsichtlich der möglichen Art und Weise der göttlichen Hilfe. Es ist vor allem ein Geheimnis, wie diese mit der Spontanität des Menschen vereinbar ist (RGV, AA 06: 143). Wir werden sie überdies nie mit Sicherheit von den natürlichen Einflüssen unterscheiden können (RGV, AA 06: 88). Keine Erfahrung kann ihre Wirklichkeit garantieren (RGV, AA

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zentralen Inspiration der kantischen Ethik getreu, dass wir weder die Glückseligkeit noch den göttlichen Beistand erwarten können, ohne uns dessen würdig zu machen. Die wahre Religion liegt nämlich „nicht im Wissen oder Bekennen dessen, was Gott zu unserer Seligwerdung thue oder gethan habe, sondern in dem, was wir thun müssen, um dessen würdig zu werden“ (RGV, AA 06: 133; Herv. d. Verf.). Dies ist der wahre Grundsatz: Es ist nicht zu fragen, was Gott für uns tun kann, sondern was wir tun müssen, um uns seines Beistands würdig zu machen (RGV, AA 06: 52). In jeder Pflicht erkennt der Mensch nichts anderes „als was er selbst zu thun habe, um jener ihm unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein“ (RGV, AA 06: 139)⁴⁷. Wir müssen uns der Hilfe Gottes würdig machen, der allein den Sieg des Guten fördern kann: Doch während die Modalität dieser Hilfe ein unergründliches Geheimnis bleibt, ist völlig klar, was die Menschen tun müssen, um sich ihrer würdig zu machen, und dies impliziert auch den Kampf der Zivilisation gegen die Barbarei, der in der Macht des Menschen liegt, und um dessen Weiterverfolgung die Menschen sich somit bemühen müssen. Was Gott von den Menschen erwartet, ist sehr einfach: ein guter Lebenswandel (RGV, AA 06: 170), und dieser ist offensichtlich unvereinbar mit dem gegenseitigen Töten und Täuschen (wenn auch die Unterlassung dieser Verhaltensweisen nicht per se eine Garantie für moralische Gesinnungen ist). Zusammenfassend kann man denken, dass die Funktion des bürgerlichen Fortschritts für den ethisch-religiösen Fortschritt zweifach ist: 1) die Hindernisse zu beseitigen, die sich der – an sich natürlichen – Verbreitung der Moralität in den Weg stellen (auch die Hindernisse, die von den ‚falschen‘, nicht reinen Religionen verursacht werden); 2) zu hoffen, dass Gott die Bemühung um Verbesserung 06: 191). Zu wissen, worin diese bestehen könnte, ist im Übrigen nicht notwendig, und Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Orten können sich davon unterschiedliche Vorstellungen machen (RGV, AA 06: 52). Sogar im Fall der ‚Gnade’ achtet Kant darauf zu präzisieren, dass es sich immer um „innere Naturwirkungen“ handeln könnte (RGV, AA 06: 53), oder um Handlungen, die jedenfalls vom Menschen gemäß den Gesetzen der Freiheit herrühren (RGV, AA 06:190; vgl. auch RGV, AA 06: 174). Es mag also sein, dass sich das Handeln Gottes durch das menschliche Handeln und seine verborgene Kausalität manifestiert. Daraus folgt, dass wir darauf achten müssen und somit auch auf den ‚Plan der Natur‘, wie er sich in der Geschichte manifestiert: Dies bietet uns eine Garantie für den Fortschritt, der – wenn er auch nicht an sich moralisch ist – trotzdem „ein großer Schritt zur Moralität“ ist. Sicherlich können wir das Handeln der Gnade nur erwarten, wenn wir zuvor alles getan haben, was in unserer Macht steht (RGV, AA 06: 191). 47 Wenn man sich hier fragt, was der moralische Ausgangspunkt unseres Gebrauchs des freien Willens sei „ob vom Glauben an das, was Gott unsertwegen gethan hat, oder von dem, was wir thun sollen, um dessen (es mag auch bestehen, worin es wolle) würdig zu werden, ist kein Bedenken, für das Letztere zu entscheiden.“, stellt auch Kant fest (RGV, AA 06: 118). Um uns der göttlichen Hilfe würdig zu machen, kann es kein anderes Mittel geben als die „ernstliche Bestrebung seine sittliche Beschaffenheit nach aller Möglichkeit zu bessern“ (RGV, AA 06: 192).

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schätzt, die im bürgerlichen Fortschritt impliziert ist, und wir Ihm dadurch wohlgefällig werden, was die Voraussetzung ist, um auf seine Hilfe zu hoffen. Andererseits scheint jedoch die moralische Verbesserung ihrerseits die Vorbedingung zu sein, um den bürgerlichen Fortschritt vollenden zu können und in Richtung eines authentischen Weltbürgertums voranzuschreiten. In Ermangelung dieser Verbesserung ist es nämlich, laut Kant, dieselbe Vorsehung, die das zu frühe Zusammenschmelzen der Staaten verhindert, was zum Alptraum des universellen Despotismus führen könnte. Gerade in der Religion sagt Kant, dass die Vorsehung sich hier der Verschiedenheit der Sprachen und Religionen bedient (RGV, AA 06: 123)⁴⁸. Der Weg hin zur Weltrepublik scheint somit die Überwindung der Verschiedenheit der historischen Religionen, ihr Zusammenfließen in die universelle moralische Religion vorauszusetzen. Die bekannten Schwankungen Kants im politischen Bereich (Völkerbund oder Weltrepublik) können wahrscheinlich geklärt werden, indem man die Religionsphilosophie betrachtet⁴⁹. Die Menschen müssen, und können daher, wenigstens teilweise aus dem juridischen Naturzustand in den Beziehungen zwischen den Völkern austreten und ein Bündnis der Republiken bilden, das sich auf den Frieden hin ausrichtet. Doch nur die moralische Verbesserung der Menschen, in unvorhersehbaren Zeiten, mit der Schaffung einer ethischen Gemeinschaft, kann die Erreichung eines authentischen Weltbürgertums, einer Weltrepublik, fördern. Nur die religiöse Perspektive „harrt“ nämlich „auf des ganzen Menschengeschlechts vollendete moralische Besserung“ (RGV, AA 06: 34). Bevor dies geschieht, könnte die Überwindung der Verschiedenheit der Staaten und Kulturen den Tod der Freiheit bedeuten. Im Ewigen Frieden erklärt Kant, dass die Staaten nicht mit Gewalt gezwungen werden können, aus der internationalen Anarchie auszutreten (ZeF, AA 08: 355–56). Die ursprüngliche Gewalt, die nach Kant der Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft zugrunde liegt (ZeF, AA 08: 371), kann nicht im Verhältnis zwischen Staaten repliziert werden. Kant zieht sich – wie schon Rousseau – vor den Konsequenzen

48 Im Ewigen Frieden wird dasselbe Ziel (dem „seelenlosen Dispotism“ durch die Verschiedenheit der Sprachen und Religionen vorzubeugen) der Natur zugeschrieben (ZeF, AA 08: 367): Wir hatten gesehen, dass Kant gerade im Ewigen Frieden (AA 08: 362) präzisiert, dass es zu bevorzugen ist, den Gebrauch des Begriffs ‚Vorsehung‘ auf den religiösen Diskurs zu beschränken. 49 Für eine klare Analyse des Problems und der Literatur vgl. Mori 2008, S. 106 f. Einer der wenigen Interpreten, die dem Thema des Verhältnisses zwischen dem Problem des Bösen und der Philosophie der internationalen Beziehungen in Kant Aufmerksamkeit schenken, ist Höffe 2004, S. 129 f. Doch auch Höffe zögert, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass nur die Überwindung des radikalen Bösen (die jenseits der menschlichen Kräfte liegt) den Zustand des Friedens unter den Menschen wirklich verstetigen kann.

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eines ähnlichen Szenarios zurück. Die Verwirklichung eines authentischen Völkerstaates kann nicht auf einfachem Zwang beruhen: In der Kritik der Urteilskraft sagt Kant, dass sich ein weltbürgerliches Ganzes aus einer willigen Zustimmung ergeben muss (KU, AA 05: 432). In der Vision des späten Kant scheint diese Idee eines spontanen Übergangs die Überwindung des radikalen Bösen im Menschen vorauszusetzen⁵⁰. Natürlich ist dies nicht der Ort, diesen Aspekt des kantischen Denkens zu vertiefen, geschweige denn ihn zu bewerten. Was hier abschließend hervorgehoben wird, ist, dass die Überwindung des juridischen Naturzustandes, auch zwischen den Staaten, einen wichtigen Schritt hin zur Moralität darstellt, eine unausweichliche Weise, um unsere Anstrengungen vor Gott glaubwürdig zu machen: Eine Menschheit, die sich um ihre Vernichtung bemüht, kann sich nicht als des göttlichen Beistands würdig erachten. Die Menschen sind jedoch nicht in der Lage, dieses Ziel vollständig und dauerhaft zu erreichen, da sie nicht in der Lage sind, das ‚radikale Böse‘ auszumerzen, das in ihren Herzen ist: Dies kann nur Gott bewirken⁵¹. Es ist daher notwendig, dass es gelingt, neben der bürgerlichen Gemeinschaft und auf der notwendigen Grundlage dieser, mit der maßgeblichen und für uns unverständlichen Hilfe Gottes eine ‚ethische Gemeinschaft‘ aufzubauen: Nur sie kann die wahre Religion, die moralische Religion verkörpern, in der jeder Konflikt endet. Dies bedeutet somit, dass nur die Überwindung des ethischen Naturzustandes letztlich die Erreichung desselben ‚höchsten politischen Gutes‘, d. h. des ewigen Friedens, garantieren kann.

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50 Die These, nach der der Völkerbund nur ein Mittelzustand auf dem Weg zum ewigen Frieden ist, wie schon von Fichte vertreten, könnte also verteidigt werden, aber nur wenn sie unter Berücksichtigung der Religionsschrift neu formuliert würde. 51 Vgl. RGV, AA 06: 171

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Alyona Kharitonova

„Vielerlei Arten des Glaubens“: Der Glaubensbegriff in der Religionsschrift und in den Logik-Kompendien Kants I Einleitung: Der Begriff des Glaubens und die kritische Philosophie Die Begriffe „Glaube“ und „Unglaube“ haben eine wesentliche Bedeutung innerhalb Kants kritischer Philosophie. Sie kommen besonders oft vor, wenn es sich einerseits um die Logik und anderseits um die Religionsphilosophie handelt. Beide Bereiche überschneiden sich in der Kritik der reinen Vernunft, insbesondere in manchen Passagen der zweiten Auflage, darüber hinaus finden sich auch in mehreren Kompendien und in der Religionsschrift Hinweise zu diesem Thema. Bei der Erforschung der kantischen Philosophie ist die Frage nach dem Verhältnis des Glaubens und des Wissens von besonderem Interesse. Die viel zitierte Stelle aus der Vorrede zur zweiten Auflage lautet: Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen, und der Dogmatism der Metaphysik, d. i. das Vorurtheil, in ihr ohne Kritik der reinen Vernunft fortzukommen, ist die wahre Quelle alles der Moralität widerstreitenden Unglaubens, der jederzeit gar sehr dogmatisch ist (KrV B XXX)

Bei flüchtiger Betrachtung mag es so erscheinen, dass der Glaube hier dem Wissen entgegengesetzt wird. Aber diese Entgegensetzung kann nicht für etwas die kritische Philosophie insgesamt Kennzeichnendes gehalten werden. Die Wiener Logik stellt uns z. B. ein anderes Beispiel vor Augen. Diese Vorlesung wurde nach verschiedenen Einschätzungen gerade zu der Zeit des Abfassens der KrV gehalten¹. Und in diesem Kompendium wird behauptet, dass eine Art des Glaubens nie zu Wissen werden kann, denn das Wissen ist eine andere Art des Fürwahrhaltens. Ein ausführlicher Vergleich, wie der Glaubens-Begriff in verschiedenen Bereichen der kritischen Philosophie verwendet wird, zeigt, dass sein Inhalt kontextuell abweichend ist².

1 Zu Kant’s Logik-Vorlesungen vgl.: Gensler 1985, S. 276–287; Pinder 1987, S. 79–114 und Hinske 1998. 2 Zu Kant’s Einstellung zum Glaube ausführlicher vgl.: Holz 1977, S. 404‒419; Fischer 2014, S. 142‒160; Theis 2015, S. 139‒175; D’Alessandro 2018, S. 1007‒1014 und Langthaler 2018. https://doi.org/10.1515/9783111063935-012

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II Die Religionsschrift Der Glaubensbegriff ist einer der wichtigsten Begriffe der Religionsphilosophie. Er wird in seinen einzelnen Details im dritten Stück der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft erörtert, in dem der Sieg des guten Prinzips über das Böse behandelt und auch die Frage beantwortet wird, wie es möglich ist, die Idee des ethischen gemeinen Wesens zu verwirklichen. Die Fragen nach den Prinzipien und Kennzeichen der wahren Kirche münden in eine Erörterung von verschiedenen Arten des Glaubens. Kant behauptet: „Es ist nur eine wahre Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (RGV, AA 06: 107). In der Tat taucht in der Religionsschrift der Begriff des Glaubens in Begleitung von verschiedenen Prädikaten auf: Es handelt sich einmal um einen reflektierenden und einmal um einen dogmatischen Glauben; um den Glauben an Wunder; um historischen Glauben, Geschichtsglauben,Volksglauben, Offenbarungsglauben, Kirchenglauben, empirischen und moralischen Glauben, Vernunftglauben, reinen Religionsglauben, seligmachenden Glauben, Frohn- und Lohnglauben. Und dazu nennt Kant noch den jüdischen, muhammedanischen, christlichen, katholischen und lutherischen Glauben. Wenn man versucht, diese verschiedenen Prädikate irgendwie zu systematisieren, dann ergibt sich folgendes Bild: Jüdische, muhammedanische, christliche, katholische und lutherische Arten des Glaubens sind allesamt verschiedene Varianten des Kirchenglaubens. Die Geschichte zeigt, dass der Glaube, der innerhalb irgendeiner Kirche existiert, immer verschiedene und veränderliche Formen hat. Ein solcher Glaube beruht auf statutarischen Gesetzen und folglich wird die Religion durch Offenbarung erkannt (und nicht durch bloße Vernunft), sie wurden „ingeheim oder öffentlich gegeben … um durch Tradition oder Schrift unter Menschen fortgepflanzt zu werden“ (RGV, AA 06: 104). Demnach ist der Kirchenglaube gleichfalls ein Offenbarungsglaube oder ein historischer Glaube. Einen solchen Glauben nennt Kant auch einen empirischen Glauben: Die Menschen bekommen den Glauben zufällig und „nach ein[em] Ungefähr“ (RGV, AA 06: 110), also hat ein solcher Glaube nur eine partikuläre Gültigkeit³. Kant warnt auch vor einer Verwechslung der Begriffe vom Glauben und der Religion, die äußerst schädliche Folgen nach sich zieht. Zu oft bezeichnen Menschen ihren eigenen Kirchenglauben als Religion (und dies resultiert in den so genannten Religionsstreitigkeiten). Aber eine solche Angleichung ist völlig falsch. Es gibt nur eine allgemeingültige Religion, die innerlich verborgen ist und in der es auf mora-

3 Zu Kants Einstellung zum Offenbarungsglauben vgl. Fischer 2013 und 2015.

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lische Gesinnungen ankommt, weshalb es nahe liegt, diese wahre Religion mit dem Vernunftglauben zusammenzubringen⁴. Es gibt allerdings verschiedene Arten der gottesdienstlichen Religion (cultus), wobei Kant die korrespondierende Glaubensform „Frohn- und Lohnglaube[n]“ (RGV, AA 06: 115) nennt (was allerdings dem Verständnis des Glaubens, wie es in mehreren Logik-Kompendien dargestellt wird, widerspricht: Dort wird es betont, dass der Glaube von jeweiliger Art frei ist). Dem empirischen oder historischen Glauben wird ein moralischer Glaube gegenübergestellt, der „ein freier, auf lautere Herzensgesinnungen gegründeter Glaube (fides ingenua)“ (RGV, AA 06: 115) ist. Man kann ihn auch einen seligmachenden Glauben nennen, denn es kann diesbezüglich nur„ein einziger sein und bei aller Verschiedenheit des Kirchenglaubens doch in jedem angetroffen werden“ (RGV, AA 06: 115). Der alleinige und unveränderliche Glaube ist notwendig, um die wahre Kirche zu gründen, deren wichtigstes Kennzeichnen die Allgemeinheit ist. Ein solcher Glaube ist ein reiner Religionsglaube, der zum Vernunftglauben gehört und nur auf bloß moralischen Gesetzen beruht. Auf diese Weise lässt sich zwischen zwei Hauptarten des Glaubens unterscheiden, nämlich zwischen einem historischen Glauben und einem Vernunftglauben. Alle anderen Glaubensarten gehen auf diese beiden zurück. Gerade diese Arten wurden bei Kant innerhalb der LogikKompendien ziemlich ausführlich untersucht, so dass es hilfreich sein wird, diese Darstellungen miteinander zu vergleichen.

III Die Logik-Kompendien Als Logik-Lehrbuch benutzte Kant das Werk von Georg Friedrich Meier verfasste Werk Auszug aus der Vernunftlehre, das im Jahre 1752 in Halle veröffentlicht wurde. Der Auszug erschien gleichzeitig mit der so genannten Grösseren Vernunftlehre ⁵. Meiers Darstellung des Glaubensbegriffs ist eine wichtige Quelle, die zum Verständnis Kants beiträgt, daher wird sie im Folgendem erläutert und mit dem Text der Wiener Logik verglichen werden⁶. Bei der Erörterung von Meiers Glaubensbegriff werde ich beide Lehrbücher Meiers benutzen.

4 Zum historischen Kontext des Vernunftglaubens vgl.: Krouglov 2009, S. 103‒116. Zur Rolle der Gesinnung in der Religionsphilosophie Kants vgl.: Krouglov 2019, S. 32‒55. 5 Meier G.F. (1752a): Auszug aus der Vernunftlehre; Meier G.F. (1752b): Vernunftlehre 6 Zu Meier’s Logik-Kompendium selbst und als Quelle für Kants Vorlesungen ausführlicher vgl.: Pozzo 1989; 2000; Boswell 1991; Rumore 2011, S. 93–104 und Vesper 2015.

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III.1 Die Logik von Meier Der Begriff des Glaubens taucht bereits in Meiers Definition der Philosophie auf: „Die Weltweisheit (philosophia) ist eine Wissenschaft der allgemeinern Beschaffenheiten der Dinge, in so ferne sie ohne Glauben erkannt werden“ (Meier 1752a, S. 2, § 5)⁷. Und die nachfolgende Auslegung zeigt, dass der Glaube eine wichtige Quelle unserer Erkenntnis ist. Eine ausführliche Exposition dieses Begriffs befindet sich im sechsten Abschnitt des Auszuges „Von der Gewissheit der gelehrten Erkenntniss“⁸. Etwas kann gewiss dreifach sein: Aus eigener oder fremder Erfahrung oder auch infolge der Beweise aus der Vernunft. In dem Fall, dass wir uns mit der Erfahrung anderer Menschen auseinandersetzen und sie für wahr halten möchten, ist der Glaube unumgänglich. Meier differenziert nur zwischen wenigen Arten des Glaubens, in erster Linie behandelt er den historischen Glauben und den Vernunftglauben. Gerade diese zwei Arten kommen in Kants Logik-Kompendien und der Religionsschrift ständig vor. Im Auszug gibt Meier folgende Definitionen: Der Glaube (fides, fides historica) ist der Beifall, den wir einer Sache um eines Zeugnisses willen geben. Der vernünftige oder sehende Glaube (fides oculata, rationalis) ist die Fertigkeit nur glaubwürdigen Zeugen zu glauben (Meier 1752a, S. 58, § 206)⁹.

In der Grösseren Vernunftlehre wird der Vernunftglauben wie folgt definiert: Der „bestehet in dem Beifalle, den wir einer Sache geben, um eines Zeugnisses willen, dessen Wahrheit wir nach einer gelehrten Untersuchung gewiß oder wahrscheinlich erkennen“ (Meier 1752b, S. 358‒359, § 243). Aufgrund beider Varianten der Vernunftlehre kann das folgende Bild rekonstruiert werden: Den Glauben und den historischen Glauben benutzt Meier eher als Synonyme; ein Vernunftglaube (oder ein sehender Glaube) ist ein Sonderfall des historischen Glaubens. In der Grösseren Vernunftlehre kommt auch ein „seligmachender Glaube“ der Gottesgelehrten vor, „der ist von einer ganz andern Natur, ob er gleich den historischen Glauben voraus setzt“ (Meier 1752b, S. 345, § 236). Aber Meiers Gedanken von der Religion, die drei Jahre früher geschrieben wurden, widmen dieser Art des Glaubens fast keine Aufmerksamkeit¹⁰. Es ist merkwürdig, dass der Glaubens-Begriff bei Meier eng mit den Begriffen von Zeugen und Zeugnissen verbunden ist. Der Zeuge (testis) ist derjenige, „wer eine wirkliche Sache für wahr ausgibt, damit ein anderer sie auch für wahr halte“, „und seine Handlung ein Zeugniss (testimonium, testari)“ (Meier

7 Vgl. auch Meier 1752b, S. 10, § 10. 8 Meier 1752a, S. 42‒61, § 155‒215. 9 Vgl. auch Meier 1752a, S. 60‒61, § 214. 10 Meier, G.F. (1749): Gedanken von der Religion.

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1752a, S. 58, § 206) heißt. Wenn es sich um den Vernunftglauben handelt, erheben wir erhöhte Ansprüche an den Zeugen – er muss bei uns nicht einfach in gutem Ansehen stehen, sondern auch gewissen Merkmalen entsprechen („tüchtig und aufrichtig genug“ (Meier 1752b, S. 359, § 243) sein). Hier ist anzumerken, dass es im Rahmen der Philosophie Kants überhaupt nicht angemessen ist, auf andere Menschen zu verweisen, wenn es sich um den Vernunftglauben handelt. Meier unterscheidet auch zwischen dem reinen und vermischten Glauben. Der reine Glaube (fides pura) entsteht, „wenn wir aber bloß um des Glaubens willen etwas annehmen“ (Meier 1752a, S. 61, § 215) oder „wenn wir eine Wahrheit bloß um glaubwürdiger Zeugnisse willen annehmen“ (Meier 1752b, S. 360‒361, § 244). Als ein Beispiel für eine Wahrheit, die nur solche Gründe hat, nennt Meier die Haltung, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen habe. Der vermischte Glaube (fides mixta) kommt dagegen dann vor, wenn es bei der Erkenntnis eine Vereinbarung des Glaubens mit den übrigen Quellen, nämlich mit der Vernunft und der Erfahrung, gibt (wenn wir eine Wahrheit durch alle drei Wege überzeugend erkennen). Wenn wir also über die Gewissheit sprechen, ist der vermischte Glaube vorzuziehen, weil dadurch „unsere Gewißheit vermehrt werde“ (Meier 1752b, S. 361, § 244). Diese Arten des Glaubens sind nicht in der Wiener Logik oder in der JäscheLogik zu finden. Und gerade der Text der Jäsche-Logik erklärt, warum es so ist: „Das Glauben ist kein besonderer Erkenntnißquell. Es ist eine Art des mit Bewußtsein unvollständigen Fürwahrhaltens und unterscheidet sich … vom Meinen nicht durch den Grad, sondern durch das Verhältniß, was es als Erkenntniß zum Handeln hat. […] Zwischen der Erwerbung einer Erkenntniß durch Erfahrung (a posteriori) und durch die Vernunft (a priori) giebt es kein Mittleres“ (Log, AA 09: 67 Anm.).

III.2 Kants Abweichungen von Meiers Auszug (unter Rückbezug auf die Wiener Logik) Ebenso wie Meier behauptet auch Kant, dass die Gewissheit dreierlei Ursprungs ist, und dass sich diese drei Quellen zwei Gruppen zuordnen lassen: 1. empirische oder historische Gewissheit (die sich auf eigener oder fremder Erfahrung gründet); 2. Vernunftgewissheit (sie ist apodiktischer Natur)¹¹. Sowohl Meier als auch Kant gestehen, dass unsere eigene Erfahrung sehr eingeschränkt ist und dass deshalb der Glaube ein notwendiger und unentbehrlicher Bestandteil unserer Erkenntnis ist. Kant betont in der Wiener Logik: „Was wir nicht wissen, oder selbst erfahren können, müßen wir durch Anderer Erfahrung er-

11 Vgl. V-Lo/Wiener, AA 24.2: 891‒892.

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kennen, und seiner Natur nach paßt der historische Glaube bloß auf die Erfahrung Anderer“ (V-Lo/Wiener, AA 24.2, S. 897); Meier behauptete in der Vernunftlehre etwas Ähnliches: „… es [gebe] sehr viele Dinge und Wahrheiten […], die uns zu wissen nötig sind, und, in Absicht auf welche, wir ohne Glauben ganz unwissend sein würden: so haben wir hier noch einen Grund, warum wir den Glauben überhaupt für eine Sache halten müssen, welche den Regeln des vernünftigen Denkens vollkommen gemäß ist“ (Meier 1752b, S. 359–360, § 243). Allerdings gibt es einige wichtige Unterschiede in der Deutung des Glaubensbegriffs zwischen Kant und Meier. Kant betont: Meier beziehe den Glauben bloß auf das Zeugnis, aber es ist notwendig, zwischen etwas zu glauben und jemandem zu glauben zu unterscheiden: „Wir können etwas glauben, ohne daß es uns Jemand gesagt hat“. Etwas glauben ist nicht mit den Zeugnissen der anderen verbunden, das „bezieht sich bloß auf das Erkenntniß, und auf den Grund des Vorwahrhaltens“ (V-Lo/Wiener, AA 24.2: 894). a) Der erste Unterschied besteht im Verhältnis der zwei Arten des Glaubens zueinander. Im Falle von Meier ist der Vernunftglaube ein Sonderfall des historischen Glaubens, bei Kant dagegen sind es zwei voneinander ganz unabhängige Arten. Kant gibt folgende Definitionen: „Der historische Glaube ist, wo ich bloß auf das Zeugniß eines Andern, auch allenfalls ohne Gründe etwas vor wahr halte“; „der Vernunft-Glauben […] bedeutet logisch unzureichendes Vorwahrhalten, das aber practisch zureichend ist“ (V-Lo/Wiener, AA 24.2: 895). Wie bereits gesagt, können wir uns laut Kant im Falle des Vernunftglauben auf keinen Zeugen berufen („In Sachen, die die Vernunft betreffen, kann ich keinen zum Zeugen rufen“ (V-Lo/Wiener, AA 24.2: 897)). Und die Rede über die Glaubwürdigkeit des Zeugen (die bei Meier ein wichtiger Punkt bei der Definition des Vernunftglaubens war) ist nur im Falle des historischen Glaubens sinnvoll. b) Meier betrachtet den Glauben als eine Quelle des Wissens, die einen individuellen Grad der Gewissheit haben kann. Laut Kant aber, für den die zwei Arten des Glaubens grundsätzlich verschieden sind, ist nur der historische Glaube ein Wissen: „Was wir durch den historischen Glauben erkennen, können wir wissen“ (als Beispiel nennt er die Geschichte und Geographie); und der Vernunftglaube kann nie ein Wissen werden: wir können gar keine Gewissheit von der korrespondierenden Sache haben und ein solcher Glaube hat nur praktische Gründe: „Dieser practische Grund kann niemahls zu einem Grund hinauf steigen, der wissen heißt. Denn wissen bedeutet, daß das Vorwahrhalten auch logisch hinreichend sey“ (V-Lo/Wiener, AA 24.2: 895). c) In der Wiener Logik übernimmt Kant den Unterschied zwischen einem reinen und einem vermischten Glauben nicht. Stattdessen führt er den Begriff des „moralischen Glaubens“ ein, den wir bei Meier nicht finden. Dieser Begriff taucht nicht nur in den Logik-Kompendien auf, sondern auch in der Religionsschrift und in der KrV. Dieser Begriff entsteht bei der Untersuchung des Begriffs „ungläubig“, „der

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auch in der Theologie vorkommt“. Kant sagt: „Der Glaube kann zweyfach in den theoretischen und practischen eingetheilt werden“, und als Synonym zum letzten benutzt er das Prädikat „moralisch“. Im Bereich des Theoretischen kann man ungläubig sein. Aber, so Kant, „den moralischen Glauben kann man also bey jedem Menschen voraus setzen, und der moralische Unglaube ist folglich sehr tadelhaft“ (V-Lo/Wiener, AA 24.2: 900). Hier können wir sehen, dass der Begriff des Unglaubens im Vergleich zu Meier eine neue Dimension erhält. Im Auszug handelt es sich nur um den Unglauben (incredulitas) und das ist „die Fertigkeit, einem gewissen oder wahrscheinlichen Zeugnisse nicht zu glauben“ (Meier 1752a, S. 60, §213). Zusammen mit der Leichtgläubigkeit (credulitas) handelt es sich dabei um unvernünftige Fehler.

III.3 Die Jäsche-Logik Kants Auffassung des Glaubensbegriffs, der oben skizziert wurde, beruht auf dem Kompendium Wiener Logik. Aber es lohnt sich ebenso, diese Auffassung mit der Jäsche-Logik zu vergleichen¹². Die Fragen, mit denen der Glaubensbegriff verbunden ist, sind denjenigen ähnlich, die in der Wiener Logik und in Meiers Auszug besprochen wurden. In der Jäsche-Logik werden sie im Abschnitt D „Logische Vollkommenheit des Erkenntnisses der Modalität nach“ behandelt. Dort wird die Gewissheit der Kenntnisse und ihr Fürwahrhalten besprochen; als die Modi des Fürwahrhaltens sind Meinen, Glauben und Wissen genannt. Was die Arten des Glaubens betrifft, so kommen in der Jäsche-Logik die Folgenden vor: Historischer Glaube, Vernunftglaube, moralischer Glaube und moralischer Vernunftglaube. Sie sind nur in den Anmerkungen erwähnt, und der Haupttext enthält nur eine allgemeine Definition des Glaubens: Der Glaube ist „das Fürwahrhalten aus einem Grunde, der zwar objectiv unzureichend, aber subjectiv zureichend ist“ (Log, AA 09: 67). Der historische Glaube und der Vernunftglaube genossen hier keine ausführliche Untersuchung, aber die Betonung, dass nur der historische Glaube im Unterschied zum Vernunftglauben „selbst ein Wissen sein kann“ (Log, AA 09: 69), ist von Bedeutung. Der moralische Vernunftglaube ist also der Glaube, „der allein im eigentlichsten Verstande ein Glaube genannt und als solcher dem Wissen und aller theoretischen oder logischen Überzeugung überhaupt entgegengesetzt werden muß, weil er nie zum Wissen sich erheben kann“ (Log, AA 09: 72 Anm.). Der Ab-

12 Nach der Veröffentlichung zahlreicher Logik-Vorlesungsnotizen wurde die Fassung Jäsches heftig kritisiert und verlor ihren kanonischen Status. Vgl. dazu: Hinske 2000, S. 85–93. Zu mehr über die Logik-Vorlesungen vgl. Pinder 1997 und Oberhausen 2000, S. 160–17.

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schnitt D, in dem der Glaubensbegriff untersucht wird, enthält mehrere Passagen, die dem entsprechenden Abschnitt in der KrV ähnlich sind¹³. Es sei auch darauf hingewiesen, dass der Begriff des Meinens in der Wiener Logik keine ausführliche Beachtung bekommt. Die Definition wird im Kontext des Begriffs der Hypothese gegeben und Kant merkt an, dass Meier diesen Begriff „noch nicht hinlänglich“ (VLo/Wiener AA 24.2: 886) erklärt hat.

IV Einige Parallelen in der KrV Der Glaubensbegriff entsteht im Rahmen der Untersuchung der Gewissheit. Wenn wir objektive Gründe haben, etwas für wahr zu halten, handelt es sich um die Überzeugung. „Das Fürwahrhalten oder die subjective Gültigkeit des Urtheils in Beziehung auf die Überzeugung (welche zugleich objectiv gilt) hat folgende drei Stufen: Meinen, Glauben und Wissen“ (KrV В 850/A 822). Der Glaube bekommt eine ähnliche Definition wie in der Wiener Logik, jetzt aber handelt es sich um die anderen Arten des Glaubens. a) Pragmatischer Glaube (ein zufälliger Glaube, der aber gewisse Handlungen begründet. Als Beispiel lässt sich das Wetten anführen). b) Doctrinaler Glaube (dies ist das bloß theoretische Fürwahrhalten: Nur in Gedanken können wir uns einen hinreichenden Grund einbilden, aber dennoch ist diese Art des Fürwahrhaltens sehr brauchbar. Beispiele: Die Lehre vom Dasein Gottes oder die Annahme, dass es auch Bewohner anderer Welten gebe). c) Schließlich der moralische Glaube, der von ganz anderer Beschaffenheit ist und der eine Unterart des Vernunftglaubens darstellt (es handelt sich nicht um eine logische, aber um eine moralische Gewissheit, sagt Kant). Und in der Wiener Logik war dies ein Synonym für den praktischen Glauben, der dem theoretischen gegenübergestellt wurde. Kant stellt diesbezüglich ein Gedankenexperiment an, das in der Frage besteht, ob der Vernunftglaube ohne moralische Gesinnungen möglich ist und gibt eine positive Antwort. Allerdings muss dann ein solcher Glaube als ein negativer Glaube bezeichnet werden, der zwar keine Moralität und keine guten Gesinnungen bewirkt, aber den Ausbruch der Bösen zurückhalten kann.

V Fazit Die Aufteilung des Glaubens in den historischen Glauben und den Vernunftglauben war, wie wir sahen, für die deutsche Philosophie der Mitte des 18. Jahrhunderts

13 Vgl. В 848–860/A 820–832.

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typisch und stellte keine Neuschöpfung Kants dar¹⁴. Innerhalb der Logik Meiers ist der Vernunftglaube ein Sonderfall des historischen Glaubens. Innerhalb der kritischen Philosophie Kants – in der Logik und der Religionsphilosophie – sind ganz verschiedene Arten des Glaubens erwähnt, aber fast alle können auf diese zwei Arten zurückgeführt werden. Dabei unterscheidet Meier zwei der genannten Bereiche – einen logischen und einen religiösen – und behauptet, dass der Glaube diesem Kontext entsprechend einer ganz verschiedenen Natur ist. Kant bildet dagegen einen gemeinsamen Begriffsapparat für beide Bereiche. Der Inhalt der Begriffe des historischen Glaubens und des Vernunftglaubens ist im Großen und Ganzen gleich, aber ihr Verhältnis im Rahmen der Logik und der Religionsphilosophie unterscheidet sich voneinander. Der Vernunftglaube ist kein Sonderfall des historischen Glaubens, er ist von einer ganz anderen Art. Ein wesentlicher Unterschied besteht darin, dass der Vernunftglaube kein Wissen sein kann. Im Kontext der Logik sind sie unabhängig und einander gegenübergestellt. Im Kontext der Religionsphilosophie sind sie aber eng verbunden. Nur der Vernunftglaube (nämlich der reine Religionsglaube) lässt sich „jedermann zur Überzeugung mittheilen“ (RGV, AA 06, S. 103) und die Thesen des historischen Glaubens, der bloß auf Facta gegründet ist, können nur zufällig für gewiss gehalten werden, je nach Zeit und Ort. Die Struktur der Vernunft, die das gemeinsame Fundament für alle Vernunftwesen bildet, sorgt für die Einigkeit und Allgemeinheit des Glaubens, weist aber dabei keinen Inhalt auf. Deshalb gibt Kant in einigen Fällen zu, dass man nur mit dem Vernunftglauben nicht auskommen könne und dass der historische Glaube als ein Vehikel und Mittel notwendig sei – allerdings nur dann, wenn es sich um die Beförderung der wahren Kirche handelt. Dann bringt der Kirchenglaube (der ein historischer Glaube ist) den Menschen den reinen Religionsglauben näher (obwohl letzterer, vom Standpunkt der Moral aus betrachtet, prioritär ist). Außerdem: „[W]enn wir uns aber nicht bloß als Menschen, sondern auch als Bürger in einem göttlichen Staate auf Erden zu betragen … so scheint die Frage, wie Gott in einer Kirche (als einer Gemeinde Gottes) verehrt sein wolle, nicht durch bloße Vernunft beantwortlich zu sein, sondern … mithin eines historischen Glaubens“ (RGV, AA 06: 105), weil die Kirche eine öffentliche Verpflichtung braucht. Offensichtlich machen die Einschränkungen der Verwirklichung der Idee eines ethischen gemeinen Wesens, die mit der sinnlichen Menschennatur verbunden sind, den historischen Glauben (in seiner gewissen Form) zu einem notwendigen, nämlich vorhergehenden Glied des Vernunftglaubens.

14 Zu dem Glaube-Begriff ausführlicher vgl.: Albert 2006, S. 355–371; Schenk/Meyer 2006; Schwaiger 2011, S. 213‒227 und Gerhardt 2017. Zum Kontext der Logik-Vorlesungen Kants vgl.: Conrad 1994 und Vásquez-Lobeiras 2001, S. 365–382.

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Schließlich führt Kant den Begriff des moralischen Glaubens ein. In der Wiener Logik ist er gleichbedeutend mit dem praktischen Glauben. In der KrV präzisiert er, dass es sich um eine Überzeugung handelt, die eine nicht logische, sondern moralische Gewissheit besitzt. Dies kann als Hinweis auf Meier betrachtet werden: Im Auszug wird behauptet, dass „der Glaube nur eine Wahrscheinlichkeit, und höchstens nur eine moralische Gewissheit“ (Meier 1752a, S. 61, §215) gibt. Da es sich um eine Art des Vernunftglaubens handelt, kann sie kein Wissen sein, ist aber dennoch für unser Verhalten wichtig. So existiert der moralische Glaube in jedem Menschen natürlicherweise, aber seine Beziehung zum reinen Religionsglauben ist noch vollständiger aufzuklären.

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Michael Städtler

Das Reich Gottes auf Erden. Geschichtliche, soziale und politische Aspekte der Religionsphilosophie Immanuel Kants „Nicht mal in Königsberg kann man nur von Sternen und reiner Vernunft leben.“ (Ehrenburg 1985, S. 130)

Als Schrift zu geschichtlichen, sozialen und politischen Fragen ist Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft bislang nur ausnahmsweise betrachtet worden.¹ Gleichwohl bietet das Dritte Stück dieser Schrift mit dem Begriff des ‚ethischen Gemeinwesens‘ das theoretische Modell einer ethisch verfassten menschlichen Gesellschaft, die von der rechtlichen Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft in einem Staat, dem ‚juridischen Gemeinwesen‘, deutlich unterschieden wird. Der Ausgangspunkt ist dabei die moralphilosophische Frage nach der Möglichkeit des ethisch Guten in einem Subjekt, das nicht notwendig gut ist. Das Besondere der Religionsschrift ist es nun, dass sie diese Frage auch und sogar hauptsächlich unter dem Aspekt untersucht, dass endliche Vernunftwesen in gesellschaftlichen Beziehungen zueinander stehen. Diese Beziehungen erweisen sich 1 In den letzten Jahren sind die sozialen, politischen und geschichtlichen Aspekte der Religionsschrift etwas stärker zur Kenntnis genommen worden. Die Literatur zu Kants Religionsschrift, die vor allem in den letzten fünfundzwanzig Jahren stark angewachsen ist, lässt sich grob in drei Gruppen einteilen. Eine Gruppe verfolgt das Ziel nachzuweisen, dass Kants Moralphilosophie religiös fundiert sei. Vgl. z. B. den Tenor der Sammelbände Rossi/Wreen 1991; Ricken/Marty 1992; Fischer 2004 und Palmquist 2016. Fischer 2014 behauptet sogar, die kritische Philosophie als solche sei ohne religiöses Verständnis nicht zu begreifen (vgl. ebd., S. XVIIf.). Eine monumentale Kantdeutung in religionsphilosophischer Perspektive, aber auch ohne Bezug zur politischen Dimension des ethischen Gemeinwesens, bietet Langthaler 2014. Schon der Kommentar von Bohatec 1938 konzentriert sich auf religiöse Gehalte und theologische Quellen der Schrift und lässt nur am Rande die von Troeltsch 1904 immerhin hervorgehobene geschichtliche Dimension einfließen. In der zweiten Gruppe werden zwar einzelne Beziehungen der Religionsschrift zu ethischen oder auch sozialanthropologischen Aspekten der Philosophie Kants hervorgehoben, aber die für das Dritte Stück zentralen politischen und geschichtlichen Gehalte werden nicht angemessen herausgehoben. Hierzu zählen auch Beiträge aus den genannten Sammelbänden, die vom Tenor abweichen.Vgl. z. B. Schulze 1927; Wood 1970; Wood 1978; Wimmer 1990; Anderson-Gold 1991; O’Neill 1992; Vossenkuhl 1992; Baum 1998; Palmquist 2000; Habermas 2004; Wimmer 2004; Sala 2004; Sweet 2013; Pasternack 2014 und Höffe 2014. Eine deutlich politische Interpretation liegt in der dritten Gruppe vor. Vgl. z. B. Brakemeier 1985; van der Linden 1988; Tuschling 1991; Baumgartner 1992; Stangneth 2000; Stangneth 2003; Dörflinger 2004; Städtler 2005a; Walther 2005; Klar 2007; Städtler 2010; Dicenso 2011; Dicenso 2012; Moran 2012 und Tampio 2014. Vgl. auch die Rezensionen von Cavallar 1998 und Sommer 2007. https://doi.org/10.1515/9783111063935-013

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für den Fortschritt zum höchsten Gut als Voraussetzung. Das höchste Gut wird selbst als gemeinschaftliche und geschichtliche Aufgabe betrachtet. Damit reagiert Kant moralphilosophisch darauf, dass die moderne Gesellschaft ein arbeitsteiliger und kooperativer Zusammenhang unabhängiger Privatproduzenten ist. Deren Handlungen sind einerseits systematisch aufeinander angewiesen, obwohl andererseits jeder sein privates Interesse zu Lasten der anderen zu maximieren sucht. Als Thema der Religionsschrift kann daher die Bedeutung sozialer Bedingungen für die Möglichkeit von Moralität gelten. Kant exponiert dieses Thema als „Idee eines höchsten Guts in der Welt“ (RGV, AA 06: 5; Herv. M.S.). Dieser für die Moralität notwendigen Idee stellt Kant am Beginn des Ersten Stücks gegenüber, dass „die Welt im Argen liege“ (RGV, AA 06: 19). Mit der daran anschließenden Erwägung fortschritts- und verfallsgeschichtlicher Theoreme eröffnet Kant unmittelbar den geschichtsphilosophischen Horizont der Religionsschrift. ² Die Möglichkeit ethischer Entwicklung begründet er aber prinzipiell in der vernünftigen Freiheit menschlicher Subjektivität. Dieser Möglichkeit gilt die Erwägung der Anlage zum Guten und des Hangs zum Bösen in den ersten beiden Stücken. Kant nutzt hierfür zwar die Sprache der Theologie, insofern das ethische Entwicklungsproblem eine Analogie zur Rechtsfertigungslehre aufweist, aber er interpretiert die Begriffe Gut und Böse restlos moralphilosophisch, nämlich als Rangfolge der Triebfedern Sinnlichkeit und moralisches Gesetz. Thematisch durchgeführt wird diese Exposition im Dritten Stück, wo Kant als Bedingungen der Verwirklichung von Moralität gesellschaftliche und geschichtliche Momente benennt. Entscheidend bleibt dabei aber, dass das Verhältnis von Gut und Böse zuvor im individuellen Subjekt grundgelegt wurde, denn weder das Böse noch die Moralisierung sind im engen Sinn soziale Phänomene; der Hang zum Bösen wird durch die sozialen Beziehungen der Subjekte lediglich affiziert, und kollektive Moralisierung kann nur entweder bedeuten, diese das Böse begünstigenden Faktoren in den sozialen Beziehungen zu minimieren, oder einander in der ethischen Gesinnungsbildung zu unterstützen. Darüber hinaus hat niemand Einfluss auf die Moralität eines anderen. Keineswegs wird das Böse also auf gesellschaftliche Faktoren reduziert. ³ Der genauen Bestimmung dieser sozialen Faktoren, ihrer Funktion und ihrer geschichtsphilosophischen Entfaltung dient das Dritte Stück, dessen ethische Bedeutung durch die Abgrenzung von den statutarischen Religionen im Vierten Stück noch einmal unterstrichen wird. Die sozial- und geschichtsphilosophische Perspektive, die der Ethik hinzugefügt wird, ergibt sich aus der Veränderung des Begriffs des höchsten Gutes zu einem 2 Pasternack 2014 zufolge will Kant allerdings einen Heilsglauben ohne irrationale Elemente schaffen (ebd., S. 4), weshalb die RGV als „treatise on philosophical theology“ (ebd., S. 11) zu lesen sei. 3 Den gesellschaftlichen Aspekt des Bösen hinsichtlich Entstehung und Bekämpfung haben hervorgehoben: Anderson-Gold 2001 und Wood 2000 und 2010.

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gemeinschaftlichen Ziel. Diese Bestimmung trägt der arbeitsteiligen und kooperativen Form des Handelns in modernen Gesellschaften Rechnung. Insofern die ethische Konstitution von Gesellschaft stets mit positiven Ordnungen und Mächten konfrontiert ist, ist dieses sozialphilosophische Bestimmungsmoment zugleich eine politische Erweiterung der Ethik.⁴ Entscheidend für den sozialen und politischen Gehalt des ethischen Gemeinwesens dürfte indes weniger sein, ob konkrete Zwecke, die zu haben Pflicht ist – eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit – in den Status von Artikeln einer Tugendverfassung erhoben werden, sondern vielmehr, ob die innere sittliche Gesinnung der Handelnden anstelle pathologischer Antriebe – eigener Vorteil oder Furcht vor Strafe – zur Triebfeder erhoben wird. Wenn nämlich die ethisch gute Gesinnung Grundlage sozialen Handelns würde, so hieße das zugleich, dass die Handelnden sich selbst und einander als Zwecke an sich selbst achteten und ihre Handlungen in einem Reich der Zwecke vernünftig koordinierten, weil sie dies aus vernünftiger Freiheit wollten.⁵ Damit ist eine Form von Gesellschaft intendiert, in der in jeder partikularen Handlung die allgemeine Perspektive reflektiert ist, und zwar nicht bloß instrumentell, sondern substantiell. Diese Form von Gesellschaft entspricht deshalb dem moralischen Wesen der Menschen, weil diese in ihrem Verhältnis zu anderen selbstbestimmt bleiben, wogegen sie in konkurrenzbasierten Gesellschaften stets heteronom bestimmt sind.⁶ Das ethische Gemeinwesen ermöglicht es, die Besorgung der materiellen Bedingungen des höchsten Gutes tendentiell ethisch gut zu bestimmen. Durch vernünftige Kooperation in einem Reich der Zwecke würden auch die sozialen Auslöser für den Hang zum Bösen reduziert, insofern eine für jeden durchsichtige optimale Versorgung aller die Gründe von Neid, Herrschsucht, Habgier usw. zumindest erheblich reduziert. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass und wie sich dieses Modell theoretisch als Desiderat aus einem problematischen Aspekt im Verhältnis von Ethik und Recht ergibt.⁷ Dafür werden im ersten Abschnitt I) soziale und politische Bedingungen erörtert, deren innere Problematik auf das religionsphilosophische Modell des ‚ethischen Gemeinwesens‘ hinausläuft. Dessen politische Bedeutung wird im zweiten Abschnitt erläutert II). Staatliche Rechtsordnungen können und sollen

4 Selbstverständlich unterscheidet Kant religiöse und politische Organisationen (vgl. Palmquist 2016, S. 254); aber gerade durch diese Unterscheidung erhält das ethische Gemeinwesen eine politische Bedeutung, weil durch sie bestimmt wird, wie es sich zu politischen Institutionen zu verhalten hat. 5 Zur Analogie von ethischem Gemeinwesen und Reich der Zwecke vgl. Moran 2012, S. 76 und Dicenso 2012, S. 133. 6 Vgl. Städtler 2005b, S. 171 f. 7 Skeptisch gegenüber dem Modell Kirche sind Baumgartner 1992, S. 162 und Sala 2004, S. 253.

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ethisch begründet sein, aber ihre Rechtsgesetze gelten auch dann verbindlich, wenn sie dem Sittengesetz widersprechen. In einer rechtlichen Ordnung gleichwohl ethisch verwerflicher historischer Verhältnisse, die um des Friedens willen notwendig ist, kann es zu ethischen Konflikten kommen I.1). Diese instabile Konstellation lässt sich geschichtsphilosophisch in eine stabile Form überführen I.2). In der Geschichte kann sich der politische Zustand der Moralität annähern. Die politische Dimension dieser ethischen Bestimmung des Geschichtsziels formuliert Kant nun in der theologischen Terminologie der Heilsgeschichte als ‚Reich Gottes auf Erden‘, das er aber vollkommen säkular deutet II.1).⁸ Kant bestimmt dies in den rechtfertigungstheologischen Termini von Gut und Böse, denen aber ebenso eine sozialphilosophische Dimension mitgegeben wird II.2), deren politische Konsequenz abschließend resümiert werden soll II.3).

I Soziale und politische Probleme der Moralphilosophie I.1 Partikularinteressen und Reich der Zwecke Die Kritik an Kants Moralphilosophie hat immer wieder an der rigorosen Abstraktion von sinnlichen Antrieben in der Begründung des Sittengesetzes Anstoß genommen.⁹ Dadurch wurde aber der Blick darauf verstellt, dass es nicht Kants Ziel bei der Abstraktion von Neigungen und Privatzwecken ist, die Sinnlichkeit als solche zu entwerten. Das bestätigt auch Kants Bemühung um Sinnlichkeit als Moment im Begriff des höchsten Guts. Vielmehr gilt Kants Abstraktion dem Ausschluss bloß partikularer Zwecke aus dem Begriff moralischen Handelns. Partikulare Zwecke können schon deshalb keine allgemeinen Gesetze werden, weil sie als partikulare gleichgültig gegenüber den Zwecken anderer durchgesetzt werden sollen. Ihre Verwirklichung ist am exklusiven Erfolg des Handelnden orientiert und schließt die Verwirklichung der Interessen anderer nur soweit ein, als diese zur Beförderung der eigenen Zwecke dienstbar gemacht werden können. Deshalb gelten die Vertreter konkurrierender Zwecke nicht zugleich als Zwecke an sich selbst, sondern sie werden bloß als Mittel gebraucht.

8 Vgl. Sweet 2013, S. 185 ff. – Diese Säkularisierung des Denkens hat Habermas als religiöse Aufladung der Moral, als Aneignung religiöser Gehalte gedeutet.Vgl. Habermas 2004, S. 153; 158. Zur Kritik dieser Interpretation vgl. Dörflinger 2013. 9 So zuerst Pistorius 1794/1975 und dann Hegel 1820/2010, § 135.

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Zwar liegen allen Maximen subjektive Zwecke zugrunde – sonst bedürften sie der Gesetzesform nicht erst -, aber nicht jeder subjektive Zweck ist auch ein partikularer Zweck. Subjektive Zwecke können gesetzförmig sein, wenn sie die moralische Subjektivität aller anderen Subjekte der Möglichkeit nach einschließen. Partikulare Zwecke sind hingegen dadurch definiert, dass sie bloß im Interesse eines oder endlich vieler Subjekte liegen und alle anderen als Subjekte ausschließen, indem sie sie bloß als Mittel der Zweckrealisierung betrachten und behandeln. Solche Zwecke können durchaus rechtskonform sein, wenn sie mit den äußerlichen Willkürsphären aller anderen Subjekte nach einem – komparativ – allgemeinen Gesetz vereinbar sind, wenn sie also nicht in die Rechte anderer eingreifen. Sie können aber nicht ethisch gesetzförmig sein, weil ihnen die Absicht zugrunde liegt, die Zwecke anderer soweit wie möglich zu beschränken und die anderen damit zu bloßen Mitteln zu machen. Das ist zwar rechtlich nicht verboten, solange die Ausführung nicht mit Rechtsverletzungen verbunden ist; aber das Prinzip dieser bloß rechtlichen Verallgemeinerung ist nicht der kategorische Imperativ. Die Maxime, meiner eigenen Bereicherung alle anderen Menschen als Mittel unterzuordnen, oder die Maxime, dem Wachstum industrieller Produktivität alle menschlichen Belange als Mittel unterzuordnen und allenfalls unmittelbare Härten auszugleichen, sind nicht mit dem kategorischen Imperativ vereinbar.¹⁰ Die in dieser Argumentation bemühte Selbstzweckformulierung ist keineswegs unscharf. Die Deutung, dass man den anderen zwar nicht bloß, aber doch auch als Mittel gebrauchen dürfe, ist aufgrund von Kants näherer Bestimmung ‚zugleich‘ unzulässig: Es ist nur dann ethisch gerechtfertigt, jemanden auch als Mittel zu gebrauchen, wenn er dabei zugleich als Zweck an sich selbst geachtet wird. In einer arbeitsteiligen Gesellschaft ist jeder auch Mittel für andere. Zugleich als Selbstzweck geachtet wird er dabei aber nur dann, wenn die Zwecke, zu denen er als Mittel dient, auch seine eigenen Zwecke sein können, weil sie ihrer Form nach vernünftige Zwecke sind. Das ist, wie gezeigt, bei partikularen Zwecken nicht der Fall. Zwar mag es formell widerspruchsfrei denkbar sein, dass jeder jeweils alle anderen für seinen Privatvorteil instrumentalisieren will, aber dadurch wird diese Maxime noch nicht ethisch gut. Der kategorische Imperativ verlangt ja nicht einfach pragmatisch, dass es alle so machen können, sondern dass eine Maxime als allgemeines Gesetz, d. h. notwendig allgemein, nicht bloß verstandesmäßig-komparativ,

10 Vgl. van der Linden 1988, S. 197: „[S]upport for capitalism is incompatible with his own [Kant’s] republican idea.“ Die revolutionstheoretischen Konsequenzen van der Lindens (vgl. ebd., S. 187) sind allerdings problematisch, da sie im Begriffsrahmen positiven Rechts formuliert werden. – Ganz anders ordnet Baumgartner 1992, S. 164 Kants Theorem gleich warnend in die marxistisch-leninistische Tradition ein.

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sondern vernünftig-systematisch allgemein denkbar ist, damit sie erlaubt sei.¹¹ Eine allseitige Partikularität, die in jedem ihrer Elemente universal ausschließend ist, kann aber nicht widerspruchsfrei allgemein gedacht werden. Das pathologische Ideal der gemeinsamen Verfolgung von Partikularzwecken ist die Minimierung der Zwecke der Anderen zugunsten der Maximierung der eigenen.¹² Deshalb sind Handlungsgemeinschaften, die sich auf partikulare Zwecke gründen, prekär. Für die allgemeine Organisation gesellschaftlichen Handelns durch Gesetze reiner praktischer Vernunft kommen partikulare Zwecke daher nicht in Frage. Nun hat Kant nicht vorgeschlagen, Gesellschaft aus allgemeinen Gesetzen zu konstruieren, sondern er setzt ihre Agglomeration aus individuellen Subjekten voraus. Auch die Moralphilosophie bezieht sich auf das individuelle Moralsubjekt. Der objektive Gehalt des Sittengesetzes weist aber über die von Kant festgehaltene Individualität hinaus: Das individuelle Handeln soll von der Maxime her so bestimmt werden, dass es mit der gesellschaftlich-allgemeinen Dimension menschlichen Handelns vereinbar ist. Im Unterschied zum Recht, das im Anschluss an Hobbes die individuellen Antriebe bloß in Konformität zwingt, behauptet die Ethik die Möglichkeit freier Kooperation. Das geht aus der Bestimmung des ‚Reichs der Zwecke‘ deutlich hervor: Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze. Weil nun Gesetze die Zwecke ihrer allgemeinen Gültigkeit nach bestimmen, so wird, wenn man von dem persönlichen Unterschiede vernünftiger Wesen, imgleichen allem Inhalte ihrer Privatzwecke abstrahirt, ein Ganzes aller Zwecke (sowohl der vernünftigen Wesen als Zwecke an sich, als auch der eigenen Zwecke, die ein jedes an sich selbst setzen mag), in systematischer Verknüpfung, d. i. ein Reich der Zwecke gedacht werden können, welches nach obigen Principien möglich ist. (GMS, AA 04: 433)

Die Abstraktion von allen persönlichen Unterschieden zielt erkennbar auf den Ausschluss der Privatzwecke aus der Handlungsbestimmung, kann dies aber mit Bezug auf individuierte Menschen nur hypothetisch bestimmen: Unter der Bedingung der Abstraktion vom Inhalt der Privatzwecke wird ein systematisch, nach Vernunftzwecken, geordneter Handlungsraum denkbar. Diesen Aspekt der freien Kooperation – im Unterschied zu dem, was mit den Mitteln des Rechts durchsetzbar ist – hat Kant in der Religionsschrift durch die Unterscheidung von ethischem und juridischem Gemeinwesen expliziert. Die mo11 Vgl. Brandt 2010, S. 95. 12 Hegel hat dieses Prinzip des Interessengegensatzes als bestimmendes Moment des Vertrages, also des zentralen rechtlichen Instruments der bürgerlichen Gesellschaft, erkannt und konnte nur daher direkt aus dem Begriff des Vertrags die Bestimmung des Unrechts ableiten (vgl. Hegel, 1820/ 2010, §§ 81 f.).

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ralphilosophische Grundlage dafür bildet die Neubestimmung des höchsten Gutes unter der„Idee eines höchsten Guts in der Welt“ (RGV, AA 06: 5; Herv. M.S.), die näher wie folgt bestimmt wird: Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eignen Art nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objectiv, in der Idee der Vernunft, zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten, als eines gemeinschaftlichen Guts, bestimmt. Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu eben demselben Zwecke, zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zu Stande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, dass es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht, der Art und dem Princip nach, von allen andern unterschieden (RGV, AA 06: 97 f.)¹³.

Neben der individuellen Pflicht, für das eigene Handeln den kategorischen Imperativ als Richtschnur und Triebfeder einzusetzen, zeichnet sich hier eine Pflicht ab, auf den ethischen Fortschritt der Menschheit hinzuwirken, dessen Ziel es ist, die Organisation des höchsten menschlichen Guts, die nur gemeinschaftlich möglich ist, ebenfalls dem kategorischen Imperativ zu unterwerfen.¹⁴ Die Notwendigkeit der gemeinschaftlichen Organisation des höchsten Guts ergibt sich daraus, dass moderne Gesellschaften sich nicht über Subsistenzwirtschaft reproduzieren, sondern arbeitsteilig über vereinzelte Privatproduzenten. Jeder produziert nur eine bestimmte Produktenart, die dann zwingend über Märkte gegen andere Produkte ausgetauscht werden muss. Damit stehen alle Handlungen, die auf die Befriedigung von Bedürfnissen und insofern auf die Glückseligkeit bezogen sind, in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Keine dieser Handlung ist unabhängig für sich bestimmbar, weder technisch-praktisch, noch auch moralisch-praktisch, denn wenn das System wechselseitiger gesellschaftlicher Abhängigkeiten seiner technischen Organisation nach auf die Verfolgung partikularer Privatzwecke ausgerichtet ist, steht die moralisch-praktische Willensbestimmung unter Rahmenbedingungen,

13 Wenn man ‚Menschheit‘ hier nicht als ‚Menschheit in einer Person‘, als deren humanitas, versteht, ist das Subjekt dieser Pflicht ein Kollektivsubjekt. Damit sind moraltheoretisch grundlegende Fragen verbunden, die Kant hier nicht weiter erörtert, die aber nicht unmittelbar aus der moralischen Subjektivität zu beantworten sind, wie Kant sie in der Grundlegung, der Kritik der praktischen Vernunft und dann auch in der Metaphysik der Sitten darstellt. 14 Dieser Aspekt weist über den Begriff des Reichs der Zwecke hinaus. Einen solchen Fortschritt bestreitet Sala 2004, S. 253.

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unter denen das Subjekt entweder in dem System mitwirken oder sich diesem Mitwirken entziehen kann; im ersten Fall unterwürfe es sich einem ethisch verwerflichen Zweck, im zweiten Fall riskierte es nicht nur die eigene materielle Existenz, sondern es verweigerte auch die Mitwirkung am kollektiven gesellschaftlichen Wohl, was ebenso ethisch verwerflich wäre. Deshalb sind alle Handlungen auch ihrer moralisch-praktischen Qualität nach aufeinander bezogen, und das höchste Gut ist nur als gemeinschaftliches möglich.¹⁵ Diese Auffassung vom höchsten Gut als eines kollektiven ist im Begriff des Reichs der Zwecke bereits in der Grundlegung der Sache nach enthalten und liegt dem kategorischen Imperativ auch als solchem zu Grunde. Insofern steckt in Kants Moralphilosophie durchaus ein Moment von Sozialphilosophie.

I.2 Ethik, Gesellschaft und Politik führen notwendig zur Geschichte Allerdings ist die Konkurrenz von Partikularzwecken konstitutiv für die sozialen Handlungsbedingungen der Moderne. Der Inbegriff dieser Handlungsbedingungen ist die neuzeitliche bürgerliche Gesellschaft. Schon die „ungesellige Geselligkeit“¹⁶ ist kein ethisch vertretbares Verhältnis von Menschen, denn sowohl der Antrieb zur Vereinigung mit anderen als auch die Abneigung gegen andere sind hier nicht vernünftig, sondern pathologisch bestimmt. In der Religionsschrift hat Kant es so formuliert, dass die Gesellschaft eines Menschen mit anderen seine ethisch guten Absichten zwangsläufig verderbe.¹⁷ Daraus ist zu schließen, dass die Gesellschaft, von der dort die Rede ist, nach Kants Auffassung die Menschen auf eine Weise miteinander verbindet, die sie daran hindert, ethisch gute Absichten in die Tat umzusetzen. Kant zufolge erfordert dies nicht einmal eine Konfrontation mit ethisch verwerflichen Zwecken der anderen, sondern ergibt sich aus den gesellschaftlichen Beziehungen als solchen. Auch unabhängig von der Frage, ob das für alle möglichen Gesellschaften so gelten muss, lässt sich festhalten, dass hier die gute Handlungsabsicht auf gesellschaftliche Handlungsbedingungen trifft, unter denen die Ausführung guter Handlungen dem Handelnden unter Umständen schwere Nachteile bringt. In einer Gesellschaft, zum Beispiel, in der es der Regelfall ist, mit ethisch verwerflichen Mitteln um Existenzbedingungen zu konkurrieren, kann eine strikt ethische Haltung den Verlust

15 Vgl. Moran 2012, S. 2 und 70 ff. 16 IaG, AA 08: 20.Vgl. Pasternack 2014, 178: „unsocial sociability collectively corrupts […] humanity“. 17 Vgl. RGV, AA 06: 93 f.

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der Existenz bedeuten. Solche Nachteile muss das Subjekt im einzelnen Zweifelsfall durchaus in Kauf nehmen.¹⁸ Damit ist ein Problem für den notwendigen Gegenstand der praktischen Vernunft, das höchste Gut, und damit auch für die Möglichkeit der praktischen Vernunft selbst verbunden, denn Moralität sichert nicht aus sich selbst heraus die Glückseligkeit. Die Differenz zwischen den beiden Elementen des höchsten Gutes wird schon in der Kritik der praktischen Vernunft durch die Postulate nicht etwa eliminiert, sondern sie werden prozessual in einer Fortschrittsgeschichte vermittelt. Diese bleibt in der Kritik der praktischen Vernunft als unendlicher Fortschritt der unsterblichen Seele bloß problematisch, in der Religionsschrift aber wird sie als „Historische Vorstellung der allmähligen Gründung der Herrschaft des guten Princips auf Erden“ (RGV, AA 06: 124) durchgeführt. Ein Weg zur Vermittlung von Moralität und Glückseligkeit bestünde darin, die sozialen Bedingungen, unter denen Glückseligkeit für die Einzelnen möglich ist, so zu gestalten, dass sie dem ethisch vertretbaren Streben nach Glückseligkeit nicht im Wege stehen. Dann wäre aber nicht bloß die individuelle Maximenwahl, sondern es wären auch die materiellen, technisch-praktischen Handlungsbedingungen unter die moralisch-praktische Gesetzgebung der Vernunft zu subsumieren. Möglich wäre das, weil die Handlungsbedingungen selbst Resultate von geschichtlichen sozialen oder politischen Handlungen und insofern auch moralisch-praktisch veränderndem Handeln zugänglich sind. Wenn es gelingt, die sozialen Handlungsbedingungen selbst als Bestandteile individuellen Handelns zu begreifen, ergäbe sich sogar eine Pflicht zur moralisch-praktischen Veränderung der technisch-praktischen Bedingungen.¹⁹ Dass Kant diesem Problem, das sich an vielen Stellen, vor allem auch in den Beispielen der praktischen Philosophie, andeutet, weitestgehend ausweichen konnte, gründet darin, dass Sozialphilosophie bei Kant noch in der Anthropologie verortet wird und insofern nicht in ihrem Verhältnis zur Geschichte gefasst werden

18 Dass dieses Problem nicht anthropologischer Natur ist, sondern sich den Handlungsbedingungen in historisch bestimmten Gesellschaften verdankt, wird bei Moran 2012 nicht deutlich. Sie sieht die Möglichkeit zur Überwindung der gesellschaftlich induzierten Gestalt des Bösen in der Entwicklung des Charakters (ebd., S. 93 f.). Moran erkennt Gesellschaft als Faktor von Moralisierung, aber nicht als spezifischen Grund des moralisch Bösen. 19 Insofern ist Dicenso 2012, S. 139 in der Sache zuzustimmen: „Individual good will is insufficient for ethical progress, so long as our shared institutional forms are not in harmony with universalizable ethical principles. Therefore, the ideal of the ethical community has an active critical function: It provides criteria for assessing and modifying existing institutions in relation to the moral law.“ Zu bezweifeln ist allerdings, dass Kant selbst dem ethischen Gemeinwesen diese kritische Funktion zugedacht hat, denn Kant geht rechtstheoretisch vom unbedingten Vorrang des Rechtszustands aus. Vgl. auch Dicenso 2011, S. 10.

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kann. Die Frage, wie ethisch gutes Handeln unter empirischen gesellschaftlichen Bedingungen gelingen kann, führt damit zunächst auf eine geschichtliche Perspektive.²⁰

II Das ethische Gemeinwesen als Lösungsmodell II.1 Das ‚Reich Gottes auf Erden‘ als Ziel der Geschichte: Zwischen Sittengesetz und Handlungsbedingungen Das letzte Ziel der Geschichte der Menschen ist der Religionsschrift zufolge die stabile Moralisierung ihrer Handlungen in einem ethischen Gemeinwesen, dessen Mitglieder nicht, wie in einem juridischen Gemeinwesen „unter ö f f e n t l i c h e n R e c h t s g e s e t z e n (die insgesammt Zwangsgesetze sind) stehen [sondern] […] unter dergleichen zwangsfreien, d. i. bloßen T u g e n d g e s e t z e n vereinigt sind“ (RGV, AA 06: 95). Kant konstruiert an späterer Stelle der Schrift den historischen Weg dorthin als Entwicklung der, mit der Moralphilosophie einigen, Vernunftreligion aus den historischen statutarischen Religionen und behauptet über das Ziel: Der erniedrigende Unterschied zwischen L a i e n und K l e r i k e r n hört auf, und Gleichheit entspringt aus der wahren Freiheit, jedoch ohne Anarchie, weil ein jeder zwar dem (nicht statutarischen) Gesetz gehorcht, das er sich selbst vorschreibt, das er aber auch zugleich als den ihm durch die Vernunft geoffenbarten Willen des Weltherrschers ansehen muß (RGV, AA 04: 122).

Den Hörern seiner Vorlesungen hat Kant schon Mitte der achtziger Jahre vermittelt, dass die letzte Bestimmung des menschlichen Geschlechts „das Reich Gottes auf Erden“ sei, wo „die menschliche Natur ihre völlige Bestimmung und ihre höchstmögliche Vollkommenheit wird erreicht haben“, denn „alsdenn wird das innere Gewissen Recht und Billigkeit regieren, und keine obrigkeitliche Gewalt“ (V-Mo/ Collins, AA 27.1: 471). In der von Powalski angefertigten Nachschrift der Vorlesung über Praktische Philosophie wird das „Reich Gottes auf Erden“ analog dadurch bestimmt, dass „alles nicht nur Bürgerlich, sondern auch moralisch gut seyn wird“ (V-PP/Powalski, AA 27.1: 235). Wenige Jahre früher, in der Nachschrift Mrongovius, hatte es noch ganz allgemein geheißen, der „allgemeine Zweck der Menschheit ist die höchste moralische Vollkommenheit“ (V-Mo/Mrongovius, AA 27.2,2: 1581). Hier wird von einer ebenfalls allgemein gehaltenen Spannung zwischen dem allgemeinen Zweck und dem Verhalten des Einzelnen ausgegangen, der dies mit dem all-

20 Vgl. Sweet 2013, S. 185 ff.

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gemeinen Zweck in Übereinstimmung bringen soll, was zur „größte[n] Vollkommenheit“ (V-Mo/Mrongovius, AA 27.2,2: 1581) führe. Das Motiv dieser Moralisierungsgeschichte liege darin, dass Gott die Freiheit zum inneren Prinzip der Welt gemacht habe. Die Vollkommenheit der Welt müsse aus diesem Prinzip hervorgebracht werden. Bereits in der Powalski-Nachschrift wird der ethische Fortschritt aber genauer als säkulare Bildungsaufgabe bestimmt: „die Philosophen müssen instruiren. Die Geistlichkeit muß in Ansehung der Moralitaet die Menschen zu bilden suchen, und die Moral muß noch häufig Machinen herbeyschaffen“ (V-PP/ Powalski, AA 27.1: 235). Mit diesen Maschinen dürfte die mechanische Durchsetzung ethischer Normen durch die obrigkeitliche Gewalt gemeint sein, die durch die Moralisierung auf lange Sicht, nämlich auf „viele tausend Jahre“ (V-PP/Powalski, AA 27.1: 235) überflüssig gemacht werden soll. In der Moralphilosophie Collins (1784/85) verweist Kant auf eine ganz konkrete und säkulare Bildungseinrichtung, nämlich die Basedowschen Anstalten, also das Dessauer Philanthropinum, das zur Vervollkommnung der Menschen „eine kleine warme Hoffnung“ (V-Mo/Collins, AA 27.1: 471) mache, für deren Erfüllung Kant nunmehr bloß noch „viele[] Jahrhunderte“ (V-Mo/ Collins, AA 27.1: 471)²¹ ansetzt. Schiller spricht zehn Jahre später sogar nur mehr von einer „Aufgabe für mehr als ein Jahrhundert“²², Fichte wiederum rechnet zu dieser Zeit bis zur ethischen Obsolenz aller Regierungen wiederum „Myriaden von Myriaden Jahren“²³. Aber der Gedanke als solcher steht mit dem geschichtsphilosophisch verstandenen Bildungsbegriff der klassischen deutschen Philosophie in der Welt. Bei Kant eröffnet sich damit eine Entwicklungsperspektive, die noch über die globale Durchsetzung bürgerlichen Zwangsrechts hinausweist. Mit dem Reich Gottes auf Erden ist ein Ziel gesetzt, in dem die herrschaftlich organisierte Zwangsgewalt des Rechts aufgehoben sein soll. Wenn Kant letztlich doch am Zwang festhält, dann fällt er auf den Hobbesschen Begriff der Freiheit als bürgerliche Willkürfreiheit zurück. Wo Kant aber Freiheit als Autonomie denkt, gerät er hierzu in Widerspruch, denn die Leistungsfähigkeit des Autonomiebegriffs übersteigt die der Willkürfreiheit in systematischer Weise: Autonomie ist reflexiv und kann sich selbst gesetzmäßig ordnen; Willkürfreiheit kann nur aus eigenem Interesse Be-

21 Diese politische und geschichtliche Dimension ignoriert vollkommen Höffe 2014. In der Einleitung wird eine politische Deutung der Religionsschrift explizit zurückgewiesen (ebd., S. 14), bzw. nur indirekt und accidentaliter zugelassen, indem die Religionsschrift als Streitschrift für Religionsfreiheit gedeutet wird (ebd., S. 23). Auch der einzige von 14 Beiträgen, der sich in dem Band überhaupt mit dem Dritten Stück befaßt, versteht die geschichtliche Dimension des ethischen Gemeinwesens als Religionsgeschichte (vgl. Wood 2014). 22 Vgl. Schiller 1793/1992, S. 504; vgl. auch Schiller 1795/1993, S. 590. 23 Fichte 1794/1971, S. 306.

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schränkungen akzeptieren. Das Moment von Reflexivität, das selbst in der taktischen Selbstbeschränkung aus Interesse immer schon liegt, wird in der Transzendentalphilosophie als eine gegen das Interesse selbständige moralische Reflexion entwickelt. Zwar kann das ethische Gemeinwesen nur innerhalb juridischer Staaten gegründet werden, aber wenn es sich zur universalen Wirklichkeit ethischer Vollkommenheit entwickelt, dann kann sein Bestehen innerhalb eines juridischen Gemeinwesens nicht mehr konsistent gedacht werden, denn die Freiheit, die ohne Zwang gesetzmäßig organisiert ist, bestimmt im Reich Gottes auf Erden ja definitionsgemäß alle menschlichen Handlungen.²⁴ Ob Kant nun selbst diese Konsequenz, die wohl am ehesten mit dem Bild eines Absterbens des Staates umschrieben werden könnte, für realisierbar gehalten hat, oder ob er sie nur überhaupt ernsthaft erwogen hat oder nicht – der Gedanke einer herrschaftsfreien Organisation menschlichen Zusammenlebens wird hier an prägnanter Stelle formuliert, nämlich als letztes Ziel der Menschheit. Was Kant nicht sagt, ist, dass diese geschichtliche Entwicklung der Freiheit jedenfalls nicht vollständig innerhalb des Staates möglich sein dürfte, weil dieser als Herrschaftsordnung sich nicht ohne weiteres selbst aufgibt, und dass zudem die Entwicklung zur ethischen Vollkommenheit nicht als bloß innerliche Gesinnungsbildung möglich ist, sondern eines objektiven Korrelats in der gesellschaftlichen Form der Handlungsbedingungen bedarf. Der Bildungs- und Fortschrittsoptimismus der Aufklärung scheint in der klassischen deutschen Philosophie jedenfalls vor dem gesellschaftlich deformierten Subjekt vorerst resigniert zu haben. Auch wenn Kant mit dem ‚krummen Holz‘²⁵, aus dem Menschen gemacht seien, anthropologische Gründe für seine Skepsis angibt, so wird doch an vielen Stellen deutlich, dass diese Anthropologie die Gesellschaftlichkeit der Menschen bereits einbezieht. Übrigens sind Jahrhunderte und auch Jahrtausende ein endlicher Zeitraum, und darin liegt ein systematischer Unterschied dieser Geschichtsperspektive zu der Konstruktion der unendlichen Annäherung aus der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft. Dieser Unterschied gründet darin, dass in der Kritik der praktischen Vernunft von der geschichtlich-gesellschaftlichen Dimension aus systematischen Gründen abstrahiert wird. Kant reflektiert hier auf die Bedingungen der Möglichkeit von Fortschritt. Dieser transzendentale Blick auf die Konstitution des praktischen Subjekts

24 Vgl. hierzu Bulthaup 2005. Diesen Aspekt übersieht Palmquist 2000, S. 167, wenn er fordert, Religion und Politik nicht zu vermischen, gleichwohl aber auf Kompatibilität zu achten. – Tampio 2014, S. 192 sieht darin eine antiliberale Haltung. 25 Vgl. IaG, AA 08: 23.

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lässt historische Prognosen in der Gattungsperspektive nicht zu. Das ist freilich ein Problem des Subjektbegriffs bei Kant überhaupt.²⁶ Die Gattungsperspektive wird aber in den geschichts-, rechts- und religionsphilosophischen Schriften wieder aufgenommen und für die Lösung des problematischen Verhältnisses von Ethik und Handlungsbedingungen in Anschlag gebracht. Damit eröffnet Kant für den sittlichen Fortschritt der Menschheit eine bildungsgeschichtliche Perspektive, die in der Religionsschrift und auch in der gleichzeitigen Vigilantius-Nachschrift der Vorlesung über die Metaphysik der Sitten (1793/94) in einen religionsgeschichtlichen Kontext eingebettet wird. Das Ziel dieser ethischen Bildungsgeschichte, das Reich Gottes auf Erden, ist die zwangsfreie Geltung praktischer Gesetze, bloß aus Freiheit. Auf dem Weg zu diesem Ziel ist die Freiheit aber noch mit Bedingungen der Unfreiheit konfrontiert.

II.2 Die gesellschaftliche Dimension des Verhältnisses von Ethik und Handlungsbedingungen Nach Kant befinden sich „[i]n einem schon bestehenden politischen gemeinen Wesen […] alle politischen Bürger als solche doch im e t h i s c h e n N a t u r z u s t a n d e “ (RGV, AA 06: 95). Dieser ethische Naturzustand ist als Negation des ethisch guten Zustandes gedacht, er ist dadurch bestimmt, dass in ihm die Verhältnisse der Menschen nicht nach ethischen Gesetzen geordnet sind. Das kann zweierlei bedeuten: Entweder handeln die Menschen bloß legal und gar nicht ethisch gut, oder sie handeln öffentlich legal und nur privat ethisch gut, d. h. ohne ihre ethischen Zwecke mit anderen abzustimmen. Im ersten Fall bleibt das Gemeinwesen ohne jede ethische Konstitution, im zweiten Fall wird es allenfalls zufällig ethisch konstituiert. Im ersten Fall bleibt die Konkurrenz partikularer Zwecke ohnehin bestehen, im zweiten jedoch auch, weil die Subjekte sich bloß individuell zur allgemeinen Konkurrenzordnung verhalten, nicht aber diese selbst in Frage stellen. Da er mit dem Zustand des juridischen Gemeinwesens koinzidieren kann, lässt dieser offenbar Handlungen zu, durch die die Freiheit der Anderen „beständig angefochten wird“ (RGV, AA 06: 93). Dies können Handlungen sein, durch die der Handelnde sich gegenüber seinen Mitmenschen auf ethisch nicht vertretbare Weise Vorteile verschaffen will; gleichwohl sind diese Handlungen rechtlich zulässig. Insofern ist der Kampf eines jeden gegen alle, der den Naturzustand kennzeichnet, nicht behoben, sondern in Rechtsformen gebannt, denen gemäß die

26 Vgl. Städtler 2011.

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Menschen in der Verfolgung ihrer partikularen Interessen gegeneinander den jeweils eigenen Vorteil durchsetzen können sollen. Dass sie dies tun, ist der Religionsschrift zufolge nicht ihrer „eigenen rohen Natur“ zuzuschreiben, wohl aber der menschlichen Gesellschaft als solcher: Er [der Mensch] ist nur arm (oder hält sich dafür), sofern er besorgt, daß ihn andere Menschen dafür halten und darüber verachten möchten. Der Neid, die Herrschsucht, die Habsucht und die damit verbundenen feindseligen Neigungen bestürmen alsbald seine an sich genügsame Natur, w e n n e r u n t e r M e n s c h e n i s t , und es ist nicht einmal nöthig, daß diese schon als im Bösen versunken, und als verleitende Beispiele vorausgesetzt werden; es ist genug, daß sie da sind, daß sie ihn umgeben und daß sie Menschen sind, um einander wechselseitig in ihrer moralischen Anlage zu verderben, und sich einander böse zu machen. (RGV, AA 06: 93 f.)²⁷

Dabei liegt der Hang zum Bösen, das böse Prinzip, ebenso in den Einzelnen wie die Anlage zum Guten: Beide gehen auf die vor aller Erfahrung gegebene Fähigkeit zurück, ethisch gute oder verwerfliche Maximen zu wählen.²⁸ Das eine Vermögen der Bestimmung des Willens als solches wird so zum einen Grund des Guten und des Bösen, auf das es jeweils festgelegt wird durch Rangfolge der wirkenden Triebfedern – der praktischen Vernunft oder pathologischer Antriebe.²⁹ Einen Hang zum Bösen, zur Unterordnung der praktischen Vernunft unter pathologische Antriebe, haben die Menschen schon dadurch, dass die Glückseligkeit ihr notwendiges Ziel ist.³⁰ Zugleich haben sie aber die Fähigkeit zum Guten in dem Vermögen reiner praktischer Vernunft.³¹ Kant bezweckt mit dieser Bestimmung der Freiheit als Doppelnatur, dass trotz der anthropologischen Veranlagung jeder für die Güte oder Bosheit seiner Handlungen selbst verantwortlich sei.³² Der Hang zum 27 Vgl. Anth, AA 07: 270: „Leidenschaften gehen eigentlich nur auf Menschen“. 28 Vgl. RGV, AA 06: 21 f. Als sinnlos bewertet diesen Versuch Brandt 2010, S. 67–86; anders Stangneth 2000, S. 81. 29 Vgl. RGV, AA 06: 36 f. Kants Reflexion aufs Böse, das eben auch nicht mehr als ein Reflexionsbegriff – noch nicht einmal privatio boni debiti – ist, reagiert auf das Problem, über die Morallehre hinaus auch ethisch verwerfliches Handeln als frei verstehen zu können, was nur gelingt, wenn die praktische Vernunft nicht das letzte oder einzige Vermögen der Freiheit ist. Deshalb versteht Klar (2007) Kants Freiheitsbegriff als dezisionistisch. Durch den Gedanken an ein ‚hinzutretendes‘ unableitbares Moment der Entscheidung wird die Möglichkeit reiner praktischer Vernunft aber paradoxer Weise gerade bewahrt. Sonst wäre nämlich jede ethisch verwerfliche Handlung pathologisch und damit nicht zurechenbar. – In der Religionsschrift betreibt Kant gerade keine „Selbstentmachtung der Vernunft“ (Blumenberg 1979, S. 416). Das Theorem des radikalen Bösen ist nicht als philosophisch aufgerüstete Erbsündenlehre zu lesen. – Auf seine Bedeutung für Kants Freiheitsbegriff hat Leinkauf 1998, S. 160 hingewiesen. 30 Vgl. RGV, AA 06: 30; 36 f., sowie KpV, AA 05: 34 ff. 31 Vgl. RGV, AA 06: 27 f. 32 RGV, AA 06: 21 f.

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Bösen ist angeboren, und er wird durch gesellschaftliche Kontakte unvermeidlich ausgelöst. Weil der Mensch aber bei alledem doch moralisches Subjekt ist, sollen ihn weder seine anthropologische Konstitution noch sein funktionales Verhältnis zur Gesellschaft von der Verantwortung für deren mangelhaften sittlichen Zustand befreien können.³³ Kant sieht hier die Notwendigkeit, in die Anthropologie gesellschaftliche Elemente aufzunehmen. Dies führt aber deshalb nicht zu einer Entlastung des Einzelnen, weil Kant innerhalb des Gesellschaftsbegriffs nicht historisch differenziert nach bestimmten in ihrem ethischen Charakter unterschiedenen Gesellschaftsformen. So werden Neid, Herrschsucht und Habsucht nicht historischen Gesellschaften zugeordnet, sondern sie werden als in jeder Gesellschaft fortwirkende Natureigenschaften des Menschen bestimmt. Damit wird der Einzelne in seiner Natur als ‚gesellschaftlich überhaupt‘ betrachtet, und es werden ihm die moralischen Lasten, die aus den gesellschaftlichen Beziehungen resultieren, als Subjekt zusätzlich aufgebürdet.³⁴ Das Heraustreten Einzelner aus dem Bösen ist dann nur unter der wenigstens problematischen Annahme eines rechtfertigenden göttlichen Eingriffs denkbar. Diese Annahme im Modus des ‚als ob‘ eröffnet zwar dem individuellen ethischen Handeln auch unter verwerflichen gesellschaftlichen Bedingungen eine Aussicht, aber die Gesellschaft selbst bleibt dann auch für immer eine böse Ordnung. Weil so die endgültige Überwindung des Bösen nicht möglich zu sein scheint, gilt es, innerhalb der Gesellschaft einen Bereich mit Bedingungen zu schaffen, unter denen der Hang zum Bösen wenigstens nicht zwangsläufig immer wieder provoziert wird. Ein solcher Zustand ist mit dem bürgerlichen Recht auch für Kant explizit noch nicht gegeben. Die Maxime der konsequenten Konkurrenz mit dem Ziel des eigenen Vorteils zum Nachteil anderer ist auch als rechtlich befriedete unter dem kategorischen Imperativ nicht zu denken. So ist zwar der Rechtszustand noch kein ethisch guter Zustand, aber das ist für Kant nicht der Grund für eine Pflicht zur Herbeiführung eines ethischen Zustands. Diese Pflicht soll vielmehr aus der Verantwortung der Menschen für ihren ange33 RGV, AA 06: 93: Sogar in dem „gefahrvollen“ Zustand allseitiger Anfeindung befinde sich der Mensch „gleichwohl durch seine eigene Schuld“. 34 Das ist im Prinzip eine radikale Ideologielehre, denn dadurch, daß gesellschaftliche Deformationen der Menschen in ihre Natur eingetragen werden, sind die sittlichen Fehler, die dem entspringen, absolut unvermeidlich. Dem entsprächen bei Bacon die idola tribus (vgl. Bacon 1999, Aphorismus 41). – Bei Kant sind Anthropologie und Sozialphilosophie noch keine getrennten Disziplinen. Wenn Kant in der Metaphysik der Sitten fordert, die Rechtslehre dürfe nicht auf Anthropologie gegründet werden, dann richtet sich das gegen die Reklamation gesellschaftlicher Elemente für das Staatsrecht, wie sie Hufeland, Gentz oder Rehberg vorgetragen hatten (vgl. Kant / Gentz / Rehberg 1967). Der von ihnen eingeforderten sachlichen Dimension will Kant dann in der Tugendlehre und eben in der Anthropologie Raum geben.

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borenen Hang zum Bösen folgen. Um diesem entgegenzusteuern – vor allem um seiner Auslösung durch gesellschaftliche Einflüsse entgegenzusteuern -, sollen die Menschen Einfluss auf die Form ihrer gesellschaftlichen Beziehungen nehmen. Deshalb sollen sie das ethische Gemeinwesen innerhalb des juridischen gründen. Weil die Fortschrittsgeschichte des ethischen Gemeinwesens in keinem zwingenden Verhältnis zur Geschichte des juridischen Gemeinwesens stehen darf, hat sie die Form der inneren Gesinnungsbildung, und Kant stellt dies dar am Modell der Kirchen- und Religionsgeschichte.³⁵ Kant spricht von der „Idee eines Volks Gottes“, die „in der Form einer Kirche auszuführen“ (RGV, AA 06: 100; Herv. M.S.)³⁶ sei, nicht von einem realen Volk Gottes, das als Kirche zu organisieren sei. Das ethische Gemeinwesen wird vom juridischen Gemeinwesen unterschieden im Rahmen einer Analogie zur Kirche, deren verbindendes Drittes in der Form der Verbindung besteht.³⁷ Diese erfolgt nicht über eine zwangsbewehrte Bindung an staatliche Gesetze, sondern über die zwangsfreie Bindung an das Sittengesetz durch die praktische Vernunft. Das Modell Kirche für das ethische Gemeinwesen bedeutet deshalb nicht eine Religionsgemeinschaft mit Dogmen, Glauben und Kult, sondern eine Gesellschaft von aus Freiheit durch Freiheitsgesetze verbundenen freien Subjekten.

35 Vgl. Städtler 2010. Das Modell zeigt zunächst, dass Ethik unter Praxisbedingungen gelingen kann. Vgl. Zöller 2013. 36 Vgl. hingegen Sweet 2013, S. 169, die das ethische Gemeinwesen wörtlich als Kirche versteht (aber im folgenden den Gottesbegriff vollkommen rational deutet); vgl. ebenso Palmquist 2016, S. 167, der den systematischen Unterschied in der Analogie von ethischem Gemeinwesen und Kirche, die Differenz von Kirche und Form einer Kirche, hinter der Häufigkeit der Wortverwendungen (über hundert Mal ‚Kirche‘, nur einige Male ‚ethisches Gemeinwesen‘) zum Verschwinden bringen will. – Zu fragen bleibt gleichwohl, warum Kant an der Idee Gottes als einzig möglichem Gesetzgeber im ethischen Gemeinwesen festhält (vgl. RGV, AA 06: 98 f.). Das einzige Argument, das er anführt, ist die Vorstellung einer ewigen Gerechtigkeit, da kein Gemeinwesen ohne Strafwesen existieren könne. Warum sollte nicht das moralische Gesetz als Triebfeder genügen? Warum ließe sich als Gesetzgeber, in Analogie zum Volk im juridischen Gemeinwesen, nicht die Menschheit denken? Die Gründung des ethischen Gemeinwesens wird schließlich – wie immer auch problematisch – als Pflicht der Menschheit gegen sich selbst, nicht gegen Gott, konzipiert. Offenbar ist Kant die Vorstellung, man könne in einem ethischen Gemeinwesen das Richtige einfach deshalb tun, weil es als richtig erkannt ist, anthropologisch unheimlich. Vgl. dazu folgende Passage aus der Vorlesung über Metaphysik der Sitten von 1793/94: „Denn es ist ganz wider die Willkür der Menschen, von selbst und durch eigene Bestimmung ihre Handlungen nach der freien Willkür einzurichten, mithin werden sie auch nicht eine Einschränkung ihres arbitrii bruti freiwillig eingehen und sich also mit allgemeiner Uebereinstimmung dem Befehl eines Oberen unterwerfen.“ (V-MS Vigilantius, AA 27,2,1: 515 f.). 37 Dass Kant diese Analogie im Blick hat, bestätigt nachträglich der Gottesbegriff im OP, AA 22: 116 ff. Die Analogie zum göttlichen Willen dient der Vorstellung der Unbedingtheit des moralischen Gesetzes, für die es kein empirisches Modell geben kann. – Vgl. Dicenso 2012, S. 144: „the idea of a people of God is synonymous with a people freely harmonized with the moral law“.

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Nicht erst das Vierte Stück macht deutlich, dass es Kant nicht um eine kirchenhierarchische Kultgemeinde geht, sondern bereits die historische Vorstellung, die er an der Idee vom Volk Gottes entwickelt, zielt darauf, alle äußerlichen Elemente der ethischen Verbindung durch Aufklärung, die er seinem Modell gemäß ‚Auslegung‘ nennt, zu überwinden. In historischer Perspektive setzt Kant bei den Religionsgemeinschaften allein deshalb an, weil mit ihnen eine Gestalt ethischer Sittlichkeit überhaupt in der Welt ist, deren praktischer Vernunftgehalt freilich durch kontingente Äußerlichkeiten beschränkt ist. In ähnlicher Weise bestimmt später Hegel die Religion als eine historisch beschränkte Stufe des absoluten Geistes, deren Vernunftgehalt erst noch zu entfalten ist; im Unterschied zu Hegel fasst Kant dies aber selbst als praktische Aufgabe, nicht als historische Eigendynamik des Geistes.

II.3 Die politische Dimension des Verhältnisses von Ethik und Handlungsbedingungen In Kants Modell wird das ethische Reich Gottes auf Erden nicht bloß in theologischen Termini dargestellt, sondern die vollkommene Moral soll auch durch eine innere Entwicklung vom statutarischen Gottesdienst zur Vernunftreligion und Moralität geschichtlich erreicht werden. Dadurch wiederholt dieses Modell allerdings auch Probleme des Verhältnisses von Ethik und Politik: Das in der statutarischen Observanz durch religiöse Furcht erzeugte ethisch konforme Handeln unterscheidet sich ja nicht von der durch Angst vor Strafe erzeugten Gesetzestreue im juridischen Gemeinwesen. Und so wie das ethische Gemeinwesen allmählich der Moralität angenähert wird, kann auch das juridische Gemeinwesen durch Reformen der Gesetzgebung der Republik angenähert werden. Und doch bleibt ein Unterschied: Auch die Republik ist noch eine äußerliche Ordnung des Handelns, das Reich Gottes auf Erden hingegen hebt die praktische Differenz von ethischer Gesinnung und gesellschaftlichen Bedingungen auf, weil die Ethik – im Zuge eines Jahrtausende oder doch Jahrhunderte währenden Bildungsprozesses – selbst zum formalen Prinzip dieser Bedingungen wird. Aber so lang der Weg vom statutarischen Glauben zur Moralität auch sein mag, der bruchlose Übergang, den Kant erhofft, ist systematisch unmöglich, denn Anfang und Ziel des Wegs sind allo genos. Das juridische Gemeinwesen verwaltet historisch gegebene gesellschaftliche Bedingungen, die zu ethisch verwerflichem Handeln anstiften. Wenn die Mitglieder des ethischen Gemeinwesens ihren gesellschaftlichen Geschäften unter den Bedingungen des juridischen Gemeinwesens nachgehen sollen, werden sie immer wieder in Probleme geraten, wie Kant selbst vorhergesehen hat:

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Nur sofern ein ethisches gemeines Wesen doch auf ö f f e n t l i c h e n Gesetzen beruhen, und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muß, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten, oder nicht einrichten sollen, befehlen, aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder a l s S t a a t s b ü r g e r widerstreite; wiewohl, wenn die erstere Verbindung ächter Art ist, das letztere ohnedem nicht zu besorgen ist. (RGV, AA 06: 96)³⁸

Demnach kommt es allein deshalb nicht zur Kollision beider Gemeinschaftsformen, weil ihre Prinzipien miteinander wenigstens konkordant seien. Wäre dem aber wirklich so, dann käme es schon im bürgerlichen Rechtszustand nicht mehr zur Provokation des Hangs zum Bösen. Konsequent ließe sich der Gedanke vom ethischen Gemeinwesen daher nur formulieren, wenn das ethische Gemeinwesen zum Maßstab des juridischen erhoben würde, so dass die im weitesten Sinne technischen Beziehungen der Menschen in der Gesellschaft und deren politischer Organisation insgesamt moralisch-praktisch konstituiert würden.

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38 Diese Passage bleibt bei Dicenso 2012, S. 137 unberücksichtigt, wenn er das ethische Gemeinwesen als „critical reference point for assessing and modifying the existing juridico-civil society“ bestimmt.

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„Wehe aber dem Gesetzgeber…“ – Politischer und ethischer Staat bei Kant und Hölderlin 1 Zur Einführung Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die Theorie des ethischen gemeinen Wesens bei Kant, die im dritten Stück der Religionslehre unter dem Titel Der Sieg des guten Prinzips über das Böse und die Gründung eines Reiches Gottes auf Erden entwickelt wird,¹ sowie deren poetische Reflexion und Kritik durch Hölderlin, die er in seinem Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland entfaltet, zu rekonstruieren. Dabei soll im Zentrum der Betrachtung das jeweils konturierte Verhältnis von rechtlicher und ethischer Vergemeinschaftung stehen, weil sich an eben dieser Stelle historisch und systematisch der größte Konfliktstoff zwischen den Konzeptionen Kants und Hölderlins dokumentieren lässt. Im Hintergrund steht eine Problemlage, die am Beispiel der eigentümlichen Reserve der europäischen Aufklärungsphilosophie und -literatur gegenüber dem Recht als Form und Instrument der innerstaatlichen Befriedungsleistung und Freiheitsrealisation exemplifiziert werden kann. Denn von Defoe und Fieldings über Voltaire und den Rousseau der Nouvelle Héloïse bis zu Lessing und Wieland misstrauen die europäischen Literaten dem Staat als Sicherungs- und Wohlstandsmehrungsinstanz² und setzen insbesondere im Hinblick auf die innergesellschaftliche Befriedungsleistung auf die normative Kraft der moralischen Gesinnung;³ dies gilt auch – und nicht nur bei Voltaire oder Lessing – in Bezug auf die durch das gesamte Jahrhundert wirksamen Religionskonflikte in ihren interkonfessionellen oder gar interreligiösen Dimensionen.⁴ Der entscheidende Grund für diese skeptische Reserve gegenüber dem Staat – der vor Kant keineswegs als Rechtsstaat, sondern als paternalistische Gesetzesdespotie begriffen wird⁵ – besteht in dessen als notwendig, aber eben auch als letztlich ineffizient verstandenen Zwangsgewalt, die nicht erreichen kann, was sie doch ihrem Wesen nach erreichen soll: die Sicherheit gegenüber – bisweilen auch

1 2 3 4 5

Zum Folgenden vgl u. a. Wimmer 1970; Fischer (Hrsg.) 2020 sowie Wood 2020, spez. S. 164–184. Vgl. hierzu Stiening 2018a, S. 147–168 sowie demnächst Rüth/Stiening (Hrsg.) 2023, [i.D.]. Vgl. hierzu u. a. Stiening 2016a, S. 61–103. Siehe hierzu Forst 2003, S. 153 ff. sowie Stiening 2015, S. 331–362. Vgl. hierzu Grunert 2006, S. 9–27.

https://doi.org/10.1515/9783111063935-014

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gewalttätigen – gesellschaftlichen Konflikten. Dabei setzt das Gros der politischen Aufklärung in Theorie und Literatur auf ein Modell der Konfliktvermeidung, das durch eine mithilfe von Erziehung und Bildung zu erzielende Internalisierung moralischer Normen garantiert werden soll,⁶ so dass staatliche Kontrolle und Sanktion allmählich überflüssig werden können; so heißt es in Moses Mendelssohn Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum: Heil dem Staate, dem es gelingt, das Volk durch die Erziehung selbst zu regieren, das heißt ihm solche Sitten und Gesinnungen einzuflößen, die von selbst zu gemeinnützigen Handlungen führen und nicht immer durch den Sporn der Gesetze angetrieben werden.⁷

Diese Konzeption, nach der durch moralische Gesinnung der Zwang der Gesetze überflüssig würde, ist für das späte 18. Jahrhundert nicht unüblich; so heißt es in Christian Martin Wielands politischem Roman Σωκράτης μαινόμενος oder den Dialogen des Diogenes von Sinope aus dem Jahre 1770: Gewaltthaten sind unter einem so sanften Volk, als das meinige, nicht zu besorgen; […]. Überhaupt hat ein Volk, das durch Sitten regiert wird, keine Gesetze vonnöthen, so lange es seine Sitten bewahrt. Und haben meine Insulaner einst die ihrigen verlohren, so – sey ihnen der Himmel gnädig! – Die Noth wird sie alsdann so gut Gesetze machen lehren, als Plato und Aristoteles; – aber, was sind Gesetze ohne Sitten? ⁸

Noch in Fichtes populären Vorlesung Die Bestimmung des Gelehrten wird die These von einer notwendigen Überwindung des Staates emphatisch vortragen. In prägnanter Zusammenfassung der anti-etatistischen Tradition eines Teils der Spätaufklärung geht nämlich auch Fichte davon aus, dass es zwar einen natürlichen „Trieb zur Gesellschaft“ gebe, der zu den „Grundtrieben des Menschen“ gehöre, dieser jedoch nur defizitär im Staat verwirklicht werde; mit deutlicher Kritik an Kant heißt es im unmittelbaren Anschluss: Sie sehen, meine Herren, wie wichtig es ist, die Gesellschaft überhaupt nicht mit der besonderen empirisch bedingten Art der Gesellschaft, die man den Staat nennt, zu verwechseln. Das

6 Siehe hierzu Stiening 2016a, S. 81 f. 7 Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. In: Mendelssohn 2009, Bd. 1, S. 129–206, hier S. 138. 8 Christoph Martin Wieland: Σωκράτης μαινόμενος oder die Dialogen des Diogenes von Sinope. In: Wieland 2008 ff., Bd. 9.1., S. 1–105, S. 102, Hvhb. von mir; siehe auch Christoph Martin Wieland: Beyträge zur Geheimem Geschichte des menschlichen Verstandes und Herzens. In: Wieland 2008 ff., Bd. 9.1., S. 107–305, hier S. 294; zu diesen Thesen rechtsfreier Gemeinschaft siehe auch Vollhardt (2001), S. 326, der allerdings die anti-rechtsstaatliche Spitze sowie die Tendenzen dieses Modells zur moralischen Tyrannis nicht kommentiert.

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Leben im Staate gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen, was auch ein sehr großer Mann darüber sage; sondern es ist ein nur unter gewissen Bedingungen stattfindendes Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gesellschaft. Der Staat geht, ebenso wie alle menschlichen Institute, die blosse Mittel sind, auf seine eigenen Vernichtung aus: es ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen.⁹

Kant hat nicht allein die Annahme, der Staat sei lediglich ein Instrument der menschlichen Gemeinschaftsnatur nicht geteilt, sondern schon die hier wie bei Mendelssohn, Lessing oder Wieland zugrundeliegende Vorausetzung, gesellschaftliche Konflikte ließen sich durch moralische Gesinnung vermeiden, zuungunsten eines Modell der rechtlichen Regulierung von notwendig auftretenden Konflikten verworfen. Kant setzt also auf Konfliktregulierung statt Konfliktvermeidung, weshalb auch die These Fichtes – wie vieler Aufklärungstheoretiker und -literaten -, der Staat sei durch moralische Gemeinschaften zu ersetzen,¹⁰ nach Kant nur falsifiziert werden kann. Ein ethisches gemeines Wesen kann also den Staat nach Kant nicht ersetzen, soll ihn aber – gemäß der Religionsschrift¹¹ – ergänzen. An einer Stelle kommt Kant auf diese Problemlage zu sprechen, deren Gehalt und Intension sich erst durch eine Beachtung jenes obigen Kontextes, in den hinein Kant seine Schrift verfasst, genauer erkennen lässt: Im Zusammenhang der Korrelation von bürgerlich-rechtlichem Zustand und ethischem Naturzustand, den zu verlassen zwar keine Rechts-, immerhin aber eine ethische Pflicht darstellt, heißt es: Wünschen kann es wohl jedes politische gemeine Wesen, daß in ihm auch eine Herrschaft über die Gemüter nach Tugendgesetzen angetroffen werde; denn wo jener ihre Zwangsmittel nicht hinlangen, weil der menschliche Richter das Innere anderer Menschen nicht durchschauen kann, da würden die Tugendgesinnungen das Verlangte bewirken. (AAVI, S. 95; Hvhb. von mir)

Und dann kommt der berühmte, selbstverständlich auf das revolutionäre Zeitgeschehen der 1790er Jahre bezogene und daher, wenngleich bei einem Blick auf Christian Wolffs oder Isaak Iselins politischen Theorie¹² keineswegs ausschließlich zu beziehende Satz:

9 Fichte 1971 Bd. VI, S. 306. 10 Vgl. hierzu auch Stiening 2016b, S. 115–135. 11 Zu Recht weist Manfred Baum (2013) darauf hin, dass Begriff und Sache des ethischen Gemeinwesens in der Metaphysik der Sitten nicht erneut auftaucht; Stefan Klingner (2021) hat in diesem Zusammenhang die plausible These vertreten, die Religionsschrift sei Teil der popularphilosophischen Versuche Kants, die systematisch jedoch nur in einigen Teilen für eine Rechts- und Tugendlehre und insbesondere deren apologetische, kritische und didaktische Konsequenzen bedeutsam seien. 12 Vgl. hierzu u. a. Stiening 2014, S. 136–162.

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Aber Wehe dem Gesetzgeber, der eine auf ethische Zwecke gerichtete Verfassung durch Zwang bewirken wollte! Denn der würde dadurch nicht allein gerade das Gegenteil der ethischen bewirken (weil eben durch Zwang und nicht aus Freiheit realisierte ethische Zecke), sondern auch seine politische untergraben und unsicher machen. (Ebd.)

Entscheidend ist zunächst, dass Kant davon spricht, dass eine Herrschaft über die Gemüter der Staatsbürger nach Tugendgesetzen wünschbar wäre, und zwar auch wünschbar, weil die Wirksamkeit äußerer Gesetze am Inneren des Menschen ihre Grenzen habe und haben müsse, dennoch die Verbindlichkeit ihrer notwendig objektiven Geltung gleichsam durch ein tugendhaftes Gemüt unterstützt würde, dass sie also aus innerer Pflicht tun, was ihnen die Rechtspflicht äußerlch gebietet. Kant spricht allerdings auch davon, dass allererst auf der Grundlage der Geltung des Rechts das Wirken von Tugendgesetzen, die sich Staatsgesetze zum Gegenstand machen, vom Staate zu wünschen sei, und daher der Ausgang aus dem ethischen Naturzustand nur auf dem Grund eines politischen status civilis überhaupt möglich ist. Das heißt vor allem: es ist wünschenswert, doch keineswegs notwendig, und es ist gleichsam Ergänzung des Rechts nicht seine Ersetzung. Kant reagiert mit seinem Hinweis also auf Debatten innerhalb der politischen Aufklärung und erteilt allen Hoffnungen und Absichten auf eine Ersetzung der staatlichen durch eine ethische Vergemeinschaftung eine deutliche Absage¹³ – ohne die politische Funktion von Tugendgesetzen für die Wirksamkeit von Staatsgesetzen ausszuschließen. Das sieht aber – wie angedeutet – das Gros der Aufklärungsphilosophen und -literaten vollkommen anders: Entweder wird die moralische Gesinnung der politischen Untertanen selbst unter der Geltung von Rechtsgesetzen als notwendig für die Stabilität des Staates erklärt (so eben bei Wolff oder Wieland), weshalb der Staat es sich zur Aufgabe machen kann, ja muss, seine Bürger zur Tugend zu erziehen; oder – drastischer noch – nur eine die rechtliche Vergemeinschaftung, d. h. den Staat ersetzende ethische Gemeinschaft, die nach dem Vorbild der protestantischen Gemeinde natürlich paternalistisch organisiert ist, kann Stabilität und Glück – die wesentlichen Vergemeinschaftungszwecke – verheißen, so bei Kants ehemaligem Schüler Herder; oder aber drittens: Der Staat hat den ausschließlichen Zweck der Ausbildung moralischer Gesinnung seiner Untertanen und wird so zu einem Mittel der letzteren herabgesetzt, so nach Meinung Kants offenbar Robespierre, auf den der zweite Teil des obigen Zitats u. a. abzielte. Diesen Zweck aber muss nach Kant der Staat verfehlen und gefährdet damit gar seine eigene Verfassung, d. h. seine Essenz als Rechtsstaat. Nur en passent sei erwähnt, dass dieses Argument gegen-

13 Vgl. hierzu auch Ludwig 2005, S. 35–46.

Politischer und ethischer Staat bei Kant und Hölderlin

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über den politischen Theoretiker Robespierre eine unangemessene Kritik ist, nicht aber gegenüber dem politischen Praktiker.¹⁴ Hölderlin ist Kant in der Beweisführung, der Staat könne durch ein ethisches Gemeinswesen ergänzt, keineswegs aber ersetzt werden, weitgehend gefolgt – und hat doch die eigentümlich abstrakte Problemlage in Kants Konzpetion dieses Gemeinwesen, nach der es die „Pflicht des Menschengeschlechts [ist], sich als eine Vielheit von Menschen zu der Einheit eines kollektiven Ganzen zu vereinigen […] zur Realisierung des höchsten gemeinsamen Gutes“¹⁵ durch eigenständige Überlegungen zur Rolle der Ästhetik in diesem Prozess erweitert, die sich von Kant deutlich entfernen und dabei zugleich ein Problem der kantischen Konzeption reflektiert. Beides, die Nähe zu und Ferne von Kant ist im Folgenden zu betrachten. Dazu sind aber zunächst die Konturen der kantischen Konzeption zu rekonstruieren.

2 Kant – der politische Staat als Grundlage des ethischen Gemeinwesens Kant lässt über seine Vorstellung des spezifischen Verhältnisses von politischer und ethischer Vergemeinschaftung keinerlei Zweifel aufkommen, steht mit seiner Konzeption aber in den 1790er Jahren nahezu isoliert da, wenn er feststellt: Man kann eine Verbindung der Menschen unter bloßen Tugendgesetzen nach Vorschrift dieser Idee eine ethische und, sofern diese Gesetze öffentlich sind, eine ethisch-bürgerliche (im Gegensatz der rechtlich-bürgerlichen) Gesellschaft oder ein ethisches gemeines Wesen nennen. Diese kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen und sogar aus allen Gliedern derselben bestehen (wie es denn auch, ohne daß das letztere zum Grunde liegt, von Menschen gar nicht zustande gebracht werden könnte.) (AA VI, S. 94)

Beide Gesellschaften werden deutlich unterschieden, wobei es auch beim ethischen Gemeinwesen sowohl eine öffentliche als auch eine private bzw. geheime Variante gibt; Kant denkt bei letzterer an die später noch erwähnten Geheimgesellschaften. Nur die öffentliche wird als ethisch-bürgerliche Gesellschaft und, wie sich im Folgenden zeigt, als angemessene bezeichnet, weil Kant als Institutionalist und Vertreter einer kritischen Öffentlichkeit mit der Funktion einer ‚vierter Gewalt‘ alle Formen von geheimer Politik für rechtswidrig und politisch unklug erachtete. Die

14 Vgl. hierzu Robespierre 2000. 15 Baum 2013, S. 91 f.

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von Kant als ethische Pflicht bestimmte Errichtung eines ethischen gemeinen Wesens muss mithin öffentlich und also bürgerlich sein.¹⁶ Nun bestimmt Kant die substanziellen Unterschiede zwischen staatlicher und ethischer Gesellschaft wie folgt: Ein rechtlich-bürgerlicher (politischer) Zustand ist das Verhältnis der Menschen untereinander, sofern sie gemeinschaftlich unter öffentlichen Rechtsgesetzen (die insgesamt Zwangsgesetze sind) stehen. Ein ethisch-bürgerlicher Zustand ist der, da sie unter dergleichen zwangsfreien, d.i. bloßen Tugendgesetzen vereint sind. (AA VI, S. 95)

Die Differenzierung ist vollkommen eindeutig: Zwar lebt man in beiden Zuständen unter Gesetzen, doch sind es im politischen Zustand Rechtsgesetze, die mit Zwang ausgestattet sind, und im ethischen Zustand Tugendgesetze, die notwendiger Weise frei von allen äußeren Zwängen sein müssen. Der wesentliche Unterschied besteht also in der Möglichkeit, ja Notwendigkeit des Einsetzens von äußerem Zwang zur Einhaltung jener Rechtsgesetze des politischen Zustands und der Unmöglichkeit solchen Zwangs im ethisch-bürgerlichen Zustand, und zwar im Hinblick auf die Einhaltung der Tugendgesetze.¹⁷ Hierin ist sich Kant mit seinen Kritikern also einig: Der zentrale Unterschied zwischen politischem und ethischem Staat ist die Möglichkeit und Notwendigkeit des äußeren Zwangs im ersteren und dessen Unmöglichkeit im letzteren – nur beurteilt er die Bedeutung des äußeren Zwangs grundlegend anders. Entscheidend ist dabei, dass sich Kant mit dieser strickten Trennung beider Gesellschaften dem Begriffe nach nicht begnügt, sondern ein spezifisches Bedingungsgefüge zwischen beiden Gemeinschaften postuliert; dies erkennt man in der oben schon zitierten Passage: Diese (ethisch-bürgerliche Gesellschaft) kann mitten in einem politischen gemeinen Wesen und sogar aus allen Gliedern derselben bestehen (wie es denn auch, ohne daß das letztere zum Grunde liegt, von Menschen gar nicht zustande gebracht werden könnte.) (AA VI, S. 94)

Erstens also schließen sich beide Gesellschaften nicht dergestalt aus, dass das ethische gemeine Wesen – bei allen sachlichen und funktionalen Unterschieden – nicht auch innerhalb eines politischen Staates existieren könnte, d. h. ein Staat

16 Übrigens ist vor dem Hintergrund dieser mehrfach betonten Tugendpflicht zur Errichtung eines ethischen gemeinen Wesens, das zwar nie vollständig erreicht werden können soll, auf das wir aber gleichwohl unsere Hoffnung setzen müssen, unergründlich, warum Georg Geismann (2000, S. 512) meint, zu der Frage: Was sollen wir tun? trüge die Religionsphilosophie nichts bei, diese Antwort sei schon in der Moralphilosophie vollständig geleistet. 17 Zu den Besonderheiten des kantischen Zwangsbegriffes vgl. Kersting 1993, S. 193 ff.

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schließt die Möglichkeit nicht aus, dass innerhalb seiner bestimmte Formen ethischer Vergemeinschaftung stattfinden und ausgeführt werden können; sie müssen allerdings öffentlich sein. Präziser noch: Die Mitglieder des ethischen Staates können zweitens zugleich Untertanen des politischen Staates sein, was weder die eine noch die andere Gesellschaft beeinträchtigen muss, so sie denn präzise getrennt werden. Und drittens und am gewichtigsten für das spezifische Verhältnis beider Gemeinschaften zueinander: Die politische Gemeinschaft muss allen menschlichen Versuchen zur Errichtung eines ethischen Gemeinwesens zugrunde liegen, d. h. ohne ein funktionierendes Staatsgebilde als Voraussetzung – nicht als Grund, weil eben dann der Staat zur Sittenschule würde – kann der Mensch keine ethische Gemeinschaft konstituieren bzw. die Hoffnung auf deren Verwirklichung hegen. Das können womöglich andere vernünftige Wesen, nämlich Engel, nicht aber der Mensch. Kant macht also in einer kurzen Klammer deutlich, dass die Sehnsüchte der europäischen Aufklärung nach einer transetatistischen, rein moralischen Vergemeinschaftung anderes als Utopien, nämlich bloße Hingespinste jener „himmlischen Politik“ darstellen, die sein Freund Johann Georg Hamann 1783 ausdrücklich gegen eine naturechtlich fundierte, säkularisierte Politik eingeklagt hatte.¹⁸ Die sich selbst als durchaus säkular verstehenden Wieland, Lessing oder Johann Georg Feder, die den Zwang des Staates duch die ‚sanfte‘ – und d. h. hier frei von äußerem Zwang bleibende – Gesinnung der ethischen Vergemeinschaftung ersetzen wollten, werden von Kant als unrealistische politische Theologen entlarvt. Der entscheidende Grund dafür besteht bekannermaßen darin, dass Kant den Staat auf das unverrückbare anthropologische Datum der äußeren Freiheit des Menschen gründet,¹⁹ die einzig er realisiert, weil er sie zugleich nach einem allgemeinen Prinzip einschränkt. Erst in der staatlichen Ordnung der notwendig zu Interessenkonflikten führenden äußeren Freiheit ist deren kriegerisches Potential einhegbar und damit ihre Substanz recht eigentlich erst realisiert. Schon die Annahme, dass die äußere Freiheit eine derart tragenden Bedeutung für die politische Theorie habe, wird von den meisten Aufklärungstheoretiker, so Wieland, Feder oder Lessing nicht geteilt, die für die innergesellschaftliche Befriedung und Wohlstandmehrung gerne bereit waren, auf Freiheitsrechte zu verzichten. Auch Hölderlin hat diese Grundlegung der Legitimation des Staates in der äußeren Freiheit nicht geteilt; in der Hymne auf die antike Gemeinschaft der Republik Athens durch Hyperion, die zunächst und zumeist auf einer ästhetischen Religion basiere, welche die griechi-

18 Johann Georg Hamann: Golgotha und Scheblimini. In: Hamann 1949–1957 Bd. III, S. 291–320, hier S. 307. 19 Vgl. hierzu u. a. Geismann 2006, S. 3–124.

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schen Götter als Symbole jener „Einheit eines kollektiven Ganzen“, mithin als ethisches gemeines Wesen feiert, gilt die Freiheit lediglich als deren Produkt: Aus der Geisteschönheit der Athener [d.i. die ästhetische Vernunftreligion] folgte denn auch der nötige Sinn für die Freiheit. (Hölderlin 1992/94, Bd. 2, S. 91)

Schon in dem ebenfalls als Ideal bestimmten Gemeinwesen der Republik von Tarent in Wielands Agathon heißt es, die Tarentiner liebten ihre Freiheit ohne jede Leidenschaft und übergäben deren Grundlagen gerne dem ‚sanften Despoten‘ Archytas.²⁰ Kant hat diesen Modellen ethischer Vergemeinschaftung zu Recht einen Despotismusvorwurf gemacht und sie mit dem Hinweis versehen, sie widerstießen gegen die menschlichen Natur und seien zudem instabil.²¹ Nur die Grundlegung eines weltumfassenden ethischen Staates auf eine Pluralität von durch staatliche Souveränität und Gewaltenteilung stabilen politischen, nämlich Rechtsstaaten ermöglicht nach Kant beider Existenz als politische Realie einerseits und davon abhängendem ethischem Ideal andererseits. Kant resümiert im anschließenden Satz noch einmal die Identität und die Differenz beider Gemeinschaften; nach dem Postulat einer funktionalen Korrelation, also die notwendige Voraussetzung eines politischen Zustands für die Versuche der Errichtung eines ethischen gemeinen Wesens, heißt es: Aber jenes (das ethische gemeine Wesen, G.S.) hat ein besonderes und ihm eigentümliches Vereinigungsprinzip (die Tugend) und daher auch eine Form und Verfassung, die sich von der des letzteren wesentlich unterscheidet. Gleichwohl ist eine gewissen Analogie zwischen beiden, als zweier gemeinen Wesen überhaupt betrachtet, in Ansehung deren das erstere auch als ethischer Staat, d.i. ein Reich der Tugend (des guten Prinzips) genannt werden kann. (AA VI, S. 94 f.)

Es bleibt also bei einer Analogie beider Gesellschaften, und zwar als gemeiner Wesen überhaupt, mithin auf der abstraktesten Ebene, die aber immerhin die Verwendung des Terminus ‚Staat‘ auch für das ethische gemeine Wesen erlaubt, das nach Georg Geismann bestimmt werden kann als „ein Gebilde, in welchem es um

20 Christoph Martin Wieland: Gechichte des Agathon. In: Wieland 2008 ff., Bd. 8.1., S. 1–455, hier S. 423. 21 Vgl. hierzu Immanuel Kant: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: AAVIII, S. 290 f.: „Eine Regierung, die auf dem Prinzip des Wohlwollens gegen das Volk als eines Vaters gegen seine Kinder errichtet wäre, d.i. eine väterliche Regierung (imperium paternale), wo also die Untertanen als unmündige Kinder, die nicht unterscheiden können, was ihnen wahrhaft nützlich oder schädlich ist, sich bloß passiv zu verhalten genötigt sind, um, wie sie glücklich sein sollen, bloß von dem Urteile des Staatoberhauptes, und, dass dieser es auch wolle, bloß von seiner Gültigkeit zu erwarten: ist der größte denkbare Despotismus.“

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die allgemeingesetzliche Ordnung des Gebrauchs der Freiheit (hier: der inneren) und nur darum geht“.²² Darüber hinaus gilt als eine weitere Analogie, dass – wie es für das Eintreten in den status civilis eine Rechtspflicht gibt – so auch für die Errichtung des ethischen Staates eine – wenngleich nicht strenge, also nicht durch Zwangsgewalt durchsetzbare – ethische Pflicht, die daraus entsteht, dass der Mensch, weil er als einzelner die Verfolgung des höchsten Gutes nicht bewerkstelligen kann, zur Gründung dieser kollektiven ethischen Person einer inneren Pflicht unterworfen ist, die Glückseligkeit der Anderen zu befördern. Denn der Gefahr, dass die Menschen durch ihre Mitmenschen – allein dadurch, dass sie da sind – „in ihren moralischen Anlagen […] verderben und sich einander böse […] machen“ (AAVI, S. 94), kann nur in der Errichtung und Ausbreitung einer Gesellschaft nach Tugendgesetzen entgegengetreten werden, so dass auch jeder Mensch seine je einzelne moralische Gesinnung nur aufrecht erhalten, d. h. vor ‚dem Bösen‘ retten kann, wenn er sein Handeln auch auf die Gründung jenes ethischen Weltstaates ausrichtet. Die Moralität des Einzelnen ist mithin auf die Moralität eines jeden anderen nach einem allgemeinen Tugendprinzip angewiesen. Gleichwohl gibt es auch grundlegende Differenzen, die sich zum einen auf einen Konfliktfall zwischen beiden Normensystemen beziehen; hier heißt es nämlich bei Kant: Nur insofern ein ethisches gemeines Wesen doch auf öffentlichen Gesetzen beruhen und eine darauf sich gründende Verfassung enthalten muss, werden diejenigen, die sich freiwillig verbinden, in diesen Zustand zu treten, sich von der politischen Macht nicht, wie sie solche innerlich einrichten oder nicht einrichten sollen befehlen, […] (AA VI, S. 96)

Der politische Staat hat mithin dem ethischen Staat nicht in dessen Verfassung, d. h. dessen System von Tugendgesetzen hineinzureden, und die Mitglieder des ethischen gemeinen Wesens dürfen sich von den Herrschern wie den Untertanen des politischen Staats – folglich ggf. auch der Einzelne als Staatsbürger sich selbst als Teil des ethischen Staates – bei der Einrichtung ihrer öffentlichen Verfassung nicht beeinträchtigen lassen. Umgekehrt darf sich die Ausprägung rechtsstaatlicher Vereinigung nicht durch moralische Prinzipien oder Maximen in ihrer Geltung aufheben lassen – weil sonst die Unbedingheit der und zur Rechtspflicht tangiert wäre. Soweit gibt es für Kant also eine gegenseitige Unabhängigkeit von rechtlichen und ethischen Normen- und Vergemeinschaftungssystemen. Gleichwohl heißt es in der Fortsetzung des eben zitierten Satzes:

22 Geismann 2000, S. 519.

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[…] aber wohl Einschränkungen gefallen lassen müssen, nämlich auf die Bedingung, daß darin nichts sei, was der Pflicht ihrer Glieder als Staatsbürger widerstreitet […] (AA VI, S. 96)

Tugendgesetze, die Normen des ethischen Staates, dürfen den Rechten des politischen Staates nicht widersprechen: Wenn die bürgerlichen Gesetze verbieten, die Bundeswehr im Inneren einzusetzen, dann können weder Staatsräson – die grundsätzlich nur technisch-praktische Imperative des Politischen und damit keine echte Normativität generiert²³ – noch irgendwelche Tugendgesetze erlauben oder gar gebieten, das dennoch zu tun, und brächen alle Deiche. Vor allem aber enthält diese Argumentation Kants eine – zeitgenössisch bedeutsamere – Zurückweisung der christlichen Maxime: Es antworteten aber Petrus und die Apostel: Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen. (Apostelgeschichte 5,29)

In diesem Zusammenhang bleibt Kant vollkommen konsequent: Die Gesetze des ethischen gemeinen Wesens, seien sie auch durch heilige Schriften oder kanonische Gesetze fixiert, verlieren ihre Geltung im Falle des Konfliktes mit den Gesetzen des politischen Staates.²⁴ Das ist bis in unsere Tage, vor allem aber im 18. und 19. Jahrhundert keineswegs selbstverständlich. Kant ergänzt diese Argumente aber noch um den folgenden Zusatz: […] wiewohl, wenn die erstere Verbindung echter Art ist, das letztere ohnehin nicht zu besorgen ist.

Diese These ist nicht nur vor dem Hintergrund der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen den unterschiedlichen Kirchen und dem Staat, sondern auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass noch Locke in seiner Toleranzschrift die größten, letztlich unlösbaren Schwierigkeiten mit der Korrelation von göttlichen und menschlichen Gesetzen hatte²⁵ und auch Kants Freund Hamann und sein Schüler Herder von der uneinholbaren Superiorität der Heiligen Schrift über alles Menschenwerk und damit deren Normen – seien sie nun rechtlicher und ethischer Natur – vollkommen überzeugt waren,²⁶ durchaus provokant. Die strenge Unterordnung der Tugend- unter die Rechtsnormen erlaubt es Kant allerdings, jene Widerspruchsfreiheit zwischen Tugend- und Rechtsgesetzen gleichsam zum Wesens-

23 24 25 26

Vgl. hierzu u. a. Stiening 2018b, S. 259–276. Vgl. hierzu u. a. Maurer 1998. Siehe hierzu u. a. Ebbinghaus 21966, S. XIII-LXIV. Vgl. hierzu u. a. Stiening 2020a, S. 279–309.

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moment der Gesetze des ethischen gemeinen Wesen zu erheben. Wie für Augustinus nur gerechte Gesetze echte Gesetze waren,²⁷ so sind für Kant nur solche Tugendgesetze echte bzw. tatsächliche Tugendgesetze, wenn sie den Rechtsbestimmungen desjenigen politischen Staates nicht widersprechen, in dem der Bürger des angestrebten ethischen Staates lebt. Dass diese konstitutive Festlegungen der strengen Unterordnung der inneren unter die äußeren Gesetze zu erheblichen Ungleichheiten unter den Bürgern des letztlich nur als Weltstaat zu denkenden ethischen gemeinen Wesens führt, weil sie – bis heute – in erheblich differierendenden politischen Rechtsordnungen leben, wird von Kant nicht eigens reflektiert, liegt aber doch auf der Hand. Abschließend soll noch auf drei weitere Unterschiede zwischen politischem und ethischem Staat hingewiesen werden, die Kant ausführt, ohne sie explizit zu begründen: Übrigens, weil die Tugendpflichten das ganze menschliche Geschlecht angehen, so ist der Begriff eines ethischen gemeinen Wesens immer auf das Ideal eines Ganzen aller Menschen bezogen und darin unterscheidet es sich von dem eines politischen. (AA VI, S. 96)

Der ethische Staat ist nach Kant also stets nur als Weltstaat zu denken, das ethische gemeine Wesen mithin immer schon Zweck eines – allerdings – ethischen Kosmopolitismus. Zwar ist auch die Errichtung einer politischen Weltrepublik zumindest natürliche Tendenz des Menschengeschlechts, diese scheitert aber notwendig, wie im Zum ewigen Frieden hinlänglich ausgeführt, an pragmatischen Hindernissen.²⁸ Diese Einschränkung gilt jedoch nicht für die globale Tugendgemeinschaft; diese ist zwar nicht vollständig zu verwirklichen, weil sie letztlich nur den Status eines regulativen Ideals innehat. Der globaler Charakter muss aber als Grundzug des ethischen gemeinen Wesens vorausgesetzt werden und ist daher anzustreben, und zwar allein deshalb, weil das eigentliche Subjekt der mit und in dem ethischen Gemeinwesen verbundenen Pflicht der Verfolgung des höchsten Gutes nur das gesamte Menschengeschlecht als eine Einheit sein kann: Hier haben wir nun eine Pflicht von ihrer eigenen Art, nicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Jede Gattung vernünftiger Wesen ist nämlich objektiv in der Idee der Vernunft zu eigenem gemeinschaftlichen Zwecke, nämlich der Beförderung des höchsten als eines gemeinschaftlichen Guts bestimmt. (AA VI, S. 97)

27 Vgl. hierzu u. a. Augustinus 1977, Bd. 1, S. 177 ff. 28 AA VIII, S. 357; vgl. hierzu auch Lutz-Bachmann 2005, S. 207–220.

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Der Mensch hat also die Pflicht, sich mit der gesamten Menschheit ethisch zu vergemeinschaften, um dem höchsten ihm gesetzen Ziel, der Realisierung des höchsten Gutes, mittelbar insofern nachzustreben zu können, als allein der Gesamtheit der Menschheit jene Maxime als eine selbst „gemeinschaftliche“ gestellt ist. Im Hinblick auf diese der „Idee der Vernunft“ – ein Argument, das Kant nicht hinreichend erläutert – enstammende Pflicht ist der Einzelne als Einzelner machtlos: Weil aber das höchste sittliche Gut durch die Bestrebungen der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein nicht bewirkt wird, sondern eine Vereinigung derselben in ein Ganzes zu ebendemselben Zwecke, zu einem System wohlgesinnter Menschen erfordert, in welchem und durch dessen Einheit es allein zustande kommen kann, die Idee aber von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt steht) ganz unterschiedenen Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe: so ist die Pflicht der Art und dem Prinzip nach von allen anderen unterschieden. (AA VI, S. 97 f.)

Gerade weil sich das allererst zu konstituierende ethische gemeine Wesen als Ganzes auf die Ausrichtung des eigenen Handelns am höchsten sittlich Gut verpflichtet, ist allein die damit verbundene Pflicht eine nach „Art und Prinzip“ von jeder anderen, auf eine einzelne Person bezogene Obligatio zu unterscheiden. Tatsächlich dürfte an dieser Stelle eine besondere Problemlage der Theorie des ethischen Gemeinwesens auszumachen sein, weil die Menschheit als Kollektiv nicht mit dem Status ein zurechnungsfähigen Person ausgestattet werden kann – und ihr insofern eine Pflicht zu schwerlich aufzuerlegen ist. Kant versucht dieses drängende Problem in einer Weise zu lösen, die eine weitere substanzielle Differenz zwischen dem politischen und dem ethischen Staat deutlich werden lässt:²⁹ Denn der uneingeschränkte Souverän des ethischen Gemeinwesens ist – nicht wie im staatlichen Gemeinwesen das Volk und die aus ihm entwickelnde gewaltenteilige staatliche Herrschaft, sondern – die „Idee […] eines höheren moralischen Wesens“, das für Geltung und Verbindlichkeit jener ungewöhnlichen „Art […] von Pflicht“ unabdingbar ist, d. h. die Gottesidee.³⁰ Das ist nun – Bernd Dörflinger hat dies minutiös gezeigt³¹ – ungewöhnlich, ja irritierend, weil mit einer substanziellen Rolle Gottes in den Vorgängen der Moral, insbesondere der ethischen Verbindlichkeit der Gedanke ethischer Autonomie verunmöglicht würde. Gleichwohl entwickelt Kant den Gedanken einer Notwendigkeit der Annahme eines göttlichen Wesens für die Belange eines Reiches Gottes auf Erden, das allerdings

29 Vgl. hierzu und zum Folgenden Dörflinger 2008, Bd. 1, S. 51–69. 30 Vgl. hierzu insbesondere Klingner 2015. 31 Vgl. auch Dörflinger 2008, S. 55 ff.

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zum einen als letztlich unerreichbar und zum anderen einen rein praktischen Status als Realisation des wahren Religionsglaubens, der sich jeglichen Kirchenglaubens enthoben habe, erhält. Für diesen ethischen Staat als einem moralischen Reich Gottes ist die „Idee eines moralischen Weltherrschers“ eine Notwendigkeit bzw. ein Bedürfnis der praktischen Vernunft. Im Hinblick auf das Verhältnis zwischen politischem und ethischem Staats ist dabei zunächst von Bedeutung, dass der für das politische Gemeinwesen zentrale Gedanke der Volkssouveränität durch den der absolutistischen Souveränität des moralischen Weltherrschers ersetzt wird, und für diesen unbegrenzten Weltenherrscher das für den politischen Souverän mühsam und allererst bei Kant erfolgreich auf den Begriff gebrachte Konzept der Gewaltenteilung ausdrücklich zurückgenommen ist: Diesem Bedürfnis der praktischen Vernunft gemäß ist nun der allgemeine wahre Religionsglaube der Glaube an Gott 1) als den allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erden, d.i. moralisch als heiligen Gesetzgeber, 2) An ihn, den Erhalter des menschlichen Geschlechts, als gütigen Regierer und moralischen Vorsorger desselben, 3) an ihn, den Verwalter seiner eigenen heiligen Gesetze, d.i. als gerechten Richter. (AA VI, S. 139)

Dieser Gott, der hier nicht „an sich“, sondern nur „für uns als moraliches Wesen“ (ebd.) bestimmt wird, vereint also in sich die Legislative, die Exekutive und die Judikative – all dies aber in ethischer Hinsicht, um der Menschheit als kollektivem Subjekt das höchste Gut, mithin die Vermittlung von Moralität und Glückseligkeit als Pflicht auferlegen zu können. Der ethische Absolutismus in diesem Reiche Gottes mag überraschen, kann aber aus dem eigentümlichen Konstrukt der sich selbst verpflichtenden Menschheit durchaus plausibilisiert werden; Hölderlin, der dem schillerschen Rigorismus-Vorwurf an die kantische Ethik nicht gefolgt war,³² obwohl es in Bezug auf dieses Theorie-Stück der Religionslehre immerhin verständlich gewesen wäre, scheint dieser Wendung in der Konzeption des etischen Gemeinwesen nicht gefolgt zu sein. Bevor zu dessen Rezeption überzugehen ist, sei jedoch noch ein letzter wesentlicher Unterschied zwischen dem politischen und dem ethischen Staat in Kants Konzeption hervorgehoben: Kant scheut nämlich keine begründungstheoretischen Mühen, um eine spezifische, nämlich immanent notwendige Historizität des ethischen Gemeinwesens auszuführen. Denn das ethische ‚Selbstverhältnis‘ der Menschheit zu sich als Adressat der Pflicht zur Realisation des höchsten Gutes setzt notwendig als Kirchenglaube ein, obwohl nur der reine Religionsglaube als Vernunftglaube allein eine allgemeine Kirche gründen kann; es gehört nach Kant jedoch zu den „Schwächen der menschlichen Natur“, sich nicht

32 Vgl. hierzu Stiening 2020b, S. 269–284.

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zunächst mit der „standhaften Beflissenheit zu einem moralisch-guten Lebenswandeln“ als den einzig begründbaren Forderungen Gottes an den Menschen zu begnügen, sondern „irgendeinen Dienst“ zu denken, den sie einem Gotte unmittelbar zu erbringen hätte.³³ Kurz: der Mensch ist dem einzig begründbaren reinen Vernuftglauben nicht je schon gewachsen und ersinnt sich zunächst sinnliche Vorstellungen eines in Religionen und Konfessionen streng getrennten Kirchenglaubens – wie kirchliche Institutionen, heilige Schriften und deren Ausleger, Offenbarungs- und Geheimnisvorstellungen -, die nur allmählich und doch unverhinderbar überwunden werden. Diese letztlich nicht vollends abschließbare Transformaton des Kirchen- und einen reinen Vernunftglauben macht die Historizität des ethischen Gemeinwesens aus – im Gegensatz zur Geschichtlichkeit der politischen Staaten, deren Pluralität souveräner Einzelstaaten sich nicht vor allem innerlich³⁴ – so sie denn schon als Republik, mithin als Rechtsstaat ausgebildet sind –, sondern in ihrem Verhältnis zueinander auf dem Weg zu einem ‚ewigen Frieden‘ befinden. Kant führt die einzelnen Momente der Unterscheidung zwischen politischem und ethischem Staat nicht systematisch aus, sie liegen aber erkennbar dem in der Religionsschrift entwickelten Konzept zugrunde.

3 Hölderlins Umkehrung: Die schöne Vernunftreligion als Voraussetzung des Rechtsstaates In Hölderlins Hyperion stellt sich die Sachlage etwas anders dar. Allein weil der Text narrativ verfasst ist, bietet er keine begrifflich präzise Entwicklung des Problems, sondern einige an politische Problemlagen angelehnte Reflexionen. Im Medium der kritischen Darstellung einer ethischen Vergemeinschaftung bietet Hölderlin die Schilderung einer Kontroverse zwischen dem Protagonisten des Romans, Hyperion, und seinem Freund Alabanda über die Formen vorbildlicher und daher anzustrebender Vergesellschaftung. Im Zentrum des Streits steht die Frage nach der Bedeutung des Staates für den Weg zur bzw. in der durch politisch Revolution zu er-

33 Alle Zitate AA VI, S. 102 f. 34 Ohne jeden Zweifel kennt auch der politische Staat nach Kant spezifische Entwicklungen, die gemäß dem Aufklärungsaufsatz in der allmählichen Verbesserung der positiven Rechtslage durch eine kritische Öffentlichkeit besteht – diese Prozesse erfolgen jedoch nicht als Systemänderung, sondern als sukzessive Reformvorgänge.

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reichenden erneuerten Gesellschaft. Hatte Alabanda dem Staat offenbar eine besondere Funktion zugewiesen, so entgegnet ihm Hyperion: Du räumst dem Staate denn doch zuviel Gewalt ein. Er darf nicht fordern, was er nicht erzwingen kann. Was aber die Liebe giebt und der Geist, das läßt sich nicht erzwingen. Das laß’ er unangetastet, oder man nehme sein Gesez und schlag’ es an den Pranger. Beim Himmel! der weiß nicht, was er sündigt, der den Staat zur Sittenschule machen will. Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte. Die rauhe Hülse um den Kern des Lebens und nichts weiter ist der Staat. Er ist die Mauer um den Garten menschlicher Früchte und Blumen. Aber was hilft die Mauer um den Garten, wo der Boden dürre liegt?³⁵

Diese kritischen Aussagen Hyperions werden zumeist nicht nur als staatstheoretische Quintessenz des gesamten Romans, sondern auch unmittelbar als Ausdruck der Position des Autors interpretiert.³⁶ Bei näherer Betrachtung sind allerdings lediglich zwei Argumente aus den Thesen und Metaphern Hyperions hinsichtlich seiner Auffassung von der Bedeutung des Staates zu entnehmen: Zum einen wird eine aktive, d. h. konstitutive Funktion der Recht und Gesetz garantierenden StaatsInstanz für die Verwirklichung des eigentlichen Zieles, eine von „Liebe und Geist“ dominierte Gemeinschaft, zurückgewiesen; hiermit kann man durchaus jene „Liebe des Gesetzes“ verbinden, die Kant als eigentliches telos des Vernunftglaubens in der Religionslehre entwickelt hatte. Dass es sich bei dem hier positiv anvisierten Ziel um ein „ethisches gemeines Wesen“ in der Begründungslinie Kants handelt, macht selbst die Formulierung „Sittenschule“ deutlich, zu der zwar der Staat nicht gemacht werden solle, gleichwohl sind die ausdrücklich wie bei Kant nicht erzwingenbaren Liebe und Geist als Vermögen in praktischer Hinsicht gemeint. Und wie erneut auch bei Kant muss verhindert werden, dass der Staat sich die Ausbildung und Beförderung der moralischen Gesinnung seiner Untertanen zum Zweck macht. Die Forschung hat diese Passage allerdings als Referenz Hölderlins auf Fichtes Naturrechtslehre gelesen, die Hölderlin tatsächlich in der zweiten Jahreshälfte 1796, also während der Fertigstellung dieses ersten Romanteils, dem die oben zitierte Passage entstammt, ausführlich studiert hatte.³⁷ Dabei geht es Hölderlin allerdings weniger um eine Kritik an Fichtes Konzeption einer im und als Staat notwendigen

35 Hölderlin 1992/94, Bd. 2, S. 39 f. 36 Vgl. hierzu beispielsweise; Schmidt 1993, S. 179 f.; anders Kreuzer 2002, S. 182. 37 Vgl. die Briefe an den Bruder vom 2. Juni 1796 („Fichte hat ein Naturrecht herausgegeben, diesen Augenblik bekomm ich es vom Buchhändler.“ Hölderlin 1992/94, Bd. 3, S. 232) und vom 10. Januar 1797, in dem Hölderlin von seinen Lektüreerfahrungen berichtet (Hölderlin 1992/94, Bd. 3, S. 253 f.). Zu diesem Studium des Naturrechts vgl. insbesondere Waibel 1996/97; Vollhardt 1997; und Waibel 2000, S. 233 ff.

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Zwangsgewalt überhaupt,³⁸ weil er selbst keineswegs eine radikale Ablehnung allen Zwangs vertrat.³⁹ Vielmehr richtet sich die Kritik dieser Romanpassage gegen die von Fichte im Naturrecht entwickelte Überlegung, die staatlichen Instrumente der „positiv-rechtlichen Sicherung der äußeren Freiheit“ zur „Verwirklichung der sittlichen Freiheit“ einzusetzen.⁴⁰ „Liebe“ und „Geist“, die in der Tat zentrale Kategorien der politischen Ethik Hölderlins ausmachen, sind aber nur auf der Grundlage der vollkommen freien Entscheidung des Einzelnen zu verwirklichen, und deshalb nur als Zwecke eines im ethischen Gemeinwesen vereinigten tugenhaften Individuums zu denken. Hölderlin reflektiert im Hyperion daher vielmehr die Theoreme der kantischen Religionsphilosophie als die des fichteschen Naturrechts. Denn Kant hatte – wie gesehen – im Zusammenhang der Erörterungen über das Verhältnis des Staates zum ethischen gemeinen Wesen ausgeführt, dass der politische „Freistaat“ zwar eine formale Voraussetzung jener „unsichtbaren Kirche“ ausmache, dennoch aber eine strikte Trennung beider Bereiche eingehalten werden müsse.⁴¹ Noch ein weiteres systematisches Element der Ausführungen Hyperions, das er allerdings in eine Metaphorik kleidet, kann mit einer Kontextualisierung zur kantische Konzeption aus dessen Religionsschrift und damit als Kritik an der politischen Philosophie Fichtes erläutert werden. Dieser hatte nämlich – wie schon gesehen – in den Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten behauptet, dass der Staat aufhören und auf „seine eigene Vernichtung“ ausgehen solle.⁴² Die Voraussetzung dieser anzustrebenden Selbstaufhebung des Staates ist aber seine von Hyperion verworfene Instrumentalisierung der Staatszwecke für eine sittliche Gemeinschaft. Dessen Bilder der „rauhen Hülse“ und der ‚Gartenmauer‘ stehen jedoch dem Ziel einer möglichen, ja zu erstrebenden Aufhebung des Staates entgegen. Denn der „Garten“ als Produkt menschlichen Handelns unterscheidet sich erst durch seine Abgrenzung, die Mauer, von der reinen, wilden Natur. Nur diese Begrenzung bietet folglich den erforderlichen Schutz vor deren Gefahren. Die Schleifung der Mauer als Bild der von Fichte geforderten Abschaffung des Staates setzte den Menschen jenem

38 Vgl. hierzu Grundlage des Naturrechts, Fichte 1971, Bd. III, S. 137 ff. 39 Dies aber die These von Vollhardt 1997, S. 83 ff. sowie Waibel 2000, S. 257–259; Hölderlin hatte aber schon einem Brief an Johann Gottfried Ebel vom 10. Januar 1797 in Bezug auf seine neue pädagogische Konzeption ausgeführt: „Zwang würd ich nur da gebrauchen, wo ihn das Vernunftrecht überall behaupten muß, wo der Mensch sich selbst oder andern unerlaubte Gewalt anthun wollte.“ Hölderlin 1992/94, Bd. 3, S. 251–253. 40 Vgl. hierzu Geismann 1991, S. 92 mit Bezug auf ‚Grundlage des Naturrechts‘, Fichte 1971, Bd. III, S. 8 f. und S. 17 ff. 41 AA VI, S. 95. 42 Vgl. dazu erneut Fichte 1971, Bd. VI, S. 306.

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Naturzustand aus, dessen Interpretation Hölderlin als bellum omnium contra omnes nachweisbar kannte.⁴³ Wie bei Kant der politische „Freistaat“,⁴⁴ so bleibt auch für Hyperion die Schutzfunktion des politischen Staates eine zwar formelle, aber eben deshalb notwendige Voraussetzung.⁴⁵ Er hatte die wuchtige Polemik Kants gegen eine rein ethische Vergemeinschaftung, die nur Engeln möglich sei, wohl verstanden. Schon im Fragment philosophischer Briefe aus dem Jahre 1796 hatte Hölderlin jedoch behauptet, dass der Bereich des gesetzlich-regulierten, staatlichen Zusammenhangs unter den Menschen wohl zwar unerlässlich, als Form der „Nothdurft“ aber auch reduktiv sei.⁴⁶ Den Grund für diese Annahme kann ein Blick in das zwar in einer Abschrift Hegels überlieferte, in seiner Autorschaft aber immer noch ungeklärte,⁴⁷ sogenannte Älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus verdeutlichen. Darin heißt es unter anderem: Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas mechanisches ist, so wenig als es eine Idee von einer Maschine gibt. Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heist Idee. Wir müßen also über den Staat hinaus! Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; […].⁴⁸

43 Vgl. hierzu den Entwurf zur endgültigen Fassung des berühmten Briefes, in dem Hyperion von der Plünderung Misistras durch seinen Haufen von Widerstandskämpfern berichtet und dies dadurch bestimmt, daß „die Wolfsnatur“ sich „einmal wieder […] gütlich gethan hat“. (Hölderlin 1992/ 94, Bd. 2, S. 130 f.) Daß diese Phrase auf Hobbes’ Diktum vom ‚homo homini lupus‘ anspielt (vgl. Hobbes 1994, S. 59), bedarf kaum der Erläuterung. 44 AA VI, S. 102; sowie den Kommentar hierzu bei Reich 2001, S. 160. 45 Die Forschung beantwortet diese Frage einer Bedeutung des Staates gänzlich anders, und zwar indem sie Hyperions Thesen an Fichtes Aufhebungsbegründung (sowie die des Ältesten Systemfragments) anbindet; vgl. u. a. Senn 1988, S. 38–46, spez. S. 39 ff. Diese Interpretation scheint mir aber die Metapher der Gartenmauer nicht angemessen zu berücksichtigen. Selbst in Hölderlins spätester Aussage über die Bedeutung des Staates ist von einer objektiven Aufhebung dieser Rechtsinstanz keine Rede. An Landauer schreibt er nämlich im Februar 1801: „[…] am Ende ist es doch wahr, je weniger der Mensch vom Staat erfährt und weiß, die Form sei wie sie will, um desto freier ist er.“ Hölderlin (1992/94), Bd. 3, S. 448; Hvhb. von mir. Mit dieser Aussage postuliert Hölderlin aber keineswegs eine vollständige Auflösung des Staates, sondern nur die größtmögliche Unsichtbarkeit staatlicher Lenkungsmechanismen. 46 Vgl. Hölderlin 1992/94, Bd. 2, S. 562 ff. 47 Vgl. zu dieser Diskussion Baum 1999, S. 321–340, der als einer der Wenigen ganz richtig vermutet, dass dieser Text vor allem Schelling zuzuschreiben ist, vgl. auch Jaeschke 2010, S. 76–80. 48 Zitiert nach Jamme u. Schneider 1984, S. 11 f.

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Auch Hölderlin hatte im Fragment philosophischer Briefe den Bereich der „Nothdurft“ als „Maschinengang“ bezeichnet,⁴⁹ und damit Schillers Kritik am „Not- und Verstandesstaat“ aus den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen aufgenommen.⁵⁰ Diese der Position Hyperions verwandte Argumentation⁵¹ entfaltet konkreter die Gründe für dessen Versuch einer Begrenzung staatlicher Funktionen in und für eine ideale, ethischer Gemeinschaft. Der Staat kann in seinen Institutionen nur Mittel zum ‚notwendigen Schutz‘ liefern, ist damit jedoch nicht schon Realisation von Freiheit und idealer „Gemeinschaft“:⁵² Zwar kann und darf sich in Anlehnung an Kant und im Gegensatz zu den Überlegungen Fichtes der Staat nicht auflösen, doch bedarf es nach Hyperions Konzeption über die Leistungen des Staates hinaus weiterer Anstrengungen der Menschen, sich ihres Zwecks als gelungener, friedlicher Gemeinschaft zu versichern. Reduziert sich allerdings die Konstitution solcher Gemeinschaft auf den Staat, wird dieser zum mechanischen Zwangssystem⁵³ im Auseinanderfallen von Allgemeinem (staatlichen Institutionen) und Besonderem (beherrschten Individuen). Das ist Kant nahe und fern zugleich: Nahe in der spezifischen Kombination von politischen und ethischem Staat, fern in der Interpretation der rechtlich-bürgerlichen Vergemeinschaftung als mechani-

49 Hölderlin 1992/94, Bd. 2, S. 562. 50 Vgl. hierzu u. a. Bach 2019. 51 Verwandt, nicht aber vollauf identisch ist die Argumentation des Systemprogramms, weil die zitierte Stelle mit der Forderung schließt: „also soll er [der Staat] aufhören.“ Dieses Fichte entlehnte Postulat ist aber aus Hyperions Bild der „Gartenmauer“ gerade nicht abzuleiten. Auch die staatstheoretischen Erörterungen der Athenreflexionen zeigen, daß Hyperion die Auflösung des Staates nicht fordern kann und darf, weil er als institutionalisierte Garantie der Freiheit unabdingbare Voraussetzung einer idealen Gemeinschaft bleibt; im diesem Zusammenhang bleibt Hölderlin stets Schüler Kants und eben durchaus nicht Fichtes. Ein weiteres Argument für diese These, die darauf hinausläuft, Hölderlin als Verfasser des Systemfragments in Frage zu stellen, besteht darin, daß es Hölderlin insgesamt nicht darum gehen konnte, die Dimensionen des Mechanischen auch im Bereich der praktischen Philosophie generell zu eliminieren. Im Januar 1795 schreibt er an an Hegel: „Den Begriff der Vorsehung behandelst Du wohl ganz parallel mit Kants Teleologie; die Art, wie er den Mechanismus der Natur (also auch des Schicksals) mit ihrer Zwekmäßigkeit vereinigt, scheint mir eigentlich den ganzen Geist seines Systems zu enthalten; […]“. Hölderlin 1992/94, Bd. 3, S. 175–177. Diesen durchaus positiven Bezug auf Kants Versuch der Vermittlung des Mechanischen der Natur mit dem Begriff der Zweckmäßigkeit (vgl. KdU, § 77 und 78) muß in seiner Bedeutung für die hier betrachtete Problematik erkannt werden. Tatsächlich scheinen mir die staatstheoretischen Überlegungen Hyperions genau diese Vermittlung zu beinhalten. Die These, daß Hölderlin der Verfasser des Systemfragments gar nicht sein kann, weil er niemals das ‚Aufhören des Staates‘ postulierte, wurde in den bisherigen Debatten um die Autorfrage noch nicht berücksichtigt. Vgl. hierzu die Arbeiten von Hansen 1989 und Baum 1999. 52 Vgl. hierzu auch Strauß 1933, S. 41 ff. 53 Zur Tradition der Anwendung der Maschinen-Metapher auf den Staat vgl. Lypp 1972, S. 39 ff. und Stollberg-Rillinger 1986.

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schem Zwangssystem, als Grenze bzw. „Mauer“ der Freiheit nicht als dessen Realisationsbedingung.⁵⁴ Diese spezifische Differenz zu Kant lässt sich abschließend noch an einer weiteren Passage aus der oben schon aufgerufenen sogenannten ‚Athenrede‘ Hyperions veranschaulichen. Um die Besonderheit und d. h. hier die Vorbildichkeit der Vergemeinschaftungskonzeption der Republik Athen zu verdeutlichen, vergleicht der Lobredner diese mit zwei anderen politischen Kulturen, der der absolutistischen Willkürherrschaft, die er mit Ägypten verbindet, und der einer ausschließlichen Ausrichtung auf einen – nach Kant – politischen Staat, die er mit „dem Norden“, d. h. vor allem dem revolutionären Frankreich unter Robespierre verbindet. Dazu heißt es: Der Aegyptier trägt ohne Schmerz die Despotie der Willkühr, der Sohn des Nordens ohne Widerwillen die Gesezesdespotie, die Ungerechtigkeit in Rechtsform; denn der Aegyptier hat von Mutterleib an einen Huldigungs- und Vergötterungstrieb; in Norden glaubt man an das reine freie Leben der Natur zu wenig, um nicht mit Aberglauben am Gesezlichen zu hängen. Der Athener kann die Willkür nicht ertragen, weil seine göttliche Natur nicht will gestört sein, er kann Gesetzlichkeit nicht überall ertragen, weil er ihrer nicht überall bedarf. Drako taugt für ihn nicht. Er will zart behandelt sein, und tut auch recht daran. (Hölderlin 1992/94, Bd. 2, S. 91)

Diese Gegenüberstellung ist Kant prima vista insofern nahe, als Hyperion die Kritik einer absolutistischen, also rechtsfreien Despotie entwirft, die auch Kant geteilt hat; noch in der Kritik einer sogenannten Gesetzesdespotie, die als „Ungerechtigkleit in Rechtsform“ denunziert wird, ist eine Nähe zu Kants Kritik an der Instrumentalisierung des Staates zur Ausprägung der moralischen Gesinnung seiner Untertanen, die auch Fichte getroffen hätte, zu bemerken: Hölderlin weist dabei nicht wie Kant die Gefahren eines Übergriffs des ethischen Gemeinwesens in die Eigenständigkeit des Rechtsstaates zurück, sondern sieht vielmehr die Gefahr einer Reduktion menschlicher Vergemeinschaftung auf deren rechtliche Regulierung, die selber dem Despotismusverdacht deshalb ausgesetzt wird, weil sie den äußeren Zwang der Rechtsdurchsetzung auf die Prozesse der inneren Tugendpflichten ausweitet. Auch für Hölderlin gilt mithin: „Wehe dem Gesetzgeber…“. Soweit weist Hyperions These vom ‚höllischen‘ Staat als „Sittenschule“ mit Hölderlins eigenen und den kantischen staatstheoretischen und ethischen Konzeptionen durchaus Gemeinsamkeiten auf. Gleichwohl ist eine substanzielle Differenz zwischen Hölderlin und Kant zu konstatieren: Hatte Kant ausdrücklich festgehalten, dass alle Versuche des Ausgangs aus dem ethischen Naturzustand allererst auf der Grundlage eines stabilen politi54 Zu diesem zentralen, von Hölderlin und dem Gros der politischer Philosophen der Aufklärung nicht geteilten Gedanken Kants vgl. u. a. Geismann 1982, S. 161–189.

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schen Staates zu unternehmen seien, so lässt Hölderlin den Proagonisten seines Romans im Rahmen einer rousseauistische gefärbten Genealogie der Vortrefflichkeit des Athenervolkes den angemessen begrenzten Rechtsstaat nur als Produkt jener vorgängigen ästhetischen Vernunftreligion als möglich erscheinen, die sich in den ‚Göttern Griechenlands‘ symbolisch konkretisiert. Deren Gehalt als ideale, d. h. freiwillige Vereinigung einer „Vielheit von Menschen zu der Einheit eines kollektiven Ganzen“ sollte wohl die Abstrakheit jenes ‚kollektiven Subjekts‘ des ethischen gemeinen Wesens in die Anschauung und damit in eine praktische Verbesonderung vermitteln. Kant hat aus guten Gründen weder sein eigenes Konzept eines ethischen Staates weiterverfolgt, noch gar solcherart ästhetische Kritik, die sich als Fortentwicklung verstand, zur Kenntnis genommen – und auch dies mit guten Gründen.

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Beiträger/innen des Bandes Bernd Dörflinger war von 2002 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2019 Professor für Philosophie der Neuzeit an der Universität Trier. Sein Studium der Philosophie schloss er 1986 an der Universität Mainz mit einer Dissertation ab: Die Realität des Schönen in Kants Theorie rein ästhetischer Urteilskraft. Bonn 1988. Er arbeitete dort von 1983 bis 2002 als Wissenschaftlicher Angestellter und habilitierte sich 1995 mit der Arbeit: Das Leben theoretischer Vernunft. Teleologische und praktische Aspekte der Erfahrungstheorie Kants. Berlin/New York 2000. Seit 1999 ist er Mitherausgeber der Zeitschrift „Kant-Studien“ und der Buchreihe „Kantstudien-Ergänzungshefte“. Sein wissenschaftliches Interesse gilt allen Aspekten der Philosophie Kants und ihrer Rezeptionsgeschichte. In den vergangenen Jahren weisen seine Publikationen einen Schwerpunkt zur Religionsphilosophie Kants auf. Zu seinen neuesten Veröffentlichungen gehören: Kants Ethikotheologie und die Pflicht zur Beförderung des höchsten Guts. In: Gott nach Kant? Klaus Viertbauer/Stefan Lang (Hg.). Hamburg 2022, 98–124. – Kant ˋ s Philosophy of Religion – A Provocation to the Historical Religions. In: System and Freedom in Kant and Fichte. Giovanni Pietro Basile/Ansgar Lyssy (ed.). London/New York 2022, 135–146. – Critique and development of the Kantian theory of space in Gerold Prauss. In: Kant and the Problem of Knowledge. Luigi Caranti/Alessandro Pinzani (ed.). London/New York 2023, 80–93. Carsten Olk war wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fach Philosophie der Universität Trier, Professur für neuzeitliche Philosophie bei Herrn Prof. Dr. Bernd Dörflinger. Seine Forschungsschwerpunkte liegen vor allem im Bereich der neuzeitlichen Philosophie. Dabei gilt sein besonderes Interesse der theoretischen und praktischen Philosophie Immanuel Kants sowie der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Promotion im Jahre 2015 bei Prof. Dörflinger zum Thema „Kants Theorie der Synthesis“. Seine Dissertationsschrift „Kants Theorie der Synthesis“ erschien 2016 in den Kantstudien- Ergänzungsheften (De Gruyter-Verlag). Im Anschluss daran Post-Doc Verfahren mit einer Habilitationsschrift zum Thema „Subjekt und Selbstbewusstsein in Kants kritischer Philosophie und Fichtes absolutem Idealismus“ (noch nicht abgeschlossen). Darüber hinaus Forschung im Bereich der Medizinethik (seit 2018). Im Jahre 2020 parallel Ausbildung für das Lehramt an Gymnasien in Rheinland-Pfalz. Aktuell arbeitet er hauptberuflich als Lehrer für Deutsch, Philosophie und Ethik an einer Trierer Schule. Aktuelle Publikationen: Fichtes Intellektualisierung der Anschauung: Die Rolle der anschauungskonstituierenden Einbildungskraft mit einem Blick auf Kants Spätwerk, in: Fichte-Studien, Band 48 (2019), S. 45–66. / Synthetische und analytische Einheit der Apperzeption. Über ein nach wie vor aktuelles und missverständliches Problem der „Kritik der reinen Vernunft“. in: Revista de Estudios Kantianos Vol. 4.2 (2019), S. 319–337. / Über die Musik zum wohlwollenden Handeln? Zum Status des Mitleids und dem Verhältnis von Willensmetaphysik, Ethik und Musikästhetik in Schopenhauers Philosophie. In: Facettenreiche Existenz. Schopenhauers Philosophie als Knotenpunkt der Disziplinen, hrsg. von Michael Steinmetz, Dominik Zink (Beiträge zur Philosophie Schopenhauers 27). Würzburg 2023, S. 109–133. Stefan Klingner ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Georg-AugustUniversität Göttingen. Promotion 2012 im Fach Philosophie an der Universität Trier mit einer Arbeit über Kants Konzeption technischer Vernunft. Forschungsschwerpunkte: Metaphysik und Erkenntnistheorie der frühen Neuzeit, Philosophie der Aufklärung, Philosophie Kants und des deutschen Idealismus. Aktuelle Publikationen zur Philosophie Kants: Where Do All These Ideas Come From? Kant on the Formation of Concepts under the Guidance of Pure Reason. In: Open Philosophy 5/1 (2022), 510– 531; Wofür eine „Religionsschrift“? Kant über die Menschen und ihre moralische Kultur durch Religihttps://doi.org/10.1515/9783111063935-015

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on. In: The Court of Reason. Proceedings of the 13th International Kant Congress. Hg. von Beatrix Himmelmann und Camilla Serck-Hanssen. Berlin/Boston: de Gruyter 2021, 1985–1993; Auf dem Weg zur kritischen Rechtslehre? Naturrecht, Moralphilosophie und Eigen-tumstheorie in Kants Naturrecht Feyerabend. Hg. mit Dieter Hüning und Gianluca Sadun Bordoni. Leiden: Brill 2021. Achim Vesper ist Akademischer Rat a.Z. am Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt. Promotion zur Beziehung von Ästhetik und Erkenntnistheorie bei Kant, Habilitationsprojekt zu metaethischen Grundlagen bei Kant. Forschungsschwerpunkte in Ethik, Ästhetik, Kant und Philosophie der Aufklärung. In Kürze erscheinen: Kant über Schönheit und systematische Einheit der Natur, Heidelberg/Berlin: Metzler; Kants Philosophie, München: C.H. Beck (mit Gabriele Gava); Kant and the Systematicity of the Sciences, New York/Abingdon: Routledge (hg. mit Gabriele Gava/Thomas Sturm). Guillem Sales Vilalta ist Associate Professor an der Universität Barcelona, wo er auch 2022 unter der Leitung von Salvi Turró promovierte. 2021 bis 2022 war er Gastforscher am Seminar für Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg unter der Leitung von Professor Heiner F. Klemme. Ab September tritt er ein Post-Doc-Stipendium am Maimonides-Zentrum der Universität Hamburg an. Er ist auch Mitglied des Grup d’estudis en filosofia clàssica alemanya (Forschungsseminar zur deutschen Klassischen Philosophie) am Institut d’Estudis Catalans (Katalanisches Forschungsinstitut), des Athene Noctua Forschungsseminars in Praktischer Philosophie und der Sociedad Española Leibniz para el estudio del Barroco y la Ilustración (Spanische Leibniz-Gesellschaft für Studien zum Barock und zur Aufklärung). Während seiner Zeit als Doktorand war er Mitglied der Forschungsgruppe Aporia (2017SGR 00146; Philosophische Fakultät, Universität Barcelona). Als Mitglied von Aporia nahm er am bewilligten Projekt „La mirada filosófica como mirada médica“ (Der philosophische Blick als medizinischer Blick; PGC2018–094253-B-I00) teil, das von Josep Maria Esquirol (Universitat de Barcelona) und Pablo Ramos (Universidad Autónoma de Madrid) koordiniert wurde. Aktuelle Publikationen: No feeling without cognition. Moses Mendelssohn’s analysis of pleasant sentiments in the Briefe über die Empfindungen (1755), in: Annals of the University of Bucharest. Philosophy Series. Special issue: Gaudemard, L. (ed). Emotion and cognition in Early Modern Philosophy. / Mendelssohn, M. Diàlegs filosòfics. Translation, notes and introduction. Anuari de la Societat Catalana de Filosofia, XXXIII, 97–142. / Entre Schulphilosophie y Ciencia Moderna. La filosofía de Christian Wolff, Anales del Seminario de Historia de la Filosofía, 39 (1), 73–87. Andree Hahmann ist Professor für Philosophie an der Tsinghua Universität Peking. Er studierte Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaft und Klassische Philologie in Köln, Siegen und Marburg. Promotion zum Dr. phil. 2007 in Marburg, 2008 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Georg-AugustUniversität Göttingen, von 2011–2013 Feodor Lynen-Stipendiat an der University of Oxford, Habilitation 2015 in Göttingen, von 2015–2020 DAAD Visiting Professor an der University of Pennsylvania. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Philosophie der Antike und Neuzeit. Aktuelle Publikationen: Aristoteles’ „Nikomachische Ethik“ Ein systematischer Kommentar (Reclam 2022), Schiller’s Philosophy of History, in: The Palgrave Handbook on the Philosophy of Friedrich Schiller, ed. by Antonino Falduto and Tim Mehigan, London, New York, Shanghai 2023, 371–387; Ciceronian Officium and Kantian Duty, in: The Review of Metaphysics, 75.4 (2022), 667–706 (in Zusammenarbeit mit Michael Vazquez); Rassismus in der Klassischen Deutschen Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 70.4 (2022), 641–662. Gianluca Sadun Bordoni ist Professor für Rechtsphilosophie an der Universität von Teramo, wo er das Forschungszentrum „Europa e Mediterraneo“ leitet. Er befasst sich mit politischer Philosophie und Rechtsphilosophie, schwerpunktmäßig mit der kantischen Tradition. Zusammen mit Norbert Hinske

Beiträger/innen des Bandes

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gab er die kritische Ausgabe von Kants Naturrecht Feyerabend heraus (drei Teilbände, Frommann Holzboog, Stuttgart, 2010–2014). Er ist Mitherausgeber der beiden Bände; Kants Katurrecht Feyerabend. Analysen und Perspektiven, De Gruyter, Berlin/Boston 2020; Auf dem Wege zur Rechtslehre?, Leiden/Boston, Brill 2021 Andere Veröffentlichungen: Kant and Danton, in „Kant-Studien“, 3/2020; Il pensiero greco e il diritto naturale moderno, in „Rivista di filosofia del diritto“, n. 1 (2020) Alyona Kharitonova studierte an der Moskauer Lemonosov-Universität, wo sie auch 2015 ihre Promotion abschloss (Thema: Thema „Das Umdenken des Körpers in der deutschen Philosophie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts: Die Absonderung des Leibes aus dem Universum von materiellen Körpern“). Forschungsaufenthalte an der Universität Trier, an der Universität Mainz, Arbeitstätigkeit in der musealen Sphäre. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Deutsche Aufklärung, Kants Philosophie und Anthropologie. Aktuelle Veröffentlichungen: Kharitonova A. Die Vernunftlehre von G. F. Meier; Die „Wiener Logik“: die Charakteristik des Manuskripts, die textologischen Besonderheiten und das Problem der Datierung, in: Kant I., Wiener Logik, übers. von A. M. Kharitonova, L. E. Kryshtop und A. N. Krouglov, mit der Einleitung und Kommentaren von A. N. Krouglov, A. M. Kharitonova, L. E. Kryshtop und A. S. Bobrova hrsg. von A. N. Krouglov. Moskau 2022, S. 87–94, 95–107 (in Russisch). Kharitonova A. M. Late Enlightenment textbooks on logic for women, in: Kantian Journal, 2019, vol. 38, no. 3, p. 81–106 (russisch). Kharitonova A. Die Eigenart des Kant’schen AnthropologieProjekts im 18. Jahrhundert, in: Natur und Freiheit, Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, hrsg. von V. L. Waibel, M. Ruffing und D. Wagner, Berlin/Boston 2018, S. 2667‒2672. Michael Städtler ist Professor an der Bergischen Universität Wuppertal. 1989–1997 studierte er Philosophie und Germanistik in Hannover. Promotion in Hannover über „Die Freiheit der Reflexion. Zum Zusammenhang der praktischen mit der theoretischen Philosophie bei G.W.F. Hegel, Thomas von Aquin und Aristoteles“ (2002). Habilitation in Münster mit einer Schrift zum Thema „Kant und die Aporetik moderner Subjektivität. Zur Verschränkung historischer und systematischer Momente im Begriff von Selbstbestimmung“ (2009). 2003–2006 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechtsphilosophie, Juristische Fakultät, Hannover. 2008–2012 Mitarbeiter am Exzellenzcluster ’Religion und Politik’ in Münster. seit 2009 Privatdozent, seit 20914 apl. Prof. in Münster. 2015 Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg Konstanz. Vertretungen in Münster und Oldenburg. Gastdozenturen in Sofia, Rethymno, Palermo und Wien. Seit 2016 Lehre in Wuppertal, seit 2019 als Nachwuchsgruppenleiter in einem Projekt der Qualitätsoffensive Lehrerbildung. Forschungsinteressen und -schwerpunkte: Geschichte der Philosophie und ihre systematischen Aspekte; Bildungsphilosophie; Philosophie der Subjektivität; Erkenntnistheorie; Moralphilosophie; Rechts- und Sozialphilosophie; Geschichtsphilosophie. Aktuelle Publikationen: Das Reich Gottes auf Erden und die völlige Bestimmung der menschlichen NaturReligion, Bildung und Politik bei Kant, in: Ryu Okazaki, Religionsphilosophie in und nach der Klassischen deutschen Philosophie, Berlin i.V. / Kants „Idee eines höchsten Guts in der Welt“ – Der gesellschaftlich-politische Gehalt der Religionsschrift und seine Grenzen, in: Michael Kühnlein (Hg.), Religionsphilosophie nach Kant, Berlin 2023, im Druck / Einheit und Vielheit metaphysischen Denkens. Festschrift für Thomas Leinkauf, herausgegeben gemeinsam mit Walter Mesch und Christian Thein, Hamburg 2022. Gideon Stiening ist Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor Studium der Philosophie und der deutschen Spache in Literatur in Marburg; Dissertation zum Thema: Epistolare Subjektivität. Das Erzählsystem in Friedrich Hölderlins Briefroman Hyperion oder der Eremit in Griechenland. (zugl.: Diss. Marburg 1999) Tübingen 2005 an der PU marburg; Habilitation zum Thema: Wissen und Literatur im Werk Georg Büchners. Studien zu seinen wissenschaftlichen, politischen und literarischen Texten. (Habilitationsschrift München 2009); Berlin, Boston 2019. Seine Forschungschwerpunkte

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Beiträger/innen des Bandes

sind: Rechtslehre der Spanischen Spätscholastik; Philosophie und Litertur der Aufklärung; Philosophie, Wissenschaftgeschichte und Literatur des Vormärz. Aktuelle Publikationen: (Hg. mit Eric Achermann): Vom „Theater des Schreckens“ zum „peinlichen Rechte nach der Vernunft“. Literatur und Strafrecht im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 2022; (Hg. mit Hans-Peter Nowitzki, Enrico Pasini u. Paola Rumore): Johann Heinrich Lambert (1728–1777). Wege zur Mathematisierung der Aufklärung. Berlin, Boston 2022; „Ich will Sachlichkeit, Ordnung und Anstand“. Thomas Manns ›Begriff des Politischen‹ und dessen Darstellungsverfahren in den Betrachtungen eines Unpolitischen. In: Euphorion 117.1 (2023), S. 107– 126.

Die Herausgeber Sebastian Abel ist Doktorand am Seminar für Philosophie der Martin-Luther-Universität Halle Wittenberg, wo er unter der Leitung von Prof. Dr. Heiner Klemme eine Dissertation verfasst, die sich schwerpunktmäßig mit dem Verhältnis von Anschauung und praktischem Vernunftbegriff in Kants Religionsphilosophie beschäftigt. Titel des in der Fertigstellung befindlichen Projekts ist „Dunkle Metaphysik. Offenbarung als schematisch-narrative Darstellung moralischer Begriffe“. Er studierte Philosophie und Germanstik an der Universität Trier, das Studium schloss 2017 er mit einer bei Prof. Dr. Bernd Dörflinger eingereichten Arbeit zur synthetischen Einheit der Apperzeption bei Kant ab. 2019 absolvierte er im Rahmen eines Wiedemann-Stipendiums einen Forschungsaufenthalt am IZEA Halle, wo er seitdem ansässig ist. Schwerpunktmäßig interessiert er sich für Theorien der Urteilskraft, Semiotik, Symboltheorie und philosophische Hermeneutik. Aktuelle Publikationen: Über die Bedeutung des Begriffs der ‚gesunden Vernunft‘ in Reimarus’ Schriften. In: Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Hrsg v. Dieter Hüning und Stefan Klingner. Berlin/Boston 2022, S. 87–102 / Das Problem der Offenbarung in Mauvillons ‚System der christlichen Religion‘. In: Jakob Mauvillon (1743–1794) und die deutschsprachige Radikalaufklärung. Hrsg. v. Dieter Hüning, Arne Klawitter und Gideon Stiening. Berlin/Boston 2022, S. 269–285 / Der Streit über die Prinzipien der Ordnung des Kosmos bei Leibniz und Clarke. In: Realität und Wirklichkeit – Vom Finden und Erfinden unserer Welt. Hrsg. v. Torsten Nieland. Berlin [i.E.] Dieter Hüning ist Professor an der Universität Trier. Er studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg und an der Freien Universität Berlin. Promotion an der Philipps-Universität mit einer Arbeit über „Freiheit und Herrschaft in der Rechtsphilosophie des Thomas Hobbes“ (Berlin 1998). 2009 Habilitation an der Universität Siegen mit einer Studie über „Philosophie der Strafe. Die Begründung des Strafrechts in der neuzeitlichen Naturrechtslehre“. Seit dem 1. April 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kant-Forschungsstelle der Universität Trier. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Philosophie der Aufklärung, insbesondere die Philosophie Immanuel Kants, neuzeitliche Naturrechtslehre, Religionskritik. Aktuelle Publikationen: Die Rezensionen zu Kants Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre. Die zeitgenössische Rezeption von Kants Rechtsphilosophie. Hrsg. von Diethelm Klippel, Dieter Hüning und Jens Eisfeld, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2021, IX, 364 S. [Kant-Studien Ergänzungshefte, Band 212]. / Hermann Samuel Reimarus (1694–1768). Natürliche Religion und Popularphilosophie. Hrsg. von Dieter Hüning und Stefan Klingner, Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2022. 423 S. [Werkprofile, hrsg. von Frank Grunert, Stefan Klingner, Udo Roth und Gideon Stiening, Bd. 18]. / Auf dem Weg zur kritischen Rechtslehre? Naturrecht, Moralphilosophie und Eigentumstheorie in Kants „Naturrecht Feyerabend“. Hrsg. von Dieter Hüning, Stefan Klingner und Gianluca Sadun Bordoni, Leiden/Boston: Brill 2021, XI, 273 S. [Early Modern Natural Law. Studies and Sources, ed. by Frank Grunert, Knud Haakonssen and Diethelm Klippel, vol. 4].

https://doi.org/10.1515/9783111063935-016

Personenregister Abbt, Thomas 112, 114 f. Achenwall, Gottfried 151, 154

Meier, Georg Friedrich 173–177, 179 f. Mendelssohn, Moses 104 f., 112–118

Fichte, Johann Gottlieb

Reimarus, Hermann Samuel 85–93, 99 f. Rousseau, Jean-Jacques 149–152, 156–158, 161, 205

193, 206 f., 219 f.

Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 199 Hobbes, Thomas 149–152, 154–161, 193 Hölderlin, Friedrich 205, 209, 211 f., 218–224 Leibniz, Gottfried Wilhelm 88, 97, 114, 129, 131 f., 137 Lessing, Gotthold Ephraim 85 f., 92–100, 205, 211 Luther, Martin 92–95

https://doi.org/10.1515/9783111063935-017

Schiller, Friedrich 193, 217, 222 Spalding, Johann Joachim 104–111, 115–118 Spinoza, Baruch de 86–88 Wieland, Christoph Martin 206–208, 211 f. Wolff, Christian 90, 128 f.