Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [2., überarbeitete Auflage] 9783110780796, 9783110782424, 9783110782585

In Religion Within the Bounds of Bare Reason (1793), Kant continues his moral philosophy in line with the basic convicti

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German Pages 278 [280] Year 2023

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Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft [2., überarbeitete Auflage]
 9783110780796, 9783110782424, 9783110782585

Table of contents :
Inhalt
Zitierweise und Siglen
Vorwort zur letzten Auflage
1 Einführung in Kants Religionsschrift
2 Zum Titel und den beiden Vorreden
3 Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen
4 Über die verschiedenen Bedeutungen des „Hangs zum Bösen“
5 Zweites Stück: Moralische Vollkommenheit
6 The Devil, the Virgin, and the Envoy. Symbols of Moral Struggle in Religion, Part Two, Section Two
7 Ethical Community, Church and Scripture
8 Die Kritik des Judentums und die Geheimnisse der Vernunft
9 „Vom Dienst Gottes in einer Religion überhaupt“
10 Gottesdienst und Afterdienst: die Kirche als öffentliche Institution?
11 Der Begriff sogenannter Gnadenmittel unter der Idee eines reinen Religionsglaubens
12 Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung: Ein Blick in den Streit der Fakultäten
13 Die „Definition“ der Vernunftreligion
14 Kants theologischer Kontext: Eine Stichprobe
Auswahlbibliographie
Personenregister
Sachregister
Hinweise zu den Autoren

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Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

Klassiker Auslegen

Herausgegeben von Otfried Höffe

Band 41

Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft 2. Auflage

Herausgegeben von Otfried Höffe

ISBN 978-3-11-078079-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078242-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078258-5 ISSN 2192-4554 Library of Congress Control Number: 2023940290 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2024 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Getty Images/ullstein bild Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Zitierweise und Siglen

VII

Vorwort zur letzten Auflage

IX

Otfried Höffe 1 Einführung in Kants Religionsschrift

1

Eberhard Jüngel 2 Zum Titel und den beiden Vorreden

27

Christoph Horn 3 Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen 39 Maximilian Forschner 4 Über die verschiedenen Bedeutungen des „Hangs zum Bösen“ Jochen Bojanowski 5 Zweites Stück: Moralische Vollkommenheit

81

Andrew Chignell 6 The Devil, the Virgin, and the Envoy. Symbols of Moral Struggle in Religion, Part Two, Section Two Allen Wood 7 Ethical Community, Church and Scripture

63

99

117

Johannes Brachtendorf 8 Die Kritik des Judentums und die Geheimnisse der Vernunft Friedo Ricken 9 „Vom Dienst Gottes in einer Religion überhaupt“

157

Katrin Flikschuh 10 Gottesdienst und Afterdienst: die Kirche als öffentliche Institution? 175

135

VI

Inhalt

Burkhard Nonnenmacher 11 Der Begriff sogenannter Gnadenmittel unter der Idee eines reinen Religionsglaubens 193 Otfried Höffe 12 Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung: Ein Blick in den Streit der Fakultäten 211 Reza Mosayebi 13 Die „Definition“ der Vernunftreligion

227

Douglas McGaughey 14 Kants theologischer Kontext: Eine Stichprobe 259

Auswahlbibliographie 263

Personenregister Sachregister

265

Hinweise zu den Autoren

267

247

Zitierweise und Siglen Kant wird nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin 1902 ff.) zitiert, z. B. VIII 289 = Band VIII, Seite 289. Auf die Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft wird in der Regel ohne Angabe des Bandes nur mit der Seitenzahl verwiesen. Bei der Kritik der reinen Vernunft werden die Seitenzahlen der ersten (= A) oder zweiten (= B) Auflage angegeben, z. B. KrV, B xvii = 2. Auflage, Seite xvii. Bibelstellen werden gemäß unten aufgeführter Siglenliste zitiert. Auf andere Literatur wird mit dem Namen des Verfassers und dem Erscheinungsjahr Bezug genommen.

Werke Kants: Anfang Briefe EaD Fak. Fortschritte Frieden Gemeinspruch

Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (VIII 107–123) Briefwechsel (X–XIII) Das Ende aller Dinge (VIII 325–339) Der Streit der Fakultäten (VII 1–116) Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (XX 253–332) Zum ewigen Frieden (VIII 341–386) Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (VIII 273–313) GMS Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (IV 385–463) Idee Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht (VIII 15–31) KpV Kritik der praktischen Vernunft (V 1–163) KrV Kritik der reinen Vernunft (A: IV 1–252, B: III 1–552) KU Kritik der Urteilskraft (V 165–485) Log. Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. v. G. B. Jäsche (IX 1–150) MAN Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft (IV 465–565) MS Die Metaphysik der Sitten (VI 203–493) Prol. Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (IV 253–383) Rec. Herder Recension von Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Theil 2 (VIII 56–66) Refl . Reflexionen (XIV ff.) Rel. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (VI 1–202) RL Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (VI 203–372) Theodizee Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodicee (VIII 253–271) TL Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (VI 373–493) Verkündigung Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (VIII 411–422) WhD Was heißt sich im Denken orientieren? (VIII 131–147)

https://doi.org/10.1515/9783110782424-001

VIII

Zitierweise und Siglen

Bibeltexte: Apg Dan Deu Eph Gal Jer Jes 1 Kor 2 Kor Lk Mk Mt 1 Petr Ps 2 Sam Spr Weish

Apostelgeschichte Daniel Deuteronomium (= 5. Buch Mose) Epheser-Briefe Galater-Briefe Jeremia Jesaia 1. Korinther-Briefe 2. Korinther-Briefe Lukas-Evangelium Markus-Evangelium Matthäus-Evangelium 1. Petrus-Brief Psalmen Röm Römerbrief 2. Buch Samuel Sprüche Weisheiten

Vorwort zur letzten Auflage Immanuel Kant beginnt seine Religionsschrift mit einer Behauptung, die seine Moralphilosophie der Autonomie prägnant zusammenfaßt: Die Moral bedarf weder eines anderen Wesens über dem Menschen, um die Pflicht zu erkennen, noch einer anderen Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten. Trotzdem erklärt er wenige Absätze später, was die Autonomie zu untergraben droht: Moral führe unumgänglich zur Religion. Diese Verbindung von zwei anscheinend sich widersprechenden Thesen bildet nicht die einzige Provokation von Kants Schrift. Sie entwickelt auch eine Theorie des radikalen moralisch Bösen, gibt Grundgedanken des Christentums eine genuin philosophische Bedeutung und erörtert das Verhältnis eines moralischen Religionsglaubens und dessen unsichtbarer „Kirche“ zum Kirchenglauben einer sichtbaren „Kirche“. Diese und weitere Themen haben ihre philosophische Aktualität nicht verloren. Die Beiträge des hier vorgelegten Bandes unternehmen eine durchgängige Kommentierung der Hauptgedanken von Kants Religionsschrift und setzen sie, wo sinnvoll, in Bezug zu Kants übrigem Werk. Sie wurden im Rahmen eines Symposions in Tübingen im Februar 2010 vorbereitet und sind, wie in der Reihe „Klassiker Auslegen“ üblich, ausschließlich Originalbeiträge. Als erstes ist allen Autoren zu danken. Weiterhin für ihre engagierte Vorbereitung und Durchführung des Symposions sowie der Redaktion des Bandes meinen Mitarbeitern Moritz Hildt M. A. und Tankred Freiberger. Nicht zuletzt gebührt der Fritz-Thyssen-Stiftung Dank für die erneut großzügige Finanzierung des Symposions. Tübingen, im September 2010

https://doi.org/10.1515/9783110782424-002

Otfried Höffe

Otfried Höffe

1 Einführung in Kants Religionsschrift 1.1 Eine vierte Kritik? Zwölf Jahre nach seinem Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft (1781), und fünf bzw. drei Jahre nach den beiden anderen Kritiken, legt Kant ein weiteres Werk vor, das sich schon mit dem Titel „… innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ in sein kritisches Œuvre einfügt. Man könnte hier, in der Religionsschrift (kürzer: Religion), sogar eine vierte Kritik vermuten. Nach der Erkenntnis (erste Kritik), der Moral (zweite Kritik) und den ästhetischen sowie teleologischen Urteilen (dritte Kritik) richte sich die Kritik jetzt auf die Religion. Die drei Kritiken untersuchen aber menschliche Grundvermögen und deren streng apriorische Gesetze: Die Kritik der reinen, in der dritten Kritik als „theoretisch“ spezifizierten Vernunft widmet sich „den Quellen aller Erkenntnis a priori“ und den Gesetzen der Natur. Die Kritik der praktischen Vernunft untersucht das Vermögen, nach Prinzipien zu handeln, den Willen, und dessen Gesetze der Freiheit. Schließlich befaßt sich die Kritik der Urteilskraft mit dem Urteilsvermögen und dessen subjektiv apriorischen Gesetzen. Ein ähnlich elementares Vermögen kann sich hinsichtlich der Religion vielleicht ein Religionstheoretiker vorstellen. Kant ist ein religiöses Grundvermögen nicht nur de facto fremd. Nach seiner einschlägigen Systematik, der „Einleitung“ (Abschn. III) in die dritte Kritik, kennt er nur die genannten drei Vermögen: (1) das Erkenntnisvermögen, für das „allein der Verstand“, (2) das „Begehungsvermögen“, für das „allein die [praktische] Vernunft“ a priori gesetzgebend ist, und (3) als deren „Mittelglied“ die Urteilskraft (KU, V 176 ff.). Für ein weiteres Vermögen, zumal vom selben Rang, also mit der Fähigkeit zu apriorischen Gesetzen, bleibt kein Raum. Gegen die Erwartung einer vierten Kritik spricht auch der religionsphilosophische Grundgedanke, der die Religion auf die Moral verpflichtet. Zu erwarten ist daher, daß das neue Werk ein schon vorher behandeltes Thema weiter erörtert: die in der ersten Kritik begonnene, in der zweiten Kritik in den Mittelpunkt gerückte und in der dritten Kritik fortgesetzte Moralphilosophie, zusätzlich die ihr vorgelagerte transzendentale Theologie. Statt eine vierte Kritik zu sein, stellt die Religionsschrift die erste größere Veröffentlichung dar, mit der Kant nach Abschluß seines dreiteiligen Kritikunternehmens und unter Voraussetzung deren Einsichten zum doktrinalen Philosophieren übergeht, genauer: zu diesem Philosophieren in Bezug auf die Praxis. Denn die Metaphysische[n] Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786), schon vorher, https://doi.org/10.1515/9783110782424-003

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zwischen der ersten und der zweiten Kritik erschienen, unternehmen für die Natur, was die Metaphysik der Sitten (1797) später, dann in zwei Teilen für die Moral leistet. Schon die Titel der beiden Teile: „Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre“ und „Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre“, lassen die Parallele zur ersten doktrinalen Schrift ins Auge springen. Alle drei als „metaphysische Anfangsgründe“ betitelte Texte, sowohl die Schrift von 1786 als auch die beiden Teile von 1797, entfalten die nach Kant aufgrund der Kritiken mögliche rein rationale, daher „metaphysisch“ genannte philosophische Doktrin. Dort geschieht es für die Natur und deren Wissenschaft, hier für die zweiteilige Moral. Für dieses doktrinale Philosophieren ist die Religion in der Tat nur ein Übergang. Die Schrift bereitet nämlich nicht die Metaphysik der Sitten vor, sondern behandelt Themen, die sich vielleicht von den drei Kritiken her nahelegen, in der moralphilosophischen Doktrin, der Metaphysik der Sitten, aber nicht auftauchen. Weder das Böse noch Grundelemente des Christentums werden dort behandelt, und das Thema Offenbarung wird, in der „Tugendlehre“, nur gestreift. Die für eine säkulare Moralphilosophie provokative Religionsschrift ist im Großen und Ganzen sehr gut komponiert, nur im Kleinen finden sich Schwächen. Beispielsweise führt Kant anders als in seinen anderen Hauptwerken viele lange Fußnoten an. Auch gibt es gewisse Wiederholungen. Beispielsweise wird der Sinnspruch „Ende gut, alles gut“ in einer überlangen Fußnote des zweiten Stücks angeführt (70) und wenige Seiten später im Text, dann als „Sprichwort“, erneut zitiert (77).

1.2 Kants Religionsphilosophie vor der Religionsschrift Vor Kant hat die philosophische Theologie ihren Ort innerhalb der überlieferten Metaphysik und bildet dort die oberste Disziplin. Verstanden als das schlechthin höchste Wesen gilt ihr Grundbegriff, Gott, als Höhepunkt aller Erkenntnis. Seit den Anfängen der Philosophie, namentlich seit Xenophanes, Platon und Aristoteles, bemühen sich die großen Denker das Wesen Gottes mit den Mitteln der natürlichen Vernunft zu erhellen. Bei Kant taucht der Gottesbegriff schon in der vorkritischen Phase, hier sehr früh und dann in naturwissenschaftlich-metaphysischem Zusammenhang auf. Die Jugendschrift Von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746, § 8: I 22) erklärt beispielsweise, es sei „würklich möglich“, daß Gott nicht bloß eine Welt, sondern „viel Millionen Welten erschaffen habe“ (s. auch § 51: I 62). Knapp ein Jahrzehnt später entwirft Kant in der Allgemeine[n] Naturgeschichte und Theorie des Himmels

1 Einführung in Kants Religionsschrift

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(1755) eine auch naturwissenschaftlich bedeutsame Entwicklungsgeschichte des Universums. Obwohl sie sich auf nichts anderes als Newtonsche Physik beruft, also eine rein mechanische Erklärung vornimmt, widerspricht sie nach Kant in keiner Weise der Religion, nämlich dem Gedanken eines in weiser Absicht agierenden Gottes. Denn „die Natur“ kann „auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäßig und ordentlich verfahren“ (I 228). Im selben Jahr skizziert Kant in der „Neuen Erläuterung der ersten Prinzipien der metaphysischen Erkenntnis“, im Siebenten Satz der Nova dilucidatio (1755), einen ontologischen Gottesbeweis: „Es gibt ein Seiendes, dessen Dasein, selbst seiner eigenen und aller Dinge Möglichkeit vorangeht … Es wird Gott genannt“ (I 395). Knapp ein Jahrzehnt später widmet er der Frage des Gottesbeweises eine ganze Abhandlung. Mit einem dem logischen Empirismus des 20. Jahrhunderts vorgreifenden Argument, dem von der doppelten Bedeutung des Wörtchens „ist“, verwirft er zwar die überlieferte Gestalt des ontologischen Gottesbeweises. Wie er schon im Titel Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (1763) ankündigt, hält er aber, optimistisch, einen verbesserten ontologischen Gottesbeweis für beweiskräftig (vgl. II 161). Er spricht ihm sogar „den höchsten Grad mathematischer Gewißheit“ zu (II 155). Noch in einer weiteren Hinsicht ist Kant optimistischer als in seiner späteren kritischen Phase. Er nimmt nicht bloß „Strafen und Belohnungen nach der Ordnung der Natur“ an: „Wilde Wollust und Unmäßigkeiten endigen, in einem siechen und martervollen Leben.“ Er glaubt auch: „Ränke und Arglist scheitern zuletzt und Ehrlichkeit ist am Ende doch die beste Politik“ (II 105). Schon ein Jahr später ist Kant zurückhaltender. In der Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1764) setzt er die Methode der philosophischen Theologie gegen die Methode der Mathematik ab, vergleicht erstere mit Newtons naturwissenschaftlicher Methode und erklärt: Vorausgesetzt, Gott wird als absolut notwendiges Wesen betrachtet, so sind die ersten Gründe der „natürlichen Gottesgelahrtheit“, sprich: natürlichen Theologie, im Unterschied zu den ersten Gründen der Moral „der größten“, aber nicht mathematischen „philosophischen Evidenz fähig“ (II 296 ff.). Die entscheidende Wende erfolgt aber erst mehr als eineinhalb Jahrzehnte später, in Kants überhaupt wichtigstem Werk, der Kritik der reinen Vernunft. In den Träume[n] eines Geistersehers (1766), ihrem „Praktischen Schluß“, greift Kant zwar schon einigen Elementen vor: Die Rede von der„Eitelkeit der Wissenschaft“ und von den größten „Zurüstungen der Gelehrsamkeit“, die „entbehrlich“ werden, läßt schon den Vorrang der reinen praktischen Vernunft ahnen, und von einem wichtigen Lehrstück, dem moralischen Glauben, spricht Kant direkt (II 372 f.). Die volle Relativierung der theoretischen Vernunft läßt aber noch auf sich warten. Im „Übergangstext“, der Dissertation De mundi sensibilis (1771, § 9), hat Gott,

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bestimmt als das höchste Wesen und Ideal der Vollkommenheit, noch eine doppelte theoretische Bedeutung. Er ist sowohl der Erkenntnisgrund („principium cognoscendi“) als auch, real existierend, der Entstehungs- bzw. Schöpfungsgrund („principium fiendi“) aller Vollkommenheit: Die Kritik dagegen bestreitet der realen Existenz jede theoretische Bedeutung. Im Jahre 1775 erläutert Kant in einem längeren Brief an I. C. Lavater (28.4.1775; X 167–170) seine philosophischen Grundüberzeugungen zur Religion, die er in seinen späteren Werken ausarbeiten wird. Schon in diesem Brief (X 168) hält er„die reinste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgenen Gesinnungen des Herzens“ für entscheidend. Ihretwegen sucht er „zuförderst die moralische Lehre [Christi] abgesondert von allen neutestamentischen Satzungen“. Im Vorgriff auf sein Theorem des radikal Bösen spricht er vom „unüberwindlichen Bösen unseres Herzens“. Und er erklärt, sobald „die einzige Religion, worin das wahre Heil des Menschen liegt [die Religion der reinen Gesinnung], einmal gnugsam ausgebreitet ist, […] so muß das Gerüste wegfallen [gemeint sind Satzungen und Wundererzählungen] , wenn schon der Bau da steht“ (X 169). Die Wende in Kants intellektueller Biographie hat vielleicht den Rang einer Revolution innerhalb der philosophischen Theologie, sicherlich den eines Paradigmenwechsels (knapp dazu: Höffe 62023, Kap. 19 und 21.2). Die Neuorientierung besteht aus drei Teilen: Als erstes verwirft Kant alle Versuche, Gott objektiv zu erkennen, insbesondere das Ansinnen, sein Dasein sei in theoretischer Hinsicht beweisbar. Zweitens tritt an die Stelle von Gott als einer objektiv erkennbaren transzendenten Idee das transzendentale Ideal. Als Prinzip der Vollständigkeit von Erkenntnis vollendet es Kants neue Metaphysik der Erfahrung, hat mit einer religiösen Gottesvorstellung aber wenig zu tun. Die erste Kritik bereitet drittens, hier in Übereinstimmung mit der moralischen Deutung der Aufklärungszeit (vgl. Lessings Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts, 1777, auch Humes Dialogues concerning Natural Religion, postum: 1779), den Boden für eine Moraltheologie: Dem primären Ort der legitimen Gottesfrage bildet nicht mehr die theoretische, erkennende, sondern die reine praktische, moralisch motivierende Vernunft. Aus dem Scheitern aller Gottesbeweise leitet Kant nämlich nicht die Behauptung ab, Gott existiere nicht, denn die negative Behauptung sei ebensowenig zu beweisen wie die positive. Außer der theoretischen („spekulativen“) Theologie verwirft Kant auch einen theoretischen (spekulativen) Atheismus, der das Nichtsein Gottes zu demonstrieren vorgibt. Darüber hinaus lehnt er jenen theologischen Positivismus ab, der die Vorstellung von Gott für undenkbar und für der Vernunft unwürdig hält. Kants These lautet nicht: Es gibt keinen Gott, sondern: Gott entzieht sich einer Vergegenständlichung. Für jede objektivierende Rede ist er „der ganz Andere“.

1 Einführung in Kants Religionsschrift

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Nur ein negatives Resultat für die philosophische Theologie hat die Kritik der reinen Vernunft nicht.Vor Kant haben die Philosophen Gott vor allem via eminentiae et analogiae, das heißt auf dem Weg einer Extrapolation von Substanz- und Eigenschaftsbegriffen, gedacht. Gott galt als schlechthin höchste Substanz: als Urbild aller Dinge, und als Inbegriff aller höchsten Eigenschaften: als allmächtig, allwissend, allgerecht, allgütig usw., kurz als allervollkommenstes Wesen. Die erste Kritik lehnt diese Methode nicht rundweg ab, verlangt aber eine Ergänzung durch die via reductionis, den „Schritt zurück“. Ihm zufolge bleibt Gott ein höchster Gegenstand: die vernunftnotwendig zu denkende Totalität aller möglichen Sachhaltigkeit (ens realissimum) und zugleich deren Ursprung (ens perfectissimum). Dieser Gegenstand existiert aber nicht jenseits aller Erfahrung als objektive Person und Urheber der Welt. Er ist nicht länger ein transzendentes Wesen, sondern ein transzendentales Ideal, übrigens „das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist“ (KrV, B 604). Als transzendentales Ideal ist Gott eine a priorische Vorstellung, die diesseits der Erfahrung, gleichsam hinter ihrem Rücken, liegt und trotzdem für sie notwendig ist. Denn nur unter Voraussetzung dieses Ideals läßt sich nach Kant das Leitziel aller Forschung, die vollständige Erkenntnis von etwas, und lassen sich entsprechend die Wissenschaften als eine umfassende und systematische Erfahrung denken. (Zur näheren Interpretation s. Höffe 42002, Kap. 19.) Kants konstruktiver Beitrag geht noch weiter. Da Gott widerspruchsfrei gedacht, aber nicht theoretisch erkannt werden kann, gründet die einzige vernunftmögliche Theologie auf moralischen Gesetzen (KrV, B 664). Aus diesem Grund erbringt die erste Kritik eine häufig überlesene konstruktive Leistung: Sie skizziert die Grundzüge einer Moralphilosophie, einschließlich des Gedankens vom höchsten Gut (B 832 ff.), und stellt dem Gedanken eines doktrinalen Glaubens den eines moralischen Glaubens entgegen (B 855): Für Kant ist Gott jetzt nicht länger ein Gegenstand des Wissens, vielmehr des Hoffens, freilich nicht eines schwärmerischen, sondern eines vernünftigen Hoffens. Von Kants berühmten drei Fragen – Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? – enthält die Theorie des moralischen Glaubens nur eine Teilantwort auf die dritte Frage. Die andere Teilantwort gibt Kant in seiner Geschichtsphilosophie, in deren Theorie des Rechtsfortschritts (Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 1784, 5.–9. Satz; siehe auch Der Streit der Fakultäten, 2. Abschn., „Erneuerte Frage: Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei?“). Knapp ein Jahrzehnt nach der Idee erwähnt Kant in einem Brief an den Göttinger Theologen, dem er den Streit der Fakultäten (1798) zueignet, C. F. Stäudlin, bei der dritten Frage allerdings nur die Religion (4. Mai 1793, in: Briefe, XI 414). In der ersten Kritik erklärt Kant Gott und die Annahme einer anderen Welt, mit ihr auch die unsterbliche Seele zu jenen Gegenständen eines moralischen Glaubens,

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die die zweite Kritik als Postulate der reinen praktischen Vernunft untersucht. Nicht zuletzt präzisiert schon die erste Kritik das für eine autonome Moral charakteristische Verhältnis zur Theonomie: daß wir „Handlungen nicht darum für verbindlich halten, weil sie Gebote Gottes sind, sondern sie darum als göttliche Gebote ansehen, weil wir dazu innerlich verbindlich sind“ (B 847). Die dritte Kritik bekräftigt auf ihre Weise den Vorrang der Moral und das damit zusammenhängende moralische Gottespostulat. Daher verdient Kants kritisches Oeuvre diese heterodoxe, sogar häretische Lektüre: Nicht nur befassen sich alle drei Kritiken mit einer moralischen Welt, mit dem Urheber dieser Welt und mit der besonderen Art, diesen zu „wissen“. Die kritische Transzendentalphilosophie erreicht in diesen Erörterungen auch einen, vielleicht sogar den Höhepunkt (vgl. Höffe 2 2018, 366). Alle drei Kritiken gipfeln in einer philosophischen Religion, freilich einer rein natürlichen, von keinerlei heiligen Schriften inspirierten Religion. Hinsichtlich dieser Religion zeigt sich übrigens in den drei Kritiken eine Entwicklung. Abgesehen von einer Fußnote in der ersten Vorrede (KrV, A xi) ist in der ersten Kritik nicht von Religion, sondern nur von Theologie und deren Grundbegriff Gott die Rede. In der zweiten Kritik spricht Kant beim Gottespostulat von Religion und bestimmt sie als „Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, nicht als Sanktionen … eines fremden Willens“ (KpV, V 129). Die dritte Kritik erweitert schließlich den Themenbereich: Von Religion ist jetzt in der Theorie des (dynamisch) Erhabenen (KU, V 263 f.), ferner beim Geschmackurteil (283) und beim „Nutzen des moralischen Arguments“ (459) die Rede sowie in der Allgemeinen Anmerkung zur Teleologie, wo Kant die Bestimmung der zweiten Kritik aufnimmt, daß die Religion „Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ ist (481).

1.3 Neuerungen der Religionsschrift Nach einer ersten Einschätzung setzt die Religionsschrift Kants rein philosophische Theologie fort; insbesondere werden die einschlägigen Gedanken der zweiten Kritik konsequent entfaltet. Diese Einschätzung ist richtig, aber nur zur Hälfte wahr. Denn die Schrift bleibt der moralischen Interpretation der Theologie bzw. Religion treu, womit letztere als weder irrational noch als vernunftwidrig erscheint. Kant betrachtet aber mehr als nur die Religion überhaupt. Er erweitert diesen Allgemeinen Teil einer Religionsphilosophie um einen Besonderen Teil, der eine bestimmte Religion näher in den Blick nimmt und dabei ein sowohl inhaltlich als auch methodisch neues Element in die Debatte bringt: Inhaltlich geht Kant auf Grundbausteine des Christentums ein, und methodisch setzt er sich mit dem Gedanken einer übernatürlichen Offenbarung auseinander, womit eine heilige Schrift, mithin ein autoritativ vorgegebener Text ins Spiel

1 Einführung in Kants Religionsschrift

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kommt. Dabei scheint er den Ansatz der drei Kritiken, den Standpunkt der von aller Offenbarung emanzipierten, rein natürlichen Vernunft aufzugeben. Tatsächlich nimmt er eine raffinierte Erweiterung vor: Die natürliche Theologie wirft einen Blick über ihre Grenzen und läßt sich vom Jenseits der natürlichen Vernunft, der übernatürlichen Offenbarung, über die Frage belehren, mit welchen Themen, und zwar menschlichen Grundthemen, mit welchen anthropologischen Elementen, vielleicht sogar anthropologischen Konstanten, eine rundum sachgerechte, also eine nicht nur der Sache der Philosophie, sondern auch der Sache der Religion gerechte Religionsphilosophie sich sinnvollerweise befaßt. Die Religionsschrift schließt sich also an die Moraltheologie der drei Kritiken nahtlos an und nimmt zugleich eine erhebliche Erweiterung vor. Sie spricht nicht nur von den Postulaten der reinen praktischen Vernunft, also von Gott, der unsterblichen Seele und der Freiheit. Sie setzt sich auch mit dem Gedanken einer übernatürlichen Offenbarung auseinander und geht auf Grundlehren des Christentums ein: auf die Erbsünde, auf die Christologie (nicht Sokrates, sondern Christus ist das Ideal der Menschheit), auf die letzten Dinge und auf die Kirche, auch auf die Gnaden- und Rechtfertigungslehre, die Kant teilweise atemraubend (um‐)interpretiert. (Indem man selber die Revolution der Gesinnung zu vollziehen hat, schenkt man sich gewissermaßen selber Gnade, während die göttliche Gnade nur unterstützend wirkt: 51 f., 174) Man kann in diesen Themen „Zentraldogmen des lutherischen Pietismus“ (Troeltsch 1904, 74) wiederfinden. Man muß dabei aber Kants Neuinterpretation betonen, ferner ergänzen, daß die Trinitätslehre zurückgewiesen und die Kosmologie nicht in die Moralreligion eingepaßt wird. Und vor allem ist das Selektionsprinzip zu beachten: Kant richtet sich nicht nach einer christlichen Konfession aus; im Gegenteil pflegt er gegen die Hauptkonfessionen gleichermaßen Distanz. Ihn leitet allein die reine praktische Vernunft. Ohne eine Offenbarung für wertlos oder für unmöglich zu halten, lassen sich nach Kant diese vier oder fünf Grundlehren rein philosophisch, also ohne Berufung auf eine Offenbarung, begründen. Vorausgesetzt ist, daß man nicht bei den Prinzipien der Moral stehen bleibt, sondern zusätzlich auf eine menschliche Grunderfahrung zurückgreift, auf die „die menschliche, theils mit guten theils bösen Anlagen behaftete Natur“ (11).¹ Hinzu kommen zwei weitere Voraussetzungen, jetzt von seiten der Offenbarung und des Christentums: Erstens setzt Kant in der Bibel alle Elemente jüdischer Theokratie (griech.: Gottesherrschaft, hier im Sinne einer rein religiös begründeten Staatsgewalt) beiseite und behält nur den „christlichen Anteil“ bei (78). Zweitens

1 Bloße arabische Ziffern, ohne vorangehende römische Ziffern beziehen sich auf die Seiten der Akademie-Ausgabe der Religionsschrift, Bd. VI 1–202.

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werden die biblischen Geschichten ihrer „mystischen Hülle entkleidet“ (83), dabei zugleich entindividualisiert und enthistorisiert. Beispielsweise ist nirgendwo von einer historischen Person, Jesus von Nazareth, die Rede, wohl aber von einer die stoische Weltweisheit noch steigernden Weisheit (58 f.). Erneut erscheint Christus, nicht Sokrates als Vor- und Urbild der Menschheit. Allerdings bestreitet Kant die Einmaligkeit dieser die Moral in ihrer höchsten Reinheit lehrenden Person. An die Stelle von historischen Eigennamen treten jene Sachbegriffe wie zum Beispiel „Ideal der moralischen Vollkommenheit“ (61), die für eine universale Vernunft- und Moralreligion unverzichtbar sind. Unter diesen Voraussetzungen hält Kant an einer Grundidee der Aufklärung fest, daß es nur eine wahre Religion geben kann und diese der Vernunft nicht widersprechen darf. Selbstbewußt erklärt er, hier als Anwalt kritischer Vernunft: „eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“ (10). Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, daß die Lehren der Religion „von übernatürlich inspirierten Männern“ herrühren (Fak., VII 6). Zuerst durch eine Offenbarung bekannt, werden sie in diesem Fall durch die Vernunft nur nachträglich geprüft. Auf das Selbstverständnis des Christentums, die (einzig) wahre Religion zu sein, nimmt Kant in zwei Schritten Bezug. Einerseits räumt er unter den bekannten Religionen dem Christentum deshalb einen Vorrang ein, weil es in seinem Kern rein vernünftig sei. Andererseits überantwortet er die Entscheidung über das, was den Kern des Christentums ausmache, der moralischen, also reinen praktischen Vernunft. Rein sachlich gesehen bedarf zwar die wahre Religion keiner geschichtlichen Offenbarung, so daß man ein religiöser Mensch sein kann, ohne an die Offenbarung zu glauben und ohne das Credo einer sichtbaren Kirche zu teilen. Historisch betrachtet kann jedoch die wahre Religion mit einer Offenbarung beginnen. Eine rein philosophische Religionslehre hält sich daher „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, ohne zu behaupten, daß alle Religion „aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung)“ stammt (Fak., VII 6). In der Vorrede zur zweiten Auflage erläutert Kant die Beziehungen durch Vergleich mit zwei konzentrischen Kreisen: Den äußersten Kreis, gewissermaßen die (entbehrliche) Hülle, bildet die Offenbarung mit ihren historischen Elementen, den engeren Kreis, mithin den unverzichtbaren Kern, die von allem Historischen absehende reine Vernunftreligion (12). Da die Philosophie den Wahrheitsanspruch der christlichen Offenbarung nicht von vornherein bestreiten kann, geht Kant von einer möglichen Einheit der philosophischen und der christlichen, aus der Bibel stammenden Theologie aus (12 f.). Ohne seine Gegenüberstellung vom moralischen Gedanken als dem Kern und dem bloß doktrinalem Glauben als der Hülle aufzugeben, aber von der Hypothese einer

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Übereinstimmung von Offenbarung und bloßer Vernunft geleitet (vgl. „nicht blos Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit“: 13), gelingt ihm eine sowohl philosophisch als auch theologisch beeindruckende Neuinterpretation biblischer Geschichten. Die dieser Neuinterpretation angemessene hermeneutische Maxime fordert, die Grundaussagen der Bibel als moralische Sätze zu verstehen, die sich auf die genannte Grunderfahrung beziehen. Paradoxerweise wird dadurch die christliche Religion letztlich zur natürlichen, gleichwohl geoffenbarten Religion: zu einer Religion, auf die „die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft … von selbst hätten kommen können und sollen“ (155). Schon im Titel ihres ersten Teils nennt die Religion die einschlägige, seither berühmte These Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem guten: oder Über das radikale Böse in der menschlichen Natur. Mit dieser Behauptung greift nun Kant die Lehre der Erbsünde auf: Als ein Hang findet sich das Böse nicht nur bei diesem oder jenem Individuum, sondern bei der ganzen Gattung, selbst bei moralisch vorbildlichen Menschen, und sie geht allen einzelnen Handlungen voraus. Trotzdem entspringt es nicht einer biologischen Anlage, etwa einer in der Sinnlichkeit begründeten Verführbarkeit des Menschen. Der Hang zum Bösen kann vielmehr der Freiheit des Menschen zugerechnet werden, etwa seiner Bereitschaft, im Konfliktfall sinnlichen Neigungen nachzugeben, vorsichtiger gesagt: dem Hang, nicht a priori den konkurrierenden Neigungen zu widersprechen. Der Mensch ist nicht bloß von Natur, sondern, so die zweite Teilbehauptung, auch radikal böse. Danach ist der Mensch nicht durch und durch, wohl aber wurzelhaft böse (das lateinische Wort radix bedeutet Wurzel). Wie es eine vielfache Erfahrung zeige, daher einen förmlichen Beweis überflüssig mache, habe der Mensch nicht bloß die natürlichen, für sich genommen moralisch indifferenten Neigungen. Er habe auch eine Art Neigung zweiter Stufe oder Metaneigung, nämlich den grundlegenden Hang, diese Neigungen auch im Fall eines Konflikts mit dem moralischen Gesetz, zum letzten Bestimmungsgrund seines Handelns zu machen. Damit setzt sich der Mensch in Widerspruch zum Gesetz, obwohl er sich dessen bewußt ist. Eine solche Ablehnung des Gesetzes bedeutet mehr als bloße Gebrechlichkeit (im Sinne von moralischer Unzuverlässigkeit) und Unlauterkeit. Als Hang, gegebenenfalls moralwidrige, böse Maximen anzunehmen, ist sie Bösartigkeit. Gleichwohl handelt es sich nicht um jene Bosheit, die das Böse als Böses zur Triebfeder macht, was Kant „teuflisch“ nennt. Kant hält die Bösartigkeit qua Hang für angeboren, freilich nicht im biologischen Sinn, weshalb es zur Überwindung nicht nur eine Besserung der Sitten, eine Disziplinierung der von Natur aus undisziplinierten Neigungen, braucht. Vielmehr ist eine Revolution der Gesinnung notwendig. Diese Theorie vom radikal Bösen bildet zu Kants Moralphilosophie keine zufällige Beigabe. Sie ist vielmehr mit deren Lehre vom Menschen als einem endlichen

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Vernunftwesen eng verbunden; allerdings setzt sie in dieser Lehre einen neuen Akzent: Die Freiheit eines Wesens, das nicht von Natur reine (praktische) Vernunft ist, bleibt stets gefährdet. Denn sie schließt verhängnisvollerweise die Fähigkeit zum Bösen, den Hang dazu und die stets drohende Aktualisierung, das Tun des Bösen, ein. Wie Kant am Ende des hier einschlägigen ersten Stücks betont, hat der Gedanke des radikal Bösen keinen Platz in der Lehre der moralischen Pflichten, der moralischen Dogmatik. Er spielt nur in deren Ergänzung, der moralischen Asketik, eine Rolle: Bei der Kultivierung der moralischen Anlage zum Guten kann man „nicht von einer uns natürlichen Unschuld“ anfangen, sondern wir müssen vom unvertilgbaren Hang ausgehen, „der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider“ zu handeln (50 f.). Die Anerkennung des Bösen, damit verbunden des unverschuldeten Leidens in der Welt, ist ein religiöses Problem ersten Ranges: Warum hat ein Wesen, das in seiner Allwissenheit jedes Leiden kennt, es in seiner Allmacht verhindern könnte und in seiner Allgüte auch verhindern sollte, warum hat Gott trotzdem das Leiden, sogar das von Unschuldigen und Gerechten, zugelassen? Einen besonderen wirkungsmächtigen Antwortversuch bietet die alttestamentliche Erzählung von Hiob, einem Gerechten, der zunächst in höchstes Unglück stürzt, sich aber am Ende und schon innerweltlich wieder eines großen Wohlergehens erfreut. In der Philosophie hat vor allem Leibniz unter dem Stichwort der Theodizee, der Rechtfertigung Gottes angesichts des Bösen (allgemeiner: des Zweckwidrigen) in der Welt, die Frage nach der Herkunft des Bösen gestellt. Die Religion entwirft eine Lösung von bemerkenswerter Originalität. Sie erwächst aus Kants Philosophie der Freiheit und einer auf das Prinzip Hoffnung verpflichteten Religionsphilosophie. (Ansätze einer Theodizee finden sich schon in Kants Schrift Mutmaßlicher Anfang der Menschengeschichte, insbesondere im „Beschluß der Geschichte“.) Kant lehnt all jene Antworten auf die Theodizee-Frage ab, die das Problem des Bösen nicht in seiner vollen Schärfe wahrhaben wollen. Im einzelnen verwirft er eine naturhaft-biologische Auffassung, wie sie etwa die Epikureer und die Stoiker sowie deren Nachfolger bis in die Gegenwart vertreten haben. Ferner widerspricht er einem naiven Optimismus, der das Problem entschärft und mit allen gutmütigen Moralisten von Seneca über Rousseau (vgl. 20) bis später zu den Marxisten an naturhaft gute Menschen glaubt, die nur durch die gesellschaftlichen Zustände schlecht und böse geworden sind. Die Lehre vom radikal Bösen lehnt aber außer der biologischen Auffassung nicht bloß einen derart utopischen Optimismus, sondern auch einen heroischen Pessimismus ab, der die totale Verfallenheit des Menschen an das Böse behauptet. Alle drei Vorstellungen widersprechen der These vom Ursprung des Bösen in der Freiheit und der mit der Freiheit gegebenen Möglichkeit, das Böse zu überwinden.

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Wegen des teils guten, teils bösen Prinzips im Menschen kommt es, so der zweite Teil, zum Kampf des guten Prinzips mit dem bösen um die Herrschaft über den Menschen. Kant entwickelt hier seine „philosophische Christologie“. Für den siegreichen Kampf des Guten über das Böse reicht es nicht – mit den Stoikern in Kants Verständnis – aus, die Neigungen als Hindernisse der Pflichterfüllung zu überwinden. Es braucht auch ein reines Vorbild, die Person gewordene Idee des Guten. Christus, der „Sohn Gottes“, als „Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit“ (75 f.), ist „die Menschheit (das vernünftige Weltwesen überhaupt) in ihrer moralischen ganzen Vollkommenheit“ (60). Dieses gibt allen Menschen das Beispiel lauterer Moralität, wodurch das böse Prinzip zwar nicht völlig ausgerottet, doch in seiner Gewalt gebrochen wird. Im dritten Teil Vom Sieg des guten Prinzips über das böse und die Gründung eines Reichs Gottes auf Erden entwickelt Kant seine philosophische Eschatologie (griech. Lehre von den letzten Dingen) und beginnt seine philosophische Ekklesiologie (griech. Lehre der Kirche). Hier fordert Kant die Menschen auf, den ethischen Naturzustand zu verlassen. So wie im rechtlichen („juridischen“) Naturzustand ein Krieg aller gegen alle herrscht, meint der ethische einen „Zustand der unaufhörlichen Befehdung des guten Princips, das in jedem Menschen liegt, durch das Böse“ (97). Überwunden wird der ethische Naturzustand durch eine Gemeinschaft, in der im Unterschied zum zwangsfähigen Recht die Tugendgesetze frei von allem Zwang anerkannt werden. Sich zu einer derartigen Gemeinschaft zusammenzuschließen ist nach Kant eine Pflicht, die das Menschengeschlecht als Gattung zu erfüllen hat. Damit geht der Philosoph über seine bisherige Religionsphilosophie deutlich hinaus. Nach der ersten Kritik ist die moralische Welt, auch Reich der Zwecke genannt, „nur eine Idee“ (KrV, B 838). Nach der Religion hat der Mensch die Pflicht, diese Idee „nach Kräften zu verwirklichen“ (98). Und dies geschieht in der Gestalt eines zu erwartenden und zu befördernden ethischen Gemeinwesens. Da die ethische Gesetzgebung etwas Innerliches, nämlich die Moralität befördern soll, kann es weder eine Aufgabe noch eine Befugnis des rechtlichen Gesetzgebers sein, sich um die Aufhebung des ethischen Naturzustandes zu bemühen. Aus demselben Grund ist der Gesetzgeber hier ein anderer als der im rechtlichen Gemeinwesen. Er ist weder der allgemeine Wille, das Volk, noch eine Obrigkeit, die die ethischen Gesetze als Befehle erläßt, wodurch die zwanglose Tugendgesetze ihr Wesen, die Zwanglosigkeit verlören und zu zwangsfähigen Rechtsgesetzen würden. Der ethische Gesetzgeber ist jemand, bei dem „alle wahren Pflichten … zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen“. Ein solcher Gesetzgeber ist offensichtlich Gott, verstanden als „moralischer Weltherrscher“, und ein ethisches Gemeinwesen ist „nur als ein Volk unter göttlichen Geboten, d. i. als ein Volk Gottes, und zwar nach Tugendgesetzen, zu denken möglich“ (99). Diesem Gedanken greift übrigens die

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zweite Kritik schon vor, wenn sie das Reich Gottes bestimmt als „Darstellung der Welt, darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetz von ganzer Seele weihen“: V 128). Im Unterschied zu einem bürgerlichen Gemeinwesen ist das ethische keine partikulare, sondern eine universale, alle Menschen umfassende Einheit. Im Gegensatz zu einer etwaigen Weltrepublik hat sie nicht sekundär, als globale Republik der Republiken, sondern von vornherein und streng a priori den universalen Charakter. Der Grund: Sie basiert auf einem reinen Religionsglauben, der als bloßer Vernunftglaube jedermann überzeugen kann. Ein Glaube dagegen, der auf historischen Tatsachen aufbaut, ist nur begrenzt, nämlich räumlich und zeitlich nur so weit glaubwürdig, wie die Nachrichten über diese Tatsachen glaubwürdig dorthin gelangen (102 f.). Wegen der Innerlichkeit der Tugend ist diese kein Gegenstand möglicher Erfahrung, so daß auch die allein durch Tugendgesetze bestimmte Gemeinschaft in der Erfahrung nicht vorkommt. Als Gemeinschaft aller „Menschen guten Willens“ ist das Reich Gottes der Sonderfall einer sozialen Einheit, die jede sichtbare Organisation ablehnt, folglich eine unsichtbare Kirche: die „bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen … moralischen Weltregierung“ (101). Für sie gelten laut Kant dieselben Eigenschaften, die das christliche Credo bekennt: Die unsichtbare Kirche ist allgemein, da sie, lediglich auf der Vernunft aufbauend (vgl. Fak., VII 49 f.), numerisch eine ist. Sie ist heilig, weil sie als Gemeinschaft nach Tugendgesetzen durch völlige Lauterkeit und moralische Reinheit bestimmt wird. Schließlich ist sie apostolisch, da ihre Verfassung, die moralische Gesetzgebung, unveränderlich ist. Wegen der Unsichtbarkeit ist das Reich Gottes grundsätzlich nicht in einem geschichtlichen Staat, einem „messianischen Erdenreich“ (Vorarbeiten zur Religionsschrift, XXIII 112), zu verwirklichen. Entgegen den vielfachen Versuchen säkularer Theokratien ist das Reich Gottes kein politisches Imperium, das sich durch einen Fortschritt an politischer Gerechtigkeit verwirklichen ließe. Das bedeutet nicht, das Reich Gottes könne nichts anderes als ein Mythos oder eine Chiffre sein. Für Kant ist es ein ethisches Reich und bildet den moralischen Endzweck, so wie im ewigen Frieden einer weltweiten Rechtsgemeinschaft der rechtliche Endzweck der Menschheit liegt. Obwohl die Gemeinschaft nach Tugendgesetzen in einer unsichtbaren Kirche besteht, verwirft Kant, auf den ersten Blick erstaunlich, nicht jede sichtbare Organisation. Denn eine Bedingung, die veritable Öffentlichkeit, gewinnt ein Gemeinwesen erst, wenn es zu einer sinnlichen Form findet, hier zur sichtbaren Kirche. Ihr räumt Kant eine moralpädagogische Aufgabe ein: Ihr Recht und zugleich ihre Aufgabe liegt in der sinnlichen Darstellung der moralischen Idee des Gottesreiches. Er warnt allerdings davor, die sinnliche Darstellung für die Sache selbst zu halten. Den ersten Grund aller wahren Religion bildet die rein moralische Gesetzgebung.

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Durch sie ist „der Wille Gottes ursprünglich in unser Herz geschrieben“ (104). Folgerichtig kündigt sich das Nahen des Gottesreiches nicht durch den Glanz einer sichtbaren Kirche, sondern dadurch an, daß der bloße Kirchenglaube sich allmählich in einen reinen Vernunftglauben, den moralischen Religionsglauben, wandelt. Denn „die reine moralische Gesetzgebung“ ist „nicht allein die unumgängliche Bedingung aller wahren Religion überhaupt, sondern sie ist auch das, was diese selbst eigentlich ausmacht“ (ebd.). Im vierten Teil schließlich, Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips, oder Von Religion und Pfaffentum, beschließt Kant seine philosophische Ekklesiologie. Ähnlich wie schon Rousseau (Contrat social, 1762, IV 8) setzt er die moralische Religion des guten Lebenswandels von allen Religionen der Gunstbewerbung (des bloßen Kultus durch Satzungen und Observanzen) ab. Jede religiös opportunistische Absicht, die im Abweichen von der moralischen Gesinnung auf das Wohlgefallen Gottes und seine Gnadenwirkung spekuliert, ist wegen ihres Widerspruchs zum Prinzip der Autonomie moralisch zu verwerfen.

1.4 Zum Titel Kant wählt für seine Werke sprechende Titel. Im Fall der Religionsschrift kündigt der Titel die Fortsetzung des kritischen Programms und zugleich dessen thematische Erweiterung an. Trotzdem stellen sich einige Rückfragen; sie beginnen mit dem ersten Titelbegriff: Warum befaßt sich Kant noch einmal und so gründlich mit der Religion, obwohl er sie wie skizziert schon in der vorkritischen Zeit und vor allem in allen drei Kritiken in den Blick nimmt? In der ersten Kritik wird zumindest der Gottesbegriff umfassend und, so hat man den Eindruck, aus Kantischer Sicht erschöpfend erörtert. Außerdem werden weitere religionsphilosophische, namentlich moraltheologische Fragen abgehandelt, um in den beiden nächsten Kritiken teils erweitert, teils vertieft zu werden. Wenn sich der Philosoph dem Thema der Religion erneut zuwendet, so ist eine korrigierende Neubehandlung nicht ausgeschlossen. Kants systematische Planung seiner Abfolge der Werke läßt aber eher erwarten, daß dieses Mal nicht wieder nur der Gottesbegriff und die anderen religionsphilosophischen Themen der drei Kritiken, sondern weitere Themen in den Vordergrund treten. Schon ein oberflächiger Blick in den Inhalt der Religion bestätigt die Erwartung. Als erstes taucht der Begriff des Bösen auf (Erstes und Zweites Stück), als nächstes zwar Gott, aber unter dem der ersten Kritik fremden, in der zweiten bloß nebenbei auftauchenden Stichwort „Reich Gottes auf Erden“ (Drittes Stück). Und den Abschluß bildet der „Dienst und Afterdienst“ in einer Religion (Viertes Stück).

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Wie in seinem kritischen Werk üblich, behandelt Kant seinen Gegenstand unter dem doppelten Blickwinkel von Vernunft und deren Grenzen. Dabei pflegt er der Vernunft einen qualifizierenden Zusatz beizugeben. Er spricht von der theoretischen, auf Erkenntnis bezogenen, von der praktischen, aufs Handeln orientierten und von der reinen, nämlich von allen vernunftfremden Elementen freien Vernunft. Erstaunlicherweise erhält die Vernunft in der Religion eine weitere Qualifikation, was eine zweite Rückfrage aufwirft: Die genannten Leitbegriffe der Religionsschrift gehören, angefangen mit dem Bösen, nicht zum Erkennen, sondern zum Handeln, so daß man im Titel die „praktische“ oder „reine praktische“ Vernunft erwartet. Tatsächlich ist von „bloßer“ Vernunft die Rede; diese pflegt man gern als „reine Vernunft“ zu verstehen. Bei einem so begriffsgenauen und zugleich begriffssicheren Philosophen wie Kant sollte man sich aber besser fragen, ob tatsächlich ein Synonym zu „rein“ gemeint ist, oder ob die neue Qualifikation nicht auch Neues bedeutet. Nach dem Deutschen Wörterbuch (2, 144–150) beginnen die Bedeutungen von „bloß“ (dort „blosz“ geschrieben) mit „unbekleidet, nackt“ und „ohne Waffen und Rüstung“. Über „unbewachsen, kahl, leer“, auch „schlicht, lauter, einfach“ reichen sie bis zu „entblößt, dürftig, arm“ und „nur, allein“. Fraglos sind die zwei Ausdrücke „rein“ und „bloß“ miteinander verwandt; beide heben auf die von fremden Elementen freie Sache ab. Der Blickwinkel und die sich daraus ergebende Färbung sind jedoch verschieden. Der Ausdruck „rein“ klingt ausschließlich positiv; er läßt an „unvermischt“ und an „weder verunreinigt noch verwässert“ denken. Bei „bloß“ muß zwar nicht Negatives gemeint sein, es schwingt aber ein Mangel, ein Defizit mit. Ob Kleidung, Waffen oder Laub – „bloß“ bedeutet, daß Derartiges fehlt. Der Ausdruck führt eine privatio, ein Beraubtsein, mit sich, was sich zum genannten „entblößt, dürftig, arm“ steigern kann. Der Teiltitel „bloße Vernunft“ kündigt daher eine Vernunft an, die von vernunftfremden Elementen frei ist, dieses Freisein aber nicht als rundum positive Auszeichnung, als Lobenswertes, gewissermaßen als Schmuck, mit sich führt. Vielmehr fehlt ihr etwas. Bezogen auf den ersten Titelbegriff, das Thema, besagt er: Die Sache der Religion läßt sich nicht auf die Vernunft verkürzen. Aus Gründen der eigenen Kompetenz beschränkt sich der Philosoph aber auf die Fähigkeit seines Metiers und betrachtet die Religion lediglich vom Standpunkt der Vernunft. In diesem Sinn betont Kant später, in der„Vorrede“ zum Streit der Fakultäten, sein Titel laute nicht „Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung)“, was eine Anmaßung bedeutet hätte. Ihm gehe es um das, was in der „für offenbart geglaubten Religion“ schon durch bloße Vernunft erkennbar sei (VII 6; vgl. Tugendlehre, „Beschluß“: VI 488, und in den „Vorarbeiten zur Religionsschrift“ XXIII 91). Auch der dritte Teil im Titel „innerhalb der Grenzen“ ist in dieser Hinsicht zu verstehen, als eine Bescheidenheit der Vernunft und ihres professionellen Sach-

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waltes, der Philosophie. Kant wehrt einen „disziplinären Imperialismus“, nämlich den Anspruch ab, die eigene Disziplin könne den Gegenstand umfassend sachgerecht abhandeln. Die Philosophie vermag durchaus ihren Gegenstand sachgerecht, aber nicht umfassend sachgerecht zu untersuchen. Der Gesamttitel besagt daher, die Religion werde hier lediglich („bloß“) vom Standpunkt der Vernunft behandelt, obwohl weitere Behandlungen nicht bloß möglich, sondern auch sinnvoll sind. Durch den Titel wird die Behandlungsart sowohl präzisiert als auch einschränkt. Das Vorhaben ist also unbescheiden und bescheiden zugleich. Unbescheiden ist es, weil Kant dem in der ersten Kritik erhobenen Anspruch treu bleibt, die Religion trotz ihrer Heiligkeit vor den Richterstuhl der Vernunft zu ziehen. Bei diesem stolzen Anspruch bleibt er aber nicht stehen, ergänzt und korrigiert ihn vielmehr durch Bescheidenheit: Für die Religion gibt es Elemente, die der Vernunft entzogen sind, was die Vernunft auf ihre Grenzen hinweist: Außer dem Vernunftblick auf die Religion gibt es auf sie einen außervernünftigen, deshalb aber nicht unvernünftigen Blick. Auf den Gottesbegriff bezogen heißt es, der Gott der Philosophen ist nicht der einzige (legitime) Gott. (Darf man hier an Pascals berühmtes Wort denken, das er sich in den Saum seines Gewandes eingenäht hat: „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Nicht der Gott der Philosophen“? Zitiert wird Pascal freilich nicht.)

1.5 Eine Fülle von Lesarten So intensiv wie viele andere Werke Kants wird die Religionsschrift nicht studiert. Selbst wenn ihr philosophisches Gewicht nicht das der drei Kritiken erreicht, hat sie jedoch eine facettenreich enorme, sowohl kantinterne als auch über Kant weit hinausreichende Bedeutung. Um sie auszuloten, verdient die Schrift mehrere, mindestens neun Lesarten. Sie schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ergänzen einander, und ein dem Text sachgerechtes Verständnis geht auf sie alle ein: Die erste Lesart ist schon erwähnt: Die Religionsschrift setzt offensichtlich Kants kritisches Programm fort. Wegen ihres Gegenstandes, der Religion, hat die Schrift ebenso offensichtlich als zweites eine religionswissenschaftliche Bedeutung. Da sich Kant mit der Religion, namentlich ihrem Grundbegriff „Gott“, schon in der vorkritischen Zeit, später in allen drei Kritiken befaßt, versprechen diese beiden ersten Lesarten wenig Neues. Dieser Eindruck täuscht. Neu ist nämlich die Art der Kritik, und diese schlägt auf das Verständnis des Gegenstandes durch. Die Religion tritt nämlich nicht nur als Gegenstand der Kritik, sondern in gewisser Hinsicht auch als Autor auf. Nach der Vorrede der ersten Kritik ist die Religion nur deren Gegenstand. In Kants Epoche, dem „eigentliche[n] Zeitalter der Kritik“, muß sich ihr „alles unterwerfen“, einschließlich der Religion, obwohl sie „durch ihre Heiligkeit sich gemei-

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niglich derselben [der Kritik] entziehen“ will (A xi). In der Religionsschrift ist die Religion dagegen nicht lediglich ein Objekt der Kritik, sondern erhält auch einen Subjektcharakter. Im Rahmen der Moral erfüllt sie nämlich eine legitimatorische Aufgabe. Kant erklärt zwar schon in den allerersten Sätzen: „Die Moral… bedarf weder der Idee eines andern Wesens über ihm [dem Menschen], um seine Pflicht zu erkennen, noch einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst, um sie zu beobachten… Sie bedarf also zum Behuf ihrer selbst … keineswegs der Religion.“ Dank „der reinen praktischen Vernunft ist sie sich selbst genug“ (3). Trotzdem heißt es wenig später: „Moral also führt unumgänglich zur Religion“ (6). Die Moral der reinen praktischen Vernunft ist also für sich autark und doch mit der Religion untrennbar verbunden. Daß diese Verbindung Kants moralphilosophischen Grundgedanken, die Autonomie, nicht gefährdet, also weder zugunsten von Heteronomie noch von Theonomie aufgegeben wird, versucht Kant mit scharfsinnigen Argumenten aufzuweisen. Dabei steigt die Religion zu einem Partner auf: Kant skizziert eine Vernunft-Ehe von Autonomie und Religion, wobei die Ehepartner nicht gleichberechtigt sind, trotzdem keiner dem anderen unterworfen ist. Gemäß der in der zweiten Vorrede behaupteten herrschenden „Einigkeit“ zwischen Vernunft und Schrift, der These der zwei konzentrischen Kreise, macht die Offenbarung Vorgaben, unter denen die Vernunft als Sonde die entscheidenden Elemente aufsucht. Im Vorübergehen sind damit weitere Lesarten benannt. Bekanntlich setzt die Epoche der europäischen Aufklärung die Religion harscher Kritik aus. Dabei lassen sich mindestens vier Modelle unterscheiden. Voltaires Devise „Écrasez l’infâme“ nimmt die Kirche ins Visier. Nach einem wichtigen Vordenker der französischen Revolution, dem materialistischen Philosophen d’Holbach, haben alle wichtigen religiösen Dogmen, sowohl die Existenz Gottes als auch der Glaube an eine unsterbliche Seele und eine überirdische Existenz, den Charakter von Illusionen (z. B. Systéme de la nature, 1770, Teil II). Will die Religion trotzdem noch fortbestehen, nicht rein traditionell und autoritär, sondern vernünftig, eben aufgeklärt, so muß sie erhebliche Opfer bringen. Dafür sind außer d’Holbachs Modell zwei weitere Modelle bedeutsam: Nach David Humes Naturgeschichte der Religion (The Natural History of Religion, 1757), einem religionsphilosophischen und religionssoziologischen Essay, hat die Religion keinen anthropologischen Rang. Denn wegen Berichten über religionslose Völker könne die Religiosität weder in der menschlichen Vernunft gründen, noch zur emotionalen Grundausstattung des Menschen gehören. Die „wahre“, von Aberglauben und priesterlicher Macht gereinigte Religion kann zwar der Menschheit zur moralischen Vervollkommnung verhelfen; sie erhält somit eine subsidiäre, des näheren moralische Bedeutung. Die Geschichte der realen Religionen ist aber an Beispielen

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wahrer Religion rar. Und beim Vergleich der beiden Grundformen, des Polytheismus und des Monotheismus, erweist sich der Polytheismus als toleranter und menschenfreundlicher. In einem vierten Modell schließlich, im Erziehungsroman Emile (1762), setzt sich der Autor, Rousseau, zwar gegen die Religionsfeindlichkeit einer primär negativen Aufklärung ab. Er geht aber auch mit dem Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligion scharf ins Gericht. Vertretbar, aber auch notwendig sei allein eine natürliche Religion, die Rousseau innerhalb des Emile im „Bekenntnis des savoyischen Vikars“ als Stimme des Herzens entwickelt. In nicht vollständigem, aber pointiertem Gegensatz zu diesen vier Modellen erhält bei Kant nicht bloß die natürliche, sondern selbst die geoffenbarte Religion ein erhebliches Gewicht. Die Religionsschrift unternimmt eine kraftvolle, über Humes Subsidiaritätsdeutung hinausgehende Verteidigung der Religion. (Als ein Vorläufer kann Lessings schon erwähnte, noch anonym veröffentlichte Schrift Die Erziehung des Menschengeschlechts gelten.) Analog zur judikativen Grundhaltung der ersten Kritik fällt die Verteidigung der Religion aber nicht bloß affirmativ, ohnehin als Verteidigung nicht negativ aus. Kant legt, so die dritte Lesart, eine kritische Apologie vor, die die von Voltaire nur angegriffene Kirche einschließt. Allerdings nimmt Kant in der Religionsschrift anders als in seinen Kritiken auf keinen der großen Philosophen Bezug, weder auf die hier einschlägigen Denker der Antike wie Xenophanes, Platon, Aristoteles oder Epikur noch auf die der Neuzeit wie Descartes, Spinoza oder Pascal, noch auf die genannten Autoren d’Holbach, Voltaire, Hume und Rousseau. Zwei große Philosophen werden zwar erwähnt, aber nicht hinsichtlich der Religionsphilosophie, Rousseau nur als Moralist (20), Hobbes wegen des Theorems vom Naturzustand als Kriegszustand (97). Und an einer Stelle spielt Kant zwar auf Augustinus an, aber in dessen Rolle als „Kirchenvater“ (53). Da Kant die Religion von seiten der Moral her versteht, nimmt er viertens eine Ergänzung, in gewisser Hinsicht sogar Neubegründung seiner Moralphilosophie vor. In der zweiten Kritik wird das Böse nur vernunfttheoretisch, als eines der beiden „Objekte einer praktischen Vernunft“, erörtert (KpV, Analytik, Zweites Hauptstück). In der Religion führt Kant erstmals den anthropologischen Gedanken des radikal Bösen ein und rückt ihn sogleich, im ersten Teil, in den Mittelpunkt. Auch für die weiteren drei Teile gibt die Frage nach Herkunft, Natur und Wirkung des radikal Bösen den Leitfaden ab. Da das radikal Böse als für den Menschen wesentlich erscheint, erhält die Religion fünftens, hier im Gegensatz zu Hume, eine anthropologische Bedeutung. Diese wird übrigens in der Hochzeit philosophischer Anthropologie, bei Helmut Plessner (1928) und Arnold Gehlen (1940), unterschlagen, nicht dagegen beim ersten dieses philosophischen Dreigestirns, bei Max Scheler (1928), insofern er vom Menschen als „Mitarbeiter Gottes“ spricht.

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Da das radikal Böse die personale Freiheit auf eine grundlegend neue Weise zu denken verlangt, hat die Schrift sechstens ein freiheitstheoretisches Gewicht. Auch hier ist ein Defizit in den späteren Debatten zu monieren: Weder neuere Ethiken wie etwa der Utilitarismus und die Diskursethik noch die heute zwischen Philosophen und Hirnforschern geführte Freiheitsdebatte gehen darauf ein. Auch in dieser Hinsicht gibt Kants Religionsschrift ein Problembewußtsein vor, das die neueren Debatten, sowohl die der Moralphilosophie als auch die der Freiheitstheorie, nicht zuletzt die der Religionsphilosophie, für eine sachgerechte Erörterung ihrer Fragen aufarbeiten sollten. Kant befaßt sich nicht nur mit Religion überhaupt. Er setzt sich auch mit einer Religion, dem Christentum, näher auseinander. Die darin liegende Wertschätzung gründet im Verständnis des Christentums als einer, sogar der moralischen Religion. Das Wesen des Christentums liegt für Kant in einer Religion der reinen praktischen Vernunft. Auf diese Weise wird die von der vorkantischen Aufklärung „arg zerrupfte“ Religion in einer Gestalt, dem Christentum, wieder in ihr Recht gesetzt. Dabei werden die christlichen Grundgedanken von einer moralphilosophischen Basiskonstellation her verstanden, jener Konkurrenz des Bösen und des Guten, die sich unabhängig von der geschichtlichen Gestalt als Ausdruck des moralischen Selbstverständnisses einer autonomen Vernunft beschreiben läßt. Zum Zweck, die Religion in der Gestalt des Christentums zu rehabilitieren, nimmt sich Kant, wie erwähnt, die seines Erachtens vier christlichen Hauptgedanken vor: die christliche Sündenlehre (Erstes Stück), Jesus als dem Christus, mithin die Christologie (Zweites Stück), die Lehre von den letzten Dingen, die Eschatologie (Drittes Stück), viertens die Lehre einer Kirchengemeinschaft, die Ekklesiologie (Drittes und Viertes Stück), und zusätzlich die Gnadenlehre (Viertes Stück, Allg. Anmerkung). Nur weil sich die Religion so genau auf die Grundgehalte des Christentums einläßt, kann sie siebentens eine detaillierte Philosophie des Christentums enthalten. Warum aber befaßt sich Kant so ausführlich mit der (christlichen) Religion? Der Grund liegt nicht in einer andernorts verbreiteten biographischen Eigentümlichkeit: daß manche Menschen im Alter fromm werden. Auch kehrt Kant nicht, wie gelegentlich behauptet (etwa von Schmalenbach 1929, in anderer Weise auch von Palmquist 2009), zum Pietismus seiner Kinder- und Schulzeit zurück. Dagegen spricht schon der erwähnte Brief an Lavater, den Kant fast zwei Jahrzehnte vor der Religionsschrift und schon sechs Jahre vor der ersten Kritik verfaßt. Schon gar nicht hat Kant, wie Goethe an Johann Gottfried und Karoline Herder schreibt, „seinen philosophischen Mantel … freventlich mit dem Schandfleck des radikalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen“ (7. Juni 1793, 213). Kants Wertschätzung der Religion bildet wie gesagt einen integralen Bestandteil seines transzendentalphilosophischen Programms seit dem

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Lavater-Brief und vor allem seit der ersten Kritik. Ende der 1780er Jahre rühmt er beispielsweise in einem Brief das Evangelium als „unvergänglichen Leitfaden wahrer Weisheit“ (an H. Jung-Stilling, März 1789, in: Briefe, XI 10). Und ein Jahr nach der Religion, in der brillanten Abhandlung Das Ende aller Dinge (1794), rühmt Kant am Christentum, daß es „etwas Liebenswürdiges in sich“ habe (VIII 337). Vor allem hat Kant einen moralphilosophischen Grund. Die Moral führt seines Erachtens deshalb „unumgänglich“ zur Religion, weil ohne diese der „Hang zum Bösen“ das gleiche Vernunftrecht beanspruchen dürfte wie die „Anlage zum Guten“. Erstaunlicherweise stellt nämlich die Religionsschrift das Böse als einen authentischen Ausdruck des Freiheitsgebrauchs dar, wodurch die Vernunft als in sich gespalten erscheint. Um nun die innere Spaltung der Vernunft aufzuheben, braucht es eine Instanz, die über den bösen oder aber guten Gebrauch der Freiheit entscheidet. Damit die Vernunfttheorie der Moral sich hier nicht aufgibt und Kant am Ende die Moral der Autonomie doch einer theonomen Moral opfert, muß die Instanz vernunftintern bleiben. Die Frage lautet daher: Wie vermag die Vernunft ihre vernunftinterne Spaltung vernunftintern aufzuheben und den im Hang zum Bösen liegenden Vernunftanspruch abzuwehren? Aus theologischer Sicht beläuft sich Kants Apologie der Religion, näherhin des Christentums, auf eine Fundamentaltheologie neuer Art, auf eine rein philosophische, des näheren moralphilosophische Fundamentaltheologie. Wie nicht anders zu erwarten, legt Kant keine unkritische Apologie vor. Die traditionelle, innertheologische, weil letztlich (auch) offenbarungsverpflichtete Fundamentaltheologie wird vielmehr vernunftkritisch neu entworfen. Schon in den Einzeltiteln tritt die neue vernunftkritische Disziplin zutage. Sie benennen weder christliche Dogmen wie die Erbsünde, die Gottessohnschaft Jesu, das Jüngste Gericht und die Kirche, noch die zugehörigen theologischen Disziplinen, also die Sündenlehre, die Christologie, die Eschatologie und die Ekklesiologie. Sie sprechen vielmehr direkt das einschlägige moralphilosophische Thema an. Dabei kommt es stets auf das gute oder das böse Prinzip und in drei von vier Stücken auf deren Verhältnis an. Nur einmal, auch dann bloß in der zweiten Hälfte, taucht im Titel ein genuin christlicher Begriff auf, das Reich Gottes, aber auch dieser Begriff in der philosophischen Verfremdung „… auf Erden“. Wichtiger ist selbstverständlich die inhaltliche Aussage. Im Ersten Stück wird aus dem christlichen Dogma der Erbsünde, dem substantialistischen Verständnis des Bösen als einer ererbten Eigenschaft der Gattung Mensch, ein Hang zum Bösen, der sich zwar nicht ausrotten, aber durch die (noch zu kultivierende) „Anlage zum Guten“ disziplinieren läßt. Aus dem Dogma von Jesus als Gottessohn wird im Zweiten Stück ein regulatives Vorbild. Kant erlaubt im Dritten Stück durchaus eine sichtbare Religionsgemeinschaft, verlangt aber, sie „vom Blödsinn des Aberglaubens und dem Wahnsinn der Schwärmerei“ zu reinigen (101). In den praktischen

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Schlußfolgerungen des Vierten Stücks schließlich wird jener Charakter einer politischen Streitschrift überdeutlich, der die achte, politische Lektüre verlangt.

1.6 Eine politische Streitschrift Kants Leben (1724–1804) fällt zunächst in die Regierungszeit zweier exemplarischer Vertreter des aufgeklärten Absolutismus, der preußischen Könige Friedrich Wilhelm I., des Soldatenkönigs (1713–40), und Friedrich II., des Großen (1740–1786). Unter ihnen wird die konfessionelle Toleranz in Preußen zu einem Vorbild für Europa. Der Nachfolger von Friedrich II., dem Liebhaber französischer Literatur und Philosophie, Friedrich Wilhelm II. (1786–1797), setzt die Entwicklung zum aufgeklärten Rechtsstaat nur teilweise fort. Zwar läßt er das Allgemeine Landrecht der preußischen Staaten in Kraft treten. Der Toleranz seiner Vorgänger setzt er aber durch das Religionsedikt (1788) seines Kultusministers J. Chr. von Wöllner ein Ende, allerdings nicht in jeder Hinsicht. Denn das Edikt verpflichtet zwar die Lehrer und Prediger auf die Grundschriften des Protestantismus, andererseits gewährt es auch „völlige Gewissensfreiheit“ (vgl. Stangneth 2003, xvii ff.). Mit der neuen Religionspolitik gerät nun Kant in dem Augenblick in Konflikt, als er der Berliner Immediat-Examinations-Kommission, einer Zensurbehörde, die zweite Abhandlung vorlegt. Die erste Abhandlung hatte die Kommission unbeanstandet passieren lassen (vgl. Kant selbst im erwähnten Brief an Stäudlin). Kant entschließt sich, die vier Abhandlungen zusammen als ein Buch, als die Religionsschrift, zu veröffentlichen. Für die Druckerlaubnis wendet er sich an die Königsberger Theologische Fakultät, damit sie die Vorfrage kläre, ob die Schrift überhaupt in den Kompetenzbereich der Theologie falle (Briefe, XI 358). Nachdem die Fakultät „nicht kompetent“ bescheidet, läßt sich Kant vom Dekan der Philosophischen Fakultät des Druckortes, Jena, die Druckerlaubnis geben. Während sein Fall in Berlin weiter behandelt wird, veröffentlicht Kant einen zweiten religionsphilosophischen Text: Das Ende aller Dinge (1794), ein Meisterstück philosophischer, mit Melancholie gefärbter Ironie. In Anspielung auf die Preußische Religionspolitik bezeichnet Kant ein Christentum, das sich statt mit „moralischer Liebenswürdigkeit“ mit „gebieterischer Autorität bewaffnet“, als Herrschaft des „Antichrist“ (VIII 339). Über das Risiko einer derart deutlichen Äußerung ist sich Kant offensichtlich im Klaren. Denn er ist auf alles gefaßt: „überzeugt, jederzeit gewissenhaft und gesetzmäßig gehandelt zu haben, sehe ich dem Ende dieser sonderbaren Veranstaltung ruhig entgegen“ (an J. E. Biester, 18. Mai 1794: Briefe, XI 481 f.). Vor diesem Hintergrund erweist sich Kants Religion als politische Kampfschrift, freilich modo philosophico verfaßt. Der Autor zieht nicht die rhetorischen Register einer fulminanten Anklage. Er reitet keine politische Attacke, sondern, seinem

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Metier treu, stellt er mit genuin philosophischen Mitteln, mit Begriff und Argument, die Toleranz der preußischen Regierung auf die Probe. Ohne aufdringliches Pathos weist er jede Einschränkung des öffentlichen Vernunftgebrauchs zurück und kämpft auf diese rein argumentative Weise für Religionsfreiheit: Über die eigentliche Wahrheit der Religion entscheidet nicht die Kirche mit ihren Dogmen, sondern die Vernunft. Diese erhält auch das Recht, über die Zuträglichkeit der religiösen Wahrheit für die Gesellschaft zu befinden. Hier zeigt sich die Religion in ihrem Dialog mit der Vernunft als gleichberechtigter Partner, gleichberechtigt ist aber nicht die vorvernünftige Religion in ihrem eigenen Selbstverständnis, sondern allein die vernunftkritisch reformierte Religion. Die für Kant und seine Moral der reinen praktischen Vernunft entscheidende Reformation findet nicht durch die bekannten Reformatoren Luther, Calvin oder Zwingli statt, sondern durch die (in der Aufklärungsepoche vorbereiteten) Transformation einer vorkritischen zur kritischen Religion. Und in einer für die kritische Religion wichtigen Hinsicht, der Ablehnung einer angemaßten alleinigen Rechtgläubigkeit, spricht Kant, selber von Haus aus Protestant, rühmend von einigen „protestantischen Katholiken“ und mißbilligend von „erzkatholischen Protestanten“ (109). Innerhalb der Universität war zu Kants Zeit nur die Theologische Fakultät zuständig, die sich wiederum bloß dem Christentum, in Königsberg wie in ganz Brandenburg-Preußen lediglich dem Protestantismus, zuwandte und das Christentum in seiner protestantischen Gestalt als die allein wahre Religion bzw. Konfession ansah. Kant setzt, neunte Lesart, dieser auf der Bibel aufbauenden, „biblischen Theologie“ eine in mehrerer Hinsicht neuartige „philosophische Theologie“ gegenüber. Sie erweitert ihre Perspektive, denn sie benutzt zwar auch die Bibel, aber nicht sie allein, sondern „die Geschichte, Sprachen, Bücher aller Völker“. Was Kant zwei Jahre später, in der Schrift Zum ewigen Frieden (1795), zu einer eigenen Aufgabe, zum Weltbürgerrecht, erklärt, wird fast beiläufig eingebracht: eine weltbürgerliche Perspektive, hier als eine kosmopolitische Theologie. Kant fordert für die philosophische und zugleich kosmopolitische Theologie „alle Freiheit“. Damit weist er alle dogmatische Bevormundung zurück und arbeitet unausgesprochen jener Religionswissenschaft zu, die etwa seit David Hume, in anderer Weise seit Johann Gottfried Herder und in wieder anderer Weise seit Friedrich Schleiermacher als Religionsgeschichte, Religionspsychologie und Religionssoziologie, später auch als Religionsethnologie fremde Religionen auf eine gegen den Absolutheitsanspruch des Christentums und gegen jeden Wahrheitsanspruch von Religion indifferente Weise untersucht. Beide Seiten zusammen, die Kantische Religionsphilosophie und die Religionswissenschaften, kann man als eine neuartige Theologie versehen, als eine Theologie der Philosophischen Fakultät, die mit Kant „alle Freiheit“ einfordert, nämlich sich von aller christlich-theologischen Dogmatik und Bevormundung

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emanzipieren darf. Für deren genuin philosophischen Anteil ist eine neuartige Hermeneutik zu erwarten. Denn als Religionsphilosoph nimmt sich Kant nicht vor, alle religionsrelevanten Sprachen, Bücher und Aspekte der Geschichte zu studieren. Er tritt an sie mit der außergewöhnlichen Sonde, einer reinen Vernunftmoral, heran (vgl. in diesem Band Kap. 12).

1.7 Vorläufige Bilanz Nach einer ersten Erwartung setzt Kant in der Religionsschrift lediglich seine bisherige philosophische Theologie und moralisch interpretierte Religionsphilosophie fort. In Wahrheit bringt er wie gesagt ein neuartiges Element in seine Debatte ein. Mit ihm, einer Offenbarung, scheint er zwar seinen bisherigen Standpunkt, den einer rein natürlichen Theologie, aufzugeben. Die raffinierte Erweiterung, die er aber in Wahrheit vornimmt, stößt innerhalb der christlichen Offenbarung auf vier oder fünf Elemente, wobei man sich fragen muß, aus welchen methodischen und aus welchen inhaltlichen Gründen diese und nur diese Elemente von Bedeutung sind: die Lehre der Erbsünde, die Lehre von einer Person als dem Christus, das heißt dem Erlöser, die Lehre der letzten Dinge, die Eschatologie, die Lehre einer Religionsgemeinschaft, einer Kirche, zusätzlich die Lehre der Gnade und Rechtfertigung. Nur in Parenthese: Für einen interkulturellen Religionsdiskurs wäre es interessant zu wissen, ob sich in anderen Religionen analoge Elemente finden. Da die Erfahrung, auf die Kant sich beruft, nicht an die christliche Welt, auch nicht an die westliche Welt gebunden ist, sondern mit der (reinen) praktischen Vernunft zusammenhängt, sollte man die Elemente finden können. Falls dies nicht gelingt, wenn also auch bei kreativer Interpretation die Elemente sich nicht finden lassen, müßte man sich die Tragweite überlegen. Dabei drängen sich zwei Deutungsweisen auf, die beide sowohl radikal als auch folgenreich „unschön“ sind: Fehlt der Kantischen Überlegung, etwa mangels interkultureller Gemeinsamkeiten, die anthropologische Grundlage, so ist der Titel der Religionsschrift empfindlich einzuschränken; er müßte lauten: „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloß christlichen“, bzw. „der bloß westlichen Vernunft“. Diese Einschränkung beliefe sich auf nichts weniger als ein Scheitern des Vorhabens. Wenn dagegen Kant recht hat, so muß man den Religionen, denen die vier Elemente oder auch nur ein Teil von ihnen fehlen, ein Defizit vorwerfen. Worin es genau besteht, bleibt freilich noch zu bestimmen: Ist es genuin religiöser Natur? Ist es „nur“ moralischer Natur? Fehlt in anderen Religionen die Erfahrung, auf die sich Kant beruft, obwohl sie doch allgemeinmenschlicher Natur sein soll, nämlich „die menschliche, teils mit guten teils bösen Anlagen behaftete Natur“ (11)?

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Ein solcher Vorwurf würde umgehend den Gegenvorwurf einer kulturellen Überheblichkeit provozieren. Allerdings darf sich keine Philosophie, auch keine Religionsphilosophie, der Wahrheitsfrage versperren. Philosophisch gesehen ist für das Christentum eine zweifache, alle ethnische Begrenzung verwerfende Universalisierung charakteristisch: ein universales Liebesgebot, das schlechthin alle Menschen einschließt (deswegen hat das Christentum „außer der größten Achtung, welche die Heiligkeit seiner Gesetze einflößt, noch etwas Liebenswürdiges an sich“: EaD, VIII 337), und ein von aller ethnischen Begrenzung freier Gedanke der Auserwählung („alle Menschen guten Willens“). Für beide universalistische Elemente dürfte es in vielen Religionen Ansätze oder Äquivalente geben. Unabhängig davon ist es aber nicht unplausibel, in der Anerkennung des zweifachen Universalismus eine Vollendung von Religion zu sehen – vorausgesetzt, daß man sie mit Kant als Moralreligion konzipiert. Nur begrenzt, gewissermaßen bloß zur Hälfte zutreffend, ist auch eine andere Erwartung: daß Kant seine kritische Philosophie fortsetzt. Ohne Zweifel nimmt er keinen seiner transzendentalkritischen Grundgedanken zurück. Er läßt sich aber nicht auf die Grundaufgabe der Kritik ein, ein menschliches Grundvermögen auf seine apriorischen Fähigkeiten und deren Grenzen zu prüfen. Denn hier steht, wie erwähnt, kein neues, viertes Grundvermögen zur Diskussion. Kant setzt vielmehr seine Erörterung des in der Moral gipfelnden Begehrungsvermögens und der zugehörigen Freiheit fort. Die Fortsetzung bekräftigt die kritischen Grundgedanken, daß die menschlichen Grundvermögen, sowohl das Erkenntnis- als auch das Begehrungsvermögen und die Urteilskraft, zur Religion, insbesondere dem Gottesgedanken drängen. Die andere Hälfte: Die Religion tritt mit einem größeren Eigengewicht auf. Erstens wird ihr die Möglichkeit einer nichtnatürlichen Einsicht, einer Offenbarung, eingeräumt. Zweitens werden von dieser Offenbarung anthropologische Einsichten erwartet, also Einsichten, die den Philosophen interessieren sollten. Damit erhält die Vernunft drittens eine Vorgabe, die sich auf eine Grenze beläuft: Sie kann die Einsichten, die der Vernunft vorgegeben werden, nicht aus sich hervorbringen. Sie vermag sie nur, viertens, zu re-konstruieren, im strengen Sinn des re. Sie kann sie lediglich intellektuell einholen, nie überholen. Um eine schlichte Vorgabe handelt es sich hier freilich nicht. Denn die Vernunft läßt sich nicht auf die gesamte Offenbarung ein, sie nimmt vielmehr eine doppelte Selektion vor. Einerseits wählt sie nur wahrhaft anthropologische Elemente aus, womit die historischen oder quasi-historischen Elemente entfallen, für das Alte Testament immerhin die Noah-Geschichte, die Josephs-Geschichte und der Auszug aus Ägypten, die Zeit der Richter und die der Könige, die Ruth-, die Esra-, die Judithund die Esther-Geschichte. Vor allem entfällt ein Grundelement: der Bund einer Gottheit mit seinem Volk, also die exzeptionelle Beziehung von Jahwe mit Israel.

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Diese Auswahl ist ambivalent einzuschätzen. Denn die Vernunft tritt als Maßgeber auf: Sie stellt ein Kriterium auf, die anthropologische Relevanz, und mit diesem Kriterium als Sonde „pickt“ sie die passenden Elemente heraus, was für die Offenbarung eine erhebliche Verkürzung bringt: Nur ein Bruchteil ihrer Aussagen findet vor der Vernunft Gnade. Obwohl sich Kant auf die jüdisch-christliche Offenbarung einläßt und dabei über den bisherigen philosophischen Gottesbegriff hinausgelangt, bleibt er ein „Gott der Philosophen“. Dieser, der „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“, wird von vornherein, gewissermaßen methodisch ausgeschlossen. Denn er ist für Kant ein historisches, zudem partikulares, daher dem Vernunftanspruch widerstreitendes Element. In einer Hinsicht bricht Kant jedoch aus dieser Methode ein wenig aus. Wenn er vom „Lehrer des Evangelii“ spricht, spielt er auf eine historische Figur an. Während er das historische Grundelement des Alten Testaments und zugleich des Judentums, Jahwes Bund mit Israel, beiseite setzt, erkennt er das historische Grundelement des Christentums, daß eine Person als Erlöser auftritt, zumindest indirekt an. Läßt sich diese Selektion rechtfertigen? Eventuell damit, daß der Jahwe-Bund ein Sonder-, mithin ein partikularer Bund ist, der freilich in manchem Wort der jüdischen Propheten eine Neigung ins Universelle enthält, die Universalisierung aber erst vom Christentum nicht nur mitlaufend eingebracht, sondern zum Programm erhoben wird? Hinzukommt, daß Kant zum einen der neutestamentlichen Religion die historische Einmaligkeit abspricht, er zum anderen von einem „in unserer Vernunft liegenden Urbild“ ausgeht und wir dieses Urbild der „der Erscheinung des Gottmenschen … unterlegen“ (119). Kants Auswahl aus der Offenbarung geht noch weiter. Denn nicht alle anthropologischen Elemente werden berücksichtigt, sondern nur die genuin moralischen, dabei aber überraschenderweise nicht das die Moral konstituierende Element in der Offenbarung. Kant spricht zwar vom Menschen als Geschöpf Gottes (142), aber nirgendwo von der Gottebenbildlichkeit, obwohl sie säkular, als Sprachund Vernunftbegabung, interpretiert, zu den Voraussetzungen der menschlichen Moralfähigkeit gehört. Unter Aufklärungsphilosophen ist die lineare transitive Kritik der Religion beliebt, nämlich daß einer, die Vernunft, einen anderen, die Religion, kritisiert. Bei Voltaire verschärft sich die Kritik zu erbostem Kampf gegen die Kirche. Nach d’Holbach haben alle religiösen Dogmen illusorischen Charakter. Nach dem „Spätaufklärer“ Marx, seinem Manifest der kommunistischen Partei, schafft der Kommunismus die Religion ab (MEW, IV 480). Denn die „Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur … sie ist das Opium des Volkes“ (Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: MEW, I 378). Bei Kant wandelt sich die Linearität in eine wechselseitige, gewissermaßen dialogische Kritik: Die Religion macht Vorgaben; die Vernunft trifft nach Maßgabe ihrer eigenen Vorgabe eine scharfe Auswahl und

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nimmt für das Ausgewählte eine philosophische Rekonstruktion vor; die Rekonstruktion gipfelt in der Einsicht, daß die (moralische) Vernunft der Religion bedarf. Es gibt also ein Bedürfnis, sogar ein Vernunftbedürfnis nach Religion. Und auf diese über die Moral vermittelte Weise kann man gegen Hume denn doch von einer Anlage des Menschen zur Religion sprechen.

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2 Zum Titel und den beiden Vorreden Die Vorreden zur ersten und zur zweiten Auflage der vier – ursprünglich nicht in Buchform, sondern gesondert zur Veröffentlichung vorgesehenen, dann aber wegen Zensurschwierigkeiten – unter dem Titel Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft als Buch publizierten Abhandlungen erläutern den Titel und die Absicht der Schrift.

2.1 Zum Titel Der Ausdruck Religion ist erst im sich der Aufklärung verpflichtenden Europa zu einem anthropologisch orientierten Grundbegriff geworden. F. A. G. Tholuck und – sich auf ihn berufend – P. A. de Lagarde haben das Aufkommen des Ausdrucks „im wirklichen Sprachgebrauch des deutschen Volkes“ auf ca. 1750 datiert. Religion soll „im entschiedenen Gegensatz gegen das in der lutherischen, reformierten und katholischen Kirche geltende Wort Glauben eingeführt“ worden sein (Feil 2004, 266). Indessen, die altprotestantische Orthodoxie gebrauchte den lateinischen Ausdruck „religio“ noch so, daß sie zwischen einem uneigentlichen und einem eigentlichen Gebrauch der „vox religionis“ unterschied und den eigentlichen Gebrauch des Ausdrucks der „religio christiana“ (der „religio vera“) vorbehielt, während mit dem uneigentlich gebrauchten Ausdruck die „religio falsa“, der Aberglaube (zu dem auch der Glaube der „Papisten“ gezählt wurde) und die (irrige) „religiöse Verehrung von dem, was nicht Gott ist“, benannt wurden (König, Theologia positiva, §§58 ff., S. 24 ff.). Der lateinische Ausdruck „religio“ wurde zunächst also keineswegs polemisch gegen den „Kirchenglauben“ ins Spiel gebracht. Man war sich des vorchristlichen Ursprungs des neben „pietas“ und „sanctitas“ stehenden Wortes „religio“ bewußt, das „ohne Äquivalent in irgendeiner anderen Sprache ist“ und die „Haltung des Römers“ bezeichnete, „die sich achtsam um die Erfüllung von Willensäußerungen des göttlichen numen und um die peinlich genaue Ausführung aller Kultvorschriften bemüht“ (Feil 2004, 267). In der alten Kirche wurde das Wort rezipiert und durch die Unterscheidung von religio vera und religio falsa sozusagen „getauft“, hatte aber bis zum Beginn der Neuzeit (vgl. jedoch Calvins Institutio christianae religionis) keine prominente Karriere. Im Übergang von der altprotestantischen Orthodoxie zur Theologie der Aufklärung wurde dann die Unterscheidung zwischen „natürlicher Religion (religio naturalis)“ und „(ge)offenbarter Religion (religio revelata)“, die an die Unterscheidung von „theologia naturalis“ und „theologia revelata“ anknüpft, immer bedeutsamer (vgl. Walch 1775, 608 ff.). https://doi.org/10.1515/9783110782424-004

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Analoge Unterscheidungen kennt bereits die Scholastik. So unterscheidet Thomas von Aquin (Summa Theologiae I, q. 2 a. 2 ad 1) zwischen den auf Offenbarung gegründeten articuli fidei und den auch der Vernunft sich erschließenden praeambula ad articulos fidei. Da Glauben für Thomas – wie schon für Platon (vgl. Politeia VII, 533e–534a) und Augustinus (De praedestinatione sanctorum, II, 5; PL 44, 963: „credere … est … cum assensione cogitare“) – sich vom Wissen als eine Erkenntnis minderen Ranges unterscheidet (Summa Theologiae II II, q. 174 a. 2 ad 3: „… nomen fidei importat imperfectionem cognitionis“), schließt der Aquinate allerdings aus, daß derselbe Erkenntnisgegenstand von ein und demselben Erkenntnissubjekt zugleich geglaubt und gewußt werden kann: „impossibile est quod ab eodem idem sit scitum et creditum“ (Summa Theologiae II II, q. 1 a. 5 crp.). Das Geglaubte hat dennoch gegenüber dem Gewußten höhere Dignität, weil Glauben einen Willensakt impliziert (Summa Theologiae I II, q. 56 a. 3 crp.: „movetur enim intellectus ad assentiendum his quae sunt fidei, ex imperio voluntatis“), der der höchsten Autorität des göttlichen Wahrheitsanspruchs der Offenbarung zustimmt. Für Thomas hebt das Wissen also das Glauben auf. In dieser Tradition ist auch Kants gegenwendige Behauptung (KrV, B xxx) plausibel: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ Den Ausdruck „Religion“ verwendet Kant – der altprotestantischen Orthodoxie analog – so, daß der sogenannte Kirchenglauben durchaus auch als „Offenbarungsreligion“ bezeichnet werden kann. „Religion“ ist Oberbegriff für das, was Vernunft und was Offenbarung in religiöser Hinsicht jeweils als Glaubenswahrheiten verstehen. Allerdings stellt sich spätestens seit H. S. Reimarus die Frage, ob das bisher geltende Verhältnis von geoffenbarter und natürlicher Religion nicht umzukehren sei, so daß die natürliche Religion über das, was an der geoffenbarten Religion auf Wahrheit Anspruch erheben kann, zu entscheiden habe (vgl. Marty 1992, 52 f.). Insbesondere im durch konfessionspolitische Auseinandersetzungen gezeichneten England wird das „Konzept einer auf allgemeiner Menschenvernunft beruhenden ‚religio naturalis‘“ immer bedeutsamer (vgl. Wenz 2005, 94 f.). Das Adjektiv „natürlich“ bezieht sich im Zusammenhang dieser terminologischen Unterscheidungen in der Regel auf „das natürliche Licht der Vernunft“, so daß „natürliche Religion“ – wie auch schon „theologia naturalis“ – auf die aus bloßer Vernunft (Anselm von Canterbury sagt „sola ratione“) mögliche Gotteserkenntnis zielt. Interessant ist in diesem Zusammenhang M. Luthers einigermaßen „dialektische“ Behauptung, daß die Vernunft zwar weiß, „daß Gott ist. Aber wer oder welcher es sei, der da recht Gott heißt, das weiß sie nicht… Also spielt die… Vernunft Blindekuh mit Gott.“ (vgl. Weimarer Ausgabe [WA] 19, 206 f.). Das ist für Kant eine schlechterdings inakzeptable „Dialektik“. Kant selber verwendet den Ausdruck „Religion“ in den Schriften seiner vorkritischen Phase (von 1747–1781) relativ selten. Der Gebrauch des Wortes steigert

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sich in den drei Kritiken und häuft sich in den ausdrücklich der Religion beziehungsweise der Theologie geltenden beiden Schriften. „Bemerkenswerter ist, daß der dritthäufigste Gebrauch des Wortes in der Physischen Geographie zu finden ist“ (Marty 1992, 53). Definiert wird Religion von Kant seit der Kritik der praktischen Vernunft kontinuierlich als „Erkenntniß aller Pflichten als göttlicher Gebote“. In der Religionsschrift wird diese Definition erläutert (Rel., 153, Anm.). Die Definition findet sich meines Erachtens zum ersten Mal in der Kritik der praktischen Vernunft (KpV,V 129; vgl. Rel., 153). Kant will mit seiner Religionsschrift die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft „vorstellen“. Er setzt offensichtlich voraus, daß im Prinzip auch andere, halbwegs Kundige, die den Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, zu denselben Erkenntnissen gelangen können, die er seinen Lesern „vorstellt“ (das gilt trotz der diplomatischen Einschränkungen, die Kant im Streit der Fakultäten nachschiebt: „…für das Publicum ein unverständliches, verschlossenes Buch“: Fak., VII 8). Das gelingt freilich nur dann, wenn das Denken „innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ bleibt. Und die kennt „Glauben“ nicht nur als „Kirchenglauben“. Gemäß der „Kritik der reinen Vernunft“ (KrV, B 848 ff.) muß das Denken zwischen „Meinen, Wissen und Glauben“ unterscheiden. Und der Glaube unterliegt wiederum einer Unterscheidung: nämlich der zwischen einem „bloß zufälligen“ und einem „notwendigen Glauben“, der noch einmal zu differenzieren ist in einen „doktrinalen Glauben“ und einen „moralischen Glauben“. Beim „doktrinalen Glauben“ ist „Glaube… ein Ausdruck der Bescheidenheit in objektiver Absicht, aber doch zugleich der Festigkeit des Zutrauens in subjektiver Absicht“. Dennoch hat er „etwas Wankendes“ (KrV, B 855). „Ganz anders ist es mit dem moralischen Glauben bewandt“, der zwar auch kein Wissen ist, mithin keine „logische Gewißheit“, wohl aber „moralische Gewißheit“ bei sich hat. Diese „moralische Gewißheit“ verbietet es, zu sagen: „es ist moralisch gewiß, daß ein Gott sei usw.“. Sie erlaubt, ja nötigt jedoch zu der Feststellung: „ich bin moralisch gewiß usw.“ (KrV, B 857). In diesem Fall ist „der Glaube an einen Gott und eine andere Welt … mit meiner moralischen Gesinnung so verwebt“, daß mit diesem Glauben die eigene Identität auf dem Spiel steht. (vgl. Jüngel 2005, 1–38) Zum Titel erklärt Kant in der ersten Anmerkung seines Buches Der Streit der Fakultäten: „Diese Betitelung war absichtlich so gestellt, damit man jene Abhandlung nicht dahin deutete: als sollte sie die Religion aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung) bedeuten“. Er wollte vielmehr „nur dasjenige, was im Text der für geoffenbart geglaubten Religion, der Bibel, auch durch bloße Vernunft erkannt werden kann,… in einem Zusammenhange vorstellig machen“ (Fak., VII 6, Anm.).

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Kant kennt also und bejaht auch die Existenz einer Religion außerhalb oder jenseits der Grenzen der bloßen Vernunft. Obwohl „bloß“ nicht dasselbe wie „rein“ ist, meint im Titel der Religionsschrift „bloße Vernunft“ die „reine praktische Vernunft“, deren Erkenntnis keine „cognitio ex datis“, sondern eine „cognitio ex principiis“ ist (KrV, B 864). Es geht folglich in der Religionsschrift um „die mögliche Vereinigung“ der geoffenbarten Religion „mit der reinsten praktischen Vernunft“ (Brief an Stäudlin vom 4. Mai 1793: Briefe, XI 414), wobei zu beachten ist, daß Kant freilich auch – doch wohl nicht ohne Ironie – vom „reinen … biblischen Theologen“ reden kann, „der von dem verschrienen Freiheitsgeist der Vernunft und Philosophie noch nicht angesteckt ist“ (Fak., VII 24). Kant hat sich allerdings – wie vor allem der schon 1794 zu Papier gebrachte Streit der Fakultäten deutlich macht – einigermaßen diplomatisch ausgedrückt. Und man wird bei der Interpretation der Religionsschrift, die ja keineswegs eine abgeschlossene Religionsphilosophie „vorstellen“ wollte, gut daran tun, auf E. Troeltschs Hinweis zu achten, daß das Thema der Religionsschrift „erst von den prinzipiellen Darlegungen … aus“, die Kant im Streit der Fakultäten vorgelegt hat, „ganz verstanden werden kann“ (Troeltsch 1904, 57). Ganz undiplomatisch schreibt Kant an Fichte, „daß eine Religion überhaupt keine anderen Glaubensartikel enthalten könne, als die es auch für die reine Vernunft sind“ (Briefe, XI 308). Bei der Auslegung der Religionsschrift hat man also zu beachten, daß sie „mit vollem Bewußtsein eine auf die“ damaligen „staastskirchlichen Zustände zugeschnittene Darstellung“ ist (Troeltsch 1904, 62). Daß unter „bloßer Vernunft“ im Titel der Schrift die „reine praktische Vernunft“ zu verstehen ist, geht aus der ersten Vorrede hervor. „Rein“ heißt die Vernunft, insofern sie das Vermögen ist, das die Prinzipien enthält, durch die „etwas schlechthin a priori zu erkennen“ ist. Doch die „reine praktische Vernunft“ erkennt nicht nur, sondern sie bestimmt zugleich durch die a priori erkannten Begriffe das menschliche Wollen und Handeln. „Praktisch“ meint genauerhin: den praktischen Gebrauch. Denn theoretische und praktische Vernunft sind im Grunde „nur eine und dieselbe Vernunft…, die bloß in der Anwendung unterschieden sein muß“ (GMS, IV 391). Auch sollte man nicht vernachlässigen, daß sich im Horizont der reinen theoretischen Vernunft ebenfalls die Fragen nach Gott, Freiheit und Unsterblichkeit stellen. Wird doch das „Bedürfniß der Vernunft“, „einmal befriedigt sein“ zu wollen (WhD, VIII 136, 139), erst durch die Gottesidee gestillt (KrV, B 826).

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2.2 Zur Vorrede der ersten Auflage Die Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift geht in ihrem ersten Teil auf das Verhältnis von Moral und Religion ein und kommt im zweiten Teil auf die Entstehungsgeschichte der Schrift zu sprechen, sowie im Zusammenhang damit auf Fragen des Zensurrechts, auf Fragen nach dem Unterschied von „biblischer Theologie“ und „philosophischer Theologie“ und auf einige mit dieser Unterscheidung zusammenhängende Probleme. Das Verhältnis von Moral und Religion wird durch zwei Thesen markiert, nämlich: 1. „Moral … bedarf zum Behuf ihrer selbst … keinesweg, er Religion“ (Rel., 3). 2. „Moral… führt unumgänglich zur Religion“ (6). Kant bestimmt seinen eigenen Moralbegriff, indem er Moral als „auf dem Begriffe des Menschen als eines freien, eben darum aber auch sich selbst durch seine Vernunft an unbedingte Gesetze bindenden Wesens gegründet“ wissen will (Rel., 3). Freiheit impliziert für Kant also im Bereich der praktischen Vernunft die Selbstbindung des Menschen an die von der Vernunft gesetzten unbedingten Gesetze. Der von Schiller belehrte Goethe bringt es auf den Vers: „… und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“ (Berliner Ausgabe I 2, 121 f.). Die Bejahung der eigenen menschlichen Freiheit bedeutet zwingend die Bejahung dieser unbedingten Gesetze und die Bejahung der Bindung an diese Gesetze, die für den freien Menschen „Pflicht“ ist und als „Pflicht“ ebenfalls bejaht wird. Um diese Pflicht zu erkennen, bedarf es nicht der Idee eines Gottes. Und um dieser Pflicht zu genügen, bedarf es keiner anderen Triebfeder als des mich fordernden Gesetzes. Moral ist autochthon. Und der homo religiosus hat zu bejahen, daß der Atheist nicht weniger moralisch zu handeln vermag als der Frömmste. Denn die so verstandene Moral bedarf „keines materialen Bestimmungsgrundes der freien Willkür“ (Rel., 3). Sie wird von keinem bestimmten Zweck geleitet, sondern sie kann und soll „von allen Zwecken abstrahiren“ (4). Wer als Motivation für sein Handeln es gleichwohl für „nöthig findet, sich nach irgend einem Zwecke umzusehen“, ist für Kant „ein Nichtswürdiger“ (ebd.). Doch der Zweckbegriff ist damit im Kontext moralischer Argumentation keineswegs obsolet geworden. So eindeutig er als Bestimmungsgrund der eigenen Entscheidung und als ein der Handlungsabsicht vorhergehender Zweck auszuschließen ist, so unbestreitbar ist doch für Kant die Legitimität der Frage, „was dann aus diesem unserm Rechthandeln“, das keines Zweckes bedarf, „herauskomme“ (Rel., 5). Die Frage „kann der Vernunft doch unmöglich gleichgültig sein“ (ebd.). Sie kann der Vernunft deshalb nicht gleichgültig sein, weil es zu „den unvermeidlichen Einschränkungen des Menschen und seines … praktischen Vernunftvermögens“ gehört, „sich bei allen Handlungen nach dem Erfolg aus denselben umzusehen, um in diesen etwas aufzufinden, was zum Zweck für ihn dienen und auch die Reinigkeit

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der Absicht beweisen könnte… An diesem Zwecke nun … sucht der Mensch etwas, was er lieben kann“, so daß er „das Höchste in der Welt mögliche Gut“ zu seinem „Endzweck“ zu machen nicht umhin kann (Rel. 7, Anm.). Kants Rede von dem, was gut genannt zu werden verdient und was sich bis zum Begriff des höchsten Gutes steigern läßt und zudem auch noch liebenswert sein soll, ist einigermaßen intrikat. Die Argumentation, die von der elementaren Bestimmung des Guten als Qualifikation des dem Gesetz gehorchenden Willens zur empathischen Rede vom höchsten Gut führt – zwischen der ersten und der zweiten Kritik gibt es bemerkenswerte Differenzen! – ist nicht so einfach nachzuvollziehen, wie Kant selber suggeriert. Handelt es sich dabei um einen qualitativen Sprung oder eine vom Guten zum höchsten Gut durch sittliche Fortschritte führende Steigerung, die ohne eine sittliche Vereinigung, von Kant „Kirche“ genannt, den auf die Erlangung der Glückseligkeit Bedachten nicht möglich ist? Soll gelten: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (GMS, IV 393), und soll allein derjenige Wille gut sein, dessen „Maxime … jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“ (KpV, V 30), warum verlangt dann der Begriff des höchsten Gutes, daß das sittlich Gute durch die Glückseligkeit des das Gute Wollenden ergänzt wird? Denn erst die Einheit von Glückseligkeit und der sittlichen Würdigkeit, glückselig zu sein, macht nach Kant das höchste Gut einer Welt aus. Doch da diese Einheit in der Sinnenwelt (mundus sensibilis) nicht verbürgt ist, entwirft die Vernunft das „Ideal des höchsten ursprünglichen Guts“, das die in concreto et individuo sich realisierende „Idee einer solchen Intelligenz“ ist, „in welcher der moralisch vollkommenste Wille, mit der höchsten Seligkeit verbunden, die Ursache aller Glückseligkeit in der Welt ist“ (KrV, B 838). „Das Christentum hat“ nun nach Kant „außer der größten Achtung, welche die Heiligkeit seiner Gesetze unwiderstehlich einflößt, noch etwas Liebenswürdiges in sich.“ Ist doch „die Liebe … ein unentbehrliches Ergänzungsstück der Unvollkommenheit der menschlichen Natur“. In diesem Sinne will das Christentum den Menschen dazu bewegen, daß er „gern tut“, was ihm geboten ist, also an dem Zweck der sittlichen Handlungen wirklich etwas findet, „was er lieben kann“ (EaD, VIII 337). Die einigermaßen intrikate Argumentation Kants in der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift setzt voraus, was Kant in der Kritik der praktischen Vernunft clare et distincte dargelegt hatte. Entscheidend für die Behauptung, daß „Moral … unumgänglich zur Religion“ führt, ist die in der zweiten Kritik geltend gemachte und auch in der Religionsschrift in Erinnerung gerufene Unterscheidung zwischen einem heiligen und einem endlichen Willen, sowie das kantische Ver-

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ständnis des höchsten Gutes. Mit beidem hängt Kants nicht leicht durchschaubare Rede vom Zweck und Endzweck zusammen. Ein heiliger Wille kommt nur „der allergnugsamsten Intelligenz“ zu, weil sie „keiner Maxime fähig“ ist, „die nicht zugleich objektiv Gesetz sein könnte … Diese Heiligkeit des Willens ist … eine praktische Idee, welche notwendig zum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendliche zu nähern das einzige ist, was allen endlichen vernünftigen Wesen zusteht“ (KpV, V 32, Anm.). Menschen sind solche „endlichen vernünftigen Wesen“, deren Endlichkeit sich durch ihre Existenz in der Welt ausweist. In der Welt hat das für sein moralisches Handeln von allen Zwecken abstrahierende vernünftige Wesen aber immer auch Neigungen, die seine Sinnlichkeit affizieren, und also Zwecke, die von dem durch den kategorischen Imperativ geleiteten Willen so integriert werden müssen, daß sie von diesem zwar beherrscht, aber wenn sie sich ihm fügen, auch befriedigt werden sollen. Ist doch „Glückseligkeit … die Befriedigung aller unserer Neigungen (sowohl extensive, der Mannigfaltigkeit derselben, als intensive, dem Grade, und auch protensive, der Dauer nach)“ (KrV, B 834). Denn „natürliche Neigungen sind, an sich selbst betrachtet, gut, d. i. unverwerflich, und es ist nicht allein vergeblich, sondern es wäre auch schädlich und tadelhaft, sie ausrotten zu wollen; man muß sie vielmehr nur bezähmen, damit sie sich untereinander nicht selbst aufreiben, sondern zur Zusammenstimmung in einem Ganzen, Glückseligkeit genannt, gebracht werden können.“ (Rel., 58). So kann es zur Glückseligkeit kommen, derer der glückselig Werdende würdig sein muß und sein kann. Prinzipiell könnte das „schon in diesem Leben (in der Sinnenwelt)“ (KpV, V 58) geschehen. Doch da zur Glückseligkeit gehört, daß „man der Fortdauer derselben gewiß ist“ (MS, VI 387), solche „Fortdauer“ in der sinnlichen Welt zu garantieren indessen unmöglich ist, muß ich auf die Unsterblichkeit der Seele in einer intelligiblen Welt hoffen dürfen. Beim Sprachspiel vom höchsten Gut bringt Kant denselben Gedanken so zur Geltung, daß er im Begriff des höchsten Gutes zwei Aspekte beachtet wissen will. „Praktische Vernunft“, so Ulrich Barth in seiner pünktlichen Rekonstruktion der Argumentation Kants, muß gedacht werden als Ursprung und als Totalität alles endlichvernünftigen, ebenso moralischen wie neigungsaffizierten Wollens. Genau in diesem Doppelsinne sucht die Lehre vom höchsten Gut das allem Praktisch-Bedingten zugrunde liegende Praktisch-Unbedingte begrifflich zu bestimmen. […] Das im Begriff des summum bonum enthaltene Merkmal summum […] kann nach zwei verschiedenen kategorialen Hinsichten betrachtet werden: Nach dem Schema Grund/Folge muß es als supremum-originarium […] verstanden werden; nach dem Schema Ganzes/Teil ist es als consummatum-perfectissimum […] aufzufassen […] In diese metaphysische Struktur des Praktisch-Unbedingten werden von Kant nun die eigentlich praktischphilosophischen Bestimmungen eingezeichnet. Das Praktisch-Unbedingte im Sinne

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des Letztbegründenden ist die Tugend, sofern alles moralische Wollen, auch das neigungsaffizierte, in ihr seinen Ursprung hat. Das Praktisch-Unbedingte im Sinne der Totalität des Bedingten ist die der Tugend proportionierte Glückseligkeit. […] Die Lehre vom höchsten Gut interpretiert den Begriff des Gegenstands der praktischen Vernunft sonach als das Objekt alles neigungsaffizierten Wollens, welches der Tugendgesinnung selbst entspringt und damit zugleich glückswürdig macht (Barth 1994, 282 ff.; vgl. KpV, V 110).

Doch da auch für den Glückswürdigen „das Menschenvermögen … nicht hinreicht“, die Glückseligkeit zu erlangen, „so muß“, um die Übereinstimmung von Glückswürdigkeit und Glückseligkeit „zu bewirken, ein allvermögendes moralisches Wesen als Weltherrscher angenommen werden, unter dessen Vorsorge dieses geschieht, d. i. die Moral führt unausbleiblich zur Religion“ (Rel., 8, Anm.)¹ Die Argumentation läßt unschwer erkennen, daß für Kant die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft eine Religion der Hoffnung ist. Ihre Leitfrage ist die dritte der drei fundamentalen Fragen, die nach Kant für die Beantwortung der Frage „Was ist der Mensch?“ entscheidend sind, nämlich: „1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich thun? 3. Was darf ich hoffen?“ (Log., IX 25; vgl. KrV, B 833). Da nach Kant die „Bestimmung des menschlichen Geschlechts im ganzen“ ein „unaufhörliches Fortschreiten“ ist, „worauf wir der Absicht der Vorsehung gemäß unsre Bestrebungen zu richten haben“ (Rec. Herder, VIII 65), könnte die dritte jener drei Fragen auch auf die Zukunft innerhalb der Weltgeschichte zielen. Sie müßte dann allerdings kollektiv formuliert werden: Was dürfen wir hoffen? In diesem Sinne ist die Französische Revolution für Kant eine Begebenheit, die bei den Betrachtern dieses Ereignisses eine „moralische Tendenz des Menschengeschlechts“ freilegt, welche „das Fortschreiten zum Besseren nicht allein hoffen läßt, sondern selbst schon ein solches ist“ (Fak., VII 85). Der eigentliche Kontext des Hoffnungsbegriffs gehört aber doch wohl in das religiöse Umfeld. „Denn alles Hoffen geht auf Glückseligkeit“ (KrV, B 833). Im zweiten Teil der Vorrede zur ersten Auflage der Religionsschrift begründet Kant die Notwendigkeit, sich der Zensur zu unterwerfen. Der Grund soll darin 1 Der Ausdruck „Vorsorge“ erinnert an die hochkomplexe altprotestantische Lehre von der providentia dei, die mit „Vorsorge“ sehr viel besser rekapituliert wird als mit „Vorsehung“. Daß der Begriff des derart postulierten Gottes ein von der Vernunft konstruierter Begriff ist, setzt Kant voraus. Sehr pointiert behauptet der Philosoph (Rel., 168f., Anm.), „daß ein jeder Mensch sich einen Gott mache, ja nach moralischen Begriffen … sich einen solchen selbst machen müsse, um an ihm den, der ihn gemacht hat, zu verehren“. Was M. Luther (WA 40/1, 360) vom Glauben behauptet hatte, nämlich : „fides est creatrix divinitatis, non in persona (sc. Dei), sed in nobis“, gilt nach Kant von der Vernunft. An den von der Vernunft entworfenen Gottesgedanken muß sich jeder halten, „um zu urtheilen, ob er befugt sei“, den von ihm verehrten Gott wirklich „für eine Gottheit zu halten und zu verehren. Aus bloßer Offenbarung, ohne jenen Begriff vorher in seiner Reinigkeit, als Probirstein, zum Grunde zu legen, kann es also keine Religion geben“.

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bestehen, daß sich „alles, auch das Erhabenste, … unter den Händen der Menschen, wenn sie die Idee desselben zu ihrem Gebrauch verwenden“, nun einmal „verkleinert“ (Rel., 7 f.). Deshalb sind die Äußerungen der Menschen kritikbedürftig und deren Publikationen zensurbedürftig, wobei die Kritikbedürftigkeit derer, denen die Zensur obliegt, neue Probleme aufwirft. Sodann erörtert Kant die Frage, welcher Instanz in Religionsangelegenheiten die Zensur beziehungsweise Oberzensur zukommt. In Betracht kommen als Vertreter der „biblischen Theologie“ der ausschließlich „für das Heil der Seelen“ zuständige „Geistliche“ und der zugleich für die wissenschaftliche Theologie zuständige „Gelehrte“ (Rel., 8). In Betracht kommt aber auch die „philosophische Theologie“. Die sich hier stellenden Probleme werden im Streit der Fakultäten ausführlicher erörtert und sind für den heutigen Leser – zumindest für den protestantischen Leser – allenfalls von antiquarischem Wert. Das gilt indessen nicht im Blick auf die Warnung vor einer „Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt“ (Rel., 10). Und es gilt auch nicht für die Feststellung: „die Wissenschaften gewinnen lediglich durch die Absonderung“, so daß erst, wenn jede Wissenschaft „für sich ein Ganzes ausmacht“, das, was man heute „Interdisziplinarität“ nennt, sinnvoll zu sein vermag. Dann mag es auch zu einem sinnvollen Streit des biblischen Theologen mit dem philosophischen Theologen kommen. Sinnvoll ist dieser Streit jedenfalls dann, wenn er ein von gegenseitiger Aufmerksamkeit bestimmter Streit ist, der unter der Voraussetzung geführt wird, daß „er (sc. der biblische Theologe) ihn (sc. den Philosphen) nur hört“ (ebd.). Daß es ebenfalls sinnvoll ist, wenn umgekehrt auch der Vertreter der Philosophie auf das, was der„biblische Theologe“ zu vertreten hat, „hört“, macht die Vorrede zur zweiten Auflage der Religionsschrift deutlich.

2.3 Zur Vorrede der zweiten Auflage Am Schluß dieser Vorrede nennt Kant drei Theologen, die sich auf seine Schrift eingelassen haben: gelobt werden der Göttinger Theologe J. D. Michaelis und der „berühmte“ Tübinger Theologe E. Chr. Storr, während ein nicht namentlich genannter Rezensent, der Kants Schrift in den Greifswalder Neuen kritischen Nachrichten allzu kurz abgefertigt hatte, sich eben deshalb nun freilich „eben so kurz abfertigen“ lassen muß. Kant bestreitet diesem Rezensenten, daß die Religionsschrift nur verstanden werden könne, wenn man die Kritik der reinen Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft intellektuell verdaut hat, was jener Rezensent wohl für unmöglich hielt. Kant besteht jedoch darauf, daß die von ihm vorgestellte „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ der Sache nach „in der populärsten Kinderunterweisung oder Predigt … enthalten“ und also „leicht

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verständlich“ ist, was man hingegen nach seinem Urteil jedenfalls zumindest nicht von allen in den kirchlichen Katechismen mitgeteilten „Geheimnissen“ sagen kann (Rel., 14)². Den Stellungnahmen Kants zu jenen drei Autoren schickt Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage eine Anmerkung zum Titel seines Buches voraus, die dessen Absicht und das diese Absicht realisierende Vorgehen in prinzipieller Hinsicht erläutert. Es wird – wie schon bei Thomas von Aquin und bei den altprotestantischen Dogmatikern, wenn auch unter wechselnden Ausdrücken (vgl. Winter 1992, 24 f.) – zwischen „Offenbarung“ und „Vernunftreligion“ unterschieden. Und es werden zwei Möglichkeiten vorgestellt, beide zueinander in Beziehung zu setzen. „Offenbarung“ und „Vernunftreligion“ werden als „Sphäre[n] des Glaubens“ bezeichnet (Rel., 12). Diese Sprachregelung wird im ersten Teil des vierten Stückes erläutert, die unter „Glaube“ die „Annehmung der Grundsätze einer Religion“ versteht und im Blick auf den „christliche[n] Glaube[n]“ nicht nur zwischen „reinen Vernunftglauben“ und „Offenbarungsglauben (fides statutaria)“, sondern auch zwischen „christlicher Religion“ und „christlichem Glauben“ unterscheidet. Insofern der „christliche Glaube“ Grundsätze annimmt, von deren Wahrheit „sich ein jeder durch seine Vernunft überzeugen“ kann, weil diese Grundsätze „auf bloße Vernunftbegriffe gebaut“ sind, wird die christliche Glaubenslehre als „christliche Religion“ bezeichnet. Doch soweit die „christliche Lehre“ nicht nur „auf bloße Vernunftbegriffe“, sondern auch „auf Facta … gebaut ist, heißt sie nicht mehr blos die christliche Religion, sondern der christliche Glaube, der einer Kirche zum Grunde gelegt worden“ ist. Diesen Glauben begreift Kant als „historischen Glauben“, der über den „moralischen Vernunftglauben“ hinausgeht (Rel., 163 f.). Hier kommt die terminologische Differenz zwischen „Religion“ und kirchlichem „Glauben“ zwar ins Spiel, aber eben doch nicht so, daß der„christliche Glaube“ nicht auch als „christliche Religion“ bezeichnet werden kann. Auf dem Hintergrund dieser Begriffsbestimmungen läßt sich die vorsichtig formulierende Behauptung der Vorrede zur zweiten Auflage leicht nachvollziehen, daß „Offenbarung … reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt diese das Historische der ersteren“. Im Blick auf die christliche Religion ist für Kant die Möglichkeit, auch Vernunftreligion „in sich … begreifen“ zu können, Wirklichkeit, so daß die sich auch auf Offenbarung beziehende christliche

2 Kant meint genauerhin die „Geheimnisse von der göttlichen Natur“. Das erinnert an den berühmten Satz des frühen Melanchthon in dessen Loci communes von 1521 ( StA II/1, 6): „Mysteria divinitatis rectius adoraverimus quam vestigaverimus“. Nicht weniger relevant dürfte J. Tolands Hauptwerk sein: Christianity not mysterious, 1696. – Kants Behauptung, daß der Inhalt seiner Schrift „leicht verständlich“ sei, steht freilich in Spannung zu den Äußerungen in der Vorrede zum Streit der Fakultäten.

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Religion als „weitere Sphäre des Glaubens“ die Vernunftreligion als „engere“ Sphäre des Glaubens „in sich beschließt, (nicht als zwei außer einander befindliche, sondern als concentrische Kreise)“ (Rel., 12). Deshalb und nur deshalb hat Kant nach den Ausführungen über „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ in den beiden ersten Kritiken seine Religionsschrift zu verfassen sich veranlaßt gesehen. Der christliche Dom war in Königsberg auch für den unübersehbar, der nicht in ihn hineinging. Der Philosoph könnte zwar, als ob es den Königsberger Dom nicht gäbe, „sich als reiner Vernunftlehrer“ verhalten, der „von aller Erfahrung abstrahiren muß“. Das hatte Kant in der Kritik der praktischen Vernunft getan. Und damit hatte er die Grundlegung eines für sich bestehenden Systems der reinen Vernunftreligion vollzogen, das als selbstständiges System „in moralisch-praktischer Hinsicht“ die „eigentliche Religion“ ist. Doch in der Religionsschrift will Kant den „Versuch machen, … von irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung“ – nein: sondern von der Offenbarung, auf die sich die christliche Kirche beruft – „auszugehen“ und nun „von der reinen Vernunftreligion (sofern sie ein für sich bestehendes System ausmacht)“ zu abstrahieren, um „die Offenbarung als historisches System“ – also das, was Kant „fides statutaria“ oder auch „Kirchenglauben“ nennt – „an moralische Begriffe“ zu halten, und auch das nur „fragmentarisch“ (Rel., 12). Denn Kant will keineswegs alle theologischen Loci mustern, sondern nur die ihm – nicht zuletzt durch seine eigene religiöse Sozialisation – ponderabel erscheinenden „Zentraldogmen des lutherischen Pietismus…, während die trinitarisch – christologisch – kosmologischen Dogmen der alten Kirche ganz zurücktreten“ (Troeltsch 1904, 74). Dieses Vorgehen soll klären, ob „die Offenbarung als historisches System … nicht zu denselben reinen Vernunftsystem der Religion zurückführe“, also zur „eigentlichen Religion“. Denn dann würde zwischen Vernunft und heiliger Schrift, mithin auch zwischen philosophischer und theologischer Fakultät „nicht blos Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit“ (Rel., 12 f.) herrschen. Die von Kant durchaus auch erwogene Möglichkeit, daß dies nicht zutrifft, würde nach seinem Urteil zu absurden Konsequenzen führen, die dem Leser der Religionsschrift in mit Ironie gewürzten Argumentationen vor Augen geführt werden. Der damalige preußische König war nicht amüsiert und ließ es Kant wissen. Der „biblische Theologe“ wird selbst da, wo ihn Kants Argumentation nicht nur „amüsiert“, sondern ihm imponiert, darauf insistieren, daß eine als konsequente Exegese der biblischen Texte sich verstehende christliche Theologie nicht nur Aufklärung im Lichte der Vernunft, sondern auch Aufklärung im Lichte der Offenbarung Gottes ist und daß deshalb der „Streit der Fakultäten“ fortgesetzt zu werden verlangt.

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Literatur Augustinus: De praedestinatione sanctorum, in: Patrologia Latina, Bd. 44, 959–992. Barth, U. 1994: Kants Begriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie, in: Schnelle, U. (Hrsg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York 1994, 267–302. Calvin: Institutio christianae religionis, in: Barth, P./Niesel, W./Scheuner, D. (Hrsg.), Opera selecta, Bd. III (31967), IV (21959), V (21962), München. Feil, E. 2004: Art. „Religion I. Zum Begriff“, RGG4, Bd. 7, Sp. 263–267. Goethe, J. W.: Natur und Kunst, in: Berliner Ausgabe, Bd. I 2, Berlin 1960 ff., 121–122. Jüngel, E. 2005: Der Mensch im Schnittpunkt von Wissen, Glauben, Tun und Hoffen. Die theologische Fakultät im Streit mit der durch Immanuel Kant repräsentierten philosophischen Fakultät, in: Gerhardt, V. (Hrsg.), Kant im Streit der Fakultäten, Berlin/ New York 2005, 1–38. König, J. F. 1664: Theologia positiva acroamatica, hrsg. und übers. von A. Stegmann, Tübingen 2006. Luther, M. 1526: Der Prophet Jona ausgelegt, in: Weimarer Ausgabe [WA] 19, 169–251. Luther, M. 1535: In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius ex praelectione D. Martini Lutheri collectus, in: WA 40/1, 1–688. Marty, F. 1992: Die Frage der Religion als Probierstein eines kritischen Denkens. In: Ricken, F./Marty, F. (Hrsg.), Kant über Religion, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 52–66. Melanchthon, Ph. 1521: Loci communes von 1521, in: Stupperich, R. (Hrsg.), Melanchthons Werke in Auswahl [StA] II/1, 1–163. Platon: Politeia, in: Platonis Opera (recognovit brevique adnotatione critica instruxit Ioannes Burnet), Bd. 4, Oxford 1902. Thomas von Aquin: Summa Theologiae, Rom 1952. Toland, J. 1696: Christianity not mysterious, Reprint of the 1. ed. publ. in 1696, London/New York 1978. Troeltsch, E. 1904: Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte, Berlin. Walch, J. G. 1775: Art. „Religion“ in: Philosophisches Lexicon II, Reprografischer Nachdruck der 4. Auflage Leipzig 1775, Hildesheim 1968, Sp. 608 ff. Wenz, G. 2005: Religion. Aspekte ihres Begriffs und ihrer Theorie in der Neuzeit. Studium Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen. Winter, A. 1992: Theologiegeschichtliche und literarische Hintergründe der Religionsphilosophie Kants. In: Ricken, F./Marty, F. (Hrsg.), Kant über Religion, Stuttgart/Berlin/Köln 1992, 17–51.

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3 Die menschliche Gattungsnatur: Anlagen zum Guten und Hang zum Bösen Im „ersten Stück“ der Religion geht Kant der Frage nach, ob Menschen böse oder gut sind. Anders als wir dies im Alltag tun würden, glaubt er nicht, daß moralische Bosheit oder Güte besondere Merkmale dieses oder jenes Individuums sind. Für ihn sind entweder alle Menschen böse – nicht nur Hitler oder Idi Amin. Oder aber alle Menschen sind gut – nicht nur Mahatma Gandhi oder Mutter Teresa. Das bedeutet: Kant diskutiert Bosheit oder Güte als mögliche Gattungsmerkmale; vor ihm taten dies zum Beispiel die christlichen Theoretiker der Erbsünde und, bei entgegengesetzter Tendenz, Rousseau mit seinem optimistischen Perfektionismus. Bekanntlich plädiert Kant dafür, den Menschen als radikal böse anzusehen. Gleichwohl unterscheidet sich seine Position spürbar von der christlichen Sündentheologie: Sein Standpunkt bleibt im Wesentlichen an der Moralphilosophie der 1780er Jahre orientiert (so bereits H. Allison 1990, 146). Zugleich scheint es unbestreitbar, daß sich Kant mit seiner Lehre von einem peccatum originarium (Rel., 31) um einen theoretischen Brückenschlag zur christlichen Dogmatik bemüht. Dieser Versuch weist deutliche Schwächen auf; ich versuche im Folgenden zu zeigen, daß Kants Brückenschlag einige Fundamente seiner Moralphilosophie gefährdet. In jenem Textstück der Religion, das ich näher behandeln werde, wirft Kant drei grundlegende Schwierigkeiten einer philosophischen Theorie des moralischen Übels auf. Die erste lautet, ob es denkbar ist, daß der Mensch – wie gesagt qua Gattungswesen – weder eindeutig böse noch eindeutig gut ist. Kant gibt darauf eine negative Antwort; eine solche dritte Möglichkeit besteht für ihn nicht. Die Indifferenz-These, wonach einige Menschen gut, andere böse sind oder aber derselbe Mensch teils (manchmal) gut, teils (manchmal) böse sein kann, ist ausgeschlossen; die menschliche „Gesinnung [ist] in Ansehung des moralischen Gesetzes niemals indifferent“ (Rel., 24). Kants zweite Frage richtet sich auf ursprüngliche Anlagen zum Guten, die im Menschen vorhanden sind: Gibt es solche und, falls ja, um welche handelt es sich? Er beantwortet die Frage affirmativ, indem er zwischen drei verschiedenen Anlagen differenziert, nämlich solchen der „Thierheit“, der Menschheit und der Persönlichkeit (26). Drittens richtet sich Kants Aufmerksamkeit auf einen „natürlichen Hang zum Bösen“. Er bejaht die Frage danach, ob es eine derartige ursprüngliche Tendenz gibt und unterscheidet zwischen drei Stufen: Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit (29). Hierbei betont er, wie wir sehen werden, daß es sich nicht um einen „physischen“, sondern um einen „moralischen“ Hang handelt. https://doi.org/10.1515/9783110782424-005

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Da die drei genannten Fragen in klar voneinander abgegrenzten Textpassagen behandelt werden, kann ich im Weiteren einfach Kants Argumentationsduktus folgen.

3.1 Warum kann man nur ganz gut oder ganz böse sein? Und warum gleich die gesamte Menschheit? Der erste Textpassus (Rel., 19–25) beginnt mit einem Blick auf die Menschheitsgeschichte. Kant kontrastiert hier zwei gegensätzliche Überzeugungen: Einerseits existieren zahllose ältere Dokumente poetischer, mythologischer und religiöser Provenienz, die die Auffassung bekräftigen, die Menschheit sei von einem moralisch vollkommenen Ausgangszustand in eine Situation des Verfalls geraten. Andererseits sei es in neuerer Zeit unter Philosophen und Pädagogen zu der umgekehrten Auffassung gekommen, wonach die Menschheit in einem moralischen Fortschritt begriffen sei oder doch zumindest die „Anlage dazu in der menschlichen Natur“ enthalten sei (20). Kant erwähnt explizit das „goldene Zeitalter“, also den Mythos vom dekadenten Geschichtsverlauf in fünf Weltaltern bei Hesiod (Erga kai hêmerai; 106–201), die Vorstellung vom Leben im Paradies, also das biblische Buch Genesis (Kap. 2–3), sowie schließlich ein vielleicht noch glücklicheres Leben „in Gemeinschaft mit himmlischen Wesen“ (Rel., 19). Mit der letzten Bemerkung könnte auf gnostische Mythen, aber auch auf den Kronos-Zeus-Mythos in Platons Politikos (268e–274e) angespielt sein. Bemerkenswert ist Kants knappe Bezugnahme auf den hinduistischen Weltalter-Mythos, dem zufolge die Herrschaft Shivas durch die Herrschaft Vishnus abgelöst wird; sie spiegelt Kants weitläufiges religionsgeschichtliches Interesse wider (dazu v. Glasenapp 1954, 31–45). Mit Blick auf den moralischen Progressismus differenziert Kant zwischen der These von einem spürbaren historischen Fortschritt der Menschheit und der These von einer keimhaften, perfektiblen Anlage des Menschen zum Guten, welche durch ungünstige zivilisatorische Einflüsse korrumpiert wird. Beide Thesen lehnt er mit Blick auf die historische Erfahrung ab, womit er wohl die Evidenz zahlloser Verbrechensfälle und Kriegsgräuel meint (hierzu ausführlich Munzel 1999, 144–164). Immerhin einen Rettungsversuch unternimmt er zugunsten der PerfektibilitätsThese, die er den „Moralisten von Seneca bis zu Rousseau“ zuschreibt. Diese sei als bloße „Voraussetzung“ zu verstehen, das heißt wohl: als eine konstruktive Annahme zur aktiven Verbesserung der Menschheit. Auch spreche für sie eine Art Analogieschluß: Ebenso wie der menschliche Körper bei der Geburt als gesund zu betrachten sei, sei es plausibel, auch die ursprüngliche Verfassung der Seele als

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gesund anzusetzen. Die Erwähnung Senecas an dieser Stelle mitsamt dem Zitat aus De ira II.13 beruht allerdings auf einem Mißverständnis: Seneca glaubt lediglich an die individuelle Perfektibilität des Menschen, nicht an eine Fortschrittsgeschichte der Menschheit insgesamt, auch nicht in dem indirekten Sinn, daß von einer Vielzahl moralisch fortgeschrittener Individuen eine kollektiv zivilisierende Wirkung ausgehen könnte. Nach Kants Überzeugung treffen beide Auffassungen wenigstens soweit etwas Wahres, als sie sich gegen eine Indifferenz-These wenden: Der Mensch kann nur entweder gut oder böse sein. Dennoch scheint sich Kant von beiden soweit präsentierten Auffassungen ironisch zu distanzieren. Im Fall der älteren Dekadenztheorien finden sich deutliche Anzeichen dafür in seiner Bemerkung, der moralische Verfall werde mit der uns bekannten Menschheitsgeschichte insgesamt gleichgesetzt. Offenbar hält Kant die Klage der Dekadenztheoretiker für ein undifferenziertes Lamento. Im Fall des optimistischen Progressismus signalisiert Kant ironische Distanz, indem er deren These „vermuthlich bloß eine gutmüthige Voraussetzung“ nennt (Rel., 20). Als ebenso lächerlich und inadäquat wie ein Jammern über den düsteren Lauf der Geschichte erscheint ihm also ein Optimismus, der die Unmoral in der „Geschichte aller Zeiten“ einfach ignoriert. Kants ironische Distanznahme wirkt allerdings erklärungsbedürftig, weil er selbst den beiden Positionen in gewissem Umfang verpflichtet ist. Kants eigentliches Anliegen in der gesamten Passage ist es jedoch, mit der intermediären These aufzuräumen, daß „ein Mittleres“ existiert, wonach „der Mensch in seiner Gattung weder gut noch böse, oder allenfalls auch eines sowohl als das andere, zum Theil gut, zum Theil böse, sein könne“ (20). An dieser Textstelle verläßt Kant die Frage nach der insgesamt negativen oder positiven Moralentwicklung in der Menschheitsgeschichte und kehrt erst später in der Religion zu ihr zurück (ab dem zweiten Stück). Stattdessen wendet er sich dem menschlichen Individuum sowie dem Gattungsbegriff des Menschen zu. Genau genommen unterstellt sein Blick auf das Individuum von Anfang an einen generalisierten Einzelnen, so daß ab sofort nur noch von der moralischen Natur des Menschen die Rede ist. Im Rest des Abschnitts antizipiert Kant seine These vom radikal Bösen in der menschlichen Natur, indem er folgende Argumentation skizziert: Für Akteure gilt, daß sie dann böse sind, wenn ihre Maximen es sind. Nun sind innere moralische Einstellungen prinzipiell opak, und zwar sowohl in der Fremdanalyse als auch im Selbstverhältnis. Gemäß Kants wiederholt formulierter These von der epistemischen Opazität der moralischen Motivation kann niemand aus Erfahrung wissen, ob fremde oder eigene Handlungsmotive abschließend moralisch gut oder schlecht sind (etwa in KrV, A 551/B 579 FN oder GMS, IV 406). Scheinbar wird es somit unmöglich zu wissen, ob jemand letztlich gut, böse oder indifferent ist. Doch Kant deutet, wenn auch zunächst bloß hypothetisch, einen

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Ausweg an. Aus unserer moralischen Erfahrung können wir, so meint er, unter Umständen einen eindeutigen Schluß auf die Bosheit von jemandes Maxime ziehen, wenn auch nicht auf ihr Gutsein. Ein solcher Schluß ließe sich genau dann vornehmen, wenn es erlaubt wäre, „aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern moralischbösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist“ (Rel. 20) zu schließen. Dieser hypothetisch geäußerte Gedanke wird später im Text eindeutig bejaht: Kant nimmt somit eine Asymmetrie zwischen moralkonformen (= gesetzmäßigen) und unmoralischen (= gesetzwidrigen) Handlungen an; nur die Motivation der Ersteren bleibt epistemisch opak, die der Letzteren läßt sich eindeutig als böse identifizieren. Wenn es zutrifft, daß alle Menschen bisweilen gesetzeswidrig handeln, dann muß auch zuvor von allen Menschen eine übergeordnete schlechte Maxime akzeptiert worden sein, welche eine „Umkehrung der Triebfedern“ von Selbstliebe und moralischer Gesetzesbefolgung vorsieht (36). Wie ich bereits sagte: Kant entwickelt die Idee, daß man aus generalisierter Erfahrung die Bosheit des Menschen erschließen kann, hier zunächst versuchsweise. Statt sie direkt weiterzuverfolgen, wendet er sich einem anderen Problem zu; das eben rekonstruierte Argument wird erst auf Seite 22 fortgeführt. Er will zuerst klären, in welchem Sinn man Bosheit als „Natur“ und als „angeboren“ bezeichnen kann, wenn doch zugleich gilt, daß sich moralisch korrektes und verfehltes Verhalten immer nur aus Freiheit erklären läßt. Seinen hier verwendeten Naturbegriff erläutert uns Kant in folgendem schwer verständlichen Passus (21): […] so ist zu merken: daß hier unter der Natur des Menschen nur der subjective Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt (unter objectiven moralischen Gesetzen), der vor aller in die Sinne fallenden That vorhergeht, verstanden werde; dieser Grund mag nun liegen, worin er wolle. Dieser subjective Grund muß aber immer wiederum selbst ein Actus der Freiheit sein […].

Daß die Bosheit zur menschlichen Natur gehören soll, klingt deswegen problematisch, weil wir unter Natur – im Alltag ebenso wie in der Philosophie – entweder dasjenige verstehen, was ohne menschliche Einwirkung gewachsen oder entstanden ist, oder aber das, was das invariante Wesen einer Sache ausmacht. Doch sowohl nach dem naturalistischen als auch nach dem essentialistischen Naturverständnis scheint Kants These unvereinbar mit dem moralischen Freiheitsprinzip zu sein. Was „natürlich“ in einer dieser zwei Wortbedeutungen ist, geht nicht auf unseren Freiheitsgebrauch zurück. Einen besseren Sinn ergibt die Idee von einem „subjective[n] Grund des Gebrauchs seiner Freiheit überhaupt“ erst dann, wenn man darunter so etwas versteht wie eine „zweite Natur“, eine Art von schlechtem Habitus, den man sich durch eine grundlegende Fehlentscheidung erworben hat.

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Sinnvoll sind Kants Ausführungen also nur dann, wenn gemeint ist, daß eine erste Fehlentscheidung sich sekundär zur menschlichen Gattungsnatur entwickelt hat. Daß Kant dies sagen will, scheint mir klar. Unklar wirkt im vorliegenden Zitat jedoch seine allzu unterbestimmte Rede von einem „subjectiven Grund“. Von diesem stellt Kant lediglich fest, er bilde die Basis für unseren konkreten Freiheitsgebrauch, indem er dem Handeln unter sinnlichen Bedingungen vorausgehe. Was der Grund selbst ist, erfahren wir erst später (31; dazu unten mehr). Was Kant uns mitteilt, ist vorerst nur, daß dieser „ein Actus der Freiheit“ sein müsse, andernfalls könnte die moralisch angemessene oder unangemessene Verwendung der Willkürfreiheit dem Menschen nicht zugerechnet werden. Aber auch diese Behauptung mutet fragwürdig an und ist nur schwer nachvollziehbar: Wenn jemand eine grundlegende Fehlentscheidung trifft, die seine erste Natur zu einer schlechteren zweiten Natur degenerieren läßt, dann muß man den Freiheitsspielraum eines solchen Akteurs fortan als beschränkt denken, nicht mehr als vollständig frei und zurechenbar. Der Betreffende gleicht dann einem Drogenabhängigen, der zwar freiwillig in eine unaufhebbare Sucht geraten ist, als Süchtiger aber nicht mehr (oder nur noch eingeschränkt) frei ist. So betrachtet scheint es kein Wunder zu sein, wenn er sich fortan (im Maß seiner erworbenen Suchtdisposition) für das Schlechte entscheidet; er hat ja die Freiheit eingebüßt, in seinen Ursprungszustand zurückzukehren. Seine Bemühung darum, sich bei einer konkreten Einzelentscheidung nicht von der Sucht bestimmen zu lassen oder aber die Sucht insgesamt loszuwerden, ist dann zwar heroisch und zeigt einen Rest der alten Freiheit. Aber im Grunde muß man sein Suchtverhalten als entschuldbares Fehlhandeln beurteilen. Weder kann er sich in seinen Einzelentscheidungen noch insgesamt von dieser verhängnisvollen Disposition befreien. Nennen wir dies das „Suchtmodell der menschlichen Bosheit“ (natürlich meine ich nicht, daß Bosheit genauso drängend und so fordernd erlebt wird wie eine Sucht; den Vergleichspunkt bildet hier nur ihre Irresistibilität und Unentrinnbarkeit; vgl. G. E. Michaelson 1990, 45). Anders läge der Fall, wenn Kant unterstellen würde, die ursprüngliche Fehlentscheidung habe nur so etwas wie eine schlechte Angewohnheit erzeugt. Angenommen, jemand hätte sich Unhöflichkeit im Umgang mit Arbeitskollegen angewöhnt oder sich schlechte Tischmanieren zugelegt. Dann wäre sein unreflektiertes Handeln zwar fortan im Einzelfall von diesen selbstgewählten Dispositionen bestimmt, das heißt er würde sich unhöflich und unmanierlich verhalten, solange er nicht darüber nachdächte oder für sein Fehlverhalten nicht getadelt würde. Sobald er sich aber bewußt mit seinen Einstellungen konfrontieren würde, besäße er die Möglichkeit, diese zu revidieren. Eine Revision von schlechten Angewohnheiten kann von dem Betreffenden durchaus realisiert werden, weil er (so verstehen wir den Ausdruck „schlechte Angewohnheiten“) durch ihre Habitualisierung nichts von seinem Freiheitsspielraum verloren hat. Klarer-

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weise hat Kant nicht dies im Sinn. Er meint vielmehr, daß sich aus der Fehlentscheidung eine stabile und gattungsallgemeine zweite Natur ergeben hat, die einer irreversiblen Suchtabhängigkeit gleicht. Der springende Punkt hierbei ist, daß diese Konzeption problematische Konsequenzen für Kants Verständnis moralischer Freiheit nach sich zieht: Denn der Wille des Menschen ist nach einer ersten Fehlentscheidung, einem moralischen „Sündenfall“, nicht mehr vollständig frei, sich für die Moral zu entscheiden. Alle freien Entscheidungen bewegen sich fortan nur noch im Rahmen eines prinzipiell unmoralischen Charakters. Dazu später mehr (in Abschnitt 3.4). Wenden wir uns nun wieder der Hauptlinie des Gedankengangs zu. Kant greift in der „Anmerkung“ den fallengelassenen Faden wieder auf: Der Mensch kann nur entweder gut oder böse sein. Ob er das eine oder das andere ist, müßte sich an seinen Maximen ablesen lassen. Obwohl man jemandes Gesinnung letztlich nicht erkennen kann, auch die eigene nicht, besteht vielleicht die Möglichkeit – so Kants bisherige Überlegung –, aus einer gesetzeswidrigen Handlung auf eine böse Maxime zu schließen. Kant führt diesen Gedanken jetzt fort: In der Tat ist es präzise aus diesem Grund ausgeschlossen, daß in der philosophischen Theorie des Bösen andere Möglichkeiten als die zwei genannten bestehen. Denn „die Freiheit der Willkür ist von der ganz besonderen Beschaffenheit“, daß man von einer „Triebfeder“ – sei diese nun das moralische Gesetz oder ein nichtmoralischer Antrieb – nur dann bestimmt sein kann, wenn „der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat“ (Rel., 23 f.). Henry Allison hat diesen Punkt als „Incorporation Thesis“ bezeichnet (1990, 147). Wenn Kants Überlegung richtig ist, dann ist es nicht nur ausgeschlossen, daß uns irgendwelche sinnlich-naturalen Dispositionen, etwa unsere körperlichen Anlagen, böse machen können. Zugleich ist es auch unmöglich, daß wir uns neutral gegenüber dem moralischen Gesetz verhalten. Wir kommen nicht umhin anzunehmen, daß wir es in unsere oberste Maxime aufgenommen haben. Dies muß so sein, weil einerseits unsere moralische Sensitivität alle Fälle abdeckt, wir andererseits aber mitunter moralisch schlecht handeln. Tatsächlich entspricht genau dies der moralphänomenologischen Selbsterfahrung: Wir wissen in jeder praktischen Situation, ob sie moralisch gehaltvoll ist oder nicht und was gut oder böse wäre – aber wir verhalten uns bisweilen dennoch unmoralisch. Daraus geht hervor, daß wir das moralische Gesetz immer schon als letzte Quelle aller praktischen Orientierung akzeptiert haben. Handelt dann ein Mensch aber auch nur ein einziges Mal moralisch verfehlt, so zeigt er damit die Bosheit seiner obersten Maxime und damit seine Bosheit insgesamt. Die Fußnote auf Seite 22 f. soll diesen Sachverhalt näher erläutern: Zum kontradiktorischen Gegenteil des moralisch Guten, also zum Nichtguten, gehört auch das scheinbar Indifferente (Kant beschreibt dies in einem arithmetischen Vergleich mithilfe der Zahl 0). Denn das moralische Gesetz drängt sich uns stets als Triebfeder

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auf, und zwar im Gefühl der Achtung (die Kant hier zwar nicht explizit nennt, aber implizit meint; vgl. 27). Das Gesetz verlangt nun von uns ausnahmslose Befolgung. Bleiben wir indifferent, so muß eine böse Willkürentscheidung vorliegen. Aus diesem Blickwinkel wenden wir uns nicht allein dann gegen das Gesetz, wenn wir es aktiv ablehnen (und sozusagen das negative Böse „– a“ tun), sondern auch dann, wenn wir es nicht befolgen, indem wir uns indifferent stellen (und damit gleichsam die scheinbar indifferente Variante „0“ tun). Also gibt es kein neutrales Zwischenfeld zwischen gutem und bösem Verhalten. Hiermit bekennt sich Kant zu einem moralischen Rigorismus: Nur wer sich ausnahmslos moralisch gut verhält, ist demnach gut; wer eine indifferente oder gesetzwidrige Maxime befolgt, ist eo ipso böse. Die Indifferenz-These ist als inakzeptabel erwiesen. Ihre Vertreter, die Kant als „Latitudinarier“ bezeichnet, teilt er in „Latitudinarier der Neutralität“ (Indifferentisten) und „Latitudinarier der Coalition“ (Synkretisten) ein. Latitudinarier der Neutralität scheinen die These zu vertreten, daß Menschen weder gut noch böse sind oder es zumindest sein können. Latitudinarier der Coalition scheinen der These anzuhängen, daß Menschen sowohl gut als auch böse sein können, wobei diese Doppelzuschreibung aspekthaft oder nach Zeitpunkten differenziert gemeint sein mag. Um die Unhaltbarkeit beider Varianten der Indifferenz-These zu unterstreichen, wird in einer zweiten Fußnote auf Seite 23 dafür argumentiert, daß eine moralisch neutrale Handlung, in stoischer Terminologie gesprochen ein adiaphoron, ohne Beziehung zum moralischen Gesetz sein müßte. Aber jede Handlung muß zu ihm in Beziehung stehen, indem sie entweder geboten, verboten oder erlaubt ist. Daraus wird klar, warum nach Kants Auffassung erlaubte Handlungen keine adiaphora sind; sie zeigen keineswegs an, daß das moralische Gesetz nicht einschlägig ist, sondern daß dem Akteur das Handeln in moralischer Hinsicht freigestellt wird. Eine dritte, anschließende Fußnote setzt sich ausführlich mit Friedrich Schillers Aufsatz Über Anmut und Würde (1793) auseinander. Dabei geht es um Schillers Ablehnung einer Ethik der praktischen Notwendigkeit. Kant weist Schillers Kritik zurück, der zufolge der Gedanke einer kategorischen moralischen Verpflichtung auf eine Art mönchischer Selbstkasteiung hinauslaufe. Kant nimmt generöserweise an, zwischen ihm und Schiller bestehe lediglich ein Mißverständnis. Das ist jedoch eine freundliche Untertreibung: Nicht die anmutige „schöne Seele“ Schillers, sondern nur die Tugend, verstanden als „fest gegründete Gesinnung seine Pflicht genau zu erfüllen“ (Rel., 23) vollzieht nach Kant das moralisch Richtige, und zwar unter dem Einfluß „der Majestät des Gesetzes“, welches „ein Gefühl des Erhabenen unserer eigenen Bestimmung erweckt“ (ebd.). Schillers Mißverständnis besteht aus Kants Sicht darin, zusätzlich zur moralischen Vernunft die sinnliche Einbildungskraft ins Spiel gebracht zu haben, die auf die „anmuthigen Folgen“ achtet. Ein solcher ästhetischer Konsequentialismus ist für Kant moralphilosophisch unsinnig. Läßt man

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sich allein vom praktischen Gesetz leiten, so entsteht nach Kant keineswegs eine Stimmung der „Selbstpeinigung des reuigen Sünders“, sondern im Gegenteil eine „fröhliche Gemüthsstimmung“. Für Kant ist allerdings entscheidend, daß diese Stimmung erst die Konsequenz einer moralischen Einstellung sein kann, nicht deren motivationale Basis oder Ausgangspunkt. Was jetzt noch fehlt, ist ein Argument Kants zugunsten der These, daß wir die moralische Bosheit unserer Gattungsnatur insgesamt zuschreiben müssen. Bislang hat er nur gezeigt, daß, wenn der Mensch tatsächlich nur aufgrund seiner Maximen böse sein kann, bereits die Nichtbefolgung des moralischen Gesetzes in einem einzigen Fall dazu hinreicht, ein Individuum insgesamt als böse zu erweisen. Aber warum sollte dann gleich die menschliche Gattung böse sein? Muß sich Kant hierfür auf empirische Elemente einer moralischen Anthropologie berufen? Dann stünde seine These auf sehr schwachen Beinen. Das sieht auch Kant so, weswegen er sich darum bemüht, seine These regelrecht zu „beweisen“ (25): Daß wir aber unter dem Menschen, von dem wir sagen, er sei von Natur gut oder böse, nicht den einzelnen verstehen (da alsdann einer als von Natur gut, der andere als böse angenommen werden könnte), sondern die ganze Gattung zu verstehen befugt sind: kann nur weiterhin bewiesen werden, wenn es sich in der anthropologischen Nachforschung zeigt, daß die Gründe, die uns berechtigen, einem Menschen einen von beiden Charaktern als angeboren beizulegen, so beschaffen sind, daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen, und er also von der Gattung gelte.

Kants Argument ist allzu dürftig. Entgegen der These Allisons kann hier kaum ein synthetisches Apriori im Spiel sein.¹ Kant behauptet einfach, Allgemeinheit sei dann gegeben, wenn die angestellten Überlegungen nicht für ein bestimmtes Individuum allein gälten. Sofern sich also empirisch-anthropologisch zeigen ließe, daß ein typischer Mensch bisweilen gesetzwidrig oder zumindest ohne angemessene Triebfeder handelt, wäre die These bewahrheitet. Aber woher sollten wir wissen, ob das für alle Menschen gilt, auch für Mahatma Gandhi und Mutter Teresa? Naheliegenderweise könnte Kant zu diesem Zweck auf die anthropologische Konstanz unseres Glücksstrebens verweisen, das wir dem moralischen Gesetz geneigt sind

1 Allison 1990, 154–157. Dagegen argumentiert überzeugend H.-J. Ehni 2006, 54–62. – C.L. Firestone und N. Jacobs 2008, 135 versuchen, die Allgemeingültigkeit der menschlichen Bosheit auf eine transzendentale Anthropologie zu beziehen. Sie verweisen im Anschluß an Allison auf Kants Verwendung von „Willkür“. Richtig ist, daß Kants Begriff der Willkür für den spontanen Akt der Wahl steht, während Wille den Sinn von „oberes Begehrungsvermögen“ hat und daher die praktische Vernunft bezeichnet (dazu Ch. Horn 2002). Somit kommt allein die Willkür als Fähigkeit zur Wahl des Bösen in Betracht. Es stellt sich aber sofort wieder die Frage, weshalb die gesamte Spezies von einer Fehlverwendung der Willkür betroffen sein sollte.

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vorzuziehen. Vom Glücksstreben sagt Kant jedoch meistens, es sei etwas empirisch Allgemeines, manchmal aber auch, es sei a priori im Menschen anzunehmen (z. B. in GMS, IV 415 f.). Um mit einer Dichotomie aus der Grundlegung zu sprechen: Was Kant an dieser Stelle bräuchte, ist der Gedanke, daß es sich beim Glücksstreben um „die Allgemeinheit des Princips (universalitas)“ handelt, nicht nur um „eine bloße Gemeingültigkeit (generalitas)“ (GMS, IV 414). Doch selbst wenn wir alle notwendig nach Glück streben sollten: Müssen wir die Glücksperspektive auch zwangsläufig der konsequenten Moralitätsperspektive vorziehen? Nicht unbedingt, was ein weiteres Grundproblem von Kants Theorie des Bösen bildet, auf das ich am Schluß zurückkommen werde. Erfolgreich könnte Kants Argument vielleicht auch dann sein, wenn er die Allgemeinheit der menschlichen Bosheit auf unsere sinnliche Natur zurückführen würde, wie auch Allison ihn versteht.² Aber das hieße dann doch, unsere Natur für unsere Bosheit verantwortlich zu machen.

3.2 Die Anlagen zum Guten und ihre Pervertierung Der erste Abschnitt des ersten Stücks der Religion trägt die Überschrift „Von der ursprünglichen Anlage zum Guten in der menschlichen Natur“. Kant beschreibt dort drei solche Anlagen: die „Anlage für die Thierheit im Menschen“, die „Anlagen für die Menschheit“ und die „Anlage für die Persönlichkeit“. Bei allen dreien handelt es sich um psychische Antriebe, Impulse oder Tendenzen, welche uns ein bestimmtes Verhalten nahe legen. Für alle drei gilt, daß sie uns ursprünglich zum Guten bewegen. Die ersten beiden können jedoch ins Unmoralische pervertiert werden, so daß im ersten Fall „viehische Laster“ und im zweiten Fall schlimmstenfalls „teuflische Laster“ entstehen. Die dritte Anlage ist unter keinen Umständen moralisch pervertierbar. Auch die gute Grundausrichtung der beiden ersten gehen bei ihrer Pervertierung nicht vollständig zugrunde, weil sie zur menschlichen Natur gehören: „Der Mensch kann die zwei ersteren zwar zweckwidrig brauchen, aber keine derselben vertilgen“ (28). Die „Anlage für die Thierheit im Menschen“ erscheint als Teil der „physischen und bloß mechanischen Selbstliebe“, also unseres animalischen Begehrungsvermögens. Diese schließt nach Kant drei Komponenten ein, nämlich den Trieb zur

2 1990, 156. Unsere Versuchbarkeit läge dann bereits in unserer Sinnlichkeit. Aber dann wäre Bosheit eben doch naturalistisch erklärt und nicht moralisch verstanden. R.P. Frierson 2003, 108–114 scheint mir eher zu argumentieren, daß Kants Position moralpsychologisch überzeugend ist, als zu zeigen, daß sie sich tatsächlich als apriorisch verstehen lässt.

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Selbsterhaltung, den Trieb zur Arterhaltung durch Fortpflanzung und Brutpflege und schließlich den Trieb zu Gemeinschaftsbildung. Exakt auf diese drei Triebe sind als Laster die Völlerei, die Wollust und die wilde Gesetzlosigkeit bezogen (27). Man versteht nicht ganz, ob die genannten Laster bloße Beispiele sind oder ob Kant etwa meint, daß die unseren Selbsterhaltungsimpuls pervertierende Entartungsform generell den Titel „Völlerei“ verdient. Auch wenn man zugestehen mag, daß der Impuls, sich selbst durch Nahrungsaufnahme zu erhalten, zu einer dekadenten Gourmet-Identität degenerieren kann, wird man kaum konzedieren, daß dies die einzige Möglichkeit eines solchen Verfalls darstellt. Der Selbsterhaltungstrieb schließt auch zum Beispiel das Schlafbedürfnis oder den Impuls zur Schmerzvermeidung ein, und so könnten weitere animalische Laster etwa Langschläfrigkeit oder übertriebene Angst vor Schmerz sein. Vermutlich ist die Nennung der Völlerei einfach pars pro toto zu verstehen. Dasselbe dürfte für die „Wollust“ im Fall des Arterhaltungstriebs gelten. Denn hier wäre zum Beispiel auch an Lieblosigkeit gegenüber Kindern oder die Verletzung von Solidarpflichten gegenüber Verwandten zu denken. Von Aristoteles kann man hierbei lernen, daß es Laster des Mangels ebenso gibt wie Laster des Übermaßes; Kant läßt dies undiskutiert. Und schließlich erscheint auch die „wilde Gesetzlosigkeit“ kaum mehr als ein bloßes Beispiel abzugeben, zu dem man etwa Habgier, Feigheit oder Ungerechtigkeit ergänzen mag. Man fragt sich, in welchem Sinn Kant glaubt, daß die genannten Anlagen zur „Thierheit“ ursprünglich zum Guten motivieren, dann aber pervertiert werden können. Man sieht nicht ohne Weiteres, wie das erste Gutsein dieser Impulse als „Naturzwecke“ und die spätere Perversion von Selbsterhaltung, Arterhaltung und Gemeinschaftsbildung zu verstehen sind. Eine Vergleichsstelle hilft hier weiter. In einer aufschlußreichen Passage der Schrift Muthmaßlicher Anfang der Menschengeschichte (1786) beantwortet Kant diese Frage, indem er einen gattungsgeschichtlichen Fortschritt von der Natur zur Zivilisation mit einem moralischen Verfall des zivilisierten Individuums kontrastiert (VIII 115): Indessen ist dieser Gang, der für die Gattung ein Fortschritt vom Schlechteren zum Besseren ist, nicht eben das Nämliche für das Individuum. Ehe die Vernunft erwachte, war noch kein Gebot oder Verbot und also noch keine Übertretung; als sie aber ihr Geschäft anfing und, schwach wie sie ist, mit der Thierheit und deren ganzen Stärke ins Gemenge kam, so mußten Übel und, was ärger ist, bei cultivirterer Vernunft Laster entspringen, die dem Stande der Unwissenheit, mithin der Unschuld ganz fremd waren. Der erste Schritt also aus diesem Stande war auf der sittlichen Seite ein Fall; auf der physischen waren eine Menge nie gekannter Übel des Lebens die Folge dieses Falls, mithin Strafe. Die Geschichte der Natur fängt also vom Guten an, denn sie ist das Werk Gottes; die Geschichte der Freiheit vom Bösen, denn sie ist Menschenwerk.

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Die ursprünglichen Anlagen des Menschen, so unser Text, waren unschuldig und gut; denn sie sind natürlichen oder göttlichen Ursprungs. Während nun die Gattung vom Schlechteren zum Besseren fortschritt, kultivierte sich die individuelle Vernunft mit der Konsequenz, daß die Kollision mit unserer animalischen Triebnatur zu raffinierten Lastern führte. Kant deutet das Böse im eben zitierten Text mithin als Ergebnis der Zivilisationsgeschichte; Laster resultieren aus der Pervertierung unserer animalischen Natur innerhalb der menschlichen Gesellschaft. Tatsächlich fehlt dieser Gedanke in der Religion; er muß aus den anthropologischen Schriften ergänzt werden, wenn man verstehen will, warum sich die Wendung zum Schlechten historisch zwangsläufig vollzieht. Nach Kant können Menschen ihre individuelle Entwicklung aufgrund ihrer mangelnden natürlichen Instinktausstattung einerseits immer nur in einer Gemeinschaft vollziehen; sie setzen sich andererseits aber immer zugleich gegen diese ab und entwickeln eine vorteilsorientierte Form von rationaler Identität (dazu informativ A.W. Wood 2003). Die „Anlagen für die Menschheit“, der zweite Typ von naturaler Disposition des Menschen, sind für Kant nicht Ausdruck einer physisch-mechanischen Selbstliebe, sondern einer „vergleichenden Selbstliebe“ (27). Kant erläutert den Begriff einer Anlage, welcher auf dieser Form von Selbstliebe beruht, im Sinn einer Tendenz des Menschen, sein Selbstwertgefühl durch einen Vergleich mit Anderen oder in den Augen der Anderen stabilisieren zu wollen. Gemeint ist somit eine Neigung zu Selbstbehauptung und Individualismus, was genau in der Linie der eben gegebenen Erläuterung liegt. Ursprünglich, so meint Kant, richtet sich diese Tendenz lediglich auf eine gleichberechtigte Stellung des Individuums in einem sozialen Kontext; in ihrer pervertierten Form, als Überheblichkeit, entstehen aus ihr jedoch „Eifersucht und Nebenbuhlerei“ und schließlich solche teuflischen Laster wie Neid, Undankbarkeit und Schadenfreude. Teuf lisch sind diese Laster, weil sie uns die Idee eines „Maximum des Bösen“ vermitteln, welches „die Menschheit übersteigt“ (27). Als Naturanlage dient der gemeinte Antrieb zunächst unschuldigerweise als „Triebfeder der Cultur“, indem er eine kompetitive Atmosphäre des „Wetteifers“ hervorbringt. In der pervertierten Form erwachsen daraus aber tiefergehende Feindseligkeiten. Die wichtigste Vergleichsstelle für diese Überlegungen bildet der Begriff der „ungeselligen Geselligkeit“ aus dem Vierten Satz der Schrift Idee (VIII 20–22). Die „Anlage für die Persönlichkeit“ schließlich meint die natürliche menschliche Fähigkeit, sich für die Wirkung des moralischen Gesetzes zu öffnen („Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz“). Auf diese Anlage richtet sich der Kern aller Überlegungen Kants zu Selbstbildung und Pädagogik (bes. Munzel 1999, Teil II). Die weitergehende Fähigkeit, das moralische Gesetz nicht nur motivational hinreichend auf sich wirken zu lassen, sondern es auch aktiv, durch „freie Willkür“, in die eigene Maxime aufzunehmen, bezeichnet Kant als „guten Charakter“. Diese natürliche Anlage ist nicht korrumpierbar; auf sie kann „schlechterdings

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nichts Böses gepfropft werden“ (27). Man kann sie zwar vernachlässigen, nicht aber korrumpieren. Vielmehr stellt sie den Ausgangspunkt der möglichen Entwicklung zur vollen moralischen Identität dar und ist also „Anlage für die Persönlichkeit“ (28). Alle drei von Kant angeführten Anlagen, besonders aber die dritte, sind moralrelevant in dem Sinn, daß sie mit dem Gut der praktischen Freiheit in enger Verbindung stehen.

3.3 Der Hang zum Bösen – seine Entstehung und seine mögliche Überwindung Wenden wir uns dem Abschnitt II des Ersten Stücks zu (28–32), der dem Thema eines Hangs zum Bösen gewidmet ist. Kant beschreibt den Hang als den „subjectiven Grund der Möglichkeit einer Neigung“ (28). Er wiederholt also die Formel vom „subjectiven Grund“, die wir bereits kennen gelernt haben (21). Erneut betont Kant, daß man sich den Hang niemals als angeboren vorstellen dürfe; vielmehr müsse er stets als „erworben“ oder „zugezogen“ aufgefaßt werden (29). Offenbar unterscheidet er sich darin von den Anlagen zum Guten. Hieran schließt sich folgender diffizile Satz an (29): Es ist aber hier nur vom Hange zum eigentlich, d. i. zum Moralisch-Bösen die Rede, welches, da es nur als Bestimmung der freien Willkür möglich ist, diese aber als gut oder böse nur durch ihre Maximen beurtheilt werden kann, in dem subjectiven Grunde der Möglichkeit der Abweichung der Maximen vom moralischen Gesetze bestehen muß und, wenn dieser Hang als allgemein zum Menschen (also als zum Charakter seiner Gattung) gehörig angenommen werden darf, ein natürlicher Hang des Menschen zum Bösen genannt werden wird.

Kant verwendet den Begriff des „subjectiven Grunds“ augenscheinlich, um mit ihm den ersten Ursprung moralischen Fehlverhaltens zu identifizieren. Wenn ich den Text richtig lese, ist gemeint: Da der Hang zum Bösen etwas moralisch Zurechenbares ist, muß er auf einer „Bestimmung der freien Willkür“ beruhen, d. h. er muß frei gewählt sein. Die freie Willkür ist bei ihrer Wahlentscheidung ihrerseits immer von dieser oder jener Maxime geleitet. Also muß es ein Etwas gegeben haben, das der ursprünglichen Fehlentscheidung, verstanden als eine erste falsche Maximenwahl, zugrunde lag. Was Kant im Sinn hat, ist also, daß unsere spätere freie Willkür deswegen falsch wählt, weil sie von einem „subjectiven Grund“ beeinflußt wird; aus der ersten Fehlentscheidung entstand der Hang, der seitdem als habituelle Tendenz zur Abweichung vom Sittengesetz existiert. Unter sinnlichen Handlungsbedingungen ist nunmehr die freie Willkür dazu geneigt, Bosheit in die Maximen aufzu-

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nehmen, weswegen der Akteur falsch handeln kann. Mit dem subjectiven Grund muß also die „intelligible That“ gemeint sein, von der gleich die Rede sein wird. Zunächst aber weiter im Text: Kant bezeichnet „die Fähigkeit oder Unfähigkeit der Willkür, das moralische Gesetz in seine Maxime aufzunehmen“, als „das gute oder böse Herz“ (29). Die Gedankenführung wirkt hier erneut irritierend. Dürfte Kant nicht allenfalls Grade des bösen Herzens zulassen, wie sie im Folgenden – zumindest scheinbar – ausformuliert werden? Wie sollte ein gutes Herz möglich sein, wenn Menschen doch im radikalen Sinn böse sind? Oder meint Kant einfach dasjenige Individuum, das relativ gut ist, das heißt den Tugendhaften? Eine andere mögliche Lesart bestünde darin, unter „gutes Herz“ einen minderschweren Fall moralischer Bosheit zu verstehen. Aus dieser Perspektive mag man den Text so deuten, als stünde die Gebrechlichkeit für das gute Herz und Unlauterkeit und Bösartigkeit für das böse Herz. Denkbar wäre es auch, daß man Gebrechlichkeit und Unlauterkeit dem guten Herz zuordnen müßte und lediglich die Bösartigkeit dem bösen Herzen. Jedenfalls sagt Kant ausdrücklich (30): Man wird bemerken: daß der Hang zum Bösen hier am Menschen, auch dem besten, (den Handlungen nach) aufgestellt wird, welches auch geschehen muß, wenn die Allgemeinheit des Hanges zum Bösen unter Menschen, oder, welches hier dasselbe bedeutet, daß er mit der menschlichen Natur verwebt sei, bewiesen werden soll.

Nun muß die Feststellung, daß alle Menschen einen Hang zum Bösen haben, keineswegs gleichbedeutend damit sein, daß es nach Kants Auffassung nur unterschiedliche Grade des bösen Herzens gibt. Daß das gute Herz überhaupt nicht vorkommt, kann wohl kaum seiner Meinung entsprechen. Abgesehen davon, daß dann seine Theorie des „guten Willens“ am Beginn der Grundlegung (IV 393 f.) und viele ähnliche Aussagen in der Luft hängen würden, kann Kant diese Meinung nicht vertreten haben, weil sie seine Moralphilosophie gemäß dem Prinzip ultra posse nemo obligatur außer Gefecht setzen würde. Wäre nämlich niemand dazu imstande, etwas genuin Moralisches zu tun, dann würde das moralische Gesetz mit seiner Forderung nach einer vollständig angemessenen Motivation etwas Unerfüllbares von uns verlangen. Auch lassen sich Belegstellen anführen, an denen Kant ausdrücklich von der Möglichkeit spricht, daß jemand über ein gutes Herz verfügt. Wichtig ist etwa eine Passage aus der Tugendlehre über das erste Gebot aller Pflichten gegen sich selbst (VI 441): Dieses ist: Erkenne (erforsche, ergründe) dich selbst nicht nach deiner physischen Vollkommenheit […], sondern nach der moralischen in Beziehung auf deine Pflicht – dein Herz, – ob es gut oder böse sei, ob die Quelle deiner Handlungen lauter oder unlauter, und was entweder als ursprünglich zur Substanz des Menschen gehörend, oder als abgeleitet (erworben oder zugezogen) ihm selbst zugerechnet werden kann und zum moralischen Zustande gehören mag.

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Offenbar sieht die Textstelle aus der Tugendlehre prinzipiell die Möglichkeit vor, daß jemand in sich ein „gutes Herz“ zu entdecken vermag. Die Textstelle spricht klar davon, daß man „die Entwickelung der nie verlierbaren ursprünglichen Anlage eines guten Willens“ vollziehen kann, indem sich jemand nach einer ersten „Höllenfahrt des Selbsterkenntnisses“ läutert und den „Weg zu Vergötterung“ beschreitet. Wenn also das gute Herz im Sinn einer ersten unverlierbaren Gutwilligkeit prinzipiell vorhanden sein kann oder prinzipiell erreichbar ist, wie ist dies dann mit der These vom radikal Bösen im Menschen vereinbar? Kant vertritt offenbar die Meinung, man könne vom Bösen schrittweise zum Guten gelangen. Bei einem Blick auf seine „Ascetik“ wird auch deutlich, inwiefern Kant ein gutes Herz für möglich hält. Wie stellt sich Kant die moralische Entwicklung eines einzelnen Menschen im optimalen Fall vor? Eine Antwort auf diese Frage liefert besonders die „Allgemeine Anmerkung“ wenig später in der Religion (44–53). Moralisches Gut- oder Schlechtsein, so Kant in diesem Text, läßt sich ganz auf die freie Willkür des Individuums zurückführen: Indem jemand einen guten Impuls aus freien Stücken zu seiner Maxime erhebt, wird der Betreffende gut, durch eine böse Maximenbildung entsprechend böse. Was Kant anschließend in knapper Form entwickelt, ist der Gedanke, daß man seine oberste Maxime von der radikalen Bosheit befreien kann und auf diese Weise den Hang zum Bösen aufhebt; er spricht von einer „Wiederherstellung der ursprünglichen Anlage zum Guten“. Daß jeder Mensch hierzu grundsätzlich in der Lage sein muß, ergibt sich daraus, daß auch umgekehrt der „Verfall vom Guten ins Böse“ möglich war (45). Explizit wird festgestellt, daß die grundlegende Besserung Teil der moralischen Forderungen sei; und nach dem Prinzip „Du kannst, denn du sollst“ müsse jeder Forderung tatsächlich entsprochen werden können. Wie nicht anders zu erwarten, ist das Entscheidende für eine moralische Besserung, daß man das Verhältnis der Moral- und der Glückskomponente zueinander umzukehren hat. Während der böse Mensch dadurch charakterisiert ist, daß er die oberste Maxime befolgt „Handle moralisch nach Maßgabe deines so-und-so verstandenen Glücksinteresses“, würde der moralisch vollkommene Mensch, so Kants Meinung, die Maxime befolgen „Handle moralisch, ohne die Forderungen der Moral mit Blick auf dein Glücksinteresse einzuschränken“. Die Besserung der obersten Maxime in diesem Sinn bezeichnet Kant als „Herstellung der Reinigkeit“ (ebd.). Den Ausdruck Reinigkeit unterscheidet er von dem der Heiligkeit durch den Hinweis, daß derjenige, der eine reine oberste Maxime besitzt, lediglich „auf dem Wege dazu ist, sich ihr im unendlichen Fortschritt zu nähern“ (46 f.). Der Heilige, so können wir daraus schließen, ist der, der permanent und verläßlich das Richtige auf der Basis der richtigen obersten Maxime tut.

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Interessanterweise beschreibt Kant den Weg zur vollen moralischen Persönlichkeit, also von der ersten Reinigkeit zur vollständigen Heiligkeit, durch zwei verschiedene Elemente: durch die „Revolution der Denkungsart“ und die „Reform der Sinnesart“. Wie verhalten sich diese zueinander? Aus dem Text kann man zuerst den Eindruck gewinnen, Kant meine, daß die Revolution der Denkungsart bereits vor und unabhängig von der Reform der Sinnesart stattfinden kann oder sogar stattfinden muß. Sieht man die Sache so, dann wäre Kant der Ansicht, daß ganz am Anfang des moralischen Entwicklungsprozesses eine Art fundamentaler Initialzündung stünde, durch welche die moralische Gesinnung bereits vollständig zurechtgerückt werden würde, während die anschließende Reform lediglich noch für eine nachfolgende schrittweise Stabilisierung oder Habitualisierung dieser Gesinnung zu sorgen hätte. Zur Stützung dieser Auffassung scheint besonders folgender Passus geeignet (48): Hieraus folgt, daß die moralische Bildung des Menschen nicht von der Besserung der Sitten, sondern von der Umwandlung der Denkungsart und von Gründung eines Charakters anfangen müsse; ob man zwar gewöhnlicherweise anders verfährt und wider Laster einzeln kämpft, die allgemeine Wurzel derselben aber unberührt läßt.

Zeigt der Text, daß die Revolution der Reform im Sinn einer notwendigen Vorbedingung vorhergeht? Ist „Umwandlung“ hier gleich „Revolution“? Ich denke nicht. Es gibt eine Textstelle, die die Ansicht ausschließt, daß Kant die Revolution im Sinn einer solchen fundamentalen Initialzündung versteht. Kant sagt nämlich von dem Übergang zur vollen inneren Moralität (47): das kann nicht durch allmählige Reform, so lange die Grundlage der Maximen unlauter bleibt, sondern muß durch eine Revolution in der Gesinnung im Menschen (einen Übergang zur Maxime der Heiligkeit derselben) bewirkt werden […].

Es liegt auf der Hand, daß hier „Revolution in der Gesinnung“ und „Übergang zur Maxime der Heiligkeit“ gleichgesetzt werden. Die Revolution muß also dasjenige sein, was am Ende steht, nicht das, was den Anfang ausmacht. Daneben bestehen auch sachliche Bedenken gegen die zuerst genannte Deutung. Wie könnte es gemeint sein, daß erst eine grundlegende Revolution der Gesinnung stattfindet und danach die schrittweise Besserung der moralischen Einzelhandlungen oder der einzelnen Einstellungen? Das schiene geradezu absurd. Eine graduelle Besserung der einzelnen Verhaltensweisen nach einer radikalen Wandlung wäre ja sachlich weder möglich noch nötig. Weitere Annäherungen an moralische Vollkommenheit als die einer Revolution – durch welche, wie Kant sagt, die ursprüngliche Moralorientierung des Menschen komplett wiederhergestellt wird – muß und kann es nicht geben. Mit der Revolution ist bereits alles Entscheidende vollzogen. Ebenso

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wenig würde man verstehen, wie jemand nach der Revolution noch falsche Motive an sich bemerken könnte. Ist die oberste Maxime erst einmal grundlegend moralisch rektifiziert, dann heißt dies doch, daß ebenso alle untergeordneten Maximen moralisch richtig orientiert sind. Kant äußert sich jedoch eindeutig so, daß das tugendhafte Individuum später noch einen Kampf gegen Versuchungen und Verlockungen zur Unmoral zu bestehen hat. Dies kann nur dann der Fall sein, wenn noch keine oder zumindest keine fundamentale Umkehrung der Glücks- und der Moralkomponente in der obersten Maxime stattgefunden hat. Eine Art von Revolution, die im Sinn einer Initialzündung den moralischen Weg einer schrittweisen Selbstoptimierung einleiten würde, wäre eine Art hysteron proteron: eine absurde Vertauschung von Ursache und Folge. Nun kann man der Sachlage noch eine andere Deutung verleihen, nämlich mit der Interpretation von Maximilian Forschner (2009). Nach Forschner vertritt Kant ein Modell der persönlichen Moralentwicklung, das in einem Punkt der Lehre des Tridentinischen Konzils ähnelt. Demnach hätte Kant das Verhältnis von Revolution der Denkungsart und Reform der Sinnesart so bestimmt, daß erstere am Anfang des Prozesses steht und im Grunde bereits vollständig ist. Gleichwohl wäre der Mensch nach der Revolution immer noch mit einem unaufhebbaren Rest an Anfechtbarkeit oder Versuchbarkeit konfrontiert, welcher für sich genommen aber keine Sünde wäre. Thomas von Aquin hat diese Lehre mit dem anschaulichen Begriff fomes in Verbindung gebracht. Gegen Forschners Deutung lassen sich meines Erachtens mehrere Bedenken anmelden. Zuerst spricht im Text nichts dafür, daß Kant je den Gedanken einer nachlaufenden Sündenwirkung akzeptiert hätte; nach Auffassung vieler christlicher Autoren existiert eine postlapsarische Strafordnung Gottes, der auch moralisch bestmöglich verfaßte Individuen immer noch unterworfen bleiben. Man müßte erwarten, daß Kant uns einen Hinweis darauf gibt, daß mit der initialen Revolution bereits alles Wesentliche zur moralischen Läuterung geschehen ist, aber dennoch ein kleiner unaufhebbarer Rest von der alten Sündenschuld übrig bleibt, wenn auch nicht im zurechenbaren Sinn. Jedoch ist keinerlei überzeugendes Indiz hierfür im Text auffindbar. Im Gegenteil, Kant betont sogar, daß der tugendhafte Kampf zur moralischen Läuterung auf dem Weg der Reform immer noch unabsehbar lang ist; ja er betont, dieser sei unendlich.Von einer Restwirkung ist nicht die Rede. Sodann scheint mir klar, daß Thomas’ fomes-Gedanke für Kant ein allzu theologisches Konstrukt gewesen wäre. Daß der Mensch auch dann unter den Bedingungen einer späten kosmischen Sündenfolge steht, wenn er sich moralisch längst grundsätzlich gebessert hat, scheint mir für Kant geradezu undenkbar. Es würde dem Prinzip zuwider laufen, daß alle Verfehlungen und deren Folgen allein der freien Willkür des Menschen zurechenbar sein müssen. Und schließlich steht

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Kant zum Tridentinum in keinerlei affirmativem Verhältnis; mehr noch, dessen grundlegende dogmatischen Entscheidungen dürften ihm unbekannt gewesen sein. Mein eigener Interpretationsvorschlag geht denn auch in eine völlig andere Richtung: Kant führt in der „Allgemeinen Anmerkung“, so glaube ich, lediglich die Vorstellung eines erfolgreichen ersten Vorgriffs auf die vollständige Revolution ein, und zwar, um damit zwei Probleme zu lösen. Erstes Problem: Gäbe es keinen ersten Vorgriff auf eine integre Gesinnung, dann könnte alles moralisch korrekte Verhalten im Verlauf des Reformprozesses immer nur auf einem hintergründigen Eigeninteresse beruhen. Vor der Revolution gibt es ja eben keine moralisch angemessene Motivation bei allem äußerlich noch so korrekten Verhalten. Das kann Kant aber unmöglich hinnehmen; es muß die Möglichkeit voller Moralität geben. Zweites Problem: Gäbe es keinen solchen Vorgriff auf eine moralisch gute Gesinnung, so könnte niemals ein Übergang von einer moralisch suboptimalen zu einer moralisch optimalen Einstellung stattfinden. Nur ein solcher Vorgriff kann plausibel machen, wie es zu einem temporalen Fortschritt kommen kann, bei dem man von einer äußeren Annäherung – durch Anwachsen der Moralkonformität – zu echter Moralität voranschreiten kann. Auch dies muß Kant wollen, weil sich für ein Individuum, das ein bestimmtes Ziel erreichen will, kein Weg lohnen würde, auf dem man letztlich nicht zum Ziel gelangt. Gleichzeitig ist der erste Vorgriff, der im oben zitierten Textstück als „Umwandlung“ beschrieben wird, noch nicht mit der Revolution identisch; eine Revolution – das liegt im bildhaften Ausdruck – kann nur eine endgültige Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse bezeichnen. Wenn ich mit dieser Deutung recht habe, vertritt Kant eine Auffassung von Moralpädagogik, die mit den Modellen des antiken Eudämonismus prinzipiell in Einklang steht. Kants Doktrin dürfte dann nicht in der Nähe der christlichen Sündentheorie anzusiedeln sein, weder bei Augustinus noch bei Thomas von Aquin. Vielmehr wäre Kant aus Sicht des Augustinus ein Pelagianer; denn volle Moralität ist demnach durch ein Programm der Selbsttransformation erreichbar, auch wenn diesem Ziel – aber das ist für das stoische Modell des Fortschreitenden (prokoptôn) nicht anders – enorme Hindernisse entgegen stehen und es in einem menschlichen Leben nicht wirklich erreichbar ist. Kehren wir damit zurück zur Frage nach dem guten und bösen Herzen und dem Hang zum Bösen. Trifft meine Interpretation der Kantischen Position zu, so gibt es tatsächlich ein gutes Herz, nämlich als Vorgriff auf die vollständige Revolution. Die drei genannten Stufen Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit sind dann als Varianten des Hangs zum Bösen aufzufassen, nicht als Varianten des bösen Herzens. Während jeder Mensch, auch der mit einem inchoativ guten Herzen, in sich Formen des Hangs zum Bösen antreffen kann, hat keineswegs jeder ein böses Herz. Gemeint ist so gesehen nur, daß jeder böse Tendenzen oder Versu-

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chungen zum Bösen in sich antreffen kann, ohne daß diese tatsächlich wirksam werden müssen. Den Begriff der Gebrechlichkeit erklärt Kant anhand des ungenau wiedergegebenen Paulus-Zitats „Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt“ (nach Röm 7, 15. 18–21). Paulus ist im weiteren Textverlauf auch durch die Antithese von Buchstaben und Geist des Gesetzes sowie durch den Sündenbegriff präsent (30). Den inneren Konflikt, den Paulus als Auseinandersetzung zwischen Gesetz und Sünde beziehungsweise zwischen Geist und Fleisch beschreibt, interpretiert Kant als Antagonismus zwischen der Aufnahme des moralischen Gesetzes in die Maxime und deren Befolgung. An dieser Stelle erscheint der Hang zum Bösen mithin als bloße Willensschwäche. Ist Willensschwäche wirklich ein Teilphänomen der Bosheit? Kants Beschreibung der Gebrechlichkeit wirkt allzu vage. Wir würden gerne erfahren, inwiefern Willensschwäche in die Richtung der Bosheit weist und was es genau ist, was seiner Meinung nach der Ausführung des Richtigen auf der Grundlage einer guten Maxime entgegensteht. Kant scheint wie Paulus anzunehmen, daß Gebrechlichkeit Bestandteil der conditio humana ist, so daß jeder Mensch, auch derjenige mit einem guten Herzen, mit dem Phänomen der Schwäche zu tun hat. Die Gesinnung selbst ist dann nicht unmoralisch, vielmehr ist lediglich ihre Ausführung behindert. Der Hang zum Bösen kann sodann die Form der Unlauterkeit annehmen. Unter Unlauterkeit versteht Kant die Tatsache, daß in der Maxime eines Akteurs neben dem moralischen Gesetz noch andere Bestandteile vorhanden sind. Da es sich bei Maximen um selbstauferlegte Verhaltensregeln handelt, die jeweils ganze Lebensbereiche ordnen sollen, könnte man an folgendes Beispiel für den Umgang mit Geld denken: Jemand gibt sich die Maxime „Ich will in allen Geldgeschäften immer größtmögliche Korrektheit praktizieren“, achtet dabei aber vielleicht mehr auf sein öffentliches Ansehen als auf moralische Integrität, so daß er in Wahrheit der Maxime folgt „Ich will in allen öffentlich kontrollierbaren Geldgeschäften immer größtmögliche Korrektheit praktizieren“; diese Maxime besäße nach Kant nur eine eingeschränkte moralische Basis. Absicht des Akteurs wäre dann zwar die Befolgung des moralischen Gesetzes, und die Maxime wäre vielleicht stark genug zur Gesetzesbefolgung; allerdings müßte die Maxime als unmoralisch gelten, weil sie zugleich mit dem Wunsch nach Sozialprestige verknüpft ist. Im Fall der Unlauterkeit sind neben moralischen Triebfedern auch solche der Eigenliebe präsent, so daß „pflichtmäßige Handlungen nicht rein aus Pflicht gethan werden“ (30). Schließlich kann der Hang zum Bösen auch in der Variante der Bösartigkeit auftreten. Erst hier wird ausdrücklich konstatiert, daß sie, das heißt die Bösartigkeit (auch „Verderbtheit“ oder „Verkehrtheit“), „die sittliche Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür umkehrt, und obzwar damit noch immer gesetzlich gute (legale) Handlungen bestehen können, so wird doch die Denkungsart da-

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durch in ihrer Wurzel (was die moralische Gesinnung betrifft) verderbt und der Mensch darum als böse bezeichnet“ (30). Von diesem Fall kann man mit Sicherheit sagen, daß es sich um eine böse Einstellung handelt, insofern sich jemand seine eigene Glückseligkeit zum Prinzip macht und das moralische Gesetz zurückstellt. Mit einem guten Herzen ist diese Form des Hangs zweifellos unvereinbar. Kant wirft nun die Frage auf, ob es sich beim Hang zum Bösen um ein physisches oder aber um ein moralisches Phänomen handelt. Zur Erinnerung: Die „Anlage der Thierheit im Menschen“ ist als Teil der „physischen und bloß mechanischen Selbstliebe“ charakterisiert worden. Gehört das Böse ebenso zum Animalischen? Es liegt für Kant auf der Hand, daß Menschen nicht durch physische Dispositionen animalischer Art böse werden können, sondern einzig dadurch, daß sie sich aus Freiheit für das Böse entscheiden. Wenn nun alle Menschen immer schon einen Hang zum Bösen aufweisen, so bedeutet dies, daß man eine Handlung vor jeder Handlung annehmen muß, in der eine moralische Fehlentscheidung getroffen wurde, welche eben den Hang hervorrief (31): Nun ist aber nichts sittlich-(d. i. zurechnungsfähig‐)böse, als was unsere eigene That ist. Dagegen versteht man unter dem Begriffe eines Hanges einen subjectiven Bestimmungsgrund der Willkür, der vor jeder That vorhergeht, mithin selbst noch nicht That ist; da denn in dem Begriffe eines bloßen Hanges zum Bösen ein Widerspruch sein würde, wenn dieser Ausdruck nicht etwa in zweierlei verschiedener Bedeutung, die sich beide doch mit dem Begriffe der Freiheit vereinigen lassen, genommen werden könnte.

Der Text macht vollends klar: Der „subjective Bestimmungsgrund der Willkür“ ergibt sich aus einer „That“, die den Hang zum Bösen bewirkt. Somit geht paradoxerweise sowohl eine Tat dem Hang vorher als auch der Hang jeglicher Tat. Auflösbar ist dieses Paradox nur, wenn es eine Tat von völlig anderer Art gibt als jede von den Taten, die dem Hang nachfolgen und von diesem bestimmt sind. Das Problem, was eine solche Tat vor jeder Tat sein könnte, versucht Kant mithilfe des Begriffs einer„intelligiblen That“ zu bewältigen, die einer phänomenalen Handlung, einem factum phaenomenon, gegenübergestellt wird (31). An dieser Textstelle wird besonders deutlich, wie nahe Kant der Diktion wie der Sache nach der christlichen Sündentheologie kommen will: Einerseits lehnt er den Gedanken einer Erbsünde im biologisch-traduzianischen Sinn ab (als würde sich der Hang zum Bösen wie etwa die concupiscentia durch sexuelle Fortpflanzung übertragen); vielmehr postuliert er eine Verfehlung jedes Einzelnen. Andererseits glaubt er wie traditionelle christliche Theologen, die Natur jedes Menschen sei in einem für menschliche Bemühungen irreparablen Sinn korrupt oder defekt. In der christlichen Theologie kommen nun Begriffe ins Spiel wie unverdiente Gnade, Erwählung, Prädestination und besonders die Vorstellung einer Erlösung durch den Kreuzestod und die Auferstehung Christi. Klarerweise muß Kant solche soteriolo-

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gischen Überzeugungen, die nur auf eine Offenbarung zurückgehen können, beiseitelassen.

3.4 Gefahren für Kants Moralphilosophie Abschließend möchte ich auf die Schwierigkeiten zu sprechen kommen, die Kants Theorie des moralisch Bösen in dem von mir behandelten Textstück aufwirft.³ Mir scheint, daß die genannten Theorieelemente höchst problematische Konsequenzen für Kants Moralphilosophie nach sich ziehen würden, müßte man sie vollständig ernst nehmen. Die Idee eines Hangs zum Bösen und eines radikalen Bösen scheint mir philosophisch mißglückt. Eine erste Schwierigkeit bezeichne ich als „Paradox einer Schuld ohne Schuldfähigkeit“: (a) Paradox einer Schuld ohne Schuldfähigkeit: Ein Hang bildet gewöhnlich eine feste Handlungsdisposition, etwas Unwillkürliches und Unverfügbares, wovon sich ein Akteur nicht oder nicht vollständig loszulösen vermag. Kant versteht den Hang tatsächlich, wie wir sahen, gemäß einem „Suchtmodell“; man kann sich zwar prinzipiell von ihm befreien, faktisch ist dies jedoch kaum möglich. Der Hang kann und soll überwunden werden, gilt aber gleichzeitig als nahezu unauslöschlich. Nun gehört es zur Idee der moralischen Verantwortlichkeit, der im Begriff des Bösen unterstellt wird, daß man sich von einer selbstgewählten Handlungstendenz auch selbst freizumachen vermag. Andernfalls wäre jemand nur im Augenblick der ersten Fehlentscheidung böse, danach aber nicht mehr, weil der Betreffende ja nicht mehr in der Lage wäre, von seinem verfehlten Handeln abzulassen. Handeln kann nur dann böse sein, wenn das Verhalten eines Menschen zu jeder Zeit revidierbar ist. Einen zurechenbaren bösen Hang hätte Kant also nach dem „Schlechte-Angewohnheiten-Modell“ konzipieren müssen; aber dies hat er nicht getan. Beim „Suchtmodell“ liegt hingegen ein entschuldbares Fehlverhalten vor, das wir gewöhnlich als pathologisch beschreiben würden: Einen psychotischen Mörder oder einen kleptomanischen Dieb betrachten wir nicht als böse, sondern als krank. Kant spricht von einer Tendenz, die sich nicht ohne Weiteres wieder rückgängig machen läßt, von einer Neigung zum Schlechten, die den Akteur, der sie getroffen haben soll, lebenslang bindet. Ist die besagte Fehlentwicklung aber faktisch irreversibel und irreparabel, so müßte sie eo ipso auch als entschuldbar gelten. Hieran schließt sich das Problem an, das sich aus der Annahme einer „intelligiblen That“ ergibt; es scheint mir nicht weniger gravierend zu sein als (a):

3 Die Mehrzahl der genannten Probleme findet sich klar herausgearbeitet bei G. E. Michaelson 1990; neuerdings werden sie auch diskutiert von C.L. Firestone und N. Jacobs 2008.

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(b) Paradox einer atemporalen Handlung: Wenn es zutrifft, daß Kants Hang zum Bösen im Sinn einer festen und unverfügbaren Tendenz zu verstehen ist, im Sinn einer psychischen Disposition, welche ein Akteur in sich vorfindet, dann existiert ein Hang vor jedem eigenverantwortlichen Handeln als eine natürliche Gegebenheit. Ein Hang zum Bösen muß jedoch zugleich eigenverantwortlich gewählt sein; Kant selbst betont, daß man von moralischem Fehlhandeln nur bei einer zurechenbaren Entscheidung sprechen kann. Damit entsteht eine paradoxale Situation: Der Akteur ist nicht die Ursache des Hangs und doch zugleich auch dessen Ursache. Die einzige nachvollziehbare Auflösung dieser Spannung bestünde darin, den Hang zum Bösen als selbstgewählte Neigung zu deuten. Doch dann müßte eine solche Entscheidung prinzipiell temporal und datierbar sein. Der Mensch müßte moralisch unschuldig auf die Welt kommen und dann – zu einem bestimmbaren Zeitpunkt – durch eine erste bewußte Fehlentscheidung eine Tendenz zum Bösen entwickeln. Doch dies ist gerade nicht Kants Überzeugung. Er spricht vielmehr von einer atemporalen oder prätemporalen Entscheidung. Eine derartige Handlung, von der der Akteur nichts weiß und auch nichts wissen kann, erscheint jedoch als absurdes Konstrukt. Zum Konzept einer zurechenbaren Entscheidung gehört, daß sie zu einem fixierbaren Zeitpunkt wissentlich und willentlich vorgenommen wurde. Die Kenntnis der Alternativen, zwischen denen man zu wählen hat, ist dafür ebenso grundlegend wie die Möglichkeit, zwischen ihnen eine ungehinderte Auswahl zu treffen. Man muß sich ferner an eine früher getroffene Entscheidung erinnern können und zu ihr in einer psychologisch-erinnerungsbasierten Kontinuität im Sinne Lockes stehen. Ist diese Kontinuität unterbrochen oder fragwürdig (z. B. aufgrund eines starken Persönlichkeitswandels), so würden wir urteilen, daß die betreffende Schuld verjährt und nicht mehr aktuell ist. Hinzu kommt, daß eine außerzeitliche Handlung durch keine Aktivität in der empirischen Welt korrigierbar ist. Ein zusätzliches Problem ergibt sich daraus, daß Kant bestenfalls über ein empirisches, nicht über ein apriorisches Argument zugunsten der These von der radikalen menschlichen Bosheit verfügt: (c) Verwechslung von Universalität und Generalisierung: Kant nimmt an, daß es sich beim Hang zum Bösen um ein menschliches Gattungsmerkmal handelt. Ein Gattungsmerkmal ist etwas empirisch Allgemeines. Wenn alle bislang beobachteten Schwäne weiß waren, berechtigt uns dies zu dem Induktionsschluß, daß alle Schwäne weiß sind. Eine solche Generalisierung steht und fällt mit der Erfahrung; schwarze Schwäne und gute Menschen widerlegen die jeweilige Generalisierung. Nun kommen schwarze Schwäne sicherlich häufiger vor und sind leichter zu identifizieren als gute Menschen; aber das schließt nicht aus, daß es gute Menschen geben mag. Kant suggeriert deutlich, er besitze eine Art von Beweis dafür, daß seine These vom radikalen Bösen auf alle Menschen in gleicher Weise zutrifft. Dies würde

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jedoch voraussetzen, daß er über ein apriorisches Argument verfügt, mit dem er zeigen könnte, daß sich jeder Mensch immer schon entschieden hat, die Befolgung des Moralgesetzes nicht unter allen Umständen seinem Glücksstreben vorzuordnen. Dies klingt deutlich wie ein Anspruch auf apriorisches Wissen. Zugleich spricht Kant aber ausdrücklich davon, der gemeinte Hang sei „für die Menschheit überhaupt zufällig“ (28). Wenn die Theorie des radikalen Bösen aber nicht mit strikter Allgemeinheit gilt, ist ihre Gültigkeit allenfalls empirisch gesichert. Das ist augenscheinlich weniger, als Kant tatsächlich sagen möchte. Wenn dies soweit richtig ist, dann entstehen gravierende Folgeprobleme. Eines davon ist, daß es dann – wie wir bereits sahen – im Grunde niemals eine moralisch adäquate Handlung geben kann. Denn wenn die oberste Maxime böse und korrupt ist, ist es auch jede Handlung, die unter sie fällt. Nun sagt Kant zwar, daß „Reinigkeit“ als Antizipation einer moralischen Einstellung möglich ist. Aber es bleibt dann unverständlich, weshalb damit, daß sich jemand Reinigkeit zur festen Einstellung macht, nicht zugleich der böse Hang verschwindet. Ebenso unklar scheint dann, weshalb eine volle moralische Einstellung eigentlich unerreichbar bleiben sollte. Kant legt uns nahe, an so etwas wie eine korrupte menschliche Natur zu glauben, obwohl er dies nicht plausibel machen kann, solange er am rationalen Schuld- und Verantwortungsprinzip seiner Moralphilosophie festhält. Hinzu kommt, daß Kant die stark revisionäre Überzeugung teilen müßte, daß alle moralischen Verfehlungen gleich schwer wiegen. Denn wenn nur die letzte böse Maxime zählt, ist es moralisch indifferent, ob jemand einen Mord begeht oder ein Stück Schokolade stiehlt. Ein weiterer heikler Punkt ist, daß Kant dann jede Möglichkeit verliert, die partielle Annahme des Moralgesetzes durch einen Akteur zu interpretieren. Wenn nämlich das Ziel des moralischen Fortschritts, die Erlangung einer vollkommenen moralischen Identität, unerreichbar ist, dann macht es keinen Sinn mehr, von einzelnen Schritten auf dem Weg zu diesem Ziel zu sprechen. Kant könnte dann überhaupt keinen moralischen Fortschritt mehr für möglich halten: Angenommen, daß ein moralisch fragwürdiges Individuum zum Zeitpunkt t1 zu 90 % gesetzwidrige Handlungen begeht und nur zu 10 % gesetzmäßige; aufgrund massiver moralpädagogischer Einflüsse führt es zum Zeitpunkt t2 dagegen nur noch zu 10 % gesetzwidrige Handlungen aus und zu 90 % gesetzmäßige. Wenn allein die oberste Maxime zählte, dann wäre der Unterschied zwischen t1 und t2 völlig irrelevant – was stark kontraintuitiv ist. Ein weiterer problematischer Punkt besteht darin, daß man sich fragt, unter welchen Umständen die endgültige „Revolution in der Gesinnung“ dann noch zustande kommen kann und wessen Leistung sie ist. Es liegt nahe zu antworten: Da der Mensch mit seiner ersten Verfehlung seine Freiheit aus der Hand gegeben hat, bleibt nur noch die göttliche Gnade hierfür übrig. Aber die göttliche Gnade teilt – anders als die göttliche Gerechtigkeit der tugendproportionalen Zuweisung von Glückseligkeit nach der Kritik der praktischen Vernunft

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– ihre Güter nicht nach Verdienst zu; der Verdienstgedanke wäre ja zugleich mit der moralischen Fortschrittsidee aufgehoben. Einige weitere problematische Implikationen des Kantischen Ansatzes seien lediglich angedeutet. Offenbar muß ein Wesen wie der Mensch, welches durch eigene Fehlentscheidung schlecht geworden ist, zuvor gut gewesen sein. Dann aber ist es schwer zu sehen, wie es sich für das Schlechte entscheiden konnte. Was hat ihm das Böse eingegeben, wenn es doch gut war, und wodurch erschien ihm die böse Option als so attraktiv, daß es sie für wählenswert hielt? Kaum nachvollziehbar ist auch, welcher Fehlentscheidung man überhaupt die Kraft zutrauen mag, aus einem guten Wesen ein definitiv böses zu machen. Ein weiteres Folgeproblem, dem sich Kants Ansatz zu stellen hat, ist das einer unmöglichen moralischen Kollektivschuld und das einer fragwürdigen Gattungsallgemeinheit der moralischen Bosheit. Was mit einer atemporalen Handlung vor der Erlangung des Akteursstatus und ohne jede Erinnerung an ihren Vollzug gemeint sein mag, scheint ähnlich unklar zu sein, wie dies für den Fall des Kantischen Postulats der Unsterblichkeit der Seele in der Kritik der praktischen Vernunft gilt (V 122–124). Was dort postuliert wird, ist die „ins Unendliche fortdauernde(n) Existenz“ eines vernünftigen Wesens als Bedingung der Erfüllbarkeit des moralischen Gesetzes, das einen „unendlichen Progressus“ bis zur Heiligkeit, das heißt bis zur völligen Angemessenheit der Gesinnungen eines moralischen Subjekts gebietet. Aber wenn Heiligkeit des Willens so vollkommen different von der Tugend ist (wenn diese als Standfestigkeit im moralischen Kampf zu verstehen ist), daß es einer „Revolution in der Gesinnung“ bedarf (Rel., 47), dann hebt die Vorstellung der Unendlichkeit die Idee der Erreichbarkeit der moralischen Idee wiederum auf. Hier liegt ein ganzes Nest von Schwierigkeiten, von denen man Kants moralphilosophischen Standpunkt gerne loslösen würde. Anders als G. E. Michaelson 1990 sehe ich in den Paradoxien und Aporien, in die Kants Auseinandersetzung mit dem Bösen gerät, keine produktive Krise, in der sich Kant über die Grenzen seiner Vernunftkonzeption klargeworden ist. Noch weniger plausibel scheint mir die optimistische Sicht von C.L. Firestone und N. Jacobs 2008, es gelinge Kant in überzeugender Form, christliche Theologoumena transzendentalphilosophisch zu rekonstruieren.

Literatur Allison, H. E. 1990: Kant’s Theory of Freedom, Cambridge. Brandt, R. 2007: Die Bestimmung des Menschen bei Kant, Hamburg. Ehni, H.-J. 2006: Das moralisch Böse. Überlegungen nach Kant und Ricœur, Freiburg/ München. Firestone, Ch.L./Jacobs, N. 2008: In Defense of Kant’s Religion, Bloomington.

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Forschner, M. 2009: Immanuel Kants „Hang zum Bösen“ und Thomas von Aquins „Gesetz des Zunders“: Über säkulare Aufklärungsanthropologie und christliche Erbsündenlehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 63, 519–542. Frierson, R. P. 2003: Freedom and Anthropology in Kant’s Moral Philosophy, Cambridge. Glasenapp, H. v. 1954: Kant und die Religionen des Ostens, Kitzingen. Hare, J. E. 1996: The Moral Gap: Kantian Ethics, Human Limits, and God’s Assistance, Oxford. Horn, Ch. 2002: Wille, Willensbestimmung, Begehrungsvermögen, in: O. Höffe (Hrsg.), Kants Kritik der praktischen Vernunft, Berlin, 43–61. Michaelson, G. E. 1990: Fallen Freedom. Kant on Radical Evil and Moral Regeneration, Cambridge. Michaelson, G. E. 1999: Kant and the Problem of God, Oxford. Munzel, G. F. 1999: Kant’s Conception of Moral Character, Chicago/London. Schulte, Ch. 21991: Radikal böse. Die Karriere des Bösen von Kant bis Nietzsche, München. Wood, A. W. 2003: Kant and the Problem of Human Nature, in: Jacobs, B./Kain, P. (Hrsg.), Essays on Kant’s Anthropology, Cambridge, 38–59.

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4 Über die verschiedenen Bedeutungen des „Hangs zum Bösen“ 4.1 Über Sinn, Grund und Beschaffenheit des Hangs zum Bösen Kant stellt zu Beginn des Abschnittes III des ersten Teils der Religionsschrift resümierend klar, in welchem Sinn er davon spricht, daß der Mensch von Natur böse sei: „er ist sich des Gesetzes bewußt und hat doch die gelegentliche Abweichung von demselben in seine Maxime aufgenommen“ (Rel., 32). Zu verstehen sei die Annahme dieses sein Tun und Lassen leitenden Grundsatzes als „Tat ‚vor‘ aller Tat“, das heißt als „intelligible That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“ (32), die seinem erfahrbaren zeitlichen Handeln zugrunde liegt. Die Aussage soll von allen Menschen, vom Menschen „in seiner Gattung betrachtet“ (ebd.) gelten. Sie soll allerdings nicht einen Bestandteil der Definition des Wesens und damit eine „objektiv notwendige“ Qualität des Menschen bezeichnen. Was „zur Möglichkeit der menschlichen Natur“ gehört (28), hat Kant mit den Anlagen zur Tierheit, zur Menschheit und zur Persönlichkeit im Abschnitt I bereits benannt und erklärt. Man wäre also auch im Vollsinn des Wortes Mensch, wenn man diesen Hang zum Bösen nicht hätte. Er ist so gesehen ein „objektiv zufälliges“ Merkmal. Doch er ist empirisch-allgemein‚ bei allen Menschen vorhanden, wenngleich er, als genuin moralische Qualität, in der Freiheit des Menschen gründen muß und ihm deshalb zuzurechnen ist. „Natürlich“, ja „angeboren“ nenne er ihn, weil er bereits „vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit … zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird“ (22) und „nicht ausgerottet werden kann“ (31), „radikal“, weil er als der „subjective oberste Grund aller Maximen mit der Menschheit selbst … verwebt und darin gleichsam gewurzelt ist“ (32) derart, „daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen“ (25), und einen Hang, also eine dispositionale Eigenschaft (ein peccatum in potentia, 40) im Vergleich zu den entsprechenden manifesten Akten in der Zeit (vgl. 31). Beglaubigt werde das Dasein dieses generellen Hanges zum Bösen durch die schlagende „Erfahrung an den Thaten der Menschen“, die Kant „den förmlichen Beweis ersparen“ sollen (33). Den neuzeitlichen Mythos von der „natürlichen Gutartigkeit der menschlichen Natur“ (ebd.), den Mythos vom guten Wilden (bon sauvage) im Naturzustand dementieren für Kant Reise- und Erfahrungsberichte aus den Ländern der Neuen Welt, die eine generelle Verbreitung der „Laster der Rohttps://doi.org/10.1515/9783110782424-006

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higkeit“ (ebd.) deutlich vor Augen führen. Den gegenteiligen Mythos vom guten Menschen im zivilisierten Zustand zerstöre eine lange und überzeugende „melancholische Litanei von Anklagen der Menschheit“ (ebd.), die die offenen oder unter dem Schein von Tugend verborgenen „Laster(n) der Cultur und Civilisirung“ (ebd.) benennen, die den zivilisierten Europäer kennzeichnen. Und schließlich belegten die Staaten in der Verbindung beider Zustände im „äußeren Völkerzustand“ in bitterer Deutlichkeit ein allgemeines Verhalten, das „noch kein Philosoph mit der Moral hat in Einstimmung bringen“ können (34). Daß generell im Menschen ein Hang zum Bösen vorhanden ist, belegt für Kant also eindeutig die Erfahrung. Wenn er allerdings erklärt, daß diese Tendenz zur Verkehrung der Ordnung der Triebfedern in unseren Maximen bereits „vor allem in der Erfahrung gegebenen Gebrauche der Freiheit … zum Grunde gelegt wird und so als mit der Geburt zugleich im Menschen vorhanden vorgestellt wird“ (22, Hervorh. M. F.), „daß kein Grund ist, einen Menschen davon auszunehmen“ (25, Hervorh. M. F.) und daß „er nicht ausgerottet werden kann“ (31), dann machen seine Formulierungen deutlich: Die Rede vom „Hang zum Bösen“, der allen Menschen eigne, ist nicht nur eine theoretische Aussage von empirischer Allgemeinheit, sondern auch ein wohlbegründetes anthropologisches Interpretament in praktischpragmatischer Absicht: Es ist kein Grund, einen Menschen davon auszunehmen, weil alle Erfahrung dafür spricht, daß Menschen vom Beginn des Gebrauchs ihrer Freiheit an die Tendenz haben, zumindest in Konfliktsituationen eher der Neigung als der Pflicht zu folgen. Und es ist kein Grund, einen Menschen davon auszunehmen, weil wir in praktisch-pragmatischer Hinsicht gut daran tun, ja nach dem strengen „Urtheile der Vernunft“ (24) sogar genötigt sind, in unserem Selbstverhältnis und in unserem Verhältnis mit anderen Menschen (im Blick auf die moralische Ausbildung) mit diesem Hang zu rechnen und uns entsprechend zu verhalten. Daß der Mensch einen „angeborenen“ Hang zum Bösen hat, ist für Kant also einerseits eine Aussage, die sich empirischer Generalisierung verdankt und mit empirischen Erklärungen und Beurteilungen verbunden ist. Es ist andererseits eine Aussage, die in praktisch-pragmatischer Hinsicht getroffen wird; und beides zusammen ist gemeint, wenn Kant diese Aussage als Ergebnis der „anthropologischen Nachforschung“ verstanden wissen möchte (25). Die Frage nach dem Dasein, die Frage also, ob es diesen generellen Hang zum Bösen beim Menschen gibt, ist für Kant relativ leicht und eindeutig beantwortbar. Die „eigentliche Beschaffenheit“ des Hangs zum Bösen und der „Grund des Widerstreits“ (35) der menschlichen Willkür gegen das moralische Gesetz sind dagegen weit schwieriger zu fassen, sofern der Sachverhalt nicht überhaupt als letztlich unerforschlich zu gelten hat. Die Untersuchung und Beantwortung der Fragen nach Grund und Beschaffenheit des menschlichen Hangs zum Bösen kann jedenfalls nicht auf dem Erfahrungsweg, sondern muß auf apriorische Weise über eine Analyse der

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Begriffe und ihrer möglichen Beziehungen erfolgen, da die im Spiel befindlichen Begriffe und ihre Beziehungen („die freie Willkür“, „das moralische Gesetz als Triebfeder“, „die Pflicht“) im wesentlichen „rein intellectuell“ sind. Grund und Beschaffenheit des menschlich Bösen müssen „aus dem Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist, a priori erkannt werden“ (35). Was in gnostisch oder neuplatonisch-christlich geprägtem Moralverständnis zwar eine Rolle gespielt hat, was Kant allerdings sehr schnell ausschließen kann ist dies, daß der Grund des Bösen „in der Sinnlichkeit des Menschen und den daraus entspringenden natürlichen Neigungen“ gesetzt wird (34). Die Sinnlichkeit ist nichts Schlechtes. Naturanlagen sind schuldlos, ja sind, wie Kant zuvor ganz im Sinne der stoisch-christlichen Lehre von den inclinationes naturales geklärt hat (vgl. Thomas v. Aquin, Summa Theologiae I–II, qu. 94), Anlagen zum Guten, zumindest etwas, woran sich „die moralische Gesinnung in ihrer Kraft beweisen kann“, beziehungsweise „was zur Tugend die Gelegenheit“ gibt (Rel., 35). Wenn vom Bösen hier die Rede ist, dann ist keine Natureigenschaft, sondern eine moralische Eigenschaft angesprochen, etwas, was im Menschen „als einem frei handelnden Wesen angetroffen wird“ und was „als selbst verschuldet ihm muß zugerechnet werden können“ (ebd.). Was Kant ähnlich schnell und eindeutig ausschließen zu können meint, ist dies, daß der Grund des Bösen „in einer Verderbniß der moralisch-gesetzgebenden Vernunft gesetzt“ wird (ebd.), durch die „der Widerstreit gegen das Gesetz selbst zur Triebfeder … erhoben“ würde (ebd.). Er begründet dies mit einem zweigliedrigen Argument. Zum einen sei Freiheit zu verstehen als eine von zwei möglichen Formen von Kausalität und Kausalität allemal als eine nach Gesetzen erfolgende Wirksamkeit. Ein vernunftfähiges, frei handelndes Subjekt handelt als solches nicht nach Naturgesetzen. Würde es die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes, des Gesetzes der Freiheit für sich negieren, dann müßte man es „als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken … welches sich widerspricht“ (ebd.). Das Argument basiert auf dem Satz vom zureichenden Grunde, nach dem alles, was in der Welt geschieht, sei dies nach Naturursachen, sei dies nach Vernunftgesichtspunkten, gesetzlich bestimmt ist. Das zweite Argument hat zum Verstehenshintergrund die traditionelle christlich-mythologische Vorstellung von Luzifer als „einem Geiste von ursprünglich erhabenerer Bestimmung“, „dem die Versuchung des Fleisches nicht zur Milderung seiner Schuld angerechnet werden kann“ (44), der (nach seinem Fall) als Widerpart Gottes das Böse um des Bösen willen will, der einen schlechthin bösen Willen besitzt, während das Streben des Menschen immer nur ein Streben unter dem Gesichtspunkt des (tatsächlich oder vermeintlich) Guten (ein Streben sub specie boni) ist und sein kann (vgl. 35).

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Was dieses sein Streben sub specie boni zu einem bösen macht, ist, wie Kant formuliert, die Verkehrung der „sittliche(n) Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen“ (36). Der Mensch ist ein vernunftbegabtes Sinnenwesen. Als einem solchen eignet ihm von Natur eine zweifache Motivationsmöglichkeit seines Verhaltens. Kraft „seiner moralischen Anlage“ drängt sich ihm das moralische Gesetz bzw. die Achtung vor dem moralischen Gesetz „unwiderstehlich“ als Triebfeder auf; „vermöge seiner gleichfalls schuldlosen Naturanlage“ hängt er auch „an den Triebfedern der Sinnlichkeit“ (36). Diese natürlichen Triebfedern bestimmen nicht von selbst freies menschliches Verhalten; sie tun dies nur, insofern sie der Mensch zu wirksamen Grundsätzen seines Verhaltens (zu Maximen) macht beziehungsweise in seine Maximen „aufnimmt“ (vgl. 24). Doch beide nimmt die menschliche Willkür als die eines vernunftbegabten Sinnenwesens „natürlicherweise“ in ihre Maximen auf. Nun können sie in der Maximenordnung des Menschen nicht einfach nebeneinander bestehen, da die auf das empirische Dasein gerichtete Selbstliebe als Prinzip der Triebfedern der Sinnlichkeit und die Achtung vor dem Gesetz als Prinzip der Moralität heterogene Prinzipien sind und im Blick auf konkrete Entscheidungssituationen Unvereinbares zu tun nahelegen und erfordern können. Es bedarf der grundsätzlichen Über- und Unterordnung beider Prinzipien. Die sittliche Ordnung verlangt, daß das moralische Gesetz und die Achtung vor dem Gesetz zur obersten Maxime, zur Maxime aller Maximen gemacht wird. Der Mensch wird böse dadurch, daß er dagegen „die Triebfedern der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht“ (36). Der Mensch wird und ist also nicht dadurch böse, daß er auf satanische Weise gegen das moralische Gesetz rebelliert (36). Er ist dadurch böse, daß er dem Gesetz zu folgen bereit ist, insoweit dies mit der Selbstliebe übereinstimmt und die Ausnahme für sich in Anspruch nimmt, wenn die Forderung des moralischen Gesetzes den Anliegen seiner Selbstliebe entgegensteht. Damit ist das Wesen der Beschaffenheit des Bösen beim Menschen im Grunde erklärt. Gleichwohl gilt es zu seinem näheren Verständnis noch Verschiedenes zu beachten: (a) „Bei dieser Umkehrung der Triebfedern durch seine Maxime, wider die sittliche Ordnung, können die Handlungen dennoch wohl so gesetzmäßig ausfallen, als ob sie aus echten Grundsätzen entsprungen wären … da dann der empirische Charakter gut, der intelligible aber immer noch böse ist.“ (36 f.). Der Mensch kann mit einiger Fertigkeit, Konsequenz und Konstanz moralgemäßes Verhalten in den Dienst der Selbstliebe und ihres Ziels der Glücksbesorgung stellen; sein Verhalten kann demnach gut, die Maxime seiner Maximen, d. h. seine Gesinnung schlecht sein. (b) Da das moralische Gesetz sich ihm „unwiderstehlich“ aufdrängt, neigt der Mensch, der der Selbstliebe nachgeht, um der Gewissensruhe und Selbstbeschönigung willen einerseits dazu, „sich in der Deutung des moralischen Gesetzes zum

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Nachtheil desselben selbst zu belügen“ (42, Anm.), und versucht andererseits, „sich wegen seiner guten oder bösen Gesinnungen selbst zu betrügen“ (38) und anderen etwas vorzumachen, was, „(indem es die moralische Urtheilskraft in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen halten solle, verstimmt und die Zurechnung innerlich und äußerlich ganz ungewiß macht) den faulen Fleck unserer Gattung ausmacht.“ (Ebd.) (c) Zwar kann der Mensch sich mit einigem Erfolg bemühen, die wahre Denkungsart in seinem Innern aufzudecken (vgl. ebd.) und ihre tatsächliche Stärke zu erproben. Gleichwohl bleibt seine Selbst- und Fremdbeurteilung an „den Menschen in der Erscheinung, d. i. wie ihn uns die Erfahrung kennen läßt“ (25, Anm.) gebunden und kann nicht zu untrüglicher Überzeugung gelangen, einfach deshalb, weil die Möglichkeiten der Erfahrung nicht auszuschöpfen sind, weil deshalb „die Tiefe des Herzens (der subjective erste Grund seiner Maximen) ihm selbst unerforschlich ist“ (51). So gesehen ist auch beim besten Menschen nicht auszuschließen, daß er sich über die Lauterkeit und Stärke seiner Gesinnung täuscht, daß er im Grunde böse ist, daß auch seine Tugend ihren Preis hat (vgl. 38 f.), das heißt daß Umstände eintreten können, in denen sich auch bei ihm die Maxime der Selbstliebe als die eigentlich stärkere erweist.

4.2 Über die Möglichkeit des Hangs zum Bösen: Empirische und apriorische Erklärung Der Abschnitt IV fragt nach dem „Ursprung des Bösen in der menschlichen Natur“. Kant unterscheidet den Vernunftursprung vom Zeitursprung. Die Frage nach dem Zeitursprung behandelt das menschlich Böse, die Verkehrung der Maximenordnung, als eine „Begebenheit“ in der Zeit und sucht die Antwort in einer Kausalgeschichte, die erklärt, wie es zu dieser Begebenheit gekommen ist oder kommt. Dies wäre der Versuch, die Begebenheit über Kausalgesetze und Randbedingungen aus „vorhergehenden Zuständen abzuleiten“ (vgl. 39). Dies hieße aber, das menschlich Böse auf Natur- (bzw. Gesellschafts‐)ursachen zu beziehen und nicht als Ausdruck von Freiheit zu behandeln. Wo es um moralisch Qualifiziertes geht, da zielt die Ursprungsfrage dagegen nicht auf Ursachen (causae), sondern auf Gründe (rationes), auf „Vernunftvorstellungen“, die ein Subjekt zum Gebrauch seiner Freiheit bestimmen. Wenn wir das Verhalten eines Menschen nicht erklären, sondern (normativpraktisch) beurteilen, wenn wir den Menschen für sein schlechtes Tun verantwortlich machen, wenn wir ihm dieses Tun oder Lassen „zurechnen“, dann betrachten wir seine Handlung als einen „ursprünglichen Gebrauch seiner Willkür“

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und den Menschen so, als ob er „unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre“ (41). Das heißt: Wir nehmen ihn und den Grund seines Tuns aus der Naturordnung und ihren Kausalgeschichten heraus und versetzen sie in eine normative, eine intelligible praktische Ordnung, in der das Subjekt und sein Tun jeweils zeitlos und unmittelbar auf Forderungen des Gesetzes bezogen und vor eine Ja/ Nein-Entscheidung zum Gesetz beziehungsweise zur Art des Gebrauchs seiner Freiheit gestellt ist. Dieser grundsätzliche Akt der Entscheidung bezüglich einer normativ-praktischen Ordnung ist gemeint, wenn Kant vom Ursprung des Bösen als einer„intelligible(n) That, bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“ (31) spricht. Die Frage nun, warum der Mensch, obgleich er von Natur zum Guten prädisponiert ist, ganz generell, wie man sieht, die Maximenordnung zu verkehren tendiert, läßt sich nicht definitiv beantworten, weil als Grund für die Annahme einer bösen Maxime wiederum nur auf eine zugrundeliegende böse Maxime im Menschen verwiesen werden könnte und die Frage nach dem Vernunftursprung ohne die Möglichkeit einer Letztantwort ins Endlose fortzusetzen ist. „Das Böse hat nur aus dem Moralisch-Bösen (nicht den bloßen Schranken unserer Natur) entspringen können …; für uns ist also kein begreiflicher Grund da, woher das moralische Böse in uns zuerst gekommen sein könne“ (43). Dasselbe gilt nun allerdings auch für die Umkehrung, genauer gesagt für die Beantwortung der Frage, wie eine Konversion des Bösen zum Guten möglich sein soll. „Wie es nun möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache, das übersteigt alle unsere Begriffe; denn wie kann ein böser Baum gute Früchte bringen?“ (44 f.). Daß diese Konversion gleichwohl (stets) möglich sein muß, wissen wir auf der Basis des „Faktums der Vernunft“, das heißt des Bewußtseins des moralischen Gesetzes. Wir wissen uns unbedingt zur Moralität verpflichtet; und eine solche Verpflichtung wäre ohne entsprechendes Können unsinnig, nach dem bekannten Grundsatz, daß keine Verpflichtung zu etwas besteht, was man nicht leisten kann (ultra posse nemo obligatur). „Denn ungeachtet jenes Abfalls erschallt doch das Gebot: wir sollen bessere Menschen werden, unvermindert in unserer Seele; folglich müssen wir es auch können“ (45). Kant hält es letztlich für unerforschlich, warum der Mensch seine Maximenordnung in die eine oder die andere Richtung wendet. Wo im Grund eine „freie Wahl“ steht (44), findet die Warumfrage für eine Antwort keinen sicheren Halt. Gleichwohl gibt er eine umrißhafte Erklärung und Anweisung dafür, wie die Umkehr des bösen Menschen zum guten (von ihm selbst) zu denken und zu leisten ist. Voraussetzung für die Möglichkeit einer Umkehr ist, daß der Mensch nicht satanisch böse ist, daß die Anlage zum Guten in ihm nicht vollkommen zerstört ist, daß „ein Keim des Guten in seiner ganzen Reinigkeit übrig geblieben, nicht vertilgt oder verderbt werden konnte“ (45). Dieser Keim des Guten ist durch den Hang zum

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Bösen niedergehalten, überdeckt und verunreinigt. Grundlegend ist also die Freilegung, Reinigung und Pflege dieses Keims, der von Kant verstanden wird als „die Empfänglichkeit der Achtung für das moralische Gesetz als einer für sich hinreichenden Triebfeder der Willkür“ (27). Für den Gedanken der Möglichkeit des Weges zum Guten ist Kants anthropologische Kernthese von entscheidender Bedeutung, daß der Mensch Glied und Bürger zweier Welten, der sensiblen, zeitlichen und intelligiblen, zeitlosen Welt ist. Entsprechend wichtig sind die Unterscheidungen zwischen dem Menschen in der Erscheinung und dem Menschen als intelligibles Subjekt, zwischen seiner Sinnesart und seiner Denkungsart, seinem empirischen und seinem intelligiblen Charakter, seiner erfahrbaren und seiner intelligiblen Tugend, seinen zeitlichen Akten und der grundlegenden intelligiblen Tat. Auf der intelligiblen Ebene ist dies, wie jemand, der böse ist, „von selbst ein guter Mensch werde“ (47), nur über den Schritt einer radikalen Umkehr der Gesinnung, eine „Revolution für die Denkungsart“ (ebd.), „durch eine einzige unwandelbare Entschließung“ (47 f.) zu verstehen. Der Mensch in der Erscheinung dagegen wird gut nur über zeitliche und zeitraubende Prozesse der Disziplinierung und Kultivierung seiner Gefühle, Neigungen und Verhaltensweisen entsprechend den Forderungen der Moralität, über „die allmähliche Reform … für die Sinnesart“ (47). Doch diese Reform der Sinnesart, diese „Besserung der Sitten“ muß ihrerseits im Zeitlichen von der pädagogischen Praxis der „Erweckung sittlicher Gesinnungen“ (50) angestoßen und begleitet sein, da der Mensch besser werden kann nur auf einem Weg, „der ihm von einer im Grunde gebesserten Gesinnung angewiesen wird“ (51). Doch wie ist dies zu verstehen? Kant denkt den menschlichen Hang zum Bösen in einer intelligiblenTat begründet, die die sittliche Ordnung der Maximen verkehrt. Er denkt die Umkehr als Revolution der Gesinnung, als gleichfalls intelligible Tat, die die sittliche Ordnung der Maximen wiederherstellt. Zugleich spricht er davon, der Hang zum Bösen sei unvertilgbar. Möglich sei dem Menschen nur, ihn in einem zeitlichen Prozeß der Reform der Sinnes- und Denkungsart zu überwiegen. Wie kann im Menschen eine gute Gesinnung mit einem Hang zum Bösen zugleich vorhanden sein? Ehe man bei Kant Widersprüche in seiner Theorie zu entdecken meint, gilt es die Perspektiven zu beachten. Im Intelligiblen ist die Änderung des Menschen zum Guten als einmalige unwandelbare Revolution der Gesinnung zu betrachten; „für die Beurteilung der Menschen aber, die sich und die Stärke ihrer Maximen nur nach der Oberhand, die sie über die Sinnlichkeit in der Zeit gewinnen, schätzen können, ist sie nur als ein immer fortdauerndes Streben zum Besseren, mithin als allmählige Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart anzusehen.“ (48, Hervorh. M. F.).

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4.3 Die perspektivische Rede vom „Hang zum Bösen“ Das zuletzt Gesagte macht deutlich, daß Kant aus verschiedenen Perspektiven von diesem Hang zum Bösen spricht. Und es sollte auch deutlich machen, daß in der Nichtbeachtung der jeweiligen Perspektive und des Wechsels der Perspektiven die Schwierigkeiten einer konsistenten Interpretation von Kants Aussagen zu diesem Hang liegen. (Man wird, denke ich, Kants Anliegen und seiner methodologischen Raffinesse nicht gerecht, wenn man die Verschiedenheit der Perspektiven und der ihnen entsprechenden Aussagen zugunsten einer Perspektive und der entsprechenden Aussage korrigiert sehen möchte. Diese Intention sehe ich zum Beispiel in der Interpretation von Kants Lehre durch Allison 1990, Kap. 8 und 9 gegeben: „It argues that in spite of Kant’s tendency to present it as an empirical generalization, this doctrine is best understood as a postulate of morally practical reason“ (146). Die gegenteilige Intention drückt sich wohl in der These von Klemme 1999, 125–151 aus, daß eine „strikt moralphilosophische Interpretation“ der kantischen Aussagen zum radikal Bösen zu keinem widerspruchsfreien Ergebnis führt.) (a) Kant spricht einerseits vom Laster und von der Tugend „an sich in der Idee der Vernunft“ und von der Beurteilung des Menschen „auf der Wage der reinen Vernunft (vor einem göttlichen Gericht)“; und er spricht andererseits vom „Menschen in der Erscheinung, d. i. wie ihn uns die Erfahrung kennen läßt“ und wie er „nach empirischem Maßstabe (von einem menschlichen Richter) beurteilt“ wird (25, Fn.). Kant spricht einerseits vom Erfassen des „Dasein(s) dieses Hanges zum Bösen in der menschlichen Natur durch Erfahrungsbeweise“; und er spricht andererseits von der apriorischen Entwicklung des Begriffs des Bösen, „sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfähigkeit) möglich ist“ (35). Er spricht einerseits von der Betrachtungsweise einer jeden bösen Handlung, „wenn man den Vernunftursprung derselben sucht“ (41); und er spricht andererseits von der Ableitung einer Handlung „von irgendeinem vorhergehenden Zustande …, wenn die böse Handlung als Begebenheit in der Welt auf ihre Naturursache bezogen wird“ (39 f.). Er erklärt, der Satz vom angeborenen Bösen sei in der moralischen Dogmatik, das heißt der systematischen Lehre vom moralisch Gebotenen, Verbotenen und Erlaubten „von gar keinem Gebrauch“, da er die Geltung der Pflicht nicht berühre; in der moralischen Aszetik, das heißt der Lehre von der praktischen Vermittlung und Einübung des Moralischen besage der Satz dagegen, daß wir„nicht von einer uns natürlichen Unschuld den Anfang machen (können), sondern … von der Voraussetzung einer Bösartigkeit der Willkür in Annehmung ihrer Maximen der ursprünglichen sittlichen Anlage zuwider anheben (müssen) und, weil der Hang dazu unvertilgbar ist, mit der unablässigen Gegenwirkung gegen denselben“ (50 f.).

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(b) „Im Urtheile der Vernunft“ werden die Fragen, so Kant, „nach der rigoristischen Entscheidungsart“ beantwortet (23; vgl. dazu v. a. Bojanowski 2006, 262–286). Da gilt die „für die Moral wichtige(n) Bemerkung: die Freiheit der Willkür ist von der ganz eigenthümlichen Beschaffenheit, daß sie durch keine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, als nur sofern der Mensch sie in seine Maxime aufgenommen hat“ (23 f.). Im apriorischen Blick auf die Einheit und Spontaneität des Subjekts, die Einheit der Vernunft und die Einheit des Gesetzes ist die Gesinnung, das heißt die Maxime der Maximen der Person und damit die Person selbst (jeweils) entweder gut oder böse (vgl. 24). „Im Urtheile der Vernunft“ läßt „sich aus einigen, ja aus einer einzigen mit Bewußtsein bösen Handlung a priori auf eine böse zum Grunde liegende Maxime und aus dieser auf einen in dem Subject allgemein liegenden Grund aller besondern moralisch bösen Maximen, der selbst wiederum Maxime ist, schließen“ (20). „Im Urtheile der Vernunft“ hat dieser allgemeine subjektive Grund als Hang zum Bösen die Form einer Maxime der Maximen, ist also von uns selbst angenommen und zu verantworten, ist unsere eigene intelligible Tat, die jeder in die Sinne fallenden Tat zugrundeliegt, „bloß durch Vernunft ohne alle Zeitbedingung erkennbar“ (31). Im rein Intelligiblen macht die Differenz zwischen Disposition und Akt beim Menschen keinen Sinn. Kant wechselt denn auch den Titel des Abschnitts II des ersten Teils der Religionsschrift „Von dem Hange zum Bösen in der menschlichen Natur“ (28) konsequenterweise im Abschnitt III in den Satz: „Der Mensch ist von Natur böse“ (32). Im „Urtheile der Vernunft“ sind Gebrechlichkeit, Unlauterkeit und Bösartigkeit nur verschiedene (gestufte) Erscheinungsformen des Hangs zum Bösen, des „unvorsätzlichen“ Selbstbetrugs oder des bewußten (und selbstwidersprüchlichen) Eigendünkels im Blick auf die subjektive Einstellung der Person zum moralischen Gesetz und dem Bewußtsein der objektiven Forderung des moralischen Gesetzes an sie. Bekunden sie doch sämtlich einen „subjektiven Vorbehalt gegen die Verbindlichkeit des moralischen Gesetzes“ (Stangneth 2000, 62). Im „Urtheil der Vernunft“ ist die Perversion der Anlagen zum Guten durch den Hang zum Bösen möglich, weil sie wirklich ist, aber auch unerklärlich, weil sie in jedem Fall eine intelligible Freiheitstat ist (vgl. MS, VI 380 Fn.). Doch ebenso möglich (und als Freiheitstat unerklärlich) muß die moralische „Wiedergeburt“, das heißt die Revolution der schlechten in eine gute Gesinnung sein, weil sie uns durch das moralische Gesetz bedingungslos geboten ist. Wenn Kant davon spricht, daß der Hang zum Bösen „unvertilgbar“ aber überwindbar ist, so muß dies im „Urtheile der Vernunft“ heißen, daß wir „den Feind in uns“ zwar nicht vernichten, doch (jederzeit) besiegen, daß wir uns von ihm distanzieren, daß wir uns zu ihm in ein freies Verhältnis setzen können. Im „Urtheil der Vernunft“ spielt der Hang zum Bösen für die „moralische Dogmatik“ denn auch keine Rolle; das heißt bezüglich jeder Pflicht ist jede mündige

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Person jederzeit so zu beurteilen, als ob sie ihr entsprechend unmittelbar zu handeln befähigt ist. Eine „jede böse Handlung muß, wenn man den Vernunftursprung derselben sucht, so betrachtet werden, als ob der Mensch unmittelbar aus dem Stande der Unschuld in sie gerathen wäre“ (41). Und dieses „als ob“ ist nicht im Sinne der Unwahrheit, sondern der praktisch gültigen Wahrheit des Urteils gemeint. Eine jede Handlung eines verantwortlichen Menschen muß in dieser Perspektive „immer als ein ursprünglicher Gebrauch seiner Willkür beurtheilt werden“ (41). Und genau dies tun wir und meinen wir, wenn wir jemandem „im Urtheil der Vernunft“ sein Tun moralisch oder rechtlich „zurechnen“. (c) In der empirischen Perspektive der Betrachtung und Beurteilung des Menschen (vgl. 39 Fn.), in der Perspektive des „menschlichen Richters“ und in der Perspektive der Aszetik im Blick auf die sittliche Bildung des Menschen stellen sich die Dinge anders dar. In empirisch erklärender Perspektive bedeutet zunächst dieser Hang zum Bösen „nichts weiter, als daß, wenn wir uns auf die Erklärung des Bösen seinem Zeitanfange nach einlassen wollen, wir bei jeder vorsetzlichen Übertretung die Ursachen in einer vorigen Zeit unsers Lebens bis zurück in diejenige, wo der Vernunftgebrauch noch nicht entwickelt war, mithin bis zu einem Hange (als natürliche Grundlage) zum Bösen, welcher darum angeboren heißt, die Quelle des Bösen verfolgen müßten“ (43). Hier hätte „Hang“ die Bedeutung nicht einer eigenverantwortlichen Einstellung, sondern einer naturalen „Prädisposition zum Begehren eines Genusses, der, wenn das Subject die Erfahrung davon gemacht haben wird, Neigung dazu hervorbringt“, so wie in Kants Beispiel „rohe Menschen“, die noch keine Erfahrung mit Alkoholischem gemacht haben, eine Prädisposition zur Abhängigkeit von berauschenden Getränken haben (28, Fn.).Von einem solchen „Hang zum Bösen“ gilt Kants eigenartiger Satz, „daß er zwar angeboren sein kann, aber doch nicht als solcher vorgestellt werden darf“ (29). Das heißt wohl: Was in rein theoretischer Erklärungsperspektive eine plausible Annahme sein mag, darf in der reinen Vernunftperspektive moralischer Beurteilung keinen argumentativen Platz beanspruchen, da in ihrem Horizont Böses seinem Begriff nach nicht auf Natur (oder Gesellschaft) zurückführbar, sondern nur als Wirkung einer Kausalität aus Freiheit zu denken ist. In empirisch beurteilender Perspektive ist nicht der apriorische Grundsatz der „rein intellektuellen“ Beurteilung leitend, nach dem die Maxime der Maximen und damit die Person jederzeit entweder gut oder böse ist. Und in empirisch beurteilender Perspektive unterstellen wir nicht allenthalben einen Hang zum Bösen vor allem Gebrauch der Freiheit. In empirischer Beurteilung gehen wir selbstverständlich von der moralischen Unschuld des Säuglings und Kleinkindes, von der moralischen „Indifferenz vor aller Ausbildung“ (39, Fn.) aus. Und im Blick auf die in die Sinne fallenden Handlungen der Menschen stellen wir in der Regel „ein Posi-

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tives der Mischung, theils gut, theils böse zu sein“ fest (ebd.). Die „Beurtheilung der Moralität des Menschen in der Erscheinung“(ebd.) muß sich ohnehin an der grundsätzlich feststellbaren äußeren Rechtheit des Handelns orientieren. Die einen Menschen jeweils leitende Maxime der Maximen, seine Gesinnung sowie ihre Stärke oder Schwäche läßt sich, weil im Noumenalen situiert, wofür Phänomenales (epistemisch) nur ein Zeichen und Hinweis ist, durch Fremd- und Selbstbeobachtung und durch Interpretation der Beobachtungsdaten niemals eindeutig und endgültig klären. Der „Reinigkeit der moralischen Absicht“, der „Lauterkeit der Gesinnung“ und der unüberwindbaren Stärke der guten Maximenordnung kann ein Mensch „weder durch unmittelbares Bewußtsein noch durch den Beweis seines bis dahin geführten Lebenswandels“ (51) jemals völlig gewiß sein. Die „Tiefe des Herzens“ ist dem Menschen „unerforschlich“ (ebd.). „Die eigentliche Moralität der Handlungen … bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit … zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten.“ (KrV, A 551/B 579, Fn.; vgl. MS, VI 392; Rel., 38). In empirisch beurteilender (und praktisch-pädagogischer) Perspektive stellen die Stufen der Gebrechlichkeit, der Unlauterkeit und der Bösartigkeit des Herzens wesentliche Unterscheidungen dar. In ihr erscheint es möglich, daß die Gesinnung bereits gut und „das Fleisch noch schwach“, und daß die Unlauterkeit des Herzens dem Menschen (vielleicht sogar schuldlos, vgl. GMS, IV 407) nicht bewußt ist. Einzig die „mit Bewußtsein böse Handlung“ ist ein einigermaßen sicheres Indiz für das Vorliegen einer verdorbenen Gesinnung. Der empirische Charakter ist (nichts anderes als) die raum-zeitliche Verwirklichung und Manifestation des intelligiblen Charakters. Die moralische Aszetik, der es um die sittliche Ausbildung „des Menschen in der Erscheinung“ im Blick auf seinen empirischen und intelligiblen Charakter geht, muß die reine Vernunftperspektive mit der empirisch erklärenden und empirisch beurteilenden Perspektive in praktischpragmatischer Absicht verbinden. Sie muß mit der „Idee der Menschheit“ und dem Gedanken der Erhabenheit der moralischen Bestimmung des Menschen (vgl. 50) die Anlage zur Persönlichkeit und mit ihr die Gesinnung des Menschen ansprechen, um das Gefühl der Achtung vor dem Gesetz gegenüber den Ansprüchen der Sinnlichkeit zu wecken und zu stärken und ihn zu einer (nachhaltigen) Revolution der Gesinnung zu motivieren. Sie muß andererseits die Sinnesart des Menschen, das heißt die Art, den Zusammenhang und die Kraft seiner Neigungen und Gefühle nach erfahrungsgestützten Klugheitsregeln über Gewöhnungs- und Belehrungsprozesse in und mit der Zeit so formen, daß sie sich dem

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Gesetz der Vernunft fügen, seine Befolgung im Handeln unterstützen, ihr jedenfalls möglichst wenig Hindernisse entgegensetzen. Die Form der Nötigung und des „Selbstzwangs“ wird Moralität allerdings auch beim Menschen mit bestem empirischem Charakter in Situationen eines gravierenden Konflikts zwischen Pflicht und Neigung immer haben. Denn entsprechend der Kantischen Anthropologie, die sich mit dem Lehrstück vom „Hang zum Bösen“ vom optimistischen Naturalismus der Aufklärung distanziert, ist nicht davon auszugehen, daß im Menschen „von Natur“ oder auch aufgrund von Bildungsprozessen die Ansprüche der Sinnlichkeit und der Vernunft völlig von selbst harmonieren.

4.4 Kants „Hang zum Bösen“ und die christliche Erbsündelehre Kant steht ideengeschichtlich mit seiner Lehre vom radikal Bösen im Menschen in der Tradition der christlich-theologischen Lehre vom peccatum originale, von der Ur- und Erbsünde. Er spricht vom „Hang zum Bösen“ als dem peccatum originarium (31); er verwendet die Geschichten und Metaphern dieser Lehre; doch er übersetzt sie in eine völlig säkulare philosophische Anthropologie und Moralphilosophie. Im Abschnitt IV referiert Kant auf seine Weise „die Vorstellungsart, deren sich die Schrift bedient, den Ursprung des Bösen als einen Anfang desselben in der Menschengattung zu schildern“ (41 f.). Das Alte Testament berichtet bekanntlich im Buch Genesis vom Ursprungszustand des Menschen, vom Sündenfall des ersten Menschenpaars und vom Verlust des Paradieses. Es betont in verschiedenen seiner Schriften die generelle Sündhaftigkeit des Menschen und den allgemeinen Hang zur Sünde, aber es kennt keine Erbsündelehre. Den Ursprung für die Entwicklung einer solchen Lehre bietet erst der Apostel Paulus in einem Passus seines Briefs an die Römer (Röm 5, 8–21). Dieser Abschnitt enthält in Vers 5, 19 den Gedanken, daß das fundamentale Sündersein auf Adam allein zurückgeht, läßt aber offen, „in welcher Weise die Sündigkeit der einzelnen Menschen mit der Adamssünde verknüpft ist.“ (Schmaus 1969, 391). Eine falsche Vulgata-Übersetzung von Vers 5, 12 (das eph’ ho pantes hemarton wurde fälschlich mit „in dem alle gesündigt haben“ statt wie richtig mit „deshalb weil alle gesündigt haben“ übersetzt) begründet den kanonisierten Gedanken, in Adam hätten alle Menschen gesündigt, eine Formel, die auf seine Weise auch noch Kant in unserem Passus verwendet (42). Der wichtigste spätantike Autor für die theologische Entwicklung der christlichen Erbsündelehre im Anschluß an Paulus ist Augustinus; er zeichnet auch für die biologischen und sexuellen Konnotationen des Begriffs verantwortlich. Das Konzil von Karthago (418 n.Chr.), das zweite Konzil von Orange (529 n.Chr.) und das Konzil

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von Trient (1546 n.Chr.) betonen im Blick auf die Einheit der Menschen als Gattung und die Abstammung aller Menschen von Adam den Kollektiv- und Vererbungscharakter von Sündhaftigkeit und Schuld, aus der der einzelne Mensch (nur) durch die Erlösungstat Christi in der Taufe gnadenhaft gelöst und befreit wird. Der die gesamte Gattung betreffende Charakter der Erbsünde findet bei Kant sein philosophisches Echo in der Betonung der Allgemeinheit des Hangs des Menschen zum Bösen ebenso wie in der Bestimmung der Pflicht zur Gründung einer Tugendgemeinschaft (einer„Kirche“) als Gattungspflicht (vgl. 97). Die Frage nach der Gnadenhaftigkeit oder dem Leistungscharakter des Gesinnungswandels und siegreichen Kampfes gegen den Hang zum Bösen beantwortet Kant unter praktischpragmatischer Rücksicht durch die („(semi)pelagianische“) Betonung dessen, was „in unserer Hand ist“ (vgl. Schulte 1991, 116), nämlich die durch uns, durch jeden Einzelnen zu leistende Revolution der Denkungsart und Reform der Sinnesart und die der Gattung aufgetragene Errichtung einer öffentlichen Tugendgemeinschaft (Kirche). Die Hoffnung auf göttlichen Beistand kann nicht Motiv der Gesinnung und des Einsatzes der Kräfte, sondern nur deren Folge sein. Leitend ist für Kant der Grundsatz, „daß ein jeder soviel, als in seinen Kräften ist, tun müsse, um ein besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angeborenes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX, 12–16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden“ (52). Die christliche Tradition betont die Einheit der Sünde in der Wurzel und die durch sie begründete Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit jedes Einzelnen, einschließlich der Neugeborenen und kleinen Kinder. Doch sie betont auch den wesentlich kollektiv-korporativen Charakter dieser „Sündhaftigkeit“, nämlich dies, daß diese Ur- und Erbsünde nicht auf einer persönlichen Entscheidung jedes Einzelnen beruht, daß es sich also nicht um eine freiwillige und verantwortliche Tat handelt, sondern um einen Zustand der Sündhaftigkeit, der im Nichterlösten jeder persönlichen Zielsetzung, Entscheidung und Handlung vorausliegt und diese sündhaft macht. Kant verabschiedet den Gedanken einer (wie auch immer) vererbten, die Menschheit als Gattung betreffenden korporativen Sündhaftigkeit und kollektiven Schuld; er lehnt die christliche Erbsündenlehre in ihrer traditionellen Gestalt nachdrücklich ab: „Wie nun aber auch der Ursprung des moralischen Bösen im Menschen beschaffen sein mag, so ist doch unter allen Vorstellungsarten von der Verbreitung und Fortsetzung desselben durch alle Glieder unserer Gattung und in allen Zeugungen die unschicklichste: es sich als durch Anerbung von den ersten Eltern auf uns gekommen vorzustellen“ (40). Er verankert das Prinzip des (moralisch) Bösen ebenso wie des (moralisch) Guten substantiell in der Freiheit jedes Einzelnen, dies freilich so, daß auch die Sozialität des Menschen als Voraussetzung

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der Bösartigkeit ebenso wie der Tugendhaftigkeit des Menschen mit Nachdruck zur Sprache und zur Geltung kommt. Eine theologische Erklärung des Zustands vererbter kollektiver Sündhaftigkeit, die für die Kantische philosophische Lehre vergleichsfähig und ausgesprochen erhellend ist, bietet Thomas von Aquin. Nach Thomas ordnet die göttliche Vernunft das Verhalten der Geschöpfe über verschiedene den Geschöpfen entsprechend ihrer Art eingegebene natürliche Neigungen (inclinationes naturales). Der Mensch besitzt natürliche Neigungen zur Selbst- und Arterhaltung, zur sprachlich vermittelten Gemeinschaft und zur neigungsbezogenen ebenso wie zur interesselosen Erkenntnis. Das natürliche Gesetz, das Gesetz seiner ihm von Gott gegebenen besonderen Verfassung besagt, daß er, auf der Basis und nach den Zielvorgaben seiner natürlichen Neigungen, der Vernunft entsprechend handle (vgl. Summa Theologiae, I–IIae, qu. 91 a. 6 co.). Nun muß man nach christlich-theologischer Anthropologie bezüglich der Befolgung des natürlichen Gesetzes gattungsgeschichtlich zwischen ursprünglichem Idealzustand, Unheilszustand und durch Christus möglichem Heilszustand des Menschen unterscheiden. „Im ursprünglichen Zustand war dieses Gesetz derart wirksam, daß sich im Verhalten des Menschen nichts einschleichen konnte, was außervernünftig oder widervernünftig war. Als der Mensch sich aber von Gott abwandte, verfiel er in den Zustand, daß er dem Impuls der Sinnlichkeit entsprechend getrieben wird; und dies trifft jeden Einzelnen auch auf besondere Weise, je mehr er von der Vernunft sich entfernt haben wird; so daß sich der Mensch in gewisser Weise den wilden Tieren angleicht, die vom Impuls der Sinnlichkeit getrieben werden …“ (Summa Theologiae, I– IIae, qu. 91 a. 6 co.). Die Neigung der Sinnlichkeit in ihrer vom Bezug zur rechten Vernunft und von der selbstverständlichen Prägung und Leitung durch rechte Vernunft gelösten Form erfüllt im Unterschied zum wilden Tier im Menschen allerdings nicht den Begriff des (natürlichen) Gesetzes, sondern der Abweichung vom Gesetz der Vernunft (der deviatio a lege rationis). Da die Menschen nach der Sünde Adams und vor der Erlösungstat Christi der Dominanz dieser Neigung generell unterworfen und in ihrem Denken und Tun mehr oder weniger häufig und stark ausgeliefert sind, hat diese Neigung so etwas wie Gesetzescharakter, doch weder den eines deskriptiven noch den eines präskriptiven natürlichen Gesetzes, sondern den einer Strebensweise, zu der man durch göttliches Strafgesetz degradiert wurde (vgl. Summa Theologiae, I–IIae qu. 91 a. 6 co.). Zwei Dinge sind es, die nach Thomas den Status der Sündhaftigkeit und des Unheils des Menschen in seinem Wesen ausmachen: der Verlust der ursprünglichen spontanen Rechtschaffenheit (der iustitia originalis) und der Verlust der ursprünglichen durchdringenden Vernunftstärke (der vigor rationis), und, diesem Verlust entsprechend, eine faktisch-generelle Orientierungs- und Motivationsdominanz der Sinnlichkeit, der concupiscentia (vgl. In II Sent. d. 30 qu. 1 a. 3), wobei unter concupiscentia als Strebens- und Verhaltensprinzip des Unerlösten das un-

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eingeschränkte Bestreben zur Erhaltung und Steigerung des eigenen empirischen Daseins und des Genusses dieses Daseins in all seinen Schattierungen zu verstehen ist. Der generelle Zustand selbst, eine corruptio der menschlichen Natur, ist durch die göttliche Strafgerechtigkeit verfügt; er wirkt sich in der persönlichen, vom Einzelnen zu verantwortenden Sündhaftigkeit unterschiedlich und umso gravierender aus, je mehr dieser sich von der (rechten) Vernunft entfernt. Die Abweichung vom Gesetz der Vernunft mag unterschiedlich sein; doch was dem Handeln des der Erbsünde Verhafteten grundsätzlich fehlt, ist seine gottgefällige Heiswirksamkeit. Diese wird erst ermöglicht durch die gnadenhafte Teilhabe an den Wirkungen der Erlösungstat Christi, die Erbsünde und Erbschuld tilgen. Der Unerlöste ist gekennzeichnet durch Konkupiszenz, das heißt durch einen verabsolutierten Selbstbezug, der ihn, als Menschen, an sein empirischzeitliches Dasein und die Güter dieses Daseins fesselt und dem Tod verfallen sein läßt. Kant säkularisiert diese Lehre, streicht die Vorstellung einer idealharmonischen Ursprungsverfassung des Menschen, ebenso den Gedanken einer kollektiven Erbschuld, rückt die sündhafte Konkupiszenz in den Bereich persönlicher Tat und Verantwortung und plädiert (in praktischer Hinsicht) für die Möglichkeit der Selbstbefreiung aus ihr „durch eigene Kraftanwendung“ (51) in Form einer Revolution auf intelligibler und einer Reform auf empirischer Ebene. Gleichwohl muß Kant ein Teilstück dieser Lehre in seine Theorie über- nehmen. Kant sieht in der selbst zu leistenden „Herzensänderung“ (wie das Christentum im Gnadenakt der Taufe) „eine Art von Wiedergeburt“ des Menschen (47). Nun ist nach christlicher Lehre zwischen der vernunftwidrigen Konkupiszenz des mit der Erbsünde Behafteten und dem unmittelbaren sinnlichen Begehren des durch die Taufe „Wiedergeborenen“, zu dem dieser in ein Verhältnis tritt und das er als Person und freies Subjekt nicht vollkommen „einholen“ kann, zu unterscheiden. Auch letzteres wird, insofern es der rechten Vernunft widerstrebt und im Menschen in diesem Leben „unvertilgbar“ ist, in den christlich-dogmatischen Texten concupiscentia genannt. Und von dieser muß (ohne den Kontext einer kollektiven Straffolge) in säkular-anthropologischem Sinn auch bei Kant die Rede sein, wenn er„im Urtheile der Vernunft“ an den nichtgetilgten aber überwundenen und stets zu bekämpfenden Hang zum Bösen im „Wiedergeborenen“ denkt, im Unterschied zum Hang zum Bösen beim Menschen schlechter Gesinnung. Und in der Tat enthalten für Kant, in welchem Zustand des Menschseins auch immer, „die Antriebe der Natur … Hindernisse der Pflichtvollziehung im Gemüth des Menschen und (zum Theil mächtig) widerstrebende Kräfte, die also zu bekämpfen und durch die Vernunft nicht erst künftig, sondern gleich jetzt (zugleich mit dem Gedanken) zu besiegen er sich vermögend urtheilen muß“ (MS, VI 380). Der „Hang zum Bösen“ im Sinne einer Disposition spontanen „unwillentlichen“, der recta ratio widerstrebenden sinnlichen Begehrens ist vom Hang zum Bösen als einer Disposition zu unterscheiden, die

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diesem Begehren und Bestreben in welcher Form auch immer bejahend entgegenkommt. In letzterem Sinn ist vom (verantwortlichen und schuldhaften) Vorliegen eines aktuellen Hangs zum Bösen bei Kant eindeutig dann die Rede, wenn „der Mensch auf diesem Scheidewege … mehr Hang zeigt der Neigung als dem Gesetz Gehör zu geben“ (ebd. Fn., Hervorh. M. F.). Der Grund des Bösen kann jedenfalls nicht in der ungeordneten Sinnlichkeit des Menschen als solcher, er muß in seiner Freiheit liegen, die seine Gesinnung bestimmt (vgl. Rel., 34). Er kann aber auch nicht, wie manche Interpreten meinen, einfach mit der Freiheit der Willkür zum Guten wie zum Bösen, mit der bloßen Möglichkeit „sündigen zu können“ identifiziert werden. Thomas von Aquins Theorie wurde durch die Erbsünde-Canones des Konzils von Trient (Sessio V, 17. Iunii 1546: Decretum super peccato originali, vgl. Denzinger 1932, Nr. 787–792, 281–283.) für den Katholizismus festgeschrieben. Was an diesen im Blick auf Kants Theorie des Bösen interessiert, ist ein Passus des Kanons 5; er lautet: „Daß aber in den Getauften die Begierlichkeit (concupiscentia) … zurückbleibt, das bekennt und weiß die heilige Kirchenversammlung. Da sie aber für den Kampf zurückgelassen ist, kann sie denen, die nicht zustimmen, sondern mannhaft durch Christi Jesu Gnade Widerstand leisten, nicht schaden. … Wenn der Apostel diese Begierde gelegentlich Sünde (Röm 6, 12 ff.) nennt, so erklärt die heilige Kirchenversammlung, daß die katholische Kirche ihre Benennung als Sünde niemals so verstanden hat, daß sie in den Wiedergeborenen wirklich und eigentlich Sünde war, sondern weil sie aus der Sünde stammt und zur Sünde geneigt macht“ (Denzinger 1932, 283; vgl. Schmaus 1969, 397 f., Hervorh. M. F.). Kant streicht, wie gesagt, die ideale Anthropologie der Paradiesesgeschichte und versteht den Menschen generell so, daß er sich mit dem Beginn des Gebrauchs seiner Freiheit den Hang zum Bösen zuzieht, aber auch aus ihm sich wieder befreien kann. Die Möglichkeit der Versuchung und des Falls gehört dagegen zur moralischen Verfassung des Menschen, auch, wie im Christentum, zu der des „Wiedergeborenen“. Tugend ist auch für Kant Tugend im Kampfe. Der Hang zum Bösen ist auch nach ihm untilgbar, aber überwindbar, solange und insofern wir Menschen freie sinnliche Wesen sind. Zwischen dem Hang zum Bösen im Menschen schlechter Gesinnung und dem Hang zum Bösen im Menschen guter Gesinnung ist deshalb, auch wenn Kant dies nicht deutlich genug tut, aus reiner Vernunftperspektive genau zu unterscheiden. Im Menschen, der per possibilem die Revolution der Denkungsart („durch eine einzige unwandelbare Entschließung“, 47 f.) erfolgreich vollzogen hat, ist dieser Hang nicht mehr als intelligible Tat, sondern als Wesensmerkmal und als unauslöschliche Tatfolge und demnach als permanent zu gewärtigende Herausforderung und Versuchung zur Verfehlung zu denken. Die Möglichkeit der Versuchung zur Verfehlung und damit zur Verkehrung der prinzipiellen Triebfederordnung in den Maximen durch Ansprüche unserer Sinnlich-

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keit nach einer Revolution der Gesinnung ist umso realer und stärker zu denken, je zeitlich näher und je mehr der „alte“ Mensch sich verfehlt hat. Doch dieser Hang zum Bösen im Sinne der Versuchung selbst kann auch für Kant, nach gelungener Revolution, nicht mehr als intelligible Tat zu denken sein, insofern und solange wir nicht „zustimmen“, das heißt solange wir den Impuls der Sinnlichkeit nicht (wieder) zur höchsten Triebfeder unseres Handelns in unserer Gesinnung machen. Böse und schuldig werden wir nur, wenn wir der Versuchung vernunftwidriger Sinnlichkeit nachgeben. Und Sinnlichkeit, das Prinzip empirischer Selbstliebe, wird auch für Kant im eigentlichen Sinn vernunftwidrig nur, wenn sie in uns, in vernünftigen Sinnenwesen, die Rolle des unser Handeln bestimmenden Motivs aller Motive spielt. Thomas würde mit Augustinus sagen, daß da der amor sui stärker ist als der amor dei; und Kant wird entsprechend sagen, daß die Neigung stärker ist als die Achtung vor dem Gesetz, daß indessen dieses Stärkersein der Neigung sich der freien und schuldhaften Verkehrung der Hierarchie der Triebfedern in unseren Maximen verdankt. Das Christentum kennt „in diesem Leben“ keine Heilsgewißheit. Und auch bei Kant greift nachhaltig der Gedanke, daß wir bezüglich des wahren Zustands der Gesinnung, über ihre Reinheit und Stärke kein klares und sicheres Wissen haben und haben können. Deshalb gilt für ihn aus der Perspektive empirischer Fremdund Selbstbeurteilung ebenso wie aus der Perspektive der moralischen Pädagogik der Satz vom simul iustus et peccator; von den „zwei Seelen in unserer Brust“, die im jederzeit möglichen Kampf miteinander liegen, der wohl im zeitlichen Sieg über den Hang zum Bösen, aber nicht mit seiner zeitlichen Vernichtung enden kann. Deshalb spricht er nicht nur von der Revolution der Gesinnung, sondern auch von der „allmählige(n) Reform des Hanges zum Bösen als verkehrter Denkungsart“ (48, Hervorh. M. F). Die rechte Denkungsart gilt es permanent zu wecken und zu pflegen und durch die Sinnesart zu stützten; deshalb spricht er von der Kultivierung der Anlage zum Guten, die „allmählig in die Denkungsart über(geht)“ (ebd.). Der Weg zur Tugend als virtus noumenon bedarf in der Tat einer nachhaltigen Revolution in der Gesinnung (von der man nie wissen kann, ob sie tatsächlich gelungen ist), aber eben auch einer Reform des empirischen Charakters, des allmählichen Erwerbs einer Tugend (als virtus phaenomenon), die „einigen eine lange Gewohnheit (in Beobachtung des Gesetzes) (heißt), durch die der Mensch vom Hang zum Laster durch allmählige Reformen seines Verhaltens und Befestigung seiner Maximen in einen entgegengesetzten Hang übergekommen ist“. (47)

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Maximilian Forschner

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5 Zweites Stück: Moralische Vollkommenheit In der Religionsschrift hat Kant sich die Frage vorgelegt, welche religiösen Überzeugungen wir uns zueigen machen müssen, wenn wir die Realisierbarkeit des höchsten Guts, die proportionale Verteilung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, für möglich halten. Weil der glückswürdige Mensch auch der moralisch vollkommene Mensch ist, muß Kant auch erklären, wie trotz eines ursprünglichen und letztlich nicht auszumerzenden Hanges des Menschen zum Bösen die moralische Vervollkommnung möglich sein soll. Im Ersten Stück hatte Kant eine philosophische Theorie der Erbsündenlehre vorgelegt. Er hatte dafür argumentiert, daß der Mensch als autonomes Vernunftwesen einerseits auf moralisch gutes Handeln angelegt ist, er andererseits nach dem, „wie man ihn durch Erfahrung kennt, […] nicht anders beurteilt werden [kann]“, als daß ihm ein Hang zum Bösen zukommt (32). Dieser Hang wird von Kant so verstanden, daß wir bei der Annahme der moralischen Handlungsgrundsätze (Maximen) so disponiert sind, das moralisch Gebotene unseren Neigungen unterzuordnen und auf diese Weise die „sittliche Ordnung“ (36) umkehren. Er ist im wörtlichen Sinne „radikal“, weil er nicht nur besondere moralische Handlungsgrundsätze betrifft, sondern unsere Einstellung zu moralischen Handlungsgrundsätzen im allgemeinen. An dieser bösen Einstellung können wir bereits aus begrifflichen Gründen nicht unschuldig sein. Das Wissen um die kategorische Verbindlichkeit des Moralgesetzes (Faktum der Vernunft) sowie die Einsicht, daß sich die Gültigkeit eines universellen Prädeterminismus prinzipiell nicht beweisen läßt (dritte Antinomie), berechtigen Kant dazu, vom uneingeschränkten Sollen auf die absolute Freiheit des Menschen zu schließen und so den Hang zum Bösen als „selbst […] zugezogen“ (29) und „Mißbrauch“ (21) unserer Freiheit zu denken. Der eigentliche Gebrauch unserer Freiheit besteht hingegen in der Verwirklichung unserer ursprünglichen Anlage zum Guten. Demnach können wir kraft dieser Freiheit durch die Annahme einer moralisch guten „obersten Maxime“ eine „Revolution in der Gesinnung“ vollziehen (47 f.). Den selbst zugezogenen Hang, das moralisch Gebotene unseren Neigungen unterzuordnen, können wir mit dieser Revolution „überwiegen“; „vertilgen“ können wir ihn nicht. Mit der Revolution der Gesinnung wird nicht auch der Hang zum Bösen abgelegt (37). Wir müssen uns vielmehr die moralische Existenz des Menschen vor und nach der Revolution als einen „Kampf“ vorstellen, einen „Kampf des guten Princips mit dem Bösen“ (57).

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Hier ist der Ansatzpunkt des Zweiten Stücks der Religionsschrift. Kant möchte zeigen, wie der Mensch im Kampf des guten Prinzips mit dem bösen bei der Überwiegung des radikal Bösen an einem Vernunftprinzip maßnimmt: der Idee der moralischen Vollkommenheit. Diese Idee müssen wir uns – dafür will Kant argumentieren – in personifizierter Form als den „Sohn Gottes“ vorstellen. Auch bei Kant ist es also in gewisser Weise Jesus Christus, der den Menschen von der Erbsünde, dem ursprünglichen Hang zum Bösen, erlöst. Jedoch nicht indem er als Opfer oder Ersatz jedem Individuum seine Schuld abnehmen würde. Kant entwickelt vielmehr eine Vernunftchristologie, in der das durch Analogie schematisierte Ideal des Sohnes Gottes als Urbild für einen moralisch guten Lebenswandel fungiert. Kant will beweisen, daß, wenn wir unseren Lebenswandel zum moralisch Guten „revolutionieren“, wir uns immer schon an diesem Ideal orientieren und danach streben, uns ihm anzugleichen. Jesus Christus, der von Kant nicht namentlich erwähnt wird, wird als ein Vernunftideal gedacht, an das wir notwendig praktisch glauben, wenn wir nach moralischer Vollkommenheit streben. Kants Vernunftchristologie liefert damit auch die Grundzüge einer selbstverantwortlichen Soteriologie. Wir selbst müssen durch eine Gesinnungsrevolution unsere moralische Vervollkommnung auf den Weg bringen. Motivationale Kraft erhalten wir dabei von einem durch Analogie schematisierten Vernunftbegriff: Christus als Sieger im Kampf mit den Leiden. Damit ersetzt Jesus Christus als Ideal der moralischen Vollkommenheit das Vorbild des stoischen Weisen. Der Text gliedert sich in vier Abschnitte: Kant zeigt zunächst in einem Einleitungsabschnitt, wie die Stoiker ohne eine Theorie des radikal Bösen moralische Vollkommenheit mißverstehen mußten. Er exponiert dann positiv in Abschnitt (a) das angemessene Ideal moralischer Vollkommenheit und beweist, warum wir im moralischen Handeln an den Sohn Gottes glauben müssen. Auf die Exposition folgt die Deduktion des Ideals im Abschnitt (b). Kant möchte zeigen, warum ihm prinzipiell kein Gegenstand in der sinnlichen Anschauung korrespondieren kann, ihm aber dennoch objektive Realität zukommt. In Abschnitt (c) wendet er sich schließlich der Lösung von drei Problemen zu, die gegen die objektive Realität dieses Ideals sprechen. Sie ergeben sich alle drei aus dem einen Grundproblem: Wie ist die moralische Vollkommenheit des Gott wohlgefälligen Menschen als Ausdruck der drei Eigenschaften des moralischen Gottesbegriffs verständlich zu machen? Genauer: Wie ist die moralische Vollkommenheit des Menschen mit der göttlichen Heiligkeit, Gütigkeit und Gerechtigkeit vereinbar?

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5.1 Kritik der Stoa Kant war bekanntlich der Auffassung, daß die „alten Moralphilosophen […] so ziemlich alles erschöpften, was über die Tugend gesagt werden kann“ (24; zum Verhältnis von Kants Ethik zur stoischen Ethik s. Santozki 2006, Teil III). Kants Theorie vom höchsten Gut kann als ein Vermittlungsversuch zwischen Stoa und Epikureeismus verstanden werden (s. dazu Düsing 1971). Beide haben nach seiner Auffassung den Fehler gemacht, das Verhältnis von Tugend und Glückseligkeit als analytisches Verhältnis anzusetzen. Der Stoiker, so behauptet Kant, habe „Glückseligkeit“ mit dem Bewußtsein des eigenen tugendhaften Verhaltens identifiziert, der Epikureer hingegen versteht „Tugend“ lediglich als die Fähigkeit, die richtigen Mittel zur Verwirklichung der eigenen Glückseligkeit zu ergreifen. Beide Begriffe werden von Kant in seinen moralphilosophischen Grundlegungsschriften einer fundamentalen Kritik unterzogen. Gegen den Epikureer argumentiert er, daß Moral und Glückseligkeit kategorial voneinander verschieden sind, gegen den Stoiker, daß die Lust an der moralisch guten Handlung lediglich „Selbstzufriedenheit“ nicht aber Glückseligkeit bewirkt (KpV, V 117). Selbstzufriedenheit im Kantischen Sinne ist nur ein „negatives Wohlgefallen“, weil es das Bewußtsein der Unabhängigkeit von den Neigungen ausdrückt. Gegen die Stoa und den Epikureismus macht Kant das Christentum stark, das den prinzipiellen Unterschied von Tugend und Glückseligkeit klar erkannt habe. Diese These ist freilich von Kants hedonistischer Interpretation des stoischen Glücksbegriff abhängig. Gegen diese Interpretation ist immer wieder der teleologische Aspekt geltend gemacht worden. Kant hätte damit auch in diesem Punkt positiv an die Stoa anschließen können (Horn 2008, 1086 im Anschluß an Forschner 21995, Irwin 1996 und Weidemann 2001). In seiner Kritik kommt aber auch der positive Anschluß an beide Schulen zum Ausdruck. Mit den Epikureern stimmt er darin überein, daß die Glückseligkeitnicht negativ als „Unabhängigkeit von Neigungen“, sondern positiv als „Befriedigung der Neigungen“ verstanden werden muß (KpV, V 117 f.). Den Stoikern gibt er darin recht, daß Tugend nicht als Zweckrationalität im Dienst unserer Neigungen konzipiert werden darf, sondern – wie er hier im Zweiten Stück sagt – als ein „Kampf“. Deshalb kommt für Kant, wenn er sich im Zweiten Stück mit dem tugendhaften Menschen befaßt, ausschließlich noch der Stoiker als Gesprächspartner in Frage. Neben der Auffassung von „Tugend“ als „Kampf“ schließt Kant in zwei weiteren Punkten positiv an die Stoiker an: Sie haben erstens das „moralische Prinzip“ in der „Würde der menschlichen Natur, der Freiheit (als Unabhängigkeit von der Macht der Neigungen)“ angesetzt. Und sie leiten zweitens die moralischen Gesetze „sowohl objectiv, was die Regel betrifft, als auch subjectiv, was die Triebfeder anlangt,“ aus der Vernunft ab. Sie haben aber fälschlich vorausgesetzt, daß der Mensch „einen

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unverdorbenen Willen“ hat (57 f., Fn.). Im Einleitungsabschnitt des Zweiten Stücks der Religionsschrift ist Kant mit der Zurückweisung dieser Voraussetzung befaßt. Folge man der Stoa, dann komme moralisch böses Handeln dadurch zustande, daß „Neigungen“ falsche Urteile und so unsere Zustimmung zu den falschen Handlungen provozieren. Gegen diesen Übergriff der Neigungen müsse der Logos gestärkt werden. Durch die Ausschaltung der falschen Urteile werden wir tugendhaft. Der stoische Weise gibt nur noch dann seine Zustimmung, wenn es richtig ist. Kurz: Wir wollen eigentlich das Gute, die „natürlichen Neigungen“ korumpieren jedoch unsere moralischen Urteile (s. dazu Forschner 21995, 114–141). Kant hält diese Position für „moralische Schwärmerei“ (KpV, V 84). Mit dieser Voraussetzung mußten die Stoiker – so lautet Kants zentraler Kritikpunkt – den eigentlichen „Feind“ im „Kampf des guten Princips mit dem bösen“ verkennen (57). Wird der Wille nämlich als unverdorben gedacht und der Grund des Bösen, jener „Feind“, in den „natürlichen Neigungen“ angesetzt, kann ihm kein „besonderes (an sich böses) Princip“ zukommen, wodurch er sich gegen das moralisch Gebotene richtet. Nun könnte der Stoiker freilich versuchen, die moralisch böse Handlung als „Unterlassung“ zu denken, um damit erklären zu können, wie die „pflichtwidrig[e] Übertretung nicht ein bloßer Naturfehler“ ist. Diesen Erklärungsversuch weist Kant als zirkulär zurück, weil er die Frage nach dem Grund der Unterlassung unbeantwortet läßt. Nur wenn der Grund der Unterlassung nicht wiederum in den natürlichen Neigungen angesetzt wird, kann der Zirkel vermieden werden. Die natürlichen Neigungen selbst sind weder gut noch böse (sie sind „unschuldig“, „unverwerflich“) und können insofern die Möglichkeit moralisch bösen Handelns nicht erklären. Der Stoiker müßte Kant also Recht geben und ein „positives (an sich böses) Princip“ im Wollen des Menschen annehmen (59). Wenn Kant sagt, daß er davon ausgehe, daß das Böse „schon in unserem Willen Platz genommen hat“ und wir es aus „seinem Besitz […] vertreiben“ müssen, muß dieses „Platz nehmen“ so verstanden werden, daß der Mensch es selbst in seine Maxime aufnimmt. Das Böse besteht nicht in den Neigungen, sondern in der „verkehrten Maxime und also in der Freiheit“. Die Neigungen erschweren nur die Ausführung. Das Böse einer Handlung besteht also darin, daß man den Neigungen, die zur Übertretung anreizen, nicht widerstehen will. Deshalb sagt Kant: Nicht die natürlichen Neigungen, sondern die „Gesinnung ist eigentlich der wahre Feind“ (58, Fn.). Durch seine Theorie moralisch bösen Handelns sieht Kant ein zentrales Theologumenon bestätigt: Der Apostel Paulus hatte sich ebenfalls dagegen gewendet, den Feind im moralischen Kampf in „Fleisch und Blut (den natürlichen Neigungen)“ anzusetzen. Wir hätten stattdessen mit „bösen Geistern zu kämpfen“. Diesem Begriff eines bösen Geistes korrespondiert freilich keine sinnliche Anschauung und er ist auch nicht Bedingung der Möglichkeit von Naturerfahrung.

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Dennoch glaubt Kant, den Anspruch auf diesen übersinnlichen Begriff rechtfertigen zu können: Der Grund des Bösen kann als ein Akt des Mißbrauchs unserer Freiheit nicht auf einen weiteren Erklärungsgrund zurückgeführt werden und muß deshalb „auf ewig in Dunkel eingehüllt“ bleiben (s. dazu Bojanowski 2006, Teil III). Mit dem Begriff des bösen Geistes wird nun dieser „unergründliche“ Grund des Bösen lediglich „für den praktischen Gebrauch anschaulich [gemacht]“ und nicht etwa unsere Erkenntnis „über die Sinnenwelt hinaus“ erweitert (59; s. dazu unten S. 101 f.). Ob der böse Geist in uns oder außer uns angesetzt wird, läßt Kant dabei offen. Denn, so lautet sein Argument, auch wenn er außer uns angesetzt werde, tragen wir „Schuld“ an der bösen Handlung, weil wir uns nur dann verführen lassen, wenn wir im „geheimen Einverständnisse“ mit ihm sind (60).

5.2 Moralische Vollkommenheit als Ideal Kant möchte in diesem Abschnitt dafür argumentieren, daß, wenn wir uns eine moralisch gute Gesinnung zueigen machen, wir implizit auch an den Sohn Gottes glauben und damit zu der Hoffnung berechtigt sind, „Gott wohlgefällige“ Menschen zu werden. Um diese These plausibel zu machen, muß Kant den Zusammenhang zwischen moralisch guter Gesinnung und dem Sohn Gottes verständlich machen. Hier setzt der erste Abschnitt des Zweiten Stücks an. Setzen wir voraus, daß die Welt durch einen „göttlichen Rathschluss“ entstanden ist, dann denken wir uns die Welt nach Vernunftprinzipien organisiert. Eine solche Vernunftordnung besteht, wenn das höchste Gut, die Proportionalität von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit, verwirklicht ist. Denken wir uns den Menschen als vollkommenes Wesen, dann ist das höchste Gut Gegenstand seines Handelns. Deshalb ist die „Menschheit (das vernünftige Wesen überhaupt)“ der eigentliche „Zweck der Schöpfung“; die Menschheit kann die intendierte Vernunftordnung verwirklichen. Der Mensch, der sich das höchste Gut zum Endzweck seines Handelns macht, wird also als der„Gott wohlgefällige Mensch“ gedacht, sogar als der „eingeborene Sohn“ Gottes, weil durch ihn die vernünftige (göttliche) Weltordnung in der Sinnenwelt realisiert wird. Indem wir uns an dieser Idee orientieren, „können wir hoffen, ‚Kinder Gottes zu werden‘“ (60; zum höchsten Gut als Endzweck s. Dieringer 2009, 85–92). Der moralisch vollkommene Mensch ist eine „Idee“. Ideen sind Vernunftbegriffe. Vernunftbegriffe unterscheiden sich von empirischen Begriffen und Verstandesbegriffen darin, daß sie die Möglichkeit der Erfahrung übersteigen, weil sie „eine gewisse Vollständigkeit [enthalten] zu der keine mögliche empirische Erkenntniß zulangt“ (KrV, B 596). Als praktische Ideen sind sie Prinzipien, die unser Handeln bestimmen. Der vorgestellte Gegenstand wird also nicht bloß erkannt,

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sondern die Erkenntnis soll diesen Gegenstand auch verwirklichen (KrV, B ix f.). Während die Vernunft als theoretische „für sich selbst gar nichts erkennt“ und bei der Erkenntnis immer auf etwas sinnlich Gegebenes angewiesen ist (KrV, B 145), versteht Kant praktische Erkenntnis als Erkenntnis aus Ideen, weil die praktische Vernunft den Gegenstand des Willens selbst hervorbringt. Kant spricht nicht bloß von der „Idee“, sondern auch vom „Ideal“ der moralischen Vollkommenheit und geht zuweilen innerhalb eines Satzes von „Idee“ zu „Ideal“ über (61). Ein Ideal ist ein Begriff der „die Idee […] in individuo“, das heißt einen einzelnen Gegenstand als „durch die Idee allein […] bestimmtes Ding“ vorstellt (KrV, B 596). Mit dem Ideal der moralischen Vollkommenheit stellen wir uns einen einzelnen Menschen vor, dessen Zweck des Handelns ausschließlich das höchste Gut ist“. Die Idee geht also dem Ideal als Urbild unseres guten Charakters voraus. Es ist damit kein Ideal der Einbildungskraft, sondern wird uns „von der Vernunft […] zur Nachstrebung vorgelegt“ (ebd., Hervorhebung J. B.). Dieses Ideal ist das „Urbild“ (Prototypus), dem gemäß wir unseren moralischen Charakter nachbilden sollen (Ectypus) (61; vgl. KrV, B 606). Die Begriffe „Urbild“ und „Ideal“ haben nicht denselben Umfang. Ein Urbild ist nur dann ein Ideal, wenn es prinzipiell nicht in der sinnlichen Anschauung erkannt werden kann. Deshalb erklärt Kant es auch für verfehlt, das Ideal der moralischen Vollkommenheit „in einem Beispiele, d.i. in der Erscheinung, realisiren [zu] wollen, wie etwa den Weisen in einem Roman […].“ Diese Darstellung habe „wenig Erbauliches an sich, indem die natürlichen Schranken, welche der Vollständigkeit in der Idee continuirlich Abbruch thun […] und dadurch das Gute, das in der Idee liegt, selbst verdächtig und einer bloßen Erdichtung ähnlich machen“ (KrV, B 598). Nun ist es schwer vorstellbar, wie der „von Natur böse Mensch das Böse von selbst ablege und sich zum Ideal der Heiligkeit erhebe“. Was sollte den bösen Menschen zu einem Gesinnungswandel bewegen? Angemessener sei deshalb die Vorstellung, daß jenes Urbild selbst „vom Himmel zu uns herabgekommen sei“ und sich „der Menschheit angenommen“ habe. Eine solche Vereinigung des Ideals mit dem Menschen, muß als „Erniedrigung des Sohnes Gottes angesehen werden“. Es ist eine Erniedrigung, weil der Sohn Gottes als heiliges Wesen eigentlich „zu keiner Erduldung von Leiden verhaftet, diese gleichwohl im größten Maße übernimmt“. Der Sohn Gottes ist also die „personificirte Idee des guten Princips“, von dem im Titel dieses Abschnitts die Rede ist. Der Mensch selbst muß sich dieser Vereinigung für„unwürdig“ halten. Er hat das radikal Böse seiner Natur selbst „verschuldet“ und ist deshalb im Vergleich mit dem Ideal der moralischen Vollkommenheit moralisch minderwertig (61). Wenn Kant davon spricht, daß dieses Ideal sich „der Menschheit angenommen habe“, so betrifft das auch die Weise, wie wir uns seine Vollkommenheit denken müssen: Dächten wir uns die Heiligkeit übermenschlich, so daß sie nie zur Über-

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tretung des Moralgesetzes versucht wäre, könnten wir die „Stärke“ der Gesinnung nicht einschätzen. Denn die Stärke der Gesinnung messen wir an der Fähigkeit zum Widerstand gegen gesetzwidrige Kräfte (s. dazu Engstrom 2002, 314 ff.). Nun soll das Ideal der moralischen Vollkommenheit uns Menschen aber als Urbild für unsere eigene Gesinnung dienen. Deshalb müssen wir uns dieses Urbild so vorstellen, daß es ebenfalls mit gesetzwidrigen Kräften zu kämpfen hat, daß es „obgleich durch die größten Anlockungen versucht, dennoch alle Leiden bis zum schmählichsten Tode um des Weltbesten willen und selbst für seine Feinde zu übernehmen bereitwillig wäre“ (61). Kant wird in der Fußnote des Abschnitts (b) erklären, daß wir mit dieser Vorstellung nicht etwa das Übersinnliche anthropomorphisieren, sondern es uns lediglich „durch Analogie mit etwas Sinnlichem faßlich machen“ (65, s. dazu unten S.101 f.). Kants moralphilosophische Explikation des Sohnes Gottes berechtigt ihn nun, den Glauben an diesen Sohn als einen „praktischen [Vernunft]glauben“ auszuweisen. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant drei verschiedene Wissensansprüche unterschieden, die wir mit der Behauptung einer Proposition verbinden: Meinen, Glauben, Wissen. Von einem Sachverhalt zu meinen, daß er wahr ist, bedeutet, daß wir im Urteilen weder subjektiv davon überzeugt sind, daß unser Urteil wahr ist noch das Urteil tatsächlich mit dem Gegenstand übereinstimmt. Beim Wissen hingegen sind wir nicht nur subjektiv überzeugt, sondern das Urteil stimmt auch mit dem Gegenstand überein. Das Glauben nimmt eine Mittelstellung ein: Wir sind subjektiv sicher, daß das Urteil wahr ist, objektiv kann die Übereinstimmung des Urteils mit dem Gegenstand aber nicht ausgewiesen werden. Wenn wir einen Sachverhalt subjektiv für wahr halten, spricht Kant von „Überzeugung“, ist unser Urteil auch objektiv wahr, sprechen wir von „Gewißheit“ (KrV, B 850). Im Glauben sind wir also von der Wahrheit des Urteils überzeugt, sind uns aber nicht gewiß. Im praktischen Glauben ist die Überzeugung ein Implikat meines Handlungsgrundsatzes: Wenn wir also eine moralisch gute Gesinnung annehmen, glauben wir an das Ideal des Sohnes Gottes (63). Denn bei einer moralisch guten Gesinnung ist der Handelnde davon überzeugt, daß er jederzeit nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht zu Handeln in der Lage ist. Er erhebt sich damit über seine sinnliche Natur und orientiert sich an jenem Ideal. Dieser Glaube ist also notwendig mit der Gesinnung verknüpft und zugleich Grund für die Verwirklichung des Objektes (des Guten). Es ist von entscheidender Bedeutung, daß im praktischen Glauben die Idee eine Bedingung der Annahme der Gesinnung selbst ist. Damit nämlich unterscheidet sich der Grad der Gewißheit des praktischen Glaubens fundamental von dem des „pragmatischen Glaubens“. Beim pragmatischen Glauben ist der Gegenstand des Willens kein notwendiger Vernunftzweck, sondern zufällig. Der Glaube richtet sich auf die Mittel, die zur Verwirklichung dieses Zweckes notwendig sind. Wenn unsere

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Gründe hinsichtlich der Wirksamkeit der Mittel objektiv unzureichend sind, können wir den Grad unseres Glaubens (der Überzeugung) durch eine Wette testen. Je höher der Wetteinsatz, desto sicherer ist der Grad unserer Überzeugung. Entscheidend ist hier, daß sich der Grad der Überzeugung nicht aus dem vorausgesetzten Zweck ableiten läßt. Die Überzeugung des praktischen Glaubens folgt dagegen analytisch aus der moralisch guten Gesinnung und ist damit nicht relativ (hat keinen Grad). Unter der Voraussetzung einer moralisch guten Gesinnung ist der praktische Glaube an den Sohn Gottes also subjektiv notwendig. Wissen wird aus diesem Glauben deshalb nicht, weil es als Ideal die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt.

5.3 Objektive Realität des Ideals Die Exposition des Ideals der moralischen Vollkommenheit fordert den Skeptiker heraus: Können wir überhaupt „ein diesem Urbilde gemäßer Mensch sein“? Man könnte meinen, daß eine Deduktion, die Rechtfertigung der objektiven Realität dieses Ideals, diese Frage beantworten müßte. Wäre dies der Fall, dann müßte man in der Erfahrung den Gegenstandsbezug des Ideals der moralischen Vollkommenheit ausweisen. Ein Beispiel einer heiligen Gesinnung in der Erfahrung wäre hinreichend. Deshalb ist es naheliegend sich in der Menschheitsgeschichte nach einem Individuum umzusehen, das diesem Ideal tatsächlich entsprochen hat und dem Begriff auf diese Weise objektive Realität zu verschaffen. Korrespondiert dem Begriff dagegen kein Gegenstand in der Erfahrung, ist er „leer“ und muß als ein „Geschöpf der Einbildungskraft“ zurückgewiesen werden. Kant erteilt diesem empirischen und historischen Ansatz eine Absage. Wer die objektive Realität des Ideals der moralischen Vollkommenheit empirisch rechtfertigen wollte, würde praktische Begriffe mit „Naturbegriffen“ (theoretischen Begriffen) verwechseln. Dem Ideal der moralischen Vollkommenheit kann prinzipiell kein Gegenstand in der „äußeren“ Erfahrung korrespondieren. Kant hat immer wieder darauf hingewiesen, daß es unüberwindliche epistemische Hindernisse gibt, moralisch gute von bloß legalen Handlungen zu unterscheiden. Denn, so lautet sein Argument, es lasse sich „in keinem Beispiel mit Gewißheit dartun, daß der Wille […] ohne andere Triebfedern bloß durchs Gesetz bestimmt werde“. Vielmehr sei es „immer möglich, daß insgeheim Furcht vor Beschämung, vielleicht dunkle Besorgnis anderer Gefahren Einfluß auf den Willen haben mögen“. Deshalb können wir nicht mit Sicherheit wissen, ob eine Handlung nur pflichtgemäß oder aus Pflicht vollzogen wird (GMS, IV 419; vgl. auch 408; KpV, V 33, 47; MS, VI 392 f., 447). Statt die Fähigkeiten des Menschen aus der Erfahrung abzuleiten, geht Kant den umgekehrten Weg: „Wir sollen [dieser Idee] gemäß sein, und wir müssen es daher

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auch können.“ Erfahrung ist, wie Kant bereits in der ersten Kritik wußte, „in Ansehung der sittlichen Gesetze (leider!) die Mutter des Scheins“, weshalb es „höchst verwerflich“ wäre, „die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einzuschränken, was gethan wird“ (KrV, B 375). Ethik kann nicht in Anthropologie aufgelöst werden. Vielmehr muß die „Anthroponomie“ der Anthropologie vorausgehen (MS, VI 406). Dabei ist entscheidend, daß das Sollen „unbedingt gebietet“. Wäre es nur ein bedingtes Sollen, dann wird ein bestimmter Wille als gegeben vorausgesetzt werden. Der Erfahrung käme dann die Funktion zu, die Mittel zur Verwirklichung dieses Willens zu bestimmen. Die Erfahrung wäre damit selbst konstitutiv für den Inhalt der Handlungsvorschrift. Die Frage nach dem Grund der Verbindlichkeit der Handlungsvorschrift, läßt sich in diesem Fall mit dem Verweis auf den vorliegenden Willen beantworten. Im Fall der moralischen Verpflichtung hingegen kann die Verbindlichkeit der Handlungsvorschrift nicht durch ein gegebenes Begehren erklärt werden. Vielmehr wird der Wille bei der moralischen Gesetzgebung unmittelbar (kategorisch), ohne ein bestimmtes Begehren vorauszusetzen, bestimmt. Praktische Erkenntnis kann deshalb nicht als Erfahrungserkenntnis, sondern muß als Erkenntnis aus Ideen verstanden werden. Und die praktischen Vernunftideen müssen im Unterschied zu Naturbegriffen „ihre Realität […] vollständig in sich selbst“ haben. Das Ideal der moralischen Vollkommenheit wird also nicht aus der Erfahrung abgeleitet. Vielmehr ist andersherum erst auf der Grundlage dieses Ideals die Bildung und Bewertung eines moralischen Charakters möglich. Das Ideal der moralischen Vollkommenheit hat damit objektive Realität in praktischer Hinsicht. Es ist selbst konstitutiv für die Verwirklichung des vorgestellten Objekts einer moralisch vollkommenen Gesinnung. Mit dieser Theorie moralischer Vollkommenheit will Kant nicht die Wirklichkeit und Integrität der historischen Jesus-Gestalt bezweifeln. Der göttlich Gesinnte darf fragen: „‚Wer von euch kann mich einer Sünde zeihen?‘“. Solange man „keine Beweise des Gegentheils hat“, muß man ihm seine Taten als Folge der „lautersten Gesinnung“ anrechnen. Doch weil nur auf der Grundlage des Ideals der moralischen Vollkommenheit eine Gesinnung erkannt und realisiert werden kann, muß sich „[s]elbst der Heilige des Evangelii […] zuvor mit unserm Ideal der sittlichen Vollkommenheit verglichen werden, ehe man ihn dafür erkennt“ (GMS, IV 409). Auch wenn das Ideal der moralischen Vollkommenheit weder durch Erfahrung erkannt wird noch ihm ein „Beispiel in der äußeren Erfahrung adäquat ist“, dürfen wir doch mit einiger Sicherheit von den Handlungen des Menschen auf seine Gesinnung schließen. Wir können dann auf der Grundlage jenes Ideals die moralische Qualität des Charakters dieses „göttlich gesinnten Menschen“ bestimmen (63). Zugleich kann die Vorstellung eines solchen Menschen uns die „Kraft“ geben, uns selbst zu einer moralisch guten Gesinnung zu „erheben“ (61).

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In der zweiten Kritik hatte Kant die stoische Konzeption des Weisen zurückgewiesen, weil sie diesen „einer Gottheit gleich […] von der Natur […] ganz unabhängig gemacht [haben]“ (KpV, V 127). Kant erneuert hier diese Naturalisierungsforderung: Damit die Vorstellung des göttlich gesinnten Menschen tatsächlich motivationale Kraft hat, müssen wir ihm bestimmte Eigenschaften zusprechen, die ihn uns ähnlich machen. Aus praktischer Vernunftperspektive ist deshalb für die Lehre der Jungfrauengeburt Jesu kein Platz: Der vollkommen göttlich gesinnte Mensch muß als „natürlich gezeugt“ gedacht werden. Denn die Annahme eines „über- natürlich erzeugte[n] Mensch[en]“ würde unserer Gesinnungsbildung „im Wege stehen“, weil die „Erhebung eines solchen Heiligen über alle Gebrechlichkeit der menschlichen Natur“ jede Identifikationsgrundlage entzieht. Nur wenn wir uns auch mit jenem göttlich gesinnten Wesen identifizieren können, kann er ein Beispiel „der Nachahmung, mithin auch […] als Beweis der […] Erreichbarkeit eines so reinen und hohen moralischen Guts für uns [d. h. uns Menschen] vorgestellt werden“. Wäre dagegen jenem göttlich gesinnten Wesen „schlechterdings keine Übertretung möglich“, wäre die Distanz vom natürlichen Menschen […] so unendlich groß werden, daß jener göttliche Mensch für diesen nicht mehr zum Beispiel aufgestellt werden könnte.“ Aus diesem Grund müssen wir dem vollkommen göttlich gesinnten Menschen auch dieselben „Bedürfnisse“, „Leiden“ und „Naturneigungen“ zuschreiben. Kant will es aber ausdrücklich offen lassen, ob der göttlich gesinnte Mensch auch tatsächlich ein natürlich gezeugter Mensch ist. Wir müssen ihn nur aus praktischer Perspektive als „natürlich gezeugt“ denken (64 f.). Welchen Erkenntnisanspruch darf Kant erheben, wenn er übersinnlichen Objekten sinnliche Eigenschaften zuschreibt? Überschreitet Kant mit diesen Zuschreibungen die „Grenzen der Sinnlichkeit“ (KrV, B xxiv) und fällt in unkritische Metaphysik zurück? Er warnt ausdrücklich davor, diese Urteile nicht als „Anthropomorphism“ mißzuverstehen. Vielmehr sollen sie die übersinnlichen Begriffe lediglich „durch Analogie mit etwas Sinnlichem faßlich machen“. Diese Urteile zielen also nicht auf „Erweiterung unseres Erkenntnisses“, sondern auf „Erläuterung“. Wenn wir dem Begriff eines heiligen Willens oder Gott sinnliche Prädikate zuschreiben, darf das nur als ein „Schematism der Analogie“ nicht aber als ein Analogieschluß verstanden werden. Beim Analogieschluß schließen wir von der partikularen Ähnlichkeit auf die vollkommene Ähnlichkeit. „Dinge von einer Gattung, von denen man vieles Übereinstimmende kennt, stimmen auch in dem Übrigen überein“ (Logik, IX 133). Beim Analogieschluß wird das Verhältnis zweier Dinge als bekannt vorausgesetzt und von dort auf die Gleichheit eines anderen unbekannten Verhältnisses geschlossen: a verhält sich zu b wie c zu x. Damit der Analogieschluß berechtigt ist, muß zwischen a und c eine fundamentale Gemeinsamkeit bestehen. In der dritten Kritik macht Kant vom Analogieschluß Gebrauch, wenn er von der menschlichen Art des Bauens auf die Art des Bauens der Biber

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schließt. Mensch und Biber gehören als Lebewesen derselben Gattung an. Die Gattungsgleichheit, die „Einerleiheit eines Grundes“ so wie wir sie in der Erfahrung erkennen können, erlaubt es, darauf zu schließen, daß auch der Biber nach Vorstellungen handelt (KU, V 464). Zu einem Analogieschluß sind wir nun im Fall von übersinnlichen Wesen nicht berechtigt, weil eine „Einerleiheit des Grundes“ nicht gegeben ist. „Die Causalität der Weltwesen, die immer sinnlich-bedingt […] ist, kann nicht auf ein Wesen übertragen werden, welches mit jenen keinen Gattungsbegriff, als den eines Dinges überhaupt gemein hat“ (ebd.). Deshalb sagt Kant in der Religionsschrift, daß ein solcher Schluß „wider alle Analogie laufen würde“. Gleichwohl ist ein „Schematism der Analogie“ in bezug auf übersinnliche Wesen möglich (65): Wenn wir beispielsweise die Stärke der Gesinnung und damit ihren „moralischen Werth“ durch die Größe der Hindernisse, die wir überwinden müssen, vorstellen, dann dürfen wir dieses Verhältnis auch auf einen heiligen Willen übertragen. Demnach müssen wir uns diesen so vorstellen, daß er sich allen subjektiven Hindernissen widersetzen kann. Mit dieser Vorstellung soll indes gerade nicht behauptet werden, daß dem heiligen Willen tatsächlich Neigungen zukommen. Vielmehr machen wir uns auf diese Weise nur den übersinnlichen Begriff „durch Analogie mit etwas Sinnlichem faßlich“. Kant nennt dieses Verfahren ein „Schematism der Analogie“, weil durch die Analogie als einem allgemeinen Verfahren (Schema) der Einbildungskraft, dem übersinnlichen Begriff ein Bild verschafft wird (vgl. KrV, B 180). Welchen Wert haben diese Schematisierungen? Sie lassen uns nicht den übersinnlichen Gegenstand erkennen. Vielmehr drückt das Urteil „Die Kraft des heiligen Willens ist so groß, daß er sich allen Neigungen zu widersetzen vermag“ nur das Verhältnis eines heiligen Willen zur sinnlichen Welt aus. Wir erkennen also nur, wie der Begriff für uns ist, nicht wie er „an sich“ ist. Als praktisches Ideal soll dieser Begriff aber auch nicht unsere theoretische Erkenntnis ins Übersinnliche erweitern. Vielmehr ist er das Urbild, dem wir unseren Charakter nachbilden sollen. Dazu ist es notwendig, daß wir uns das Übersinnliche in seinem Verhältnis zum Sinnlichen vorstellen. Es ist aber nicht leicht einzusehen, wie die „Zueignung“ (Zueigenmachung) moralischer Vollkommenheit durch den Menschen möglich sein soll, weil er diese offenbar niemals „völlig ohne Fehl“ erreichen kann. Mit diesem Problem befaßt sich der folgende letzte Abschnitt.

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5.4 Kritische Auflösung paradoxaler Implikationen Wenn der moralisch vollkommene Mensch ein Gott wohlgefälliger Mensch ist, dann muß seine Vollkommenheit auch mit den moralischen Prädikaten Gottes, der Heiligkeit, Gütigkeit und Gerechtigkeit vereinbar sein. Jedes dieser drei Prädikate stellt aber ein Problem für Kants Theorie des Ideals der moralischen Vollkommenheit dar. Mit diesen Problemen steht auch die obejektive Realität dieses Ideals zur Disposition. Kants kritische Lösung beruht, wie schon die Auflösung der Antinomien, auf der Unterscheidung zwischen erfahrbaren und nur gedachten Gegenständen. Auf der Grundlage der Unterscheidung von Gesinnung und empirischer Tat will Kant in diesem Abschnitt zeigen, wie sich alle drei Probleme auflösen lassen. Problem 1: „Das Gesetz sagt: ‚Seid heilig (in eurem Lebenswandel), wie euer Vater im Himmel heilig ist!‘, denn das ist das Ideal des Sohnes Gottes, welches uns zum Vorbilde aufgestellt ist.“ Es muß also eine Verwirklichung der göttlichen Heiligkeit auch für den Menschen möglich sein. Nun geht Kant aber davon aus, daß wir radikal böse sind. Wie also läßt sich das Gebot zur Heiligkeit mit Kants Behauptung vereinbaren, daß sich der Hang zum Bösen niemals vollkommen „vertilgen“ läßt (37)? Wenn man den „Lebenswandel“ des Menschen als Ganzes betrachtet, können wir uns bestenfalls nur an die Heiligkeit als moralische Vollkommenheit „ins Unendliche“ annähern, erreichen können wir sie nicht. Können wir also doch nicht vollbringen, was wir sollen (vgl. Quinn 1984, 199)? Gibt Kant damit letztlich das Prinzip „Sollen impliziert Können“ wieder auf (vgl. Wolterstorff 1991, 47 ff.)? Auflösung: Kants Lösung beruht auf der Unterscheidung zwischen empirischer Handlung und Gesinnung. Wir Menschen können die moralische Qualität nur aus den empirischen Handlungen ableiten. Unsere empirischen Handlungen sind besondere Fälle unserer allgemeinen Gesinnung. Als solche müssen empirische Handlungen immer „mangelhaft“ bleiben; sie können als Einzelfälle die Allgemeinheit der Gesinnung, die alle moralischen Handlungen umfaßt, nicht realisieren. Weder ein noch hundert gehaltene Versprechen machen einen moralisch vollkommenen Menschen. Die einzelne moralisch gute Handlung ist noch nicht die vollständige Verwirklichung einer moralisch guten obersten Maxime. Die vollständige Verwirklichung bleibt uns vielmehr als ein „continuirlicher Fortschritt“ unendlich aufgegeben. Im Unterschied zu diesen unendlichen Handlungszwecken, können wir die endlichen Handlungszwecke vollkommen realisieren. Wollen wir etwa unseren Durst löschen und etwas trinken, ist mit dieser Handlung auch der Zweck des Handelns vollkommen realisiert. Selbst wenn wir also eine Revolution der Gesinnung vollzogen haben, müssen wir die empirischen Handlungen, die unseren Lebenswandel gut machen, immer erst noch vollbringen. Die Tatsache, daß

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wir in unserem Lebenswandel „von dem Bösen […] ausgehen“, berechtigt uns nun bestenfalls dazu, die Gesinnung (wenn wir sie erkennen könnten) nicht aber unseren „Lebenswandel“ als Ganzen heilig zu nennen. Der Mensch kann also „überhaupt [der Gesinnung nach] Gott wohlgefällig“ sein und doch zugleich, was seinen Lebenswandel als Ganzen anbetrifft „mangelhaft“ bleiben. Problem 2: Das zweite Problem betrifft die „moralische Glückseligkeit“. Moralische Glückseligkeit ist die „Wirklichkeit und Beharrlichkeit einer im Guten immer fortrückenden (nie daraus fallenden) Gesinnung“. Sie muß von der „physischen Glückseligkeit“ als des „immerwährenden Besitzes der Zufriedenheit mit [dem] physischen Zustande“ unterschieden werden. Die Frage ist, warum wir darauf vertrauen können, daß wir bei unseren guten Grundsätzen bleiben werden. Wenn wir nicht darauf vertrauen könnten, daß die „einmal angenommene [gute] Gesinnung“ sich erhalten kann, „würde kaum eine Beharrlichkeit, in derselben fortzufahren möglich sein“. Deshalb bedürfen wir, um moralisch vollkommene Menschen zu werden, dieses Vertrauens auf die moralische Glückseligkeit. Welchen Grund haben wir also, darauf zu vertrauen, daß wir bei unseren moralisch guten Grundsätzen bleiben werden und sie nicht wieder aufgeben? Auflösung: „[M]an täuscht sich nirgends leichter, als in dem, was die gute Meinung von sich selbst begünstigt.“ Das Vertrauen auf die Beharrlichkeit unserer moralisch guten Grundsätze darf nicht darauf gegründet werden, daß derjenige, der eine lautere Gesinnung hat „schon fühlen [wird], daß er nie so tief fallen könne, das Böse wiederum lieb zu gewinnen“.Vielmehr müssen wir den „gefaßten Vorsatz“ mit dem „bisher geführten Lebenswandel“ vergleichen. Wenn wir an unseren Handlungen keine Abweichung vom Moralgesetz feststellen können, dürfen wir davon auf „eine gründliche Besserung [unserer] Gesinnung“ immerhin „vermuthungsweise […] schließen“. Weil nun unsere „Kraft“ durch den wiederholten Widerstand gegenüber dem bösen Prinzip, sich übt und stärker wird, können wir „vernünftigerweise hoffen […] diese Bahn nicht mehr zu verlassen, sondern immer noch muthiger darauf fort[zu]rücken“. Fallen wir dagegen immer wieder ins Böse zurück, dürfen wir uns keine Hoffnung auf moralische Glückseligkeit machen. Das erste ist ein „Blick in eine unabsehliche, aber gewünschte und glückliche Zukunft, das zweite dagegen in ein eben so unabsehliches Elend“. Wir stehen also vor der Alternative zwischen „selige[r] oder unselige[r] Ewigkeit“. Ihre Realisierung hängt von unserer Wahl der Handlungsgrundsätze ab. Problem 3: Das dritte Problem ist das „dem Anscheine nach größte“. Mit ihm wendet Kant sich der soteriologischen Funktion des Vernunftideals zu. Die Frage ist, wie sich die Erlösung des von Natur aus bösen Menschen mit göttlicher Gerechtigkeit vereinbaren läßt? Wenn das Böse „unvertilgbar“ und radikal ist, dann erscheint die göttliche Vergebung dieser Schuld ungerecht zu sein. Kant muß also erklären, wie auf der Grundlage seiner Vernunftreligion die Vorstellung von Jesus Christus als

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Erlöser mit der Erbsündenlehre vereinbart werden kann. Er muß damit auch auf die Stellvertreterfunktion von Jesus Christus eingehen. (Eine gute Exposition der Erlösungs- und Gnadenproblematik bei Kant liefern Firestone/Jacobs 2008, 48–56, 94–99. Einen durchschlagenden Lösungsvorschlag bieten sie, so weit ich sehe, allerdings nicht: 179, 232–235). Kant scheidet zunächst drei Lösungsvorschläge aus. Der erste Lösungsvorschlag lautet: Abzahlung der Schuld durch Besserung. Dabei geht man davon aus, der Mensch könne durch die moralische Besserung seine moralischen Schulden begleichen und damit von seinen Sünden erlöst werden. Kant macht gegen diesen Lösungsvorschlag geltend, daß, selbst wenn der Mensch eine gute Gesinnung annimmt, „er doch vom Bösen an[fing]“. Diese Verschuldung sei ihm „nie auszulöschen möglich“. Selbst wenn wir uns also nach der Revolution der Gesinnung keine „neuen Schulden“ mehr aufladen, werden dadurch nicht auch die „alten Schulden“ bezahlt. Hier setzt der zweite Lösungsvorschlag an: Wenn die Handlungen nach der Gesinnungsrevolution supererogatorische Handlungen wären, würden sie gewissermaßen einen moralischen Überschuß produzieren und die „alten Schulden“ ließen sich auf diese Weise begleichen. Kant schließt aber die Möglichkeit supererogatorischer Handlungen grundsätzlich aus, denn – so lautet sein Argument – „es ist jederzeit [unsere] Pflicht, alles Gute zu thun, was in [unserem] Vermögen steht“ (Hervorhebung J. B.). Die Schwierigkeit bei nicht-konsquentialistischen Ethiken supererogatorische Handlungen zu denken, hat mit dem Gegenstand der Bewertung zu tun. Wird die moralische Qualität in der Größe der Glückseligkeit gemessen, die der Handelnde hervorbringt, eröffnet sich die Möglichkeit einer Quantifizierung. Bei Kant werden hingegen die Handlungsgrundsätze genauer die formale Beschaffenheit dieser Grundsätze sowie die zugrundeliegende Qualität der „Triebfeder“ bewertet. Kant hat sich im Ersten Stück der Religionsschrift ausdrücklich für einen Rigorismus und gegen die „Synkretisten“ ausgesprochen. Demnach ist die moralische Beschaffenheit entweder gut oder böse. Unsere Maximen sind universalisierbar oder sie sind es nicht. Ein Drittes ist ausgeschlossen. Sie können nicht zugleich universalisierbar und nicht nicht-universalisierbar sein. Dies müßte aber möglich sein, wenn die Rede von Graden des Guten zulässig sein sollte. Auch die Anzahl unserer guten Handlungen darf für Kant keine Rolle spielen, weil die Anzahl unserer guten Handlungen von Handlugssituationen abhängig ist, die nicht in unserer Macht liegen. Moralische Besserung und moralischer Überschuß können also beide nicht erklären, warum der von Natur aus böse Mensch auf Erlösung hoffen darf. Deshalb erwägt Kant nun schließlich eine Stellvertreter-Lösung, derzufolge unsere Schuld von einem anderen Individuum „getilgt“ werden kann. Das Problem eines solchen Stellverteter Verständnisses liegt darin, daß die moralische Schuld nicht zu den

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„transmissible[n] Verbindlichkeit[en]“ gehört. Vielmehr ist sie „allerpersönlichste Schuld“, weil es hier nicht wie bei der Geldschuld auf den äußeren Güterausgleich, sondern auf die subjektive Gesinnung ankommt. Diese kann nur von dem moralischen Schuldner selbst und nicht von einem anderen vertreten werden. Auflösung: Wie läßt sich Erlösung mit göttlicher Gerechtigkeit vereinbaren? Folgt man der Opfertheorie, dann wurde mit dem Sündenfall die Menschheit an den Teufel verkauft. Um die Schulden zu begleichen, mußte ein Opfer erbracht werden. Gott hat den Teufel überlistet, indem er ihm seinen Sohn, den unsterblichen Jesus Christus, verkaufte und auf diese Weise die Gerechtigkeit wiederhergestellt. Kants Soteriologie kommt der Satisfaktionstheorie insofern näher, als für ihn ebenfalls der Sündenfall eine Wiedergutmachung vor Gott verlangt. Jesus Christus wird nicht dem Teufel geopfert, vielmehr verlangen die Gebote Gottes (Kant würde sagen „Vernunftgesetze“) Wiedergutmachung des menschlichen Sündenfalls. Beide Theorien gehen jedoch davon aus, daß Jesus Christus als Stellvertreter Widergutmachung leistet und uns damit unsere Schuld abnimmt. Kant ist nicht der Auffassung, daß Jesus Christus jedem Menschen seine individuelle Schuld abnimmt; diese bleibt unübertragbar. „Stellvertreter“ ist er nur für diejenigen, die an ihn „(praktisch) glauben“ (meine Hervorhebung). Im praktischen Glauben ist die Überzeugung ein Implikat meines Handlungsgrundsatzs: Wenn wir nach moralischer Vollkommenheit streben, orientieren wir uns am Ideal der Heiligkeit, der durch Analogie schematisierten Vernunftidee des Sohn Gottes (s. oben S. 101 f.). Der nach moralischer Vollkommenheit Strebende ist bereit, den moralischen „Tod“ des „alten Menschen“ zu erleiden und dessen „Leiden“ in Form der zur zweiten Natur gewordenen Neigungen zu ertragen. Damit genügt er der „höchsten Gerechtigkeit“. Nur wer sein Handeln nach moralisch guten Grundsätzen ausrichtet, hat zu der Hoffnung Anlaß, vor dem „göttlichen Richter“ „gerechtfertigt [zu] erscheinen“. Er gibt dem unvollkommenen Menschen die Zuversicht, sich durch eine Gesinnungsrevolution der Gnade würdig machen zu können. Ebenso wie Luther ist Kant der Auffassung, daß unsere Erlösung nur „sola fide“ erfolgen kann. Kant will aber im Unterschied zu Luther diesen Glauben dezidiert praktisch verstanden wissen: Allein durch den praktischen Glauben machen wir uns der Erlösung würdig. Diese Überlegungen stellen die Grundzüge einer selbstverantwortlichen Soteriologie dar: Der radikal böse Mensch kann nur dann auf Erlösung hoffen, wenn er eine Gesinnungsrevolution vollzieht. Die Revolution versteht Kant im paulischen Sinne als „Ablegen des alten und das Anziehen des neuen Menschen“ (74). Der neue Mensch ist moralisch gut und so der Erlösung würdig. Damit scheint Kant das ursprüngliche Problem aber nicht zu lösen, sondern nur verschoben zu haben. Denn auch wenn nach der Revolution die Erlösung angemessen erscheint, weil er (moralisch) nicht mehr derselbe Mensch ist, bleibt die Gesinnung vor der Revolution weiterhin strafwürdig. In irgend einer Weise muß der neue Mensch einen „Über-

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schuß“ produzieren, durch die er die Schuld des „alten Menschen“ sühnt. Kant will deshalb die Strafe „in dem Zustande der Sinnesänderung“ verorten. Sie stellt gewissermaßen die Exekution des „alten Menschen“ dar. Der neue Mensch ist nur „moralisch“, hinsichtlich seiner Gesinnung, „ein anderer“. „Physisch“ bleibt der neue Mensch zunächst derselbe. Das Ablegen der bösen Gesinnung, kann als „Aufopferung und Antretung einer langen Reihe von Übeln des Lebens“ verstanden werden. Denn mit der Gesinnungsrevolution haben wir nicht auch bereits die zur zweiten Natur gewordenen Neigungen überwunden. Der neue Mensch hat mit den zur zweiten Natur gewordenen Neigungen zu kämpfen und muß diese seiner revolutionierten Gesinnung unterwerfen. Diesen Schmerz, die „Kreuzigung des Fleisches“, wie Kant auch sagt, fügt der neue tugendhafte Mensch sich selbst zu. Der neue Mensch verdient als solcher keine Strafe mehr. Indem er den Schmerz auf sich nimmt, produziert er jenen „Überschuß“, mit dem als Sühne die Sünden des alten Menschen abgegolten werden. Die Strafe kann demnach auch, wie Auléns ChristusVictor-Interpretation der klassischen Opfertheorie es will (Aulén 1977), als eine Befreiung des Menschen von seinen Sünden verstanden werden (s. dazu den Aufsatz von Andrew Chignell in diesem Band). Wenn durch „Leiden und Tod“ der Gerechtigkeit Genüge geleistet worden ist, warum glaubt Kant, daß wir dennoch Gottes „Gnade“ bedürfen, um erlöst zu werden? Die Annahme eines unvertilgbaren radikalen Hanges zum Bösen scheint tatsächlich eine göttliche Gnadenhandlung erforderlich zu machen. Doch ist Vergebung aus Gnade nicht prinzipiell „mit dem Kantischen Moral- und Gerechtigkeitsbegriff […] unvereinbar“ (Wimmer 1990, 166)?. Wenn andererseits der Mensch für Sünden und Sühne allein verantwortlich ist, ist die Erlösung dann nicht Selbsterlösung? Wird damit die Gnade nicht letztlich überflüssig? Ist Kants Rede von „göttlicher Gnade“ also nicht ohne Widerspruch mit seinem Autonomiegedanken zu haben (Michalson 1990, 89 ff.)? Kant versteht „Gnade“ als die „Erteilung eines Guten, wozu der Untergeordnete nichts weiter als die (moralische) Empfänglichkeit hat“. Moralisch empfänglich sind wir genau dann, wenn wir uns eine moralisch gute Gesinnung zueigen gemacht haben. Eine moralisch gute Gesinnung zu haben, heißt, daß das Moralgesetz und nicht Selbstliebe unseren Handlungsgrundsätzen zu Grunde liegt. Dies wäre gerade nicht der Fall, wenn wir umwillen der Glückseligkeit das moralisch Gebotene tun. Die Gnade bringt also nicht unsere moralisch gute Gesinnung hervor. Vielmehr bringt die gute Gesinnung lediglich die Würdigkeit für den Empfang der Gnade hervor. Die Erlösung bleibt ein Akt der Gnade, weil uns nicht nur die Möglichkeit der Kompensationsleistung eingeräumt, sondern diese auch anerkannt werden muß. Doch selbst wenn wir voraussetzen, daß uns die Möglichkeit zur Kompensation unserer Sünden eingeräumt wird, dürfen wir dennoch „keinen Rechtsanspruch“ auf sie erheben. Die Gesinnung kann ihrer„Qualität“ nach „heilig“ sein. „Dem Grade

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nach“ – wie sie sich an empirischen Handlungen in der Erfahrung zeigt – „bleibt sie immer mangelhaft und von der ersteren unendlich weit abstehend“ (75, Fn.). Wir können aber die Qualität unserer Gesinnung nicht „unmittelbar“ erkennen, sondern sie nur aus unseren empirischen „Thaten“ ableiten. Wir können uns also unserer moralischen Qualität nicht sicher sein und haben deshalb auch „keinen Rechtsanspruch“ auf die Gnade Gottes. Wenn wir einen unmittelbaren epistemischen Zugang zu unserer Gesinnung hätten, wäre damit nicht auch garantiert, daß wir moralisch vollkommene Menschen sind. Moralische Vollkommenheit „[ist] immer nur im bloßen Werden“. Ein Rückfall ins Böse bleibt möglich. Unsere empirischen Handlungen sind, wie oben gezeigt wurde, als besondere Fälle unserer allgemeinen Gesinnung immer unvollkommener Ausdruck einer moralisch guten Gesinnung (s. oben S. 103 f.). Als Einzelfälle können sie die Allgemeinheit der Gesinnung, die alle unsere möglichen moralischen Handlungen umfaßt, nicht realisieren: „Auch die reinste moralische Gesinnung bringt am Menschen als Weltwesen doch nichts mehr, als ein continuirliches Werden eines Gott wohlgefälligen Subjects der That nach […] hervor“ (74 f., Fn.). Moralische Vollkommenheit ist ein uns unendlich aufgegebener Prozeß. Der göttliche Urteilsspruch kann nur ein Urteilsspruch aus „Gnade“ sein, weil ein „Gott wohlgefälliger Mensch zu sein“, für uns „im Erdenleben“ nicht vollkommen erreichbar ist. Wenn wir uns aber in unserem Handeln an dem Ideal der moralischen Vollkommenheit orientieren und also praktisch an jenen Erlöser glauben, genügen wir durch unser „Leiden und Tod“ der „höchsten Gerechtigkeit“ und haben Grund zur Hoffnung, vor dem Urteil der Vernunft, dem „göttlichen Richter“, als „gerechtfertigt [zu] erscheinen“.¹

Literatur Aulén, G. 1977: Christus Victor. An Historical Study of the Three Main Types of the Idea of Atonement, New York. Bojanowski, J. 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin/New York. Dieringer, V. 2009: Kants Lösung des Theodizeeproblems, Stuttgart-Bad Cannstatt. Düsing, K. 1971: Das Problem des höchsten Guts in Kants praktischer Philosophie, in: Kant-Studien 62, 5–42. Engstrom, S. 2002: The Inner Freedom of Virtue, in: Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays. Oxford, 289–316. Firestone, Ch. L./Jacobs, N. 2008: In Defense of Kant’s Religion. Bloomington. Forschner, M. 21995: Die stoische Ethik. Darmstadt.

1 Für wertvolle Hinweise möchte ich mich bei Volker Dieringer, Stephen Engstrom, Otfried Höffe, Christoph Horn und Sasha Newton bedanken.

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Horn, Ch. 2008: Kant und die Stoiker, in: Neymeyr, B. u. a. (Hrsg.), Stoizismus in der europäischen Philosophie, Literatur, Kunst und Politik, Berlin/New York, 1081–1104. Irwin, T. H. 1996: Kant’s Criticism of Eudaemonism, in: Engstrom, S./Whiting, J. (Hrsg.), Aristotle, Kant, and the Stoics, Cambridge, 63–101. Michalson, G. E. 1990: Fallen Freedom: Kant on Radical Evil and Moral Regeneration, Cambridge. Quinn, Ph. L. 1984: Original Sin, Radical Evil and Moral Identity, in: Faith and Philosophy 1, 188–202. Santozki, U. 2006: Die Bedeutung antiker Theorien für die Genese und Systematik von Kants Philosophie. Eine Analyse der drei Kritiken, Berlin/New York. Weidemann, H. 2001: Kants Kritik am Eudämonismus und die Platonische Ethik, in: Kant Studien 92, 19–37. Wimmer, R. 1990: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin/New York. Wolterstorff, N. 1991: Conundrums in Kant’s Rational Religion, in: Rossi, Ph. J./Wreen, M. (Hrsg.), Kant’s Philosophy of Religion Reconsidered, Bloomington, 40–53.

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6 The Devil, the Virgin, and the Envoy. Symbols of Moral Struggle in Religion, Part Two, Section Two 6.1 Overview In Part One of Religion within the Boundaries of Mere Reason, Kant develops a complex account of the human condition, one that posits fundamentally good predispositions (Anlagen) in human nature, as well as a “contingent” but somehow still “innate” propensity (Hang) to evil. Though he concedes that the origin of the evil propensity and the means of its overcoming are “inexplicable,” he also insists that its possession is imputable: each individual is responsible for his or her own moral condition (21–22; 40–44). Earlier chapters in this volume (especially those by Ch. Horn and M. Forschner) explore the notorious puzzles surrounding these doctrines, and I will leave them aside here. Part Two of Religion is concerned with the ongoing “moral and intellectual struggle” (Kampf ) for dominion in the human heart between the evil principle and the good principle. In the introductory paragraphs of this Part, Kant again emphasizes that our natural predispositions and inclinations are not the source of evil: “considered in themselves, natural inclinations are good” (58). He also reiterates his claim about the surd origins of evil, and notes that the character of the Devil found in many religious traditions – though misleadingly pictured “as a being outside us” – can be helpful in “making intuitive, for practical use, the concept of something to us unfathomable” (60; cf. 37). The Devil is a “projection” of the “incomprehensibility to us” of the origin of moral evil: “For whence the evil in that spirit?” Kant rhetorically asks, and then wisely declines to offer an answer (44). The first main section of Part Two deals with the “lawful claim (Rechtanspruch) of the good principle to dominion over the human being” – i. e. the sense in which the idea of the “prototype” of rational, morally perfect humanity has a claim to being the law (Recht) that governs our hearts. Kant speculates in this section about the origin and character of the idea of this prototype, and about how an empirical human being’s transformation in response to its claim might best be conceived. Kant also makes it clear that there is no “practical need” from the point of view of pure reason to postulate the divinity of the prototype (63), and lays out a couple of models of justification that are supposed to be

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acceptable to pure reason (cf. 76) (see J. Bojanowski’s essay above for more discussion of this section, as well as Hare 1996, 53 ff.). The second section of Part Two, which is the focus of the present commentary, takes up the opposing but still “rightful claim of the evil principle to dominion over the human being,” as well as the ongoing “struggle of the two principles with one another.” Here Kant continues his translation project of bringing the Hebrew and Christian scriptural traditions, to whatever extent possible, within the boundaries of mere reason. More specifically: Kant performs here what he calls the second “experiment” (Versuch) on the Genesis account of the fall into sin and on the New Testament narrative of the birth and life of Christ. The first experiment in rational theology involves simply determining what is within the bounds of pure reason and what outside it (where the two realms are conceived as concentric circles). The second experiment is hermeneutical: it requires us to start from “some alleged revelation or other and, abstracting from the pure religion of reason …, to hold fragments of this revelation as an historical system up to moral concepts, and see whether it does not lead back to the same pure rational system of religion” which we identified in the first experiment (12–13). By showing that a plausible interpretation of a scriptural tradition articulates the tenets of his own rational religion, Kant thinks that both the tradition and those tenets receive a kind of mutual validation: they are shown to be not merely consistent but “harmonious” and “unified.”¹ In the next section, I sketch Kant’s symbolic analysis of the two biblical stories at issue while raising questions about the philosophical doctrines that result. In section 6.3 I bring out the tension between Kant’s assertions regarding the results of the experiment and his apparent openness to alternate analyses of the relevant texts. I conclude with some reflections in section 6.4 on the General Remark about miracles that is appended to Part Two. Kant claims there that we must be open to the “theoretical possibility” of events such as virgin birth and physical resurrection, yet staunchly denies that it is essential for salvation either that such events occurred or that we believe that they occurred. Although he stipulates in the preface that the Religion can be understood apart from the critical philosophy (14), it will turn out to be useful to consider Kant’s claims about revelation and miracles in light of his overall account of modality and its relation to his theory of belief/faith (Glaube).

1 See Despland 1973, 220 ff., Hare 1996, 39–41, and Firestone/Jacobs 2008, 114–199 for accounts of the role of the two experiments in Religion. Most commentators think Kant conducts the second experiment throughout the text; Firestone/Jacobs argue that the second experiment only begins in Part Four.

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6.2 Symbols of an “intellectual moral” struggle 6.2.1 Cosmic conflict Kant characterizes the good principle as the one that requires us to “incorporate the moral law into our maxim” as our highest priority, over and above any self-interested considerations (23). Other incentives may influence us, but only in subordination to the demands of morality. The evil principle is in some sense equally unified: it recommends not incorporating the moral law into our maxim. But in another sense the evil principle is legion: in every situation, there are innumerable ways to deviate from duty or subordinate it to other ends. Even the occasional willingness to prioritize our natural dispositions to self-preservation, propagation of the species, or comparative advantage – not to mention the inclinations to sensual pleasure, fame, or worldly goods – is fully, “radically” evil in Kant’s rigoristic picture (23; 36–7). These two overarching principles compete for allegiance in the human mind, and this struggle within us, says Kant, is fruitfully symbolized in the image of “two persons outside the human being” who “test their respective power” in an effort to “establish [their] dominion over minds” or “establish their claims through law (Recht), as it were before a supreme judge” (78–79, Kant’s emphasis). The appeal to symbols such as these is significant. In the late 1780’s, Kant had been criticized for, on the one hand, strictly limiting which sorts of concepts can have “sense” (Sinn) and “reference” (Bedeutung), and then, on the other hand, practically postulating the objects of ideas to which these limits seem to apply.² In the terms of Kant’s own modal theory, the criticism is that we have no reason to think that such supersensible objects are really as opposed to merely logically possible. Thus practical reason in its postulating role – just like theoretical reason in its speculating role – may for all we know be groping among concepts of mere “thought-things” (Gedankendinge), and practical faith (Glaube) may be as empty as theoretical speculation (cf. KrV, A 771/B 799). In response to these concerns, Kant ultimately seeks to forge a much stronger connection between the ideas of reason and intuitional sources of content. One of his main efforts in this regard invokes the notion of “symbolism” or “schematism by analogy.” In the Real Progress essay that was written around 1790, for instance,

2 See Wizenmann 1787, as well as Kant’s response in the second Critique at V 144n. J.A. Eberhard’s critique of Kant can be found in the first volume of Philosophisches Magazin from 1788–1789, and translated into English in Allison 1973.

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he explicitly compares the “schematization” of a category – an operation that involves appeal to a kind of a priori intuition that provides content to a pure category – with the “symbolization of a concept” or idea of reason (XX, 279–890; cf. KrV, A 310/B 367). The latter operation provides “an emergency assistance [Nothülfe] for concepts of the supersensible which are as such not truly presented, and can be given in no possible experience.” But what is this emergency assistance, and how exactly does it work? In Real Progress, Kant describes the process this way: “The symbol of an idea (or a concept of reason) is a representation by analogy, i. e., by the same relationship to certain consequences as that which is attributed to the object in respect of its own consequences, even though the objects themselves are of entirely different kinds” (XX, 280). The thought here is that symbolization may provide a kind of ersatz content when normal a priori or a posteriori intuitions aren’t available: we can get a sense of what a supersensible object is like (and also of whether it is really possible) by drawing an analogy between its relationship to something we already cognize, and the relationship between two other things that we cognize. Thus, for example, Kant goes on in this passage to say that we achieve a limited grasp of what a supersensible ground of organized nature would be like by conceiving the relation on analogy with a human clockmaker’s relation to his products (XX, 280; cf. Rel., 65n). Even if we can’t exhibit or schematize such an idea in intuition, then, we may be able to symbolize it in order to see a “trace or a sign” – in the language of the third Critique – of what their objects would be like (KU, V 300). Elsewhere I have argued that this symbolizing role can be played by beautiful art and nature, and that their ability to play this role is involved in our aesthetic evaluation of some of them (Chignell 2007). I have also suggested that having a sense of the real possibility of the objects involved – even if only by appeal to symbols and analogies – becomes something close to a requirement on rational belief/ faith (Vernunftglaube) by 1790 or so, just as being in a position to “prove” the real possibility of its objects is a requirement on knowledge (KrV, B xxvi, note; cf. Chignell 2010).³ In the Religion written in 1792–3, Kant varies his terminology slightly and speaks of the distinction between a “schematism of object-determination” and a “schematism of analogy.”⁴ But the central idea is the same as in Real Progress

3 I have adapted a few of the paragraphs of that paper for use in this section. On symbolization generally, see Bielefeldt 2001 and Kang 1985. For a longer discussion of the various Christian symbols in Religion, see Ward 1972, 147 ff. and Palmquist 2000, ch.5. 4 Compare the notes Kant made for the Real Progress essay, where he says that in providing content to a priori concepts in general we can resort to “either the real schematism (transcendental),

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and the Critique of Judgment: “in the ascent from the sensible to the supersensible, we can indeed schematize (render a concept comprehensible through analogy with something of the senses).” Kant adds the warning here, however, that we can “in no way infer by analogy that what pertains to the sensible must also be attributed to the supersensible (thus expanding the concept of the latter)”: in other words, if we venture beyond the claim that the relation between the two sets of things is similar, we fall into “anthropomorphism, and from the moral point of view (in religion) that has most injurious consequences” (Rel., 65n; cf. KU, V 351 and 464n on the two kinds of “hypotyposis”). With respect to the clockmaker example, which Kant also mentions in this passage, the symbolic Nothülfe allows us to conceive the supersensible ground of “the world in general” as bearing a relation to organized nature like that of the clockmaker to his clock. To go further and univocally ascribe intelligence, conceptual understanding, means-end reasoning, and volition to this being on the basis of this analogy, however, is to “make a formidable leap … which leads straight into anthropomorphism” (ibid.) The symbol with which Kant starts the second section of Part Two – that of a “test of power” between two persons – evokes one of the more ancient theological models of Christ’s mission on earth. So-called “Christus Victor” models depict an agonistic struggle between the beloved envoy of a ruler, on the one hand, and a once-loyal vassal who has become a usurper, on the other (or, alternatively, between the envoy and a mortal enemy who has been given dominion by a onceloyal vassal). After a long battle, the envoy triumphs – though not without great injury to himself, an injury that is sometimes construed as a kind of ransom – and thus brings the world back into the rightful dominion of the good ruler.⁵ Kant’s oblique reference to Christus Victor imagery is complicated by his subsequent allusion to another Christological model. In the course of one long sentence he pictures Christ not just as battling for God’s interests on earth but also as a kind of advocate for humanity in a legal case that will be decided, fairly, by an all-observant “supreme judge.” The Devil also transforms – from a vile usurper into a kind of lawyerly prosecutor (Greek diabolos – “accuser” or “slanderer”) who comes before the heavenly court and charges humanity with giving itself over to evil. Such courtroom imagery is drawn from an even older symbol of humanity’s moral situation – one that goes back to ancient wisdom literatures such as the book of Job, where the Hebrew term “ha-satan” is not a proper name but a descriptive phrase that means “the adversary” or “the prosecutor.”

or the schematism by analogy (symbolic). The objective reality of the categories is theoretical, that of the idea is only practical” (XX, 332). 5 The locus classicus here is Aulén 1997 (first published in 1930).

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Notably absent in this section are allusions to models on which Christ satisfies a sort of debt owed to God by sinful humans, or takes their punishments upon himself. Earlier in Religion Kant makes reference to such “satisfaction” or “penal substitution” models, but he typically downplays them as misleading, since it is unclear how the death of an innocent person could satisfy the debt of another, or how one person could take on the justified punishment of another (40, 72). In section two of Part Two, such models seem to fall away as inadequate to our moral situation.⁶

6.2.2 The Fall Kant begins his account of humanity’s fall into evil by citing the biblical claim (in Genesis 1,28) that God initially gave us a kind of “usufruct” (Untereigentum) over the world. The Hebrew word here is a conjugation of “rada” (“to tread, rule, have dominion, dominate” (Klein 1997)), but Kant cites the Latin “dominium utile” instead, perhaps because it connotes something more like “stewardship” or “right of use” than full-blown rule or domination. God of course retains his right as the “supreme proprietor [Obereigentümer] (dominus directus)” throughout. Kant doesn’t bother recounting the Eden story in detail, but at some point humans overween and succumb to the devil’s temptation to “rebel against their overlord (Oberherr) and thus become dependent on [the Devil].” By occasioning the fall of our first parents in this way, the Devil is able to “set himself up as the supreme proprietor of all the goods on earth, i. e., as the prince of this world.” In other words, the Devil is pictured again, symbolically, as the usurper who seeks to be not a steward but rather dominus directus over the created universe. Kant relates in a footnote the humorous story of a certain Father Charlevoix who is at a loss for words when an Iroquois convert asks him, at this point in the Genesis story, why God (being almighty) didn’t just strike the Devil dead (79n). Kant’s own answer to the question is that God refused at that time to destroy free creatures that he created (including the Devil, apparently), and also chose to deal with “rational beings … in accordance with the principle of their freedom.” Thus he allowed both the Devil and those who followed him to suffer the significant consequences of their free decisions.

6 Kant does subscribe to a kind of penal substitution model in Part One, but says it is the “new man” in us – rather than Christ – who pays for the sins of the “old man” (see 74–5 and note). Thus there is no genuine substitution here (though see Hare 1996, 57 ff. for a different account of this according to which Christ is also the “new man”).

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According to the biblical account under analysis here, not only our first parents but all of their descendents, too, were subjugated to the “Kingdom of Evil” that was set up in defiance of the good principle. Such a view could never be brought within the bounds of mere reason, however: the subjugation of the descendents must be a result of their autonomous “free consent, since the false show of this world’s good diverted their gaze from the abyss of perdition in store for them” (79). This coheres with Kant’s claim, in Part One, that it is “most inappropriate to imagine [moral evil] as having come to us by way of inheritance from our first parents” (40). It also raises the question of whether any human being could in principle succeed in resisting evil. Kant gives us very little help here, and many commentators locate a deep tension between the claims that the fall into evil is universal, and that it is a result of individual choice. In Part One he tries to sidestep the issue by providing a series of empirical “examples” of widespread human evil in order to “spare ourselves the formal proof that there must be such a corrupt propensity rooted in the human being” (33). But an empirical appeal hardly seems sufficient to establish that the propensity (which is itself already evil) is universal. It is thus preferable, especially in light of his deflationary Christology (see below), to regard Kant’s theoretical claim about the “universal” depravity of humanity here as akin to Aristotle’s account of natural necessity – viz., something that holds “always or for the most part (aiei outh’ hôs epi to poly)” rather than strictly or without exception (Aristotle, Metaphysics VI 2, 1027a15–26).

6.2.3 Interregnum: the “Jewish Theocracy” Despite this interim victory on the part of evil, the good principle does retain a foothold in the world through the establishment of what Kant calls “the Jewish theocracy.” The ancient Israelites practiced the “public and exclusive veneration of [the good principle’s] name” (79), and Second Temple Judaism elaborated these traditions. Ultimately Kant thinks we should be unimpressed by such practices, since they are allegedly motivated by earthly incentives – “rewards and punishments in this life” – and adorned with “burdensome ceremonies and observances” that make the resulting behavior more “civil” than genuinely moral. As a result of this, the Jewish theocracy did no “substantial injury to the realm of darkness,” but it did keep a select group of people mindful of the original “imprescriptible right of the first proprietor” (79). Later in Religion, Kant will challenge the claim of Judaism to the title of a moral religion (cf. J. Brachtendorf’s contribution in this volume), but here he simply moves on to the explicitly Christian part of his narrative.

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6.2.4 The Christmas story The text is interrupted with a dash at this point, and what follows is suggestive of Luke’s Christmas story: “– Now suddenly there appeared among these very people … a person whose wisdom, even purer than that of the previous philosophers, was as though descended from heaven (wie vom Himmel herabgekommen war)” (80). The historical moment at which this person appeared is not arbitrary, according to Kant; it is an important part of Heilsgeschichte that the Jewish people were suffering under “the evils of a hierarchical constitution” at that time (i. e. Rome, and perhaps Herod and the High Priests too), and that they were increasingly aware of “the Greek sages’ moral doctrines on freedom” which had “induced most of them to reflection – they were thus ripe for a revolution” (ibid.). Implausible as it is to think that the Galilean disciples were schooled in Greek philosophy, it is clear that it played an important role in Pauline Christianity (see e. g. the Mars Hill address in Acts 17,22–31) as well as the later Johannine gospel (“In the beginning was the Logos”). Kant goes on to say that the newcomer in question announced himself as a “true human being” and yet also as “an envoy (Gesandter) of heavenly origin who was not implicated, at the time of original innocence, in the bargain with the evil principle into which the rest of the human race had entered through their representative (their first progenitor).” (80) Note that the claim to true humanity, heavenly origin, and exceptional moral character here is something that the envoy himself announces. Taken together with the hedging phrase “as though descended from heaven,” this indicates that Kant wants to avoid taking a substantive position on Christological issues while also not denying something that the biblical theologians would view as essential (cf. 63 ff.). Everyone can agree that Christ declared himself to be the Son of God (in e. g. Luke 22,70), but the theologians (and censors!) would have viewed this declaration as articulating metaphysical truths. The latter is clearly more than Kant wants to endorse, at least in the context of his attempt to hold these texts up to rational/moral scrutiny. As a result of this metaphysical reticence, however, there is no real explanation offered for why the envoy – as a “true human being” – doesn’t participate in the radical evil that characterizes the rest of humanity. This is something that many commentators find perplexing, especially in light of the doctrine of the innateness and “universality” of the corrupt propensity to radical evil.⁷ But Kant’s 7 For some of controversies surrounding Kant’s model of sin, redemption, and atonement, see Michalson 1987 and 1990, Quinn 1984, 1986, 1990 and the essays in Rossi/Wreen 1991 (especially Wolterstorff 1991) and Ricken/Marty 1992. Allen Wood’s now-classic attempt to handle some of these difficulties (prior to any of these articulations of them!) can be found in chapter 6 of Wood

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views on autonomy generally suggest that we must allow that this is theoretically possible not just for Christ but for anyone. The traditional account of congenital guilt, on a Kantian picture, is incredible, impossible, immoral, or all of the above; as we have seen, it must be under the individual’s control whether she enters into the “bargain with the evil principle.” The story of our first progenitor must therefore be taken symbolically as a narrative depiction of something that inevitably albeit contingently happens to each of us in the realm of freedom. As Kant himself says, the Pauline claim that “in Adam we have all sinned” can be rationally rendered as the Horatian dictum “Mutato nomine de te fibula narratur” (42). The innate propensity to natural evil is neither necessary nor strictly universal. Rather, it is a contingent universal – and “universal” apparently means “always or for the most part.” Christ, it turns out, is the one great exception to the rule. At this stage Kant inserts a long footnote about a “person free from the innate propensity to evil” being symbolized as someone born of a virgin. He regards the traditional use of the symbol as understandable, since the “sensual pleasures” involved in reproductive sex “relate us to the mating of animals generally far too closely (for human dignity)”; thus we tend to look on sex as “something to be ashamed of.” But he goes on to note that there is an obvious biological or “theoretical” difficulty about whether a virgin birth is really possible. As will come out in greater detail below, this would be problematic if Kant thought that there was any practical point in postulating the truth of the virgin birth doctrine. But he doesn’t: all we need is to “hold the idea [of Christ] itself before us as model, as a symbol of humankind raising itself above temptation to evil (and withstanding it victoriously)” (80n). Again, the person in question is not innocent by dint of being a metaphysical or biological exception to the human rule; rather, he is a volitional exception – he chooses against the propensity to radical evil to which our innate predispositions make us susceptible but not fated.

6.2.5 A threat to the Devil’s dominion The fact that there is one human being who is able to resist adopting the propensity to evil immediately puts the sovereignty of the usurper in jeopardy. But why? In keeping with Kant’s general approach here, we must not view the threat to the evil principle as metaphysical or forensic; rather, it is because other humans might

1970. More recent attempts include Mariña 1997 and Palmquist 2000. A different and more controversial defense of Kant against Michalson, Wolterstorff, and Quinn (among others) is found in Firestone/Jacobs 2008.

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“believe in him and adopt his moral disposition” – in other words, they might see that it is humanly possible to be fully moral in the way that he was, and then earnestly seek to follow his example. Of those who “believe in him” in this way, Kant says, “the prince of the world would lose just that many subjects and his kingdom would run the risk of being totally destroyed” (81). Aware of this threat to his dominion, the Devil tempts the envoy in multiple ways, and, failing in that effort, assails him with the “direst poverty” and “every persecution by which evil human beings could embitter him,” including “the slandering of his teachings.” Still, all of this achieves nothing against his “steadfastness and honesty in teaching, and example for the sake of the good,” right up until his “most ignominious death” (ibid.). This part of the account raises an obvious epistemological question: how do others know that the envoy is perfect, in order to take his life and work as an example? How does Christ’s life prove to them that human perfection is really possible? Perfection consists in having a good (or holy) will, but for Kant this is not something that an agent can know about herself , much less about another (see here the discussion in Ch. Horn’s essay of the asymmetric opacity of the good will). The response to this question is foreshadowed in section one of Part Two: “since he cannot make [his disposition] visible as an example to others in and of itself, he places it before their eyes externally through teachings and action” (66). In light of his “irreproachable” behavior and the absence of proof to the contrary, Kant says, it is only fitting that observers give him the benefit of the doubt and ascribe to him a perfect will (ibid.). But this hardly constitutes a proof of actuality or real possibility! Moreover, since Kant thinks the latter is required for any sort of knowledge (even probabilistic knowledge), the result is that the most that we or even the contemporaneous witnesses at first hand can have about Christ is “practical faith” (cf. 62; KrV, B xxvi note; and Chignell 2010).

6.2.6 Physical and legal results of the struggle This concludes the story of the combat between the personifications of the good principle and the evil principle in Part Two. Kant now steps outside the narrative and looks to the “results” of this combat, providing translations of them on a “physical” as well a “legal” (rechtlicher) level. Physically or empirically speaking, it looks as though Christ lost: he suffered and then died as a result of his teachings and actions. Kant is careful to say in a footnote that Christ did not seek death in some suicidal fashion, nor did he stake his life on a political revolution that was ultimately crushed by the Roman and Jewish authorities. Rather, Christ’s admonition to his followers to “do this in remembrance of me” at the Last Supper shows that he anticipated his death without seeking it, and yet still thought of his acts on

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earth as worth commemorating. It also suggests, says Kant, that his efforts were aimed not at political revolution but rather at religious reform – the “overthrowing [of ] a morally repressive ceremonial faith and the authority of its priests.” The enterprise didn’t succeed immediately, since “the master” himself was killed, but the initial resistance to his teachings and religious efforts soon “gave way to a religious transformation that quietly spread everywhere, though in the midst of many sufferings” (81n). So much for the physical results. Legally (rechtlich) speaking, the results of Christ’s work are located not in the realm of nature but of “freedom”; the latter is where “principles (be they good or evil) have power” (82). In this realm, principles rule over not bodies but minds, and minds are only enslaved if they in some sense choose to be. The envoy’s death in the physical realm is “the manifestation of the good principle… of humanity in its moral perfection, as example for everyone to follow.” It also symbolizes, according to Kant, the “contrast between the freedom of the children of heaven and the bondage of a mere son of earth” (82). This is the most explicitly Abelardian moment in Kant’s interpretation of the Gospel narrative, though there are of course references to the moral exemplar model commonly associated with Peter Abelard throughout the Religion (see e. g. 62). We are explicitly told here that in the ultimate realm of freedom and principles, Christ’s central work was to exemplify a genuinely free and genuinely good will for those of us who are also transcendentally free and yet choose radical evil. Moreover, his death – giving up his life as an act of love and fidelity to his teachings – was the ultimate example of that freedom and that goodness, one which “ought to have… the greatest influence on human hearts” (ibid.). In this context, all talk of war with the Devil, ransom, satisfaction of debt, and penal substitution has disappeared. Kant also emphasizes here that although the “descent” of the good principle into human form is represented as occurring at a particular, fortuitous moment in history, in fact the good principle has descended “from the very beginning of the human race, in some invisible way…and has precedence of domicile in humanity by right.” Kant’s idea is that the moral law is and always has been available to reason, at least in an “invisible” way. Indeed, the “invisible” descent of the good principle through reason is much more intelligible than any physical incarnation, given the “incomprehensibility of the union of this holiness with human sensible nature in the moral disposition” (82). The advantages of privileging the invisible, intellectual descent of the good principle over historical events are three-fold. First, Kant can claim (as he does later on in Religion) that no one particular religious “vehicle” is required for grasping the moral law – it was already there, descended to humanity in the form of practical reason itself. Second, Kant can endorse a secular version of the Pauline doctrine that all rational beings, even those who lived well before Christ or on

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other parts of the earth, “are without excuse” before the law (Romans 1,20). Finally, Kant is able to say that if the good principle does descend in an actual envoy at one point in history, that person has “come unto his own” (in the biblical phrase) – not just his own race or biological species, but his fellow free rational beings to whom the good principle had already appeared in the form of the moral law. Despite the fact that the law had already appeared, no one had succeeded in being righteous prior to this particular historical figure (a “contingent universal” truth for which Kant offers no adequate explanation, as noted earlier). And even after this example has been set, only a few people “receive him.” Those who choose, following him, “to die to everything that holds them fettered to earthly life to the detriment of morality” are then “gathered … under his dominion,”; by contrast, Kant says, Christ “abandons to their fate all those who prefer moral servitude” to the evil principle. Their fate is presumably to live fragmented lives in allegiance to the legions of possible evil maxims – a condition whose distance from genuine righteousness is aptly symbolized by the “immeasurable gap” between heaven and hell (60n). This explication of the legal results of Christ’s work implies that – just as in the traditional story – the outcome of a particular person’s birth, life, teaching, and passion is not a wholesale conquering of the evil principle: that is something that still has to wait. In the traditional story, it waits for the resurrection, second coming, judgment, and eschaton. In Kantian theology, it awaits the moment (does it happen at a moment?) when free and rational creatures perform the revolution of the will required to achieve the kingdom of ends towards which they then endlessly progress. Still, the mere intrusion into history of an example of a perfect will counts as a “breaking up” of the dominion of the evil principle’s “controlling power in holding all these subjects against their will those who have so long been subject to it, now that another moral dominion (since the human being must be subject to some dominion or other) has been revealed to them as freedom and in it they can find protection for their morality if they want to forsake the old one” (82–3). Kant suggests in this last passage that the evil principle holds people in its sway “against their will.” But given that the principle is not a genuine power or force able to compel a free being one way or the other, this is hard to square with Kant’ general commitment to freedom and the imputability of radical evil. The best way around this difficulty, I submit, is to interpret “holding all these subjects against their will” as referring to these subjects’ ideal rational will and not their actual choices. The descendents of Adam would, if they were fully rational, choose to be free of the various things “that hold them fettered to earthly life to the detriment of morality,” even though in fact they often fail to live up to that standard. The appearance of an envoy of the good – one who does have a perfectly

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rational will – exemplifies to them a life of true morality and (hence) true freedom, and this example helps to protect their new morality.

6.3 The moral meaning of these narratives Having retold and then translated the biblical stories of fall, incarnation, and redemption, Kant now steps back and says that we can see in this “vivid mode of representing things” – which was “apparently the only one at the time suited to the common people” – a meaning that has been “valid and binding practically, for the whole world and at all times” such that anyone “can recognize his duty in it” (83, Kant’s emphasis). But what is this meaning? Kant continues: “Its meaning is that there is absolutely no salvation for human beings except in the innermost adoption of genuine moral principles in their disposition.” The story properly translated also tells us that what interferes with this adoption is not sensibility but rather “self-incurred wickedness,” “fraud,” “faussité,” or “satanic guile” – corruption which “can only be overcome through [adhering to] the idea of the moral good in its absolute purity.” By contrast, superstition (ceremonies, expiations, public venerations, etc.) and enthusiasm (inner illuminations, mysticism, etc.) are mere distractions from the all-important task of becoming better moral beings; thus, Kant says, we must be sure not to describe the idea of the good as anything more than the idea of a “well-ordered conduct of life” (83–4). This is all pretty standard Kantian fare. The section concludes, however, with an interesting second-order comment. The foregoing scriptural exegesis was an attempt, Kant tells us, to find a translation of the Holy Scripture that is “in harmony with the most holy teachings of reason.” Moreover, performing this sort of hermeneutical work on sacred texts “must be held not only as permissible but as duty” (Pflicht). But Kant doesn’t tell us why here: why couldn’t someone simply stay within the confines of pure moral religion and not bother with scriptural interpretation at all? Presumably one motivation for this strong claim about duty is that Kant thinks we need to highlight the “unity … between reason and Scripture” and thus resist the views of radical fideists like J.G. Hamann and others (13). But another and wider-reaching motivation is related to the discussion of symbolization at the beginning of the paper. As we saw there, in the 1790s Kant began to regard the task of finding symbolic/analogical content for rational ideas as essential if a belief/faith (Glaube) involving them is to be rational. Given the results of Kant’s interpretive efforts here in Part Two of Religion, it is clear that he thinks that scriptural texts – like art and literature more generally – can often provide such content. If this is right, then it places the results of Kant’s second experiment in a new

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light. Recall that the goal of this experiment was to bracket the doctrines of rational religion, take some fragments of sacred text, hold them up to moral ideas, and see if we are led back to something like the religion of reason again. By holding doctrines about the fall, the Devil, incarnation, and redemption up to moral ideas, we have indeed returned to the doctrines of pure rational religion. But in the course of performing the experiment we have also encountered images and symbols in historical and scriptural narratives that provide a crucial kind of “sensible rendering” (Versinnlichung)⁸ of rational religion: they give its central ideas (God, freedom, evil, forgiveness, the afterlife) with an ersatz sort of intuitional (albeit symbolic) content – and thus an indication that such things are really possible. “We always need a certain analogy with natural being in order to make supersensible characteristics comprehensible to us,” Kant says, and “the Scriptures adapt themselves to this manner of representation, to make the extent of God’s love for the human race comprehensible to us, by attributing to God the highest sacrifice a living being can ever perform in order to make even the unworthy happy” (65n). Given that we need such symbols, it becomes clear why the study and interpretation of important, scriptural symbols becomes a kind of duty, even for the proponent of a pure moral religion. That said, ending up with precisely the same interpretation of the scriptures that Kant does is apparently not a part of our duty. Regarding his own interpretation in this section, Kant says “it may be admitted that it is not the only one” (84n), thus echoing an earlier footnote where he remains agnostic about whether his interpretation is “the only meaning according to which we can derive something edifying from the text” (43n). He also alludes in this connection to the passage in Mark’s gospel in which “the wise teacher” is told by the disciples that there are others casting out demons and healing in his name, even though these others are not in their immediate circle (Mark 9,39–40). Our response to competing but still morally sound interpretations of a scriptural story, Kant says, should likewise be to say “forbid him not, for he who is not against us is for us” (84). But this hermeneutical ecumenism is puzzling: how could an interpretation of the Christmas story be significantly different from Kant’s without either lapsing into speculative Christological metaphysics or some more literal variety of the Christus Victor model? How could an interpretation of the physical or legal results of these episodes differ from Kant’s and still be acceptable to pure practical reason? The procedure in the second experiment is designed (if all goes well) to get us back to the tenets of rational (Kantian) religion, after all, and thus provide a

8 This is a term Kant uses at the end of the first part of the Critique of Judgment to describe the function of (at least some) beautiful objects with respect to rational ideas (KU, V 356).

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kind of support for them both. Thus it is not clear how there could be room to interpret the Judeo-Christian creation-fall-redemption narrative in such a way that the results are significantly different from Kant’s own but also still harmonious with the “holy teachings of reason.” If this is correct, then the duty to perform rational exegesis on scripture seems ipso facto be a duty to interpret it in Kant’s way, his own protestations to the contrary notwithstanding.

6.4 On miracles generally The General Remark that follows this section and concludes Part Two is devoted to one of the four “parerga to religion within the boundaries of pure reason” that Kant promises (at the end of Part One) to discuss in four General Remarks. These do not, he says there, belong precisely within the religion of pure reason, but “yet border on it” and are thus worthy of discussion in this context (52). The parergon to Part Two concerns the doctrine of miracles. Kant has just asserted that we don’t theoretically or practically need to postulate the virgin birth, and has also conspicuously left out any mention of the central Christian miracle – the bodily resurrection of Christ – thus letting his readers infer that his view of the second miracle is similar to his view of the first.⁹ So the topic of miracles fits in quite well here. Kant starts by claiming that a moral religion (“the heart’s disposition to observe all human duties as divine commands”) is such that any miracles connected with its inception makes faith in those very miracles (or any other) dispensable. Belief in miracles is the ladder that can be kicked away once we come to accept the authenticity of a moral/religious teaching on other grounds. Indeed, it is immoral “unbelief” (Unglaube) to fail to accept reason’s dictates unless and until they are authenticated by miracles. Kant is careful not to rule out belief in miracles as impossible, however. On the contrary, it is “entirely conformable to the ordinary human way of thinking” for a

9 In Part Three he explicitly repudiates any attempts to include the “more esoteric story of [Christ’s] resurrection and ascension … within the boundaries of mere reason, whatever its historical standing.” Kant does think that reason is committed to the immortality of the soul, but “reason cannot find an interest in dragging along through eternity a body which, however purified, must yet consist if personality rests on its identity) of the same material which constitutes the body’s organic basis and which, in life, the body itself never quite grew fond of” (128–9). John Hare claims to find insufficient evidence in such polemics to conclude that Kant “did not believe in central doctrines of Christianity, like the historical resurrection of Christ” (1996, 51). But the passage does at least seem to rule out belief in a bodily resurrection.

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new religion – even one based rationally on “the spirit and the truth (on moral disposition)” to announce or “adorn” its introduction with some miracles. Indeed, it is quite possible that a prophet or founder’s life was full of miracles (which would help to win adherents from the old religion), and that the historical testimony to these miracles itself was miraculously arranged and preserved. The claims about miracles that we must “dispute with all our might,” Kant insists, is that they authenticate true religion, and that mere belief in them is pleasing to God (85). Given all of this, the most reasonable approach for governments and churches is to teach that theoretically miracles may have occurred, especially in ancient times, but that pragmatically we simply can’t count on them now, much less expect them to occur. The reason to follow this maxim is that whereas old stories about miracles won’t cause any uproar, rumors of new miracle workers could lead to serious civil unrest. Kant then turns to a puzzling discussion of what miracles are (86 ff.). Practically speaking, he says, they are “events in the world, the causes and effects of which are absolutely unknown to us and so must remain.” By “practical” Kant must mean something like as they would appear to us in an everyday practical context; otherwise this would be an extremely lame definition. Even still, the claim about our ignorance of the effects of miracles is a bit baffling: don’t eyewitnesses know that e. g. the Red Sea has parted and that Lazarus is walking out of the tomb? In the Lectures on Philosophical Doctrine of Religion, Kant provides a better account, saying simply that miracles are “individual occurrences” that do “not correspond to the order of nature” and are yet brought about directly by God “in order to carry out his plan” (XXVIII 1111–1112). Here Kant appears to side with those in the early modern tradition who view miracles as genuine violations of laws. Even if such events are in some sense possible, however, we have no “positive criterion” for them – a criterion that would tell us when we could reasonably expect a miracle to occur – and thus reason (both theoretical and practical) is “paralyzed” by the thought of them. In order to avoid such paralysis, those seeking to proceed scientifically cannot think about miracles at all: even though they also have no cognition (Kenntnis) of “that which brings about effects according to [natural] laws, in itself (an sich selbst)” they still need as a general maxim to presuppose the causally closed structure of the empirical world (88). Likewise, we cannot count on miracles in everyday “practical affairs,” and judges can’t take them into account in courtroom situations (87). In a purely ethical context, however, Kant says we may go a little further than this and hope that there are “heavenly influences” that “cooperate in [moral] improvement.” But since we have no understanding of how this works, we must still act as though everything “depended solely on the application of [our] own workmanship.” Moreover, before making firm assertions about any such miracles, we

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would have to “contest” (anfechten) their actuality or at least their possibility. This claim is significant in light of the fact that, as noted earlier, Kant establishes a very strict modal condition on knowledge claims. It requires that the subject be able to “prove” or demonstrate the real possibility of the objects involved – an ability that is not often available with respect to supersensibilia (again, see KrV, B xxvi, note). Here in Religion Kant seems to suggest that whereas “hope” for supernatural assistance is permissible without meeting any such modal condition, attitudes stronger than this (even practical belief/faith) require at the very least a good indication that such assistance is really possible. Given that it is not clear where such an indication could be found, rational hope seems to be the most we can justifiably have (or require of others) about miracles. Kant concludes by claiming that there are two nonarbitrary maxims that we could appeal to regarding miracles: either they occur all the time “though hidden under the appearance of natural occurrences,” or they do not occur at all. The first is “in no way compatible with reason,” and thus we must accept the second. Of course, this is just a “maxim of judgment” and not a “theoretical assertion”: it may in fact be both actual and really possible that miracles do occur.¹⁰ But to claim to know that some event or feature in the world (here Kant refers to the apparent design of biological organisms) is miraculously produced will nearly always be presumptuous and, moreover, lead to the dejection of reason and the stoking of enthusiasm. In the end, then, even if the miraculous events such as virgin birth, incarnation, and bodily resurrection (not to mention what Kant calls “diabolical miracles”) referred to in religious tradition are epistemically possible, they are not provably theoretically possible. In theoretical contexts we must follow the maxim of judgment according to which all events in the world are the result of general laws, and in religious-practical contexts the most we can rationally do is hope for the miracle that is divine assistance in the moral life.

10 The idea that our commitment to the unexceptionable character of natural laws is a mere maxim of judgment seems embarrassingly weak in light of the claims Kant makes about the universal and necessary status of the causal principle in the Second Analogy and elsewhere. This is clearly a topic for another time, but it is worth noting that in the “Analogies of Experience” chapter, Kant does (notoriously) say that the Analogies as well as the Postulates of Empirical Thinking “will not be valid of the objects (of the appearances) constitutively but merely regulatively” (KrV, A180/B222–3).

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7 Ethical Community, Church and Scripture The First Part of Religion Within the Boundaries of Mere Reason presents the thesis that there is in human nature a radical propensity to evil, which each of us must counteract in ourselves through the exercise of our moral predisposition in the form of a moral conversion and the adoption of a morally good disposition. In effect, it is a Kantian rationalist interpretation of the Christian doctrine of original sin. The Second Part of the work raises, and attempts to solve, difficulties we may have in conceiving the possibility of wiping out the innate guilt that burdens us through the radical evil in our nature. It expounds, again in rationalist terms, Christian doctrines about the role of the Christ ideal in the moral life, and solutions to the traditional theological questions of justification and sanctification. Neither of the first two asks how the struggle against evil may be carried on effectively, or attempts to say either what human beings must do, or have in fact done, to struggle against evil.

7.1 Third Part: The social condition and the propensity to evil Kant holds that each of us is individually responsible for the propensity to evil in our nature, and bears the entire responsibility and the guilt when we yield to it. But he holds equally that we would not be subject to evil except for the social condition – the presence around us of other human beings – which awakens in us the propensity to place the incentives of self-love and inclination ahead of those of the moral law. According to Kant in the First Part of the Religion, such a propensity is bound up with (or inevitably grafted onto) our predisposition to humanity itself, insofar as it involves the formation of an idea of our happiness and the choice to make happiness an end: “The predispositions to humanity can be brought under the general title of a self-love which is physical and yet involves comparison (for which reason is required); that is, only in comparison with others does one judge oneself happy or unhappy. Out of this self-love originates the inclination to gain worth in the opinion of others” (Rel., 27).¹ We see here that the human pro-

1 Kant’s writings will be cited according to Immanuel Kants Schriften. Ausgabe der königlich preußischen Akademie der Wissenschaften (Berlin: W. de Gruyter, 1902–; unless otherwise footnoted, https://doi.org/10.1515/9783110782424-009

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pensity to evil is essentially the same as what Kant elsewhere calls (borrowing a phrase from Montaigne) the “unsociable sociability” through which nature spurs human beings through the incentives of social competition to develop all their species predispositions in history (Idee, VIII 20). We see here also that this propensity is very closely connected to our desire for happiness itself and the self-love that springs from our rational predisposition to humanity. That is, we form the idea of happiness as the comprehensive worth of our state or condition (Zustand), as distinct from the worth of our person (see KpV, V 60, 66, 88, 119). We do so because our condition can be compared with that of others, and judged superior to theirs both in our own opinion and in theirs, whereas the worth of all persons, their dignity as ends in themselves, is always the same, and can never be compared with that of others, and its inner worth can be considered greater or lesser only in comparison to the moral law or the idea of virtue (never in comparison to other people) (KpV, V 77; cf. Vorlesungen über Ethik, XXVII 349, cf. MS, VI 435–436). For Kant, therefore, it is always in a social context that we display the propensity to evil – to prefer the incentives of inclinations or self-love (which constitute the worth of our condition) over those of moral reason (which constitute the worth of our person). The propensity to evil consists fundamentally in valuing ourselves the wrong way – giving preference to the worth of our condition over that of our person – arising from our self-conceited desire to appear superior to them. Social competitiveness thus lies at the ground of all evil we do, whether that evil consists directly in the violation of duties to others or the violation of duties to ourselves. This social context and origin of the propensity to evil plays little role in Kant’s argument in the Religion in the First and Second Parts. But it comes to the fore at the beginning of the Third Part, where we take up the struggle against evil (93–94). Evil arises in our nature in the social condition, and due to our comparative-competitive relations with others in the position of unsociable sociability in which nature has placed us as a device for developing our species predispositions. The way to combat evil (the answer to Kant’s question “But how?”) therefore lies in promoting a different kind of sociability from the natural (unsociable) one: “If no means could be found to establish a union which has for its end the prevention of this evil and the promotion of the good in the human being, [then]… however much the individual human being might do to escape from the dominion of this evil, he would still be held in incessant danger of relapsing into it” (94). Responsibility for the evil we commit, in Kant’s view, always lies with each of us individually. But the context in which our evil propensity manifests itself is fundamentally social, and the pros-

writings of Immanuel Kant will be cited by volume and page number in this edition) and Cambridge Edition of the Writings of Immanuel Kant (New York: Cambridge University Press, 1992–).

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pects for combating evil in ourselves would therefore be bleak if we carried on the moral struggle each by himself apart from others. The struggle against evil therefore requires a social “union” in which human beings can combat their common propensity to evil “with united forces.”

7.2 Division One: Subsection I: The ethical state of nature Kant conceptualizes our perilous moral condition using an analogy with political life, calling it an “ethical state of nature,” and treating the social union which enables us to combat evil in ourselves as analogous to the civil condition or condition of right, in which people found a political state in order to protect their rights from the violence and injustice of others. But the analogy, as Kant takes pains to emphasize, is in some respects a very imperfect one, and if they are to understand what he is saying, his readers need to remain constantly attentive to both the similarities and differences. The similarities seem to be these: First, in both the juridical and the ethical state of nature, “each individual prescribes the law to himself, and there is no external law to which he, along with the others, acknowledges himself to be subject”. And second, “In both, each individual is his own judge, and there is no effective public authority with the power to determine legitimately, according to laws, what in given cases the duty of each individual, and to bring about the universal execution of these laws” (95). The main differences also seem to be two in number: (1) Juridical legislation admits of rightful external coercive enforcement, but it would be a violation of right for anyone to coerce the fulfillment of ethical laws (95). Both membership in the ethical community, and fulfillment of the duties pertaining to it, must be free and voluntary, not externally or coercively required. (2) The juridical commonwealth, in Kant’s view, is always limited in membership to those residing in a certain portion of the earth’s surface – Kant holds that a universal world-state would necessarily be “a soulless despotism” and “the graveyard of freedom” (Frieden, VIII 367). The ethical community, however, is in its concept universal (96). Clearly the ethical community is not only subject to public laws, but involves publicly valid judgments about their application to particular cases. How can a non-coercive community be capable of this? We may conjecture that what Kant means is that when I join an ethical community, I involve myself in relations with others that help me to determine what my ethical duties require in specific cases, and I accept the community’s judgment about this. Also, I regard myself as subject to my ethical

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duties as divine commands (153), and treat God’s apportionment of happiness to worthiness (in the highest good, KpV, V 110–113, 124–132; Rel., 5–6) as analogous to the coercive enforcement of juridical duties by a state, even though treating God’s justice as the incentive to ethical obedience would substitute “compulsory” or “hired service” (Frondienst) for the proper ethical motive of duty (116, 158, cf. EaD, VIII 338–339).

7.3 Subsection II. Why we ought to leave the ethical state of nature Kant argues that just as in the juridical state of nature everyone is subject to unjust attack by others, so in the ethical state of nature “the human being is incessantly attacked by the evil found in him and in every other as well” (97). Ethics lays upon us the general duty of struggling against this evil. What follows from this are two (ethical) duties. There is an ethical duty for each individual to join an ethical community, since only in this way can he struggle effectively against his own radical propensity to evil. But there is also a duty to create a moral community, which does not lie in the power of any individual. “Now, here we have a duty sui generis, not of human beings toward human beings but of the human race toward itself” (97). This is a duty to ground a community based on a shared end – “the highest good as a good common to all” (97). The idea that the ethical principle involves human beings in shared ends is basic to Kantian ethics, expressed in the Formula of the Realm of Ends – which is an ideal community of rational beings following those laws that would bring their ends into harmony or necessary combination – which Kant calls a “realm” (Reich) (GMS, IV 433). In the ethical principle itself, however, this community is merely an ideal, used to identify those laws to which the individuals are subject (they are the laws which, if universally followed, would bring about a combination of ends and the ideal community of rational beings). The ethical community mentioned in the Religion, however – which the human race has a collective duty to establish, and individuals have an ethical duty to join – is not a mere ideal, but an actual community on earth. It too is an ideal, in the sense that no existing earthly community ever fully lives up to it. But it is essential to its purpose that the ethical community be grounded on a consciously shared common end (the highest good). For the source of evil is our unsociable sociability, our propensity to competitiveness, which sets human ends naturally in conflict: In the ethical state of nature human beings “deviate through their dissensions (Mißhelligkeiten) from the common goal of goodness” (97). The struggle against evil therefore requires kind of sociability that involves unanimity (Einhel-

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ligkeit), hence the conscious unification of human ends into a universally shared end – the highest good.

7.4 Subsection III–IV: The concept of the ethical community A community (gemeines Wesen) consists in a group of people united by (1) common or shared ends and (2) a system of common legislation. To constitute the legislation for a community, however, this legislation must be public, seen by members of the community as “the commands of a common legislator” (98). Kant argues that if the legislation is to be ethical rather than juridical, the people cannot be seen as this legislator, because ethical legislation is addressed to the inner disposition rather than to external actions (it commands morality, not mere legality). This argument would not be cogent if the only problem were what the laws command, since there is no reason in principle why those who command would have to be able to know whether the commands are obeyed. But if the commander is also a legislator in the sense of someone who lays down sanctions (rewards or punishments) for obedience or disobedience (see MS, VI 227), then these cannot be justly administered unless the legislator does know the merits of those subject to the legislation. The people, regarded as legislator, could not sanction actions according to their morality, but only according to their legality. Therefore, only God can be the legislator for the ethical community, which accordingly is thought of as a “people of God, and indeed in accordance with laws of virtue” (99). The ethical community, however, is not to be a merely ideal one (like the realm of ends), but must exist on earth, as a human institution. “The sublime, never fully attainable idea of an ethical community,” however, “is greatly scaled down under human hands,” and displays itself as what is called a “church” (Kirche) . This human institution displays certain restrictions “under the conditions of sensuous human nature. But how could one expect to construct something completely straight from such crooked wood?” (100). Adopting traditional Christian terminology, Kant distinguishes the “church invisible” – “the mere idea of a union of all upright human beings under direct yet moral divine world-governance,” from the church visible – “the actual union of human beings into a whole that accords with this ideal” (101). This accordance, however, will always be imperfect, and even encumbered by certain essential limitations, grounded in imperfect human nature. This, as Kant explains in Subsection V, takes the form of a historical faith, which Kant calls “ecclesiastical faith” (Kirchenglaube), involving the revelation of statutory laws of divine service. Subsection IV, however, formulates the

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idea of a true ethical community, according to the four headings of the table of categories (101–102): 1. Quantity. The ideal ethical community would be numerically one, and universal, encompassing all human beings. 2. Quality. It would be pure, measuring human actions solely by their conformity to moral incentives, “cleansed of the nonsense of superstition and the madness of enthusiasm” (101). 3. Relation. It would be free, both internally, in the relation of the members among themselves, and externally, in relation to the political state. Since ethical laws are essentially non-coercive, an ideal ethical community would be external to the state and it would not itself take the form of a coercive government (or “theocracy” under the aristocratic administration of priests) (102, cf. 100). 4. Modality. The constitution of the ethical community would be unchangeable. Kant emphasizes, however, that accidental regulations concerning the administration of the church must change with circumstances. And there can be no permanent set of written laws or any creed, since both are necessarily contingent, devoid of ethical authority; they would stand in the way of enlightened progress in the way people think about ethics and religiously, about their duties as divine commands (102, cf. Aufklärung, VIII 38–39). Kant concludes that the church may have nothing like a political constitution, but is best conceived as a family, under an invisible moral father: “a free, universal and enduring union of hearts” (102).

7.5 Subsection V: Revealed faith and scripture The ethical community in its purity would be grounded solely on ethical laws of pure reason. But as a human institution, subject to human imperfections and limitations, a church displays a certain characteristic weakness of human nature that Kant thinks cannot be gotten round directly, but must be accepted as part of any earthly institution through which a pure ethical community is to be instantiated. “Human beings cannot conceive their obligation [to God] except as directed to some service or other which they must perform for God” (103). In other words, human beings cannot help thinking of God by analogy with a human potentate or despot. An ethical community can come into existence historically, therefore, only in the form of a church having such statutory laws commanding divine service, which must therefore be given not by pure reason but only empirically, through some revelation of God’s will, as to the manner in which he is to be served, honored and praised (103). Mere tradition, Kant argues (the handing down of these statutes orally from each generation to the next) will prove inadequate to preserve

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them in a stable and unchanged way. Therefore, an ecclesiastical faith will base itself on a revelation written down in the form of a scripture, or holy book (106–107). For Kant, there is only one religion – the religion of reason. But this religion manifests itself – and must manifest itself – only through many ecclesiastical faiths. What are called different “religions”, and “religious” struggles, “religious” persecutions, and the insistence on “religious” orthodoxy – all these concern only ecclesiastical faiths, not religion. It is the collective duty of humanity, part of their duty to found a true ethical community, to overcome all these differences, and the historical divergences, statutory observances and the superstitions, that lie at their foundation (107–109). But we cannot hope to grasp the pure rational religion directly – to arrive at it, so to speak, behind the back of the ecclesiastical faiths through which alone, Kant thinks, it is accessible to us. Therefore, we must work within these faiths, in their own terms, to seek the true religion of reason and the true ethical community. We must interest ourselves not only in what God demands of us as good lifeconduct through the moral law of reason, but also in what God can be thought of as demanding of us as members of a real earthly community established to honor and serve him. “The question: How does God will to be honored in a church (as a congregation of God)? appears unanswerable by mere reason, but to be in need of a statutory legislation proclaimed only through revelation, hence of a historical faith we can call ‘ecclestiastical’ in contradistinction to pure religious faith” (105). There are two contrasting thoughts that determine Kant’s argument here, that stand in some tension with one another, but which Kant thinks must be maintained together and even reconciled. The first is that true divine service, that through which God (as moral reason presents him to us) would want to be honored, consists solely in the performance of our ethical duties, not in any statutory legislation whatever, any words of praise, flattery or actions proving our cringing submissiveness to his arbitrary will. Statutory laws are therefore always inessential to the true aims of an ethical community and superfluous to its real aims (104– 105). The second, however, is that the idea of an ethical community can be realized by human beings on earth only through institutions embodying divine statutory laws and the authority of a written scripture. If they are to struggle against their radical propensity to evil, therefore, human beings must accept the existence of an essentially flawed institution as the vehicle of this struggle. Religion (or the recognition of our duties as divine commands in an ethical community), as a social and historical reality, must therefore involve a historical dynamic through which alone these two contrasting (or mutually hostile) thoughts can be reconciled. We must accept the existence of churches with statutory laws revealed empirically through scripture, but we must struggle to reform them so as to bring existing churches more into harmony with the pure idea of the

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ethical community as a universal, pure, free and unchangeable people of God. The third part, division one, subsections VI and VII of the Religion will explain the dynamics of this historical struggle. Division two will look at the struggle as it has displayed itself in empirical religious history (especially in the history of Christianity). Before turning to subsections VI and VII, however, it will help us to appreciate the way in which this tension in Kant’s thinking follows exactly the same pattern we see in other aspects of his philosophy of human history, and exemplifies the basic pattern Kant sees in all aspects of humanity’s uncertain struggle to actualize its moral vocation. The starting point for understanding this pattern is the third proposition laid down by Kant in his essay Idea for a Universal History with a Cosmopolitan Aim: “Nature has willed that the human being should produce everything that goes beyond the mechanical arrangement of his animal existence entirely out of himself, and participate in no other happiness or perfection than that which he has procured for himself free from instinct through his own reason” (Idee, VIII 19). What this means, in terms of the history of human institutions, is that these always begin historically in forms that are far removed from, even in certain ways directly opposed to, the rational aims that human beings are to realize through them. Human history is therefore essentially a struggle using social materials that need to be radically transformed over time if they are to fulfill their rational purpose in human life, and the history of these institutions is also thought of by Kant as an endless struggle to free these institutions from their profoundly imperfect original form and turn them into the very opposite of what they were at the beginning. We may see this pattern both in Kant’s treatment of political history, and even in the history of the idea of morality itself. The political state, in Kant’s view, arose in consequence of an economic revolution – the appearance of agriculture, over against the more “primitive” or “uncivilized” hunter-gatherer and pastoral economies. The economic surplus generated by agriculture permitted the growth of towns, and the accumulation of wealth needed to support a military force, that was also needed to protect rights of property (which were required for agriculture) from pastoral nomads (Anfang, VIII 118–120, cf. KrV, A ix). The earliest states were, accordingly, military despotisms. Kant thinks the history of political states should be guided by the inquiry into how far an institution with such unpromising origins, as far as right and justice are concerned, has approached the “idea of a civil society universally administering right” (Idee, VIII 22, 27–31). Human political history is the story of the struggle of human beings to transform a naturally evolved, inherently unjust despotic social form into an institution that protects the rightful freedom of all. Something analogous is true even of morality itself. According to Kant, the psychological and social origins of morality lie in imaginatively transformed sexual

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desire and sexual refusal, which underlie the human aspiration to be valued and at the same time respected by others. This aspiration takes the social form of “decency” or “decorum” (Anständigkeit) or “propriety” (Sittsamkeit) – the desire to acquire worth in the opinion of others (or at least to avoid their contempt), hence also to confirm our worth in our own eyes, by conforming our behavior to accepted social mores or customs (Sitten) (Anfang, VIII 112–113, cf. Vorlesungen über Ethik, XXVII 300). Regulating our behavior, and grounding our self-worth in this way lies at just about the farthest imaginable remove from conforming ourselves to a universal law of reason which we regard as proceeding from our own autonomous will. But the history of morals as a social phenomenon, as well as the history of philosophical ethics, as Kant understands it, is the history of the process through which human beings have transformed (and are still transforming) the principles of their conduct, and their sense of self-worth, in just this way.² There is nothing anomalous, therefore, (though there may be something paradoxical – almost all things human are paradoxical, according to Kant: Aufklärung, VIII 41) in Kant’s view that the ideal of the ethical community can be realized only by means of the slow but radical transformation of a kind of society that is grounded on the superstitious belief that God is to be pleased not by good life-conduct but by statutory observances expressing slavish submission that have been revealed empirically in scriptures handed down by tradition and interpreted by an aristocracy of priests whose chief ambition lies in enslaving the souls of those the society entrusts to their care. This thesis of “historical irony”, as we may call it, is one important aspect of Kant’s proposition that an ethical community is possible only through enlightened reform of already existing churches based on claims of scriptural revelation. It is a rather negative reason, arising from what Kant does not hesitate to call a “peculiar weakness of human nature” (Rel., 103). There is, however, a more positive side to the need for churches based on revelation, which, however, Kant emphasizes more in other writings than he does in the Religion. This is an aspect of religion arising from certain parts of Kant’s aesthetics, especially his conceptions of the sublime and of symbolism. Kant is sometimes reproached with separating morality from everything sensuous, thereby turning it into a lifeless formalism that could never motivate flesh and blood human beings.³ It is therefore significant to see what Kant himself had to say on the topic:

2 See Wood 2005. 3 For an especially vehement example of this rather common reproach, see Schott 1988.

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“It is utterly mistaken to worry that if [the representation of the moral law] were deprived of everything that the senses can recommend it would then bring with it nothing but cold, lifeless approval and no moving force or emotion. It is exactly the reverse: for where the senses no longer see anything before them, yet the unmistakable and inextinguishable idea of morality remains, … it would be … necessary to moderate the momentum of an unbounded imagination so as not to let it reach the point of enthusiasm” (KU, V 274)

The critics, therefore, are entirely mistaken in thinking that a morality that disdains sensuous motivation must lack motivating power. Kant is speaking in this passage about the feeling of the sublime, and in particular about the role of this powerful feeling in Jewish and Islamic monotheism, such as the Torah’s prohibition on representing the divine in sensuous form. These critics make the same mistake made by ancient idolatrous religions when they underestimated the spiritual power of Hebrew monotheism. Kant’s point is that it is precisely by withdrawing the moral law from the limitations of the sensuous that we make possible the most powerful emotional motivation on its behalf, namely the feeling of the sublime, in which we feel something of which we can never have empirical cognition: namely, the moral law’s transcendence of everything merely sensible. Kant thinks religions typically make use of this experience in their symbolism of what belongs to the moral life: The Christian conception of Heaven and Hell, for instance, is only a “figurative” (bildlich) and a “stirring” (empörend) representation, whose philosophical meaning is that good and evil are “separated by an immeasurable gap” (60). Such remarks also help us to understand some of Kant’s intriguing remarks about the possibility of an experience of divine revelation. To be sure, Kant thinks there can be no empirical cognition of the divine (since God is an idea of reason, to which no empirical representation could ever be adequate). But we do have an idea of God, which is involved in our faith in a moral world, and also, as we have seen, in the concept of the moral legislator for an ethical community. Kant thinks that once we have such pure rational representations, we can also acquire symbolic experiences of God in the form of feelings which, though adding nothing to our cognition, may play a powerful role in our imagination and feeling. The Critique of Judgment thus speaks of “symbolic” or “schematic” representations of moral concepts that transcend the senses (KU, V 351–354), and of “aesthetic ideas” through which we may represent the objects of ideas of reason, in a manner that can never become an empirical cognition, but are suitable for representing supersensible realities, such as deities (KU, V 314–317, 342). In the Religion, Kant repeatedly refers to religious texts purporting to be divine revelation as presenting moral concepts “symbolically” or “schematically” in ways that “further a pure faith of religion” (176, cf. 111, 136, 171). He therefore not only allows it to be permissible to acknowledge a kind of empirical divine revelation, but even sees this aspect of ecclesiastical faith as capable of serving the ends of pure moral religion.

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Thus no one can first be convinced of the existence of a highest being through any intuition; rational faith must come first, and then certain appearances or disclosures could at most provide the occasion for investigating whether we are warranted in taking what speaks or present itself to us to be a Deity, and thus serve to confirm that faith according to these findings (WhD, VIII 143, italics Kant’s).

The “appearances or disclosures” of God spoken of here must always presuppose our rational concept, and what we suppose the Deity to reveal to us must be constrained in its content by rational morality, always confirming (never supplanting or contradicting) a moral faith based on reason. Nevertheless, Kant does allow the possibility of such experiences, and even associates them with the purported scriptural revelations of ecclesiastical faiths. In this way, the necessity that pure moral religion must emerge from a rational appropriation and interpretation of historical and revealed ecclesiastical faiths is due not merely to a weakness of human nature, but also to the only way that beings like ourselves, who are both rational and sensuous, can come to an experiential awareness of the way morality transcends the senses and thereby to the appropriation of the experiential and emotional side of our moral motivation.

7.6 Subsection VI: The interpretation of scripture The very existence of religion (in the proper sense of the term) depends for Kant on the transformation of churches and ecclesiastical faiths so as to bring about a true ethical community (that is, a community that is universal, grounded on reason, and promotes the collective struggle against the human propensity to evil). Ecclesiastical faiths, however, recognize statutory observances rather than good lifeconduct as what serves God, and these observances are derived, by a process of interpretation, from purported divine revelation through a holy book or scripture. It is essential to religion, therefore, that the scriptures of ecclesiastical faiths should be interpreted in a way that promotes the end of religion, which is “to make better human beings” (111). For this “we require an interpretation of the revelation we happen to have, i. e. a thoroughgoing understanding of it in a sense that harmonizes with the universal practical rules of a pure religion of reason” (110). The pure faith of a rational religion is therefore the “supreme interpreter” of every ecclesiastical faith and its holy scriptures. The same conclusion follows also from the way in which any scripture could authenticate itself as a possible divine revelation at all. No writing handed down from tradition could be known to be an actual divine revelation either from external marks (historical tradition or authentication by priestly authorities) or internal

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marks (such as the narration of miraculous events). No empirical sign associated in any way with a scripture could ever prove that it was actually from God. This is true for the simple reason that the concept of God is an idea of reason, to which no experience could ever be adequate. No experience, therefore, could ever provide us with a cognition of God or a cognition that some communication was from God. “If God should really speak to a human being, the latter could still never know that it was God speaking” (Fak., VII 63). The closest we can ever come to an authentication of a purported divine revelation is the knowledge that its teachings, as far as we are able to determine, harmonize with those of pure practical reason, our source for the knowledge of God’s moral perfections and therefore of what God would teach us if he chose to do so (cf. WhD, VIII 143). “For the kind of characteristics that experience can provide can never show us that a revelation is divine; the mark of its divinity (at least the conditio sine qua non) is its harmony with what reason pronounces worthy of God” (Fak., VII 46). From this it follows that it is a necessary condition for regarding a scripture as divine revelation at all that it at least admit of some interpretation on which it harmonizes with the pure religion of reason. Kant specifically rejects all historical claims of a scripture – claims based on its supposed historical origin (from prophets or witnesses to miraculous occurrences that allegedly establish its divine authority), on the ground that such evidences can never provide the universal validity which must be the characteristic of the true ethical community and true religion: “The only faith that can found a universal church is pure religious faith, for it is a plain rational faith which can be convincingly communicated to everyone, whereas a historical faith, merely based on facts, can extend its influence no farther than the tidings relevant to a judgment on its credibility can reach” (103, cf. 108–109). There are two ways that this argument might be taken. The first contrasts the merely limited extent to which a historically grounded religious message (e. g. that of the Torah, the Gospels or the Koran) has at any point been disseminated with the universal extent of purely rational knowledge (such as that of mathematics or the principles of morality). This way of making the point might invite the rejoinder that of course even such rational knowledge requires empirical dissemination by a scientific or philosophical tradition (not all peoples have read Euclid’s Elements or Kant’s Metaphysics of Morals), and it might turn out empirically that the Holy Bible might have, from this standpoint, a wider dissemination than those “rational” sources. In reply to this objection, Kant might make the point that historical claims are grounded on testimony, hence dependent on the extent to which this testimony has been disseminated, while mathematical or moral claims are grounded on reasons that are in principle accessible to all, whatever the historical process through which these reasons might first be made known to people. In that sense, the

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faith of pure rational religion, even if less widespread than some historical, ecclesiastical faith, is still universal in a way the historical faith can never be. But the objection may also misunderstand what Kant is claiming here, if it is taken in a second way: Kant may also be claiming, in accordance with the argument of the last paragraph but one, that no supposed revelation can ever truly command universal credibility, even from those who have access to its scriptural sources – since nothing could ever justify anyone in being certain that any scripture actually came from God – whereas rational doctrines, to the extent that they can ever be established, are thereby rendered credible universally, for any mind that is capable of considering them and their rational basis. This latter claim, I suggest, is the one on which Kant is best understood as resting his view that no scriptural revelation can ever rest a universal authority on its historical origins – whatever claims it may make in this regard. As we have seen, purported divine revelation can never give us cognition of God or of the demands of morality. Still less does it offer theoretical cognition, backed by God’s authority, of matters properly investigated by empirical sciences such as astronomy, biology or history. To see revelation in this way, as it was seen by much of popular faith in Kant’s day and still is in our own, is willfully ignorant superstition and even crude idolatry. The only function of divine revelation is to provide symbolic or schematic representations of the non-sensible concepts of morality, and thereby feelings of sublimity associated with moral motivation. The fundamental task of scriptural interpretation, therefore, must always be to find in the scripture a message that harmonizes with rational morality and serves to promote good life-conduct. Kant is quite frank about what this involves: Even a “forced” interpretation of a text must be preferred to a literal one if the only the former contains something suitable for morality (110). For the sole religious purpose of reading these books is to make better human beings of us (111). Kant is especially clear that no moral authority can be claimed by scripture in direct defiance of what reason tells us is right or virtuous. He cites in this context Psalm 59:11–16 and the moral argument based on it that was made by J. D. Michaelis. These verses celebrate the vengeful triumph over our enemies, supposedly with divine assistance, exhorting us to “consume them in wrath, consume them till they are no more” (Ps. 59:13). Kant quotes Michaelis as arguing thus: “The psalms are inspired; if they pray for revenge, then it cannot be wrong: We should not have a morality holier than the Bible.” Kant points out that Michaelis not only offends morality here, but also brings scripture into conflict with itself, where Christ commands us to “Love your enemies, bless those who curse you, etc.” (Matthew 5:21 ff, 44 ff ). And he suggests two alternative readings: one referring to the historical context, and the relation of the Jews to God as sovereign, the other metaphorical, where the intended enemies are not “corporeal enemies, but, symbolized by

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them, the invisible ones…evil inclinations, which we must wish to bring under our feet completely” (110n). Kant insists that the way he would interpret scripture is nothing new, but is the way all faiths – not only Jewish and Christian, but also Greek, Roman, Muslim and Hindu – have always tended to read their holy books whenever they were read in an enlightened manner (110–111). Kant does recognize another authoritative interpreter of scripture besides the practitioner of pure rational (or moral) religion – namely, the “scriptural scholar”, the person in command of the relevant languages and knowledgeable about the history of the people from whom the scripture derives. This is needed for the authentication of the historical ecclesiastical faith that is the object of pure religious interpretation, though not necessary for pure religion itself: “Scriptural scholarship is required to preserve the authority of a church based on holy scripture, though not that of a religion (for to have universality religion must always be based on reason)” (112). Scholarship is authoritative, therefore, only doctrinally (for a limited community or church), not authentically for all humanity or for true religion (114). Kant absolutely rejects the claims of a third pretender to authority in scriptural interpretation, namely “inner feeling” on the ground that no cognition (theoretical or practical) can be based on feeling (114). For Kant, the proper way to interpret scripture is to understand its sense as well as possible in its original linguistic, cultural and historical context, and then seek an interpretation consonant with the spirit of these that is also consonant with the fundamental religious purpose of the act of interpretation: namely, to promote the end of pure religion: the making of better human beings through membership in an ethical community.

7.7 Subsection VII: Faith and works In the final subsection of Division One, Kant takes up the transition between ecclesiastical faith and pure religious faith, which has emerged from the earlier discussion as the principal focus of his account of the ethical community and its founding on earth. Existing churches or religious communities, namely, are valid as exemplifications of true religion, only insofar as they harbor within them a process leading from mere statutory service of God, according to the purported empirical revelation of God in a holy scripture, toward pure religious faith grounded on reason alone and therefore representing a community of universal extent under true laws of God, truly honoring and serving him, and thereby struggling effectively against the human propensity to evil. Kant does not immediately take up this transition historically, however – that is left until Division Two. Instead, he considers the general principle involved in the transition, focusing on one crucial illustration

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of it. This illustration exhibits the obvious fact that his primary concern in the Religion is with a specific ecclesiastical faith, namely, Christianity, and even with Protestant (Lutheran) Christianity in particular. For the issue he chooses as his illustration is the Christian (and even specifically Lutheran) theological doctrine of salvation by faith, and the question of how this relates to the contrasting claim that salvation is achieved by works (or good life-conduct). As Kant has presented the matter in the first two parts of the Religion (44–53, 66–84), salvation for a human being beset by a radical propensity to evil depends on a conjunction of two elements: (1) a good moral disposition, grounding a course of improving life-conduct and (2) faith that God will make good through grace or vicarious satisfaction what is lacking in past conduct, and count this good disposition as constituting the worthiness to be happy which is missing due to the original propensity to evil. Kant now represents these two elements as constituting an “antinomy,” based on the precedence of the one element or the other. In other words, which comes first – the divine motion of atonement toward us, and our faith in it, or our good disposition and resolve to do better? (116–117). The orthodox Christian (especially the Lutheran) doctrine gives priority to divine grace and our faith in it, arguing that good works must follow from this, and that we are incapable of doing anything in the absence of God’s loving assistance. Traditionally, to give priority to our efforts in the matter is condemned as the doctrine of “self-salvation” and the heresy of Pelagianism. The rejection of this alternative was especially emphasized within the Pietist tradition in which Kant was brought up, which held that one could not be saved except through a “born again” experience in which the sinner felt the presence of God’s saving grace in his life. Kant attempts to resolve the antinomy by allowing each side an aspect of the whole truth, and viewing the dilemma as an instance of the tension within religion between the standpoint of ecclesiastical faith with which it began and the standpoint of pure moral religion toward which genuine religion always tends gradually, by way of approximation. He begins with the insistence that since we can have no cognition of the supersensible, we cannot resolve the antinomy “theoretically,” “through insight into the causal determination of the freedom of the human being.” The matter must instead be considered only “practically,” “whence, in other words, we are to make our start, whether in what God has done for our sake, or from what we ought to do in order to become worthy of it.” (117–118). Here Kant has no hesitation in choosing the second alternative over the first, arguing that “no thoughtful person can bring himself to faith [in what God might have done to assist him], however much self-love often transforms into a hope the mere wish for a good, for which one does nothing or can do nothing” (117). But Kant means to avoid the charge of Pelagianism by granting to the first alternative – which takes faith in God’s assistance to come first – a certain truth as

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well. He sees the two alternatives, namely, as representing the respective standpoints of historical or ecclesiastical faith and pure religious faith, which must come together in a dynamic of transition from the former to the latter in the faith of any earthly ethical community. Since ecclestiastical faith is only historical, it contains only the vehicle for pure religions faith. Hence the maxim of action must come first: “the maxim of knowledge or theoretical faith must only bring about the consolidation and completion of that maxim of action” (118). This solution may well look to many Christians like a Pelagianism qualified merely by certain prevarications – and the Christian tradition is full of accusations that one’s theological enemies may not be Pelagians, but they certainly are “semi-Pelagians” (Luis de Molina was the original target of this accusation, but Calvinists also aimed it at the Arminians). Kant would reply, however, in terms of his own conception of religion, that such accusations are erroneous because one-sided, failing to appreciate the extent of his concessions to the anti-Pelagian position or to see the entire issue within the context of the dynamical transition between ecclesiastical faith and pure religion that grounds the religious legitimacy of ecclesiastical faith itself. For Kant does concede that there is a legitimate standpoint from which faith in divine grace or vicarious satisfaction must come first – namely, the standpoint of historical or ecclesiastical faith, grounded on historical revelation, which Kant insists must be the starting point of the ethical community as it is found on earth. But the religious legitimacy of ecclesiastical faith, according to the position Kant has developed in Part Three of the Religion, must be grounded on the process of transition to pure religious faith, from which standpoint a good disposition comes first, and this grounds our hope for divine assistance by making us worthy of it. The priority of faith over works can thus be seen from a Kantian standpoint as a way of representing this transition, since ecclesiastical faith is the starting point of the transition, and pure religious faith is its eventual terminus. Kant also argues that the antinomy is merely apparent, and the two elements needed for saving faith may be seen as merely two ways of representing the same thing. Vicarious satisfaction, namely, is made by the “ideal of humanity well-pleasing to God” (the Christ ideal) which “represents the prototype as the standard measure of our life conduct” (119, cf. 60–66). But Kant has argued that this is really only our way of representing the idea to which our good moral disposition ceaselessly strives to approximate. The two elements of saving faith are therefore “the very same idea, only taken in different relations, as two different principles;” they appear as different only “if one wished to make the historical faith the actuality of an appearance…the condition of the one saving faith” (119–120). This, however, would be to ignore the necessary transition of ecclesiastical faith into pure religious faith, which grounds the religious legitimacy of ecclesiastical faith itself.

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Kant ends this subsection with a depiction of the terminus of this process of transition, the far off state of affairs in which “the pure faith of religion will rule over all, ‘so that God may be all in all’ [I Corinthians 15:28]” (121).

7.8 Concluding Remarks Kant’s historical prophecies here, and his hopes for religious reform, have often been seen both by religious people and secularists as the very reverse of what is either plausible or appealing. To religious people, Kant’s hopes seem directed toward a watering-down of their religion, or even its virtually total destruction. At the end of the “transition” Kant envisions, there would be no ecclesiastical structure (no clergy) and no religious services (“no statutory observances”). Tradition and scripture would be retained only to the degree that they could be turned into mouthpieces for secular morality. The fundamental doctrines of Christianity (the Incarnation, the Atonement, the primacy of divine grace) are retained only in the form of strained, metaphorical representations of a secular moral psychology. What Kant would do to their religion might itself be represented metaphorically by imagining him bulldozing a beautiful cathedral and leaving nothing in its place but an arid moralist’s vacant lot. To the secularist, on the other hand, Kant seems hopelessly addicted to outworn metaphors drawn from the Christian religion; his thesis of radical evil perpetuates the sick, misanthropic doctrine of “original sin,” and his conception of the ethical community permits the continuance of institutions based on mystical superstition on the false pretext that they might somehow promote a better life for people. Both sides may easily agree that nothing like Kant’s “transition” from ecclesiastical faith to pure religion has occurred, or is likely ever to occur. And neither side is likely to regard this fact as the least bit regrettable. Let me suggest, however, that we consider Kant’s prophecies about the future of religion alongside his similar prophecies about the future of the political state. In the latter case, few are likely to judge his views mistaken or condemn his hopes as being for something undesirable. Kant holds that the only civil order consonant with the idea of right is a republican constitution – one involving a separation of powers, a representative legislature, constitutional limits on the executive power, and protection of individual rights (Frieden, VIII 349–350, 366; MS, VI 311–318, 340). There were few states at the time that exemplified anything resembling this, and Kant himself never lived in one. He held that an existing (non-republican) state is legitimate, but governs rightly only if it governs in the spirit of a republic, and he advocates progressive change in all states leading to a republican constitution. It is fair to say that the Kantian position is now very widely accepted – that

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the only truly just state is one whose constitution is republican, and most states in fact at least claim to be representative republics. If we consider Kant’s political prophecies, and the changes that have gone on since his time, we must regard him as astonishingly prescient. Clearly Kant’s analogous hopes for religion have not been nearly so successful – indeed, it can be argued that the real world has gone in an opposite direction. Human culture has tended toward a profound split between religious culture and secular culture. Religious thought of all sorts tends to regard itself as a bastion of resistance against “the Enlightenment” while the rationalist values through which Kant hoped to reform religion are often defended by secularists only in an openly anti-religious form. (I leave it undecided here whether such an “anti-religious” defense of Enlightenment is truly “anti-religious” in Kant’s sense.) Under these circumstances, isn’t it plain that the failure of Kant’s hopes for religion as a rational, progressive force in human life and the reform of ecclesiastical faiths through reason and enlightenment values corresponds precisely to this gaping cultural chasm, or open wound, which would not exist, or would long since have been healed, if Kant’s hopes for religious reform had been realized? Sometimes a philosopher may hold doctrines that are not correct, but we nevertheless have a lot to learn from them, and from the real problems in human life that are exposed by the fact that they are in error. We may even, on reflection, conclude that the fact the philosopher’s doctrines do not correspond to reality is more the fault of reality than it is of those doctrines. If we cannot accept Kant’s views about the ethical community and the transition of ecclesiastical faith into pure religious faith, we should at least be able to draw from them this latter, more troubling kind of lesson.

Literature Schott, R. M. 1988: Cognition and Eros: A Critique of the Kantian Paradigm, Boston. Wood, A. W. 2005: Kant’s History of Ethics, in: Studies in the History of Ethics, online journal: http:// www.historyofethics.org/, last access: 21.08.2023.

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8 Die Kritik des Judentums und die Geheimnisse der Vernunft Unter dem Titel „Der Sieg des guten Princips über das Böse und die Gründung eines Reiches Gottes auf Erden“ zeigt Kant zunächst, wie die theologischen Begriffe des Volkes Gottes oder der Kirche im Rahmen der Vernunftreligion zu deuten sind. In der hier zu interpretierenden Zweiten Abteilung des Dritten Stücks, die eine „Historische Vorstellung der allmählichen Gründung der Herrschaft des guten Princips auf Erden“ liefert, entwickelt Kant eine Religionsgeschichte, allerdings eher deren theoretische Grundlagen als eine konkrete Durchführung. Bemerkenswert ist hier die schroffe Ablehnung des Judentums. Als zweites Thema tritt eine philosophische Deutung der christlichen Geschichtstheologie hinzu. Das Christentum enthält eigene, biblisch motivierte Ansichten zum Verlauf der Geschichte als Heilsgeschichte. Dazu gehören auch eschatologische Vorstellungen, die das Eintreffen des Reiches Gottes betreffen, die allgemeine Auferstehung der Leiber, die Wiederkunft Christi als Weltenrichter, die endgültige Trennung der Guten von den Bösen usw. Wie Kant in seiner ganzen Religionsschrift darum bemüht ist, die Lehren des Christentums auf dem Boden der praktischen Vernunft philosophisch zu rekonstruieren, wobei die tatsächlich rekonstruierbaren Teile in die Vernunftreligion eingehen, die nicht rekonstruierbaren hingegen ausgeschieden werden, so misst er auch im Dritten Stück die christliche Eschatologie an der Messlatte der praktischen Philosophie, um sie teils vernunftreligiös zu rechtfertigen, teils als unvernünftig abzuweisen. Kant kritisiert insbesondere eine apokalyptische Deutung der Eschatologie und rechtfertigt dagegen eine Auffassung, die Züge einer „präsentischen“ Eschatologie trägt. Schließlich setzt Kant auch die Reihe der „allgemeinen Anmerkungen“ fort, die bereits dem Ersten und Zweiten Stück beigegeben waren. Das Thema der allgemeinen Anmerkung sind diesmal die „heiligen Geheimnisse“. Auch sie werden dem Versuch einer praktisch-philosophischen Rekonstruktion unterzogen, wobei zumindest einige dieser Geheimnisse nicht etwa rational aufgelöst, sondern in das Medium der Vernunft transponiert werden und sich dort als genuine Geheimnisse der Vernunft erweisen. Kants Ausführungen zu den Geheimnissen geben Anlass zu Reflexionen über den Ansatz seiner Religionsphilosophie im Ganzen. Der erste Teil des vorliegenden Beitrags wird sich mit Kants Deutung der Religionsgeschichte befassen, der zweite mit seiner Kritik des Judentums, der dritte Teil ist der Eschatologie des reinen Religionsglaubens gewidmet, und der vierte befasst sich mit den Geheimnissen der Vernunft.

https://doi.org/10.1515/9783110782424-010

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8.1 Kants Deutung der Religionsgeschichte Kants Religionsgeschichte ist, verglichen etwa mit derjenigen Hegels, aber auch mit den Ansätzen in Lessings „Erziehung des Menschengeschlechts“, merkwürdig eingeschränkt. Faktisch gibt Kant unter dem Namen einer „allgemeinen Kirchengeschichte“ eine Geschichte des Christentums in vernunftreligiöser Perspektive. Alle nicht-christlichen Religionen fallen aus der so verstandenen Religionsgeschichte heraus, auch – und sogar ganz besonders – das Judentum, aus dem das Christentum doch historisch gesehen hervorgegangen ist. Gegenstand der Religionsgeschichte Kants ist der „Kirchenglaube“, also der Glaube einer positiven Religion einschließlich der Form einer Kirche (Kirchenverfassung, Kirchenrecht), die dieser Glaube mit sich bringt. Eine historische Darstellung des Kirchenglaubens benötigt Kant zufolge allerdings einen Leitfaden, der sich aus einem Vergleich des Kirchenglaubens mit dem reinen Religionsglauben ergebe. Die Geschichte des Kirchenglaubens liefert nicht einfach eine Schilderung der Abfolge von Glaubensarten, sondern sie beruht auf einer normativen Perspektive. Ihre Leitfrage lautet: Wie nahe ist ein bestimmter Kirchenglaube dem reinen Religionsglauben gekommen? Lässt sich in der historischen Abfolge der Glaubensarten ein Fortschritt im Sinne einer Annäherung an den reinen Religionsglauben erkennen? In der Tat ist nach Kant ein solcher Fortschritt in der Kirchengeschichte festzustellen. So weit gilt: Nicht der reine Religionsglaube entwickelt sich – er hat keine Geschichte –, sondern der historische Kirchenglaube entwickelt sich auf den reinen Religionsglauben zu. Diese Entwicklung ist der Gegenstand der Kirchengeschichte. So gesehen könnte die Kirchengeschichte noch alle Religionen („Glaubensarten“) einschließen, indem sie diese auf ihre Nähe oder Ferne zur Vernunftreligion hin beurteilt. Kant reduziert seine Kirchengeschichte aber auf eine Geschichte des Christentums. Warum diese Reduktion? Die Kirchengeschichte als Entwicklung der auf historischen Glauben gegründeten Kirche zum ethischen Staat Gottes lässt Kant erst dort beginnen, wo ein konkreter Kirchenglaube seine Abhängigkeit vom Religionsglauben und dessen Normativität „öffentlich anerkenne“ (124), und auch die Notwendigkeit der Annäherung an ihn zugestehe. Nur dort sei die Einheit als notwendige Voraussetzung einer Geschichte gegeben, wo die Anlage einer konkreten Glaubensart auf den Religionsglauben hin sichtbar werde, indem „wenigstens die Frage wegen des Unterschieds des Vernunft- und Geschichtsglaubens schon öffentlich aufgestellt und ihre Entscheidung zur größten moralischen Angelegenheit gemacht ist“ (124). Demnach beginnt die Kirchengeschichte damit, dass ein Bewusstsein des Unterschiedes von Vernunft und Offenbarungsglaube hervortritt und die Vernunft als Norm des Offenbarungsglaubens erkannt wird. Dies sei erst mit

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dem Christentum der Fall, das vom „ersten Anfange an den Keim und die Principien zur objectiven Einheit des wahren und allgemeinen Religionsglaubens bei sich führte“ (125). Nach Kant unterscheidet sich also das Christentum von allen anderen positiven Religionen dadurch, dass es die Anlage zur Vernunftreligion von vornherein besitze und dies auch öffentlich zur Geltung bringe. Deshalb könne die Entwicklung des Christentums hin zur Vernunftreligion, die ja den Gegenstand von Kants Kirchengeschichte ausmacht, als genuine Tendenz des Christentums selbst angesehen werden. In der ersten Abteilung des Dritten Stücks hatte Kant die „wahre Kirche“ zunächst als jene Kirche bestimmt, die sich auf den reinen Religionsglauben gründet (vgl. 115). Dann konzedierte er jedoch, dass auch die Kirche eines bestimmten Kirchenglaubens bereits „wahre Kirche“ heißen könne, wenn erstens ein Bewusstsein bestehe, dass der dem Vernunftglauben beigemengte historische Glaube nur wegen der Schwäche des Menschen da sei, und wenn zweitens der genannte Kirchenglaube ein Prinzip bei sich führe, sich dem Religionsglauben kontinuierlich zu nähern, um das Leitmittel des historischen Glaubens entbehrlich zu machen (vgl. 115 f.). In diesem Sinne ist das Christentum nach Kant, obwohl noch positive Religion, bereits „wahre Kirche“ zu nennen. Kirchengeschichte ist demnach die Geschichte des Christentums als der wahren Kirche, die nach und nach die ihr anhängenden Elemente des historischen Glaubens abwirft und so die Vernunftreligion, die in ihr von vornherein angelegt ist, rein hervortreten lässt. Worauf stützt sich Kants Interpretation des Christentums? Im Hintergrund steht eine spezifische Deutung des „historischen Jesus“.¹ Für Kant ist Jesus Christus der „Lehrer des Evangeliums“, der keine positive Religion, sondern die Vernunftreligion errichten wollte. Denn dieser Lehrer habe „den Frohnglauben (an gottesdienstliche Tage, Bekenntnisse und Gebräuche) für an sich nichtig, den moralischen dagegen, der allein die Menschen heiligt, ‚wie ihr Vater im Himmel heilig ist‘, und durch den guten Lebenswandel seine Ächtheit beweist, für den alleinseligmachenden“ (128) erklärt. Nach Kant zielt also die in den Evangelien bezeugte Kultkritik Jesu auf die Errichtung einer Vernunftreligion, die keiner Statuten und Observanzen mehr bedürfe. In dieselbe Richtung weist für Kant die Tatsache, dass der „Lehrer des Evangeliums“ sich „als einen vom Himmel gesandten“ (128) bezeichne, denn das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit kann, so erklärte Kant bereits im Zweiten Stück, durchaus als vom Himmel herabgekommen betrachtet werden, da wir Menschen nicht wissen, wie wir es aus uns selbst hervorbringen können (61). 1 Für eine Zusammenfassung der Ausführungen Kants vgl. Firestone/Jacobs 2008, 205–208. Bohatec 1938, 457–493, gibt eine Reihe möglicher Quellen des früheren 18. Jhs. für Kants Jesus-Bild sowie für seine Kritik des Judentums. Allerdings sind Bohatecs Angaben oftmals bloße Vermutungen, die sich auf wenig aussagekräftige Parallelen stützen.

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Auch das Leiden dieses „Lehrers“, sein unverschuldeter, aber verdienstlicher Tod und seine Rückkehr in den Himmel lassen sich, wie das Zweite Stück ebenfalls zeigte, vernunftreligiös deuten. Schließlich konnte der Lehrer der Vernunftreligion, was „die Kraft der Erinnerung an sein Verdienst, Lehre und Beispiel betrifft“ sagen, „er (das Ideal der Gott wohlgefälligen Menschheit) bleibe nichts destoweniger bei seinen Lehrjüngern bis an der Welt Ende“ (129). In Kants Sicht lassen wesentliche Teile der Evangelien den historischen Jesus als Lehrer des praktisch begründeten, reinen Religionsglaubens erkennen. Das Christentum sei deshalb in seinem Kern Vernunftreligion, weil der historische Jesus nichts anderes getan habe, als den reinen Religionsglauben zu verkünden. Die konkrete Geschichte des Christentums nach Jesu Tod behandelt Kant äußerst kurz und pauschal. Sie beginnt mit einer Verfälschung des Anliegens Jesu. Um die Einführung des neuen Glaubens zu erleichtern, knüpften die ersten Christen Kant zufolge an den bereits bestehenden jüdischen Geschichtsglauben an: „Die Mühe, welche sich die Lehrer des erstern [sc. des Christentums] geben, oder gleich zu Anfange gegeben haben mögen, aus beiden einen zusammenhängenden Leitfaden zu knüpfen, indem sie den neuen Glauben nur für eine Fortsetzung des alten, der alle Ereignisse desselben in Vorbildern enthalten habe, gehalten wissen wollen, zeigt gar zu deutlich, daß es ihnen hiebei nur um die schicklichsten Mittel zu thun sei, oder war, eine reine moralische Religion statt eines alten Cultus, woran das Volk gar zu stark gewöhnt war, zu introduciren, ohne doch wider seine Vorurtheile gerade zu verstoßen“ (127). Doch was nur als ein „schickliches Mittel zur Introduktion“ gemeint war, nahm Überhand und führte zu einer Judaisierung des Christentums, d. h. zu einer Infiltrierung der Vernunftreligion mit Elementen des Geschichtsglaubens.² Damit hielten Missstände Einzug wie etwa das „Eremiten- und Mönchsleben“ (130), der Aberglaube und die Zerrüttung der bürgerlichen Ordnung und Wissenschaft. Da der Geschichtsglaube immer partikular ist, verwickelte sich das derart infizierte Christentum in erbitterten Parteienstreit, in Abspaltungen sowie in Kreuzzüge, Aufstände und Schismen. All dies hätte nicht geschehen können, wenn das Christentum seinen ursprünglichen Charakter als reinen Religionsglauben bewahrt hätte, denn über diesen könne es keine streitenden Meinungen geben. Allerdings sei das Christentum nun – d. h. zur Zeit Kants – in die beste Phase der gesamten Kirchengeschichte eingetreten, denn die Bedingungen für die Entwicklung des Keims des Religionsglaubens seien nun besonders günstig. Die Vernunft, so 2 Kant denkt hier möglicherweise an die in Apg 15 sowie im Galaterbrief des Apostels Paulus geschilderten Auseinandersetzungen um die Öffnung der Kirche für die unbeschnittenen Heiden. Die paulinische Position müsste in Kants Augen als die genuin christliche gelten, die judenchristliche Position hingegen als Verfallsform des Christentums.

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diagnostiziert Kant seine eigene Zeit, löse sich in moralischen Dingen los vom statutarischen Glauben, so dass nun eine kontinuierliche Annäherung des Kirchenglaubens an die eine Universalkirche zu erwarten sei. Zwei Grundsätze den Umgang mit Religion betreffend seien kennzeichnend für das Niveau, das die Kirchengeschichte inzwischen erreicht habe. Erstens eine „billige[] Bescheidenheit in Aussprüchen über alles, was Offenbarung heißt“ (132), d. h. kein Mensch darf mehr darauf verpflichtet werden, die heilige Schrift als göttliche Offenbarung anzuerkennen. Der zweite Grundsatz besagt, dass die „heilige Geschichte“ (damit ist wohl das Leben, Sterben und die Auferstehung Jesu Christi gemeint) keinen direkten Einfluss auf die „Annehmung moralischer Maximen“, d. h. auf die Bekehrung eines Menschen haben könne, sondern nur als Anreiz und als Illustration der zur Heiligkeit hinstrebenden Tugend anzusehen sei. In der Konsequenz dieses zweiten Grundsatzes breitet sich Kant zufolge die Einsicht aus, „daß die wahre Religion nicht im Wissen oder Bekennen dessen“ liege, „was Gott zu unserer Seligwerdung thue oder gethan habe, sondern in dem, was wir thun müssen, um dessen würdig zu werden“ (133). Der Staat, so folgert Kant, habe nun auch äußere Glaubensfreiheit zu gewähren, um die sich ankündigenden Fortschritte der Kirchengeschichte nicht zu behindern. Nach Kant ist die Kirchengeschichte also eine Geschichte der Verkündigung, der Verdeckung und der Restitution des reinen Religionsglaubens.

8.2 Kants Kritik am Judentum 8.2.1 Das Verhältnis von Christentum und Judentum Das Judentum deutet Kant als Inbegriff bloß statutarischer Gesetze, die als Grundlage einer Staatsverfassung dienten. Etwaige moralische Zusätze seien bloß angehängt und gehörten nicht zum Judentum als solchem. Daher sei das Judentum im Grunde keine Religion und keine Kirche, sondern bloß ein politisches Gemeinwesen, in dem Gott die Rolle eines weltlichen Regenten spiele, der an das Gewissen keinen Anspruch tue. Das Judentum, so lässt sich Kants Kritik resümieren, konzentriert sich ganz auf die Einhaltung kultischer Vorschriften, somit auf äußerlich beobachtbare Vollzüge, und folgt damit dem Prinzip der Legalität. Gott werde als höchster Wächter über die Einhaltung der Gesetze im Sinne eines Staatsoberhauptes gesehen, so dass die moralische Dimension, um die es nach Kants Definition der Religion eigentlich geht („Religion ist … Erkenntniß unserer Pflichten als göttlicher Gebote“), im Judentum gar nicht vorkomme. Weil das Judentum also überhaupt nicht als Kirche zu verstehen sei, könne es in der Kirchengeschichte keine Berücksichtigung finden.

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Kant präzisiert diesen Vorwurf in drei Punkten. Erstens: Alle religiösen Gebote des Judentums können als Zwangsgesetze aufgefasst werden und betreffen bloß äußere Handlungen (126). Dies gilt nach Kant sogar vom Dekalog, denn dieser verlange nur die äußere Befolgung der Gebote, nicht aber eine moralische Gesinnung. Zweitens: Die Folgen der Erfüllung und Übertretung der Gebote seien als innerweltliche Belohnung und Bestrafung ausgelegt, und dies nicht einmal nach ethischen Grundsätzen, wie etwa die Androhung der Rache Gottes an den Nachkommen der Gesetzesbrecher zeige. Dagegen fehle der Glaube an ein zukünftiges Leben, der nach Kant für eine Religion essentiell ist. Drittens: Das Judentum zielt nicht auf eine allgemeine Kirche, erhebt also nicht die Universalansprüche, die für die Vernunftreligion typisch sind. Vielmehr begreife es sich in direktem Gegensatz dazu als ein auserwähltes Volk, das das ganze menschliche Geschlecht von seiner Gemeinschaft ausschließe. Mit dem Gedanken der Erwählung erhebe das Judentum nicht die Allgemeinheit als Merkmal der„wahren Kirche“, sondern Partikularität zu seinem Prinzip.³ Nach Kant führte das Judentum zwar die „veranlassenden Ursachen“ zur „Erzeugung“ des Christentums mit sich, stehe aber trotzdem in keiner wesentlichen Verbindung mit ihm, so dass das Christentum sich „namhaft“ vom Judentum unterscheide (125). Das Christentum sei daher nicht eine Fortsetzung des Judentums, sondern stelle einen Bruch mit ihm dar. So signalisiere die Abschaffung der Beschneidung die Abwendung der frühen Kirche von den Statuten, und in der Öffnung für die Heiden überwinde der Universalismus der Vernunftreligion den jüdischen Partikularismus. Hier dürften paulinische Motive im Hintergrund stehen, etwa die Gegenüberstellung von Freiheit und Gesetz (vgl. Gal 5) sowie von Geist und Buchstabe (vgl. 2 Kor 3). Zwar wurde die Entstehung des Christentums Kant zufolge vorbereitet durch historische Veränderungen innerhalb des Judentums der Zeitenwende, etwa die Aufnahme griechischer Philosophie, oder die Verminderung der politischen Macht der Priester durch die römische Besetzung, aber dennoch sei diese Entstehung „plötzlich“ (128), d. h. in der Weise einer Revolution geschehen.

3 Der Erwählungsgedanke findet sich biblisch vor allem in Dtn 4 und 10,15. Trotz seines Monotheismus steht das Judentum nach Kant nicht einmal so hoch wie der heidnische Polytheismus: „Denn ein Gott, der bloß die Befolgung solcher Gebote will, dazu gar keine gebesserte moralische Gesinnung erfordert wird, ist doch eigentlich nicht dasjenige moralische Wesen, dessen Begriff wir zu einer Religion nötig haben. Diese würde noch eher bei einem Glauben an viele solche mächtige unsichtbare Wesen statt finden, wenn ein Volk sich diese etwa so dächte, dass sie bei der Verschiedenheit ihrer Departements, doch alle darin übereinkämen, dass sie ihres Wohlgefallens nur den würdigten, der mit ganzem Herzen der Tugend anhinge, als wenn der Glaube nur einem einzigen Wesen gewidmet ist, das aber aus einem mechanischen Cultus das Hauptwerk macht.“ (127)

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Die These Kants von der Diskontinuität zwischen Christentum und Judentum überrascht insofern, als die Schriften des Neuen Testaments vielfach positiv Bezug nehmen auf das Alte Testament. Sehr prominent ist das Schema von Verheißung und Erfüllung: Was dem Volk Israel verheißen wurde, das erfüllt sich in Jesus Christus, etwa das Kommen des Messias und die Errichtung eines neuen Bundes an Stelle des zerbrochenen alten. Demnach umspannt die Heilsgeschichte sowohl die Geschichte des Volkes Israel als auch das Christusereignis. Auch die christliche liturgische Tradition macht die Verbindung des Christentums mit dem Judentum sehr deutlich, beispielsweise durch das Psalmengebet und die alttestamentlichen Lesungen im Gottesdienst. Kants Reduktion dieser Verbindung auf eine bloß äußerliche Veranlassung des Christentums durch das Judentum entspricht nicht dem innerchristlichen Verständnis der Rolle des Judentums in der Heilsgeschichte.

8.2.2 Kants Kritik des Judentums im Kontext Kants Bild des Judentums ist in seiner Negativität sehr auffällig und regt zu einem Vergleich mit anderen Beurteilungen an.⁴ Wir wählen mit Spinoza und Moses Mendelssohn zwei Autoren aus, die wie Kant eine Vernunftreligion vertreten und nach dem Verhältnis des Judentums als positiver Religion zur Vernunftreligion fragen. In seinem theologisch-politischen Traktat erweist sich Spinoza als dezidierter Vertreter einer Vernunftreligion. Auffallend ist zunächst, dass Spinoza als (wenn auch aus der Synagoge ausgestoßener) Jude in den neutestamentlichen Schriften die Verkörperung der Vernunftreligion findet. Doch er zitiert auch eine Reihe von

4 Kurz hingewiesen sei auf den Kontrast zu Lessing, der in seiner „Erziehung des Menschengeschlechtes“ das Alte Testament als erstes „Elementarbuch“ der Menschheit mit dem Neuen Testament als dem zweiten Elementarbuch und der Vernunft als der Vollendung der Menschheit in eine einzige, zusammenhängende Entwicklungslinie stellt (vgl. Lessing 1780, 604–608 (§§ 50–71)). In der Ringparabel aus „Nathan der Weise“ geht Lessing noch weiter, wenn er den Nathan sagen lässt, erst nach „tausend tausend Jahre[n]“, also am Ende der Zeiten, werde der Richter kommen und entscheiden, welche der drei Religionen Vernunftreligion sei in dem Sinne, dass sie vor Gott und Menschen angenehm mache (vgl. 1779, 408). Zu Beginn des 20. Jhs. hat der Kant-Interpret Hermann Cohen Kants Darstellung des Judentums deutlich zurückgewiesen. Vgl. dessen umfangreiches Werk: „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“, in dem Cohen genau umgekehrt zu zeigen versucht, dass das Judentum in vielfacher Hinsicht den Keim der Vernunftreligion in sich trage. Nicht nur eine metaphysische Lehre wie die von der Einzigkeit Gottes sei im Judentum aufzufinden, sondern auch und gerade die Vorstellungen der Unsterblichkeit, der Tugend und der Sittlichkeit, und sogar der Universalismus, den Kant für die Vernunftreligion fordert, sei in den Quellen des Judentums nachweisbar.

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alttestamentlichen Bibelstellen, um zu zeigen, dass die Schrift selbst „das natürliche Licht und das natürliche göttliche Gesetz“⁵ (78) empfehle. So interpretiert er das an Adam gerichtete Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und des Bösen zu essen, als Befehl, das Gute um des Guten willen zu tun, und nicht aus Furcht vor einem Übel.⁶ Weiter zitiert er Stellen aus dem Buch der Sprichwörter („denn Gott gibt Weisheit; aus seinem Munde kommen Wissen und Klugheit“ (Spr 2,6)), um zu zeigen, dass hier das „natürliche Wissen“, die „Ethik“ und die „wahre Tugend“ (77) gelehrt werden.⁷ Vor diesem Hintergrund beurteilt Spinoza das Judentum, insbesondere im Blick auf den Erwählungsgedanken und auf das mosaische Zeremonialgesetz. Während das göttliche Gesetz, das die Menschen wahrhaft glücklich mache, allen Menschen gemeinsam sei und als dem menschlichen Geist eingeschrieben gelten müsse, sei das Zeremonialgesetz allein dem hebräischen Volk gegeben worden. Die Lehre von der eigenen Auserwählung unter den Völkern gründe sich allein auf die Verleihung des mosaischen Gesetzes und behaupte deswegen nicht, dass das göttliche Gesetz allein den Juden gegeben worden sei. Gerade wegen seiner Exklusivität könne das Zeremonialgesetz nicht zum göttlichen Gesetz gehören und trage somit auch nichts zu wahrer Glückseligkeit und Tugend bei. Vielmehr habe es nur dem leiblichen, zeitlichen Glück und der Sicherheit des Reiches Israel gedient, solange dieses bestand. Die fünf Bücher Moses’ lieferten Staatsgesetze, die auf zeitliche Wohlfahrt, d. h. auf Ehren, Siege, Reichtum und Gesundheit zielten. Christus habe demgegenüber keine Gesetze verkündet, sondern (im Sinne der Vernunftreligion) die Sittenlehre vom Staatsgesetz unterschieden und nicht bloß die äußere Handlung verdammt, sondern auch die innere Zustimmung. Allerdings lehrt nach Spinoza auch schon das Alte Testament den Unterschied zwischen dem allgemeinen göttlichen Gesetz und dem spezifisch jüdischen Zeremonialgesetz, denn mit seiner Kultkritik stehe Jesus in einer jüdischen Tradition, wie Spinoza mit Verweis auf Jes 1,10–17⁸ sowie Ps 40,7–10⁹ zeigt.

5 Ich zitiere nach: Spinoza 1670. 6 „Denn, wie schon gezeigt, wer das Gute tut aus wahrer Erkenntnis und Liebe des Guten, der handelt frei und beständigen Sinnes; wer aber aus Furcht vor einem Übel handelt, der handelt unter dem Zwang des Übels und knechtisch und lebt unter der Herrschaft eines anderen. Dieses eine Gebot, das Gott dem Adam gab, umfasst also das ganze natürliche göttliche Gesetz und steht in voller Übereinstimmung mit dem Geheiß des natürlichen Lichts …“ (S. 75). 7 Schließlich verweist Spinoza auch auf die berühmte Äußerung des Paulus zur natürlichen Gotteserkenntnis in Röm 1,19 f. 8 „Bringt mir nicht länger sinnlose Gaben, Rauchopfer, die mir ein Greuel sind. Neumond und Sabbat und Festversammlung – Frevel und Feste – ertrage ich nicht. … Wenn ihr eure Hände ausbreitet, verhülle ich meine Augen vor euch. Wenn ihr auch noch so viel betet, ich höre es nicht.

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Wenige Jahre vor Kants Religionsschrift erschien in Berlin Moses Mendelsohns „Jerusalem oder über die religiöse Macht und Judentum“ (1783), eine Schrift, die sofort stark rezipiert wurde, und zwar auch von Kant.¹⁰ In einem Brief an Mendelssohn äußert er sich sehr positiv über Mendelssohns Versuch einer vernunftreligiös inspirierten Deutung des Judentums.¹¹ In „Jerusalem“ entfaltet Mendelssohn die Frage der Vereinbarkeit der natürlichen Religion mit dem mosaischen Gesetz und einer mit diesem verbundenen kirchlichen Zwangsgewalt („bewaffnetes Kirchenrecht“). Der Staat könne durch Gesetze und Strafgewalt nur die Handlungen der Menschen steuern (Legalität), nicht aber auf die Überzeugungen einwirken. Dies sei das Feld der Religion, die „keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist“ (113) kenne. „Religiöse Handlungen, ohne religiöse Gedanken, ist leeres Puppenspiel, kein Gottesdienst. Diese müssen also an und für sich selbst aus dem Geiste kommen, und können weder durch Belohnung erkauft, noch durch Strafen erzwungen werden.“ (113) Die Religion verzichte auf die Zwangsrechte des Staates und gebrauche bloß die Mittel des Überredens und Belehrens, um die Überzeugungen der Menschen zu beeinflussen (114). Daher komme weder dem Staat noch der Kirche in Religionssachen ein Zwangsrecht zu.

Eure Hände sind voller Blut. Wascht euch, reinigt euch! Laßt ab von eurem üblen Treiben! Sorgt für das Recht!“ 9 „An Schlacht- und Speiseopfern hast du kein Gefallen, Brand- und Sühneopfer forderst du nicht. Doch das Gehör hast du mir eingepflanzt; darum sage ich: Ja, ich komme. […] Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude, deine Weisung trag ich im Herzen. Gerechtigkeit verkünde ich in großer Gemeinde …“ (80). Zudem verweist er auf Jes 58, Ps 15 und 24 sowie Jer 9,23. Den letztgenannten Vers legt er so aus, dass Gott nach der geweissagten Zerstörung Jerusalems von den Juden nicht mehr die Erfüllung des Zeremonialgesetzes fordere, sondern nur noch Folgsamkeit gegenüber dem Sittengesetz (vgl. 82). 10 Ich zitiere nach: Mendelssohn 1783. Nachweise zur Rezeption von Mendelssohns „Jerusalem“ finden sich in der Einleitung zu diesem Band. 11 „Herr Friedländer wird Ihnen sagen, mit welcher Bewunderung der Scharfsinnigkeit, Feinheit und Klugheit ich Ihr Jerusalem gelesen habe. Ich halte das Buch vor die Verkündigung einer großen, obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird. Sie haben Ihre Religion mit einem solchen Grade von Gewissensfreyheit zu vereinigen gewußt, die man ihr gar nicht zu getrauet hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kan. Sie haben zugleich die Nothwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreyheit zu jeder Religion so gründlich und so hell vorgetragen, dass auch endlich die Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und bedrücken kan, von der ihrigen absondere, welches endlich die Menschen in Ansehung der wesentlichen Religionspuncte vereinigen muß; denn alle das Gewissen belästigende Religionssätze kommen uns von der Geschichte, wenn man den Glauben an deren Warheit zur Bedingung der Seeligkeit macht.“ (Privatbrief Kants vom 16.8.1783, AA X 347)

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Mendelssohn erklärt, er akzeptiere „keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargethan und bewährt werden können“ (156). Damit befinde er sich aber keineswegs im Widerspruch zur jüdischen Religion, sondern in voller Übereinstimmung mit ihr. Denn anders als das Christentum kenne das Judentum keine geoffenbarten Lehren, sondern nur geoffenbarte Gesetzgebung. Das Christentum habe eine „übernatürliche Religionsoffenbarung“, insofern es ewige Wahrheiten als Inhalte der Offenbarung präsentiere. Dagegen verweise das Judentum auf Vernunft und Schöpfung als natürliche Quellen ewiger Wahrheiten. „Das allerhöchste Wesen hat sie [sc. die ewigen Wahrheiten von Gott] allen vernünftigen Geschöpfen durch Sache und Begriff geoffenbaret, mit einer Schrift in die Seele geschrieben, die zu allen Zeiten und an allen Orten leserlich und verständlich ist.“ (191) Den Sinn des Zeremonialgesetzes, das allein dem hebräischen Volk gegeben worden ist, erklärt Mendelssohn dahingehend, dass jede Tätigkeit und jede Verrichtung einen Fingerzeig auf religiöse Lehren und Gesinnungen (169) geben solle. Alle statuarischen Gesetze seien mit Vernunftwahrheiten und Religionslehren verwoben, erinnerten somit an diese Wahrheiten und regten zum Nachdenken über sie an (166). „Mit dem alltäglichen Thun und Lassen der Menschen sollten religiöse und sittliche Erkenntnisse verbunden seyn“ (184), wobei aber bloß die Handlungen vorgeschrieben wurden, während im Blick auf die Lehren lediglich zum Nachdenken angetrieben wurde. Dem Zeremonialgesetz schreibt Mendelssohn also eine pädagogische Funktion im Blick auf die Vernunftwahrheiten zu, ähnlich wie Kant die positive Religion als Vehikel der Vernunftreligion betrachtet. Die Erwählung des Volkes Israel ist nach Mendelssohn keineswegs so zu verstehen, dass ihm eine exklusive Offenbarung von Religionslehren zuteil geworden wäre. Vielmehr sei Israel dazu erwählt, eine „priesterliche Nation“ (183) zu sein, d. h. eine Nation, deren Verfassung, Gesetze und Schicksale immer dazu dienten, auf unverfälschte d. h. vernünftige Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften hinzuweisen und durch ihr bloßes Dasein diese Begriffe unter allen Nationen unaufhörlich zu lehren, zu rufen, zu predigen und zu erhalten (183).¹²

12 Mendelssohn kritisiert schließlich seinen „verewigten Freund Lessing“ (162) und dessen Vorstellung einer Erziehung des Menschengeschlechtes. Nach Lessing offenbarte Gott dem jüdischen Volk, das das Kindheitsstadium des Menschengeschlechtes repräsentiere, Vernunftwahrheiten als Glaubensgesetze und autorisierte diese Offenbarungen durch Wunder. Nach Mendelssohn ist diese Deutung des Judentums völlig verkehrt. Weiterhin hält Mendelssohn die Vorstellung, das ganze Menschengeschlecht unterliege einem Fortschrittsprozeß vom Kind zum Jugendlichen und Mann für falsch. Vielmehr sei das Menschengeschlecht immer Kind und Mann und Greis zugleich, nur an verschiedenen Orten und Weltgegenden (162).

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Vergleicht man Kants Deutung des Judentums mit der Auffassung Spinozas und Mendelssohns, so zeigt sich zunächst, dass alle drei das Judentum am Ideal der natürlichen Religion bzw. der Vernunftreligion messen. Kants Ergebnis weicht von demjenigen Spinozas und Mendelssohns allerdings stark ab. Nach Spinoza und Mendelssohn basiert das Judentum durchaus auf den Grundsätzen der natürlichen Religion. Beide demonstrieren dies an den Schriften des Alten Testamentes und weisen auch auf die Kontinuität des Alten und des Neuen Testamentes in diesem Punkt hin. Kant hingegen spricht dem Judentum genuine vernunftreligiöse Züge vollständig ab. Wenn Kant schreibt, nur diejenige Kirche könne Gegenstand einer Kirchengeschichte sein, „die von ihrem ersten Anfange an den Keim und die Principien zur objectiven Einheit des wahren und allgemeinen Religionsglaubens bei sich führte“, so würden Spinoza und Mendelssohn nachdrücklich behaupten, dass dies sehr wohl auch vom Judentum gelte. Denn in den Schriften der Thora werde der Gegensatz von Vernunftreligion und historischem Religionsglauben „öffentlich aufgestellt“, was Kant zur Bedingung dafür macht, dass eine positive Religion Teil der Kirchengeschichte sein könne. Der Vorwurf, das Judentum basiere auf statutarischen, erzwingbaren Gesetzen und sei im Grunde eine auf Legalität ausgerichtete politische Verfassung, während die Sphäre der Moralität als Fundament der wahren Religion fehle, geht nach Spinoza und Mendelssohn am jüdischen Glauben vorbei. Zwar dient das Zeremonialgesetz nach Spinoza durchaus dem diesseitigen individuellen und sozialen Wohlergehen der hebräischen Nation und hat somit eine politische Funktion, doch anders als Kant reduziert er das Judentum nicht auf das Zeremonialgesetz, sondern weist auf jene Schriftstellen hin, die das natürliche göttliche Gesetz, d. h. das Sittengesetz empfehlen. Mendelssohn hebt den Moralitätscharakter des jüdischen Glaubens noch stärker hervor, indem er das Zeremonialgesetz nicht nur auf die irdische Wohlfahrt der hebräischen Nation bezieht, sondern es als Einübung in die Reflexion auf das moralische Gesetz interpretiert. Der Sinn der statutarischen Gesetze liegt ihm zufolge darin, dass die vorgeschriebenen Handlungen die Erweckung der richtigen Gesinnungen fördern und so zum Sittengesetz hinführen.¹³

13 Die Frage des künftigen Lebens wird in Spinozas und Mendelssohns Deutungen des Judentums kaum thematisiert. Spinoza äußert an einer Stelle, der Lohn für die Gesetzestreue gehe dem jüdischen Glauben zufolge nicht über die Erhaltung des Reiches hinaus, und er fügt in einer Anmerkung hinzu: „Daß zum ewigen Leben die Beobachtung der Gebote des Alten Testaments nicht ausreicht, geht aus Markus, Kap 10., V. 21 hervor“ (54). Tatsächlich ist der Glaube an ein künftiges Leben im Alten Testament nicht sehr prominent, wird aber doch vor allem in den jüngeren Schriften deutlich geäußert (vgl. Weish 3–4; 2 Makk 7; Jes 24–27; evtl. Ps 73; Dan 12), so dass Kants Kritik an der ausschließlichen Diesseitsorientierung des Judentums überzogen erscheint.

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Kant wirft dem Judentum vor, durch den Erwählungsgedanken¹⁴ einen Partikularismus zu vertreten, der dem Universalismus der Vernunftreligion direkt entgegengesetzt sei. Nach Spinoza bezieht sich die Erwählung des Volkes Israel aber nur auf seinen politischen Bestand, nicht hingegen auf ein exklusives Anrecht auf den wahren Gottesglauben. Mendelssohn sieht die Erwählung gar in der besonderen Aufgabe Israels als eines „priesterlichen Volkes“, alle anderen Völker auf die Vernunftreligion hinzuweisen. In allen Punkten vertritt Kant also ein im Vergleich mit Spinoza und Mendelssohn stark abweichendes Bild des Judentums als eines bloß statutarischen Religionsgebildes, das vom Christentum prinzipiell verschieden sei und daher nicht Teil einer Kirchengeschichte werden könne. Dagegen sehen Spinoza und Mendelssohn gerade in vernunftreligiöser Perspektive eine starke Kontinuität des Judentums mit dem Christentum. Angesichts der Deutungen des Judentums durch Spinoza und Mendelssohn ist Kants scharfe Kritik in der Religionsschrift sehr auffallend. Geradezu verwunderlich ist die Tatsache, dass Kant, obwohl er Mendelssohns „Jerusalem“ kannte und in dem zitierten Brief an Mendelssohn dessen These, das Judentum sei im Kern Vernunftreligion, anzuerkennen scheint, nun die Möglichkeit einer vernunftreligiösen Deutung des Judentums nicht einmal erwähnt und seine eigene Kritik des Judentums nicht gegen die von Mendelssohn bereits formulierte Alternativinterpretation argumentativ absichert.¹⁵

8.3 Kants Eschatologie So wie Kant bisher eine Rekonstruktion der christlichen Sündenlehre, der Erlösungslehre und der Ekklesiologie aus vernunftreligiöser Perspektive gegeben hat, so liefert er nun eine entsprechende Deutung der Eschatologie als der Lehre von den letzten Dingen.¹⁶ Dabei weist er generell apokalyptische Vorstellungen zurück, wie die eines Endes der Welt und der Geschichte durch die Wiederkunft Christi, einer Auferstehung der Toten und der Aufhebung des Todes, eines Endgerichtes mit einer endgültigen Trennung von Guten und Bösen und einer vollständigen Errichtung des Reiches Gottes. An deren Stelle setzt er die Idee einer kontinuierlichen Annäherung an die universale ethische Gemeinschaft der Gläubigen. Kants eigene Eschatologie kommt in seiner Deutung des paulinischen Satzes, dass „am Ende Gott alles in allem sein wird“ (1 Kor 15,28) pointiert zum Ausdruck, wenn er schreibt: „Dieser Ausdruck 14 Vgl. Dtn 10,15; 4,4–8; 4,32. 15 Aufgrund seiner Kritik des Judentums ordnet Leiner 2004 Kant der Strömung des aufklärerischen Antijudaismus zu (vgl. S. 178–180). Auch Heit 2006 ist der Meinung, Kant benutze hier Klischees, die das Judentum verzeichnen (vgl. 236). 16 Zu Kants Eschatologie vgl. Schwarz 2004, 191–205.

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kann (wenn man das Geheimnißvolle, über alle Gränzen möglicher Erfahrung Hinausreichende, bloß zur heiligen Geschichte der Menschheit Gehörige, uns also praktisch nichts Angehende, bei Seite setzt) so verstanden werden, daß der Geschichtsglaube, der als Kirchenglaube ein heiliges Buch zum Leitbande der Menschen bedarf, aber eben dadurch die Einheit und Allgemeinheit der Kirche verhindert, selbst aufhören, und in einen reinen, für alle Welt gleich einleuchtenden Religionsglauben übergehen werde; wohin wir dann jetzt, durch anhaltende Entwickelung der reinen Vernunftreligion aus jener gegenwärtig noch nicht entbehrlichen Hülle, fleißig arbeiten sollen.“ (135, Anm.) Die biblischen Darstellungen der Ereignisse der Endzeit deutet Kant als symbolische Vorstellungen, die „zur größern Belebung der Hoffnung und des Muths und Nachstrebung zu demselben [sc. dem Himmelreich]“ (134) dienen. Es handele sich hier um ein „schönes Ideal“ der durch Einführung der wahren allgemeinen Religion bewirkten Weltepoche, das wir uns in der kontinuierlichen Annäherung an das höchste, auf Erden mögliche Gut vor Augen halten (135 f.). An eine tatsächliche Realisierung dieses Ideals ist nach Kant aber nicht zu denken. In diesem Sinne macht sich Kant die sogenannte präsentische Eschatologie des Lukas-Evangeliums zu eigen, wo Jesus auf die Frage, wann das Reich Gottes komme, antwortet: „Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Gestalt. Man wird auch nicht sagen: siehe hier, oder da ist es. Denn sehet, das Reich Gottes ist inwendig in euch“ (Luk 17,20 f.). Kant deutet dies erstens als Abwehr apokalyptischer Endzeit-Vorstellungen und setzt zweitens die Präsenz des Reichs Gottes im Inneren des Menschen gleich mit der Berufung jedes Menschen zum Bürger eines ethischen Staates (vgl. 136). Erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang Kants Bedenken gegen die Vorstellung einer leiblichen Auferstehung, von der die Osterberichte der Evangelien erzählen und die im kirchlichen Credo für alle Toten vorausgesagt wird. Diese Vorstellung könne für eine Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft nicht benutzt werden, weil hier die Materialität aller Wesen behauptet werde, wohingegen Kant den Spiritualismus, demzufolge der Körper tot sein, aber die Person dennoch fortleben könne, für günstiger hält. Denn der Spiritualismus gründe die Beharrlichkeit einer einfachen Substanz (der Person) auf ihre Natur, während der Materialismus sie auf den zufälligen Zusammenhalt eines bestimmten Klumpens Materie zurückführe. Die Vernunft kann, so Kant, kein Interesse dabei finden, „einen Körper, […], so geläutert er auch sein mag“, den sie aber „selbst im Leben nie recht lieb gewonnen hat, in Ewigkeit mit zu schleppen“ (129 Anm.). Mit dieser Äußerung stellt sich Kant in Gegensatz zur älteren christlichen Tradition, der zufolge die Seelen der Heiligen im Leben bei Gott zwar glücklich sind, sich aber doch

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nach dem Leib sehnen und mit ihm besser leben als ohne ihn.¹⁷ Dieser Tradition zufolge ist nur der irdische Leib des gefallenen Menschen wegen seiner Anfälligkeit für Krankheit und Schmerz sowie wegen seiner die Seele in Unruhe versetzenden Bedürfnisse so, dass, wie Kant sagt, die Vernunft ihn nie recht lieb gewinnt. Doch der Auferstehungsleib ist keine Beschwernis der Seele mehr, sondern das Komplement, nach dem die Seele selbst verlangt.

8.4 Geheimnisse des Glaubens und der Vernunft Die Reihe der allgemeinen Anmerkungen setzt Kant fort mit einer Reflexion auf die „heiligen Geheimnisse“, die in allen „Glaubensarten“, also modern gesprochen in jeder Religion anzutreffen seien. Es geht ihm darum, den theologischen Begriff „Geheimnis des Glaubens“ (mysterium fidei) vernunftreligiös zu rekonstruieren.¹⁸ Um Geheimnisse handelt es sich insofern, als sie nicht durch Vernunft abgeleitet oder ergründet werden können, sondern von Gott her offenbart werden und im Glauben ergriffen werden müssen. Kant interpretiert den Ausdruck „heiliges Geheimnis“ so, dass „heilig“ auf einen moralischen Gegenstand verweist, während „Geheimnis“ anzeigt, dass dieser Gegenstand zwar „für den praktischen Gebrauch hinreichend erkannt werden“ könne, „doch nicht für den theoretischen“ (137). Der Glaube, in dem diese Geheimnisse ergriffen werden, ist Kant zufolge ein „reine[r] Vernunftglaube[]“ (138), nicht ein göttlich eingegebener Glaube.¹⁹ Dementsprechend erfolgt nach Kant die Offenbarung dieser Geheimnisse nicht durch göttliche Aktivität, sondern durch menschliche, nämlich durch die praktische Vernunft (vgl. 142). Insgesamt geht es ihm also um die Frage, ob den „heiligen Geheimnissen“ der positiven Religion ähnliche Geheimnisse der Vernunftreligion zugrunde liegen. Hat die Vernunft Geheimnisse? Ein der Offenbarung fähiges Geheimnis muss nach Kant von einer Seite her verstehbar sein, von einer anderen Seite her aber alle menschlichen Begriffe 17 Vgl. Augustinus, De civitate dei XXII 26; Thomas von Aquin, Summa Theologiae I–II, q. 4 a.5. 18 Die theologische Tradition kennt im Wesentlichen drei Geheimnisse des Glaubens, nämlich die Trinität, die Menschwerdung und die Eucharistie, wobei letztere in jüngerer Zeit stark in den Mittelpunkt gerückt ist. Für mögliche Quellen der Ausführungen Kants über die Geheimnisse des Glaubens vgl. Bohatec 1938, 555–569. Für eine Zusammenfassung des Abschnittes vgl. Wimmer 1990, 183–185. 19 Merkwürdig klingt Kants Aussage: „Ohne durch die größte Noth zur Annahme des ersten [sc. des göttlich eingegebenen Glaubens] gedrungen zu sein, werden wir es uns zur Maxime machen, es mit dem letztern zu halten [sc. dem reinen Vernunftglauben].“ (138) Einerseits wendet Kant sich deutlich gegen die Lehre vom Glauben als Gnadengeschenk, andererseits scheint er die Möglichkeit offen zu halten, „in größter Noth“ Rekurs auf diese Lehre zu nehmen.

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übersteigen. Demnach haben solche Dinge, die dem Menschen schlechthin unbegreiflich sind, nicht einmal den Status eines Geheimnisses und sind daher auch keiner Offenbarung fähig. Diese beiden Seiten kommen nach Kant in den Zugangsweisen der praktischen und der theoretischen Vernunft zur Geltung. Geoffenbarte Geheimnisse sind solche Lehren, die von der praktischen Vernunft her eingesehen werden können, in theoretischer Absicht (d. h. für die Spekulation bzw. zur Bestimmung der Natur des Objekts an sich) aber unzugänglich bleiben. Allerdings setzt Kant die heiligen Geheimnisse nicht einfach mit den Postulaten der praktischen Vernunft gleich. Denn beispielsweise stelle die Existenz der Freiheit (als Bestimmbarkeit der Willkür durch das moralische Gesetz) kein Geheimnis dar, weil sie jedermann dargelegt werden könne (138). Das Faktum der Freiheit selbst sei also kein Geheimnis, doch der Freiheitsgedanke führe unvermeidlich auf „heilige Geheimnisse“, wenn er auf das „letzte Object der praktischen Vernunft“, nämlich die „Realisirung der Idee des moralischen Endzwecks angewandt“ (138) werde. Erst durch die Verbindung des Freiheitsgedankens mit dem Gottesgedanken entstehen nach Kant Geheimnisse der Vernunft. Die Mysterien des reinen Religionsglaubens liegen nach Kant genau dort, wo das freie, pflichtgemäße Wollen des Menschen zu einem möglichen göttlichen Handeln ins Verhältnis zu setzen ist. Dass ein Handeln Gottes angenommen werden müsse oder zumindest könne, ist eine Erkenntnis der praktischen Vernunft und insofern eine Offenbarung. Wie dieses Handeln möglich ist, ohne die Freiheit zu zerstören, ist hingegen theoretisch unerkennbar und bleibt somit ein Geheimnis. Negativ erwähnt Kant zunächst das Geheimnis der Trinität, das er aber nicht einmal für offenbarungsfähig und somit auch nicht für ein wirkliches Geheimnis hält, weil der Begriff „Dreieinigkeit“ gar keinen bestimmbaren Gehalt habe. Ins Praktische gewendet mache die Trinitätslehre dagegen Sinn, nämlich als gegenseitige Einschränkung und Moderation von Heiligkeit, Wohlwollen und Gerechtigkeit als praktischer Gottesprädikate. Allerdings habe dies gar nichts Geheimnisvolles mehr an sich. Das Trinitätsgeheimnis wird also durch praktische Vernunft aufgelöst. Positive Behandlung findet jedoch jenes Geheimnis der Vernunftreligion, das mit der Idee des höchsten Gutes direkt verbunden ist. Die praktische Vernunft fordert dabei in zweierlei Hinsicht eine göttliche Ergänzung des pflichtmäßigen Handelns, nämlich erstens in der Zuteilung der Glückseligkeit an den Glückswürdigen, und zweitens in der Vollendung des menschlichen Strebens nach einer Universalkirche als eines allumfassenden ethischen Staates. Nach Kant eröffnet sich hier „der Abgrund eines Geheimnisses, von dem, was Gott hiebei thue, ob ihm überhaupt etwas, und was ihm (Gott) besonders zuzuschreiben sei, indessen, daß der Mensch an jeder Pflicht nichts anders erkennt, als was er selbst zu thun habe,

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um jener ihm unbekannten, wenigstens unbegreiflichen Ergänzung würdig zu sein“ (139). Im Folgenden erläutert Kant drei Geheimnisse des christlichen Glaubens, nämlich erstens die Erschaffung des Menschen als eines freien Wesens, zweitens die Rechtfertigung des Sünders, hier unter dem Aspekt der von Gottes Sohn geleisteten stellvertretenden Sühne („Genugthuung“); und drittens die Erwählung des Menschen, verstanden im Sinne der Gewährung der gratia praeveniens (zuvorkommende Gnade), und der Prädestination der Erwählten zum Heil. Diese Geheimnisse, die „die moralische Lebensgeschichte jedes Menschen“ betreffen (143), versucht Kant im Folgenden als Vernunftgeheimnisse zu rekonstruieren. Zunächst ordnet er die drei Geheimnisse unter dem Gesichtspunkt, dass sie – philosophisch-systematisch gedacht – dadurch entstehen, dass die Freiheit des Menschen zu den drei Grundeigenschaften des praktisch-trinitarisch gedachten Gottes, nämlich der Heiligkeit des Gesetzgebers, seiner Güte und seiner Gerechtigkeit, in Beziehung gesetzt wird. Das erste Mysterium betrifft, wie Kant sagt, die „Berufung (der Menschen als Bürger zu einem ethischen Staat)“ (142), doch das Grundproblem ist dasjenige der Erschaffung eines freien Wesens. Der Mensch sei als Geschöpf Gottes anzusehen, weil Gott als Gesetzgeber auch Schöpfer sei. Nach dem Prinzip der Kausalität könne der Mensch als Wirkung keinen anderen Grund seiner Handlungen haben als denjenigen, den die hervorbringende Ursache, d. h. der Schöpfer, in ihn gelegt hat. Der Schöpfungsgedanke impliziert Kant zufolge also einen Determinismus. Berufung setzt nach Kant aber Freiheit voraus, denn sie ist „eine bloß moralische, nach Gesetzen der Freiheit mögliche Nöthigung […] zur Bürgerschaft im göttlichen Staate“ (143). Kant fasst das Dilemma so, dass die Berufung des Menschen als eines Geschöpfes moralisch, d. h. aus der Perspektive der praktischen Vernunft „ganz klar“, für die „Speculation“, d. h. aus der Perspektive der theoretischen Vernunft, aber „ein undurchdringliches Geheimniß“ (143) sei. Offenbart, aber nicht aufgeklärt, wird dieses Geheimnis durch die praktische Vernunft, die erkennt, dass der Mensch einer Pflicht zum Eintritt in ein ethisches Gemeinwesen als Reich Gottes unterliegt. Kant rekonstruiert also das christliche Geheimnis der Berufung als philosophisches Geheimnis der Erschaffung eines freien Wesens. Aus dem Verhältnis der Freiheit zur Güte Gottes interpretiert Kant das christliche Geheimnis der Genugtuung oder der stellvertretenden Sühne. Denn es gelte, dass der „Mensch, so wie wir ihn kennen […] verderbt“ (143) sei, und dennoch von Gott eingeladen sei, ein Glied des Himmelsreiches zu werden. Daher müsse Gott ein Mittel haben, den Mangel an moralischer Tauglichkeit des Menschen zu ersetzen. Das widerspreche jedoch der Freiheit, insofern einem Menschen nur zurechenbar sei, was er selbst tue, nicht aber was ein anderer für ihn tue (vgl. Zweites Stück). Die moralische Schuld eines Menschen kann nicht dadurch getilgt werden, dass jemand

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anders moralische Verdienste erwirbt. Kant formuliert das Geheimnis der Genugtuung hypothetisch: „Es kann ihn [sc. den Menschen] also, soviel die Vernunft einsieht, kein andrer durch das Übermaß seines Wohlverhaltens und durch sein Verdienst vertreten; oder wenn dieses angenommen wird, so kann es nur in moralischer Absicht nothwendig sein, es anzunehmen; denn fürs Vernünfteln ist es ein unerreichbares Geheimniß.“ (143) Auch hier würde die praktische Vernunft ein Geheimnis offenbaren, wenn sie zu einer Annahme über das Handeln Gottes nötigte, die spekulativ nicht einholbar ist. Allerdings hält Kant diese Annahme der praktischen Vernunft wohl nicht für zwingend, da er sie bloß hypothetisch formuliert. Da Kant zudem im Zweiten Stück den christlichen Gedanken eines stellvertretenden Sühneopfers mittels der praktischen Vernunft in die Idee einer Selbstvertretung des seine Gesinnung revolutionierenden Menschen transformiert hatte (vgl. 71–76), scheint dieses Geheimnis des Glaubens gar nicht zu einem Vernunftgeheimnis zu führen. In diesem Fall löst die praktische Vernunft das Geheimnis wohl eher auf, als dass sie es offenbart. Im Kontext des Verhältnisses der Freiheit zur Gerechtigkeit Gottes ist Kant zufolge die Erwählung als das dritte Geheimnis des christlichen Glaubens angesiedelt. Genau genommen enthält der Gedanke der Erwählung nach Kant sogar zwei Geheimnisse. Das erste betrifft das Verhältnis von Freiheit und Gnade, insbesondere die Frage nach einer der Freiheitsentscheidung vorausgehenden Gnade (gratia praeveniens), das zweite das Theologumenon einer göttlichen Prädestination zum Guten, die aber aufgrund eines unbedingten Ratschlusses Gottes nur einige Menschen betrifft, während die anderen zwar nicht zum Bösen vorherbestimmt sind, aber ihrer Bosheit überlassen bleiben, aus der sie sich aus eigener Kraft nicht befreien können. Die biblische Zentralstelle für den Erwählungsgedanken ist Röm 9– 11, wo der Apostel am Ende seiner Darlegungen ausruft: „O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege! Denn ‚wer hat die Gedanken des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?‘ (Jes 40,13)“ (Röm 11,33–34). Die Lehre vom unbedingten Ratschluss Gottes gibt Kant zufolge keinen für uns verstehbaren Begriff von einer göttlichen Gerechtigkeit, sondern deutet allenfalls auf eine Weisheit, „deren Regel für uns schlechterdings ein Geheimniß ist“ (143). Wie die Stellvertretung, so scheint auch die Erwählung nicht als Geheimnis der Vernunft rekonstruierbar zu sein. Denn in der ersten Abteilung des Dritten Stücks hatte Kant die Lehre vom unbedingten Ratschluss Gottes bereits als „salto mortale der menschlichen Vernunft“ (121) kritisiert. Wenn die Rede von der „menschlichen Vernunft“ hier die praktische Vernunft einschließt, dann kann diese kein Geheimnis mehr offenbaren, weil auch sie nichts mehr versteht. Vielmehr wird sie versuchen, die unvernünftige Äußerung der positiven Religion wegzuerklären und so das christliche Geheimnis aufzulösen. Dies strebt Kant in der Fußnote zur „salto

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mortale“-Stelle wohl tatsächlich an, wenn er die Prädestination von Ewigkeit her dahingehend umdeutet, dass die moralische Anlage eines Menschen diesen manchmal von Anfang an zu prägen scheine und auch mitunter von lebensgeschichtlichen Ereignissen abhänge, für die niemand etwas kann, so dass es so scheine, als ob Gott schon vor der Geburt den Charakter eines Menschen bestimmt habe. In Wahrheit sei aber höchstens ein „allsehendes Wissen“, nicht aber ein „Vorherbeschließen“ Gottes anzunehmen (121, Anm.). Damit ist das Geheimnis der Erwählung aufgelöst. Von besonderem Interesse für die Einschätzung der Religionsphilosophie Kants im Ganzen ist die Frage des Gnadengeheimnisses. Die theologische Tradition hat stets eine als Pelagianismus bekannte Lehre abgelehnt, der zufolge der Mensch sich durch seine natürlichen Kräfte vom Bösen zum Guten wenden könne, so dass er zu seinem Heil keine göttliche Gnade benötige, sondern allenfalls eine Belehrung über das Gute. In pelagianischer Sicht erscheint Jesus Christus als Lehrer, nicht aber als Erlöser der Menschen. Kant scheint an vielen Stellen einen solchen Pelagianismus zu vertreten, etwa in dem Grundsatz „du kannst, denn du sollst“ (vgl. 45), sofern dieser besagt, dass der von der praktischen Vernunft natürlicherweise erhobenen Sollensforderung auch ein natürliches moralisches Können entsprechen müsse; oder wenn er das Postulat der Existenz Gottes damit begründet, dass es ein allmächtiges, moralisch-weises Wesen geben müsse, das dem Glückwürdigen die Glückseligkeit verleihe, denn damit ist der Erwerb der Tugend als Glückswürdigkeit implizit ganz der Kraft des Menschen selbst anheimgestellt. Allerdings ist Kant auch subtilerer Äußerungen fähig, wie ein Blick auf den sogenannten Semi-Pelagianismus zeigt.²⁰ Dieser Lehre zufolge ist der Mensch zu schwach, um sich durch eigene moralische Kraftanstrengung vom Bösen zum Guten umzuwenden, sondern bedarf dazu der Gnade Gottes, die ihn stärkt. Nur mit Hilfe dieser Gnade vermag der Mensch überhaupt tugendhaft und glückswürdig zu werden. Der Rest-Pelagianismus dieser Position liegt aber darin, dass der Mensch selbst immerhin noch den Anfang des Bekehrungsprozesses aus eigener Kraft vollbringen muss. Er hat sich zunächst zum Guten zu entschließen, und nur unter der Bedingung, dass er diesen moralischen Entschluss fasst, gewährt Gott seine Gnade, und hilft ihm, das Gute zu verwirklichen und tugendhaft zu werden. Einige Äußerungen Kants klingen ausgesprochen semi-pelagianisch. So heißt es am Ende der ersten allgemeinen Anmerkung: „Nach der moralischen Religion aber […] ist es ein Grundsatz: daß ein jeder so viel, als in seinen Kräften ist, thun müsse, um ein

20 Wimmer 1990 schreibt Kant einen pelagianischen Standpunkt zu (vgl. 157). Dass dies nicht ganz zutrifft, sieht Thiede 2004, 102. Kritisch zum Pelagianismus-Vorwurf stellt sich Hoping 1990, 223 f. Zur Frage des Pelagianismus bei Kant vgl. ferner Heit 2006, 112, sowie Firestone 2009, 142 f.

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besserer Mensch zu werden; und nur alsdann, wenn er sein angeborenes Pfund nicht vergraben (Lucä XIX,12–16), wenn er die ursprüngliche Anlage zum Guten benutzt hat, um ein besserer Mensch zu werden, er hoffen könne, was nicht in seinem Vermögen ist, werde durch höhere Mitwirkung ergänzt werden“ (51 f.).²¹ Hierhin gehören auch die zahlreichen Äußerungen, in denen Kant die Güte Gottes und seine Liebe zum Menschen an dessen Würdigkeit bindet (vgl. 145 f.; 141), d. h. an eine vorausgehende Anstrengung des Menschen, Gott moralisch wohlgefällig zu sein.²² Auch der Semi-Pelagianismus wurde theologisch zurückgewiesen, besonders scharf von Augustinus, Luther und Calvin, aber auch – obzwar weniger eindeutig – von der katholischen Theologie des Trienter Konzils. Der theologische Einwand lautet, dass die Gnade Gottes nicht an eine Leistung des Menschen gebunden ist, sondern bedingungslos und umsonst gewährt werde. Daher könne sie dem menschlichen Entschluss zur Umkehr nicht erst nachfolgen, sondern müsse ihm als gratia praeveniens vorausgehen. Die Entscheidung für das Gute ist demnach nicht eine Vorbedingung der liebenden Zuwendung Gottes zum Menschen, sondern deren Folge. Aus theologischer Sicht ist diese Kritik am Semi-Pelagianismus auch auf Kants philosophische Gnadenlehre zu beziehen. Freilich stellt eine theologische Kritik kein philosophisches Argument im engeren Sinne dar, doch zeigt sie zumindest, dass Kants Rekonstruktion der christlichen Dogmatik auch an dieser Stelle nicht dem Selbstverständnis des Christentums entspricht. Die christliche These, dass stets Gott den ersten Schritt bei der Bekehrung des Menschen tun muss, findet keine Aufnahme in Kants Vernunftreligion. Kant formuliert das theologische Gnadengeheimnis folgendermaßen: „Wenn auch jene stellvertretende Genugthuung als möglich eingeräumt wird, so ist doch die moralisch-gläubige Annehmung derselben eine Willensbestimmung zum Guten, die schon eine gottgefällige Gesinnung im Menschen voraussetzt, die dieser aber nach dem natürlichen Verderben in sich von selbst nicht hervorbringen kann“ (143).

21 Vgl. auch folgende Passage: „Gesetzt, zum Gut- oder Besserwerden sei noch eine übernatürliche Mitwirkung nötig, so mag diese nur in der Verminderung der Hindernisse bestehen, oder auch positiver Beistand sein, der Mensch muß sich doch vorher würdig machen, sie zu empfangen, und diese Beihülfe annehmen (welches nichts Geringes ist), d. i. die positive Kraftvermehrung in seine Maxime aufnehmen, wodurch es allein möglich wird, dass ihm das Gute angerechnet, und er für einen guten Menschen erkannt werde“ (44). 22 Dass Kant durch seinen Semi-Pelagianismus dem katholischen Glauben tendenziell näher steht als dem protestantischen wurde schon vielfach bemerkt. Vgl. Thiede 2004, 87 f.; ebenso Winter 2000, 21–25, 430. Winter vermutet Semler als Quelle des Kantschen Semi-Pelagianismus. Zur Lehre vom göttlichen Beistand bei Kant vgl. die neue Arbeit von Reich 2019.

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Der Wille müsste demnach schon begnadet sein, um die Gnade aufnehmen zu können. Dieses Problem weist aber direkt zurück auf jene Grundthese, die Kants gesamten Versuch einer praktischen Begründung der Vernunftreligion trägt, nämlich dass der Mensch, obwohl radikal böse, gut werden könne. Kant hebt im Ersten Stück mehrfach hervor, dass die Frage, wie es „möglich sei, daß ein natürlicherweise böser Mensch sich selbst zum guten Menschen mache“, alle unsere Begriffe übersteige (44). Denn wie es sein kann, dass ein Mensch, der eine böse oberste Maxime hat, diese gegen eine gute austausche, ist nach Kant unbegreifbar. Parallel zum theologischen Gnadengeheimnis ist das philosophische Problem so zu formulieren: Die Annehmung einer guten obersten Maxime setzt schon eine Willensbestimmung zum Guten voraus, die der radikal böse Mensch gar nicht haben kann. So wie die Erlösung des Sünders durch die Gnade Gottes ein Geheimnis des Glaubens ist, so ist die Möglichkeit der Umkehr des bösen Menschen zum Guten hin das Grundgeheimnis der praktischen Vernunft. Die Lehre von der Revolution der Gesinnung relativiert zudem Kants eigene semi-pelagianische Äußerungen. Denn dass der radikal böse Mensch auch nur den ersten Schritt zum Guten tue, dass er sich des göttlichen Beistandes würdig mache, indem er die Anlage zum Guten benutzt, um ein besserer Mensch zu werden, ist gar nicht denkbar, weil ein solcher Mensch schon nicht mehr radikal böse wäre. Es scheint, dass die theologische Lehre von der gratia praeveniens, die Kant an vielen Stellen zurückweist, doch im Zentrum seines eigenen philosophischen Ansatzes ein unausgesprochenes Äquivalent besitzt.²³ Die Möglichkeit des guten Willens ist ein Mysterium.

Literatur Primärliteratur Augustinus: De civitate dei, in: Corpus Christianorum Latinorum, Bd. 42/43 (ed. Dombart/ Kalb), 1977 – Übersetzung: Vom Gottesstaat, übers. v. W. Thimme, Zürich 1978. Lessing, G. E. 1780: Erziehung des Menschengeschlechtes, in: Gesammelte Werke, Berlin 1956, Bd. 8. Lessing, G. E. 1779: Nathan der Weise, in: Gesammelte Werke, Berlin 1956, Bd. 2.

23 Wenn Wimmer 1990 schreibt: „Glaubensgeheimnisse stehen in einem rechten Selbstverständnis des Glaubens nicht im Zentrum, sondern an der Peripherie“ (185), so gibt er Kants Selbstdeutung sicher zutreffend wieder. Nach unserer kritischen Analyse ist allerdings festzuhalten, dass das Geheimnis der Möglichkeit des guten Willens direkt im Zentrum der Konzeption Kants entsteht.

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Mendelssohn, M. 1783: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: Gesammelte Schriften – Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1983, Bd. 8, 99 ff. Spinoza, B. de 1670: Theologisch-politischer Traktat, in: Werke in drei Bänden, hrsg. v. W. Bartuschat, Hamburg 2006, Bd. 2. Thomas von Aquin: Die deutsche Thomas-Ausgabe der Summa Theologica, Heidelberg 1933 ff.

Sekundärliteratur Bohatec, J. 1938: Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hamburg. Cohen, H. ²1978: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Wiesbaden. Firestone, Ch. L./Jacobs, N. 2008: In Defense of Kant’s Religion, Bloomington/IN. Firestone, Ch. L. 2009: Kant and Theology at the Boundaries of Reason, Farnham. Heit, S. 2006: Versöhnte Vernunft. Eine Studie zur systematischen Bedeutung des Rechtfertigungsgedankens für Kants Religionsphilosophie, Göttingen. Hoping, H. 1990: Freiheit im Widerspruch. Eine Untersuchung zur Erbsündenlehre im Ausgang von Immanuel Kant, Innsbruck. Leiner, M. 2004: Überwindung und Reform der gegebenen Kirchen. Zu Kants Rede von der Kirche, in: Thiede 2004, 159–190. Reich, J. 2019: Heiligkeit und Gottes Beistand. Ein moraltheologischer Blick auf die Ethikvorlesungen und die Religionsschrift Immanuel Kants, Tübingen. Schwarz, H. 2004: Ende und Erfüllung. Teleologie und Eschatologie bei Kant, in: Thiede 2004, 191–205. Thiede, W. (Hrsg.) 2004: Glauben aus eigener Vernunft? Kants Religionsphilosophie und die Theologie, Göttingen. Thiede, W. 2004a: Gnade als Ergänzung? Zur Aporetik der Kantschen Rekonstruktion von Soteriologie und Christologie, in: Thiede 2004, 67–112. Wimmer, R. 1990: Kants kritische Religionsphilosophie, Berlin. Winter, A. 2000: Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, Hildesheim.

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9 „Vom Dienst Gottes in einer Religion überhaupt“ Aufgabe der Religionsschrift ist es, die Offenbarung als historisches System „fragmentarisch“ an moralische Begriffe zu halten, um zu sehen, „ob dieses nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe“, das in moralischpraktischer Absicht „für eigentliche Religion […] hinreichend sei“ (12). Das „Fragment“ der Offenbarung, das im Dritten Stück an moralische Begriffe gehalten wurde, war die Lehre vom Volk und Reich Gottes und der Kirche. Das Vierte Stück führt diese Überlegungen weiter. Nach der traditionellen Ekklesiologie ist die Kirche gegliedert in die Amtsträger, die „Diener“, und die Gemeinde. Worin besteht, so fragt Kant, der wahre Dienst in der wahren sichtbaren Kirche? Das ethische gemeine Wesen, das herbeizuführen die Pflicht der Menschheit gegen sich selbst ist, kann nur auf dem Weg über eine sichtbare Kirche verwirklicht werden. Diese sichtbare Kirche ist ein Menschenwerk; sie bedarf der von Menschen gesetzten Statuten. Damit ist jedoch ein Konflikt programmiert, der Kampf zwischen dem „gottesdienstlichen und dem moralischen Religionsglauben“ (124). Es ist die Gefahr gegeben, daß das Mittel sich absolut setzt und sich zum Zweck macht. Die Amtsträger einer sichtbaren Kirche leisten nur dann einen Dienst, sie sind also nur dann „Diener“ der wahren sichtbaren Kirche, wenn ihre Lehren und Anordnungen dem letzten Zweck einer sichtbaren Kirche, sich dem Vernunftglauben beständig zu nähern, dienen. Wenn sie dagegen den historischen Kirchenglauben für allein seligmachend erklären, machen sie sich des „Afterdienstes“ schuldig, denn sie machen das, was nur ein Mittel ist, zum Zweck und vereiteln damit den letzten Zweck der wahren sichtbaren Kirche. Der Zweite Teil des Vierten Stücks führt den Afterdienst auf den „Religionswahn“ zurück, die Überzeugung, der statutarische Glaube sei „wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt“ (168) und die oberste Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen. Kant fragt nicht nur nach dem Dienst Gottes in einer Religion überhaupt, sondern er wendet die Unterscheidung zwischen Dienst und Afterdienst auch auf das Christentum an. Die Unterscheidung beruht auf dem richtigen oder falschen Verhältnis von Vernunft und Offenbarung, und Kant zeigt deshalb, daß das Christentum sowohl eine natürliche, d. h. eine Vernunftreligion, als auch eine geoffenbarte Religion ist. Die Menschen hätten durch den Gebrauch ihrer Vernunft von selbst auf sie kommen können, wenn auch nicht so früh und in so weiter Ausbreitung wie durch die historische Offenbarung. Der Dienst am reinen Vernunftglauben und der Dienst am historischen Glauben können in der christlichen Kirche https://doi.org/10.1515/9783110782424-011

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nicht voneinander getrennt werden. Keiner kann ohne den anderen bestehen, aber die historische Offenbarungslehre darf nur als „bloßes, aber höchst schätzbares Mittel“ kultiviert werden, um der Vernunftreligion „Faßlichkeit […], Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben“. Das ist der wahre Dienst der Kirche. Erhält dagegen der Offenbarungsglaube Vorrang vor dem Vernunftglauben, so ist das „der Afterdienst, wodurch die moralische Ordnung ganz umgekehrt und das, was nur Mittel ist, unbedingt (gleich als Zweck) geboten wird“ (165).

9.1 Die Unterscheidung zwischen Dienst und Afterdienst Der Sieg des guten Prinzips über das böse ist die Gründung eines Reiches Gottes auf Erden (vgl. 93), des ethischen gemeinen Wesens. Der Anfang der Herrschaft des guten Prinzips und ein Zeichen dafür, daß es siegen und das Reich Gottes zu uns kommen wird, ist, daß „die Grundsätze der Constitution desselben öffentlich zu werden anheben“ (151). Ein ethisches gemeines Wesen „hat eigentlich keine ihren Grundsätzen nach der politischen ähnliche Verfassung. […] Sie würde noch am besten mit einer Hausgenossenschaft (Familie) unter einem gemeinschaftlichen, obzwar unsichtbaren, moralischen Vater verglichen werden können“, deren Glieder „in eine freiwillige, allgemeine und fortdauerende Herzensvereinigung treten“ (102). Das Reich Gottes ist in der Verstandeswelt schon da als „die Idee“ von einem „Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen“ (98), auf das hinzuwirken wir die Pflicht haben. Hinzu kommt („wozu“, 151), daß die „Gründe“, die allein das Kommen des Reiches Gottes bewirken können, „allgemein Wurzel gefaßt haben“. Diese „Gründe“ sind die „Grundsätze“ der Verfassung des ethischen gemeinen Wesens; an anderer Stelle spricht Kant von „Princip des allmählichen Überganges des Kirchenglaubens zur allgemeinen Vernunftreligion“ (122) oder vom „Keim des wahren Religionsglaubens“ (131). Entscheidend ist, daß diese Grundsätze „öffentlich zu werden anheben“; daß das Prinzip des allmählichen Übergangs „irgendwo auch öffentlich Wurzel gefaßt hat“ (122); daß der Keim „öffentlich gelegt worden“ ist (131). Es „ist die jetzige“ Zeit der Kirchengeschichte, in welcher das der Fall ist (131). Die Rede vom „Keim“ spielt an auf das Gleichnis vom Senfkorn (Mt 13,31 f.; vgl. Rel., 160). Dadurch, daß die Grundsätze öffentlich zu werden beginnen, hat das Samenkorn „Wurzel gefaßt“ (122, Rel., 151); in ihm liegt „das Ganze (unsichtbarer Weise), welches dereinst die Welt erleuchten und beherrschen soll“. Der Grund des Wahren und des Guten liegt in der Naturanlage eines jeden Menschen; „wenn es einmal öffentlich geworden“ ist, wird das Wahre und Gute sich „vermöge

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der natürlichen Affinität, in der es mit der moralischen Anlage vernünftiger Wesen überhaupt steht“, durchgängig mitteilen (122 f.). Der folgende Satz (152, Z. 12–24) fasst den Gedankengang von 97, Z. 17 bis 98, Z. 8 zusammen. Zu einem ethischen gemeinsamen Wesen sich zu vereinigen, ist eine Pflicht von besonderer Art, nicht eine Pflicht der Menschen gegen Menschen, sondern des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst. Sie ergibt sich aus der Pflicht, das höchste Gut zu befördern, denn die Kraft der Menschen, sich den Anfechtungen des bösen Prinzips zu widersetzen, ist stärker, wenn sie sich zur Beförderung des höchsten Gutes zusammenschließen. Wenn die Menschen sich nicht in dieser Weise miteinander vereinigen, werden sie voneinander versucht, als Werkzeuge des bösen Prinzips zu dienen; sie bringen „selbst bei dem guten Willen jedes einzelnen durch den Mangel eines sie vereinigenden Princips“ einander in Gefahr, wiederum der Herrschaft des Bösen in die Hände zu fallen (97). Durch „die Bestrebung der einzelnen Person zu ihrer eigenen moralischen Vollkommenheit allein“ wird das höchste sittliche Gut nicht bewirkt (97); daraus kann man zwar „eine zufällige Zusammenstimmung aller zu einem gemeinschaftlichen Guten“ folgern, aber „gehofft werden“ darf jene Zusammenstimmung aller nur, wenn aus der Vereinigung aller zu diesem Zweck „ein besonderes Geschäfte gemacht wird“(151). Die Erfüllung dieser Pflicht von besonderer Art bewirkt nicht die Zusammenstimmung aller in einem ethischen gemeinsamen Wesen, sondern sie begründet lediglich eine Hoffnung, weil die Idee „von einem solchen Ganzen, als einer allgemeinen Republik nach Tugendgesetzen, eine von allen moralischen Gesetzen (die das betreffen, wovon wir wissen, daß es in unserer Gewalt stehe) ganz unterschiedene Idee ist, nämlich auf ein Ganzes hinzuwirken, wovon wir nicht wissen können, ob es als ein solches auch in unserer Gewalt stehe“ (98). Ein solches gemeines Wesen, „als ein Reich Gottes“, kann „nur durch Religion von Menschen unternommen“ werden (151). Alle Religion besteht darin, „daß wir Gott für alle unsere Pflichten als den allgemein zu verehrenden Gesetzgeber ansehen“ (103). Wenn ein ethisches gemeines Wesen zustande kommen soll, so müssen alle einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze „müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können“ (98). Als oberster Gesetzgeber eines ethischen gemeinen Wesens kann aber nur ein solcher gedacht werden, „in Ansehung dessen alle wahren Pflichten, mithin auch die ethischen, zugleich als seine Gebote vorgestellt werden müssen“. Er muß die Gesinnungen eines jeden durchschauen und jedem das zukommen lassen, was dessen Taten verdienen. „Dieses ist aber der Begriff von Gott als einem moralischen Weltherrscher“ (99). Für ein gemeines Wesen ist erforderlich, daß die Gesetzgebung öffentlich sei; folglich muß für ein ethisches gemeines Wesen öffentlich sein, daß es sich bei den Pflichten um Gebote Gottes handelt. Das ist jedoch nur möglich, wenn ein ethisches gemeines Wesen „in der sinnlichen Form einer Kirche“ (151) vorge-

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stellt werden kann. Ein moralisches Volk Gottes zu stiften ist ein Werk, „dessen Ausführung nicht von Menschen, sondern nur von Gott selbst erwartet werden kann“ (100). Die Gestaltung „der sinnlichen Form“ durch die Stiftung einer Kirche ist dagegen ein Werk, das den Menschen überlassen ist und von ihnen gefordert werden kann. Man kann „mit Grunde annehmen, der göttliche Wille sei: daß wir die Vernunftidee eines solchen gemeinen Wesens selbst ausführen“; das ist für die Menschen Pflicht, aber die Gestaltung der sinnlichen Form ist „gänzlich ihnen selbst überlassen“ (105). Daß es Aufgabe und Pflicht der „Menschen“ sei, die „Anordnung“ einer Kirche „zu stiften“ (152), ist eine anscheinend widersprüchliche Forderung, denn „Gott muß selbst der Urheber seines Reiches sein“. Der Widerspruch zeigt sich nicht zuletzt darin, daß das moralisch Gute, das durch die Stiftung einer Kirche erreicht werden soll, bereits in den Menschen vorausgesetzt werden muß, damit sie imstande sind, eine Kirche zu stiften; daß das Reich Gottes komme, ist der Wunsch „aller Wohlgesinnten“ (101). Die Geschichte zeigt, daß diese Aufgabe offensichtlich mehr „Weisheit“ erfordert, „als man wohl den Menschen zutrauen darf“ (152), denn die Menschen haben „manche Form einer Kirche mit unglücklichem Erfolg versucht“ (105). Die Antwort auf diese Einwände ist (152, Z. 12–19): Wir finden in uns die moralische Bestimmung, Bürger und Untertanen im Reich Gottes zu sein, d. h. wir sollen die Idee eines ethischen gemeinen Wesens verwirklichen. Was Gott unmittelbar tut, „um die Idee seines Reichs […] in der Wirklichkeit darzustellen“, wissen wir nicht. Wir wissen aber sehr wohl, was wir zu tun haben, „um uns zu Gliedern desselben tauglich zu machen“. Wir wissen, daß es dazu nicht genügt, daß „ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht“ (151), sondern daß es dazu auch erforderlich ist, daß wir uns zu einem ethischen gemeinen Wesen zusammenschließen, was wiederum nur durch die Gründung einer Kirche möglich ist. Es ist die Idee von einem ethischen allgemeinen Wesen, diese „Pflicht des menschlichen Geschlechts gegen sich selbst“ (97), die uns „zur Anordnung einer Kirche“ verbindet. Dazu muß diese Idee „öffentlich geworden sein“, d. h. es muß, durch die Vernunft oder durch die Schrift, ein allgemeines Bewusstsein dieser Pflicht „erweckt“ worden sein. Die folgenden Zeilen (152, 19–25) differenzieren die Aussage, die „Anordnung“ der Kirche sei den Menschen „überlassen“. Wenn die Idee des ethischen gemeinen Wesens durch die Schrift öffentlich geworden ist („im letzteren Fall“), dann ist „Gott selbst als Stifter der Urheber der Constitution“. Die Konstitution der Kirche wird christologisch, also durch die Offenbarung, begründet. Sie kann mit einer Hausgemeinschaft unter einem gemeinschaftlichen Vater verglichen werden, „sofern sein heiliger Sohn, der seinen Willen weiß […], die Stelle desselben darin vertritt, daß er seinen Willen diesen näher bekannt macht“ (102). Aber auch wenn Gott selbst der Urheber der Konstitution ist („in allen Fällen“), sind Menschen „die Urheber der

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Organisation“. Die grundlegende Gliederung dieser Organisation ist die in „Diener der Kirche“, welche „die öffentlichen Geschäfte derselben“ oder „nur die Geschäfte des unsichtbaren Oberhaupts derselben“ (101) verwalten, und in „die Gemeinde“, d. h. die Glieder der Kirche, die deren Gesetzen unterworfen sind, aber keine Leitungsaufgabe haben. Allein die sichtbare Kirche muß und kann durch Gesetze, welche Menschen erlassen, organisiert werden. Die „reine Vernunftreligion als öffentlicher Religionsglaube“ gestattet dagegen „nur die bloße Idee von einer Kirche (nämlich einer unsichtbaren)“ (152). Die „reine Vernunftreligion“ wird der „Offenbarung“ (12) oder dem „Kirchenglauben“ (121) gegenübergestellt. Ein Glaube kann ein „historische [r] Glaube“ („Kirchenglaube“) oder ein „reine[r] Religionsglaube“ sein (105). Die unsichtbare Kirche ist die „bloße Idee von der Vereinigung aller Rechtschaffenen unter der göttlichen unmittelbaren, aber moralischen Weltregierung“ (101), d. h. die Idee des ethischen gemeinen Wesens. Die Wendung, die „reine Vernunftreligion als öffentlicher Religionsglaube“ erscheint auf den ersten Blick als widersprüchlich, denn öffentlich kann, wie wir sahen, ein Religionsglaube nur in einer sichtbaren Kirche mit statutarischen Gesetzen sein (151). „Öffentlich“ ist die reine Vernunftreligion in demselben Sinn wie die Idee des ethischen gemeinen Wesens, die „durch Vernunft oder durch Schrift im menschlichen Geschlecht erweckt und öffentlich geworden“ (152), d. h. ins allgemeine Bewußtsein getreten ist. Weil die reine Vernunftreligion nur die Idee von einer Kirche zuläßt, kennt sie keine „Diener“, die als „Beamte“ entsprechend den von Menschen erlassenen Anordnungen die öffentlichen Geschäfte verwalten und die Gemeinde leiten; vielmehr empfängt jedes Glied „unmittelbar von dem höchsten Gesetzgeber seine Befehle“. Da aber jedes Glied aufgrund des öffentlichen Religionsglaubens durch die Erfüllung seiner Pflichten „jederzeit im Dienste Gottes“ steht, sind alle Menschen guten Willens „Diener“ der reinen Vernunftreligion (152 f.). Von der unsichtbaren wendet der Gedankengang sich der sichtbaren Kirche und deren Beamten zu (153). Was ist das Kriterium dafür, daß eine sichtbare Kirche die wahre sichtbare Kirche ist? „Die wahre (sichtbare) Kirche ist diejenige, welche das (moralische) Reich Gottes auf Erden, so viel es durch Menschen geschehen kann, darstellt“ (101). Sie enthält ein Prinzip, sich dem reinen Vernunftglauben beständig zu nähern und den Kirchenglauben entbehrlich zu machen. Der Text unterscheidet zwischen „Glauben“ und „Religion“. „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (107). Der reine praktische Vernunftglaube ist die Religion in jedem Glauben. Die Gesetze und Beamten einer sichtbaren Kirche leisten einen „Dienst“, wenn ihre Lehren und Anordnungen dem letzten Zweck einer sichtbaren Kirche, sich dem Vernunftglauben beständig zu nähern, dienen; insofern die Beamten das tun, sind sie Diener der wahren sichtbaren Kirche. Wenn sie dagegen „die Maxime der continuirlichen Annäherung“ an den öffentlichen

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Religionsglauben für verwerflich halten und den historischen Kirchenglauben für allein seligmachend erklären, dann machen sie sich des „Afterdienstes“ an der wahren sichtbaren Kirche schuldig, d. h. sie machen das, was nur ein Mittel ist, zum Zweck und vereiteln damit den letzten Zweck der wahren sichtbaren Kirche. Der „Obere“ der wahren sichtbaren Kirche ist Gott als der moralische Weltherrscher. Was uns ihm unmittelbar wohlgefällig macht, ist das sittliche Handeln. Der Afterdienst setzt eine „gottesdienstliche“ an die Stelle „einer reinen moralischen Religion“ (103) und „vereitelt“ so die „Absicht“ Gottes.

9.2 Natürliche, geoffenbarte und gelehrte Religion Die von der zweiten Kritik her bekannte Definition (153; vgl. KpV, V 129) erfaßt die Religion unter einer bestimmten Rücksicht; sie betrachtet sie „subjectiv“, d. h. als propositionale Einstellung des Subjekts; Religion objektiv betrachtet wäre dann die Lehre der natürlichen Religion oder der Offenbarung (vgl. 10,19; 12,8). Ich kann etwas als Pflicht erkennen, weil ich weiß, daß es göttliches Gebot ist; dabei kann ich, daß es göttliches Gebot ist, nur aus der Offenbarung wissen; in diesem Fall handelt es sich um eine „geoffenbarte“ Religion. Wenn ich dagegen weiß, daß etwas Pflicht ist, und daraus schließe, daß es sich um ein göttliches Gebot handelt, habe ich eine „natürliche Religion“ (153 f.). Die Fußnote (153 f.) hebt hervor, daß diese Definition zwei Mißverständnissen von Religion vorbeugen soll. (1.) In einem religiösen Bekenntnis wird kein theoretisches Wissen behauptet; wenn ein religiöses Bekenntnis verlangt wird, darf das nicht so verstanden werden, als sei das Bekenntnis nur dann ehrlich, wenn der Betreffende den Sachverhalt, den er bekennt, z. B. daß Gott existiert, weiß, denn von Gegenständen jenseits der Grenzen möglicher Erfahrung kann es kein Wissen geben. Unter theoretischer Rücksicht ist das religiöse Bekenntnis vielmehr ein „problematisches Annehmen“. „Problematische Urtheile sind solche, wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß möglich (beliebig) annimmt. Assertorische, da es als wirklich (wahr) betrachtet wird“ (KrV, B 100). Dagegen handelt es sich unter praktischer Rücksicht um ein „freies assertorisches Glauben“. Der „Gegenstand“ (KpV, V 109), „wohin uns unsere moralisch-gebietende Vernunft zu wirken anweiset“, ist das höchste Gut, dessen Möglichkeit die Existenz Gottes voraussetzt; wir können der Anweisung der praktischen Vernunft nur folgen, wenn wir den Gegenstand, auf den hin wir wirken sollen, für möglich halten, indem wir die Existenz Gottes postulieren. Aber dazu

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bedarf es nur der „Idee von Gott“, ohne daß wir deren objektive Realität durch theoretische Erkenntnis sichern könnten. (2.) Die Definition wendet sich gegen die Vorstellung, Religion sei „ein Inbegriff besonderer, auf Gott unmittelbar bezogener Pflichten“. Es gibt nur Pflichten von Menschen gegen Menschen, aber keine besonderen Pflichten gegen Gott, „denn Gott kann von uns nichts empfangen; wir können auf ihn und für ihn nicht wirken“. Die Ehrfurcht, die wir Gott schulden, ist nicht eine besondere Handlung, sondern „die religiöse Gesinnung bei allen unseren pflichtmäßigen Handlungen überhaupt“; sie besteht in der Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote. – „Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apg 5,29) bedeutet: Bei einem Konf likt von statutarischen Geboten mit Vorschriften der Vernunft muß man den Vorschriften der Vernunft folgen. Wollte man dagegen hier unter dem, was Gott gebietet, die von einer Kirche dafür ausgegebenen Gebote Gottes verstehen, so könnte das zu einem Aufruhr von Pfaffen gegen die „bürgerliche Obrigkeit“ führen. Aber diese Auslegung ist falsch, denn das Erlaubte, das die bürgerliche Obrigkeit gebietet, „ist gewiß Pflicht“; ob aber etwas, das wir nur durch Offenbarung als Gebot Gottes erkennen können, tatsächlich von Gott geboten sei, ist „höchst ungewiß“. Die folgenden Unterscheidungen (154, Z. 5–155, Z. 15) setzen voraus, daß Religion „moralisch-notwendig, d. i. Pflicht“ ist. Nach der Tugendlehre ist Religion Pflicht des Menschen gegen sich selbst; „Religionspflicht“ wird definiert als „Erkenntniß aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (MS, VI 443); es ist die Pflicht „zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft“ (MS, VI 487). Gesichtspunkt der Unterscheidung ist, welche Religion jemand für Pflicht erklärt. Der „Rationalist“ hält ausschließlich die natürliche Religion für Pflicht; bestreitet er die Wirklichkeit aller übernatürlichen Offenbarung, so heißt er „Naturalist“; der „reine Supernaturalist“ behauptet, ohne den Glauben an eine Offenbarung könne es keine Form der Religion geben. Der „reine Rationalist“ bestreitet nicht die Wirklichkeit der Offenbarung, behauptet aber, es sei nicht notwendig sie zu kennen, um Religion zu haben. Die Kontroverse über das Verhältnis von geoffenbarter und natürlicher Religion kann „nur die wechselseitigen Ansprüche des reinen Rationalisten und des Supernaturalisten in Glaubenssachen“ betreffen. Es geht also um die Frage: Ist die Offenbarung notwendige und hinreichende Bedingung für die allein wahre Religion (so der Supernaturalist), oder ist sie nicht notwendige Bedingung, so daß jede Beziehung zwischen der Offenbarung und der reinen Vernunftreligion „zufällig“ ist (so der reine Rationalist)? Der Naturalist scheidet als Gesprächspartner aus, weil er die Möglichkeit einer Offenbarung bestreitet. Der Rationalist muß sich innerhalb der Grenzen der menschlichen Erkenntnis halten. Deshalb kann er weder die „innere Möglichkeit“ einer Offenbarung noch deren Notwendigkeit als göttliches Mittel zur Einführung der wahren Religion bestreiten.

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Die Unterscheidung zwischen geoffenbarter und natürlicher Religion (154) wird ergänzt durch die zwischen natürlicher und gelehrter Religion (155–157). In beiden Unterscheidungen ist das eine Glied die natürliche Religion; sie dienen dazu, unterschiedliche Eigenschaften der natürlichen Religion hervorzuheben. Die Frage, die durch diese Unterscheidungen geklärt werden soll, lautet: Welche Religion ist geeignet, eine „allgemeine Menschenreligion“ zu sein? Für eine Antwort reicht die erste Unterscheidung allein nicht aus. In natürliche und geoffenbarte wird die Religion „nach ihrem ersten Ursprunge und nach ihrer innern Möglichkeit“ eingeteilt. Der erste Ursprung ist entweder das historische Ereignis einer Offenbarung oder die praktische Vernunft, das Bewußtsein der Pflicht (vgl. 154). Was unter der „innern Möglichkeit“ zu verstehen ist, wird nicht erläutert. Außer von der „innern Möglichkeit“ spricht Kant auch von der „innern Beschaffenheit“ (156); sie besteht darin, daß von einer natürlichen Religion „jedermann durch seine Vernunft überzeugt werden kann“ (155). Es ist anzunehmen, daß es sich bei der „innern Möglichkeit“ um dieselbe Eigenschaft handelt; sie wird einmal betrachtet unter der Rücksicht des Ursprungs und dann unter der Rücksicht der Mitteilbarkeit der Religion. Gesichtspunkt der Einteilung der Religion in natürliche und gelehrte ist die Frage, welche Eigenschaft eine Religion „der äußern Mittheilung fähig macht“, d. h. wodurch ein Mensch von einer Religion überzeugt werden kann. Das ist bei der natürlichen Religion die eigene Vernunft. Die Argumente für die natürliche Religion werden vorgetragen, und jeder muß „durch seine Vernunft“ entscheiden, ob sie überzeugend sind. Dagegen kann man von der gelehrten Religion andere nur mittels der Gelehrsamkeit überzeugen. Wenn eine Religion auf historischen Tatsachen beruht, dann setzt die Überzeugung von der Wahrheit der Religion das entsprechende historische Wissen voraus. Man kann andere nur „vermittelst der Gelehrsamkeit (in und durch welche sie geleitet werden müssen) überzeugen“ (155). Sie müssen „durch“ die Gelehrsamkeit geleitet werden, d. h. der Lehrer muß sie durch sein Wissen zur Überzeugung führen; sie müssen „in“ die Gelehrsamkeit geleitet werden, d. h. er muß sie zu einem Wissen führen, das als Grundlage der religiösen Überzeugung ausreicht. Nur eine Religion, die nicht durch Gelehrsamkeit vermittelt wird, sondern von der „jedermann durch seine Vernunft überzeugt werden kann“ („die erstere Eigenschaft“) ist eine Religion, „die jeden Menschen verbinden soll“. Aus der Unterscheidung der Religion hinsichtlich ihres ersten Ursprungs und ihrer inneren Möglichkeit folgt (155 f.), daß eine Religion die natürliche Religion und dennoch geoffenbart sein kann. Was ihren Ursprung betrifft, so ist sie eine natürliche Religion, insofern „die Menschen durch den bloßen Gebrauch ihrer Vernunft auf sie von selbst hätten kommen können und sollen“; was ihre innere Möglichkeit betrifft, ist sie insofern eine natürliche Religion als, nachdem sie durch eine Offenbarung öffentlich bekannt gemacht worden ist, jeder von ihrer Wahrheit sich

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„durch sich selbst und seine eigene Vernunft überzeugen kann“. Der Beitrag der Offenbarung besteht lediglich darin, daß diese Religion „so früh, oder in so weiter Ausbreitung, als verlangt wird“, bekannt gemacht wird; welcher Zeitpunkt bzw. welche Ausbreitung verlangt werden und wie diese Forderung begründet wird, bleibt offen. Eine solche Religion wäre von ihrem Inhalt her („objectiv“) eine natürliche, und lediglich, was die Art angeht, wie die Menschen von ihr Kenntnis erhalten haben („subjectiv“), eine geoffenbarte Religion. Für ihre Rechtfertigung würde sie sich ausschließlich auf die Vernunft und nicht auf eine göttliche Offenbarung berufen; die Tatsache der Offenbarung könnte völlig in Vergessenheit geraten, ohne daß diese Religion etwas von ihrer Überzeugungskraft verlöre. Der natürlichen und geoffenbarten wird die Religion gegenübergestellt, die „ihrer innern Beschaffenheit wegen“, d. h. weil sie nicht in sich einsichtig ist, „nur als geoffenbart angesehen werden kann“. Ohne ein gesichertes historisches Wissen oder eine wiederholte übernatürliche Offenbarung „würde sie aus der Welt verschwinden“. Eine solche nur geoffenbarte Religion ist jedoch logisch nicht möglich; der Begriff einer nur geoffenbarten Religion ist in sich widersprüchlich; er ist eine contradictio in adiecto. Denn Religion ist „ein reiner Vernunftbegriff“ (156), wogegen Offenbarung ein „historisches System“ (12) ist; eine nur geoffenbarte Religion wäre also das hölzerne Eisen eines Systems von historischen Vernunftwahrheiten. Religion ist ein reiner Vernunftbegriff, weil „das moralische Gesetz durch den Begriff des höchsten Guts, als das Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft, zur Religion, d. i. zur Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote“ führt (KpV,V 129), und auch in der geoffenbarten Religion erkenne ich ein göttliches Gebot „als meine Pflicht“ an (154). Weil Religion „ein reiner Vernunftbegriff“ ist, kann Offenbarung „zum Begriff einer Religion nur durch die Vernunft hinzugedacht werden“ (156). Offenbarung wird zum Begriff einer Religion hinzugedacht als ein göttliches Mittel, durch das diese Religion eingeführt und öffentlich bekannt gemacht wurde. Folglich muß auch die geoffenbarte Religion „gewisse Principien der natürlichen enthalten“ (156). Daraus ergibt sich die Aufgabe zu prüfen, was an einer geoffenbarten Religion der natürlichen und was der gelehrten Religion zuzurechnen ist. Ein oft gegen Kants Begriff der Religion vorgebrachter Einwand lautet, hier werde Religion auf Moral reduziert. Das sittliche Bewußtsein, so ist zu antworten, ist für Kant der Ausgangspunkt des Verhältnisses zu Gott, der andere Dimensionen, etwa die der Hoffnung, nicht ausschließt, sondern eröffnet. Aber mein Verhältnis zu Gott, so betont dieser Begriff mit der Bibel, entscheidet sich daran, ob ich seine Gebote halte. Kritisch ist dagegen Kants Begriff der Offenbarung zu sehen, der zunächst durch einen Vergleich mit Thomas von Aquin verdeutlicht werden soll. Die Offenbarung, so Thomas (Summa theologiae I q.1 a.2 und 2), teilt dem Menschen

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Wahrheiten über Gott mit, die der Mensch kennen muss, um sein Heil zu erlangen. Dabei unterscheidet Thomas zwischen Wahrheiten, die die menschliche Vernunft übersteigen, und solchen, die zwar an sich der menschlichen Vernunft zugänglich sind, die aber von der allein auf sich gestellten menschlichen Vernunft nur unter größten Schwierigkeiten gefunden werden könnten. Auch die Inhalte der Offenbarung, welche die menschliche Vernunft übersteigen, sind Gegenstand des Wissens, also in sich vernünftig, aber es das Wissen Gottes und der Seligen und nicht des Menschen, in dem diese Wahrheiten erfasst werden. Charakteristisch für Kants Begriff der Offenbarung ist die Beschränkung auf die zweite der beiden von Thomas genannten Funktionen. Inhalt der Offenbarung ist die Vernunftreligion; die Offenbarung kennt keine Inhalte, die als solche der menschlichen Vernunft nicht zugänglich sind; sie ist ausschließlich ein Mittel „zur Introduction der wahren Religion“ (155), d. h. der Vernunftreligion. Der thomanische Begriff der Offenbarung wirft das Problem auf, wie der Mensch es verantworten kann, einer Wahrheit zuzustimmen, die ihm selbst nicht einsichtig ist. Kant wird im Folgenden beim christlichen Glauben unterscheiden zwischen einem reinen Vernunftglauben und einem Offenbarungsglauben. Der Offenbarungslaube ist ein historischer Glaube, der nur als gelehrter Glaube ein verantworteter Glaube sein kann und der im Dienst des Vernunftglaubens steht. Über eine geoffenbarte Religion oder über eine Religion, von der allgemein angenommen wird, sie sei geoffenbart, läßt sich nur anhand eines Beispiels „aus der Geschichte“ reden, denn eine geoffenbarte Religion ist ein „historisches System“ (12) und als solches, im Unterschied zum reinen Vernunftbegriff der Religion, ein empirisch gegebenes Einzelnes. Wir sind deshalb, um verstanden zu werden, auf Beispiele angewiesen. Wollte man, aus Ehrfurcht vor der historischen Offenbarung, Beispiele erfinden, so könnte deren Möglichkeit bestritten werden. Am besten erläutern wir unseren Begriff der geoffenbarten Religion am Beispiel eines Buches, in dem die geoffenbarte Religion mit Lehren der sittlichen Vernunft verwoben ist; an diesem Beispiel könnte man dann das Verfahren demonstrieren, in einer geoffenbarten Religion die allgemeine Vernunftreligion aufzuzeigen. Dieses Buch ist das Neue Testament. Damit will der Philosoph nicht in das Geschäft des gelehrten Theologen, die Auslegung der historischen Offenbarung, eingreifen; vielmehr ist seine Auslegung für die des gelehrten Theologen vorteilhaft, denn beide verfolgen das Ziel, den moralischen Sinn der Schrift zu erkennen.

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9.3 „Die christliche Religion als natürliche Religion“ Die natürliche Religion ist die Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, „in der ich zuvor wissen muß, daß etwas Pflicht sei, ehe ich es für ein göttliches Gebot anerkennen kann“ (154). Dieser Begriff wird jetzt näher entfaltet (157, Z. 17–158, Z. 17). Sie ist das Bewußtsein des moralischen Gesetzes, durch das wir uns der Freiheit, die Bedingung (ratio essendi) des moralischen Gesetzes ist, bewußt werden. Das moralische Gesetz schreibt uns einen Zweck vor, und die Ideen von Gott und Unsterblichkeit sind „Bedingungen des nothwendigen Objects eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens“ (KpV, V 4). Die natürliche Religion ist ein reiner praktischer Vernunftbegriff, und „es ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst, diese unumgänglich der Vernunft sich darbietende Idee auf das moralische Gesetz in uns, wo es [B ändert: „sie“] von der größten sittlichen Fruchtbarkeit ist, anzuwenden“ (MS, VI 444). Weil dieser reine praktische Vernunftbegriff nur „wenig theoretisches Vernunftvermögen voraussetzt“, kann diese Pflicht jedem Menschen zugemutet werden (vgl. 154). Die Pflicht zur natürlichen Religion hat für jedermann, d. h. für alle zusammen („universitas“) und für jeden einzelnen („omnitudo distributiva“), Gültigkeit. Dadurch bewirkt sie „Einhelligkeit“, d. h. die Übereinstimmung aller; alle stimmen darin überein, daß die natürliche Religion Pflicht ist. Damit qualifiziert sie „zur Allgemeinheit“, d. h. „zur allgemeinen Vereinigung in eine einzige Kirche“ (101), die ein Kennzeichen der wahren sichtbaren Kirche ist. Die natürliche Religion kann sich als „Weltreligion“ ausbreiten. Dazu bedarf es einer Dienerschaft der „unsichtbaren Kirche“ (vgl. 101); das sind Lehrer, welche die Idee von einem ethischen allgemeinen Wesen verbreiten. Aber die natürliche Religion ist lediglich eine Voraussetzung („Qualification“) der „Allgemeinheit“, „weil durch Vernunftreligion jedes Einzelnen noch keine Kirche als allgemeine Vereinigung (omnitudo collectiva) existirt, oder auch durch jene Idee eigentlich beabsichtigt wird“. Die durch die natürliche Religion gegebene Einhelligkeit erhält und verbreitet sich nicht aus sich selbst, sondern nur, wenn eine Vereinigung in eine sichtbare Kirche nach Prinzipien der reinen Vernunftreligion „dazu kommt“. Diese Vereinigung entspringt aber nicht von selbst aus der Einhelligkeit, und selbst wenn das der Fall wäre, hätte diese Verbindung nicht die stabile Form einer „Gemeinschaft der Gläubigen“. Die Einhelligkeit würde lediglich bewirken, daß, „wie oben gezeigt worden“, „ein jeder seiner Privatpflicht gehorcht“ (151; vgl. 97 f.), ohne zu glauben, dabei auf die anderen angewiesen zu sein und ohne daß die einzelnen durch ein gemeinsames Ziel miteinander verbunden wären. Es ist aber „eine besondere Pflicht der Menschen“, eine Pflicht „des menschlichen Geschlechts gegen sich

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selbst“ (97), sich zu einer allgemeinen sichtbaren Kirche nach Prinzipien einer reinen Vernunftreligion zu verbinden. Das ist jedoch nur möglich, wenn zu den natürlichen, durch bloße Vernunft erkennbaren Gesetzen von Menschen erlassene, aber autoritative Verordnungen hinzukommen. Wer auf diese Weise eine allgemeine sichtbare Kirche gestiftet hat, ist eine historische Tatsachenfrage, die mit Hilfe des reinen Vernunftbegriffs der natürlichen Religion allein nicht beantwortet werden kann. Die Kriterien, anhand derer diese Tatsachenfrage entschieden werden kann, wurden im vorhergehenden Abschnitt begründet; sie wurden abgeleitet aus dem Begriff der natürlichen Religion und der Pflicht zur Gründung eines ethischen gemeinen Wesens; jetzt werden sie in einem langen Bedingungssatz ausführlich entfaltet (158, Z. 18–159, Z. 11). Wir nehmen einen Lehrer an, von dem historisch zuverlässig überliefert ist, daß er eine natürliche Religion gelehrt hat; seine Lehre ist uns überliefert, so daß wir sie selbst prüfen können. Er hat sich mit dieser Lehre gegen einen damals allgemein herrschenden Kirchenglauben gewandt, der keinem moralischen Zweck diente; er hat die eine wahre Vernunftreligion zur obersten notwendigen Bedingung eines jeden Glaubens (vgl. 107) gemacht; er hat den Vernunftprinzipien gewisse positive Anordnungen hinzugefügt, „die zu Mitteln dienen sollen, eine auf jene Principien zu gründende Kirche zu Stande zu bringen“. Wenn wir einen solchen Lehrer annehmen, dann können wir ihm das Ansehen nicht streitig machen, der Stifter der wahren sichtbaren Kirche (vgl. 101) zu sein. „Man kann nach dieser Beschreibung die Person nicht verfehlen, die zwar nicht als Stifter der von allen Satzungen reinen in aller Menschen Herz geschriebenen Religion […], aber doch der ersten wahren Kirche verehrt werden kann.“ Die Menschen in die wahre sichtbare Kirche zu berufen, ist eine göttliche Sendung. Um diese Würde zu bestätigen, soll gezeigt werden, daß einige der Lehren dieser Person „zweifelsfreie Urkunden einer Religion überhaupt“ sind. Die göttliche Sendung bedarf keines geschichtlichen Beweises; ihre Beglaubigung liegt vielmehr darin, daß in der Lehre des Stifters der wahren sichtbaren Kirche die Idee einer Religion überhaupt bezeugt wird. Diese „Urkunden einer Religion überhaupt“ können nur „reine Vernunftlehren“ sein, die als solche sich selbst beweisen; sie bilden die Grundlage für die Glaubwürdigkeit der anderen Lehren. Im Folgenden (159–163) werden solche reinen Vernunftlehren, die sich im Neuen Testament finden, angeführt. Die Bergpredigt (Mt 5,20–48) lehrt, „daß nicht die Beobachtung äußerer bürgerlicher oder statutarischer Kirchenpflichten, sondern nur die reine moralische Herzensgesinnung den Menschen Gott wohlgefällig machen könne“; aber diese reine Gesinnung muß durch Taten bewiesen werden (Mt 7,16). Wer so lebt, tut dem, von der reinen Vernunftreligion ausgelegten, jüdischen Gesetz völlig Genüge (Mt 5,17). Die Rede von der engen Pforte und dem schmalen Weg (Mt 7,13) richtet sich

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gegen die, welche ihre Kirchenpflichten erfüllen, um sich ihrer wahren moralischen Pflicht zu entziehen. Das größte Gebot (Mt 22,37–39) ist eine Zusammenfassung aller Pflichten in einer allgemeinen und einer besonderen Regel. Die allgemeine Regel begreift „sowohl das innere, als das äußere Verhältnis der Menschen in sich“; sie lautet: „thue deine Pflicht aus keiner andern Triebfeder, als der unmittelbaren Werthschätzung derselben“ (das innere Verhältnis), „d. i. liebe Gott (den Gesetzgeber aller Pflichten) über alles“ (das äußere Verhältnis). Die besondere Regel („liebe einen jeden als dich selbst“) verlangt, das Wohl der anderen Menschen „aus unmittelbarem, nicht von eigennützigen Triebfedern abgeleitetem Wohlwollen“ zu fördern. Diese Gebote sind „Vorschriften der Heiligkeit“ (161, vgl. 159, Mt 5,48), d. h. sie fordern „die völlige Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Gesetz“. Nach dieser Vollkommenheit, „deren kein vernünftiges Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkte seines Daseins fähig ist“ (KpV, V 122), zu streben ist „Tugend“. Der natürlichen Erwartung, daß das sittliche Verhalten des Menschen mit der Glückseligkeit belohnt werde, entspricht die Schrift dadurch, daß sie die „Belohnung einer künftigen Welt“ verheißt (Mt 5,11 f.), aber sie unterscheidet zwischen denen, die ihre Pflicht um der Belohnung, und denen, die sie „bloß um ihrer selbst willen“ taten. Von der ersten Gruppe handelt das Gleichnis vom ungetreuen Verwalter (Lk 16,1–9). Der Herr im Gleichnis steht für den Eigennutz. Wer um des Lohns in einer anderen Welt willen auf etwas verzichtet, sagt sich damit nicht vom Eigennutz los; vielmehr verfeinert er ihn und dehnt ihn über die Grenzen des gegenwärtigen Lebens hinaus aus. Er setzt etwas, das seinem Herrn, dem Eigennutz zusteht, von der Rechnung eines bedürftigen Menschen ab, aber er läßt sich dafür sozusagen eine Anweisung, die in einer anderen Welt zahlbar ist, ausschreiben. Er handelt „mehr klüglich als sittlich“; seine wohltätige Handlung entspricht dem Buchstaben des sittlichen Gesetzes, aber seine Triebfeder ist der Eigennutz. Vom Eigennutz als Triebfeder unterscheidet Kant die Hoffnung, daß eine Handlung, die dem Buchstaben des Sittengesetzes entspricht, „nicht unvergolten bleiben dürfe“. Es ist unklar, welche Handlung zu dieser Hoffnung berechtigt. Im Text scheint es die dem Buchstaben nach gute, aber eigennützige Handlung zu sein; dagegen berechtigt nach der Fußnote eine Handlung nur „nach dem Maße, als er hierin eine reine gute Absicht hegt“ zu dieser Hoffnung. Die andere Gruppe ist in Mt 25,35–40 beschrieben; sie werden „gerade eben darum, weil sie es ohne Rücksicht auf Belohnung thaten, für die eigentlichen Auserwählten zu seinem Reich erklärt“. Vergleicht man beide Stellen, so sieht man, daß das Evangelium, wenn es von der Belohnung in der künftigen Welt spricht, diese nicht zur Triebfeder der Handlungen machen will, sondern „zum Object der reinsten Verehrung und des größten moralischen Wohlgefallens für eine die Bestimmung des Menschen im Ganzen beurtheilende Vernunft“. Der Mensch hat als vernünftiges und zugleich der Zurechnung fähiges Wesen eine moralische Bestimmung (vgl. 26), und er verlangt

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als vernünftiges, aber endliches Wesen notwendig danach, glücklich zu sein (vgl. KpV,V 25). Die Vollendung der göttlichen Güte und Weisheit zeigt sich darin, daß sie dem Menschen, der seiner moralischen Bestimmung lebt, auch die Glückseligkeit schenkt. „Denn der Glückseligkeit bedürftig, ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teilhaftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wollen eines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Gewalt hätte […], gar nicht zusammen bestehen“ (KpV, V 110). Die Belohnung in der künftigen Welt ist Gegenstand der reinsten Verehrung und des größten moralischen Wohlgefallens, weil sie zeigt, daß der Mensch, der seine moralische Bestimmung erfüllt, auch glückselig wird und so seine Bestimmung „im Ganzen“ erlangt. Das Christentum ist eine „vollständige Religion“: Es ist eine natürliche Religion, und es hat darüber hinaus die für die Gründung einer sichtbaren Kirche notwendigen statutarischen Verordnungen; überdies ist seine Lehre an einem Beispiel anschaulich gemacht worden. Weil die Lehre des Christentums „allen Menschen durch ihre eigene Vernunft faßlich und überzeugend vorgelegt werden kann“, bedarf weder die Wahrheit seiner Lehre noch die Würde des Lehrers einer äußeren Beglaubigung, etwa durch Wunder. Eine solche Beglaubigung könnte nur durch Gelehrsamkeit vermittelt werden und wäre damit nicht jedem Menschen zugänglich. Wenn das Neue Testament sich auf den Pentateuch, die Gesetzgebung des Mose, oder auf alttestamentliche Vorbilder für den Messias oder auf Vorhersagen der Propheten beruft, dann dient das nicht im Sinne eines Schriftbeweises der Bestätigung der Wahrheit seiner Lehren, sondern der „Introduction“, d. h. als Anknüpfungspunkt und Hinführung für Menschen, die in der statutarischen Religion des Judentums aufgewachsen sind.

9.4 „Die christliche Religion als gelehrte Religion“ Aufgabe des so überschriebenen Zweiten Abschnitts ist es, den wahren „Dienst“ der christlichen Kirche vom „Afterdienst“ (165) zu unterscheiden. Zu diesem Zweck müssen verschiedene Begriffe geklärt und Unterscheidungen vorgenommen werden. Eine Religion ist insofern eine gelehrte Religion, als sie verbindliche Glaubenssätze lehrt, die nicht durch die Vernunft als solche erkannt werden können. Anfangs wurden diese Sätze durch Wunder bestätigt; den nachfolgenden Generationen muß die Nachricht von diesen Wundern durch Urkunden vermittelt werden. Der Akt, durch den die Grundsätze einer Religion angenommen werden, heißt Glaube. Der christliche Glaube ist einerseits ein reiner Vernunftglaube, der ein freier Akt der Zustimmung (fides elicita) zu in sich einsichtigen Vernunftwahrheiten ist. Andererseits ist er ein Offenbarungsglaube, d. h. ein Akt der Zustimmung zu nicht in sich einsichtigen Sachverhalten. Dieser Akt ist geboten (fides imperata), weil

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die Gründung und der Bestand einer sichtbaren Kirche darauf beruhen, daß ihre Glieder positiv gesetzte, aber verbindliche Statuten annehmen. Kant unterscheidet zwischen der christlichen Religion und dem christlichen Glauben. „Es ist nur eine (wahre) Religion; aber es kann vielerlei Arten des Glaubens geben“ (107). Insofern die christliche Lehre auf bloße Vernunftbegriffe gebaut ist, heißt sie die christliche Religion; insofern sie auf historische Tatsachen gebaut ist, z. B. auf Wunder, welche die Glaubenssätze bestätigen, die nicht durch die Vernunft erkannt werden können, heißt sie der christliche Glaube. Die christliche Kirche hat deshalb einen zweifachen Dienst: den Dienst am „historischen Glauben“ und den Dienst am „moralischen Vernunftglauben“. In der christlichen Kirche, so betont Kant, sind der historische Glaube und der moralische Vernunftglaube aufeinander verwiesen; keiner von beiden „kann in der christlichen Kirche als für sich allein bestehend von dem anderen getrennt werden“ (164). Warum, so ist zu fragen, kann der moralische Vernunftglaube nicht vom historischen Glauben getrennt werden? In welchem Sinn ist der moralische Vernunftglaube auf den historischen Glauben angewiesen? Die Offenbarungslehre und mit ihr der historische Glaube, so könnte man antworten, sind „ein höchst schätzbares Mittel“, um dem Vernunftglauben „Faßlichkeit, selbst für den Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben“ (165). Eine andere mögliche Interpretation ist, dass hier nicht auf eine sachliche Notwendigkeit, sondern auf eine Faktizität hingewiesen werden soll; in der christlichen Kirche besteht diese Abhängigkeit, und daß sie besteht, beruht nicht auf einer sachlichen Notwendigkeit; es ist vielmehr das Ergebnis einer historischen Entwicklung. Beide sind aufeinander verwiesen, so kann man die unmittelbar sich anschließende Begründung lesen, aufgrund des historischen Faktums, daß der christliche Glaube „ein Religionsglaube“ und ein „gelehrter Glaube“ (164) ist. Es ist vor allem der Schluß des Zweiten Abschnitts (167, 7–25), der die zweite Interpretation nahelegt. Dort wird die historische Entwicklung, die zur Verbindung von Vernunftglauben und historischem Glauben führt, beschrieben und zugleich gezeigt, daß sie eine Fehlentwicklung ist: Der historische Glaube, der nur ein Mittel für die Faßlichkeit, Ausbreitung und Beharrlichkeit des Vernunftglaubens ist, wurde von den Stiftern der Kirche „unter die wesentlichen Artikel des Glaubens“ aufgenommen und damit vom Mittel zum Zweck verkehrt. Die Termini „Offenbarunglaube“ (163), „historische[r] Glaube“ (164), „Geschichtsglaube“ (164) und „gelehrter Glaube“ haben dieselbe Extension; „historischer Glaube“ und „Geschichtsglaube“ sind Synonyma, und die restlichen Termini unterscheiden sich durch ihre Intension. Der Offenbarungsglaube wird mit dem statutarischen Kirchenglauben gleichgesetzt, der „dem reinen Religionsglauben als Vehikel und Mittel der öffentlichen Vereinigung der Menschen zur Beförderung des Letztern beigegeben“ werden muß (106 f.). Er ist aufbewahrt in der Schrift, die das

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„Ansehen gleich einer Offenbarung“ behaupten kann, weil sie neben den „Statuten als Glaubensgesetzen zugleich die reinste moralische Religionslehre mit Vollständigkeit enthält, die mit jenen (als Vehikeln ihrer Introduction) in die beste Harmonie gebracht werden kann“ (107). Der Offenbarungsglaube ist insofern ein historischer Glaube (vgl. 108 f.), als er auf der Annahme beruht, daß die Wunder, durch welche die geoffenbarten Glaubenssätze bestätigt wurden, historische Tatsachen sind. Er ist ein gelehrter Glaube, insofern diese Überzeugung nur durch Gelehrte vermittelt werden kann. Als gelehrter Glaube ist der christliche Glaube nicht, wie ein reiner Vernunftglaube, ein an sich freier Glaube, weil er „objectiv“, d. h. was seinen Gegenstand, die historischen Sachverhalte, betrifft, auf Gelehrsamkeit beruht und nicht von der Einsicht in hinreichende theoretische Beweisgründe abgeleitet ist. Diese Aussage wird eingeschränkt; der historische Glaube könnte ein „theoretisch freier Glaube“ (164) sein, wenn jedermann gelehrt wäre. Wenn er aber auch für den Ungelehrten gelten soll, ist er nicht bloß ein gebotener Glaube; vielmehr kann der Ungelehrte nicht einmal prüfen, ob Gott diesen Glauben tatsächlich gebietet. Es ist also ein blinder Glaube (fides servilis), der nicht einmal voraussetzen kann, daß dieser Glauben tatsächlich göttliches Gebot ist. Wie kann die christliche Offenbarungslehre den Menschen vermittelt werden (164, Z. 26–165, Z. 7)? Man kann nicht mit dem „unbedingten Glauben“ an geoffenbarte Sätze, die als solche der Vernunft nicht zugänglich sind, anfangen und der Gelehrsamkeit lediglich die Aufgabe zuweisen, diese Sätze, würden sie angegriffen, zu verteidigen, denn dann wäre der christliche Glaube ein blinder Glaube (fides servilis). Eine zweite Möglichkeit wäre, den christlichen Glauben als historischen Glauben zu lehren, also den Menschen die für ihre freie Zustimmung notwendigen historischen Kenntnisse zu vermitteln (fides historice elicita). Das hätte eine hierarchische Kirche aus Klerikern (Beamten) und Laien zu Folge. Die kleine Zahl der Schriftgelehrten (Kleriker) würde den langen Zug der Ungelehrten (Laien), deren Glaube abhängig wäre von dem historischen Wissen, das die Kleriker ihnen vermitteln, nach sich schleppen. Eine solche Kirche trüge nicht die Kennzeichen der wahren sichtbaren Kirche; sie wäre keine Familie, deren Glieder durch eine „freiwillige, allgemeine und fortdauernde Herzensvereinigung“ (102) miteinander verbunden sind. Soll dies nicht geschehen, so bleibt nur die dritte Möglichkeit: Die natürliche Religion muß als das oberste Prinzip anerkannt und die Offenbarungslehre muß als bloßes Mittel für deren Faßlichkeit, Ausbreitung und Beharrlichkeit gepflegt werden. Diesem „wahre[n] Dienst der Kirche“ wird der „Afterdienst“ gegenüber gestellt, der die moralische Ordnung umkehrt und das, was nur Mittel ist, „unbedingt“, d. h. als Zweck, gebietet. Kant skizziert die historische Entwicklung, so wie er sie sieht, die vom Dienst zum Afterdienst geführt habe (165, Z. 34–167, Z. 29). Der christliche Glaube, so hatte

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er betont, steht mit dem jüdischen Glauben „in ganz und gar keiner wesentlichen Verbindung“, obwohl dieser unmittelbar vorhergegangen war und zur Gründung der christlichen Kirche „die physische Veranlassung gab“ (125). Dennoch benutzten die ersten Christen „klüglich“ das Alte Testament, um der Lehre Christi unter den Juden Eingang zu verschaffen. Das führte zu dem Mißverständnis, man müsse „das ganze heilige Buch dieses Volks als göttliche, für alle Menschen gegebene Offenbarung gläubig annehmen“. Moses Mendelssohn („Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“, 1783) beruft sich auf diese Deutung, um die Forderung zurückzuweisen, ein „Sohn Israels“ müsse Christ werden. Dagegen macht Kant zwei Einwände: (a) Die Echtheit dieses Buches ist nicht erwiesen; es gibt in den überlieferten Schriften anderer Völker keine Hinweise, die für seine historische Glaubwürdigkeit sprechen. (b) Wenn es echt wäre, brauchte man, „um der Welt die wahre Religion zu sichern“, für „alle künftige Zeit und in allen Völkern Gelehrte, die der hebräischen Sprache […] kundig sind“. Die „heiligen Begebenheiten“ der christlichen Religion haben sich in einer Zeit ereignet, über die wir durch zeitgenössische Quellen gut informiert sind; dennoch hat es mehr als ein Menschenalter gedauert, bis die zeitgenössische Geschichtsschreibung das Christentum zur Kenntnis nahm; die historischen Ereignisse, auf denen das Christentum beruht, sind also nicht durch Zeitgenossen bestätigt. Die christliche Religion hat aber vor dem Judentum den großen Vorteil, daß sie „aus dem Munde des ersten Lehrers“ als moralische Religion hervorgegangen ist, die als solche auch ohne historische Gelehrsamkeit verbreitet werden konnte. Die ersten Stifter der Gemeinden haben, um der Lehre Eingang zu verschaffen, damit „die Geschichte des Judenthums“ verflochten. „Die Stifter der Kirche aber nahmen diese episodischen Anpreisungsmittel unter die wesentlichen Artikel des Glaubens auf“ und vermehrten sie mit Auslegungen, die „durch Gelehrsamkeit beurkundet wurden“. Wie viele Veränderungen dem Glauben von der Gelehrsamkeit „oder ihrem Antipoden, dem innern Licht, welches sich jeder Laie auch anmaßen kann“ noch bevorstehen, ist noch nicht abzusehen. Das „innere Licht“ ist eine Anspielung auf Mt 5,15: „Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel“. Es ist das „innere Licht (‚unter dem Scheffel‘)“ derer, die so sehr unter der „schwärmerischen Einbildung gefühlter besonderer Gnadenwirkungen“ leiden, daß sie sogar die Tugend anekelt und ihnen „ein Gegenstand der Verachtung“ wird, so daß das innere Licht „dieser Begnadigten nicht auch äußerlich durch gute Werke leuchten will“ (201, 20–28). Damit wird der Glaube, der für seine Vermittlung auf die Gelehrsamkeit angewiesen ist, der Vernunftreligion gegenübergestellt, die als solche keiner Veränderung unterworfen sein kann. Diese eine wahre Religion können wir nicht „außer uns“, in einer Offenbarungslehre, die auf die Gelehrten als deren

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Ausleger und Aufbewahrer angewiesen ist, sondern nur„in uns“, in der natürlichen Religion der allgemeinen Menschenvernunft, finden.

Literatur Firestone, Ch. L./Jacobs, N. 2008: In Defense of Kant’s Religion, Bloomington, Ind., 209–228. Mendelssohn, M. 1783: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, in: Gesammelte Schriften – Jubiläumsausgabe, Stuttgart 1983, Bd. 8, 99 ff. Stangneth, B. 2000: Kultur der Aufrichtigkeit. Zum systematischen Ort von Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Würzburg.

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10 Gottesdienst und Afterdienst: die Kirche als öffentliche Institution? 10.1 Einleitung Das vierte Hauptstück der Religionsschrift befaßt sich mit der Unterscheidung und Beziehung zwischen natürlicher und geschichtlicher Religion, unsichtbarer und sichtbarer Kirche,Vernunftglaube und Kirchenglaube, Gottesdienst und Afterdienst. Im ersten Abschnitt geht es vor allem um das Christentum als einer natürlichen, das heißt vernunftgemäßen, und einer gelehrten, auf Statuten beruhenden Religion: letztere dient ersterer als Mittel zur Aufdeckung und Befestigung eines Glaubens an ein göttliches Wesen, welcher mit der Einsicht in das Moralgesetz unmittelbar verbunden ist und somit im Prinzip allen Menschen unabhängig von Geschichte und Kontext auf Grund ihrer bloßen Vernunft zugänglich ist. Der zweite Abschnitt bildet das Gegenstück zum ersten: hier geht es um den „Afterdienst“ (151) – um die Verkehrung von Mittel und Zweck. Der Afterdienst macht unerlaubterweise das Mittel zum Zweck, indem er der geschichtlichen Religion den Vorrang vor dem Vernunftglauben gibt. Das klingt soweit alles ganz einleuchtend – oder zumindest gut Kantisch. Die Frage ist aber: Warum denn überhaupt die Unterscheidung zwischen natürlicher und geschichtlicher Religion? Genauer gesagt, die Frage, mit der ich mich in der folgenden Auseinandersetzung mit dem zweiten Abschnitt besonders beschäftigen will, ist diese: Hat man nun einmal zwischen natürlicher und geschichtlicher Religion unterschieden, warum will man dann dennoch auf einer scheinbar notwendigen Beziehung zwischen ihnen bestehen? Warum verwirft Kant nicht einfach die Geschichtsreligion und mit ihr Kirchenglauben und sichtbare Kirche: Sie alle weisen doch eine eindeutige Tendenz zum Afterdienst auf! Kants Haltung zur empirisch bedingten, sichtbaren Religion scheint ambivalent zu sein. Einerseits ist sie nicht die „eigentliche“ Religion, denn der Anspruch, Religion zu sein, führt den Anspruch auf Allgemeingültigkeit mit sich – aber kein empirisch bedingter Glaube kann Allgemeingültigkeit beanspruchen. Andererseits behauptet Kant jedoch, daß der geoffenbarte, geschichtliche Kirchenglaube dem natürlichen behilflich sein kann und vielleicht sogar sein muß. Die gemeinte Hilfe ist nicht kausaler Art. Der Geschichtsglaube kann den Religionsglauben nicht kausal bewirken; die Annahme, dies sei möglich, ist an sich schon ein Indiz des Afterdienstesund beruht auf dem „Wahn“, nach dem Sinnliches auf Nichtsinnliches Einfluß auszuüben in der Lage ist (178). Die Beziehung ist auch keine logische. Der https://doi.org/10.1515/9783110782424-012

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Kirchenglaube ist keine notwendige Voraussetzung für den Religionsglauben und letzterer kann auch nicht aus ersterem gefolgert werden. Die gemeinte Beziehung ist eher eine praktisch notwendige; sie ähnelt der Beziehung zwischen der Idee Gottes und dem moralisch guten Handeln in der Postulatenlehre der zweiten Kritik. Es ist praktisch notwendig, sich einen Bezug zwischen natürlicher und geschichtlicher Religion zu denken, weil Vereinigung zu einem Reich Gottes moralische Pflicht ist (94, 97, 98 f.). Als Pflicht ist diese Vereinigung eine notwendige, jedoch vermag der Mensch selbst das Reich Gottes nicht zu gründen. Der Mensch kann allenfalls auf der Idee eines Reiches Gottes basierend eine sichtbare Kirche stiften (101), oder als von einem historischen Stifter gegründet akzeptieren (124, 159). Die sichtbare Kirche spielt für die Idee der unsichtbaren Kirche irgendwie die empirisch bedingte, menschlich gestiftete „Repräßentantin“ (102). Kant spricht von der Idee eines Reiches Gottes als „unsichtbarer Kirche“ – er charakerisiert beides auch als „ein ethisches gemeines Wesen“, im Gegensatz zum Staat, welcher ein juridisch gemeines Wesen ist (94). Als ein gemeines Wesen hat die Kirche den Anspruch, eine öffentliche Institution zu sein (vgl. Brandt 1990). Eine öffentliche Vereinigung ist keine zufällige Zusammenkunft verschiedener Privatwesen zu einem kontingent gemeinsamen Zweck (Byrd und Hruschka 2005). Eine öffentliche, gewollt gestiftete Vereinigung ist „Selbstzweck“. Das ist jedenfalls so mit dem Staat als einem juridisch gemeinem Wesen: der Zweck des Eintritts in den Staat ist, daß es einen Staat und damit einen rechtlichen Zustand gebe (Gemeinspruch, VIII 232 f.). Die Idee eines Reichs Gottes scheint ähnlich Zweck an sich selbst zu sein – die der Idee entsprechende Vereinigung wird gestiftet, weil sie zu stiften Pflicht ist. In der Rechtslehre spricht Kant von dem vereinigten Willen der Bürger in einem Staat (MS, VI 338). Dieser Wille beruht auf Zwangsgesetzen, Rechtsgesetzen, denen alle Mitglieder als Untertanen gleichermaßen unterworfen sind. Es gibt in der Rechtslehre auch eine Unterscheidung zwischen der Idee des Staates und empirisch gegebenen Staaten (MS, VI 313). Empirisch gegebene Staaten sind verpflichtet, sich der Idee des Staates gemäß zu reformieren. Staatsoberhaupt ist nicht Gott, sondern der der Idee des vereinigten Willens gemäß regierende, menschliche Beherrscher. Die sichtbare Kirche als ethisches gemeines und daher öffentliches Wesen hat keinen Regent; sie soll auch keine Beamten haben. Sie hat statt dessen „Lehrer“ (157) oder „Diener“ (101); diese haben keine Zwangsgewalt. Dennoch gibt es in der sichtbaren Kirche Statuten, das heißt auf dem geoffenbarten Geschichtsglauben basierende Verordnungen und doktrinale Glaubensverpflichtungen, die den öffentlichen Charakter der sichtbaren Kirche bestimmen. Wenn ein gemeines Wesen sein soll, dann muß es einen kollektiven Willen geben. Dieser Wille drückt sich aus in den Gesetzen, oder Statuten, die er erläßt und unter denen er alle Mitglieder des öffentlichen Wesens gleich versammelt.

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Es mag die ihm mögliche Charakterisierung der sichtbaren Kirche als einer öffentlichen Vereinigung sein, die Kant dazu führt, deren Notwendigkeit als empirische Stellvertreterin der unsichtbaren Kirche zu akzeptieren. Ein notwendiges Kriterium einer instituierten Öffentlichkeit ist die Willensvereinigung. Ausdruck dieser Willensvereinigung ist positive (oder kirchlich doktrinale) Gesetzgebung. Kants gespanntes Verhältnis zur sichtbaren Kirche mag darin liegen, daß er ihrer öffentlichen Gesetzgebungsfähigkeit einerseits bedarf, aber die damit verbundene Tendenz zum bloß doktrinalen Glauben gleichzeitig verwirft. Einerseits erlangt die unsichtbare Kirche durch die stellvertretende Institution der sichtbaren Kirche ihren Öffentlichkeitscharakter. Andererseits ist das Kriterium der Öffentlichkeit, die öffentliche Gesetzgebung, mit der für die Idee der unsichtbaren Kirche verbundenen freien Gewissensentscheidung (185) nicht leicht vereinbar. Entweder ist in Fragen des Glaubens der öffentliche kirchliche Wille oder das Gewissen eines jeden Gläubigen letzte richterliche Instanz. Beide können sie es nicht sein. Insofern kann man fragen, wie berechtigt Kants Beschuldigung des Afterdienstes der Pfaffen letztendlich ist. Als Lehrer und Diener der sichtbaren Kirche folgen die Pfaffen deren öffentlichen Doktrinen and Verordnungen. Diese Überlegungen will ich im Folgenden anhand einer genaueren Betrachtung des zweiten Abschnitts im vierten Hauptstück näher ausführen. Ich werde zunächst Kants allgemeinen Gedankengang in diesem Abschnitt der Religion zusammenfassend nachvollziehen, um dann näher auf das Thema „Afterdienst“ einzugehen. Während Kants ablehnende Haltung gegenüber dem die Mittel zum Zweck erhebenden Pfaffentum eindeutig ist, bleibt letztendlich unklar, wie genau die Kleriker eine kritische Einstellung zu den Dogmen der Offenbarung einzunehmen fähig sein sollen, deren gesetzesähnlichen Charakter zu betonen sie als geistliche Verwalter der kirchlichen Öffentlichkeit gegenüber verpflichtet ist.

10.2 Die Versuchungen des Afterdienstes Die allgemeine Einleitung zum vierten Abschnitt beginnt mit der Vereinigung zu einem ethischen gemeinen Wesen als „Pflicht von besonderer Art (officium sui generis)“ (151). Sie folgt nicht aus der Privatpflicht der einzelnen zum guten Lebenswandel, sondern ist selbst eine öffentliche Pflicht, eventuell als Pflicht zur Etablierung eines ethisch gemeien Wesens zu verstehen, die alle gemeinsam haben. Sie scheint einerseits mit dem Gedanken des Bösen als einem die ganze Gattung betreffenden und nur gemeinsam überwindbaren Übels verbunden zu sein (32, 100). Andererseits beruft sie sich aber auch auf die notwendige Offenbarung des „wahren“ Geheimnisses der (christlichen) Religion, nach der es vor allem auf die Tat, nicht auf das betende Für-sich-sein ankommt.

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Der wahre, moralverbundene Vernunftglaube beansprucht Öffentlichkeitscharakter auf Grund seiner Allgemeingültigkeit und seines Selbstverständnisses als moralisch-praktischer Glaube. Dies suggeriert interessanterweise gerade nicht das oft mit dem Protestantismus und Pietismus verbundene Bild einer intimen, zutiefst persönlichen Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Gläubigen. Für Kant ist es vielmehr die Gemeinde, die sich in der Idee eines Reichs Gottes zusammenfindet und somit dem öffentlichen, tatenkräftigen Charakter des Religionsglaubens Ausdruck gibt. In der „Idee“ muss Gott selbst als „Urheber“ eines solchen gemeinsamen Wesens gedacht werden (152). Wir können aber über die Tatsächlicheit eines solchen von Gott gegründetem Reiches überhaupt keine Aussagen machen. Die tasächliche oder sichtbare Kirche kann daher nur als eine von Menschen gestiftete angesehen werden. Die Statuten der sichtbaren Kirche bauen auf den Prinzipien des reinen Religionsglaubens (der unsichtbaren Kirche) auf; sie dienen als Mittel zur Annährung an einen solchen Glauben (152). Die Prinzipien der unsichtbaren Kirche sind im Wesentlichen das moralische Gesetz und die damit verbundene Hoffnung auf die Existenz und Gnade Gottes. Dagegen sind die Statuten der sichtbaren Kirche die doktrinalen Glaubensbekenntnisse der geoffenbarten, durch die Geschichte übertragenen Religion. Diese müssen im Sinne der Prinzipien des reinen (moralischen) Religionsglaubens interpretiert werden, um jenem als Mittel zum Zweck dienen zu können. Der vierte Abschnitt im Ganzen betrachtet handelt also von der richtigen beziehungsweise falschen Beziehung zwischen unsichtbarer und sichtbarer Kirche, Vernunftglaube und Geschichtsglaube. Im ersten Abschnitt geht es um die richtige Beziehung. Kant beruft sich vor allem auf das Neue Testament und die Auslegung Jesu Christi des jüdischen doktrinalen Glaubens als einer moralischen, vernunftbegründeten Religion. Die Notwendigkeit der Offenbarungsgeschichte des Neuen Testamentes wird nicht bestritten – „wir werden (…) den christlichen Glauben einerseits als eine reinen Vernunftglauben, anderersetis als einen Offenbarungsglaube (fides statutaria) zu betrachten haben“ (163). Kant schwankt zwischen einer Begründung, die auf die vernünftige obwohl unbeweisbare Hoffnung auf Gottes Gnade anspielt, und eher pragmatischen Überlegungen, nach denen der geschichtliche Glaube dem Vernunftglauben vorausgehen muß, um die Unwissenden zur allmählichen Überzeugung hinsichtlich des letzteren kommen zu lassen. Sofern eine Religion Glaubenssätze als notwendig vorträgt, die nicht durch die Vernunft als solche erkannt werden können, gleichwohl aber doch allen Menschen auf alle künftige Zeiten unverfälscht (dem wesentlichen Inhalt nach) mitgeteilt werden sollen, so ist sie als ein der Obhut der Gelehrten vertrautes heiliges Gut anzusehen (163). Hier bewahren die Kirchengelehrten das „Geheimnis“ der Religion, welches sie von „bloßer“ Moral (Moral ohne

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Gotteshoffnung) unterscheidet. Dieser Passage zufolge vertieft der Offenbarungsglaube unser Moralverständnis indem er auf die Notwendigkeit der Hoffnung auf Gott als eines unbeweisbaren Postulats der reinen praktischen Vernunft aufmerksam macht (vgl. KpV, V 124–131). An anderer Stelle im gleichen Abschnitt heißt es aber auch „die Offenbarungslehre, worauf eine Kirche gegründet wird, und die der Gelehrten als Ausleger und Aufbewahrer bedarf, [kann] als bloßes, aber höchst schätzbares Mittel, um der ersteren Faßlichkeit, selbst für die Unwissenden, Ausbreitung und Beharrlichkeit zu geben, geliebt und cultivirt werden“ (165). Hier geht es weniger um Vertiefung unseres Moralverständnisses auf das Übersinnliche hin, und mehr um Unterweisung der Unwissenden im Vernunftglauben mittels des Kirchenglaubens. Ob zur religiösen Vertiefung unseres Moralverständnisses oder zur Unterweisung der Unwissenden gebräuchlich, der Kirchenglaube dient dem Vernunftglauben in beiden Fällen als Mittel zum Zweck. Der Afterdienst verkehrt dieses Verhältnis. Der zweite Abschnitt trägt den Titel, „Vom Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion“. Er beginnt mit einer Darstellung des „subjectiven Grunde[s]“ des „Religionswahnes“ (§ 1), setzt diesem dann das „moralische Princip der Religion“ gegenüber (§ 2), und mündet schließlich in einen scharfen Angriff auf das die sichtbare Kirche beherrschende Pfaffentum (§ 3) welches durch den „Leitfaden des Gewissens in Glaubenssachen“ zu ersetzen ist (§ 4). Religionswahn führt zum Pfaffentum; Vernunftglauben zur Prüfung durch das Gewissen. Der subjektive Grund des Afterdienstes ist der Hang zum Anthropomorphismus – das heißt die Tendenz, sich Gott als einen himmlischen Herrscher in irdischer Gestalt vorzustellen, dessen überwältigende Macht so furchteinflößend ist, daß der Gläubige vor allem darauf bedacht ist, sich auf des Herrschers gute Seite zu bringen, um ihn so gnädiglich geneigt zu stimmen. Bezeugungen der Unterwerfung in der Form strenger Einhaltung an sich sinnloser Observanzen, regelmäßiger Begehung von Feierlichkeiten, vor allem aber auch Aufopferungen und Selbst-Demütigungen – „Büßungen, Kasteiungen, Wallfahrten u. d. g.“ (169), sind Indizien eines dem Anthromorphismus verfallenen Kichenglaubens: „Je unnützer solche Selbstpeinigungen sind, je weniger sie auf die allgemeine moralische Besserung des Menschen abgezweckt sind, desto heiliger scheinen sie zu sein: weil sie eben darum, daß sie in der Welt zu gar nichts nutzen, aber doch Mühe kosten, lediglich zur Bezeugung der Ergebenheit gegen Gott abgezweckt zu sein scheinen“ (169). Der Gläubige hofft auf Akzeptanz seiner tätlichen Ohnmacht seitens des allmächtigen Gottherrschers – eine Ohnmachtsbeteuerung, die des Herrschers eigenes Machtgefühl stärkt und ihn seinem Untertan gegenüber gnädig stimmt. Die Folge des religiösen Anthropomorphismus ist das Entgegengesetzte des von der wahren Religion geforderten Entschlusses zum guten Lebenswandel. Nicht das moralische Handeln, sondern

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Bezeugungen der Unfähigkeit eines solches Handelns werden zum Merkmal der Religiösität. Dem Anthropomorphismus wird in § 2 das Prinzip des guten Lebenswandels als einzig gültiges Religionsprinzip entegegengesetzt: „Alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch zu thun können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes“ (170). Es kommt also grundsätzlich alles auf den guten Lebenswandel an. Zwar berechtigt der Versuch der ernsthaften Pflichterfüllung zur Hoffnung auf die „Gunst des Himmels“ (172), jedoch ist das Verlangen nach „Beweisen“ in dieser Hinsicht selbst ein Zeichen der Ungläubigkeit. Wer vom Prinzip des guten Lebenswandels abweicht, setzt dem Afterdienst „keine Grenzen“ (172). Es folgt der „mechanische Gottesdienst“, wie bei dem Tibetaner, der seine Bittstellungen „durch ein Gebet-Rad an die himmlische Behörde bringt“ (173), aber auch die „religiöse Schwärmerei“, das heißt die wahnsinnige Annahme, Gottes Willen an seiner statt durch „Bekenntniß statutarischer Glaubenssätze, durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u. d. g.“ (174) wirken lassen zu können. Was für den einzelnen Gläubigen gilt – nur das Prinzip des guten Lebenswandels und die mit ihm verbundene Hoffnung auf Gott ist relevant – gilt ebenso für die sichtbare Kirche. „Der allem Religionswahn abhelfende oder vorbeugende Grundsatz eines Kirchenglaubens ist also: daß dieser neben den statutarischen Sätzen, deren er vorjetzt nicht gänzlich entbehren kann, doch zugleich ein Princip in sich enthalten müsse, die Religion das guten Lebenswandels als das eigentliche Ziel, um jener dereinst gar entbehren zu können, herbeizuführen“ (175).

10.3 Das Dilemma der sichtbaren Kirche In der zuletzt zitierten Passage scheint Kant zu fordern, daß die sichtbare Kirche ihrer eigenen Abschaffung bewußt entgegenstrebe. Die statutarischen Sätze des Kirchenglaubens sollen „entbehrbar“ werden. Dies ist, wie schon angedeutet, nicht Kants ausschließliche Position. Die allmähliche Entbehrbarkeit der sichtbaren Kirche bezieht sich auf ihre pragmatische Funktion, die Unwissenden vom geschichtlich überlieferten Offenbarungsglauben zum bloßen Religionsglauben zu führen. Dies ist offensichtlich eine Frage der Zeit: sind die Unwissenden einmal belehrt, ist der Kirchenglaube unnötig. Daß es hinsichtlich des Vernunftglaubens überhaupt Unwissende geben können soll, ist merkwürdig. Der Vernunftglaube soll ja nach Kant einem jeden natürlicherweise so zugänglich sein wie das Moralgesetz selbst. Also bedarf es doch eigentlich des Kirchenglaubens überhaupt nicht. Als vernünftiger Glaube ist der reine Religionsglaube einem jeden Mensch viel besser zugänglich als die oft obskuren Dogmen dieses oder jenes Geschichtsglaubens.

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Die zweite von Kant angedeutete Rolle des Kichenglaubens zielt auf die Festigung des Vernunftglaubens. Der Kirchenglaube bewahrt die „Geheimnisse“ der mit der Moral verbundenen Hoffnung auf Gott. Der Offenbarungsglaube nicht im Sinne des Religionswahns oder der religiösen Schwärmerei verstanden hütet diese Geheimnisse. Er will keine Beweise zur tatsächlichen Existenz und Gnade Gottes, sondern hält lediglich die moralisch begründete Hoffnung wach. Hinsichtlich dieser zweiten Rolle erscheint es aber unsinnig, der Abschaffung des Kirchenglaubens entgegenzustreben. Die notwendige Festigung der inneren Haltung eines jeden ist nicht Frage der Zeit: während Unwissende zu Wissenden gemacht werden können, sind Willenschwäche und moralische Zweifel Zustände, denen jeder Mensch „zeitlos“, weil sozusagen konstitutionsmäßig ausgeliefert ist. Die Doppeldeutigkeit der Funktion des Kirchenglaubens hinsichtlich des Religionsglaubens zieht sich auch durch § 3 des zweiten Abschnittes hindurch, der vom „Pfaffenthum als einem Regiment im Afterdienst des guten Princips“ (175) handelt. Hier geht es vorwiegend um die Institutionalisierung eines Kirchendienstes, der dem geschichtlichen Glauben Vorrang über den natürlichen gibt. Das Pfaffentum bedient sich der Tendenz der einzelnen Gläubigen zum Anthropomorphismus. Es päppelt die natürliche Neigung zur leibhaftigen Gottesvorstellung auf, indem es Statuten und Observanzen erläßt, durch die der „mechanische“ Gottesdienst zum öffentlich relevanten erklärt wird und deren verordnete Befolgung für die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft obligatorsich ist – ja, Zwangscharakter anzunehmen droht: „Das Pfaffenthum ist also die Verfassung einer Kirche, sofern in ihr ein Fetischdienst regiert, welches allemal da anzutreffen ist, wo nicht Principien der Sittlichkeit, sondern statutarische Gebote, Glaubensregeln und Observanzen die Grundlage und das Wesentliche derselben ausmachen“ (179). Kant spricht vom „Constitutionalgesetz“ einer solchen Kirche – die durch das Pfaffenthum auferlegten Observanzen gegenüber welchen „gehorsame Unterwerfung“ seitens der Gläubigen verlangt werden, verwandelt die „freie Huldigung“ in einen „Frohndienst“. Zuletzt wird es dann politisch: „so beherrscht die Kirche zuletzt den Staat, nicht eben durch Gewalt, sondern durch Einfluß auf die Gemüther, überdem auch durch Vorspiegelung des Nutzens, den dieser vorgeblich aus einem unbedingten Gehorsam soll ziehen können, zu dem eine geistige Disciplin selbst das Denken der Volks gewöhnt hat; wobei aber unvermerkt die Gewöhnung an Heuchelei die Redlichkeit und Treue der Unterthanen untergräbt, sie zum Scheindienst auch in bürgerlichen Pflichten abwitzigt und wie alle fehlerhaft genommenen Principien gerade das Gegentheil von dem hervorbringt, was beabsichtigt war“ (180). Diese Bemerkungen üben scharfe Kritik an der subtilen Einmischung der Kirche in Staatsangelegenheiten. Aber kann man nicht Kant selbst vorwerfen, durch fehlerhaft genommene Prinzipien gerade das Gegenteil von dem hervorzubringen, was beabsichtigt war? Beabsichtigt war eine freie ethische Gemeinde; eine Ge-

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meinde, deren Mitglieder sich zum gemeinsamen Gottesdienst zusammenfinden, wobei die von der Kirche gehüteten Geheimnisse der geoffenbarten Religion als Mittel zu dem Zweck dienen, das moralische Verständnis eines jeden in natürlichreligiöser Hinsicht zu vertiefen. Diese Absicht scheint aber fast unvermeidlich im Pfaffentum zu enden. Als öffentliche Institution muß die Kirche ihren Dogmen und Statuten einen gesetzesmäßigen Charakter geben, der Willensvereinigung repräsentiert. Dieser vereinigte Kirchenwille übt auf die einzelnen Gemeindemitglieder einen subtilen Druck zur Glaubenskonformität aus. Kann ein menschlich gestiftetes öffentliches Gemeinwesen welches nach Kant immer die Idee eines gemeinen Willens benötigt, den – expliziten oder subtilen – Gesetzeszwang überhaupt vermeiden? Anders gefragt: ist es eine gute Idee, die sichtbare Kirche als ein öffentliches Gemeinwesen zu charakterisieren?

10.4 Die Spannung zwischen innerer und äußerer Religiosität Ich komme nun auf die anfangs diagnostizierte Spannung zwischen Kants Verständnis von Öffentlichkeit und natürlicher Religion zurück. Streng genommen kann das Unsichtbare nicht sichtbar gemacht oder das Innere veräußerlicht werden. Das ist aus Kants Ethik allgemein bekannt. In die Maximen anderer haben wir keine Einsicht; ja, selbst unserer eigenen Maximen können wir uns trotz innerer Prüfung letztendlich nie völlig gewiß sein. Inneres kann also nie wirklich veräußerlicht und damit sichtbar gemacht werden. Das Äußere hat aber selbst auch seinen ihm ganz eigenen moralischen Status. Es ist die Errungenschaft der Rechtslehre, den juridischen Bereich innerhalb der Moral von der Ethik abgegrenzt zu haben. Systematisch ist dies Kant nur durch die konsistente Unterscheidung zwischen äußerer Handlung und innerer Einstellung möglich. Eine gegebene Handlung kann äußerlich rechtens sein ohne deswegen inneren moralischen Wert zu haben: sie ist juridisch erlaubt obgleich ethisch wertlos (MS, VI 219 f.). Die äußerlich rechte, wenngleich innerlich wertlose Handlung ist moralisch begründbar. Wer recht handelt, selbst wenn ihm die innere Überzeugung dazu fehlt, erkennt die juridische Autorität der äußeren Gesetzgebung an (Ludwig 2002; vgl. Willaschek 1997). Er tut dies nicht aus prudentiellen Gründen; zumindest ist dies nicht der objektiv moralische Grund der äußeren Rechtsordnung. Die öffentliche Rechtsordnung ist eine willentlich gestiftete, deren objektiver moralischer Grund in dem gleichen äußeren Freiheitsanspruches eines jeden liegt (MS, VI 307). Die äußere Freiheit eines jeden ist nur durch Etablierung einer öffentlichen Rechtsordunung unter der Idee eines vereinigten gemeinen Willens möglich (MS,VI

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256); der Idee eines solchen Willens liegt die öffentliche Gesetzgebung zugrunde. Um moralisch rechtens zu handeln, muß der Handelnde im juridischen Bereich die Autorität der öffentlichen Gesetzgebung als seiner eigenen moralischen Urteilskraft übergestellt anerkennen. Beispielhaft für diese Bedingung ist das Revolutionsverbot. Der Bürger mag der ehrlichen Meinung sein, der Herrscher handle unrecht; er ist dennoch verpflichtet, sich dem juridischen Urteil des Herrschers nicht öffentlich zu widersetzen. Es ist der Herrscher, der für den vereinigten gemeinsamen Willen spricht. Daß nach Kant das Innere nicht veräußerlicht werden kann, das heißt daß eine gute Maxime durch verfehlte Handlung nicht entwertet, eine schlechte durch geglückte Tat nicht zur guten wird, ist allgemein bekannt. Daß der Bereich des Äußeren eine ihm eigene moralische begründete (juridische) Gestezgebung hat, wird immer noch weniger oft thematisiert. Im juridischen Bereich der kantischen Moral ist es der äußere Gesetzgeber, als Stellvertreter der Idee des gemeinen Willens, nicht der selbstgesetzgebende Wille eines jeden Einzelnen, der die relevante moralische Urteilskraft und Verantwortung besitzt. Juridisch gesehen ist es eine notwendige Bedingung des rechten Handelns, daß der Bürger die rechtliche (jedoch nicht bloß positive verstandene) Autorität der äußeren Gesetzgebung als Stellvertreters der Idee des gemeinen Willens anerkenne. Anders ist kollektives Handeln gar nicht möglich. So heißt es denn auch in der Metaphysik der Sitten mit Hinsicht auf ihren ersten Teil, der Rechtslehre: Die „Gesetze der Freiheit heißen zum Unterschiede von Naturgesetzen moralisch. So fern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen sie juridisch; fordern sie aber auch, daß sie (die Gesetze) selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch“ (MS, VI 214). Daher ist „die Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetze die Gesetzmäßigkeit (legalitas), – die der Maxime der Handlung mit dem Gesetze die Sittlichkeit (moralitas)“ (MS, VI 225). Da in der Ethik alles auf die Reinheit der Maxime ankommt, ist „die ethische Gesetzgebung … diejenige, welche nicht äußerlich sein kann; die juridische ist, welche auch äußerlich sein kann“ (MS, VI 220). Eine äußere Gesetzgebung, welche innere Gesinnungsumstimmung zu bewirken sucht, ist eine despotische. Recht zu handeln ist erzwingbar; recht zu denken aber gerade nicht. Das Problem der Beziehung der sichtbaren zur unsichtbaren Kirche in der Religion ist, daß der sichtbaren Kirche die Funktion einer öffentlichen Representation der unsichtbaren Kirche zugeteilt wird. Die sichtbare als veräußerlichte und menschlich gegründete Kirche soll zur Festigung des inneren Vernunftglaubens der einzelnen Gläubigen beitragen. Solange dies durch die freie Wahl des aus Liebe zu Gott gewandten Gläubigen passiert, mag dem auch so sein: der einzelne, mit anderen betende Gläubige nimmt die vom Klerus bewahrten „Geheimnisse“ des an

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sich vernünftigen Glauben in sein Inneres auf und ist dadurch in seiner Glaubensstärke gefestigt. Ob er es tut oder nicht, bleibt seine Angelegenheit. In diesem Falle sollte die sichtbare Kirche jedoch konsistenterweise als eine nichtöffentliche Zusammenkunft der Gläubigen als „Privatwesen“ gedacht werden, die ohne die Idee eines Gemeinwillens fungiert. Ein jeder ist dann zur Selbstentscheidung berechtigt. Eben diese Konzeption veneint Kant jedoch. Er besteht auf der sichtbaren Kirche als einer öffentlichen Institution, die zwischen Mitgliedern und Oberhaupt unterscheidet und in der ein vereinigter ethisch gemeinsamer Willen gedacht wird, dessen Gesetze für jedes Mitglied objektive Gültigkeit haben. Dennoch sollen diese Gesetze Tugendgesetze, nicht Rechtsgesetze sein. Kant ist sich der Schwierigkeit bewußt, ein ethisches öffentliches Wesen zu konzeptieren dessen Oberhaupt einen gemeinen Willen repräsentiert, der öffentliche Tugendgesetze ausspricht. „Wenn ein ethisches gemeines Wesen zu Stande kommen soll, so müssen alle Einzelne einer öffentlichen Gesetzgebung unterworfen werden, und alle Gesetze, welche jene verbinden, müssen als Gebote eines gemeinschaftlichen Gesetzgebers angesehen werden können“ (98). Da es um ethische Gesetze geht, kann das Oberhaupt eines solchen gemeinen Wesens nur ein „Herzenkündiger“ sein, Gott also. Nur Gott vermag es, „auch das Innerste der Gesinnungen eines jeden zu durchschauen“ (99). Ein solches „Volk Gottes“ ist nur „zu denken möglich“ (99), denn die Maximen eines jeden Tugendlichen können nur durch die Idee der Pflicht selbst, nicht durch Gottes Befehle ethischen Charakter haben. „Man könnte sich wohl auch ein Volk Gottes nach statutarischen Gesetzen denken, nach solchen nämlich, bei deren Befolgung es nicht auf die Moralität sondern bloß auf die Legalität der Handlungen ankömme“ (99). Aber eine solche „Verfassung“ widerspräche dem Zweck der Vereinigung, der Überwindung des Prinzips des Bösen. „Die wahre sichtbare Kirche ist diejenige, welche das moralische Reich Gottes auf Erden so viel es durch Menschen geschehen kann darstellt“ (101). Diese Kirche ist eine Veräußerlichung der Idee eines „Staates Gottes“ (102). Als ein ethisches gemeines Wesen hat dieser Staat „eigentlich keine ihren Grundsätzen nach der politischen ähnlichen Verfassung“ (102) und ähnelt mehr einer „Hausgenossenschaft (Familie)“. Und doch ist die sichtbare Kirche im Gegensatz zu einer Hausgenossenschaft und genau wie der Rechtstaat eine öffentlich gestiftete, nicht-zufällige Institution deren Mitglieder den Klerikern unterstehen, die zwar nicht Herzenskundige sind, als Oberhäupter der Kirche dennoch beauftragt sind, Dogmen und Statuten auf ihren ethisch-religiösen Zweck hin für alle Kirchenmitglieder gültig zu interpretieren. Die Spannung zwischen ethisch-religiösen Zweck der sichtbaren Kirche und ihrem Öffentlichkeitscharakter ist schwer zu übersehen.

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10.5 Ein Abstecher in die Aufklärungsschrift Man mag der obigen Diagnose entgegensetzen, daß der angewandte Öffentlichkeitsbegriff der falsche ist. Zwar stimmt es, daß die Religion sich an dem im Kontext der Rechtslehre entwickelten Begriff eines gemeinen Wesens orientiert. Andererseits versucht Kant, das ethische gemeine Wesen vom juridischen abzugrenzen indem er andeutet, daß Ersteres eher einer Familie gleicht (102). Nicht der rechtliche Zwang des Beherrschers, sondern die Liebe eines jeden Mitgliedes zum Gottvater vereinigt die Gemeinde. So wie unter der Idee der unsichtbaren Kirche der Gottvater auch seine Kinder liebt, so soll der Klerus in der sichtbaren Kirche den Gläubigen mit führender eher als mit zwingender Hand Beistand leisten. Der Einwurf eines falschen Öffentlichkeitsbegriffes verfestigt sich auch im Hinblick auf die frühe Aufklärungsschrift. Dort scheint Kant in vieler Hinsicht mit einem der späteren Rechtslehre entgegengesetzen Öffentlichkeitsbegriff zu arbeiten. Dem Aufklärungsmotto „Sapere Aude“ folgend, verlangt er, man solle „von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch machen“ (Aufklärung, VIII 36). Der öffentliche Gebrauch der Vernunft ist der unbeschränkte Gebrauch eines jeden informierten Menschen, der sich an sein Publikum, die Menschheit im Allgemeinen, richtet (O’Neill 1989). Ihm wird der „Privatgebrauch“ der Vernunft entgegengestellt, unter den in der Aufklärungsschrift auch der staatliche gehört: „Ich verstehe … unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publicum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf“ (Aufklärung, VIII 37). In der Aufklärungsschrift wird der Zusammenhang zwischen dem Begriff der „Öffentlichkeit“ und der Idee eines vereinigten gemeinsamen Willens nicht thematisiert. Der Staat wird nicht als (mögliche) Republik konzipiert, sondern eher als aufgeklärte Monarchie dargestellt. Der staatliche Vernunftgebrauch ist ein „privater“: Staatsangelegenheiten betreffen nicht alle – Regierende und Regierte – sondern nur bestimmte – den Regierenden und seine Beauftragten. Eher als der Staat fungiert die Kirche als öffentliche Einrichtung (vgl. Brandt 1990). Während die Bürger vom „Staatsgeschäft“ weitgehend ausgeschlossen sind, steht der Eintritt in die Kirche einem jeden offen. Aus diesem Grund steht Kant dem Mißbrauch der kirchlichen Privatvernunft besonders kritisch gegenüber. Der Kleriker soll zwar von der Kanzel nur das zu predigen, was innerhalb der Schranken ihres doktrinalen Glaubens vertretbar ist. Als Schriftgelehrter muß es ihm aber freistehen, selbst zu urteilen, ob diese oder jene Doktrin nicht doch mit der „innern Religion“ (Aufklärung, VIII 38) in einem Widerspruch steht.

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In der Aufklärungsschrift fällt der doktrinale Glaube der Kirche unter ihre Privatvernunft. Kant kritisiert den kirchlichen Mißbrauch ihrer Stellung als öffentlicher Institution: „Aber sollte nicht eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung, oder eine ehrwürdige Classis … berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder … zu führen, und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich“ (Aufklärung, VIII 38 f.). Gerade weil sie die Allgemeingültigkeit ihrer Glaubenslehre beansprucht, muß die Kirche bereit sein, ihre Privatvernunft der öffentlich-gelehrten Kritik zu unterziehen. Der Substanz nach stimmt Kants Kritik an der Geistlichkeit in der Aufklärungsschrift mit seiner Verwerfung des Pfaffentums in der Religion überein. Beide Male wird der doktrinale Kirchenglaube unerlaubterweise zum wahren Glauben deklariert. Jedoch ist der Öffentlichkeitsbegriff in beiden Schriften ein anderer. In der Religion konzeptiert Kant den doktrinalen als den öffentlichen Glauben der sichtbaren Kirche, während in der Aufklärungsschrift derselbe noch als ein Privatgebrauch der Vernunft charakterisiert wird. In der Aufklärungsschrift hat der kritisch-aufklärende Vernunftgebrauch von dem der einzelne Kleriker außerhalb seiner Kirche Gebrauch macht eine öffentliche Funktion für das allgemeine gelehrte Publikum, während in der Religion die Oberhaupte der sichtbaren Kirche als Repräsentanten des konstitutierten ethischen Gemeinwesens fungieren, so daß ihre Auslegungen des doktrinalen Glaubens innerhalb der Kirche öffentliche Autorität beanspruchen. Meine These ist, daß die Spanung in der Religion zwischen dem (moralischen) Autoritätsanspruch des inneren Religionsglaubens einerseits und des Kirchenglaubens andererseits zumindest teilweise durch die semantische Verschiebung des Öffentlichkeitsbegriffes zwischen Aufklärungsschrift und Rechtslehre zu erklären ist. In der Rechslehre wird der Öffentlichkeitsbegriff durch die Idee eines vereinigten gemeinsamen Willens mit einer Gesetzgebungsfähigkeit verbunden, die ihm in der Aufklärungsschrift nicht anhängt. Auch in der Religion wird die öffentliche Funktion der Kirche als ethische Gemeinde auf Erden im Zusammenhang mit ihrer Fähigkeit zur gemeinen Willensbildung konzipiert. Dadurch erlangen die Kleriker in der Religion eine öffentliche Autorität, die sie in der Aufklärungsschrift nicht hatten. Diese Autorität hat keinen Zwangscharakter. Dennoch erheben die Auslegungen der kirchlichen Dogmen durch den Klerus einen Anspruch auf öffentliche Allgemeingültigkeit die ihnen in der Aufklärungsschrift gerade abgesprochen wurde.

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10.6 Die kirchliche Öffentlichkeit und die Leitung durch das Gewissen Kant behauptet, daß die sichtbare Kirche als ein gewollt gestiftetes ethisches gemeines Wesen zu denken ist, dem beizutreten Pflicht ist. Er spricht von einer Pflicht besonderer Art. Da er Ähnliches von der Pflicht zur Staatsgründung sagt, habe ich es oben als Pflicht zur Öffentlichkeit betitelt: es besteht die Pflicht zur gemeinsamen Stiftung der Kirche als einer öffentlichen Institution. Als gemeines Wesen gliedert sich die Kirche in Oberhaupt und Mitglieder. Diese Gliederung bezeugt die ihr zugrunde liegende Idee eines vereinigten Willens der in der kirchlichen „Gesetzgebung“ (Verordnungen und Observanzen) zum Ausdruck kommt. Die allgemeine Struktur des ethischen gemeinen Wesens ähnelt dem juridischen Gemeinwesen aus der Rechtslehre obwohl ihr Zweck ein anderer ist. Die kirchliche Öffentlichkeit ist, wie die rechtliche, eine gewollt gestiftete und öffentlich geregelte, in der die kirchlichen Oberhäupter den gemeinen Willen aussprechen, der beansprucht, für alle Mitglieder bestimmend zu sein. Kirchenbeitritt ist zwar Pflicht, aber keine Zwangspflicht. Man kann zum Beitritt nicht gezwungen werden; vermutlich steht einem der Austritt ebenso frei. Ist man der Kirche beigetreten, erkennt man die Autorität ihrer Dogmen an. Nun mißversteht das Pfaffentum die der Kirche eigene Funktion als einer freien ethischen Gemeinde, deren öffentliche Struktur zwar der eines juridischen Gemeinwesens ähnelt, deren Zweck aber letztendlich ein ganz anderer ist. Der Zweck des juridischen gemeinen Wesens ist Sicherung der äußeren Freiheit eines jeden – der gerechtfertigte Zwang des Rechts ist moralisch im gültigen Freiheitsanspruch aller anderen gegen mich begründet. Dagegen ist der Zweck der sichtbaren Kirche Zuführung und Befestigung im Glauben der einzelnen Mitglieder. Man darf annehmen, daß sich die sichtbare Kirche dem Einzelnen zwar anbieten, sich ihm aber nicht aufzwingen darf: so gesehen, ist es die subjektive Entscheidung jedes einzelnen, ob er der Kirche geistlichen Geleits bedarf oder nicht. Wie kann dann aber der Kirchenbeitritt Pflicht sein? Tugendpflichten sind generell nicht von anderen erzwingbar. Man kann sich zu ihrer Befolgung zu einem gewissen Grad selbst zwingen: Man kann trotz entgegengesetzter Neigung das tun, von dem man weiß, daß man es tun soll. Kann man sich selbst zum religiösen Glauben zwingen? Dies erscheint widersinnig. Zum einen fehlt die nötige Gewißheit (und fehlte sie nicht, wäre es kein Glauben), zum anderen kann man sich selbst zwar zum guten Tun zwingen, aber ob die damit verbundene innere Überzeugung wirklich erzwingbar ist, bleibt fraglich. Es kann also nicht Pflicht sein, der Kirche beitzutreten, um zum Glauben zu gelangen; es kann höchstens Pflicht sein, ihr beizutreten, wenn man schon glaubt.

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Wenn nur Gläubige der Kirche beizutreten verpflichtet sind – wenn der Glaube selbst nicht Pflicht sein kann – dann ist der Glaube Gewissensfrage. Ob man glaubt oder nicht ist eine Frage, die man nur mit sich selbst bereinigen kann. Hier kann man sich noch nicht einmal selbst zwingen: man kann letztendlich eigentlich nur feststellen, daß man glaubt oder nicht glaubt. Es sind also nur Gläubige verpflichtet, der Kirche beizutreten. Daß Gläubige schon glauben, wenn sie der Kirche beitreten, tut der Funktion der Kirche zur Festigung des Glaubens keinen Abbruch. Trotzdem scheint es merkwürdig, zu behaupten, daß man zwar nicht verpflichtet ist zu glauben, daß Festigung des Glaubens aber Pflicht sei. Die Pflicht, die Gläubige haben, der Kirche beizutreten, ist im Prinzip der wahren Religion verankert, das heißt im Prinzip des guten Lebenswandels und der damit verbundenen Tatenfreudigkeit des vernünftigen, weil moralisch gewendeteten Gottesglaubens. Man ist als Gläubiger verpflichtet, der ethischen Gemeinde beizutreten, weil Annahme des Prinzips des guten Lebenswandels das Leben und Tun mit anderen zusammen impliziert. Die Mitglieder der unsichtbaren Kirche, für die die sichtbare stellvertretend ist, sind Menschen, die sich durch Annahme ihres Glaubens zum guten Lebenswandel verpflichtet haben. Dieser ist nur – oder zumindest besser – mit anderen zusammen machbar. Es ist also das Prinzip des guten Lebenswandels, das der Pflicht zur Öffentlichkeit zugrunde liegt. Trotzdem bleibt es von der Perspektive des gemeinsamen Handelns merkwürdig, daß es das Gewissen eines jeden einzelnen ist, welches in gemeinsamen Glaubensfragen als „Leitfaden“ (185) dienen soll. Denn in dem Fall unterstehen die öffentlichen Dogmen und Verordnungen der sichtbaren Kirche der Überprüfung des Gewissens eines jeden einzelnen Gemeindemitglieds. Dies behauptet Kant in § 4 des zweiten Abschnittes, wo er das Gewissen als ein „Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist“ (185) bezeichnet. Das Gewissen muß sich selbst folgen; Kant spricht von dem Grundsatz des Gewissens, „der keines Beweises bedarf“. Diesem Grundsatz nach soll man „nichts auf die Gefahr wagen, daß es unrecht sei“ (185). Zwar kann man nicht von allen möglichen Handlungen wissen, ob sie recht oder unrecht sind – das urteilt ohnehin der Verstand. Aber von den eigenen vorgenommenen Handlungen muß man sich gewiß sein können, daß sie nicht unrecht sind. Wie kann man sich dessen aber gewiß sein? In Glaubenssachen mag es das Bewußtsein der Unwissenheit sein, das einen davor bewahrt, auf Grund religiöser Überzeugungen unrecht zu tun. Die Annahme des religiösen Glaubens ist Gewissenssache; das Wissen ist Verstandessache. Wer glaubt, weiß, daß er über Gott nichts weiß: so viel muß sich nach Kant der wahrhaftig Gläubige gewiß sein. Die Geistlichen der geoffenbarten, geschichtlichen Religion handeln aber oft so, als wüßten sie Einiges über Gott – sie handeln unter anderem auch als wüßten sie, daß die Verordnungen und Gebote der sichtbaren Kirche Gottes Gebote sind. Die Verurteilung eines für ungläubig befundenen Menschen zum Tod durch den Ketzerrichter zum Beispiel beruft sich darauf, daß der

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Angeklagte duch Verstoß gegen die Kirchenordnung gegen Gottes Willen selbst verstoßen habe, wofür er – dies sei wohl auch Gottes Wille – mit dem Tod zu büßen habe (185). Der Ketzerrichter richtet in dem Sinn gewissenlos (186): er verstößt selbst gegen das oberste Gebot in Glaubenssachen, nämlich nichts zu tun, wovon er nicht wissen kann, ob es unrecht ist. Der Ketzerrichter kann Gottes Willen nicht kennen – er kann nicht wissen, ob Gott den Angeklagten zu Tode verurteilt haben will. Was er dagegen wissen kann ist, daß es unrecht ist, über einen anderen Menschen in Glaubenssachen zu richten. Kants Verurteilung des Urteiles des Ketzerrichters ist konsistent mit seinem Begriff des auf äußere Taten beschränkten rechtmäßigen Zwanges. Beim Recht muß man mit „mathematischer Genauigkeit“ feststellen können, was das Seine eines jeden ist (MS, VI 233) Wo dies im Prinzip unmöglich ist, ist der Rechtspruch unmöglich (MS, VI 234 f.). Also erhebt der Ketzerrichter Anspruch auf eine zwingende Autorität, die er gar nicht haben kann. Der Rechtsspruch, der diesen verurteilt und jenen freispricht, ist nur hinsichtlich äußerer Handlungen und Tatbestände möglich – dort, wo es im Prinzip möglich ist, das Seine eines jeden genau zu bestimmen. Der Religionsglaube ist aber keine Sache der äußeren, sondern der inneren Moral: der Ketzerrichter übersteigt seine Autorität, wenn er anstelle der Rolle eine Lehrers die eines Richters annimmt. Wiederum kann man das Argument, welches Kant gegen den Ketzerrichter anbringt, gegen Kant selbst wenden. Wenn der Ketzerrichter seine Autorität übersteigt – wenn er also eigentlich gar nicht öffentlich richten kann – warum spricht Kant dann von den kirchlichen Verordnungen als öffentlichen Verordnungen, und warum spricht er von der Kirchengemeinde als einem willentlich gestifteten, ethischen Wesen, dessen Gliederung in Oberhäupter und Mitglieder die Gesetzesfähigkeit eines vereinigten Willens andeutet? Man kann eingestehen, daß der Ketzerrichter seine Autorität übersteigt. Aber dann sollte man die Kirche auch nicht als öffentliches gemeines Wesen charakterisieren. Wenn man sie so charakterisiert, dann ist letztendlich vielleicht weniger die Rolle des Ketzerrichters verwerflich als der Anspruch eines jeden einzelnen Mitgliedes, durch Gewissenprüfung selbst entscheiden zu können, welche kirchlichen Verordnungen vom Standpunkt der Vernunftreligion annehmbar sind, und welche abzulehnen sind. Wenn es einem jeden Gemeindemitglied zusteht, die öffentlichen Gesetze der Gemeinde innerlich auf ihre moralische Rechtschaffenheit zu überprüfen, dann wird ein jeder so richten, wie er es für richtig hät. Die Tatsache allein, daß ein jeder gewissenhaft prüft, ob er diese oder jene Verordnung für religiös-moralisch vertretbar hält, garantiert nicht allgemeine Übereinstimmung im Urteil. Gewissenhafte, aber verschiedene und nicht-konsistente Privaturteile sind möglich. Welchem Urteil hat die Gemeinde – oder deren einzelene Mitglieder – dann zu folgen: folgt ein jeder seinem eigenen Urteil, gibt es keine Gemeinde mehr. Folgt man entgegen

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seinem Gewissen dem Urteil des Kirchenoberhauptes, betrügt man sich selbst in seinem Glauben. So bleibt es letztendlich fraglich, inwieweit der reine Religionsglaube als Frage des Gewissen eines jeden als öffentlicher Glaube konzipiert werden kann (Green 2005; vgl. Stevenson 2005). Es bleibt ebenso fraglich, ob Kant darauf bestehen kann, daß die sichtbare Kirche der unsichtbaren Gemeinde der Gläubigen dem Willen Gottes äußerlich Ausdruck gebe ohne in diesem Versuch genau die Züge einer öffentlichen Gesetzgebungs- und Richterkraft anzunehmen, deren öffentlichen Autoritätsanspruch Kant anschließend als Afterdienst verwirft. Kants Versuch, den wahren Religionsglauben als zumindest prinzipiell konsistent mit einem (aufgeklärten) Kirchenglauben vorzustellen, soll nicht in Frage gestellt werden. Es ist überzeugend, daß ein moralisch gerichteter Religionsglaube ein tätlicher sein muß, der in Zusammenarbeit mit anderen seinen höchsten Ausdruck findet. Ebenso ist es zumindest aus protestantischer Hinsicht überzeugend, das Gewissen in Glaubensfragen zur letzten Instanz zu machen. Aber diese Position ist vielleicht weniger generalisierbar als often angenommen. Man muß sich nicht einmal außerhalb des Christentums umsehen: Im Katholizismus kann man sich eine Spannung zwischen kirchlicher Verordnung und persönlichem Gewissen in vielen religiös-relevanten Bereichen denken. Ob das persönliche Gewissen in solchen Fällen vor der doktrinalen Autorität immer fraglos Vorrang haben sollte ist mir (als Nicht-Katholik) nicht unbedingt klar. Wenn die Religion eine kommunale Dimension hat, dann kann nicht unbedingt jede Religionsfrage letzendlich Frage des Gewissens sein. In diesem Beitrag habe ich anzudeuten versucht, daß es vor allem der in der Religion über die Rechtslehre aufgenommene Öffentlichkeitsbegriff ist, der Kants unqualifizierte Kritik am „Afterdienst“ des Pfaffentums zumindest teilweise in Frage stellt. Wenn man dem Klerus gegenüber seiner Gemeinde eine gewisse öffentliche Autorität zuspricht – was ganz vernünftig scheint wenn es um gemeinsames Glauben und Handeln geht – dann ist eine gewisse „Vergesetzlichung“ des doktrinalen Kirchenglaubens unvermeidbar. Ebenso, wenn man den wahren Glauben zu einem aller-persönlichsten Glauben macht, fällt es schwer ihn als einen gemeinsamen Glauben zu konzipieren. Man kann es auch so sagen: Kants Unterscheidung zwischen wahrem Glauben und Kirchenglauben läuft Gefahr, die Funktion des letzteren so stark zu säkularisieren, daß er schließlich wie eine staatlichöffentliche Institution erscheint, die dem wahren Glauben weniger zuträglich als abträglich ist, die der wahre Glaube aber anderseits zu benötigen scheint, um eine kollektive Dimension zu bewahren.

10 Gottesdienst und Afterdienst: die Kirche als öffentliche Institution?

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Literatur Brandt, R. 1990: Die Politische Institution bei Kant, in: Göhler, G. u. a. (Hrsg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen, 335–357. Byrd, B. S./Hruschka, J. 2005: Lex iusti, lex iuridica and lex iustitiae in Kants Rechtslehre, Archiv für Rechts- und Sozialphilosphie 91, 484–50. Green, R. M. 2005: Kant and Kierkegaard on the Need for a Historical Faith: an Imaginary Dialogue, in: Firestone, Ch. L./ Palmquist, S. R. (Hrsg.), Kant and the New Philosophy of Religion, Indiana University Press, 157–178. Ludwig, B. 2002: Whence Public Right? The Role of Theoretical and Practical Reasoning in Kant’s Doctrine of Right, in: M. Timmons (Hrsg.), Kant’s Metaphysics of Morals. Interpretative Essays, Oxford University Press, 159–184. O’Neill, O. 1989: The Public Use of Reason, in: Constructions of Reason, Cambridge University Press, 28–51. Stevenson, L. 2005: Kant’s Approach to Religion compared with Quakerism, in: Firestone, Ch. L./ Palmquist, S. R. (Hrsg.), Kant and the New Philosophy of Religion, Indiana University Press, 210– 229. Timmermann, J. 2003: Sollen und Können: „Du sollst, denn du kannst“ und „Sollen impliziert Können“ im Vergleich, Philosophiegeschichte und logische Analyse 6, 113–122. Willaschek, M. 1997: Why the Doctrine of Right does not belong in the Metaphysics of Morals. On some Basic Distinction in Kant’s Moral Philosophy, Jahrbuch für Recht und Ethik 5, 205–27.

Burkhard Nonnenmacher

11 Der Begriff sogenannter Gnadenmittel unter der Idee eines reinen Religionsglaubens 11.1 Einleitung Die Allgemeine Anmerkung zum vierten Stück (190–202) exemplifiziert das Verhältnis von Vernunft- und Offenbarungsglauben und die zuvor zum Gegenstand gemachte Unterscheidung zwischen Dienst Gottes und Afterdienst Gottes anhand der Frage, ob der „Begriff eines sogenannten Gnadenmittels“ (192) im Rahmen der entwickelten Vernunftreligion Sinn machen kann und unterzieht diesen Begriff einer Kritik. (Zur von Grund auf entwickelten Verhältnisbestimmung von Vernunft und Glaube bei Kant vgl. auch Nonnenmacher, 2018a, 25–288 sowie Nonnenmacher 2021, Nonnenmacher 2018b und Nonnenmacher 2013. Zur Kritik der Methodologie der Moraltheologie Kants in ihrer Entscheidung materialdogmatischer Fragen vgl. Nonnenmacher, 2018a, 3–12; 291–404 sowie Nonnenmacher 2020.) Das Ergebnis dieser, die gesamte Religionsschrift abschließenden Kritik, die nicht zuletzt auch dazu dient, in concreto noch einmal einige zentrale Aussagen der Religionsschrift zusammenzufassen, ist doppelter Natur und besteht in einem negativen und einem positivem Resultat. Das negative Resultat besteht darin, daß „Gnadenmittel“ als solche, beziehungsweise der Glaube daran, durch Gebet, Kirchengehen, Taufe und Kommunion auf den Willen Gottes einwirken zu können, vom Standpunkt der Vernunft aus als „Mittel einer Selbsttäuschung“ (192) und deshalb als ein „Wahn der Religion“ zu beurteilen sind, „der nicht anders als dem Geiste derselben gerade entgegen wirken kann“ (200). Dies strikt gemäß dem im zweiten Abschnitt des vierten Stücks aufgestellten „Grundsatz“, daß „alles, was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden“ ein „bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes“ ist (170, vgl. den Beitrag von K. Flikschuh in diesem Band, 10.2), indem andernfalls nicht allein Moral und praktische Vernunft unumgänglich zur Religion führte (vgl. Rel., 6), sondern vielmehr unsere natürliche Bedürftigkeit zum Prinzip einer Religion endlicher Bedürfnisbefriedigung gemacht werden würde (vgl. KpV, V 25, Rel., 193). Als positives Resultat von Kants Kritik sogenannter Gnadenmittel ergibt sich vor diesem Hintergrund, daß der „Geist“ von Gebet, Kirchengehen, Taufe und Kommunion allein darin bestehen kann, daß in diesen „Mittel“ zur „Belebung wahrhaft praktischer Gesinnungen“ (201, vgl. 195 f.) in uns gesehen werden, die selbst zum https://doi.org/10.1515/9783110782424-013

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Zweck zu erklären keineswegs nur bedeuten würde, allzusehr am „Buchstaben“ (vgl. 197) einer bestimmten Form des Offenbarungsglaubens zu kleben, sondern vielmehr in einer prinzipiellen Verkennung dessen bestünde, was nach Kant Religion als Vernunftreligion ist und sein soll, nämlich gerade keine „Ersetzung“, sondern vielmehr allein eine „Beförderung der Tugendgesinnung“ in uns (201, vgl. 112).

11.2 Natur und Gnade Die Anmerkung beginnt mit dem Satz: „Was Gutes der Mensch nach Freiheitsgesetzen für sich selbst thun kann in Vergleichung mit dem Vermögen, welches ihm nur durch übernatürliche Beihülfe möglich ist, kann man Natur zum Unterschied von der Gnade nennen.“ (190). Ihr kurzer erster Absatz (190, Z. 1–191, Z. 4) greift damit den bereits im zweiten Abschnitt des vierten Stücks formulierten Unterschied von Natur und Gnade wieder auf, das heißt die als „(wenigstens kirchlicher) Gebrauch“ übliche Unterscheidung zwischen dem „was vermöge des Tugendprincips von Menschen gethan werden kann“ und demjenigen, „was … nur den Mangel alles seines moralischen Vermögens zu ergänzen dient“ (vgl. 173 f.). An gleicher Stelle wurde mit Blick auf die Frage nach der Möglichkeit einer näheren Bestimmung solcher „Gnadenwirkungen“ zudem bereits betont, daß wir sie hinsichtlich ihrer Kennzeichen weder bestimmen noch etwas zu ihrer Hervorbringung hinzu tun können, sondern lediglich von ihnen aussagen dürfen, daß es sie geben könne und daß es sie „vielleicht zur Ergänzung der Unvollkommenheit unserer Tugendbestrebungen auch geben müsse“ (174). Ähnlich wie in der Postulatenlehre der Kritik der praktischen Vernunft die reale Möglichkeit des höchsten Guts und die Möglichkeit einer durch ein Drittes vermittelten Proportionalität von Sittlichkeit und Glückseligkeit nur ihrem „Daß“ nach im Setzen des Daseins Gottes gesetzt wird, ohne daß hieraus weitere synthetische Sätze gezogen werden könnten (vgl. KpV, V 134), läßt uns nach Kant somit auch hier die Vernunft „in Ansehung des Mangels eigener Gerechtigkeit“ nur genau dergestalt „nicht ganz ohne Trost“, daß sie uns sagt, daß derjenige, der „in einer wahrhaften der Pflicht ergebenen Gesinnung so viel, als in seinem Vermögen steht, thut“, auch hoffen darf, daß das, was nicht in seinem Vermögen steht „von der höchsten Weisheit auf irgend eine Weise […] ergänzt“ (171) werde. Nicht jedoch darf er sich damit zugleich anmaßen, „zu wissen, worin sie [diese Ergänzung] bestehe“ (vgl. ebd.), weshalb nach Kant der Gläubige gerade derjenige ist, „welcher vertrauet, ohne zu wissen, wie das, was er hofft, zugehe“ und der Ungläubige derjenige, „welcher diese Art der Erlösung des Menschen vom Bösen durchaus wissen will“, oder wissen zu müssen glaubt, um nicht alle Hoffnung auf dieselbe von vornherein aufgeben zu müssen (172).

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11.3 Die Frage nach der Widerspruchsfreiheit eines in praktischer Absicht angenommenen übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwa angelhaften Vermögen Die genannten, bereits im zweiten Abschnitt des vierten Stücks angestellten Überlegungen wiederaufgreifend spricht die Anmerkung in ihrem zweiten Absatz (191, Z. 5–19) den „Begriff eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften Vermögen“ (191) erstens als „transscendent“ und als „eine bloße Idee“ aus, „von deren Realität uns keine Erfahrung versichern kann“ (ebd.). Zweitens stellt sie zudem noch einmal kritisch die Frage, ob und inwiefern denn die Idee eines solchen übernatürlichen Beitritts überhaupt als eine in praktischer Absicht notwendige Idee bezeichnet werden kann und wendet gegen eine allzu eilfertige Bejahung dieser Frage ein, daß das, „was uns als sittliches gutes Verhalten zugerechnet werden soll, nicht nur durch fremden Einfluß, sondern nur durch den bestmöglichen Gebrauch unserer eigenen Kräfte geschehen müßte“ (191, vgl. den dritten philosophischen Grundsatz der Schriftauslegung im Streit der Fakultäten, Fak., VII 42 f.). Im Folgenden werden dann zwei unterschiedliche Begründungsstrategien für eine an diesem Gedanken ausgerichtete Skepsis gegenüber der Idee eines übernatürlichen Beistands zu unserem moralischen Vermögen zur Sprache gebracht, deren Stichhaltigkeit freilich überprüft werden muß, wenn es im Rahmen der Vernunftreligion zu einer in praktischer Absicht legitimierten Annahme der Idee eines übernatürlichen Beitritts zu unserem praktischen Vermögen kommen können soll. Die eine dieser Begründungsstrategien für eine skeptische Haltung gegenüber dieser Idee ist das am Ende des dritten Absatzes (191, Z. 20–37) ventilierte motivationstheoretische Argument, das einen Grund zur Skepsis gegenüber der Idee einer übernatürlichen Beihilfe im Verweis auf die Gefahr gegeben sieht, daß diese Idee zu praktischer „Trägheit“ führen kann, wenn sie so verstanden wird, als wolle sie sagen, daß wir „das, was wir in uns selbst suchen sollten“ unter der Idee eines übernatürlichen Beitritts „von oben herab in passiver Muße zu erwarten“ Grund haben (191). In der Tat käme die Idee eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen Vermögen so freilich gerade einer Aufweichung des qua Sollen prinzipiell implizierten Könnens (vgl. KpV, V 30) gleich und kann in diesem Sinne nicht Moment der Vernunftreligion sein. Die Überzeugung, diese Idee nur so begreifen zu können, wäre jedoch eine ähnlich verengte Sicht auf die Dinge, wie die, die in der irrigen Annahme besteht, daß Kants Vernunftglauben nicht durch sondern vielmehr zur Sittlichkeit das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele gesetzt

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wissen will, obgleich Kant selbst nicht müde wird, genau das Umgekehrte zu betonen und zu konkretisieren (vgl. u. a. KpV,V 125 f.; KU,V 450 f., Anm.; Rel., 5). Denn es ist nach Kant ja gerade der dem Sittengesetz unterstellte Wille selbst, der sich um die Realisierbarkeit des Gesollten in vernünftigen, ihrer Natur nach aber endlichen Wesen (vgl. KpV, V 25) sorgt und diese Sorge selbst daraufhin taxiert, daß diese der moralischen Gesinnung in der Reflexion einer vermeintlichen Disharmonie von Sollen und Können möglicherweise abträglich sein kann. In eben diesem Sinne ist aber auch gerade die genannte Gefahr einer zur Trägheit verleitenden Idee eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen Vermögen aufzuheben. Denn wird die Idee einer solchen Beihilfe als eine durch Sittlichkeit notwendige Idee anerkannt (vgl. bes. auch die Begründung des vierten philosophischen Grundsatzes der Schriftauslegung in Fak., VII 43 f.), dann kann sie genau nicht als Ersetzung des praktischen Prinzips mißverstanden werden, sondern muß vielmehr, wie die weitere Anmerkung zeigen will, als ein Moment der Beförderung tugendhafter Gesinnung begriffen und konkretisiert werden. Zuvor hat der zweite Absatz der Anmerkung aber noch eine andere Begründungsstrategie für eine mögliche skeptische Haltung gegenüber der Idee des göttlichen Beistands reflektiert. Dieser besteht in der einen logischen Widerspruch unterstellenden Reflexion der Tatsache, daß wir uns keinen Begriff davon machen können, wie genau göttlicher Beistand und Autonomie zusammengedacht werden können, das heißt also in der Reflexion, die aus diesem Unvermögen auf das In-sichwidersprüchlich-Sein der Idee eines göttlichen Beistandes selbst schließt und diese somit selbst zu einem hölzernen Eisen zu erklären versucht. Kants Entgegnung auf diesen vermeintlichen Widerspruch erinnert abermals an Überlegungen, die sich bereits in der Postulatenlehre der zweiten Kritik finden. Denn ähnlich wie es Kant dort wichtig ist, zu betonen, daß die Notwendigkeit der Annahme eines externen Vermittlers zwischen Tugend und Glückseligkeit, um die reale Möglichkeit des höchsten Guts in praktischer Absicht setzen zu können, nur auf einer subjektiven Unmöglichkeit unserer Vernunft gründet (vgl. KpV, V 145), argumentiert Kant auch hier, daß sich keinesfalls „beweisen“ lasse, daß nicht „beides [göttlicher Beistand und Autonomie] nebeneinander stattfinde[n]“ könnte, „weil die Freiheit selbst, obgleich sie nichts Übernatürliches in ihrem Begriffe enthält, gleichwohl ihrer Möglichkeit nach uns ebenso unbegreiflich bleibt, als das Übernatürliche, welches man zum Ersatz der selbstthätigen, aber mangelhaften Bestimmung derselben annehmen möchte“ (191). Als erstes Zwischenergebnis ergibt sich damit folgende Konstellation: Die Annahme „eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften Vermögen“ ist gewagt, indem sie die Wirklichkeit der Autonomie und moralischen Gesinnung unter Zuhilfenahme der Idee einer übernatürlichen Fremdhilfe zu sichern versucht. Da dieser Gedanke aber nicht als per se wider-

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sprüchlicher Gedanke abgetan werden kann, sondern vielmehr nur problematisch gesetzt werden muß, so ergibt sich die Situation, daß es in praktischer Absicht durchaus Sinn machen kann, den göttlichen Beistand zu setzen, um genau darin Autonomie zu verwirklichen, daß auch hiermit wieder im Dienste der Praxis einer möglichen, unserer moralischen Gesinnung abträglichen Verzweiflung an unserer Endlichkeit Vorschub geleistet werden kann (vgl. abermals die Begründung des vierten philosophischen Grundsatzes der Schriftauslegung in Fak.,VII 43 f. sowie die ähnlich aufgebaute Argumentationsstruktur am Ende des § 87 der Kritik der Urteilskraft, V 452 f.). Nachdem damit a) im zweiten und dritten Absatz die praktisch-motivationstheoretische und die logische Widerspruchsfreiheit des „Begriff[s] eines übernatürlichen Beitritts zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften,Vermögen“ (191) geklärt, b) ein praktisches Interesse an der Idee der Gnadenwirkung skizziert (vgl. auch Wood 1970, 248) und damit c) die Berücksichtigung der Vorstellung von einem göttlichen Beistand zu unserem moralischen, obzwar mangelhaften Vermögen prinzipiell legitimiert worden ist (vgl. zu dieser Argumentationsstruktur auch KpV,V 145 f.), beginnt dann der nächste Absatz damit, den „Begriff eines sogenannten Gnadenmittels“ (192) als in sich widersprüchlichen Begriff in den Blick zu nehmen.

11.4 Der Begriff eines sogenannten Gnadenmittels als in sich widersprüchlicher Begriff Die Widersprüchlichkeit des Begriffs eines sogenannten Gnadenmittels, i. e. eines von uns zur Erlangung göttlichen Beistands eingesetzten Mittels, wird von Kant im vierten Absatz (192, Z. 1–17) in der Tatsache gesehen, daß eine „übernatürliche Beihülfe“ (190) und Ergänzung des Mangels unseres moralischen Vermögens für denjenigen, der den Beistand erwartet, „eigentlich doch nur seine Sittlichkeit zur Absicht hat“ (Rel., 192). Denn daraus folgt für Kant, daß es „um des himmlischen Beistandes würdig zu werden“ nichts anderes geben kann als eine „ernstliche Bestrebung seine sittliche Beschaffenheit nach aller Möglichkeit zu bessern“ (ebd.), womit aber in der Tat weitere Versuche, sich für den göttlichen Wohlgefallen empfänglich zu machen, nicht nur überflüssig, sondern von vornherein als unmöglich beurteilt werden müssen. Zusätzlich zum bereits im zweiten Abschnitt des vierten Stücks Gesagten (vgl. 170 ff.) bringt Kant damit noch ein weiteres Argument gegen eine Lehre von sogenannten Gnadenmitteln ins Spiel. Denn während dort das erkenntnistheoretische Argument ins Feld geführt wurde, daß wir schlicht nicht bestimmen können,

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wann und wo uns welche Gnade zuteil wird, so daß wir damit auch nichts über die Mittel der Erreichung der Gnade aussagen können, so bietet Kant nun ein noch basaler ansetzendes Argument auf, das darüber gegen eine Lehre von sogenannten Gnadenmitteln argumentiert, daß es dieser unter den Prämissen einer praktischen Vernunftreligion einen inneren Widerspruch nachzuweisen versucht. Entfaltet wird dieses Argument von Kant in zwei Schritten: Der erste Schritt fußt auf der Frage: Was kann ein Gott, der unserem sittlichen Vermögen im Interesse der Sittlichkeit beistehen soll, im Hinblick auf die tatsächliche Austeilung seines Beistandes eigentlich für beistandswürdiger befinden als ein allein aus Pflicht motiviertes Streben nach einer Vervollkommnung unserer sittlichen Beschaffenheit? Kants lapidare, weil analytische Antwort auf diese Frage lautet: Nichts! Und aus genau diesem, auf den Beginn der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zurückverweisenden Argument, daß in der Tat nichts für gut gehalten, geschweige denn höher geschätzt werden kann, „als allein ein guter Wille“ selbst (vgl. GMS, IV 393), folgt dann der zweite Schritt, der schlicht darin besteht, zu folgern: Wenn es „um des himmlischen Beistandes würdig zu werden“ keine anderen Gründe geben kann als eine gute Gesinnung selbst, dann müssen und dürfen wir uns auch keine Gedanken über eine Lehre von Gnadenmitteln machen, in der diese nach einer anderen Logik als der des allein praktisch motivierten Kultivierungsgedankens bestimmt werden würden. Denn in der Tat wären derlei Annahmen nur dann begründet, wenn ein Gott angenommen werden dürfte, der zur praktischen Vernunft heterogene Kriterien für die Austeilung seines Beistands in Anschlag bringt. Das aber widerspräche Kants Vernunftglauben, in dem die Religion Folge und nicht Grund der Moral ist, in fundamentaler Weise (vgl. Höffe 1983, 255). Denn der Religion käme damit ein eigenständiger Bereich jenseits der Moral zu, was geradezu der Verkehrung des allem Religionswahn vorbeugenden Grundsatzes gleichkäme, daß nämlich – wie im zweiten Abschnitt des vierten Stücks formuliert – der Kirchenglaube „neben den statutarischen Sätzen, deren er vorjetzt nicht gänzlich entbehren kann, doch zugleich ein Princip in sich enthalten müsse, die Religion des guten Lebenswandels als das eigentliche Ziel, um jener dereinst gar entbehren zu können, herbeizuführen“ (175).

11.5 Der Dienst der Herzen und die Bestimmung des Begriffs sogenannter Gnadenmittel unter der Idee eines reinen Religionsglaubens Der fünfte Absatz (192, Z. 18–37) faßt das Ergebnis des vierten Absatzes darin zusammen, daß das, was für Gott und Gottes Gnade qua Gottesdienst zu leisten ist,

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„unsichtbar“ und ein „Dienst der Herzen“ (192) sein muß, d. i. eine allein in der moralischen Gesinnung begründete „Beobachtung aller wahren Pflichten als göttlicher Gebote“ (ebd., vgl. 153 ff., MS, VI 443). Den seit dem dritten Stück entfalteten und den Vernunftglauben der Postulatenlehre potenzierenden Gedanken wieder aufgreifend, nämlich daß „das Unsichtbare … beim Menschen durch etwas Sichtbares (Sinnliches) repräsentiert [werden muß]“ (192, vgl. 93–124, s. auch den Beitrag von A. Wood in diesem Band, 7.5), wird dann zur eigentlichen Bestimmung der Gnadenmittel als Momenten der Beförderung unserer tugendhaften Gesinnung im Rahmen eines „reinen Religionsglaubens“ übergeleitet, dem als „Vehikel und Mittel“ seiner Realisierung ein „statutarischer Kirchenglaube“ beigegeben werden muß (vgl. 106 f., s. auch den Beitrag von O. Höffe in diesem Band, 12.3). Der sechste Absatz der Anmerkung (192, Z. 33–193, Z. 17) beginnt mit der näheren Entwicklung dieses Programms, indem er zunächst allgemein bestimmt, daß der auf seine wahre Bedeutung zurückgeführte Begriff des „Gottesdienstes“ als einer „dem Reich Gottes in uns und außer uns sich weihende[n] Gesinnung“ (192) qua Vernunft in vier „Pflichtbeobachtungen“ eingeteilt werden kann, die ihre gemeinsame Wurzel, nämlich „die Absicht, das Sittlich-Gute zu befördern“ (193) in vier Weisen entfalten. Diese sind: erstens der Vorsatz, das Sittlich-Gute in uns selbst fest zu gründen, zweitens es äußerlich auszubreiten, drittens das Sittlich-Gute auf unsere Nachkommen fortzupflanzen und viertens die darin gebildete Gemeinschaft von Gliedern eines ethischen Körpers durch eine öffentliche Förmlichkeit zu erhalten (vgl. ebd.). Korrespondierend beigeordnet worden sind diesen vier Beförderungsmomenten des Sittlich-Guten nach Kant in der Tradition die mit diesen keineswegs in einer an sich notwendigen Verbindung stehenden, sondern an und für sich betrachtet vielmehr kontingenten „Förmlichkeiten“ Privatgebet, Kirchengehen, Taufe und Kommunion (vgl. ebd.) Bevor die Anmerkung daran geht, diese vier Förmlichkeiten der Tradition als Beförderungsmomente tugendhafter Gesinnung im Sinne des Vernunftglaubens nun im Einzelnen zu kritisieren, macht sie nochmals auf das generelle Prinzip ihrer Kritik dieser Förmlichkeiten aufmerksam. In Anlehnung an den im zweiten Abschnitt des vierten Stücks formulierten, oben (vgl. 11.1) bereits zitierten „Grundsatz“ formuliert der siebte Absatz (193, Z. 18–194, Z. 8) in diesem Sinne, daß „[a]lles Beginnen in Religionssachen, wenn man es nicht blos moralisch nimmt und doch für ein an sich Gott wohlgefällig machendes, mithin durch ihn alle unsere Wünsche befriedigendes Mittel ergreift“ ein „Fetischglaube“ zu nennen ist (193). Ein bloßer Fetischglaube ist die Lehre von sogenannten Gnadenmitteln damit genau dann, wenn nicht begriffen wird oder begriffen werden will, daß der Zweck der unter der Überschrift sogenannter Gnadenmittel gelehrten Förmlichkeiten nicht darin besteht, „auf Gott zu wirken“, sondern daß in diesen Förmlichkeiten vielmehr„nur auf sich selbst“ gewirkt werden soll (vgl. Rel., 195, Anm.). Denn genau in der Mißachtung

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dieses Sachverhalts ist es möglich, in diesen Förmlichkeiten ausschließlich für Gott bestimmte Handlungen zu sehen und damit die Überzeugung zu verfolgen, daß es auch außerhalb des moralischen Maßstabs möglich ist, „Gott gefällig“ zu sein, was nach Kant gemäß dem zitierten Prinzip aber damit gleichzusetzen ist, daß der Glaube an Gott im Sinne eines bloßen „do ut des“ verstanden wird und damit letztlich zu einer heteronomen, Lust-Unlust geleiteten Klugheitsregel verkommt. – Gegründet sein kann eine solche fetischgläubig zu nennende Lehre von sogenannten Gnadenmitteln nach Kant erstens darin, daß sie im Sinne des sich erst allmählich im historischen Glauben durchsetzenden Vernunftglaubens (vgl. bes. 102 ff.) noch auf einem epistemisch unzureichenden Verständnis des Verhältnisses von Moral und Religion beruht. Als zweite Form des Fetischglaubens an sogenannte Gnadenmittel unterscheidet Kant davon diejenige, die weniger in einer Schwäche des Wissens als vielmehr in einer Schwäche des Wollens gründet und sich gerade bei demjenigen einstellen kann, bei dem „die Überzeugung … schon durchgedrungen ist“, daß in der Religion alles nur „auf das Sittlich-Gute, welches nur aus dem Thun entspringen kann, ankomme“ (193). Näher bestimmt sieht Kant diese Willensschwäche in einer lustgeleiteten, das praktische Bestreben zu beschwerlich findenden und deswegen nach einem „Schleichweg“ (ebd.) suchenden Haltung, in der sich „der sinnliche Mensch“ dazu überredet, annehmen zu dürfen, daß Gott bereits auch das bloß äußerliche Begehen der als Mittel verstandenen Förmlichkeiten als Tat selbst goutiere (193, vgl. Winter 2000, 125 f.). So aber wird freilich das Mittel zum Zweck selbst erklärt und hierüber der eigentliche Zweck aufgehoben, indem der Ritus, der nicht mehr allein aus praktischer Vernunft zur Beförderung praktischer Vernunft betrieben, sondern halbherzig als Abkürzung dieses Unternehmens verfolgt wird, schlicht die Idee eines kirchlich verwirklichten ethischen Gemeinwesens selbst aufhebt, indem diese ja gerade darin gründet, nicht nur auf eine äußerliche Befolgung des Rechts zu achten, sondern über das politische Gemeinwesen hinaus eine sich in der Gesinnung ihrer einzelnen Glieder gründende ethische Vereinigung zu bilden (vgl. 93 ff.). Die Einleitung in die Einzelkritik von Privatgebet, Kirchengehen, Taufe und Kommunion abschließend, bezeichnet der achte Absatz (194, Z. 9–28) vor diesem Hintergrund den Glauben an Gnadenmittel als die dritte mögliche Art von „Wahnglauben“ (194), nachdem zuvor durch die Anmerkungen zum zweiten und dritten Stück bereits „der Glaube an Wunder“ und „der Glaube an Geheimnisse“ als mit dem Vernunftglauben nicht zusammen bestehen könnende Formen des Fetischglaubens desavouiert worden sind (vgl. hierzu auch 52 f., wo bereits ein ähnlicher Überblick über diese drei Formen des Wahnglaubens unter den Stichworten „Aberglaube“, „Illuminatism“ und „Thaumaturgie“ vorausgeschickt ist). Wichtig ist, daß die am Ende der Religionsschrift noch zu kritisierende dritte Form des Wahnglaubens auf die beiden zuvor kritisierten Formen aufbaut. Denn als der

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Wahn, „durch den Gebrauch bloßer Naturmittel eine Wirkung, die für uns Geheimniß ist, nämlich den Einfluß Gottes auf unsere Sittlichkeit hervorbringen zu können“ (194), setzt dieser ja bereits den Wahn voraus, dem theoretischen Unvermögen, Autonomie und Gottes Beistand als konkrete Einheit denken zu können, selbst mit einem wie im Einzelnen dann auch immer näher zu konkretisierenden Theoretisieren und Vernünfteln entgegentreten zu können, anstatt diesem allein unter einem Primat des Praktischen (vgl. KpV, V 119–121, vgl. zudem den ersten philosophischen Grundsatz der Schriftauslegung in Fak., VII 38) zu begegnen, auf welchem Wege derlei Vernünfteleien darin vermieden werden, daß im Sinne der seit dem Kanon-Kapitel der ersten Kritik (vgl. bes. KrV, B 848–859) entfalteten Methode praktischen Glaubens vermeintliche objektive Aussage als praktische Selbstbezugnahmen begriffen werden (vgl. KpV, V 11, Anm.; Höffe 1983, 256; Zöller 1984, 285). Als um so interessanter erscheint damit aber nun die Frage, was nach Kant von dieser in ihren Voraussetzungen bereits destruierten dritten Form des Wahnglaubens im Rahmen eines praktischen Vernunftglaubens konkret übernommen werden darf, indem es als Moment der „Belebung wahrhaft praktischer Gesinnungen“ in uns kritisiert werden kann.

11.5.1 Das Beten Im neunten Absatz (194, Z. 29–198, Z. 14) bezeichnet Kant das Gebet als den herzlichen Wunsch, „Gott in allem unserm Thun und Lassen wohlgefällig zu sein“ (194, vgl. 29). Gemäß der im sechsten Absatz bestimmten ersten „Pflichtbeobachtung“, die darin bestand, „das Sittlich-Gute in uns selbst fest zu gründen“, ist der Mensch im Sinne eines reinen Religionsglaubens hierbei jedoch allein aus praktischem Interesse heraus um die Belebung seiner moralischen Gesinnung besorgt. Als „Geist des Gebets“ (195) läßt Kant damit unter Berufung auf das Vaterunser (Mt 6,9–13) „nichts, als den Vorsatz zum guten Lebenswandel“ gelten, „der, mit dem Bewußtsein unserer Gebrechlichkeit verbunden, einen beständigen Wunsch enthält, ein würdiges Glied im Reiche Gottes zu sein; also keine eigentliche Bitte um Etwas, was uns Gott nach seiner Weisheit auch wohl verweigern könnte, sondern einen Wunsch, der, wenn er ernstlich (thätig) ist, seinen Gegenstand (ein Gott wohlgefälliger Mensch zu werden) selbst hervorbringt.“ (195, Anm.) Der weitere Verlauf der Anmerkung zum „Beten“ (195, Z. 6–197, Z. 38) versucht diesen Punkt nun näher zu konkretisieren.

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11.5.1.1 Gebet und praktische Gewißheit Dies zunächst in einer Exegese des Vaterunser-Verses „Unser tägliches Brot gib uns heute“ (Mt 6,11). Auch hierin ist nach Kant nämlich kein Wunsch des Menschen für sich als endliches Naturwesen zu sehen, sondern vielmehr ein Bekenntnis eines „thierischen gefühlten Bedürfnisses“ und d. h. dessen, was die Natur in uns fordert, dem aber gerade im Sinne eines zu vermeidenden Gesinnungsabbruchs dergestalt Rechnung zu tragen ist, daß im Dienste der Moral eine maßvolle Berücksichtigung unserer auf unserer endlichen Natur gegründeten Affizierbarkeit stattfindet (vgl. zu dieser Argumentationsstruktur auch die Berücksichtigung des „kargen Geizes“ in der Tugendlehre der Metaphysik der Sitten, VI 432 sowie Esser 2004, 364 ff.). Im Gebet ist in solch praktisch motivierter Berücksichtigung unserer natürlichen Bedürftigkeit nun bereits dann der Gegenstand des Wunsches hervorgebracht, nämlich in der Annahme des bestimmten Glaubensinhaltes zur Selbstkultivierung des Menschen beizutragen, wenn der Wunsch um das tägliche Brot im Vertrauen darauf geäußert wird, daß er in Erfüllung geht. Denn in diesem Erfüllungsvertrauen wird ja bereits unsere natürliche Sorge und damit deren Abträglichkeit für unsere moralische Gesinnung aufgehoben. Nicht zuletzt deshalb knüpft Kant hieran auch direkt die Bemerkung an, daß ein solches Gebet nur„im Glauben“ geschehen könne, d. i. nur unter der allein durch einen moralischen Vernunftglauben zu gewährleistenden Setzung, daß man sich „der Erhörlichkeit“ des Gebets auch „versichert halten“ darf (195 f., Anm.). Konform zu den drei im Kanon-Kapitel der Kritik der reinen Vernunft unterschiedenen Formen subjektiv zureichenden Fürwahrhaltens, i. e. dem pragmatischen, doctrinalen und moralischen Glauben (vgl. KrV, B 851–856), unterstreicht Kant damit, daß wir allein ein Gebet, das auf einen „moralischen Gegenstand“ gerichtet ist, „mit Gewißheit für erhörlich“ halten können (195, Anm.), indem es eben einzig der moralische Glaube ist, der es uns in praktischer Absicht (vgl. Guyer 2000; Hermanni 2002, 289 f.) erlaubt, bestimmte theoretische Sätze über eine bloße Hypothese hinausgehend als moralisch gewisse Sätze anzunehmen (zum Begriff einer sogenannten moralischen Gewißheit vgl. KrV, B 857). Keineswegs ist damit aber gesagt, daß wir auch Aussagen darüber machen können, wann und wie Gott unsere Gebete für einen im Dienste der Moral stehenden übernatürlichen Beistand erhört. Vielmehr schärft Kant auch hier noch einmal ein (vgl. 2.), daß dieser Glaube lediglich in der Idee „von der überwiegenden Wichtigkeit der moralischen Beschaffenheit des Menschen“ gründet und damit ein durch Sittlichkeit selbst gegebener Grund dafür ist, darauf „vertrauen zu können, daß, wenn wir das ganz wären oder einmal würden, was wir sein sollen und (in der beständigen Annäherung) sein könnten, die Natur unseren Wünschen, die aber selbst alsdann nie unweise sein würden, gehorchen müßte“ (196, Anm.).

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11.5.1.2 Öffentliches Gebet und praktisches Selbstbewußtsein Auf das „Kirchengehen“ bereits vorausgreifend endet die Anmerkung damit, daß sie vor dem Hintergrund des zum Privatgebet Gesagten „das öffentliche Gebet“ als eine „ethische Feierlichkeit“ ausspricht, in der „der Wunsch eines jeden mit den Wünschen aller zu einerlei Zwecke (der Herbeiführung des Reiches Gottes) als vereinigt vorgestellt werden soll“, um eben hierin „jedes Einzelnen moralische Triebfeder desto mehr in Bewegung zu setzen“ (197, Anm.). Interessant ist hier besonders Kants Betonung des Umstands, daß diese zweite Form des Gebets „mehr Vernunftgrund für sich“ habe, den „moralischen Wunsch, der den Geist des Gebets ausmacht“ in eine „förmliche Anrede“ zu kleiden (vgl. ebd.). Gegeben sieht Kant diesen Grund darin, daß es im Falle des öffentlichen Gebets darum geht, durch eine „äußere“ Feierlichkeit „die Vereinigung aller Menschen im gemeinschaftlichen Wunsche des Reiches Gottes“ vorzustellen und dabei aber die Anrede des Oberhaupts dieses Reiches im Grunde genommen bereits in einem Ausdruck des allgemeinen Wunsches und Wirklichkeit der Gemeinschaft selbst ist, wie Kant in Anspielung auf Mt 18,19–20 mit dem Schlußsatz der Anmerkung unterstreicht (vgl. ebd.). Bereits an Hegels Religionsphilosophie erinnernd, zieht diese Reflexion Kants damit auch die Frage nach sich, inwieweit sie nicht bereits selbst darüber nachzudenken versucht, daß die qua Anrede wirkliche praktische Tat in dieser ihrer eine intersubjektive Einheit stiftenden Funktion genau deshalb als die mehr Vernunftgrund für sich habende Form des Gebets beschrieben werden muß, weil in ihr nicht nur, wie im Privatgebet, zur Beförderung unserer Gesinnung ein Gott und eine von diesem zur Beförderung unserer Gesinnung ausgehende Kraft vorgestellt wird (vgl. 197, Anm.), sondern hier vielmehr das Vorstellen solcher in praktischer Absicht wirksam sein sollender Vorstellungen qua Gemeinschaft selbst als eine eigene, Theorie und Praxis in praktischer Absicht einende Wirklichkeit erlebt werden zu können scheint (vgl. ebd.).¹

1 Vgl. hierzu u. a. das Ende des Kapitels „Die offenbare Religion“ der Phänomenologie des Geistes in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Gesammelte Werke, hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Hamburg 1968 ff., Bd. IX, 421: „So wie der einzelne göttliche Mensch einen ansichseyenden Vater, und nur eine wirkliche Mutter hat, so hat auch der allgemeine göttliche Mensch, die Gemeinde, ihr eignes Thun und Wissen zu ihrem Vater, zu ihrer Mutter aber die ewige Liebe […].“ Vgl. zudem Förster 1998.

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11.5.1.3 Gebet und Pflicht Abermals an die Postulatenlehre der zweiten Kritik und ihre Unterscheidung von Bedürfnis und Pflicht (vgl. KpV,V 125) sowie an ihre Betonung davon erinnernd, daß es keine praktische Pflicht geben kann, die Existenz Gottes anzunehmen (vgl. ebd.), fährt der Haupttext dann damit fort, zu unterstreichen, daß der Wunsch und Vorsatz zum guten Lebenswandel, der qua Gebet in Ansehung der eigenen Gebrechlichkeit in Gebetsformeln gestärkt und hierin in seiner Realisierung in uns befördert werden soll, keinesfalls selbst zur Pflicht erhoben werden kann (vgl. 196 f.). Wie schon in der zweiten Kritik sieht Kant den Grund hierfür in einer nur subjektiven Notwendigkeit (vgl. KpV, V 125) gegeben, die von ihm an dieser Stelle der Religionsschrift dahingehend konkretisiert wird, daß das Beten als bloße Förmlichkeit in keiner unmittelbaren Beziehung zum Sittengesetz stehe und nur demjenigen vorgeschrieben werden könne, der es bedarf, indem eben nicht jedermann dieses Mittel (gleichermaßen) nötig hat, weil „durch fortgesetzte Läuterung und Erhebung der moralischen Gesinnung“ ja gerade daran gearbeitet wird, daß der Geist des Gebets dergestalt belebt wird, daß „der Buchstabe desselben […] endlich wegfallen könne“ (197). Der erste Grund für dieses Hinarbeiten auf eine Trennung von Geist und Buchstabe besteht für Kant wie im siebten Absatz bereits dargestellt darin, daß der Buchstabe in seiner unreflektierten Form die Gefahr in sich trägt, den wahren Zweck zu verkennen, indem die Mittel selbst schon für Zwecke gehalten und dabei im Sinne heteronomer Triebfedern uminterpretiert werden. Hier unterstreicht Kant diese Haltung nun weiter, indem er betont, daß „die Wirkung der moralischen Idee (die, subjectiv betrachtet, Andacht heißt)“ (197), in der „Betrachtung der tiefen Weisheit der göttlichen Schöpfung“ (ebd.) weniger darin besteht, das Gemüt „in diejenige dahin sinkende, den Menschen gleichsam in seinen eigenen Augen vernichtende Stimmung, die man Anbetung nennt“ zu versetzen, sondern vielmehr darin, daß sie „in Rücksicht auf die eigene moralische Bestimmung“ eine „so seelenerhebende Kraft“ besitzt, „daß dagegen Worte, wenn sie auch die des königlichen Beters David … wären, wie leerer Schall verschwinden müssen“ (ebd., vgl. 2 Sam 22–23.). Abermals wird damit der Begriff der Autonomie als Schlüssel zur rechtverstandenen Vorstellung herausgestellt und unter genau dieser Überschrift wiederholt betont, daß Religion als Vernunftreligion keine nicht zu entmythologisierenden Bilder kennt, sondern diese in letzter Konsequenz immer am Maßstab der Autonomie als auf den Begriff zu bringende Momente praktischer Vernunft zu beurteilen weiß. Ganz in diesem Sinne beendet Kant seine Ausführungen zum Gebet dann auch in der für die weiteren Überlegungen programmatischen und hier deshalb ausführlicher zitierten Forderung, „selbst bei der frühesten mit Kindern, die des Buchstabens noch bedürfen, angestellten Gebetsübung sorgfältig einzu-

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schärfen, daß die Rede … hier nicht an sich etwas gelte, sondern es nur um die Belebung der Gesinnung zu einem Gott wohlgefälligen Lebenswandel zu thun sei, wozu jene Rede nur ein Mittel für die Einbildungskraft ist; weil sonst alle jene devote Ehrfurchtsbezeugungen Gefahr bringen, nichts als erheuchelte Gottesverehrung statt eines praktischen Dienstes desselben, der nicht in bloßen Gefühlen besteht, zu bewirken.“ (198).

11.5.2 Das Kirchengehen Im zehnten Absatz (198, Z. 15–199, Z. 15), dem ersten der drei weiteren, jedoch viel kürzeren Abschnitte zu den übrigen „Gnadenmitteln“, bezeichnet Kant an die Anmerkung im neunten Absatz anknüpfend das „Kirchengehen“ als „eine sinnliche Darstellung der Gemeinschaft der Gläubigen“ (198), die nicht nur als Mittel der Erbauung des Einzelnen dient, sondern ebenso eine „für das Ganze unmittelbar obliegende Pflicht“ (ebd.) ist, sofern sich die Gläubigen als Bürger eines hier auf Erden vorzustellenden göttlichen Staates begreifen. Ebensowenig wie das Gebet ist damit das Kirchgehen als ein Gnadenmittel zu verstehen, sondern vielmehr ist die Auffassung, daß Gott „mit der Celebrirung dieser Feierlichkeit (einer bloß sinnlichen Vorstellung der Allgemeinheit der Religion) […] besondere Gnaden verbunden habe“ nach Kant ebenfalls als ein bloßer Wahn zu bezeichnen (199). Denn mit einem auf Rechtsverhältnissen basierenden politischen Gemeinwesen mag diese bloß an „der äußeren Anständigkeit“ hängende „Denkungsart“ zwar zusammenstimmen, nicht aber mit der Idee eines Bürgers im Reiche Gottes, das ein Reich der Gesinnung ist und nicht nur nicht qua bloß äußerlichem Kirchengehen befördert wird, sondern nach Kant von solchem äußerlichem Kirchgehen sogar „verfälscht“ werden kann, indem sich mittels des bloß äußerlichen Kirchengehens gerade die Möglichkeit bietet, „den schlechten moralischen Gehalt seiner Gesinnung den Augen anderer und selbst seinen eigenen durch einen betrüglichen Anstrich zu verdecken“ (199). Die den Begriff „Erbauung“ erläuternde Anmerkung zum zehnten Absatz unterstreicht in diesem Sinne noch einmal eigens, daß die „Folge aus der Andacht auf das Subject“ gerade „nicht in der Rührung“ liege, sondern vielmehr in der „wirkliche[n] Besserung des Menschen“, sofern im Sinne des Vernunftglaubens unter „vermeintlich Andächtigen“ nicht nur„Andächtler“ zu finden sein sollen (198, Anm., vgl. Mt 6,5). Zudem betont die Anmerkung, daß dies nur dann gelingen kann, wenn man „systematisch zu Werke geht“, worunter Kant versteht, daß man dem Menschen „feste Grundsätze nach wohl verstandenen Begriffen tief ins Herz legt, darauf Gesinnungen … errichtet, sie gegen Anfechtung und Neigung verwahrt und sichert und so gleichsam einen neuen Menschen als einen Tempel Gottes erbaut“ (ebd., vgl.

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Eph 2,19–21, 1 Petr 2,5). Nicht gelingt es nach Kant also ein solches Gebäude durch bloßes „Anhören oder Lesen und Singen“ zu gründen, denn so wären die hier verhandelten, den Menschen gegen Anfechtung und Neigung sichern sollenden Materialien ganz ohne Begriff und Grund, auf dem aufbauend sie allein die ihnen jeweils in praktischer Absicht zukommende Funktion übernehmen und darin zu einem Moment praktischer Wirklichkeit werden können (zur Gebäude-Metapher vgl. auch KrV, B 735 f. und KpV, V 3 f.).

11.5.3 Die Taufe Auch die Taufe kann im Sinne der am Kirchengehen geübten Kritik nicht als ein Mittel verstanden werden, das aufgrund einer äußerlichen Handlung ein Subjekt für die göttliche Gnade empfänglich macht. Deswegen ist die Taufe gemäß dem elften Absatz der Anmerkung (199, Z. 16–29) auch selbst keine heilige Handlung, sondern vielmehr nur „die erste Aufnahme zum Gliede einer Kirche“ (199). Diese besteht entweder darin, daß der Aufzunehmende sich selbst qua bekanntem Glauben Verbindlichkeiten aufzuerlegen imstande ist (Erwachsenentaufe), oder darin, daß an seiner Stelle Zeugen diesen Akt übernehmen, indem sie sich dazu verpflichten, seine Erziehung in diesem Glauben zu betreiben (Kindertaufe). Heilig ist an der Taufe nach Kant damit nur deren Ziel, nämlich „die Bildung eines Menschen zum Bürger in einem göttlichen Staate“ (ebd.). – Eine klare, auf der Unterscheidung von Mittel und Zweck aufbauende Differenzierung zwischen Offenbarungs- und Vernunftglauben bildet also auch hier wieder das Prinzip der Kritik. Niederschlag findet dies nicht zuletzt auch darin, daß Kant der seinem Kultivierungs- und Bildungsgedanken vollkommen wider-sprechenden Idee, durch die Taufe „alle Sünden auf einmal abwaschen zu können“ (ebd.) eine klare Absage erteilt und diese Idee mit besonderem Blick auf die „erste griechische Kirche“ als einen Wahn bezeichnet, der „seine Verwandtschaft mit einem fast mehr als heidnischen Aberglauben öffentlich an den Tag legte“ (ebd.).

11.5.4 Die Kommunion Als letztes vermeintliches Gnadenmittel behandelt Kant die Kommunion. Ihren Geist sieht Kant im zwölften Absatz (199, Z. 30–200, Z. 10) im Sinne des Vernunftglaubens in dem Zweck „die enge, eigenliebige und unvertragsame Denkungsart der Menschen“ zur „Idee einer weltbürgerlichen moralischen Gemeinschaft“ zu erweitern, indem die „mehrmals wiederholte Feierlichkeit einer Erneuerung, Fortdauer und Fortpflanzung dieser Kirchgemeinschaft“ als Mittel dafür gebraucht wird, „eine

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Gemeinde zu der darunter vorgestellten sittlichen Gesinnungder brüderlichen Liebe zu beleben“ (199 f.). Nicht kann somit wieder das bloße Zelebrieren dieser Feierlichkeit als Garant für die Gewährung besonderer Gnaden begriffen werden. Denn auch das zu hoffen, wäre dem Geiste der Vernunftreligion diametral entgegengesetzt, weil so abermals lediglich qua äußerlichem Vollzug einer „Feierlichkeit“ eine Befriedigung von Eigeninteressen verfolgt würde, statt daß genau umgekehrt eine Festigung unserer moralischen Gesinnung darüber betrieben wird, daß unserer endlichen Natur in Gestalt von Symbolen und Riten im Dienste der Sittlichkeit Rechnung zu tragen versucht wird.

11.6 Schluß Der 13. Absatz (200, Z. 11–202, Z. 5) und Schluß der Allgemeinen Anmerkung zum vierten Stück faßt die zuvor geübte Kritik an den Gnadenmitteln zusammen. So haben nach Kant alle zuvor besprochenen „erkünstelten Selbsttäuschungen“ einen gemeinschaftlichen Grund. Kant sieht diesen, den Gedanken des das praktische Bestreben beschwerlich findenden sinnlichen Menschen aus dem siebten Absatz wiederaufgreifend, darin gegeben, daß es für vernünftige, ihrer Natur nach aber endliche Wesen „mühsam“ ist, „ein guter Diener zu sein“ und es daher auf dem nur langsam fortrückenden Bau und Weg der Selbstkultivierung des Menschen naheliegt, danach zu suchen, auf anderem Wege Gottes „Favorit“ werden zu können (201, vgl. Blumenberg 1954). Genauer besteht die Verfolgung solcher im siebten Absatz als Schleichwege bezeichneten Alternativen nach Kant darin, daß gewisse „Mittel zur Belebung wahrhaft praktischer Gesinnungen“ zu „Gnadenmitteln“ umgedeutet werden (vgl. 201), wodurch die Arbeit der Kultivierung selbst auf wundersame Weise wegfällt, wenn diese Mittel dabei nicht mehr nur als Mittel der mit ihrer Hilfe zu verrichtenden praktischen Selbstkultivierung, sondern vielmehr als ein zweiter Weg zur Glückswürdigkeit erscheinen dürfen, den freilich die Kritik der praktischen Vernunft gerade ausgeschlossen zu haben beansprucht (vgl. KpV, V 110). Dies mißachtend, indem solche Schleichwege und Alternativen für möglich erachtet werden, entsteht somit der Wahnglaube, daß diese Mittel selbst für wesentliche Bestandteile der Religion zu halten sind, wenn nicht sogar für das Ganze derselben, womit dann aber gilt, daß sich der Mensch der „Frömmigkeit“ als „einer passiven Verehrung des göttlichen Gesetzes“ überläßt, anstatt daß er diese mit dem Begriff der Tugend im Sinne einer sich in bestimmten Glaubensaussagen verwirklichenden Selbstkultivierung verbindet, was nach Kant vom Standpunkt der Vernunft aus „allein die Idee ausmachen kann, die man unter dem Worte Gottseligkeit (wahre Religionsgesinnung) versteht“ (201, vgl. auch den zweiten philosophischen Grundsatz der Schriftauslegung in Fak., VII 41 f.).

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Noch einmal zeigt sich damit am Ende der Religionsschrift als aufs engste miteinander verknüpft a) die Verkehrung von Mittel-Zweck-Verhältnissen, b) die Preisgabe des praktischen Standpunkts zugunsten eines Lust-Unlustgetriebenen theoretisch-dogmatischen Vernünftelns sowie c) der Verlust des qua Vernunftglauben etablierten Begriffs dafür, aus einem rein praktischen Interesse der Vernunft heraus bestimmte theoretische, als solche aber nicht erweisliche Sätze einem apriori gültigen praktischen Gesetz als unzertrennlich anhänglich denken zu können und denken zu wollen (vgl. KpV, V 122). Was Kant am Ende der Religionsschrift nochmals eindrücklich unterstreicht, ist somit die Wichtigkeit davon, unterscheiden zu können, wann und wo bestimmte Inhalte des Geschichts- und Erscheinungsglaubens als bloße Mittel des Vernunftglaubens verkannt sind, indem sie selbst als Zwecke mißdeutet werden und darin Gefahr laufen, das praktische Anliegen des Vernunftglaubens zu verderben. Zu verderben nämlich entweder in einer die Mittel zum Zweck erklärenden „Frömmigkeit“ (201), die sich, dem dogmatischen Glauben gleich, deshalb nicht mehr um das praktische Vernunft-Interesse sorgt, weil ihr – unter der „Anmaßung der Vertraulichkeit eines vermeinten verborgenen Umgangs mit Gott“ (ebd.) – ihr vermeintlicher direkter Draht zu Gott selbständig von der Praxis sein zu können scheint. Oder zu verderben in einem möglicherweise gerade durch dergleichen Frömmigkeiten beförderten Skeptizismus gegenüber allen Glaubensinhalten, das heißt in der zweiten Form des von Kant sogenannten „Vernunftunglaubens“ (vgl. Was heißt: Sich im Denken orientieren?, VIII 146), welche mit der ersten Form des Vernunftunglaubens, dem Dogmatismus, darin übereinkommt, daß beide gleichermaßen das praktische Bedürfnis des Glaubens verkennen, indem sie es entweder dogmatisch als Wissen (respektive als Vertraulichkeit) oder skeptisch als bloße Meinung mißdeuten (vgl. Hutter 2004). Ganz in diesem Sinne faßt Kant am Ende der Religionsschrift auch die von ihr kritisierte Gefahr des Wahnglaubens nochmals dahingehend zusammen, daß den vermeintlichen „Himmelsgünstling“, wenn er auf anderem Wege als auf dem der Tugend selbst zur Religion gelangt und wenn er sich auch als ohne Tugend und allein aus Gnade der Glückseligkeit Würdiger betrachten darf, „endlich die Tugend an[ekelt]“ und „ihm ein Gegenstand der Verachtung“ werde (201). Eben so ist aber der Weg frei für eine Kultivierung des Eigensinns und in einem solchen Religion und Moral als Parallelwelten verstehenden Verständnis von Religion ist es nach Kant dann auch „kein Wunder, wenn öffentlich geklagt wird: daß Religion noch immer so wenig zur Besserung der Menschen beiträgt, und das innere Licht (‚unter dem Scheffel‘) dieser Begnadigten nicht auch äußerlich durch gute Werke leuchten will“ (ebd.). Nach dieser impliziten Anspielung auf Mt 5,13–16 beruft sich Kant dann noch ein letztes Mal explizit auf das Matthäusevangelium, das „diese äußere[n] Beweisthümer äußerer Erfahrung selbst zum Probirstein an die Hand gegeben [hat],

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woran als an ihren Früchten man sie und ein jeder sich selbst erkennen kann“ (201, vgl. Mt 7,16 und Jer 17,10). Ganz zum Schluß der Religionsschrift soll mit diesem Verweis auf Mt 7,16 nicht zuletzt auch noch einmal bekräftigt werden, daß a) ihr Ziel, zu zeigen, „daß zwischen Vernunft und Schrift nicht blos Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei“ (13), nun erreicht und somit b) der durch die erste und zweite Kritik (vgl. bes. KrV, B xxx, KpV, V 3 f.) geprägte Grundgedanke der Kantischen Religionsphilosophie als gemeinsames Zentrum von Vernunft- und Offenbarungsglauben (vgl. 12) demonstriert ist, nämlich der Grundgedanke, Religion nicht als Grund, sondern als Folge von Moral zu begreifen und zu entfalten.

Literatur Blumenberg, H. 1954: Kant und die Frage nach dem „gnädigen Gott“, in: Studium Generale 7, Berlin, 554–570. Esser, A. M. 2004: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt. Förster, E. 1998: Die Wandlungen in Kants Gotteslehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, Frankfurt/M., 341–362. Guyer, P. 2000: From a Practical Point of View: Kant’s Conception of a Postulate of Pure Practical Reason, in: Ders., Kant on Freedom, Law, and Happiness, Cambridge, 333–371. Hermanni, F. 2002: Das Böse und die Theodizee. Eine philosophisch-theologische Grundlegung, Gütersloh. Höffe, O. 1983: Die Religion der praktischen Vernunft, in: Ders., Immanuel Kant, München 92020, 254– 265. Hutter, A. 2004: Vernunftglaube. Kants Votum im Streit um Vernunft und Glauben, in: Jaeschke. W./Sandkaulen, B. (Hrsg.), Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, Hamburg, 241–256. Nonnenmacher, B. 2013: „Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse der reinen Vernunft“ – Zum Vehältnis von theoretischer und praktischer Vernunft in Kants Postulatenlehre, in: Bacin, S./Ferrarin, A./La Rocca, C./Ruffing, M. (Hrsg.), Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/New York, 2, 905–918. Nonnenmacher, B. 2018a: Vernunft und Glaube bei Kant, Tübingen. Nonnenmacher, B. 2018b: Vernunftglaube und Vernunftunglaube bei Kant, in: Waibel, V. (Hrsg.), Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen Kant-Kongresses, Berlin/Boston, 2905–2913. Nonnenmacher, B. 2020: Hegels Kritik der Theologiekritik Kants. Zur Frage, worin sie besteht und was man heute noch mit ihr anfangen kann, in: Kühnlein, M./Ottmann, H. (Hrsg.), Religionsphilosophie nach Hegel: Über Glauben und Wissen nach dem Tod Gottes (Reihe: Neue Horizonte der Religionsphilosophie, Bd. 1), Frankfurt 2020, 161–178. Nonnenmacher, B. 2021: Vernunftglaube und Architektonik der reinen Vernunft, in: Serck-Hanssen, C. (Hrsg.), The Court of Reason. Akten des XIII. Internationalen Kant-Kongresses in Oslo 2019, Berlin/Boston, 2005–2012.

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Winter, A. 2000: Gebet und Gottesdienst bei Kant: nicht „Gunsterwerbung“, sondern „Form aller Handlungen“, in: Ders., Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, Hildesheim, 115–161. Wood, A. W. 1970: Kant’s Moral Religion, Ithaca/Cornell. Zöller, G. 1984: Theoretische Gegenstandsbeziehung bei Kant. Zur systematischen Bedeutung der Termini „objektive Realität“ und „objektive Gültigkeit“ in der „Kritik der reinen Vernunft“, Berlin.

Otfried Höffe

12 Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung: Ein Blick in den Streit der Fakultäten 12.1 Das Grundanliegen der Schrift Fünf Jahre nach der Religionsschrift setzt sich Kant erneut mit Religionsfragen auseinander. Im Streit der Fakultäten verteidigt er in drei Abhandlungen das Eigenrecht der sogenannten unteren, der Philosophischen Fakultät, gegenüber den drei oberen Fakultäten. Gemäß der überlieferten, auch damals herrschenden Reihenfolge stellt Kant zunächst den Streit der Philosophischen mit der Theologischen, dann den mit der Juristischen, schließlich den mit der Medizinischen Fakultät dar. In jedem Streit geht es um ein anderes Thema und um eine andere Absicht. Der erste Streit richtet sich auf die „Grundsätze der Schriftauslegung“, der zweite auf die Frage: „Ob das menschliche Geschlecht im beständigen Fortschreiten zum Besseren sei“, der dritte auf die „Macht des Gemüths, durch den bloßen Vorsatz seiner krankhaften Gefühle Meister zu sein“. Trotz dieser Heterogenität der Themen und Absichten, auch der unterschiedlichen Abfassungszeit sieht Kant zu Recht in den drei Abhandlungen eine systematische Einheit. Wie die „Vorrede“ zeigt und der weit größere Umfang des zuständigen ersten Teils bestätigt, steht allerdings der „Streit der philosophischen Fakultät mit der theologischen“ im Vordergrund. (Der einschlägige „Anhang“ der ersten Abhandlung umfaßt in der Originalausgabe 83 Seiten: 44–127, die beiden anderen Abschnitte 31: 131–162, bzw. 38 Seiten: 165–203.) Dem geht jedoch als ein Rahmen der drei Kontroversen eine Grundsatzüberlegung zum Wesen der einschlägigen Institution, der Universität, und deren Gliederung voran. Schon im ersten, auf die derzeitige Regierung bezogenen Satz der „Vorrede“ klingt Kants Grundinteresse an: ein kompromißlos kraftvolles Plädoyer für „eine aufgeklärte, den menschlichen Geist seiner Fesseln entschlagende … Freiheit im Denken“. Dieses Denken ist auf nichts als jene wissenschaftsimmanenten Leitgedanken verpflichtet, nämlich auf Wahrheit und auf Mündigkeit sowie Selbstbestimmung im Gegensatz zu Fremdbestimmung und Außenlenkung. Und dafür trage in wissenschaftlicher Hinsicht die Philosophische Fakultät die Verantwortung. Gleichwohl heißt Kant die „gleichsam fabrikenmäßig[e]“ Arbeitsteilung in der Universität gut, samt deren Untergliederung in drei obere (Theologie, Jurisprudenz, Medizin) und eine untere, Philosophische Fakultät, die wiederum in zwei Teile https://doi.org/10.1515/9783110782424-014

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zerfalle, die Gesamtheit der historischen im Sinne von empirischen Erkenntnis (Geschichte, Geographie, Sprachwissenschaft und Naturwissenschaft) und die reine Vernunfterkenntnis (Mathematik und Philosophie). Auf den ersten Blick scheint er damit sein Plädoyer zu konterkarieren, nämlich den klaren Gegensatz von Selbst- und Fremdbestimmung zu relativieren. In Wahrheit relativiert er die Untergliederung in die vier Fakultäten, da sie nicht aus der Perspektive der Gelehrten selbst, also der Innenperspektive, erfolge. Kant läßt sich auf eine Außenperspektive, die der Regierung ein, für die die Absolventen der ersten drei Fakultäten, also die Geistlichen, Justizbeamten und Ärzte, „Werkzeuge“ seien. Schiebt man dagegen das wissenschaftsexterne Kriterium beiseite und läßt nur das wissenschaftsinterne Maß gelten, das Leitprinzip der Wahrheit (Fak., VII 27), so gebühre der Vorrang allein der Philosophischen Fakultät. Denn in ihr zählen lediglich die eigene Vernunft der Wissenschaftler (VII 18 f.) und das Prinzip Freiheit (VII 20, 23 f. 30 u. a.). Gemäß der wissenschaftsexternen Gliederung der Schrift, aber auch wegen des politischen Hauptinteresses, einer erneuten Stellungnahme zum Zensurkonflikt, beginnt Kant mit der Theologie. Schon die „Vorrede“ der gesamten Schrift verwahrt sich gegen den Vorwurf, „Grundlehren der heil. Schrift und des Christenthums“ mißbraucht zu haben (VII 7). Und zum Titel der inkriminierten Religionsschrift erklärt Kant, daß dort die Religion nicht „aus bloßer Vernunft (ohne Offenbarung)“ untersucht wurde; denn „das wäre zu viel Anmaßung gewesen“.Vielmehr sei es auf den Anteil im Offenbarungstext angekommen, der „auch durch bloße Vernunft erkannt werden“ könne (VII 6). Nach Kants allgemeinen Überlegungen schöpfen die oberen Fakultäten ihre Lehren jeweils aus einschlägigen Schriften, also der biblische Theologe „nicht aus der Vernunft, sondern aus der Bibel, der Rechtslehrer nicht aus dem Naturrecht, sondern aus dem Landrecht“ (Kant meint das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten, das 1794 in Kraft trat), und der Arzneigelehrte aus der Medizinalordnung (VII 23). Für Kant ist der Streit der Fakultäten nicht etwa akademischer Natur, denn er wird „um den Einfluß aufs Volk geführt“ (VII 29 f.). Bei diesem gesellschaftspolitischen Streit sucht jede Fakultät dem Volk glaubhaft zu machen, „daß sie das Heil desselben am besten zu befördern verstehe“. Das Volk setzt allerdings „sein Heil zu oberst nicht in der Freiheit, sondern in seinen natürlichen Zwecken“: Es will nach dem Tod selig sein (Theologie), im Leben das Seine durch öffentliche Gesetze gesichert finden (Jurisprudenz) und sich physisch der Gesundheit und des langen Lebens erfreuen (Medizin). Die Philosophische Fakultät nimmt daran keinen grundsätzlichen Anstoß. Sie läßt sich aber auf diese Interessen nur insoweit ein, als sie Vernunftvorschriften, damit auch ihrem Prinzip, der Freiheit, genügen. Gemäß ihrer Leitfrage, „was der Mensch selbst hinzuthun kann und soll“, verlangt die

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Philosophische Fakultät im Verhältnis zur Theologischen Fakultät, „rechtschaffen zu leben“, in Beziehung zur Jurisprudenz „keinem Unrecht zu tun“, und hinsichtlich der Medizin „sich mäßig im Genusse und duldend in Krankheiten“ zu verhalten (Fak., VII 30). Vor diesem Hintergrund sieht Kant zwischen der unteren und der jeweils oberen Fakultät zu Recht zwei grundverschiedene Streitarten am Werk, den legitimen („gesetzmäßigen“) und den illegitimen („gesetzwidrigen“) Streit. Beim illegitimen Streit dienen sich Vertreter der oberen Fakultäten dem Volk als Wunderdiener an: Als Theologen wollen sie selbst dem Ruchlosen helfen, in den Himmel zu kommen, als Juristen sogar dem, der Unrecht hat, seinen Prozeß zu gewinnen, und als Mediziner dem, der ungesund lebt, gleichwohl gesund zu bleiben. Hier sind die Parteien, also die Philosophen auf der einen und die Theologen, Juristen und Mediziner auf der anderen Seite, unversöhnliche Gegner, so daß ihr Streit den Charakter eines Krieges annimmt. Folgerichtig verbitten sich die Vertreter der oberen Fakultäten die Opposition der Philosophischen Fakultät. Beim legitimen Streit dagegen stehen willkürliche, wenn auch „höchsten Orts sanktionierte, Satzungen“ mit einer völlig freien Prüfung im Streit (Fak., VII 32 f.). Dieser Streit, „das Lebenselixier der Universität“ (Brandt 2003, 57), ist keine übliche Zwietracht, ohnehin kein Krieg, sondern ein „Antagonism“, nämlich ein Streit „zweier mit einander zu einem gemeinschaftlichen Endzweck vereinigten Parteien“ (Fak. VII 35). Dieses Stichwort „Antagonismus“ erinnert an Kants Geschichtsphilosophie, an die dort ebenso benannte anthropologische Bestimmung, die ungesellige Geselligkeit, die zur Entwicklung aller menschlichen Anlagen und schließlich zu einer Rechtsordnung führe (Idee, 4. Satz). Gegenüber dem legitimen Streit darf Kant daher optimistisch sein. Ihre „concordia discors“, eine zwieträchtige Eintracht, kann nämlich „einen beständigen Fortschritt beider Classen von Fakultäten“ bewirken. Infolgedessen werden dereinst „die Letzten die Ersten“ sein, nämlich „die untere Fakultät die obere“. Denn sie wird zwar keine politische Macht haben. Wegen der aus ihrer Freiheit erwachsenden Einsicht vermag sie aber, was auf die Friedensschrift zurückgreift, unter anderem ihrem Geheimen Artikel, die Machthabenden besser als eine Autorität zu beraten (Fak., VII 35).

12.2 Religionsphilosophischer Hintergrund Schon in der „Vorrede“, sodann im hier entscheidenden „Anhang“, vor allem der ersten Abhandlung, dem Streit mit der Theologischen Fakultät, dem Titel „I. Materie des Streits“, aber auch in den folgenden zwei Teilen stellt Kant seine religionsphilosophischen Grundsätze vor. Sie decken sich mit denen der Religionsschrift, sind

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aber bei einigen Theoremen, so etwa zur philosophischen Gnadentheorie, noch klarer. Nur wenig zugespitzt: Ohne den Anhang, der den näheren Streit mit der Theologischen Fakultät behandelt, läßt sich die Religionsschrift nicht rundum verstehen. Die „Vorrede“ beginnt mit der Unterscheidung von zwei grundverschiedenen Zugangsweisen zur Religion oder Quellen, der Vernunft und der Offenbarung. Gemäß Kants generellen Kriterien für Vernunft kommt es deren genuin philosophischer Betrachtung auf „Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit der Glaubenslehren“ an, die wiederum das „Wesentliche einer Religion überhaupt ausmachen, welches im Moralisch-Praktischen (dem, was wir tun sollen) besteht“. Wer sich dagegen auf die Offenbarung beruft, glaubt „auf historische Beweisgründe“ hin, wofür es kein Sollen gibt. Wie in der Religionsschrift sieht Kant die entsprechende Glaubenslehre als „zufällig“, überdies „außerwesentlich, darum aber doch nicht für unnöthig und überflüssig“ an. Sein Argument präzisiert und profiliert die Aussagen der Religionsschrift, geht vielleicht sogar über sie hinaus. Anscheinend schwächt Kant nämlich den Anspruch, den er für den reinen Vernunftglauben erhebt, noch ab. Denn er spricht von einem „theoretische[n] Mangel“, und ergänzt, daß der Vernunftglaube ihn auch „nicht abläugnet, z. B. in den Fragen über den Ursprung des Bösen, den Übergang von diesem zum Guten, die Gewißheit des Menschen im letzteren Zustande zu sein, u. dgl.“ (Fak., VII 8 f.; vgl. VII 43) In der Sache vertritt die Religionsschrift aber keine anderen Ansichten: Den Umstand, daß die genannten Fragen offen bleiben, spitzt Kant jedoch dort nicht zu einem „theoretischen Mangel“ zu. Wegen der darin anklingenden Bescheidenheit fragt sich, warum Kant die dafür zuständige Offenbarung nicht über den Rang des Zufälligen hinaus aufwertet, sie statt dessen für „außerwesentlich“ hält. Die (unausgesprochene) Antwort liegt in der Differenz des Theoretischen zum MoralischPraktischen. Weil es der Religion letztlich nur auf das, „was wir tun sollen“, ankommt, trägt ein Beheben des theoretischen Mangels hier in der Tat nichts Wesentliches bei. Die „Vorrede“ der des Streit[s] der Fakultäten bekräftigt ein weiteres Element der Religionsschrift: „meine große Hochachtung für die biblische Glaubenslehre im Christenthum“, nämlich daß die Bibel „als das beste vorhandene, zur Gründung und Erhaltung einer wahrhaftig seelenbessernden Landesreligion“ anzusehen sei (Fak., VII 9).

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Schließlich spielt die „Vorrede“ auf den Gedanken der Religionsschrift an, Gott sei ein „Herzenskündiger“¹ (Rel., 67, 72 u. a.) und ein „Weltrichter“ (162), dem man nach seinem Tod „Rechenschaft geben müsse“ (Fak.,VII 9 f.). Gemäß den zwei grundverschiedenen Zugangsweisen zur Religion unterscheidet Kant im Streit der Fakultäten nicht anders als in der ersten Vorrede der Religionsschrift (9) innerhalb des ersten Streits, in deren „Materie“, zwei ebenso grundverschiedene Arten, Theologie zu betreiben. Der Theologe der oberen Fakultät ist der biblische Theologe, womit nicht etwa ein Teil der Theologischen Fakultät angesprochen ist, die Abteilungen für Altes und Neues Testament im Unterschied zur Systematischen Abteilung bzw. zur Fundamentaltheologie und Dogmatik. Kant meint die gesamte Fakultät, nennt ihre Vertreter, die Theologen, Schriftgelehrte, da sie sich auf ihre (heilige) Schrift, die Bibel, berufen. Im Gegensatz dazu ist der Theologe der Philosophischen Fakultät, der rationale Theologe (in der Religionsschrift „philosophischer“ Theologe genannt), ein reiner Vernunftgelehrter. Während der biblische Theologe für den Glauben zuständig ist, „der auf Statuten, d. i. auf Gesetzen beruht, die aus der Willkür eines anderen ausfließen“, also für den Kirchenglauben, geht es dem rationalen Theologen um den Religionsglauben, „der auf innern Gesetzen beruht, die sich aus jedes Menschen eigener Vernunft entwickeln lassen“ (Fak., 36). Dieser Gegensatz läßt zwar jeder Seite ihr Eigenrecht. Mit den dabei verwendeten drei Gegensatzpaaren von Willkür und Vernunft, von Anderem und Eigenem und von Nichtinnerem, also Außen, und Innerem wird aber eine klare Hierarchie geschaffen. Unausgesprochen kehrt sie die Rangfolge um: Die obere Fakultät, die Theologie, muß sich letztlich der unteren Fakultät, der Philosophie, beugen. Es geschieht allerdings nur letztlich, das heißt gemäß dem Titel der Schrift: im Fall eines Streits, genauer eines gesetzmäßigen, also berechtigten Streites. Kant nimmt keine reine und umfassende Umkehrung der Rangfolge vor. Insofern wird die biblische Theologie nicht vollständig entmachtet. Sie behält ein Eigenrecht, das angesichts des genannten theoretischen Mangels nicht gering, aber doch klar begrenzt ist. Einerseits räumt Kant im „Friedens-Abschluß“ den Theologen die „Befugniß“ ein, „den Bibelglauben aufrecht zu erhalten“, die aber die „Freiheit der Philosophen, ihn jederzeit der Kritik der Vernunft zu unterwerfen“, nicht beeinträchtigen soll (Fak., VII 67). Andererseits kennt er der Sache zwei

1 „Herzenskündiger“ ist im Sinne von „Herzenskundiger“ zu verstehen. Denn nach dem Deutschen Wörterbuch (Bd. 10, 1237) kennt die entsprechende Person, der „allerhöchstgetröhnte“, also Gott, „beides, den der Unrecht gethan, wi auch den, der es geduldig erlitten hat“. Und das Stichwort „Herzenskundiger“, auf das verwiesen wird, verweist auf die Apostelgeschichte (Vers 15,8) und das dortige griechische Wort, den kardiognôstês (theos), also den Gott, der das Herz (des Menschen) kennt.

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grundverschiedene Heilige Schriften, nämlich außer der üblichen Heiligen Schrift, den Offenbarungstexten, das, was im Herz eines jeden Menschen eingeschrieben ist, daher der (äußeren) Offenbarung nicht bedarf und im Konfliktfall der anderen Offenbarung vorgeordnet ist. Im Hintergrund steht Kants Unterscheidung von Theologie und Religion. Jene besteht im „Inbegriff gewisser Lehren als göttlicher Offenbarungen“, diese, wie es seit der zweiten Kritik (KpV, V 129) heißt, im Inbegriff „aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote“ (Fak., VII 36; vgl. Rel., 153). Infolgedessen kann es „nur eine (wahre) Religion“, aber „vielerlei Arten des Glaubens“ geben (Rel., 107, vgl. Fak., VII 36). Und die eine Religion hat rein moralischen Charakter (vgl. „Religion ist derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt“: Fak., VII 49.) Der moralische Charakter, das weiß Kant sehr wohl, trifft nur auf einen Teil der üblicherweise als Religion bezeichneten Phänomene zu, für Kant namentlich auf Kerngedanken des Christentums, denen er eine „Zusammenstimmung … mit dem reinsten moralischen Vernunftglauben“ bescheinigt (VII 9). In der Religionsschrift verwies er aber noch auf andere einschlägige andere Religionen (108). Kant gewinnt seinen Religionsbegriff, indem er einem empirischen Phänomen, den Glaubenslehren, alles Zufällige, Willkürliche und Äußerliche entzieht. Auf diese Weise wird die Religion zu einem objektiven Phänomen mit jenem Höchstmaß von Objektivität, das die Vernunft auszeichnet und sich, wie gesagt, aus jener gleichzeitigen Anerkennung der drei Kriterien Allgemeinheit, Einheit und Notwendigkeit ergibt, die nur im Moralisch-Praktischen erfüllt werden. Das Sollen, um das es der Religion geht, ist mithin nicht als irgendeine Verbindlichkeit, sondern als ein kategorischer Imperativ zu verstehen. Und weil lediglich dieser moralisch-praktische Bereich den Vernunftkriterien genügt, sieht Kant in diesem und nur diesem Bereich „das Wesentliche einer Religion überhaupt“ gegeben. Die Tragweite dieser Ansicht ist erheblich. Weil die Religion nicht im „Inbegriff gewisser Lehren als göttlicher Offenbarungen“, sondern in dem „aller unserer Pflichten überhaupt als göttlicher Gebote“ besteht, unterscheidet sie sich in ihrem Gegenstand nirgendwo von der Moral. Beiden kommt es auf deren Vollendungsstufe an, nicht auf die Gesetzmäßigkeit des Handelns, sondern auf die „Moralität des Lebenswandels“ (Fak., VII 47), also auf ein Tun, das einem bestimmten Inneren entspringt. Religion und Moral unterscheiden sich allein in der formalen Hinsicht, daß im Fall der bloßen, religionsfreien Moral lediglich „eine Gesetzgebung der [reinen praktischen] Vernunft“ vorliegt, die im anderen Fall, der religionsbezogenen Moral, von der Gottesidee her einen Einfluß (Antrieb?) erhält, all seine Pflichten zu erfüllen (Fak., VII 36). Man könnte fürchten, hier gehe das Wesen des Kantischen Moralverständnisses, die Selbstgesetzgebung der (reinen praktischen) Vernunft, die Autonomie,

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verloren. Dies ist schon deshalb nicht der Fall, weil die Gottesidee, betont Kant, von der Vernunft selbst erzeugt ist (ebd.). Der Philosoph integriert zwar die Moral in die Religion, es geschieht aber auf die Weise, daß eine Religion zu einem integralen Bestandteil der Moral wird. Dadurch wird sogar der formale Unterschied zwischen der bloßen, religionsfreien und der religionsbezogenen Moral minimiert. Zugleich wird die Heilige Schrift in dieser ihrer moralischen Bedeutung zu einem Vehikel der Autonomie. Und dort, wo die Schrift die Moral nicht unterstützt, mag sie für den Kirchenglauben eine Rolle spielen, für die Religion gilt sie als belanglos.

12.3 Eine neuartige Hermeneutik? Kants Grundsätze der Schriftauslegung folgen unmittelbar aus diesen religionsphilosophischen Thesen. Denn weder textintern noch für den Philosophen, allenfalls für den Theologen erhalten die Heiligen Schriften der Christen eine reine Vernunftauslegung. Eine bibelkritische Exegese ist zu Kants Zeit nicht neu. Eine überragende Bedeutung hat der führende evangelische Theologe des 18. Jahrhunderts, Johann Salomo Semler, mit seinem Hauptwerk Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und Dogmatik (1788). Beschränkt sich der Philosoph auf sein eigenes Metier, so kommen ihm zwei andere bedeutende Autoren in den Sinn: Der eine Autor, der Sohn eines ungebildeten Theologen, wird ohne ein eigenes Theologie-Studium zu einem bemerkenswerten Bibel-Kenner und Bibel-Ausleger, gemeint ist Thomas Hobbes mit seinem Hauptwerk, dem Leviathan. Der zweite Philosoph, den eine Geschichte der kritischen Bibelexegese schwerlich übergehen darf, da er der kritischen Bibel-Hermeneutik den Weg weist, ist der Abkömmling einer zwangschristianisierten Familie, Baruch de Spinoza. Schon in der Vorrede seines Theologisch-politischen Traktats ( 1670) findet sich die bis heute gültige Interpretationsmaxime: „die Schrift von neuem mit unbefangenem und freiem Geist zu prüfen und nichts von ihr anzunehmen oder als ihre Lehre gelten zu lassen, was ich nicht mit voller Klarheit ihr selbst entnehmen könnte“ (9). Diese eigenständige Prüfung führt Spinoza zur Einsicht, daß die Offenbarungsreligion der Heiligen Schrift eine allein funktionale Bedeutung habe, und zwar im Hinblick auf die unterschiedlichen Adressaten, deren beschränkter Fassungskraft sie sich anpasse. Und das ganz Einfache, das die Schrift lehre, bestehe in moralischen Lebensregeln, insbesondere in der Nächstenliebe, die Haß und Streit unter den Menschen tilge (Kap. 13–14). Beide Philosophen, Hobbes und Spinoza, sind nicht bloß Pioniere einer kritischen Hermeneutik der Bibel. Sie bereiten auch den Weg für jene andersartige kritische Hermeneutik, für die Kant nicht als Erfinder, jedoch als philosophischer

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Höhepunkt gelten darf: für eine streng vernunftkritische Schriftauslegung, des näheren für die der moralischen als der reinen praktischen Vernunft verpflichtete Interpretation der Bibel. Vereinfachen darf man sich Kants Neuartigkeit nicht. Denn seit den Kirchenvätern Origines, Ambrosius und Augustinus kennt die christliche Theologie eine Lehre vom mehrfachen Schriftsinn. Nach Origines besteht zwischen der biblischen Offenbarung und dem Wesen des Menschen eine Analogie. Gemäß der dreifachen, der somatischen („Leib“), der psychischen („Seele“) und der pneumatischen Natur des Menschen („Geist“) gibt es auch einen dreifachen, einen historisch-wörtlichen, einen moralischen und einen allegorisch-mystischen Schriftsinn (Peri archôn 2.4). Eine moralische Auslegung der Bibel ist also nicht neu. Während sie aber in der christlichen Theologie eine neben zwei weiteren Auslegungsarten bedeutet und sie auch bei Spinoza noch kein Exklusivrecht erhält, finden sich erst bei Kant diese zwei Besonderheiten: Der Philosoph erklärt die moralische Auslegung zu der für die wahre Religion einzigen Auslegungsart. Und er bestimmt die Moral in Begriffen der reinen praktischen Vernunft. Erst Kant „universalisiert“ die moralische Schriftauslegung; erst bei ihm erhält sie eine exklusive und zugleich zur Moral der Autonomie zugespitzte Rechtfertigung. Aus dieser Hermeneutik folgt, daß Kant anders als etwa Spinoza sich nicht für die gesamte Heilige Schrift interessiert. Gemäß seiner begrifflichen Grunddifferenzierung unterscheidet er in der Bibel zwei verschiedene Anteile, den rein moralischen Religionsglauben vom Geschichtsglauben. Jener dient auf rein vernünftige, zugleich überindividuelle und überepochale Weise der moralischen Besserung. Dieser kann als ein „bloßes sinnliches Vehikel … für diese oder jene Person, für dieses oder jenes Zeitalter“ geeignet sein, gehört aber zum Religionsglauben „nicht nothwendig dazu“ (Fak., VII 37). Von „Vehikel“ ist schon in der Religionsschrift die Rede (107, 118 und 123). Im Streit der Fakultäten taucht der Ausdruck aber öfters auf (z. B.VII 42, 44 [2x], 46) und wird zudem durch andere Ausdrücke erläutert. Statt von „Vehikel“ spricht Kant auch von „Organon“ (griech. Werkzeug) im Gegensatz zum „Kanon“ (griech. Richtschnur, Maßstab). Damit setzt er „zwei ungleichartige Stücke“ der Bibel gegeneinander ab: den als Kanon qualifizierten reinen Religionsglauben von jenem zum Organon herabgestuften Kirchenglauben, der auf Statuten beruht und im Unterschied zum Religionsglauben einer Offenbarung bedarf (Fak. VII 36 f.) Daß Kant die Religion zu einer reinen Vernunftsache erklärt, für die die praktische Vernunft einschlägig ist, hat den offensichtlichen Vorteil, für alle Menschen dieselbe zu sein, so daß hier jeder Streit entfällt. Das aus der Geschichte bekannte polemogene, zu Gewalt und Krieg drängende Potential der Konfessionen und Religionen löst sich mithin vollkommen auf. Außerdem zeigt sich hier das für Kants Werk generell zutreffende kosmopolitische Interesse. Während der bloße

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Kirchenglaube „eine reiche Quelle unendlich vieler Secten in Glaubenssachen“ ist (VII 50) und dann nur gewisse Gruppen, nämlich die Mitglieder der jeweiligen Kirche bzw. Sekte anspricht, wendet sich der reine Religionsglaube an alle Menschen (ebd.). Allerdings stellt sich die Frage, ob für außer- und übervernünftige Elemente in der Offenbarung noch genügend Platz bleibt: Geht nicht, wenn man die moralischen Anteile der Offenbarung anerkennt, zu viel vom gewohnten Religionsbegriff verloren? Zur Qualifizierung und klar hierarchischen Einschätzung führt Kant die Opposition kat’ anthrôpon (ad hominem) und kat’ alêtheian (ad veritatem) an. Der Geschichtsglaube läßt sich „auf die Denkungsart der damaligen Zeiten“ ein. Weil er der den Aposteln selbst überlassenen Lehrmethode folgt, darf man ihn „nicht als göttliche Offenbarung betrachten“. Die entscheidenden „Lehrstücke an sich selbst“ enthält allein der Religionsglaube (Fak., VII 37). Aus dieser Zweiteilung folgt ein Streit zwischen der oberen und der unteren Fakultät wie von allein. Die Theologische Fakultät verdächtigt die Philosophische, „alle Lehren, die als eigentliche Offenbarungslehren und also buchstäblich angenommen werden müßten, wegzuphilosophiren und ihnen einen beliebigen Sinn unterzuschieben“. Im Gegenzug verdächtigt die Philosophische Fakultät die Theologie, bei ihrem Blick auf den Kirchenglauben den eigentlichen „Endzweck, der als innere Religion moralisch sein muß und auf der Vernunft beruht, ganz aus den Augen zu bringen“. Dagegen darf sich die Philosophie, weil auf die Wahrheit und nichts als die Wahrheit verpflichtet, das „Vorrecht“ anmaßen, „im Falle des Streits über den Sinn einer Schriftstelle“, diesen, den moralischen Sinn, zu bestimmen (Fak., VII 38). Für Kant ist dieser Streit ebenso natürlich wie legitim. Denn die Theologische Fakultät schaut von ihrer Aufgabe her auf den Kirchenglauben, während die Philosophische Fakultät von ihrer andersartigen Aufgabe lediglich auf die Wahrheit und ihretwegen auf den bloß moralischen Religionsglauben achtet. Hier könnte allerdings der Verdacht aufkommen, die Philosophie maße sich zu viele Rechte an. Um diesen Verdacht zu entkräften, erklärt Kant, die als „philosophisch“ qualifizierten Grundsätze erfüllen keine philosophieinterne, aber der Heiligen Schrift fremde Aufgabe. Denn sie verlangen keine Auslegung, die auf „Erweiterung der Philosophie abzielt“. Kant wehrt einen entsprechenden inhaltlichen Imperialismus, darüber hinaus auch einen methodischen Imperialismus ab, da er die Philosophie nicht auf einen eng fachphilosophischen Sinn einschränkt. Er erwähnt nämlich zwei Arten kritischer Hermeneutik, eine historisch- und eine grammatisch-kritische Auslegung, und erklärt zu ihnen, daß nicht die Auslegung selbst, wohl aber ihre Grundsätze „von der Vernunft dictirt werden müssen“ (ebd.). Zum Hintergrund der Kantischen Prioritätsthese, dem Vorrang der moralischen Vernunft vor der auf Schriftgelehrsamkeit angewiesenen Offenbarung, ge-

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hört Kants generelle Zurückweisung einer Überheblichkeit des Theoretikers vor dem Handelnden und der Wissenschaften, auch des Philosophen vor dem einfachen Menschen (vgl. schon KrV, Vorrede 2. Aufl., B xxxi ff.). Zur methodischen Einschätzung der philosophischen Schriftauslegung ist ferner zu berücksichtigen, daß sie als eine „Idee“, (Fak., VII 44), mithin als ein Vernunft-, nicht Verstandesbegriff gilt. Für die philosophischen Grundsätze gibt es daher weder eine empirische Rechtfertigung noch eine Bestätigung durch die Erfahrung. Die Legitimität liegt im Gedanken einer vernünftigen, infolgedessen historischen Zufällen des Textes enthobenen Bibellektüre. Wie genau Kant die „Idee“ versteht, erläutert er hier nicht. Jedoch dürften die aus der ersten Kritik bekannten Elemente gültig bleiben: Es gibt keine Erfahrungsgrundlage, wohl aber kommt es auf Allgemeinheit, Vollständigkeit und zugleich Notwendigkeit an. Ferner findet eine Idee, da für die theoretische Vernunft überschwenglich, nur in der praktischen Vernunft ihre Realität. Man könnte hier einen argumentativen Zirkel vermuten, daß nämlich Kant das zu Beweisende bereits voraussetzt: Vorausgesetzt, daß man in der Bibel Vernunft sucht, findet man diese auch, freilich nur im Sinne der gesuchten reinen praktischen, also moralischen Vernunft. Diese muß man aber in gewisser Weise, als Erwartung, mitbringen: Denn nur, wer dank der philosophischen Hermeneutik in der Bibel Moral erwartet, wird fündig und entdeckt in der Bibel das Erwartete.

12.4 Vier Grundsätze der Schriftauslegung Kant stellt für die philosophische Schriftauslegung vier Grundsätze auf, die er jeweils an Beispielen erläutert. Insgesamt belaufen sie sich auf einen absoluten Vorrang der Moral, den die ersten drei Grundsätze sukzessive profilieren, aber ohne ihnen ein Exklusivrecht einzuräumen: Wenn man erstens Schriftstellen, die den moralischen Vernunftbegriff übersteigen oder ihm sogar widersprechen, zum Vorteil der praktischen Vernunft auslegt, wenn man zweitens anerkennt, daß es in der Religion aufs Tun ankommt und sich drittens das Tun als den eigenen moralischen Kräften entspringend vorstellt, darf man viertens eine übernatürliche Ergänzung gläubig annehmen. Beim ersten, am ausführlichsten behandelten Grundsatz kommt es auf den Unterschied von theoretischen zu praktischen Glaubenslehren an. Unter „theoretisch“ sind dabei nicht etwa Grundsätze einer Dogmatik gemeint, die dann „praktisch“ angewendet werden. „Praktisch“ bedeutet vielmehr stets moralisch-praktisch, so daß „theoretisch“, negativ gesagt, meint: nicht moralisch relevant, und positiv: Wissens- oder Erkenntnisfragen betreffend. In der Bibel können nun entsprechende Aussagen entweder „allen (selbst den moralischen) Vernunftbegriff“

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übersteigen oder der praktischen Vernunft sogar widersprechen. Im ersten Fall, sagt der philosophische Grundsatz, dürfen, im zweiten Fall müssen sie zum Vorteil der praktischen Vernunft ausgelegt werden (Fak., VII 38). Zu den Beispielen für den ersten Fall zählt Kant die Dreieinigkeitslehre, die wörtlich, „nach den Buchstaben genommen“, moralisch irrelevant sei. Zudem übersteige die Lehre von „einem Gott in mehreren Personen“ alle unsere Begriffe. Um hier einen „folgeleeren“ Glauben zu vermeiden, empfehle sich die in der Religionsschrift versuchte moralbezogene Auslegung (139 ff.). Im Streit der Fakultäten führt er diese Auslegungsart in Bezug auf die Menschwerdung einer Person des dreifaltigen Gottes aus (und behauptet, ähnliches ließe sich von der Auferstehungsund Himmelfahrtsgeschichte sagen): Der Mensch gewordene Gott sei als „die in Gott von Ewigkeit her liegende Idee der Menschheit in ihrer ganzen ihm wohlgefälligen moralischen Vollkommenheit“ zu verstehen. Stellt man sich dagegen „die in einem wirklichen Mensch ‚leibhaftig wohnende‘ und als zweite Natur in ihm wirkende Gottheit“ vor, „so ist aus diesem Geheimnisse gar nichts Praktisches für uns zu machen“. Denn erstens sind wir dazu außerstande: Wir können nicht „es einem Gotte gleich thun“, so daß der menschgewordene Gott „kein Beispiel für uns werden kann“. Zweitens taucht die schwierige Frage auf, „warum, wenn solche Vereinigung einmal möglich ist, die Gottheit nicht alle Menschen derselben hat theilhaftig werden lassen, welche alsdann unausbleiblich ihm alle wohlgefällig geworden wären“. (Fak., VII 38 f.; vgl. Rel., 60 ff.) Als Beispiel für den zweiten Fall, den Widerspruch zur moralischen Vernunft, führt Kant des „St. Paulus’ Lehre von der Gnadenwahl“ an, die „mit der Lehre von der Freiheit, der Zurechnung der Handlungen und so mit der ganzen Moral unvereinbar“ sei (VII 41). Die nähere Begründung der Unvereinbarkeit erfolgt einige Absätze später, beim dritten Grundsatz (s. u.). Kant führt vorher noch einen abgeschwächten Fall an: daß der Schriftglaube zwar nicht moralischen Grundsätzen, wohl aber der „Vernunftmaxime in Beurtheilung physischer Erscheinungen“ widerspreche. Hier, beispielsweise bei der Geschichte von der Heilung der von Dämonen Besessenen, ist eine vernunftkonforme Auslegung vorzunehmen, „um nicht allem Aberglauben und Betrug freien Eingang zu verschaffen“ (ebd.). Den weiteren drei Grundsätzen liegt dasselbe Leitmotiv zugrunde, das Kant beim zweiten hermeneutischen Grundsatz ausspricht: „alles kommt in der Religion aufs Thun an, und diese Endabsicht, mithin auch ein dieser gemäßer Sinn, muß allen biblischen Glaubenslehren untergelegt werden“. In dieser Deutung, sagt Kant, „versteht man nicht, was geglaubt werden soll (denn das Glauben verstattet keinen Imperativ), sondern das, was in praktischer (moralischer) Absicht … nur geglaubt werden kann“ (Fak., VII 41 f.).

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Im Sinne des genannten Leitmotivs lautet der dritte Grundsatz: „Das Thun muß als aus des Menschen eigenem Gebrauch seiner moralischen Kräfte entspringend … vorgestellt werden“. Scheint aber die buchstäbliche Auslegung einer Schriftstelle als „Einfluß einer äußeren höheren wirkenden Ursache, in Ansehung deren der Mensch sich leidend verhielte“, muß die Auslegung in Richtung auf den genannten Grundsatz korrigiert werden (Fak., VII 42 f.). Hier erläutert nun Kant die seines Erachtens vernunftkonforme Theorie von Natur und Gnade. Bei der nach seinem Dafürhalten falschen Ansicht versteht man die menschliche Natur vom Prinzip der Glückseligkeit, die Gnade aber vom Prinzip der reinen Sittlichkeit her. Infolgedessen sind Natur und Gnade nicht nur voneinander verschieden, sie widerstreiten auch oft einander. Warum die zweite Folge, der häufige Widerstreit, vernunftwidrig sei, erläutert zwar Kant nicht; er scheint für ihn auf der Hand zu liegen. Eine abgeschwächte göttliche Gnadenwirkung ist aber nach dem vierten hermeneutischen Grundsatz vertretbar: Wo die Eigenkräfte nicht ausreichen, darf der Mensch auf „äußere göttliche Mitwirkung“ hoffen (VII 43 f.). Gegen die andere Gnadentheorie sprechen Kant zufolge zwei Argumente: Kann die Gnade der menschlichen Natur widerstreiten, so fehlt es dem Naturbegriff an Konsistenz. Zusätzlich widerspricht man dem dritten hermeneutischen Grundsatz, daß das menschliche Tun aus den eigenen moralischen Kräften entspringen muß. Daraus folgt gewissermaßen in bestimmter Negation, insofern dialektisch Kants vernunftkonforme Gnadentheorie: Die Natur ist in praktischer, mithin moralrelevanter Bedeutung zu verstehen. Sie besteht im „Vermögen aus eigenen Kräften überhaupt gewisse Zwecke auszurichten“ (Fak., VII 43). Die Gnade ist dann nicht bloß in Harmonie mit der menschlichen Natur, sondern mit ihr identisch – sofern der Mensch durch nichts anderes als die ihm innerliche „Vorstellung seiner Pflicht“ „zu Handlungen bestimmt wird“ (ebd.). Weil wir aber von dieser Handlungsbestimmung keinen Grund wissen, wird sie „von uns als von der Gottheit in uns gewirkter Antrieb zum Guten, … mithin als Gnade vorgestellt“ (ebd.). Auf diese und nur diese Weise wird der dritte hermeneutische Grundsatz erfüllt: Man verläßt sich nicht auf äußere, sondern allein auf seine eigenen Kräfte. Der vierte Grundsatz verstattet allerdings die schon erwähnte Ausnahme: „Wo das eigene Thun zur Rechtfertigung des Menschen vor seinem eigenen (strenge richtenden) Gewissen nicht zulangt, da ist die Vernunft befugt allenfalls eine übernatürliche Ergänzung seiner mangelhaften Gerechtigkeit“ – nämlich eine äußere göttliche Mitwirkung – „gläubig anzunehmen“ (ebd.).

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12.5 Einwände und ihre Entkräftung In der für ihn charakteristischen Gründlichkeit legt sich Kant Einwände vor, die er von beiden Seiten, sowohl von der (biblischen) Theologie als auch von der Vernunft, kommen sieht: Noch unter dem Titel „Philosophische Grundsätze der Schriftauslegung“ erscheint der erste Einspruch: Die philosophische Hermeneutik beabsichtige „eine naturalistische Religion und nicht Christenthum“ (VII 44). Der Einspruch ist gravierend; denn wenn er berechtigt wäre, würde Kant sein Vorhaben verfehlen. Der Philosoph entkräftet aber den Einspruch mittels der Unterscheidung einer naturalistischen von einer natürlichen Religion. Entscheidend ist das Verhältnis zur übernatürlichen Offenbarung: Eine Religion, die es „zum Grundsatze macht, keine solche Offenbarung einzuräumen“, ist naturalistisch. (Später erläutert Kant den Naturalismus als „Kirchenglauben ohne Bibel“: VII 60; Kant dürfte hier auf eine anonym erschienene Schrift von Reimarus 1778 und auf Bahrdt 1787–1792 sowie auf Bahrdt 1791 anspielen). Die natürliche Religion dagegen läßt die Möglichkeit einer Offenbarung zu. Ohne der Bibel abzustreiten, ein übernatürliches Mittel für die Stiftung einer bekennenden Kirche zu sein, nimmt sie in ihren Überlegungen darauf keine Rücksicht. So klammert sie die Offenbarung ein und konzentriert sich beim Christentum auf die als dessen Kern verstandene Vernunftreligion, womit es, ohne daß dessen Offenbarungsseite geleugnet wird, eo ipso zu dem wird, worauf es Kant ankommt, zu einer bloß natürlichen Religion (VII 44 f.). Zwei weitere theologische Einwände tauchen unter dem Titel „Einwürfe und Beantwortung derselben“ auf. Nach dem hier ersten, insgesamt zweiten Einwurf erlaubt sich die Philosophische Fakultät Eingriffe, zugespitzt: Übergriffe, „in das Geschäft des biblischen Theologen“. Kant konzediert die Diagnose „Eingriff“, bestreitet aber den Vorwurf des Übergriffs. Aus der Perspektive der Vernunft sei nämlich der Gegenstand der biblischen Theologie, der Kirchenglaube, lediglich ein „Vehikel“, folglich „Mittel“ für den eigentlichen Glauben, den Religionsglauben. Jedes Mittel müsse sich aber die Auslegung von seiten des Endzwecks gefallen lassen. Kant geht sogar in eine Vorwärtsverteidigung über. Da über die Wahrheit die Vernunft entscheidet, für die wiederum die Philosophische Fakultät zuständig ist, widerfahre der Theologie hier eine Ehre (Rel., 45). Nach dem hier zweiten und insgesamt dritten Vorwurf seien die philosophischen Auslegungen „allegorisch-mystisch, mithin weder biblisch noch philosophisch“ (ebd.). Bekanntlich besteht eine Allegorie (von griech. allegorein: anders sagen) in der Verbildlichung eines unanschaulichen Begriffs oder Vorgangs. Und Mystik liegt nach Kant dort vor, wo die Phantasie überschwenglich wird und sich

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wie beim schwedischen Natur- forscher, Theosophen und Hellseher Emanuel Swedenborg (1688–1772) ins Übersinnliche versteigt. Unter dem Titel Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (1766) hatte sich Kant schon in seiner vorkritischen Zeit gegen diese Art von Mystik gewandt. Im Streit der Fakultäten erwähnt er erneut Swedenborg, dürfte aber auch jene Personen im Blick haben, die andernorts oder im Nachlaß auftauchen, unter anderem den Schuhmacher und Philosophen Jakob Böhme (1575–1624; vgl. Akad. Ausg. XXV 109, 331, 1257) und den Schweizer Pfarrer und philosophischen Schriftsteller Johann Kaspar Lavater (1741–1801; vgl. Rel., 85). Kant weist den doppelten Vorwurf zurück. Den Vorwurf der Allegorie gibt er an die Theologie zurück, falls sie „die Hülle der Religion für die Religion selbst nimmt“, beispielsweise das „ganze alte Testament für eine fortgehende Allegorie … des noch kommenden Religionszustandes“, gemeint ist das Christentum des Neuen Testaments, erklärt. Und die Mystik sieht er bei Personen wie Swedenborg gegeben, deren inneren Offenbarungen das fehlt, was generell für Wahrheit und Wissen einzufordern ist (vgl. KrV, B 848 f.; UK , V 237 ff.): ein „öffentlicher Probirstein“ (VII 46). Mit den Fremdeinwürfen seitens der Theologie nicht zufrieden, legt sich Kant noch Einwürfe vor, „die die Vernunft ihr selbst gegen die Vernunftauslegung der Bibel macht“. Die vier Selbsteinwände der Vernunft beziehen sich sukzessive auf Kants vier hermeneutische Grundsätze („Auslegungsregeln“): Gegen den Grundsatz, Schriftstellen zum Vorteil der praktischen Vernunft auszulegen, erhebt sich der Einwurf: „Als Offenbarung muß die Bibel aus sich selbst und nicht durch die Vernunft gedeutet werden“. Kant entkräftet den Einwurf mit dem Hinweis, die Göttlichkeit einer Offenbarung werde nie durch Erfahrungsmerkmale eingesehen. Sie bedarf vielmehr der„Übereinstimmung mit dem, was die Vernunft für Gott anständig [im Sinne von angemessen] erklärt“ (ebd.). Der zweite Vernunfteinwurf richtet sich gegen die Behauptung, in der Religion komme alles auf das Tun an. Er besagt, allem Praktischen müsse doch immer eine Theorie vorhergehen, die im Fall der Offenbarung aus theoretischen, nämlich biblisch-historischen Sätzen zu den Absichten des unerforschlichen Willens Gottes bestehe. Dieses, sagt Kant, mag zwar für den Kirchenglauben und die zugehörigen Gebräuche, aber nicht für den Religionsglauben zutreffen. Dieser ist „gänzlich auf Moralität des Lebenswandels“ gerichtet, für die aber „das Fürwahrhalten historischer, obschon biblischer Lehren an sich keinen moralischen Werth oder Unwerth hat, und unter die Adiaphora [die gleichgültigen, weder gebotenen noch verbotenen Dinge] gehört“ (Fak., VII 46 f.). Gegen die These gerichtet, das menschliche Tun müsse den eigenen moralischen Kräften entspringen, erfolgt der dritte Einwurf am Beispiel des biblischen Zurufs „Stehe auf und wandle“, welchen eine übernatürliche Macht begleiten

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müsse. Nach Kant ergeht dieser Zuruf aber nicht an einen physisch Toten, sondern an einen „Geistlichtodten“. Und für diesen ergeht er „durch seine eigene Vernunft, sofern sie das übersinnliche Prinzip des moralischen Lebens in sich selbst hat“ (VII 47). Der Zuruf erfolgt also nicht auf übernatürliche Weise, bedarf daher auch nicht einer übernatürlichen Macht (ebd.). Nach dem letzten Selbsteinwurf der Vernunft braucht es zur Ergänzung des Mangels eigener Gerechtigkeit den Glauben an eine göttliche Wohltat, auf die man nicht „auf gut Glück hin hoffen“ kann. Vielmehr muß man sie als ein historisches Ereignis, als ein tatsächlich gegebenes Versprechen, sogar „förmlichen Vertrag“ annehmen. Kants Antwort folgt dem mittlerweile bekannten Grundmuster: „Eine unmittelbare göttliche Offenbarung, in dem tröstenden Ausspruch: ‚Dir sind deine Sünden vergeben‘, wäre eine übersinnliche Erfahrung, welche unmöglich ist“. Denn alle Erfahrung, darf Kant hier von seiner ersten Kritik her voraussetzen, ist nur im Rahmen von Sinnlichkeit möglich. Überdies ist die genannte Unmöglichkeit, fährt Kant fort, hinsichtlich der entscheidenden moralischen Vernunftreligion „nicht nöthig“ (ebd.). Am Ende des Streits der Philosophischen mit der Theologischen Fakultät, vor einer „Allgemeinen Anmerkung“ über Religionssekten, zieht Kant in einem kurzen Absatz Bilanz: Sofern die Schriftauslegung tatsächlich die Religion und nicht den Kirchenglauben betrifft, muß sie „nach dem Princip der in der Offenbarung bezweckten Sittlichkeit gemacht werden“. Andernfalls ist ihr vorzuwerfen, „entweder praktisch leer“, das heißt für die Moral bedeutungslos, „oder gar Hindernisse des Guten“ zu sein. Nimmt man aber eine philosophische Auslegung vor, dann ist die Schriftauslegung im emphatischen Sinn authentisch, also glaubwürdig und echt. Denn „der Gott in uns ist selbst der Ausleger“ (VII 48). Dieser hohe, auf den ersten Blick anmaßende Anspruch hat den guten Grund, daß „wir niemand verstehen, als den, der durch unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet“. Folglich kann „die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre … durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft … erkannt werden“. Und diese ist nicht im theoretischen, sondern nur im rein moralischen Bereich „untrüglich“ (ebd.).

Literatur Bahrdt, K. F. 1787–1792: System der moralischen Religion zur endlichen Beruhigung für Zweifler und Denker. Allen Christen und Nichtchristen lesbar, Bd. 1, Berlin. Bahrdt, K. F. 1791: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale, Berlin. Brandt, R. 2003: Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung: Kants „Streit der Fakultäten“. Mit einem Anhang zu Heideggers „Rektoratsrede“, Berlin.

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Grimm, J./Grimm, W. (Hrsg.): Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854–1960. Semler, J. S. 1788: Zur Revision der kirchlichen Hermeneutik und Dogmatik, Halle. Spinoza, B. de 1670: Tractatus theologico-politicus, Amsterdam; dt: Theologisch-politischer Traktat, hrsg. u. übers. v. G. Gawlick, Hamburg 31994. Reimarus, H.S. 1778: Zwey Fragmente eines Ungenannten aus Herrn Lessings Beyträgen zur Litteratur abgedruckt mit Betrachtungen darüber. Nebst einigen Landkarten, Nürnberg.

Reza Mosayebi

13 Die „Definition“ der Vernunftreligion Die reine Vernunftreligion entspricht nach Kant dem, was die bloße Vernunft in einer gegebenen Religion auf analytische Weise „aus sich selbst erkennen kann“; sie ist das, was nach Abstraktion aller Offenbarung „für die bloße Vernunft noch als Religion objectiv übrig bleibt“. Das Verhältnis der offenbarten Religion zu der reinen Vernunftreligion veranschaulicht Kant daher in seiner Religionsschrift durch zwei „concentrische Kreise“, wobei der Kreis der historischen Offenbarungslehren von weiterem, der Kreis der reinen Vernunftreligion von engerem Umfang ist, „da Offenbarung doch auch reine Vernunftreligion in sich wenigstens begreifen kann, aber nicht umgekehrt“. Halten wir uns im letzteren Kreis auf, so wird die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft betrachtet (12 f.; Vorarbeiten zur Rel., XXIII 93 ff., 97; Fak., VII 6, Fn.; s. bereits Kants Brief an Iohann Caspar Lavater, 28.4. 1775, 99, X 167, 17–25). Mit diesem Bild vertritt Kant ein religionsphilosophisches Modell, in dem die reine Vernunftreligion als eine singuläre innere Sphäre, ein apriorisch für sich bestehender Kern allen Offenbarungslehren zugrunde liegen soll. Für diesen singulären Kern, die reine Vernunftreligion, gibt Kant auch eine „Definition“ an: sie ist „(subjectiv betrachtet) das Erkenntniß aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote“ (153) bzw. der „Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ (TL, VI 487). In dieser pflichtentheoretischen Definition kommen zweierlei Gesichtspunkte zum Ausdruck: Zum einen betrachtet Kant in der ersten Definitionsvariante die Vernunftreligion aus einer intrasubjektiven Perspektive, aus der alle vernunftbegründeten Pflichten zugleich als Gebote Gottes gedacht werden. Zum anderen erklärt er mit der zweiten Variante seiner Definition den vernünftigen Kern aller Religion für umfangs- und inhaltsgleich mit seiner metaphysischen Pflichtenlehre (die Vernunftreligion wird nach dieser Variante in den Vorarbeiten zur TL als „doctrina moralis indirecta“ bezeichnet, XXIII 395 f.). Während dies eine Vermittlungsfunktion der Vernunftreligion zwischen Kants Ethik und seiner Religionsschrift nahe legt, gewinnt die erste (subjektive) Definitionsvariante in den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre einen Aspekt, der auf eine innovative Funktion der Vernunftreligion innerhalb Kants religionsphilosophischen Überlegungen hinweist: Sie erhält dort den Status einer Pflicht gegen sich selbst (TL, VI 443 f.). Der Selbstpflichtcharakter der Vernunftreligion sagt mehr über sie aus als ihre vorherrschende Konzeption in der „Dialektik“ der zweiten Kritik und der Religionsschrift. Es läßt sich nämlich aus der Grundaufgabe der Vernunftreligion in diesen Schriften, welche hauptsächlich darin besteht, als ein „Band“ die zwei heterogenen Komponenten des höchsten Gutes, d. i. die Tugend und die Glückseligkeit, https://doi.org/10.1515/9783110782424-015

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zusammenzuhalten, nicht geradewegs darauf schließen, daß die Vernunftreligion zugleich eine moralische Verbindlichkeit gegen sich selbst auferlegt. Während Gott im Kontext dieser Schriften vorwiegend als eine „adäquate Ursache“ für die „genaue Übereinstimmung“ der Glückseligkeit zur Tugend (der moralische Endzweck) auftritt und für die Realisierung dieses Endzwecks der Moral sorgt, wird er nach Kants subjektiver Definition der Vernunftreligion in der Tugendlehre vielmehr zu einer normativen Instanz, welche durch Äquivalenz ihrer Gebote mit allen Menschenpflichten eine nach Innen gerichtete, eben subjektive Rolle für die Moral spielt. Es gilt deshalb zu fragen, wie Kant sich genau die Definition der Vernunftreligion als eine Pflicht gegen sich selbst vorstellt und wozu diese pflichtentheoretische Bestimmung der Vernunftreligion dient (13.1, 13.2). Darüber hinaus stellt sich bezüglich der zweiten Definitionsvariante der Vernunftreligion die Frage, ob und wie diese Definition in der Verbindung von Kants Ethik und seiner Religionsschrift eine Vermittlungsrolle spielt (13.3). Kants Definition der reinen Vernunftreligion findet man an zahlreichen Stellen seiner Druck- und Nachlaßschriften (s. etwa KpV, V 129; KU, V 481; Rel., VI 153, Fn., 99 und 103 f.; Fak., VII 36, 64; TL, VI 443; Verkündigung, VIII 418; die früheste Formulierung findet sich, so weit ich sehe, in Kants Brief an Christian Heinrich Wolke, 28. 3. 1776, 109, X 192). Ihre unmittelbar pflichtentheoretische Charakterisierung erfährt die Definition aber allein in §§ 16 und 18 sowie dem „Beschluß“ der Tugendlehre. Erst hier bezeichnet Kant seine Definition als „Religionspflicht“ und gibt über ihren Selbstpflichtcharakter Aufschluß. Erst im „Beschluß“ befaßt sich Kant auch systematisch mit der Rolle seiner Definition bei der Grenzziehung zwischen seiner Ethik und der Religionslehre (VI 443 f., 486 ff.). Im Folgenden werde ich den obigen Fragen entlang der Kommentierung dieser Textpassagen nachgehen.

13.1 „Die Erkenntnis aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ als eine Pflicht gegen sich selbst – §§ 16–18 der Tugendlehre In §§ 16–18 der Tugendlehre führt Kant eine vollständige Einteilung der Pflichtverhältnisse ein, die angeblich gegen nichtmenschliche Wesen gerichtet, im Grund aber nichts als Pflichten gegen sich selbst sind. Kants Einteilung umfaßt daher auch das menschliche Pflichtverhältnis zu Gott. Die Paragraphen bilden zusammen einen „Episodischen Abschnitt“ („Von der Amphibolie der moralischen Reflexionsbegriffe: das, was die Pflicht des Menschen gegen sich selbst ist, für Pflicht gegen andere [Wesen; 2. Aufl.] zu halten“). Er ist bemerkenswerterweise im „Ersten Teil“ der Ethischen Elementarlehre zwischen dem „Ersten Buch“, über vollkommene

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Selbstpflichten, und dem „Zweiten Buch“, über unvollkommene Selbstpflichten, eingeschaltet. Zur Erklärung des episodischen Charakters dieses Abschnitts wurde argumentiert, daß in diesem Abschnitt eine Art Überschreitung der Grenze zwischen rationalem und statutarischem (empirischem) Teil der Ethik stattfinde; Kant konzipiere hier, so Peter König, analog zu seinem Ansatz im Opus Postumum eine Übergangslehre, die „in Gestalt … einer Tugendlehre überhaupt (oder Religionslehre)“ das Gemeinsame der „rationalen und statutarischen … Tugendlehre“ umfasse. Damit zeichne sich der „Episodische Abschnitt“ dadurch aus, daß er die „Tugendlehre überhaupt“, das heißt die „reine und ganz intellektuelle“ Tugend darstelle (König 1999, 147 f., 151). Doch §§ 16–18 beinhalten, ebenso wie andere Abschnitte der Elementarlehre der Tugendlehre, sowohl empirische wie rationale Elemente. Sie beziehen sich zwar im Grunde auch auf die ethische Gesinnung als das Intellektuelle; dies ist jedoch nicht das Eigentümliche dieser Paragraphen. Sie handeln auch nicht etwa allein von menschlichen Pflichtverhältnissen mit dem intellektuellen Wesen Gott, sondern mit allen möglichen (empirischen und rationalen) nichtmenschlichen Wesen. Der episodische Charakter dieses Abschnitts sollte vielmehr wörtlich gefaßt werden (Gr. von „epeisódion“: eine eingeschobene Nebenhandlung; vgl. KrV, A 848 f./B 876 f.). Kant befaßt sich in §§ 16–18 mit den Pflichtverhältnissen, die sich als nicht direkte, das heißt nicht genuine und deshalb umdeutungsbedürftige Pflichtverhältnisse herausstellen, und gerade deshalb werden sie episodisch behandelt. Anders gesagt erfüllen solche Pflichtverhältnisse nach Kant nicht vollständig die Bedingungen der Verpflichtungsfähigkeit und erhalten daher gleichsam den Status einer Nebenhandlung. Warum besteht aber hier nach Kant kein genuines Pflichtverhältnis, und was sind die Bedingungen von Verpflichtungsfähigkeit? Kants Einteilung der Pflichtverhältnisse zu nichtmenschlichen Wesen erfolgt zunächst in § 16 durch eine Unterscheidung, die er hier zum ersten Mal ausspricht, eine Unterscheidung zwischen Pflichten gegen (erga) ein Wesen und Pflichten „in Ansehung“ eines Wesens. Kant argumentiert dafür, daß die Menschen nur dann genuine Pflichten, das heißt Pflichten gegen (erga) ein anderes Wesen haben, wenn dies „erstlich eine Person“ ist, und „zweitens … diese Person als Gegenstand der Erfahrung gegeben“ ist. Eine Pflicht gegen ein anderes Wesen ist also nach Kant nur dann der Fall, wenn dieses Wesen sowohl ein vernunftbegabtes wie auch ein durch sinnliche Anschauungen „gegebenes“ Wesen ist. Nur die Verbindung von notwendiger und hinreichender Bedingung der Vernünftigkeit und der gegenseitigen Erfahrbarkeit ermöglicht also ein genuines Pflichtverhältnis. Mit dieser zweifachen Einschränkung weist Kant darauf hin, daß allein die Wesen, welche in einem reziproken Verpflichtungsverhältnis zueinander stehen können, verpflichtungsfähige Wesen sind; sie müssen ebenso verpflichtend wie verpflichtet sein können, und zwar in einem wechselseitigen Rollentausch (TL, VI 442 und 444, s. 491; vgl. RL VI 241). Doch Kant zufolge

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kennen wir „mit aller unserer Erfahrung“ kein anderes Wesen, welches diesen beiden Bedingungen genügt, „als bloß den Menschen“. Die Vorstellung einer Pflicht gegen ein anderes, nichtmenschliches Wesen, ob „außermenschlich“ oder „übermenschlich“, sei demnach ein „Mißverstand“, eine Folge der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ – in diesem Fall des Reflexionsbegriffspaars „das Innere und Äußere“ (s. KrV, A 260–268/B 316–324; s. dazu ausführlich Tieftrunk 1798, 314–318). Eine „vermeinte“ Pflicht gegen ein äußerliches nichtmenschliches Wesen bedeutet daher im Grunde nur eine nach innen gerichtete Pflicht, eine menschliche Pflicht gegen sich selbst. Wir verwechseln nämlich hier, etwa im Fall des nicht erfahrbaren übermenschlichen Wesens Gott, einen bloßen Begriff, welcher der Vernunft angehört, das heißt eine Idee, mit einem unseren Anschauungen zugänglichen Gegenstand. Infolgedessen stellen wir uns dann hier die Pflicht irrtümlich als solche vor, die gegen ein reales Wesen außer uns (extra nos) gerichtet ist, obwohl sie im Grunde bloß auf eine Idee rekurriert. Das, was wir also nur gedanklich, innerlich, von uns unterscheiden können, halten wir hierbei für einen äußerlich unterschiedlichen Gegenstand. Zur Vermeidung dieser Amphibolie setzt Kant nun bei der Präposition gegen (erga) an und führt eine korrektive Beschreibung solcher Pflichtverhältnisse ein. Menschliche Pflichtverhältnisse zu Wesen, welche nicht zugleich den beiden Bedingungen der Verpflichtungsfähigkeit genügen, sollen stattdessen nur mit dem Ausdruck „in Ansehung“ beschrieben werden. „Eine Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ heißt hier also mit anderen Worten, daß der Mensch „seine Pflicht in Ansehung anderer Wesen für Pflicht gegen diese Wesen verwechselt“. Trotz dieser Korrektur sind für Kant jedoch alle Pflichtverhältnisse „in Ansehung“ der nichtmenschlichen Wesen weiterhin auf Pflichten gegen sich selbst zurückzuführen (TL, VI 442; Hv. R.M.; vgl. Rel., VI 153 Fn.). Pflichten „in Ansehung“ nichtmenschlicher Wesen sagen also in der Tugendlehre, unbeachtet ihrer Adressat*innen, so viel wie Selbstpflichten. In § 17 behandelt Kant zunächst die Pflichten „in Ansehung“ der Wesen, die zwar durch Erfahrung gegeben, aber keine Personen sind („außermenschliche“ bzw. „untermenschliche (vernunftlose) Wesen“). Diesen Pflichten mißt Kant eindeutig eine subsidiäre Rolle zur Moralität des Menschen bei. Sie befördern „die Moralität sehr“, und ihre Übertretung, wenn sie Pflichten „in Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe“ sind, schwächt, ja tilgt „nach und nach“ „eine der Moralität im Verhältnisse zu anderen Menschen sehr diensame natürliche Anlage“ (TL, VI 443; s. Vorarbeiten zur TL, XXIII 416). In § 18 befaßt sich Kant sodann mit der Pflicht „in Ansehung“ eines „persönliche(n)“ Wesens, welches aber ein „schlechterdings unsichtbare(r)“ Gegenstand ist und „ganz über unsere Erfahrungsgränze hinaus liegt“. Dabei konzentriert sich Kant nur auf Gott, genauer noch, die Idee Gottes (vgl. TL, VI 442). Die Pflicht „in Ansehung“ der Idee Gottes nennt Kant hier „Religionspflicht“ und identifiziert diese

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wiederum mit seiner subjektiven Definition der reinen Vernunftreligion („der Erkenntniß aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“), so daß die Definition der Vernunftreligion, die Religionspflicht und die Pflicht „in Ansehung“ der Idee Gottes für ihn alle gleichbedeutend und zugleich im Grunde eine Pflicht gegen sich selbst darstellen (TL, VI 443; s. „Beschluß“, 487). Doch was versteht Kant genau unter dem Ausdruck „in Ansehung“ und inwiefern korrigiert dieser Ausdruck die Vorstellung unseres Pflichtverhältnisses zur Idee Gottes? Eine direkte Antwort gibt Kant auf diese Frage nicht, doch aufgrund der Gleichsetzung der Pflicht „in Ansehung“ der Idee Gottes mit der Definition der Vernunftreligion kann das lateinische Wort „instar“ verdeutlichen, was er damit im Sinn hat. Instar bedeutet nicht nur „der gleiche Gehalt“, es bedeutet auch „so viel wie“, „ganz wie etwas“ oder „ganz nach der Art von etwas“. In einer späten Reflexion benutzt Kant anstelle von instar auch tanquam in seiner Definition der Vernunftreligion, was wiederum bedeutet, daß die menschlichen Pflichten so wie, gleichwie, oder gleichsam als göttliche Gebote gedacht werden sollen (Refl. 8104, XIX 646). Instar (tanquam) verweist also auf den analogen, bloß mittelbaren Rekurs menschlicher Pflichten auf göttliche Gebote in der Definition der Vernunftreligion, mithin auch auf den analogen, nur indirekten Charakter der Pflichtverhältnisse, welche mit dem Ausdruck „in Ansehung“ beschrieben werden sollen (s. TL, VI 443). Dies bestätigt Kant auch am Ende des § 17, wenn er die Pflicht „in Ansehung“ eines nichtmenschlichen vernunftlosen Wesens als das deutet, welches „indirekt zur Pflicht des Menschen“ gehört (TL, VI 443). Der Mensch (als das Verbundene) wird nämlich hierbei nur von seiner eigenen Vernunft (dem Verbindenden) verpflichtet (vgl. TL, §§ 1–3); dies geschieht jedoch bei diesen Pflichtverhältnissen über die Bezugnahme der Vernunft auf eine dritte Instanz, das heißt angesichts eines nichtmenschlichen Wesens, welches entweder erfahrbar aber nicht verbindend, oder verbindend doch unerfahrbar ist. Die Pflicht „in Ansehung“ der Idee Gottes bzw. die Religionspflicht ist also nach Kant eine Pflicht, die direkt gegen sich selbst gerichtet ist, und nur analog, somit mittelbar, und zwar mit gleichem Gehalt auf die verbindende und unerfahrbare Idee Gottes. Doch was genau erlegt die Religionspflicht auf? Indem Kant in § 18 die Definition der Vernunftreligion selbst als Religionspflicht bezeichnet, liegt es nahe, daß er nur die „Erkenntniß aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“ auf eine Selbstpflicht zurückführt. Dies bestätigt Kant, wenn er am Ende dieses Paragraphen schreibt: „Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“ (TL,VI 444). Setzen wir in diesem Satz die Definition der Vernunftreligion an die Stelle von „Religion“, so lautet er: „‚Erkenntniß aller unserer Pflichten als (instar) göttlicher Gebote‘ zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst.“ Auch im „Beschluß“ der Tugendlehre läßt Kant noch einmal eindeutig erkennen, daß er die gedankliche Verbindung aller Pflichten mit göttlichen Geboten als eine Pflicht gegen sich selbst

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betrachtet (TL, VI 487). Es ist also nach Kant die Pflicht eines jeden Menschen gegen sich selbst, alle seine bereits moralisch begründeten Pflichten als Gebote Gottes zu erkennen, von dem wir dabei nur eine Idee haben. Und genau diese subjektive, alle anderen Pflichten umfassende Pflicht nennt Kant die Religionspflicht. Hier stellt sich die weitere Frage, welcher Klasse der Selbstpflichten dann die Religionspflicht angehört. In der Tugendlehre unterteilt Kant die Selbstpflichten exhaustiv in zwei Klassen: die vollkommenen Unterlassungspflichten gegen sich selbst und die unvollkommenen Pflichten der Selbstvervollkommnung (s. „Einleitung zur Tugendlehre“ und Erster Teil der „Ethischen Elementarlehre“). Die Religionspflicht als eine Pflicht gegen sich selbst muß deshalb der einen oder der anderen Klasse zugeordnet werden. Dies expliziert Kant nicht. Gleichwohl sprechen einige sich ergänzende Gründe dafür, daß die Religionspflicht nicht den vollkommenen (engen) Pflichten in ihrem gängigen Sinn in der Metaphysik der Sitten zugeordnet werden kann. Der Gehalt der Religionspflicht deutet im Gegensatz zu vollkommenen Pflichten auf keine Unterlassung, sondern vielmehr auf eine positive „practische Annahme“ der Idee Gottes als der äquivalenten Ursprungsinstanz aller Menschenpflichten hin. Da diese Annahme aufgrund der Unerfahrbarkeit Gottes zudem ein praktischer Glaube an die Idee eines Gedankenwesens bleibt, kann sie sich nur auf das Subjektive des moralisch Handelnden beziehen. Folglich fordert die Religionspflicht nur eine (subjektive) „Erkenntnis“ aller Pflichten als göttlicher Gebote, also nicht eine äußerlich bestimmbare Handlung selbst, welche den Gegenstand vollkommener Pflichten charakterisiert (s. etwa TL, VI 390 f.). Damit scheidet die erste Klasse der Selbstpflichten als die mögliche Kandidatin für die der Religionspflicht übergeordnete Klasse aus. Die Religionspflicht gehört somit den unvollkommenen Pflichten der eigenen Vollkommenheit an. Doch auch diese Pflichtklasse teilt Kant wieder in zwei Unterklassen – die der physischen Kultur („Kultur seines Vermögens“) und die der Kultur der Moralität („Kultur seines Willens“) (TL, VI 387, 391 f.). Es bleibt also noch unklar, welcher dieser beiden Unterklassen die Religionspflicht zuzuordnen ist, worin dies begründet liegt, und schließlich, worin genau die ethische Aufgabe der Vernunftreligion in ihrer pflichtentheoretischen Definition besteht.

13.2 Die Religionspflicht als die Selbstpflicht der Kultur der Moralität Gleich im ersten Satz der ersten Vorrede der Religionsschrift macht Kant deutlich, daß die auf reiner praktischer Vernunft des Menschen gegründete „Moral“ weder für die Erkenntnis und Beurteilung menschlicher Pflicht „der Idee eines andern

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Wesens über ihm“ bedarf, noch für die Befolgung der Pflichten „einer andern Triebfeder als des Gesetzes selbst“. Mit anderen Worten, die Moralität ist „vermöge der reinen praktischen Vernunft“ selbstsuffizient, und zwar sowohl in dijudikativer wie in exekutiver Hinsicht (3; s. auch KpV,V 130). Die Definition der Vernunftreligion bedeutet deshalb für Kant nicht, daß die Pflichten begründungstheoretisch die Existenz Gottes bzw. die Annahme eines Gesetzgebers außer uns voraussetzen (s. etwa KpV, V 125). Dies würde für Kant in dijudikativer Hinsicht die Erkenntnis und Beurteilung der Pflichten von gewissen „Sanctionen, d. i. willkürliche(n), für sich selbst zufällige(n) Verordnungen eines fremden Willens“ (KpV, V 129) abhängig machen und eine (theologische) Variante der Heteronomie darstellen, die sogar einen minderen Rang innerhalb seiner Typologie und Werthierarchisierung der heteronomen Ethikmodelle erhält (GMS, IV 442 ff.). In exekutiver Hinsicht würde dies wiederum eine Unterordnung der moralischen Gesinnung unter die „Verehrung Gottes“ bedeuten und Gott in ein „Idol“ und die Religion in eine „Idololatrie“ verwandeln; Gott würde so „als ein Wesen gedacht, dem wir nicht durch sittliches Wohlverhalten in der Welt, sondern durch Anbetung und Einschmeichelung zu gefallen hoffen dürften“ (Rel., VI 185). Gerade deshalb kann die Achtung vor den göttlichen Geboten für Kant auch kein „Surrogat“ der Tugend bzw. der autonomen Moral sein (ebd. 3 und 185). Wenn aber die Religion weder als die Grundlage der Moral noch als ihr Surrogat gilt, wozu dient dann die reine Vernunftreligion und wozu die pflichtentheoretische Bestimmung der Religion? Kant läßt keinen Zweifel daran, daß er die wahre Aufgabe der Religion in der Vollendung der Moral sieht. Während die Moralität die Vernunftreligion fundiert, vollendet diese wiederum die Moralität selbst. In dijudikativer Hinsicht jedoch bedarf Kants moralisches Prinzip beziehungsweise der Kategorische Imperativ keiner weiteren Ergänzung; Kants Beurteilungsprinzip moralischer Verwerflichkeit bzw. Richtigkeit gilt als solches für ihn bereits als vollendet. Eine Vollendung beziehungsweise Ergänzung durch die Vernunftreligion betrifft nur die Exekution der Moralität. In Kants Konzeption der Hauptaufgabe der Vernunftreligion dient diese der „Herbeiführung des höchsten Guts“. Dies liegt darin begründet, daß das höchste Gut das notwendige „Object und den Endzweck der reinen praktischen Vernunft“ ausmacht (KpV, V 129). Das höchste Gut wiederum besteht für Kant in der Verbindung zweier heterogener Bestandteile: der Tugend und der Glückseligkeit (KpV, V 126 ff.). Dabei geht es allerdings nur um eine subordinative Verbindung dieser Elemente, in der es die Glückseligkeit ist, die der Tugend angemessen werden soll (s. zur Angemessenheit, Logik, IX 63). Das höchste Gut ist damit ein Ganzes, „worin die größte Glückseligkeit mit dem größten Maße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkommenheit als in der genausten Proportion verbunden vorgestellt wird“ (KpV, V 129). Da nun der Mensch diese Verbindung „aus eigenen Kräften nicht durchgängig“ realisieren kann, erfordert die praktische Vernunft zu einer „genauen

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Übereinstimmung“ dieser Elemente eine „höhere Mitwirkung“ und postuliert demzufolge das Dasein Gottes. Gott ist demnach die „adäquate Ursache“ zu „dieser Wirkung“ (genauer Übereinstimmung) und gibt dem Begriff des höchsten Gutes erst objektive Realität. Als die Bedingung der Realisierungsmöglichkeit des aus zwei heterogenen Komponenten gestalteten höchsten Gutes muß Gott indes nicht nur die oberste Ursache der Natur sein (für die Komponente Glückseligkeit), sondern auch eine Ursache, die „eine der moralischen Gesinnung gemäße Kausalität hat“ (für die Komponente Tugend). Gott gleicht hier also einer causa auxiliaris zur Wirklichkeit des höchsten Gutes, zu dessen Realisierung menschliches Vermögen nicht hinreicht, vor allem in Bezug auf das seiner Tugend angemessene Glück; er „ergänzet“ „unser Unvermögen … in Ansehung der materialen Bedingung dieses Endzweckes“ (KpV, V 125 f.; Fortschritte, XX 295; Hv. R.M.; s. Rel., VI 52). Aufgrund der eingeschränkten Sinnennatur des Menschen leuchtet ein, daß der Mensch es nicht vermag, die materiale Bedingung bzw. die Naturkomponente des höchsten Gutes aus eigener Kraft zu bewirken. Doch dies ist noch nicht alles, was Kant unter dem menschlichen Unvermögen hinsichtlich des höchsten Gutes versteht. Bei näherer Betrachtung des exekutiven Defizits des Menschen bei der Verwirklichung seines moralischen Endzwecks stellt sich nämlich auch bezüglich der Moralkomponente des höchsten Gutes noch eine Seite heraus, die vielmehr subjektiven Charakters ist. Dieses subjektive moralische Defizit geht ebenso aus der sinnlich bedingten Natur des Menschen hervor, es macht aber bereits innerlich die Erfüllung der Moralität problematisch, und zwar in zweifacher zusammenhängender Hinsicht: in einer volitiven und in einer kognitiven. Den volitiven Aspekt entfaltet Kant in der Religionsschrift in drei sich steigernden Stufen: der „Gebrechlichkeit (fragilitas) der menschlichen Natur“ („Wollen habe ich wohl, aber das Vollbringen fehlt“, Röm 7,18), der „Unlauterkeit (impuritas, improbitas) des menschlichen Herzens“ („pflichtmäßige Handlungen [werden] nicht rein aus Pflicht gethan“) und der „Bösartigkeit“ bzw. der „Verkehrtheit (perversitas) des menschlichen Herzens“ (der Hang zur Umkehrung „sittliche(r) Ordnung in Ansehung der Triebfedern einer freien Willkür“) (Rel., VI 29 f.; Hv. R.M.). In kognitiver Hinsicht vertritt Kant bereits in der Grundlegung die These, daß die Menschen „selbst durch die angestrengteste“ und schärfste Selbstprüfung nicht wissen können, ob sie wirklich tugendhaft, das heißt lediglich aus moralischer Gesinnung als der „eigentliche(n) bestimmende(n) Ursache des Willens“ gehandelt haben (GMS, IV 407; s. Gemeinspruch, VIII 284; TL, VI 392; Rel., VI 61, 71, 69 Fn.). Die „Tiefe des Herzens“, die reine moralische Gesinnung, bleibt nämlich nach Kant als das Intellektuelle (s. Rel. VI 170, Fn., 51, 15 f.) der inneren Erfahrung des Menschen schon aus transzendentalkritischen Gründen unzugänglich (der Einfachheit halber: ethische Motivagnosie). Dies bestärkt nun nicht nur das volitive Defizit des Menschen in der Befolgung und subjektiven Realisierung der Moralität in allen seinen drei Stufen. Die ethische

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Motivagnosie weist vielmehr auch auf etwas hin, was nach Kant grundsätzlich nicht in der Gewalt der Menschen liegt – ein Unvermögen. Sie verweist also auf die unüberwindbar defizitäre und kritische Lage dessen, was eigentlich die Ermöglichungsbedingung der objektiven Realisierung des höchsten Gutes ausmacht: denn wie soll der moralische Endzweck überhaupt objektiv realisierungsfähig werden, wenn sein ausschlaggebender Bestandteil (die moralische Gesinnung) seinen menschlichen Autor*innen kognitiv verwehrt bleibt? Mit dieser Problematik vor Augen leuchtet es ein, warum Kant Gott nicht allein für die materiale Bedingung des höchsten Gutes, sondern vielmehr auch bezüglich der Moralkomponente des höchsten Gutes benötigt: „In der Moralität kommt es vorzüglich auf die reinsten Gesinnungen an, diese aber wären verlohren, wenn kein Wesen wäre, das solche wahrnehmen könnte“ (Moral Collins, XXVII 306; Stark 2004, Moral Kaehler, 118). Eine systematische Asymmetrie zwischen dem menschlichen Unwissen von seiner ethischen Gesinnung und der Notwendigkeit der Bestimmtheit dieser Gesinnung für die Realisierung des moralischen Endzwecks würde das ganze Konzept des höchsten Gutes, und somit Kants Theorie der reinen Vernunftreligion, ins Wanken bringen. Hier drängt sich also die Frage auf, ob irgendein Aspekt Gottes diesen systematischen Ausgleich wiederherstellen bzw. eine ergänzende Rolle für die Moralität selbst spielen kann, und ob sich eine solche Rolle der Definition der Vernunftreligion bzw. der Religionspflicht zuschreiben läßt. In der Religionsschrift sowie der zweiten Kritik gibt Kant zu erkennen, daß Menschen für die Vollendungsaufgabe der Vernunftreligion „die göttliche Naturbeschaffenheit“ in praktischer Hinsicht nach drei genuin ethischen Grundeigenschaften „denken und annehmen müssen“. Gemäß diesen eigentümlichen Grundeigenschaften, die das ganze moralische „Verhalten Gottes“ gegenüber dem Menschen ausdrücken (Rel., VI 140 f.), erfolgt die Vollendungsaufgabe der Vernunftreligion auch in einer Trichotomie der Rollen Gottes. Demnach charakterisiert Kant die Rollen Gottes anhand der gängigen Gewaltenteilung im öffentlichen Recht als den „heilige(n) Gesetzgeber“, den „gütige(n) Regierer“ und den „gerechte(n) Richter“ (Rel., VI 139; KpV, V 131, Fn.; Hv. R.M.; s. ausführlich Religionslehre Pölitz, XXVIII 1073 ff.). Beschränken wir uns nun auf das kognitive Unvermögen des Menschen in der Erfüllung seiner Moralität, die ethische Motivagnosie, so zeigt unter diesen drei Rollen die letzte, die judikative, entscheidende Bedeutung. In dieser Rolle, als gerechter Richter, bezeichnet Kant Gott auch als einen „Herzenskündiger“ (Lutherübersetzung; s. bei Kant bereits Theodizee VIII 268 f.). Ein vollkommener gerechter Richter kann zudem nur dann sein Urteil mit „pünktlicher Gerechtigkeit“ fällen, wenn er allwissend ist; nur ein allwissendes Wesen vermag die Moralität, welche in der Gesinnung liegt, wahrzunehmen. Mit diesem Aspekt tritt also die Idee Gottes als Herzenskündiger als die einzig mögliche Instanz auf, welche den intelligiblen Grund des Herzens, „das Innerste der Gesinnungen eines jeden“, durch-

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schauen und folglich ihren Wert definitiv beurteilen kann (s. etwa Rel., VI 48, 67, 99; TL, VI 439). Gott als Herzenskündiger gilt daher für Kant als der Grund der Beurteilungsmöglichkeit der genauen Übereinstimmung zwischen den zwei Komponenten des höchsten Gutes. Der judikative Aspekt Gottes balanciert mit anderen Worten das kognitive Unvermögen des Menschen bezüglich seiner Moralität aus und stellt den erforderlichen Ausgleich zwischen der ethischen Motivagnosie und der Realisierungsfähigkeit des höchsten Gutes wieder her. Kann aber die Idee Gottes als Herzenskündiger auch in der Religionspflicht eine gewisse Ergänzungsfunktion hinsichtlich des Moralitätsdefizits des Menschen aufweisen? Sollte dies nämlich der Fall sein, so ließe sich dadurch zeigen, daß der judikative Aspekt Gottes der Förderung der ethischen Gesinnung dient, das heißt dem, was Kant als „Cultur der Moralität in uns“, also eine der zwei Subklassen der unvollkommenen Selbstpflichten bezeichnet (TL, VI 392) – und so würde die Frage nach dem pflichtentypologischen Status der Religionspflicht als einer Selbstpflicht und somit nach ihrer ethischen Aufgabe beantwortet. Daß der genuine und unmittelbare Gegenstand der Forderungen einer wahren, das heißt moralisch begründeten, Religion allein in der Qualität der Gesinnung eines jeden Menschen besteht, ist eine Grundthese Kants, welche er schon seit seinem sogenannten Bekenntnisbrief vertritt (an Iohann Caspar Lavater, 28.4.1775, 99, X 178). Auch der judikative Aspekt Gottes sieht es nach Kant einzig und allein auf die moralische Gesinnung ab (s. etwa KrV, A 828 f./B 856 f.; GMS, V 439; Rel., VI 67, 84, 99 f., 115 f.); mehr noch, Kant scheint vielmehr diesen Aspekt um der moralischen Gesinnung selbst willen zu postulieren (s. etwa Rel., VI 127, 77, 72 f.). Ebendarum ist auch die reine moralische Herzensgesinnung für Kant der einzige unmittelbare „Gegenstand des göttlichen Wohlgefallens“; der Gott wohlgefällige Mensch sagt nämlich für Kant so viel wie der tugendhafte Mensch (s. etwa Rel., VI 178, s. auch 67, 73, 74 Fn.). Es liegt also auf der Hand, daß alle göttlichen Gebote nach der reinen Vernunftreligion auf das Innere, auf die Triebfeder des Menschen gerichtet sind. In der Tat zeichnet sich auch die Art der Verbindlichkeit unvollkommener Pflichten, zu denen die Religionspflicht gehört, gerade dadurch aus, daß sie sich auf die Triebfeder bzw. die Maximen beziehen (TL, VI 390). Der Gesinnungsbezug der Vernunftreligion wird aber noch deutlicher, wenn wir darauf achten, daß Kant in der Formulierung ihrer Definition an zahlreichen Stellen von der Befolgung aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote in unserer Gesinnung spricht (s. etwa Fak., VII 36; vgl. Rel., VI 105, 192; s. auch Vigilantius, XXVII 713 ff.). Dies legt neben dem unvollkommen Verbindlichkeitscharakter der Religionspflicht nahe, daß die Definition der Vernunftreligion nicht nur eine Maximenpflicht auferlegt, sondern vielmehr eine auf die Erfüllung der Moralität selbst gerichtete Forderung stellt; daß sie eine motivationale Rolle in der tugendhaften Bestimmung menschlichen Willens spielt (s. etwa Rel., VI 84). Wie läßt sich dies jedoch verstehen? Die Moralität gilt ja

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für Kant als hinreichend zur Willensbestimmung; sie bedarf in ihrer subjektiven Befolgung eben keiner „andern Triebfeder als des Gesetzes selbst“ (Rel., VI 3). Welche Leistung kann dann also die Vorstellung aller Pflichten als Gebote Gottes für die Moralität erbringen? Es liegen nun einige Belege vor, die uns eindeutige Hinweise darauf geben, daß Kant die subjektive (motivationale) Rolle der Religionspflicht für die Moralität nicht etwa als einen „Ersatz“, sondern eine „Stärkung“ bzw. Belebung der ethischen Gesinnung sieht und daß die Definition der Vernunftreligion eine nur subsidiäre Ergänzungsfunktion für die Moralität, also für die Erweiterung der Tugend, aufweist. Dies schmälert aber nicht etwa die Zulänglichkeit der reinen praktischen Vernunft zur Willensbestimmung. Kant entwickelt die Vernunftreligion aus der reinen praktischen Vernunft selbst heraus („die Moral führt unausbleiblich zur Religion“, Rel., VI 8, Fn., s. auch 181 f.); und die Moralität nach der Definition der Vernunftreligion bedeutet für ihn nichts anderes als die Übereinstimmung menschlichen Willens mit den Geboten eines moralisch idealisierten, das heißt göttlichen, Willens. Die Moralität wird hier also mit dem bestärkt, was in ihr selbst gegründet und aus ihr selbst entwickelt ist (vgl. Gregor 1963, 163). Ein Theoriestück, das eindeutig auf die Stärkungsfunktion der Idee Gottes für die Moralität verweist, ist Kants Auffassung der „Gottseligkeit“. Mit Gottseligkeit bezeichnet Kant die Relation moralischer Gesinnung des Menschen zu Gott als einem moralischen Idealwesen; Gottseligkeit drückt die moralische Gesinnung mit Rekurs auf die reine Vernunftreligion („die wahre Religionsgesinnung“) aus und zwar insofern, als diese die Idee der Moralität in ihrer vollendeten Form darstellt. Während die praktische Verehrung (Achtung) des Moralgesetzes Tugend heißt, besteht die Gottseligkeit in einer äquivalenten Verehrung der Idee eines personifizierten Moralgesetzes, der Idee Gottes (s. etwa Fak., VII 49). Gottseligkeit tritt deshalb für Kant dort auf, wo die „Unvollkommenheit der menschlichen Moralität“ anhand der Richtschnur eines vollkommenen moralischen Gesetzgebers betrachtet wird. Nach Kants Begründungsverhältnis zwischen Tugend und Vernunftreligion darf jedoch die Gottseligkeit weder der Tugend übergeordnet werden noch als ihr „Ersatz“ den menschlichen Willen bestimmen. Daher schreibt Kant der der Tugend untergeordneten Gottseligkeit allein die Funktion zu, als „Mittel“ dem Zweck der Moralität zu dienen, noch genauer, „die Tugendgesinnung zu stärken“ (Rel., VI 182 f., s. auch 201; Vorarbeiten zur Rel., XXIII 121 f.). Auch Kants Theorie des Gewissens (forum internum), welches die Gesinnungen zu seinem Beurteilungsgegenstand hat, bestätigt die motivationale Rolle der Vernunftreligion für die Moralität. In § 13 der Tugendlehre definiert Kant das Gewissen als „das Bewußtsein eines inneren Gerichtshofes im Menschen“ und verbindet es mit dem judikativen Aspekt der „idealischen Person“ Gott. Damit charakterisiert Kant Gott als den „autorisirte(n) Gewissensrichter“, als einen „Herzenskündiger“ in

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foro interno. Gerade deshalb sieht er „das Gewissen als subjectives Princip einer vor Gott seiner Thaten wegen zu leistenden Verantwortung“ an (vgl. Gewissen als „Repraesentant des fori divini“, etwa in Moral Mrongovius II, XXIX 642; Moral Collins, XXVII 297). Die Idee Gottes als Herzenskündiger begleitet somit stets im Inneren die ethische Befolgung, das heißt die subjektiven Prinzipien moralischer Handlungen des Menschen werden mit einem umfassenden „Princip der Beurtheilung aller seiner Pflichten als göttlicher Gebote“ versehen (TL, VI 438 ff.; Hv. R.M.; vgl. Rel., VI 72 f.). Dies bedeutet wiederum, daß nach der Religionspflicht alle unsere Pflichtgesinnungen mit der Vorstellung der Idee eines beurteilenden Herzenskündigers einhergehen und auch mit Rücksicht auf sie befolgt werden sollen. Schließlich heißt es im „Beschluß“ der Tugendlehre, in dem sich Kant unmittelbar mit dem Pflichtcharakter der Definition der Vernunftreligion befaßt, unverkennbar, daß die Religionspflicht eine „Pflicht des Menschen gegen sich selbst, d. i. … nur subjective zur Stärkung der moralischen Triebfeder in unserer eigenen gesetzgebenden Vernunft“ sei (TL, VI 487; Hv. R.M.). Der gemeinsame Punkt dieser Theoriestücke bzw. Passagen besteht darin, daß sie die unvollkommene Moralität des Menschen mit der unmittelbar auf seine ethische Gesinnung gerichteten Vernunftreligion verbinden und in der Vollendungsaufgabe der Vernunftreligion für den moralischen Endzweck auch auf ihre subjektive Beförderung der Tugendgesinnung selbst verweisen (schon in seinem Briefentwurf an Lavater, 28.4.1775, spricht Kant davon, daß der „moralische Geist“ der Religion „den guten Gesinnungen“ „neue Stärke und Zuversicht“ geben kann, 100, X 179). Da es nun unter den dualen Subklassen unvollkommener Selbstpflichten, denen die Religionspflicht zuzuordnen ist, allein die Pflicht der „Cultur der Moralität in uns“ ist, welche sich unmittelbar auf die Qualität ethischer Gesinnung selbst bezieht, muß also die Religionspflicht kohärenterweise als ein Fall dieser Subklasse betrachtet werden. Die Selbstpflicht der Kultur der Moralität besteht in der sittlichen Vervollkommnung eigener Willensbestimmung „bis zur reinsten Tugendgesinnung“, in der Annäherung an „innere moralisch-practische Vollkommenheit“. Sie erlegt nach Kant gerade aufgrund des volitiven und kognitiven Defizits des Menschen nur eine weite Verbindlichkeit auf (TL, VI 387, 392 f., s. auch § 22, 446 f.). Eben diese defizitären Aspekte sind für Kant auch dafür zuständig, daß das menschliche Streben nach Moralität die Religionspflicht, die (An)erkennung aller Pflichten als (instar) Gebote eines moralisch perfekten Wesens, zu ihrer Vervollkommnung herbeiruft. So wie die Selbstpflicht der Kultur der Moralität, die gleichsam als eine Pflicht zweiter Ordnung auf die (verdienstliche) Befolgung aller anderen Pflichten Bezug nimmt, gilt auch die Religionspflicht ihrer Definition zufolge als eine Selbstpflicht, wonach alle Pflichten als göttliche Gebote gedacht werden sollen (vgl. Fak., VII 36).

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Angesichts der Frage, worin die Moralität bzw. moralische Vollkommenheit besteht, leistet die Religionspflicht indes nicht das Mindeste. Die Idee der Moralität als das „Object“, wonach man strebt, ist nach Kant in der formalen Gesetzmäßigkeit als dem obersten und unmittelbaren Grund des Willens in aller Bestimmtheit festgelegt. Erst in Bezug auf das menschliche „Subject“ der Moralität, also erst aufgrund der defizitären Natur dieses Subjekts bei ihrer Exekution, erbringt die Religionspflicht eine subsidiäre Leistung, die in der Stärkung des Grades der Übereinstimmung des menschlichen Willens mit der Idee der Moralität besteht. Damit tut sich nun nach Kant auf eine eigentümliche Art eine gewisse Divergenz auf zwischen zwei Aspekten des Gegenstandes der Selbstpflicht der Kultur bzw. „Erhöhung seiner moralischen Vollkommenheit“ – der Moralität als einem vollständig bestimmten Objekt und hinsichtlich ihres von Natur aus unvollkommenen Subjekts. Diesen Umstand erklärt Kant in §§ 21 f. der Tugendlehre durch eine Unterscheidung zwischen der „Qualität“ und dem „Grade“ dieser Selbstpflicht. Angesichts ihres Grades bei einem sowohl volitiv wie auch kognitiv mangelhaften Subjekt kann die Selbstpflicht der Kultur der Moralität nur eine unvollkommene bzw. weite Verbindlichkeit auferlegen. Ihrer „Qualität nach“ aber stellt sie als ein apriorisch wohl bestimmtes Objekt eine vollkommene bzw. enge Verbindlichkeit dar (TL, VI 446 f.). Diese pflichtentheoretische Unterscheidung, die Kant allein bei der Selbstpflicht der Kultur der Moralität trifft, läßt sich nun als eine Erklärung dafür sehen, warum Kant den „Episodischen Abschnitt“ (§§ 16–18) der Tugendlehre zwischen das „Erste Buch“ („von den vollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst“) und das „Zweite Buch“ („von den unvollkommenen Pflichten des Menschen gegen sich selbst“) des „Ersten Teils“ ihrer Elementarlehre einschiebt. Die Religionspflicht (§ 18) sowie die Selbstpflichten, die sich „indirekt“ auf die erfahrbaren aber „unpersönlichen“ Wesen beziehen (§ 17), gelten für Kant beide als Pflichtverhältnisse, die subsidiär der Förderung eigener Moralität dienen, und insofern sowohl mit vollkommener wie auch unvollkommener Verbindlichkeit in Berührung kommen; sie nehmen aufgrund ihres indirekten Charakters aber zugleich einen episodischen Status ein (eine eingeschaltete Nebenhandlung). Der Selbstpflichtcharakter der Vernunftreligion in der Tugendlehre eröffnet eine neue Perspektive auf die Rolle der Vernunftreligion bzw. Gottes für das höchste Gut, die sich im Kontext der Dialektik der zweiten Kritik und der Religionsschrift nicht ohne weiteres zeigt. Die Perspektive, aus der heraus Kant in diesen Schriften die Rolle der Vernunftreligion für das höchste Gut betrachtet, ist hauptsächlich durch die notwendige Beziehung der Sittlichkeit zu ihrer „Folge“ bestimmt. Die Vernunftreligion beruft sich von diesem Standpunkt aus auf das Interesse der praktischen Vernunft an ihrem moralischen Wirkungsschicksal, an einem zu erreichenden Objekt (KpV, V 124–132; Rel., VI 4 ff.). Aus der pflichtentheoretischen Perspektive der Tugendlehre ist dagegen das Augenmerk nicht nach außen bzw. auf

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die Folge, sondern vielmehr auf das Subjekt selbst gerichtet; nicht auf eine (moralische) Erfolgswirkung, sondern auf das moralisch Wirkende. In der ersten Perspektive kommt es auf den moralisch bedingten Endzustand der Menschen an, in letzterer hingegen auf die menschliche Person selbst. Während Gott als dem Garanten für das Gelingen des moralischen Endzwecks eine direkte und originelle „Mitwirkung“ bei der Herbeiführung und Austeilung des der Tugend angemessenen Glücks zuerkannt wird, kann die subsidiäre Rolle der Idee Gottes in der Religionspflicht bloß eine indirekte Wirkung für die Kultur der Moralität haben. In der Religionspflicht, in der analogen Gleichsetzung aller Menschenpflichten mit göttlichen Geboten, wird gefordert, daß ein moralisch heiliges und vollkommenes Wesen außer uns (wohlgemerkt: praeter, nicht extra nos) vorgestellt wird, vor dem die menschliche Gesinnung beständig und mit aller Präzision geprüft wird, und zwar nicht erst um der Realisierung des moralischen Endzwecks willen, sondern schon um der Belebung der Tugend selbst willen, welche die Bedingung (conditio sine qua non) dieses Endzwecks ist (s. KpV, V 50). Die Vernunftreligion enthält also nicht nur den Glauben an einen künftigen Weltrichter, sondern zugleich den Glauben an einen gegenwärtigen Herzenskündiger, der auch hier und jetzt etwa das kognitive Unvermögen des Menschen ausgleichen und zur Optimierung seiner Tugend verhelfen kann. Der Übergang von der „Unvollkommenheit der menschlichen Moralität“ zu „der vollendeten Moralität“ erfolgt damit in zwei sich ergänzenden Hinsichten: Zum einen wird durch Gott die „Gelangung“ zum Endzweck der Sittlichkeit realisierbar; zum anderen wird durch die Idee Gottes in der Religionspflicht Lauterkeit der ethischen Gesinnung begünstigt.

13.3 Die Ethik, die Definition der Vernunftreligion und die Religionsschrift – „Beschluß“ der Tugendlehre Der „Beschluß“ der Tugendlehre hat hauptsächlich eine architektonische Aufgabe; er soll rechtfertigen, warum Kant „zur Vollständigkeit“ seiner„rein-philosophischen Ethik“ nicht – „wie es sonst wohl gewöhnlich war“ (s. etwa Baumgarten 31763, II.1.A) – die „geoffenbarte Religion“ in ihre Grenzen mit hineinziehen will (TL, VI 487 f.). Kant befaßt sich hier deshalb mit der „Grenzbestimmung“ zwischen der Religion und der Ethik als einer „Wissenschaft“, das heißt eines Systems der reinen (praktischen) Vernunft, das Prinzipien enthält, „welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und notwendig machen“ (KrV, A 841/B 869). Kant beginnt den „Beschluß“ mit einem historischen Beispiel, welches vor allem die Diskrepanz zwischen dem moralisch Gerechten und der statutarischen

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Religion in ihrer rechtlichen Funktion hervorheben will. Die schwere Strafe, welche die „Richter von Athen“ gegen Protagoras’ agnostizistische Worte – „Ob Götter sind, oder nicht sind, davon weiß ich nichts zu sagen.“ – verhängten, war zwar „ganz rechtlich und konsequent“, denn seine Worte führten zur Dysfunktionalität des für die Rechtsverwaltung unentbehrlichen Mittels „Eid“, doch moralisch gesehen war sie „sehr unrecht“ (TL, VI 486; s. Vorarbeiten zur TL, XXIII 415). Dieses rechtliche Verfahren sieht Kant nicht nur darum als moralisch verwerflich, weil nach ihm die Institution Eid auf Aberglauben beruht, sondern vielmehr darum, weil der Eid ethisch gesehen sogar ein „bürgerliches Erpressungsmittel“, einen „Geisteszwang“, darstellt (RL, VI, § 40, 304 f.; s. Rel., VI 159, Fn.). Im Anschluß an dieses Beispiel erwähnt Kant zunächst zwei allgemeine Bedingungen, die für jede Religionslehre gelten, um daraufhin die Hauptfrage des „Beschlusses“ zu spezifizieren. Bei der Religionslehre, welcher Art sie auch sein mag, wird von zweierlei ausgegangen: dem Glauben, daß es Gott beziehungsweise Götter gibt, und daß Religionslehre „ein integrirender Theil“ der Pflichtenlehre in einem unbestimmten „allgemeinen“ Sinn ist; Religionslehre, ob natürliche oder offenbarte, ist nämlich verbindend, sie enthält hauptsächlich das, was sein soll. Ausgehend von diesen Bedingungen stellt Kant die zentrale Frage des „Beschlusses“ auf: ob die Religionslehre „nun“ als ein Teil der „Ethik“ betrachtet werden muß oder als „ganz außerhalb“ ihrer „Grenzen“ liegend (TL, VI 487). Anstatt von „Ethik“ spricht Kant im Beschluß auch von der „reinen Moralphilosophie“, der „rein-philosophischen Moral“ und „reiner praktischen Philosophie“ (TL,VI 486, 487, 488). Mit der„Ethik“ meint Kant hier aber nicht etwa die ganze Metaphysik der Sitten von 1797, deren erster Teil die Rechtslehre ist. Die Religion nimmt nach Kant auf das Innere des Menschen Bezug, und er schließt deshalb von Anbeginn das Recht, das heißt den Inbegriff der Gesetze bzw. Pflichten insofern, als sie der äußeren Gesetzgebung fähig sind (s. etwa RL, VI 229), aus dem Gegenstandsbereich seiner Frage aus (TL, VI 487). Dasjenige, dessen Grenze mit der Religion im „Beschluß“ bestimmt werden soll, ist, wie Kant selber am Ende der „Schlußanmerkung“ der Tugendlehre deutlich macht, vielmehr die „reine praktische Philosophie der inneren Gesetzgebung“ (TL, VI 491; Hv. R.M.; vgl. TL, VI 410). Die „Ethik“ bedeutet hier also mit anderen Worten die Tugendlehre (ethica) selbst, und zwar im weiten Sinn, das heißt nicht allein im Sinn der Lehre der Pflichtzwecke bzw. „moralische(n) Zwecklehre“, sondern vielmehr der Lehre der inneren Verpflichtung, welche das Fundament aller Pflichten als solcher bildet (TL,VI 379, 381, 385, 410; s. Refl. 7309, XIX 308). Zur Beantwortung seiner Frage zieht Kant die Religion unter zwei Aspekten in Betracht: dem „Formale(n) aller Religion“ und dem „Materiale(n) der Religion“. Versteht man nun, so Kant, unter dem Formalen aller Religion die zweite Variante der Definition der Vernunftreligion („der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“), so „gehört“ dieses deutlich „zur philosophischen Moral“, weil

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„dadurch nur die Beziehung der Vernunft auf die Idee von Gott, welche sie sich selber macht, ausgedrückt wird“ (TL, VI 487). Kant spricht hier zwar nicht von der „rein-philosophischen Moral“, doch dies ändert nichts daran, daß die Definition der Vernunftreligion rein moralischen Ursprungs ist. Denn obwohl die Definition auf die Menschenpflichten rekurriert, bleibt sie doch gegenüber den anthropologischen Inhalten dieser Pflichten indifferent (vgl. KpV, V 8); sie verbindet vielmehr alle Menschenpflichten insofern mit Geboten eines moralisch vollkommenen Wesens, als sie Pflichten sind, die ihrerseits für Kant als solche alle auf dem reinen moralischen Moment der inneren Gesetzgebung bzw. inneren Verpflichtung gründen. Der rein moralische Status der Definition zeigt sich aber auch in der Hinsicht, wie sie sich auf Gebote Gottes bezieht. Zum einen sieht Kant für den Selbst- pflichtcharakter der Vernunftreligion „das Minimum der Erkenntnis (es ist möglich, daß ein Gott sei) [als] subjectiv schon hinreichend“ an (Rel., VI 153, Fn.); er begnügt sich dabei allein mit der Idee von Gott, welche wiederum nur als Gegenstand eines „freie(n) assertorische(n) Glaubens“ subjektiv zur Stärkung der moralischen Gesinnung dienen kann (ebd.; vgl. KrV, A 829/B 857). Zum anderen gelangen wir nach Kant zur Religionspflicht in einem nur moralimmanenten Verfahren, indem wir uns rein formal, mit Abstraktion von allem Existenzinhalt, mittels der bloßen Vernunft einen „a priori gegebenen“ gesetzgebenden Willen vorstellen, welcher als moralisch vollkommen und daher selbst als äquivalent mit dem Moralgesetz gedacht wird. Der Grund der Verbindung aller unserer Pflichten mit den Geboten eines solchen Willens ist also „nur subjectiv-logisch“ und bedarf keiner aposteriorischen und moralexternen Momente (TL, VI 487; s. Fak., VII 36). In der Religionspflicht wird die „Verpflichtung (moralische Nöthigung)“ zum Nachdruck der Moralität „anschaulich“ gemacht, und zwar so als würde die „allgemein gesetzgebende Vernunft“ die Gebote eines verpflichtenden heiligen Willens aussprechen, der im Grunde nur eine Idee ist, welche die Vernunft sich selbst erzeugt (TL, VI 487; s. erhellend Religionslehre Pölitz, XXVIII 993 f., 996 f.; vgl. auch Tieftrunk 1798, 324 ff.). Das Materiale der Religion definiert Kant hingegen als „Inbegriff der Pflichten gegen (erga) Gott“ und setzt es mit der„geoffenbarten Religion“ gleich (TL,VI 487). Es würde das enthalten, was „von der allgemein-gesetzgebenden Vernunft allein“ nicht ausgehen, „also nicht a priori“ erkannt werden kann. Die Religion als der „Inbegriff der Pflichten gegen (erga) Gott“ „würde“ vielmehr „besondere“, nicht genuin ethische Pflichten als göttliche Gebote umfassen. Diese Art Religion bzw. Pflichten „müßte“ aber dann über die Idee Gottes hinaus auch sein Dasein voraussetzen und es gar„als unmittelbar (oder mittelbar) in der Erfahrung gegeben“ „darlegen“ (TL,VI 487, 2. Aufl.).¹ Es handelt sich hier also um Pflichten, welche – wie Kant es mit

1 Kants Formulierung des hier kommentierten Relativsatzes scheint in der 1. Auflage der Tu-

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Emphase formuliert – „nur empirisch erkennbar“ sein und „nur zur geoffenbarten Religion“ gehören würden; sie gleichen Diensten („Hofdienste(n)“, Rel., VI 153, Fn.), die einem empirisch existierenden Gott zu leisten sind. Eine solche Religion „aber würde, so gegründet sie sonst auch sein möchte, doch keinen Theil der reinen philosophischen Moral ausmachen“. Sie „liegt“ für Kant definitiv „jenseits aller Grenzen“ der Ethik „hinaus“ (TL, VI 487 f.; Hv. R.M.). Bei dem Materialen der Religion ist nun wichtig zu beachten, daß Kant dieses hier nur hypothetisch, als gleichsam eine Kontrastfolie in Erwägung zieht, um das „Reinmoralische“ der Religion davon abzusetzen. Nicht nur in §§ 16 und 18 der Tugendlehre lehnt Kant eindeutig Pflichten gegen (erga) Gott ab, sondern bereits in seiner ausführlichen Fußnote zur Definition der Vernunftreligion in der Religionsschrift (Viertes Stück, Erster Teil) sieht er eine wichtige Aufgabe der Definition gerade darin, „der irrigen Vorstellung“ vorzubeugen, die wahre Religion sei „ein Inbegriff besonderer, auf Gott unmittelbar bezogener Pflichten“ (Rel., VI 153, Fn.). Die Annahme direkter Pflichten gegen Gott würde für Kant nicht nur die von seiner Transzendentalkritik prohibitiv demarkierte menschliche Erkenntnisgrenze überschreiten. Auch in praktischer Hinsicht würde dies dazu führen, daß der von ihm vertretene begründungstheoretische Pfad von der Ethik zur Religion einer Umkehrung ausgesetzt wird. Den letzten Absatz des „Beschlusses“ widmet Kant dem Verhältnis der„Religion innerhalb de(r) Grenzen der bloßen Vernunft“ bzw. der Religionsschrift zur Ethik (TL, VI 488). Sowohl im „Beschluß“ wie im Titel seiner Religionsschrift bezieht sich Kant auf die offenbarte Religion, und in beiden Fällen kommt es ihm auf Grenzziehung an. Hierbei macht das Formale aller Religion bzw. die Definition der Vernunftreligion, welche Kant im letzten Absatz des „Beschlusses“ nebenbei auch als „reine“ Religionslehre bezeichnet, das Gemeinsame der Religionsschrift und der Ethik aus. Doch wie genau verhält sich die Definition bzw. die reine Religionslehre jeweils im „Beschluß“ der Tugendlehre und in der Religionsschrift zur offenbarten Religion? In der Religionsschrift bildet die Definition der Vernunftreligion nach Kants Verbildlichung ihres Titels (zwei konzentrische Kreise) den grundlegenden inneren Kreis der bloßen Vernunft. Doch ihr Verhältnis zur offenbarten Religion

gendlehre grammatikalisch problematisch zu sein: „die [sc. die offenbarte Religion bzw. die Pflichten gegen Gott] also auch das Dasein dieses Wesens, nicht blos die Idee von demselben […] voraussetzen, sondern als unmittelbar (oder mittelbar) in der Erfahrung gegeben dargelegt werden könnte.“ (TL VI 487, 31–34; Hv. R.M.) Bernd Ludwig hat daher in seiner Ausgabe für„dargelegt werden könnte“ in der 1. Aufl. und „darlegen müßte“ in der 2. Aufl. (1803) der Tugendlehre nur „darlegen“ angegeben (1990, 140); dies unterschlägt jedoch den absichtlich durchgängig konjunktivischen Sprachgebrauch Kants in dem entsprechenden, vierten Absatz des „Beschlusses“ über das Materiale der Religion (TL, VI 487).

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wird dabei aus einer anderen Perspektive betrachtet als im „Beschluß“. In der Religionsschrift will Kant nicht nur eine „Ausschließung aller Offenbahrung“ und „Entgegensetzung der Vernunft und der Schrift“ vermeiden, sondern vielmehr „die Offenbarung als historisches System an moralische Begriffe … halten und sehen, ob dieses nicht zu demselben reinen Vernunftsystem der Religion zurück führe“ (Rel., VI 12, Vorrede 2. Aufl.). Hier besteht also für Kant eher eine offene und prüfende Grenze zwischen der Vernunftreligion und der offenbarten Religion, die gewisse, mit der Vernunftethik übereinstimmende Geschichts- und Offenbarungsmomente in den Kreis der Vernunftreligion hinein läßt; es geht hier, wenn man so will, um die Vernunftreligion plus gewisse Geschichts- und Offenbarungselemente. Innerhalb der Grenzen der Ethik liegt dagegen ausschließlich das, was „aus bloßer Vernunft abgeleitet“ ist (TL, VI 488; Hv. R.M.). Im „Beschluß“ der Tugendlehre geht es Kant also vielmehr um die „Religion aus bloßer Vernunft als völlig a priori d. i. unabhängig von aller Offenbahrung“, und dies ist gerade das, was er schon mit seiner sorgfältigen Titelauswahl der Religionsschrift („Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“) vermeiden will (s. etwa Fak., VII 6, Fn.). Die Definition der Vernunftreligion wird also aus der architektonischen Perspektive des „Beschlusses“ vollkommen von der offenbarten Religion isoliert (vgl. KrV, A 842/B 870); sie ist dabei innerhalb der reinphilosophischen Moral angesiedelt, minus jedwede Geschichtsund Offenbarungslehren. Ob nun in einem Exklusions- oder Inklusionsverhältnis zur offenbarten Religion, so verbindet doch die Definition der Vernunftreligion die bereits in Kants praktischen Grundlagenschriften (GMS, KpV) entwickelte Ethik und die doktrinale Religionsschrift miteinander. Wie genau erfolgt aber diese Verbindung? In der Ethik gilt die Vernunftreligion nach ihrer zweiten Definitionsvariante als eine mit allen ethischen, das heißt der inneren Gesetzgebung fähigen, Pflichten deckungsgleiche und äquivalente Lehre („der Inbegriff aller Pflichten als (instar) göttlicher Gebote“); sie ist die Kantische allgemeine Pflichtenlehre selbst insofern, als sie sich auf die vernunftbasierte Idee Gottes bezieht (doctrina moralis indirecta). In der Religionsschrift ist sie hingegen in ein zweistufiges Verfahren involviert. Der zweiten Vorrede der Religionsschrift zufolge bleibt hier der „Philosoph“ als „reiner Vernunftlehrer“ zuerst innerhalb des inneren Kreises der Vernunftreligion, deren Definition eben von der Ethik geliefert wird. „Aus diesem Standpunkte“ wird sodann zugleich in einem „zweiten“ Schritt – nach einer „umgekehrte(n) Methode“ – von „irgend einer dafür gehaltenen Offenbarung“ ausgegangen, und abstrahierend von ihren empirischen Momenten der „Versuch“ unternommen, sie anhand gewisser „moralische(r) Begriffe“ auf das System der reinen Vernunftreligion zurückzuführen (s. etwa die Anwendung dieser Methode auf den Begriff „Sünde“, Rel., VI 42, 72). Dieses zweite Verfahren wird nach Kant „bloß fragmentarisch“ ausgeführt, denn weder bilden die sich mit der Vernunftreligion als verträglich zu erweisenden Geschichts-

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und Offenbarungsmomente integrale Teile des Systems der reinen Vernunftreligion, noch geht es Kant hier darum, zu zeigen, daß „irgend eine positive (statutarische) Religion“ als Ganzes aus der Quelle der reinen Vernunftreligion ableitbar bzw. vollständig auf sie reduzierbar ist. Die Vernunft erkennt hier also „in moralischpractischer Absicht“ nur die Stücke in der offenbarten Religion wieder, die zu ihr selbst gehören bzw. nach Kants Bild der konzentrischen Kreise gleichsam in der Richtung der Radien des Kreises der Vernunftreligion liegen können, welche in das Zentrum der reinen praktischen Vernunft münden (Rel., VI 12; s. Vorarbeiten zur Rel., XXIII 96, auch 94; s. Ricken 1992). Kurz gesagt wird die Definition der Vernunftreligion in der Religionsschrift „zugleich“ auf eine „vorliegende“ Geschichtsund Offenbarungslehre angewandt (TL,VI 488; vgl. religio applicata, Vorarbeiten zur Rel., XXIII 96). An der Schnittstelle von Ethik und Religionslehre Kants, die sich in der systematischen Verschränkung der hier behandelten Passagen des „Beschlusses“ der Tugendlehre und der (zweiten) Vorrede der Religionsschrift abzeichnet, erweist sich also die Definition der Vernunftreligion nicht nur als dasjenige Theoriesegment, in dem Kants reine Moralphilosophie ihren Religionscharakter offenbart und in die reine Religionslehre verwandelt wird (s. „religio pura“, Vorarbeiten zur Rel., XXIII 96). Die Definition sorgt vielmehr auch methodisch für den Übergang von der reinen zu der angewandten Religionslehre und tritt selber als Vermittlerin zwischen der allgemeinen Pflichtenlehre Kants und seiner angewandten Religionslehre ein. Die zweite Definitionsvariante der Vernunftreligion fungiert mit anderen Worten als das systematische Bindeglied zwischen der vernunftkritisch begründeten Moralphilosophie und der doktrinalen angewandten Religionslehre Kants.

Literatur Baumgarten, A. G. 31763: Ethica philosophica, Hildesheim 1969. Gregor, M. J. 1963: Laws of Freedom. A Study of Kant’s Method of Applying the Categorical Imperative in the Metaphysik der Sitten, Oxford. König, P. 1999: §§ 18–31, Episodischer Abschnitt, §§ 32–40, in: Höffe, O. (Hrsg.): Immanuel Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin, 133–153. Ludwig, B. (Hrsg.) 1990: Kant, Immanuel, Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil, Hamburg. Ricken, F. 1992: Kanon und Organon. Religion und Offenbarung im „Streit der Fakultäten“, in: Ricken, F./Marty, F. (Hrsg.), Kant über Religion, Stuttgart, Berlin, Köln, 181–194. Stark, W. (Hrsg.) 2004: Kant, Immanuel, „Vorlesung zur Moralphilosophie“ (Nachschrift Kaehler), Berlin/New York. Tieftrunk, J. H. 1798: Philosophische Untersuchungen über die Tugendlehre, zur Erläuterung und Beurtheilung der metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre vom Herrn Prof. Imm. Kant, Halle.

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14 Kants theologischer Kontext: Eine Stichprobe 14.1 Einführung Kant hat sich mit einem breiten Spektrum von Theologen seiner Zeit auseinandergesetzt. Sein Anliegen war weder zu retten was zu retten war beim Christentum noch zu bewahren was zu bewahren war bei der Glaubenswelt seiner Kindheit; nicht davon zu reden, daß er für lauter Selbstrühm Religion veröffentlicht hat, wie Goethe in seinem Brief an die Herders vom 7. Juni 1793 behauptet.¹ Ernst Cassirer schildert Kants Erinnerungen von dem Pietismus seiner Kindheit: Nicht nur hat er […] jede selbstquälerische Zergliederung des eigenen Seelenlebens verworfen, weil sie der gerade Weg sei „in Kopfverwirrung, vermeinter höherer Eingebungen … in Illuminatism oder Terrorism zu geraten“ [Anthropologie § 4] – sondern er hat in späteren Jahren auch alles äußere Bezeigen religiöser Gesinnung überhaupt als heuchlerisch verworfen und gebrandmarkt.²

Kant berichtet selber über Pietismus: […] nicht die Verachtung der Frömmigkeit ist es, was den Namen der Pietisten zum Sektennamen gemacht hat (mit dem immer eine gewisse Verachtung verbunden ist), sondern die phantastische, und, bei allem Schein der Demut, stolze Anmaßung, sich als übernatürlichbegünstigte Kinder des Himmels auszuzeichnen, wenn gleich ihr Wandel, so viel man sehen

1 Goethe schrieb: „[…] Kant [tat] seinen philosophischen Mantel, nachdem er ein langes Menschenleben gebraucht hat, ihn von mancherlei sudelhaften Vorurtheilen zu reinigen, freventlich mit dem Schandfleck des radicalen Bösen beschlabbert, damit doch auch Christen herbeigelockt werden, den Saum zu küssen.“ (Brief 2986 in Goethes Briefe, 10. Band. Weimar: Hermann Böhler, 1892: 75). 2 Cassirer 1977, 1–16. Stephan Dietzsch Immanuel Kant. Eine Biographie (Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2003), 28, fügt hinzu: „Wir kennen von Kant rückblickend manche kritische Einlassung gegen jene strenge Herzens-Zucht in dieser Schule [des Fridericianums in Königsberg]; Kants späterer Tischgenosse Theodor Gottlieb Hippel (1741–1796) erinnert sich an Kants ‚Drangsale der Jugend‘, und daß ihn ‚Schrecken und Bangigkeit überfiele, wenn er an jene Jugendsklaverei zurückdächte.‘“ Ich bedanke mich bei dem anonymen Redakteur und Margit Mayr für die Unterstützung bei der Überarbeitung des Textes. https://doi.org/10.1515/9783110782424-016

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kann, vor dem der von ihnen so benannten Weltkinder, in der Moralität nicht den mindesten Vorzug zeigt (Fak., VII 57n).

Kant behauptet von sich selbst nicht, ein Bibelgelehrter zu sein und seine Einstellung zur reinen Vernunftreligion resultiert nicht aus biblischer Exegese. Obwohl es zu Kants Zeit eine große Kontroverse um die religions-„zerstörerischen“ Auslegungen der Neologen und auch um die kritische Betrachtung des historischen Jesus in Hermann Samuel Reimarus’ Wolfenbüttel Fragmente (herausgegeben von Lessing) gab, führt Kant keine historischen exegetischen Argumente an, um seine Vernunftreligion zu begründen. Es findet sich bei Kant nur eine kritische Erwähnung zu Reimarus’ Verteidigung des physiko-theologischen Gottesbeweises in der dritten Kritik (KU, V 476–477). Norbert Hinske berichtet in „Reimarus zwischen Wolff und Kant“, daß Reimarus anerkannt hat, was Kant weiterentwickelte: „Thema der Philosophie […] sind nun nicht mehr die vorgegebenen [Wolffischen Natur‐] Gesetze, an denen sich die Vernunft zu orientieren hat, sondern eben jene Regeln, die sie von Hause aus selbst mitbringt […] Die Vernunft wird zu einer Quelle eigener, in ihr selbst gründenden, apriorischer Gesetze, sie wird im wörtlichen Sinne autonom³ […] Die weitreichenden Konsequenzen dieses neuen Gedankens sind jedoch bei Reimarus noch kaschiert“ (Hinske 1980, 25). Wichtige progressive Theologen zur Zeit Kants, die ihn beeinflußt haben, waren der Neologe Johann Salomo Semler und der Leibniz-Wolffianische Rationalist Georg Friedrich Meier. Jedoch wird sich zeigen, daß sogar der Anti-Wolffianer und Pietist Christian August Crusius eine Quelle für wesentliche positive Thesen in Kants Arbeit war. Es wird zudem deutlich werden, daß Kants theologische Überlegungen keineswegs eine schlichte Erwiderung auf den Pietismus seiner Kindheit sind oder gar eine Widerlegung dieses Pietismus. Seine Familie war eng befreundet mit dem wohlbekannten Pro-Wolffianer und Pietist Franz Albrecht Schultz, dessen Vorlesungen Kant an der Universität in Königsberg besucht hat. Obwohl Schultz frommer Pietist war, war er gleichwohl gegenüber den Wolffianischen Naturwissenschaften

3 Aber Kant vertritt keinen Solipsismus, sondern bemerkt: „[… Man] schreibt weder der Natur ein Gesetz vor, noch lernt man eines von ihr durch Beobachtung (obzwar jenes Princip durch diese bestätigt werden kann).“ (KU, V 186). Siehe auch „Die Vernunft kann nur dazu dienen, die phaenomena […] zu erklären [und gewisse Gesetze und Merkmale des Sch], aber nicht ihm Gesetze vorzuschreiben, weil der wahre Grund gar nicht in dem obiectiven, sondern der Form der inneren affection besteht.“ (Reflex. z. Anthropologie, XV 379: 859) Die Vernunft für Kant schreibt keine kausale Erklärung vor, wie bei Hegels Absolutem Geist, sondern besteht aus den notwendigen Anlagen zum Verständnis der sensiblen- in einer supersensiblen Welt, die wir nie ohne die sensiblen Welt erfahren würden.

14 Kants theologischer Kontext: Eine Stichprobe

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aufgeschlossen,⁴ und hat diesbezügliche Änderungen in der Pietistischen Lehre eingeführt. Kant dürfte solche Entwicklungen sicher begrüßt haben, wenngleich Schultz Kants Meinung nach nicht weit genug damit gegangen war.

14.2 Der Neologe Johann Salomo Semler Emanuel Hirsch beschreibt Semler als „unbestrittene[n] Führer der deutschen Neologie“.⁵ Bezeichnend für die Neologen war, daß sie in erster Linie die historischen Untersuchungen der Bibel⁶ unter Voraussetzung des naturalistischen Verständnisses der physikalischen Welt vertraten. Semlers Verständnis der moralischen Theologie beschäftigt sich jedoch mit dem sittlichen Streben des Individuums: „trotz aller Hemmnisse [ist] die christliche Religion ein ständiges Wachstum sittlichreligiöser Erkenntnis und Übung zu erwirken bestimmt […] Lessing, Kant, Fichte, Hegel, sie verdanken alle für ihre Geschichtsbetrachtung nicht wenig dem, was Semler hier in den Boden der deutschen Theologie […] eingesenkt hat.“ (Hirsch 1954, 73). Weiter sagt Hirsch: „Die Grundartikel des Christentums […] werden von Semler gern im losen Anschluß an das Taufsymbol dreigliedrig vorgeführt: Erkenntnis von dem Einen Gott und Vater aller Menschen, Überzeugung von Jesus als dem göttliche Vollmacht übenden Lehrer, Wohltäter und Erlöser, der die allgemeine Gnade und Liebe Gottes zu unsrer moralischen (das heißt sittlich-religiösen) Wohlfahrt lehrt unter Aufhebung der jüdischen und heidnischen Irrtümer, endlich die Gewißheit des heiligen Geistes, der durch die fortgepflanzte Lehre Jesu den Christen sich mitteilt und in ihnen ein neues besseres Leben und Gesinnung aufweckt.“ (Hirsch 1954, 80) Für Semler und die Neologie sind Gott und das ewige Leben Themen der moralischen Theologie (Hirsch 1954, 55, Fn. 1), das heißt obwohl die wahre Religion eine Religion des Inneren ist, braucht man, um in der Welt Erfolg zu haben, eine „öffentliche Religionsgesellschaft“ oder „sichtbare Kirche“ (Hirsch 1954, 70). Darüber-

4 Ulrich Lehner notiert, daß es die preußischen Pietisten waren (Schultz und Johann Gustav Reinbeck), die 1740 die Rückkehr Wolffs nach Halle, wo er 1723 entlassen worden war, gefordert haben (vgl. Knutzen 1739/40, xiv). 5 Hirsch 1954, 48. Hirsch identifiziert die Folgenden als Neologen: Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), Johann August Ernesti (1707–1781), S. F. N. Morus (1736–1792), Joh. Joachim Spalding (1714–1804), Joh. Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), Joh. David Michaelis (1717–1791), Joh. Lorenz Isenbiehl (1744–1818), Joh. David Heilmann (1727–1764), Joh. Gottlieb Töllner (1724–1774), und Joh. August Eberhard (1739–1809). 6 Nach Hirsch ist Semler„der erste deutsche evangelische Theolog, welcher die Bibel mit den Augen des Religionshistorikers und kritischen Geschichtsforschers zu sehen vermocht hat“ (1954, 59).

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hinaus behauptet Semler (ebd., 63): „Die alte Anschauung von einer innerhalb der biblischen Religion sich vollziehenden, in sich abgeschlossenen Heilsgeschichte verliert den Boden unter den Füßen. An ihre Stelle tritt das Bild einer religiösen Menschheitsgeschichte, welche dem allgemeinen Gesetz folgt, dass Anfang und Vollkommenheit sich nicht zusammenzufinden pflegen.“ Semler meinte, daß das Christentum nicht nur eine moralische Theologie beinhaltet, sondern daß es auch nie eine Einheit, Notwendigkeit oder irgendeine Unveränderlichkeit der Kirchenlehre gegeben hat (Hirsch 1954, 76). Unter anderem hat Semler die augustinische Erbsündenlehre abgelehnt (ebd., 83). Die Folge ist, daß Semler gerade jenen Pelagianismus vertritt, den Augustinus und konservative Theologen vehement ablehnen (ebd., 75). Semler erkennt aber eine wichtige Rolle der Gnade im sittlichen Streben (ebd., 83 f.): „Man darf […] sehr wohl sagen, dass der erste sich selbst überlassene Wille des Menschen einen Grund und Anfang des Guten nicht in sich trägt. Er bedarf der Anregung und des Beistandes der göttlichen Gnade. Diese Gnade aber kommt an den Menschen mit den geistlichen Wahrheiten, die als eine seinen Begierden und Gewohnheiten entgegenstehende Macht in sein Gemüt treten, Überzeugung und neue Willensantriebe darin aufwecken und so der Grund und Anfang einer innern Veränderung und Erneuerung werden. Die Gnade der Lehre Christi ist eines und das gleiche mit dem lebendig machenden Geist: dies muß gegen Augustins magische Gnadeneingießung festgehalten werden, und sollten es auch schon Pelagianer gesagt haben. Ja, man muß […] hinzufügen: ganz ohne eine solche göttliche Gnade ist kein menschliches Leben, auch außerhalb des Christentums nicht“. Wir können sehen, daß Kant vieles, aber nicht alles, mit Semler teilt. Einerseits teilt Kant mit Semler das Bekenntnis zur (Wolffianischen) Wissenschaft und die Ablehnung der augustinischen Erbsündenlehre. Andererseits ist der Mensch „Gott wohlgefällig“, nicht wegen seiner moralischen Leistungen, sondern wegen der transzendentalen Fähigkeiten der praktischen Vernunft, die unauslöschlich und unausrottbar sind (Rel., VI 66–67). Außerdem ist Kant kein Pelagianer, denn das Ziel der Religion ist nicht individuelle ewige Seligkeit, sondern das verantwortliche Handeln in der Welt (Rel., VI 69, Mrongovius 674–677, KpV, 129–130). Schließlich leugnet er zwar nicht die Gnade, was eine Behauptung jenseits der Grenzen der Vernunft wäre, betont aber ihre Ausrichtung auf das Eigeninteresse und damit ihre Unterminierung der praktischen Vernunft des Menschen (Rel.,VI 190–191).Vielleicht hat Kant Semler im Sinn, wenn er von der „kleine[n] Zahl der Schriftgelehrten (Kleriker)“ schreibt, „die auch durchaus der profanen Gelahrtheit nicht entbehren könnten […] [welche den] langen Zug der Ungelehrten (Laien), die für sich der Schrift unkundig sind (und worunter selbst die weltbürgerlichen Regenten gehören), nach sich schleppen.“ (Rel., VI 164 f.)

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14.3 Georg Friedrich Meier Ähnlich wie bei seinen anderen Zeitgenossen, hat Kant nur selektiv Themen von Meier übernommen. So verteidigt Meier als Leibniz-Wolffianer die Lehre der prästabilierten Harmonie zwischen der intelligiblen und der physikalischen Welt, wobei diese zwei Welten durch einen tiefen Graben getrennt sind.⁷ Kant dagegen lehnt diese Lehre von der prästabilierten Harmonie ab. Zwar behauptet Meier, in Übereinstimmung mit Kant, daß die Seele sogar für das Individuum selbst unerkennbar ist – eine Behauptung, die man bei Kant als eine der regulativen Ideen der reinen Vernunft findet (KrV, B 710 ff.).⁸ Jedoch mußte Kant Georg Friedrich Meiers Beweise dass die menschliche Seele ewig lebe ablehnen. Kant hat auf der einen Seite, und zwar mit Nachdruck, die Behauptung verworfen, daß es einen Beweis für die Ewigkeitslehre der Seele geben kann; auf der anderen Seite hat er aber zugleich auch jede Widerlegung für unmöglich gehalten. Meiers Beweis hängt von den Leibniz-Wolffischen Voraussetzungen ab, daß die „beste Welt würcklich vorhanden“ ist (Meier 1752, 29) und daß die Menschheit das Ziel der Schöpfung ist, indem sie Gott ehrt. Während auch Kant die Menschheit als Ziel der Schöpfung betrachtet, steht doch für ihn der Mensch selbst im Zentrum als das Wesen, welches zu moralischem Handeln fähig ist (KU, V 429, 433, 434n). Meiers Beweis aber lautet: jede Seele stellt eine einmalige und einzigartige Reihe von Vorstellungen dar, die eine nicht wiederholbare Repräsentation der Welt beinhaltet (Meier 1752, 21). Da niemand genau die gleiche Reihe von Vorstellungen erfahren kann (Meier 1752, 17), käme das Erlöschen auch nur einer Seele dem Verlust einer einzigartigen Quelle der Ehre Gottes gleich. Dies wäre ein Widerspruch des Ziels der Schöpfung, denn „es muß […] angenommen werden […]: Die beste Welt hat so viel Seiten, als denckende Wesen in der besten Welt nur möglich sind. Was in der besten Welt möglich ist, ist nach den Grundsätzen der Weltweisheit auch darinn würck-

7 Siehe Hinske 1980, 126: „Für Meier […] liegt zwischen der ‚Empfindung‘ auf der einen und dem ‚Gegenstand selbst‘ [Meier 1766, 34 (§ 16)] bzw. der ‚Sache‘ [Meier 1766, 35 (§ 16)], dem ‚Ding‘, [Meier 1766, 37 (§ 17)] dem ‚Gegenstand […] an und vor sich selbst‘ [Meier 1766, 61 (§ 30)] auf der anderen Seite eine tiefe, unüberbrückbare Kluft“ (Klammern von Hinske). 8 Siehe Hinske 1998, 127: „Schon Meier […] dehnt seine These von der Subjektivität der Sinnesempfindungen ausdrücklich auf den inneren Sinn aus: Unsere Sinnesvorstellungen stellen uns unmittelbar nur die ‚Würkungen der Gegenstände der Empfindungen‘ vor. ‚[…] Vermöge derselben empfinden wir niemals unmittelbar unsere Seele selbst, und die Kräfte derselben; sondern nur die Würkungen, die sie in sich selbst hervorbringt, die Gedanken, die Begierden und die Verabscheuungen.‘ [Meier 1766, 34 (§ 16)] Auch ‚unsere Seele‘, auch unser eigenes Inneres bleibt also für uns ein unerkennbares Ding an sich. Niemand, am wenigsten der Psychologe, weiß, wer er wirklich ist“ (Klammern von Hinske).

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lich. Also hat die beste Welt so viel Seiten, als denckende Wesen darinn würcklich sind, nicht mehr und nicht weniger“ (Meier 1752, 13–14). Meier fügt später hinzu: „Die beste Welt ist das beste Mittel, folglich auch das kürzeste, die Ehre Gottes zu befördern. Es sind demnach allemal so viele denckende Wesen in derselben zugleich neben einander vorhanden, nicht mehr und nicht weniger, als der Theil der Ehre Gottes, der in demselben Zeitraume durch den Theil der besten Welt, der alsdenn vorhanden ist, erhalten werden soll, erfordert“ (Meier 1752, 30). Das Erlöschen einer Seele hieße, daß das Ziel der Schöpfung grundsätzlich verfehlt würde. Meier vermittelt Grundbestandteile seiner Theologie in einer Antwort auf eine von Joachim O. Oporin geschriebenen Rezension über Meiers Gedancken von der Religion: a) Meier beginnt damit, daß es sein Ziel ist, eine Religion darzustellen, die nicht Frondienst für Gott ist (Meier 1752, 43–44). Auch Kant lehnt die auf Hofdienst (Rel.,VI 198) und Frondienst (Rel.,VI 184) sich konstituierende statutarische Religion ab. Im Grunde genommen ist Religion, laut Meier, „die vornehmste Pflicht, die ein Mensch gegen sich selbst auszuüben hat“ (Meier 1752, 58), die simultan ein Gottesdienst ist: „alle gute freye Handlungen [können und müssen] ein Gottesdienst seyn […] Nach meinem [Meiers] Lehrgebäude kann und muß also, eine Handlung, eine Pflicht gegen mich selbst, und ein Gottesdienst zu gleicher Zeit seyn“ (Meier 1752, 59). b) Meier vertritt eine „pelagianische“ Theologie ähnlich der von Kant: „ein vernünftiger Mensch wird […] wohl nicht so albern denken, und glauben, er sey nicht verbunden, um sein selbst willen, seine eigene Glückseeligkeit zu befördern. Muß er nun dieses gestehen, und er kann es nicht läugnen; so muß er auch gestehen, daß sein eigener Nutzen ihn vornehmlich und im höchsten Grade verbinde, seine höchste Glückseeligkeit zu befördern […], daß [seine] Handlung [frey] sey, und daß sie der Verbindlichkeit gemäß sey […], daß dasjenige, was mich eigentlich verpflichtet, meinen sittlichen Handlungen die innerliche Gestalt gebe.“ (Meier 1752, 45, vgl. Bohatec 1938, 337–338). c) Meier übernimmt Wolffs Begriff der freien Handlung, das heißt der Mensch wird von seiner eigenen Vorstellung von Gut und Böse bestimmt, und diese Vorstellung beeinflußt, ob der Mensch glücklich oder unglücklich ist: „Ich verstehe durch […] Verbindlichkeit dasjenige, was der Herr […] Wolf darunter versteht, nemlich die Verknüpfung der Bewegungsgründe mit den freyen Handlungen. Da […] die Bewegungsgründe in den Vorstellungen des guten und bösen bestehen, welche den freyen Willen bestimmen, etwas zu begehren oder zu verabscheuen; so entsteht die eigentlich Verbindlichkeit allemal aus allem Guten oder Bösen, so mit der freyen Handlung, in deren Absicht wir verbunden werden sollen, [n]irgends auf eine Art dergestalt verknüpft ist, daß es unausbleiblich würcklich wird, so bald die Handlung geschieht [… A]us der Ausübung der Religion die höchste Glückseeligkeit des Menschen selbst unausbleiblich erfolge“ (Meier 1752, 47–48). Daraus folgt, daß

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die freie Handlung der physikalischen Welt gegenüber indeterminiert ist, aber dem Willen gegenüber determiniert ist. Diese Position ist insofern „pelagianisch“, als der Mensch nicht durch die Erbsünde vorbestimmt ist. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen Freiheit, die als Wahl zwischen moralischen Prinzipien definiert wird (Meier), und Freiheit, die als Ausübung einer endlichen, eminenten Kausalität definiert wird, die weder von der Naturkausalität getrennt noch auf diese reduzierbar ist (Kant). d) Meier behauptet, daß der Unterschied zwischen „Pflicht“ und „Reiz“ unerforschlich ist, obwohl der Unterschied wesentlich bleibt, insofern Pflicht unzertrennlich von Motivation ist: „Das was die Pflicht ist reizt mich zu gleicher Zeit, oder beweget und bestimmt mich derselben ein Genügen zu leisten“ (Meier 1752, 48). „Die Verpflichtung [sey] zu gleicher Zeit der Reitz […], oder sie ist beydes das principium obligandi & impellendi. Und ich muß […] gestehen, daß ich diese Unterscheidung nicht für gegründet halten kan“ (Meier 1752, 49). D. h. Meier und Kant teilen die Wichtigkeit des Begriffs der begrenzten Vernunft.⁹ e) Meier behauptet, daß Glückseligkeit, Freiheit und Religion unzertrennlich sind: „unsere eigene Glückseeligkeit verbindet uns zur Religion. Wenn ich nun die Religion nicht ausübe, so werde ich gewiß unglückseelig, und zwar durch mein freywilliges Verhalten. Mein Gewissen wird mir also über kurz oder lang sagen, daß ich selbst der Urheber von allem diesem Unheil sey, und also entsteht aus dieser Verbindlichkeit eine Verantwortung“ (Meier 1752, 50). Aber bekanntlich trennt Kant die direkte Verbindung zwischen „der Moral“ und „Glückseligkeit“. Kant trennt Moral und Glückseligkeit als Belohnung. Zufriedenheit entsteht durch die Achtung und innere Befolgung des moralischen Gesetzes, „weil es richtig ist“, nicht, dass man dafür belohnt sein wird (Rel., VI 161).

9 Bohatec erinnert uns daran, daß man das Thema des unerforschlichen auch bei zentralen Begriffen Kants findet, wie die folgende Liste zeigt: Der Grund des Bösen (Bohatec 1938, 312, 324–26); der moralische Gesinnungswandel (327); die Gnade, die unsere moralische Tätigkeit ergänzen kann (337); der Grund der Neigungen (348–49); der Begriff eines Gott wohlgefallenen Menschen (356); die schöpferische Freiheit (444, 635); die Vereinbarung von göttlicher und menschlicher Freiheit (448, n. 137, 561, 563); und der Ursprung als auch die Aufrechterhaltung des Universums (497). Besonders Hegel hat diese Grenzen der Vernunft bei Kant als Beweis, daß er Vernunft nur als ‚schwach‘ und ‚barbarisch‘ vertritt (s. Hegel, 1802: HW I/1: 287–288). Aus dem gleichen Grund behauptet der Hegelianer Carl Daub, Lehrer von Ludwig Feuerbach, daß Kant an Wahrheit verzweifelt und „Vernunft und Wissenschaft verachtet“ (s. D. F. Strauß, 1839: 134); als ob eine anthropomorphische Analogie auf Grund des Geistes uns zur absoluten Wahrheit bringen könnte. Kant verhöhnt die Hegelianer schon in KdrV, B 8: „Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde.“

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f ) Meier hat über „die natürliche Anlage zur Tugend und zum Laster“ geschrieben, wobei er Lust und Unlust als Triebfeder der sittlichen Handlung besprochen hat (Meier 1752, 68; vgl. auch die Rezension „G. F. Meiers Betrachtung über die natürliche Anlage zur Tugend und zum Laster“ in Mietau 1777, 342–353). Kant jedoch unterscheidet zwischen der „Anlage“ (autonomische Freiheit) und dem „Hang“ (zu einem guten und bösen Prinzip) (Rel., IV 26; obwohl Kant hauptsächlich über den Hang zum Bösen spricht, heißt der Titel des ersten Stücks: „Von der Einwohnung des bösen Prinzips neben dem Guten“). Der „Anlage zur Tugend“ bei Kant ist autonomische Freiheit, wobei der Hang zur Tugend und zum Laster besteht auf propensio zum Guten oder Bösen (Rel., VI 29). Wie wir gesehen haben, bieten G. F. Meier und die Leibniz-Wolffianer ein theologisches Paradigma, das Kant sehr wohl vertraut war. Allerdings gab es nur wenig, das er nicht weiter bearbeitet und ohne Revision in seine philosophische Theologie übernommen hat.

14.4 Christian August Crusius Crusius, Schüler von Johann Albrecht Bengel und Gegner von Leibniz und Wolff, wird von Josef Bohatec zutreffend im Pietistisch-christlichen Lager der „Chiliasten“ sowie in der Schule der„Prophetischen Theologie“ (am nachdrücklichsten vertreten durch Franz Delitzsch) verortet. (1938, 489–490) Kant hatte keine Geduld mit dem Chiliasmus,¹⁰ was aber nicht bedeutet, dass für ihn Crusius kein bedeutender theologischer Gesprächspartner war. Jedoch was Kant zumindest metaphorisch mit der Prophetischen Theologie teilte, so Bohatec, war die Vorstellung, dass das Reich Gottes „‚embryonal verborgen‘ ist und sich allmählich von den sie umgebenden Hüllen befreit.“ (1938, 491) Darüber hinaus behauptet Bohatec, dass Crusius zumindest einen wesentlichen Begriff für Kants Verständnis der menschlichen Existenz im Allgemeinen und der Religion im Besonderen beeinflusst hat, nämlich den Begriff der „schöpferischen Freiheit“. (1938, 149) Crusius vertritt die Auffassung, dass das Gegenteil des physikalischen Determinismus nicht Indeterminismus (reine Spontaneität) ist, sondern eine Form des selbst auferlegten Determinismus. Bohatec schreibt: „Crusius sagt der Begriff der Spontaneität nicht zu. ‚Wenn man gleich solche Taten zugibt, darzu die wirkende Substanz durch ihre eigenen Vorstellungen und Begierden determiniert wurde, was man die Spontaneitat oder geistige Selbsttatigkeit nennt; so wird die That doch nicht

10 Kant lehnt den Chiliasmus als „Schwärmerei“ ab. (Siehe sowohl Rel., 682–683 als auch Fak., 338 und Bohatec 1938, 491.)

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aufhören nothwendig zu sein, weil alles Determinierte, wie fern es determiniert ist, notwendig ist.‘“ (Bohatec 1938, 76–77) Dies erlaubt es Crusius, einen Begriff der schöpferischen Freiheit zu verteidigen, der im Zentrum seiner eigenen theologischen Reflexion steht. „Freiheit ist der höchste Grad der Thätigkeit in einem Willen, vermöge welcher, er eine Wircksamkeit selbst anfangen, richten und abbrechen kann […]“. (Bohatec 1938, 147–48) Bohatec behauptet, dass Kant seinen Begriff der autonomen Freiheit von Crusius hat. (Bohatec 1938, 149) Wenn es einen Unterschied zwischen ihnen gibt, dann ist es laut Bohatec […] in der Verknüpfung [… der menschlichen und natürlichen Kausalität]. Nach Kant ist die Vernunft allen Handlungen der Menschen in allen Zuständen gegenwärtig und ihre Kausalität vollständig; sie ist ein Vermögen, durch welches die sinnliche Bedingung einer sinnlichen Reihe von Wirkungen zuerst anfängt. Man hat von jeher das Unzulängliche dieser Auffassung darin erblickt, daß es nicht gut vorstellbar ist, wie die Vernunftkausalität, die nicht sinnlich ist und außerhalb der Reihe der Erscheinungen sich befindet und also selbst nicht anfangen kann, ihre Wirkung in der Erscheinungswelt ausüben und damit den Anfang in der sinnlichen Reihe machen kann, der doch niemals ein schlechthin erster Anfang sein darf. Mit allen diesen Bedenken ist die Anschaung von Crusius nicht belastet, der zwar die Schwierigkeiten des ‚ersten Anfangs‘ kennt, sie aber dadurch zu umgehen versucht, daß er zwar der Freiheit das Vermögen beilegt, die Wirksamkeit von selbst anzufangen, ohne darnach zu fragen, wie sich diese Wirkung in den Kausalnexus der sinnlichen Reihe einordnet […] (Bohatec 1938, 151)

D. h.: Crusius kennt autonomische Freiheit nur ‚negativ‘ als Freiheit-von, aber bietet keine Diskussion an, „wie sich dies [… positive] Wirkung in den Kausalnexus der sinnlichen Reihe einordnet.“ Kant kennt: „Das Sollen drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anderes als ein bloßer Begriff ist.“ Andererseits drückt das Sollen eine Art von Notwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt. In dieser herrscht die Notwendigkeit des Geschehens, nicht aber die Notwendigkeit des Sollens. ‚Es mögen noch so viel Naturgründe sein, die mich zum Wollen antreiben, so können sie doch nicht das Sollen hervorbringen, sondern nur ein lange nicht notwendiges, sondern jederzeit bedingtes Wollen.‘ (Bohatec 1938, 151–152) Diese Freiheit der Vernunft kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen bestimmen, denn dadurch würde das Vernunftvermögen aufhören eine Ursache der Erscheinungen zu sein; sondern auch positiv in dem […] Sinne […], eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen, ohne in der Kette der Naturursachen durch äußere und innere, aber der Zeit nach vorhergehende Gründe, bestimmt zu sein. (Bohatec 1938, 153)

Crusius kennt „[…] die Schwierigkeiten […], die diesen ‚ersten Anfang‘ begleiten […], aber er hat versucht, sie zu vermeiden, indem er sie mit der Fähigkeit der Freiheit des Individuums verbunden hat, eine Folge von Ereignissen zu initiieren, ohne zu

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fragen, wie die Wirkungen in den kausalen Nexus der empfundenen Welt passen können.“¹¹ (Bohatec, 151) Noch ein Thema, welches Kant mit Crusius gemein hat, ist der Begriff des „Religionswahns“, den Kant, laut Bohatec, von Frank Volkmar Reinhard als „die bloße Vorstellung einer Sache mit der Sache selbst als gleichgeltend zu halten“ übernommen hat (Bohatec 1938, 507, n. 1). Bohatec jedoch meint, daß Kant den Unterschied zwischen zwei Arten des Religionswahns von Crusius übernommen hat: 1) Aberglaube, bei dem geglaubt wird, daß kultische Rituale Gott beeinflussen kann; und 2) Schwärmerei, bei der geglaubt wird, daß ein direkter Informationsaustausch mit Gott möglich sei.¹²

14.5 Franz Albrecht Schultz Kants enger Freund und Professor F. A. Schultz vertritt einen Pietismus, der Wolffs naturwissenschaftliche Einstellung übernommen hat und,¹³ wie oben berichtet, spielte Schultz eine Rolle bei der Rückkehr Wolffs nach Halle. Nach Schultz gibt es eine „externe“ und eine „interne“ Seite der Religion (Knutzen 1739/40, ix), wobei er zwischen einem innerlichen moralischen Gesetz und einem äußerlichen physikalischen Gesetz unterscheidet (ebd., xiv). Auch betrachtet er die religiöse Bekehrung als eine harmonistische Kombination von „pietistischem

11 Kant schrieb in der Grundlegung 459: „Wo […] Bestimmung nach Naturgesetzen aufhört, da hört auch alle Erklärung auf, und es bleibt nichts übrig als Vertheidigung, d.i. Abtreibung der Einwürfe derer, die tiefer in das Wesen der Dinge geschaut zu haben vorgeben und darum die Freiheit dreust für unmöglich erklären. Man kann ihnen nur zeigen, daß der vermeintlich von ihnen darin entdeckte Widerspruch nirgend anders liege als darin, daß, da sie, um das Naturgesetz in Ansehung menschlicher Handlungen geltend zu machen, den Menschen nothwendig als Erscheinung betrachten mußten und nun, da man von ihnen fordert, daß sie ihn als Intelligenz auch als Ding an sich selbst denken sollten, sie ihn immer auch da noch als Erscheinung betrachten, wo denn freilich die Absonderung seiner Causalität (d.i. seines Willens) von allen Naturgesetzen der Sinnenwelt in einem und demselben Subjecte im Widerspruche stehen würde, welcher aber wegfällt, wenn sie sich besinnen und wie billig eingestehen wollten, daß hinter den Erscheinungen doch die Sachen an sich selbst (obzwar verborgen) zum Grunde liegen müssen, von deren Wirkungsgesetzen man nicht verlangen kann, daß sie mit denen einerlei sein sollten, unter denen ihre Erscheinungen stehen.“ 12 Siehe Bohatec 1938, 513–15. Schon in seiner Vorlesung zur Moralphilosophie, (1774/1775, 129), hat Kant zwischen Aberglaube und Schwärmerei unterschieden: „Die Schwarmerey ist etwas, nach welcher man ausserhalb und ueberhalb der Maxime der Vernunfft ausschweift. Der Aberglaube erstrekt sich unterhalb die Maxime der Vernunft, die Schwarmerey aber ueberhalb der Maxime; der Aberglaube gründet sich auf sensuale Principien, die Schwarmerey aber auf mystische und hyperphysische principia.“ 13 Vgl. Knutzen 1739/40, xiv.

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Glaubensverständnis und rationalem Unterrichtsstoff“ (ebd., xiv), was Kants Herausforderung der Theologischen Fakultät eine nuancierte Perspektive gibt: „Wenn der biblische Theolog aufhören wird, sich der Vernunft zu seinem Behuf zu bedienen, so wird der philosophische auch aufhören, zu Bestätigung seiner Sätze die Bibel zu gebrauchen.“ (Fak., VII 45) In seiner Einführung zu Martin Knutzens Philosophischer Beweis von der Wahrheit der christlichen Religion schreibt Lehner, daß Schultz „Heiligkeit“ als einen „Prozeß der Perfektibilität definiert, der durch die Vernunft geleitet wird. Theologie war für beide [Schultz und Knutzen] daher vor allem anderen ein habitus practicus“ (Knutzen 1739/40, xv). Dieser Prozeß der Perfektibilität könnte möglicherweise bei Kant Widerhall gefunden haben, obwohl Kant nicht unbedingt optimistisch ist, daß Perfektion erreichbar ist.¹⁴

14.6 Schluß Der Anspruch dieses Aufsatzes ist nicht, eine umfangreiche Darstellung von Kants theologischen Quellen zu geben, sondern darzustellen, wie Kants theologische Welt breiter und intellektuell reicher war als der Pietismus, den er in seiner Kindheit erlebte. Obwohl Kant sich nicht, wie die Neologen, auf die historische Forschung des Neuen Testaments beruft,¹⁵ teilt er mit der Neologie die moralische Einstellung zur Religion, und mit ihr den positiven Kern der reinen Vernunftreligion. Kant hat G. F. Meier für die Themen und das Vokabular zu danken, welche seine eigene reflektierende Urteilskraft anspornten. Allerdings wurde Kant nicht nur durch die „progressive“ Neologie und die Leibniz-Wolffianer angeregt, sondern auch durch die Themen der anti- und pro-wolffianischen Pietisten, wie C. A. Crusius und F. A. Schultz. Diese kurze Begegnung mit einer Auswahl von Kants theologischen „Gesprächspartnern“ bestätigt die Orientierung seiner philosophischen Theologie: man kann philosophische Theologie nicht als ein geschlossenes Gedankensystem erler-

14 Siehe Idee, VIII 18 f.; Anfang, VIII 115–116, 123; Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, VII 328– 330; und Pädagogik, IX 445 f. 15 Kant warnt vor dem Versuch, die reine Vernunftreligion durch Schriftgelehrsamkeit zu ersetzen: Siehe Rel., VI 114: „Es gibt […] keine Norm des Kirchenglaubens, als die Schrift, und keinen andern Ausleger desselben, als reine Vernunftreligion und Schriftgelehrsamkeit (welche das Historische derselben angeht), von welchen der erstere allein authentisch, und für alle Welt gültig, der zweite aber nur doktrinal ist, um den Kirchenglauben für ein gewisses Volk zu einer gewissen Zeit in ein bestimmtes sich beständig erhaltendes System zu verwandeln.“

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nen, sondern man muß für sich den Weg der reflektierenden Urteilskraft, die zur praktischen Vernunft, Schönheit, und das Erhabene hinführt, nachvollziehen.

Literatur Bohatec, J. 1938: Die Religionsphilosophie Kants in der „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ mit besonderer Berücksichtigung ihrer theologisch-dogmatischen Quellen, Hamburg. Cassirer, E. 1977: Kants Leben und Lehre, Darmstadt. Dietzsch, S. 2003: Immanuel Kant. Eine Biographie, Darmstadt. Hegel, G. W. F. 1802: Glauben und Wissen oder die Reflexionsphilosophie der Subjektivität in der Vollständigkeit ihrer Formen als Kantische, Jacobische und Fichtesche Philosophie, in: Kritisches Journal der Philosophie, Schelling, F. W. J./G. W. F. Hegel (Hrsg.) I/1: HW II, Berlin 2013, 70–168; HW II: 287–433. Hinske, N. 1980: Reimarus zwischen Wolff und Kant. Zur Quellen- und Wirkungsgeschichte der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus, in: Logik im Zeitalter der Aufklärung, Walter, W./L. Borinski (Hrsg.), Göttingen, 9–32. Hirsch, E. 1954: Geschichte der neuern evangelischen Theologie, Bd. 4. Gütersloh. Kant, I. 1774/75: Vorlesung zur Moralphilosophie, Stark, W. (Hrsg.), Berlin 2004. Knutzen, M. 1739/40: Philosophischer Beweiß von der Wahrheit der Christlichen Religion, Nordhausen 2005. Meier, G. F. 1752: Georg Friedrich Meiers Vertheidigung seines Beweises des ewigen Lebens der Seele und seiner Gedancken von der Religion. Halle. Meier, G. F. 1766: Beyträge zu der Lehre von den Vorurtheilen des menschlichen Geschlechts. Halle. Meier, G. F. 1777: G. F. Meiers Betrachtung über die natürliche Anlage zur Tugend und zum Laster, in: Allgemeine theologische Bibliothek, Bd. 7, Mietau, 342–353. Strauß, D. F. 1839: Schleiermacher und Daub, in ihrer Bedeutung für die Theologie unserer Zeit, in: Charakteristiken und Kritiken. Eine Sammlung zerstreuter Aufsätze aus den Gebieten der Theologie, Anthropologie und Aesthetik, 3–212, Leipzig 1844.

Auswahlbibliographie 1. Primärtexte 1.1 Ausgaben der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Kants Werke. Akademie Textausgabe, Band 6, hrsg. v. G. Wobbermin, Berlin 1968, 1–202. hrsg. von W. Weischedel, Werke in zwölf Halbbänden, Band 4, Frankfurt/M. 51983, 647–879. hrsg. von B. Stangneth mit Einleitung und Anmerkungen, Hamburg 2003 (Philosophische Bibliothek 545). hrsg. von K. Vorländer, mit Einleitung v. H. Noack und Bibliographie v. H. Klemme, Hamburg 91990 (Philosophische Bibliothek 45).

1.2 Übersetzungen Religion within the bounds of bare reason, transl. by W. S. Pluhar, intro. S. R. Palmquist, Hackett 2009. La religión dentro de los límites de la mera razón, trad. de F. Martínez Marzoa, Madrid 1986. La religione entro i limiti della semplice ragione, trad. di Vincenzo Cicero, intro. di Massimo Roncoroni, Rusconi Libri, Bd. 31, Milano 1996. La religion dans les limites de la simple raison, trad. par A. Tremesaygues, Librairie Félix Alcan, Paris 1913.

1.3 Weitere Texte zu Kants Religionsphilosophie Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, hrsg. v. P. Menzer, in: Akademie Textausgabe, Bd. 2, Berlin 1968, 63–164. Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. B. Erdmann, in: Akademie Textausgabe, Bd. 3, Berlin 1968, bes. 392–426 (Kritik der Gottesbeweise). Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. v. P. Natorp, in: Akademie Textausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, 1– 164, bes. 124–134 (Postulatenlehre: Gott). Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. W. Windelband, in: Akademie Textausgabe, Bd. 5, Berlin 1968, 165–486, bes. 436–466 (Moraltheologie). Vorlesungen über die philosophische Religionslehre, hrsg. von K. H. L. Pölitz, Leipzig 21830, ND Darmstadt 1982. „Reflexionen zur Religionsphilosophie“, in: Kants handschriftlicher Nachlaß, Bd. VI, hrsg. v. F. Berger, Berlin/Leipzig 1934, S. 616–654 (Kants gesammelte Schriften, Bd. XIX). „Vorarbeiten zur Religionsphilosophie“ in: Kants handschriftlicher Nachlaß, Bd. X, bearb. v. G. Lehmann, Berlin 1955, 87–124 (Kants gesammelte Schriften, Bd. XXIII).

https://doi.org/10.1515/9783110782424-017

260

Auswahlbibliographie

2. Sekundärliteratur Allison, H. 1973: Kant-Eberhard Controversy, Baltimore. Allison, H. 1990: Kant’s Theory of Freedom, Cambridge, bes. Kap. 8–9. Anderson-Gold, S. 2001: Unnecessary Evil. History and Moral Progress in the Philosophy of Immanuel Kant, New York. Axinn, S. 1994: The Logic of Hope. Extensions of Kant’s View of Religion, Amsterdam. Bahrdt, K. F. 1787–1792: System der moralischen Religion zur endlichen Beruhigung für Zweifler und Denker. Allen Christen und Nichtchristen lesbar, Bd. 1, Berlin. Barth, U. 1994: Kants Begriff eines Gegenstands der praktischen Vernunft und der systematische Ansatz der Religionsphilosophie, in: Schnelle, U. (Hrsg.), Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle, Berlin/New York, 267–302. Barth, U. 2005: Gott als Projekt der Vernunft, Tübingen. Blumenberg, H. 1954: Kant und die Frage nach dem „gnädigen Gott“, in: Studium Generale 7, Berlin, 554–570. Bohatec, J. 21966: Die Religionsphilosophie Kants in „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“, Hildesheim. Bojanowski, J. 2006: Kants Theorie der Freiheit. Rekonstruktion und Rehabilitierung, Berlin/ New York. Brandt, R. 1990: Die Politische Institution bei Kant, in: Göhler, G. u. a. (Hrsg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen, 335–357. Brandt, R. 2003: Universität zwischen Selbst- und Fremdbestimmung: Kants „Streit der Fakultäten“. Mit einem Anhang zu Heideggers „Rektoratsrede“, Berlin. Brandt, R. 2010: Immanuel Kant – Was bleibt?, Hamburg, bes. Kap. 2. Bruch, J.-L. 1969: La Philosophie religieuse de Kant, Paris. Conradt, M. C. 1999: Der Schlüssel zur Metaphysik. Zum Begriff rationaler Hoffnung in Kants kritischer Moral- und Religionsphilosophie, Tübingen (Diss.). D’Alessandro, G. 1995: L’Interpretazione Kantiana dei testi biblici e i suoi critici, in: Kant-Studien 8, 57– 85. Despland, M. 1973: Kant on History and Religion, Montreal. DiCenso, J. 2012: Kant’s Religion within the Boundaries of Mere Reason. A Commentary, Cambridge. Dieringer, V. 2009: Kants Lösung des Theodizeeproblems, Stuttgart-Bad Cannstatt (Diss.). Dirksmeier, C. 1998: Das Noumenon Religion. Eine Untersuchung zur Stellung der Religion im System der praktischen Philosophie Kants, Berlin/New York. Ehni, H.-J. 2006: Das moralisch Böse. Überlegungen nach Kant und Ricoeur, Freiburg/ München. Firestone, Ch. 2009: Kant and Theology at the Boundaries of Reason, Farnham. Firestone, Ch./Jacobs, N. 2008: In Defense of Kant’s Religion, Bloomington/IN. Fischer, N. (Hrsg.) 2004: Kants Metaphysik und Religionsphilosophie, Hamburg. Forschner, M. 2009a: Idee und Anschauung in Kants Religionsphilosophie, in: Klemme, H. F. (Hrsg.), Kant und die Zukunft der europäischen Aufklärung, Berlin 2009, 143–164. Forschner, M. 2009b: Immanuel Kants „Hang zum Bösen“ und Thomas von Aquins „Gesetz des Zunders“: Über säkulare Aufklärungsanthropologie und christliche Erbsündenlehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 63, 519–542. Förster, E. 1998: Die Wandlungen in Kants Gotteslehre, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52, 341–362. Frierson, R.P. 2003: Freedom and Anthropology in Kant’s Moral Philosophy, Cambridge. Gerhardt, V. 2014: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche, München.

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Personenregister Abelard, P. 109 Allison, H. 44, 46, 47, 70 Ambrosius 218 Amin Dada, I. 39 Anselm von Canterbury 28 Aristoteles 2, 17, 48 Augustinus 17, 28, 55, 74, 79, 148, 153, 218, 250 Aulén, G. 96, 103 Bahrdt, K. F. 223 Barth, U. 33 Baumgarten, A. G. 240 Biester, J. E. 20 Blumenberg, H. 207 Bohatec, J. 252 f., 254, 256 Böhme J. 224 Bojanowski, J. 71, 85, 99 Calvin, J. 21, 27, 153 Cassirer, E. 247 Chignell, A. 96 Cohen, H. 141 Crusius, Ch. A. 248, 254–257 Denzinger, H. 78 Despland, M. 100 Dieringer, V. 85, 97 Dietzsch, S. 247 Düsing, K. 83 Eberhard, J. A. 249 Ehni, H.-J. 46 Engstrom, S. 87, 97 Epikur 17 Ernesti, J. A. 249 Feil, E. 27 Fichte, J. G. 30, 249 Firestone, Ch. L. 46, 58, 61, 94, 100, 107, 137, 152 Flikschuh, K. 193 Forschner, M. 54, 83, 99 Förster, E. 203 https://doi.org/10.1515/9783110782424-018

Friedrich II., der Große 20 Friedrich Wilhelm II. (v. Pr.) 20 Friedrich Wilhelm I. (v. Pr.) 20 Frierson, R. P. 47 Gandhi, M. 39, 46 Gehlen, A. 17 Glasenapp, H. v. 40 Goethe, J. W. v. 18, 31, 247 Green, R. M. 190 Gregor, M. J. 237 Guyer, P. 202 Hamann, J. G. 111 Hare, J. 99, 104, 113 Hegel, G. W. F. 136, 203, 248, 249, 253 Heilmann, J. D. 249 Heit, S. 146, 152 Herder, J. G. 18, 19, 34, 247 Herder, K. 18 Hermanni, F. 202 Hesiod 40 Hinske, N. 248, 251 Hirsch, E. 249, 250 Hitler, A. 39 Hobbes, Th. 17, 217 Höffe, O. 4–6, 198, 201 Holbach, P. H. Th. d’ 16, 24 Hoping, H. 152 Horn, Ch. 46, 83, 99, 108 Hruschka, J. 176 Hume, D. 4, 16, 17, 21, 25 Hutter, A. 208 Isenbiehl, J. L.

249

Jacobs, N. 46, 58, 61, 94, 100, 107, 137 Jerusalem, J. F. W. 249 Jesus von Nazareth (Christus) 8, 18, 19, 82, 89, 93–95, 138, 141 f., 147, 152, 248, 249 Jüngel, E. 29 Jung-Stillin, H. 19

264

Personenregister

Klein, E. 104 Klemme, H. F. 70 Klopstock, F. G. 249 Knutzen, M. 248, 257 König, J. F. 27 König, P. 229 Lagarde, P. A. de 27 Lavater, J. K. 4, 18, 19, 224, 227, 236, 238 Lehner, U. 248, 257 Leiner, M. 146 Lessing, G. E. 4, 17, 136, 141, 144, 248, 249 Luther, M. 21, 28, 34, 95, 153 Marty, F. 28, 106 Marx, K. 24 Meier, G. F. 248, 251–253, 257 Melanchthon, Ph. 36 Mendelssohn, M. 141, 143–146, 173 Michaelis, J. D. 35, 129, 249 Michaelson, G. E. 43, 58, 61 Montaigne, M. de 118 Morus, S. F. N. 249 Munzel, G. F. 40, 49 Mutter Teresa 39, 46 Newton, I.

3

O’Neill, O. 185 Oporin, J. O. 252 Origines 218 Palmquist, S. 18, 102, 107 Pascal, B. 15, 17 Paulus 56, 74, 84, 138, 142, 221 Platon 2, 17, 28, 40 Plessner, H. 17 Quinn, Ph. L.

92, 106 107

Reimarus, H. S. 28, 223, 248 Ricken, F. 106, 245 Rousseau, J.-J. 10, 13, 17, 39 f. Santozki, U.

83

Scheler, M. 17 Schiller, F. 31, 45 Schleiermacher, F. D. E. 21 Schmalenbach, H. 18 Schmaus, M. 74, 78 Schott, R. M. 125 Schulte, Ch. 75 Schultz, F. A. 248, 249, 256 f. Schwarz, H. 146 Semler, J. S. 153, 217, 248–250 Seneca 10, 40, 41 Sokrates 7, 8 Spalding, J. J. 249 Spinoza, B. de 17, 141, 142, 145 f., 217, 218 Stangneth, B. 20, 71 Stark, W. 235 Stäudlin, C. F. 5, 20, 30 Stevenson, R. L. 190 Storr, E. Ch. 35 Swedenborg, E. 224 Thiede, W. 152, 153 Tholuck, F. A. G. 27 Thomas von Aquin 28, 36, 54, 55, 65, 76, 78, 148, 165 Tieftrunk, J. H. 230, 242 Toland, J. 36 Töllner, J. G. 249 Troeltsch, E. 7, 30, 37 Voltaire

17, 24

Walch, J. G. 27 Weidemann, H. 83 Wenz, G. 28 Wimmer, R. 96, 148, 152, 154 Winter, A. 36, 153, 200 Wizenmann, T. 101 Wöllner, J. Ch. v. 20 Wolterstorff, N. 92, 106, 107 Wood, A. W. 49, 106, 125, 197, 199 Xenophanes Zöller, G.

201

2, 17

Sachregister Aberglaube 16, 19, 27, 138, 200, 206, 221, 241, 256 Achtung 23, 32, 45, 49, 66, 69, 73, 79, 233, 237, 253 Afterdienst 157, 158, 162, 170, 172, 175, 177, 179– 181, 190, 193 Anlage (zum Guten) 7, 9, 22, 39 f., 47, 49 f., 52, 57, 66, 68, 70, 73, 79, 81, 99, 136, 152–154, 159, 213, 230, 254 Aufklärung 8, 16–18, 27, 37, 74 Autorität 20, 28, 182, 183, 186, 187, 189 f., 213 Bibel (Heilige Schrift) 7–9, 21, 29, 165, 212, 214 f., 217 f., 220, 223 f., 249, 257 Böse, das 2, 9–11, 17–19, 45, 49, 52, 57, 61, 65, 67 f., 79, 84, 86, 93, 97, 135, 252 – radikal b. 9, 17, 39, 41, 52, 70, 74, 82, 86, 92, 95, 154 – von Natur b. 40 f., 63, 86, 94 Charakter 44, 49, 53, 86, 89, 91, 152 – empirischer Ch. 66, 73 – intelligible 66, 69, 73 Christentum 2, 6–8, 18–21, 24, 32, 77–79, 83, 135–141, 144, 146, 153, 157, 170, 173, 175, 223, 247, 249 Freiheit 1, 7, 9, 18, 23, 30, 37, 42–44, 48, 57, 60, 63, 65, 67, 70–73, 75, 78, 81, 83, 140, 149 f., 167, 182, 187, 196, 211–213, 215, 221, 253 Gattung 9, 11, 19, 41, 46, 63, 67, 75, 90, 91, 177 Gemeinwesen 11, 12, 139, 150, 182, 187, 200, 205 Gesetzgeber 11, 150, 159, 161, 169, 183, 233, 235, 237 Gesinnung 7, 9, 13, 29, 39, 44 f., 53, 55–57, 60 f., 65–67, 69, 71, 73, 75, 77–79, 81, 84 f., 87–89, 91–96, 140, 143, 151, 153 f., 163, 168, 194, 196, 198 f., 201–205, 207, 229, 233–238, 240, 242, 247, 249 Gewissen 139, 143, 177, 179, 188, 190, 222, 237, 253 https://doi.org/10.1515/9783110782424-019

Glaube 27, 29, 36, 87, 100, 111, 140, 145, 148, 161, 166, 170, 173, 175, 186, 190 – historischer G. (Bibelg., dogmatischer G., doktrinaler G., Frong., Geschichtsg., Kircheng., Offenbarungsg., Schriftg.) 5, 8, 12, 29, 36, 136, 157, 161, 166, 171 f., 177 f., 185 – moralischer G. (Religionsg., Vernunftg.) 3, 5, 12, 29, 136–138, 145, 147, 157, 176, 180, 190, 202, 218, 223 Glückseligkeit, Glück 32–34, 57, 60, 81, 83, 85, 93, 96, 142, 149, 152, 169 f., 194, 222, 227 f., 233 Gott 2–7, 10 f., 13, 15, 24, 27–30, 34, 37, 76, 82, 85, 90, 92, 95, 97, 137, 139 f., 142, 144, 147, 149 f., 152 f., 159 f., 162 f., 165–168, 172, 176, 178–180, 183 f., 188, 193, 198, 205, 215, 221, 224, 228, 240, 249, 251–253 Gut, höchstes 5, 32–34, 83, 85 f., 159, 162, 233, 239 Handlung 42, 44, 45, 57, 59–61, 70–73, 75, 83 f., 88, 92, 142 f., 169, 182 f., 252–254 Hang (zum Bösen) 9, 39, 50–52, 55–57, 59, 63 f., 67, 69–72, 74 f., 77–79, 81, 92, 96, 99, 254 Herz 51 f., 55, 216 Herzenskündiger 215, 235–237, 240 Ideal

4, 5, 7, 11, 32, 82, 85–89, 91, 92, 95, 97, 120, 147

Judentum

136, 139–146, 170, 173

Kirche 11, 16 f., 19, 37, 75, 121, 135 f., 139, 145, 157, 159–161, 167, 176, 178–185, 187–189 – sichtbare/unsichtbare K. 8, 12, 162, 167, 171, 175 f., 178–180, 182–184, 186–188, 190, 249 Laster

47–49, 63, 70, 79, 254

Maxime 9, 32, 42, 44 f., 49 f., 51–54, 56, 60, 63, 66 f., 71, 73, 84, 92, 153, 154, 183, 256

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Sachregister

Moralität 11, 53, 55, 66, 68, 69, 73, 74, 145, 184, 216, 224, 230, 232–240 Natur 2, 90, 149, 234 Naturzustand 11, 17 Neigung 9, 49, 58, 64, 72, 74, 76, 78 f., 87, 181, 187 Offenbarung 2, 6–9, 16, 22, 23, 28, 34, 36 f., 139, 144, 148, 149, 157, 160, 162–166, 172 f., 177, 214, 216, 218 f., 223 f., 225, 227, 244 Pflicht 45, 45, 64, 70, 74, 75, 87, 149, 150, 157, 159, 162, 167, 176, 184, 238, 242 Prinzip (gutes/böses) 11, 13, 19, 75, 83, 93, 158, 184 Schriftauslegung 195–197, 201, 207, 211, 217 f., 220, 223, 225 statutarisch 139, 145, 161, 163, 168, 180, 229, 245, 252 Sünde 54, 89, 244 – Erbs 7, 9, 19, 22, 39, 74 f., 77

Triebfeder 9, 16, 31, 42, 44, 46, 49, 56, 64–66, 69, 71, 79, 83, 88, 94, 163, 169, 203, 236, 254 Tugend 45, 69, 78, 83, 152, 169, 207, 227, 233, 237 Unsterblichkeit

30, 33, 37, 61, 141, 167, 195

Vernunft 1–4, 6–9, 12, 14, 16–18, 21–23, 28–30, 37, 46, 68, 71, 74, 86, 135, 138, 148, 157, 164, 167, 170, 178, 185, 193, 212, 220, 222, 225, 230, 242 f. Wille

11, 32, 44, 46, 84, 88 f., 154, 160, 176, 183, 189, 196, 198, 250 Willkür 31, 44, 49, 52, 54, 56, 64, 67, 69–72, 78, 149, 215 Zweck 31 f., 85, 88, 157–159, 161, 167, 172, 175, 184, 187, 200, 204, 206, 208, 237 – Endz. 12, 33, 149, 165, 213, 219, 223, 228, 233–235, 238, 240

Hinweise zu den Autoren Jochen Bojanowski, geb. 1974, Promotion an der Universität in Freiburg (2005), ist gegenwärtig Visiting Professor an der University of Pittsburgh. Er ist Autor des Buches Kants Theorie der Freiheit (2006). Johannes Brachtendorf, geb. 1958. Studium der Philosophie, Katholischen Theologie, Musikwissenschaft und Kunstgeschichte in Bochum, Berlin, Regensburg und Tübingen. Dissertation über Fichtes Lehre vom Sein, Habilitationsschrift: Die Struktur des menschlichen Geistes nach Augustinus. Selbstreflexion und Erkenntnis Gottes in De Trinitate. 1995–1997 Visiting scholar an der University of Notre Dame; 2002 Endowed Chair in the Thought of Augustine an der Villanova University (USA). Seit 2004 Inhaber der Lehrstuhls für philosophische Grundfragen der Theologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Herausgeber der lateinisch-deutschen Gesamtausgabe der Werke Augustins: Augustinus. Opera-Werke. Andrew Chignell, Associate Professor of Philosophy an der Cornell University. Zahlreiche Aufsätze zu Kant, der Philosophie der Frühen Neuzeit, zur Epistemologie und Ästhetik in The Philosophical Review, Nous, Philosophers’ Imprint, Archiv für Geschichte der Philosophie, Australasian Journal of Philosophy und Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus. Katrin Flikschuh, Reader in Politischer Theorie an der London School of Economics. Ihre Forschungsarbeit bezieht sich vor allem auf Kants politische Philosophie und deren Beziehung zum gegenwärtigen Liberalismus. Veröffentlichungen: Kant and Modern Political Philosophy (CUP 2000); Freedom: Contemporary Liberal Perspectives (Polity 2007). Zahlreiche Aufsätze zu Kants politischer und praktischer Philosophie. Gegenwärtige Forschung: Kant contra Cosmopolitanism. Assessing the Global Justice Debate (CUP 2013). Maximilian Forschner, geb. 1943, Studium der (kath.) Theologie (1962–1967), Studium der Philosophie (1967–1972), Promotion in Philosophie (1972) bei Prof. Helmut Kuhn in München, Habilitation in Philosophie (1980) in Erlangen, 1982–1985 ordentlicher Professor an der Universität Osnabrück, ab 1985 ordentlicher, seit 2008 emeritierter Professor für Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Philosophie der Antike (mit Schwerpunkt Hellenismus), Philosophie des Mittelalters (mit Schwerpunkt Thomas von Aquin) und Philosophie der Aufklärung (mit Schwerpunkt Kant, Rousseau, J. St. Mill). Systematischer Schwerpunkt: Praktische Philosophie. Buchveröffentlichungen: Gesetz und Freiheit. Zum Problem der Autonomie bei Immanuel Kant (1974); J.-J. Rousseau (1977); Die stoische Ethik (1. Aufl. 1981, 2. Aufl. 1995); Mensch und Gesellschaft (1989); Über das Glück des Menschen (1. Aufl. 1993, 2. Aufl. 1994); Über das Handeln im Einklang mit der Natur (1998); Thomas von Aquin (2006). Otfried Höffe, geb. 1943; ab 1964 Studium der Philosophie, Geschichte, Theologie und Soziologie in Münster, Tübingen, Saarbrücken und München; 1970 Promotion, 1974–1975 Habilitation, 1976–1978 nach Vertretung o. Professor für Philosophie an der Universität Duisburg, 1978 Lehrstuhl für Ethik und Sozialphilosophie an der Universität Freiburg (Schweiz), ab 1992 ordentlicher, seit 2011 emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Seit 2002 ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Universität Sankt Gallen. Schwerpunkte: Aristoteles, Kant, Moral- und Rechtsphilosophie, Erkenntnistheorie. Otfried Höffe ist Mitherausgeber der Zeitschrift für philosophische Forschung. Er ist Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie der Nahttps://doi.org/10.1515/9783110782424-020

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Hinweise zu den Autoren

turforscher Leopoldina sowie Ehrenmitglied der Teheraner Akademie für Philosophie und Weltweisheit. Buchveröffentlichungen (Auswahl; zahlreiche Übersetzungen): Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles (1971, 32008); Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse (1975, 2 1985); Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie (1979, 72012), Immanuel Kant (1983, 92020); Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat (1987, 42003); Demokratie im Zeitalter der Globalisierung (1999, 22002); Kleine Geschichte der Philosophie (2001, 62018); Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie (2003, 5 2011); Lebenskunst und Moral Oder: Macht Tugend glücklich (2007, 22009); Kants Kritik der praktischen Vernunft. Eine Philosophie der Freiheit (2012); Kritik der Freiheit. Das Grundproblem der Moderne (2015); Geschichte des politischen Denkens (2016); Die hohe Kunst des Alterns. Kleine Philosophie des guten Lebens (2018, 52021); Was hält die Gesellschaft noch zusammen? (2021); Gerechtigkeit denken. John Rawls’ epochales Werk der politischen Philosophie (2021, 22021); Ist Gott demokratisch? Zum Verhältnis von Demokratie und Religion (2022); Für ein Europa der Bürger! Den Europa-Diskurs erneuern (2023); Was hat Immanuel Kant uns heute noch zu sagen? (2023). Herausgeber u. a. der Reihe „Klassiker auslegen“ und „Lexikon der Ethik“ (1977, 82023). Christoph Horn, ord. Professor für Philosophie an der Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Antike, Kant und Praktische Philosophie der Gegenwart. Publikationen: Plotin über Sein, Zahl und Einheit, Stuttgart/Leipzig 1995; Augustinus, München 1995; Antike Lebenskunst, München 1998; Politische Philosophie, Darmstadt 2003. Herausgeber: Augustinus, De civitate dei, Berlin 1997; (mit Ch. Rapp): Wörterbuch der antiken Philosophie, München 2002; (mit N. Scarano) Philosophie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 2002; (mit D. Schönecker): Groundwork for the Metaphysics of Morals, Frankfurt/M. 2006; (mit C. Mieth und N. Scarano): Kant. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Frankfurt/M. 2007; (mit Ada Neschke): Politischer Aristotelismus, Stuttgart/Weimar 2008; (mit J. Müller und J. Söder): Platon-Handbuch, Stuttgart 2009; (mit Guido Löhrer): Gründe und Zwecke, Frankfurt/M. 2010. Mitherausgeber: Archiv für Geschichte der Philosophie und Zeitschrift für philosophische Forschung. Eberhard Jüngel, geb. am 5. 12 1934 in Magdeburg; dort am Tag vor dem Abitur als „Feind der Republik“ aus dem Gymnasium entfernt. Studium der Ev. Theologie und der Philosophie an den Kirchlichen Hochschulen in Naumburg/Saale und Berlin sowie an den Universitäten Zürich und Basel. 1961 Promotion zum Dr. theol., 1962 Habilitation und Ordination zum Pfarrer der Ev. Kirche. 1961–1966 Dozent des kirchlichen Lehramts in Ostberlin. 1966–1969 Ordinarius für Syst. Theologie an der Universität Zürich, seit 1969 in Tübingen. Im Nebenamt Ephorus des Tübinger Stifts. Mitglied in- und ausländischer wissenschaftlicher Akademien. Ehrendoktor der Universitäten Aberdeen, Basel und Greifswald. Kanzler des Ordens Pour le mérite für Wissenschaften und Künste. Ehrendomprediger am Berliner Dom. Hauptwerk: Gott als Geheimnis der Welt (82010); 5 Bände Theologische Erörterungen; 7 Predigtbände. Douglas McGaughey, Professor in Religious Studies an der Willamette University in Salem, Oregon, USA. Er wurde bei Paul Ricoeur an der Divinity School, University of Chicago promoviert. Sein neuestes Buch heißt Religion Before Dogma: Groundwork in Practical Theology (2006). Er ist Übersetzer von Otfried Höffes Lebenskunst und Moral oder macht Tugend glücklich? – auf englisch Can Virtue Make Us Happy? The Art of Living and Morality (2010). Auf deutsch ist sein Aufsatz „Über die Rolle der Religion in der moralischen Entwicklung“ in Braucht Werterziehung Religion? (Hrsg. Hans Joas) 2007 erschienen.

Hinweise zu den Autoren

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Reza Mosayebi, geb. 1975, Akademischer Rat (a.Z.) am Institut für Philosophie der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der kritischen Philosophie von Race, Politischen Philosophie, Rechtsphilosophie, und Kants Praktischen Philosophie. Buchveröffentlichung: Das Minimum der reinen praktischen Vernunft (2013). Herausgeber: John Rawls. Das Recht der Völker. Klassiker Auslegen (zusammen mit Henning Hahn) (2019); Kant und Menschenrechte (2018). Buchbeiträge (Auswahl): „A Semi-Kantian Account of Dignity; Passing the Buck whilst Regulating Reasons for Human Rights“ (in: Kato, Y./Schönrich, G. (Ed.): Kant’s Concept of Dignity, 2019); „Die Behauptung eigener Menschenrechte als Selbstforderung“ (in: Mosayebi, R.) (Hg.): Kant und Menschenrechte, 2018). Artikel (Auswahl): „Juridical Empowerment. Empowering the Impoverished as Rights-Asserters“ (in: Ethical Theory and Moral Practice, 2022). Burkhard Nonnenmacher, geb. 1976, Studium der Philosophie, Evangelischen Theologie und Psychologie an der LMU München, Promotion zum Dr. phil. 2005, Stipendiat der Fritz-Thyssen-Stiftung 2010, ist Wissenschaftlicher Assistent an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Aufsätze zu Kant, Hegel und Leibniz. Friedo Ricken, Dr.phil., Dr. theol., ist em. Professor für Geschichte der Philosophie und Ethik an der Hochschule für Philosophie München. Studium der Klassischen Philologie, Philosophie und Katholischen Theologie in Frankfurt/M., Tübingen, Pullach bei München und Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Der Lustbegriff in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (1976), Allgemeine Ethik (1983/42003); Philosophie der Antike (1988/42007); Antike Skeptiker (1994); Religionsphilosophie (2003); Platon, Politikos. Übersetzung und Kommentar (2008). Allen W. Wood, Ward W. and Priscilla B. Woods Professor an der Stanford University. Seinen B.A. absolvierte er am Reed College (1964), sein Ph.D. an der Yale University (1968). Von 1968–1996 Professor an der Cornell University, von 1996–2000 an der Yale University und von 2008–2009 an der Indiana University, darüber hinaus Gastprofessuren an der University of Michigan (1973), der University of California at San Diego (1986) und der Oxford University (2005). Er war Guggenheim Fellow an der Freien Universität Berlin (1983–1984) und National Endowment for the Humanities Fellow an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms Universität Bonn (1991–1992). Veröffentlichungen (Auswahl): Kant’s Moral Religion (1970), Kant’s Rational Theology (1978), Karl Marx (1981, neue erweiterte Auflage 2004), Hegel’s Ethical Thought (1990), Kant’s Ethical Thought (1999), Unsettling Obligations (2002), Kant (2004) und Kantian Ethics (2008). Er ist Mitherausgeber der Cambridge Edition der Schriften Kants in englischer Übersetzung.