Reiz und Elend der cremefarbenen Couch: Therapiegeschichte einer Essstörung 9783666401022, 9783525401026, 9783647401027, 9783525317075

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Reiz und Elend der cremefarbenen Couch: Therapiegeschichte einer Essstörung
 9783666401022, 9783525401026, 9783647401027, 9783525317075

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© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

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Benja Thieme

Reiz und Elend der cremefarbenen Couch Therapiegeschichte einer Essstörung

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-31707-5 ISBN 978-3-647-40102-7 (E-Book)

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Inhalt

Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Hirtberg schweigt. Nicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

10

Begegnung mit dem Zensor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

21

Das ist jetzt erst mal so . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Empathie und Entlastung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

Ein Teil des roten Fadens: Zweifel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

48

Misshandlung und Verhöhnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

Möglichkeit zum Veto? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

62

Scampi-Pfanne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

Stabilität in der Verlorenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Ganz nackt – einfach so . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

83

Sie müssen nicht sofort handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91

Herzausreißer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Experiment www . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 Verwaiste Sehnsüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Ambivalenzprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Versuch zu reisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Vielfalt und Reichtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 Reiz und Elend der cremefarbenen Couch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Noch mehr Weib . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 Verheddert in der Themenlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Doch nur ein Tagebuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Realitäten wie Sand am Meer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215

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Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 Es ist nicht gut, dass ich da bin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 Das letzte Jahr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Umzug, Stagnation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Mehr und mehr auf mich allein gestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Es geht um soziale Beziehungen, Verbindlichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Ambivalenz als Tor zur Humanität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 Assoziationen und Einfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Die Katze beißt sich in den Schwanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Dazwischen, Zwischenzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Können wir jetzt mit der Analyse beginnen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Der Weg zurück in die Realität oder: Verzahnung der Welten . . . . . . . . . . . . 354 Traumkäfig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 Irrungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 374

Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375

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Prolog

S

ich einer psychoanalytischen Behandlung zu unterziehen, ist das eine; diese Behandlung und deren Auswirkungen zu dokumentieren, das andere. Die Entscheidung, den analytischen Prozess schreibend zu begleiten, fiel unmittelbar nach der ersten Begegnung mit Max Hirtberg, meinem Analytiker. Das war im Spätsommer 2005. Die Datei trug den Namen Das-ist-jetzt-erst-mal-so.doc und stand in der Tradition einer Reihe älterer Dateien, die ich über die Jahre angelegt und denen ich die Aufgabe eines Tagebuches zugewiesen hatte. Zunächst ging es um nicht mehr als das stichwortartige Notieren von Gedanken, wurzelnd in dem Bedürfnis, jederzeit nachvollziehen zu können, ob, und wenn ja, welche Wirkung unsere Gespräche haben würden. Der skizzenhafte Charakter meiner Notizen änderte sich, als ich dazu überging, Hirtbergs Schlüsselsätze wörtlich zu zitieren, weil sie sich wie Mantren in meinem Kopf einnisteten. Bis heute sind diese Sätze für mich von übergeordneter Bedeutung. Langsam, aber kontinuierlich geriet das Schreiben zu einem konstitutiven Element der Therapie. Dies nicht zuletzt, weil es immer wieder Dinge gab, die, so sehr sie nach außen drängten, mir unaussprechlich, in ihrer vermeintlichen Unaussprechlichkeit jedoch zu wichtig schienen, um sie zu verschweigen. So ward das Unaussprechliche präzise beschrieben und hernach Hirtberg zur Lektüre angedient oder auch ihm vorgetragen. Nach etwas mehr als einem Jahr – oder gut einhundert Stunden – drohten meine Notizen ihren zwar liederlichen, aber doch konsequent protokollierenden Charakter zu verlieren und zu verwässern, womit die Realisation der Idee bedroht war, Hirtberg zum Abschluss der Analyse ein möglichst authentisches Verlaufsdokument zu übereignen. In dieser Phase dominierte Unlust, was meine Besuche bei Hirtberg, der Eindruck von Stagnation, was die Behandlung betraf – mit der Konsequenz, dass es ein Höchstmaß an Überwindung und Disziplin bedurfte, wenigstens zwei, drei Sätze festzuhalten. Im Sommer 2008 bewilligte die Krankenkasse die letzten sechzig Stunden, womit mir die Endlichkeit der Therapie drastisch vor Augen geführt wurde. In diesem letzten Jahr nahm das Schreiben eine neue Dimension an und wurde zu einer gleichermaßen faszinierenden Begegnung wie irritierenden Auseinandersetzung mit dem bisher Geschehenen. Um Übersichtlichkeit bemüht, begann ich, meine Notizen zu gliedern und systematisch mit Zwischenüberschriften zu versehen. Und dann habe

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ich gestrichen, gerungen, geschludert, geflucht und gesucht, gespeichert, gelöscht, dokumentiert, rekonstruiert, korrigiert, ja, auch gelacht. Über Hirtberg, über mich. Parallel dazu lief die Behandlung weiter, fand also jener Prozess seine Fortsetzung, der dazu geführt hatte, dass mein Symptom, die anorektische Bulimie, beinahe zur Gänze von einem Leben abgelöst worden war, in dem die zwanghafte Beschäftigung mit Körpergewicht und Kalorien einer Verschiebung der Prioritäten zu Gunsten einer zunehmenden Wachsamkeit gegenüber sozialen und beruflichen Fragen gewichen war. Daran gewöhnt, kunstwissenschaftliche Fachtexte zu publizieren, erlaubte ich mir nun die tollkühne Idee, an eine Veröffentlichung der ganzen Angelegenheit zu denken. Das Schreiben oder besser gesagt: die Arbeit am Text wurde beinahe zum Lebensmittelpunkt, geriet zu einer Parallelwelt, in die ich mich zurückziehen, in der ich schwelgen konnte und in der ich mich bisweilen auch verlor. Systematisch, ja geradezu besessen eignete ich mir »das alles« noch mal an, wie Hirtberg sich ausdrückte, packte »einen Rucksack für später, wenn das hier« beendet sein würde. Ich bereitete nach – und mich gleichzeitig vor, ich materialisierte, verband mich mit Erkenntnissen, Inhalten, Wünschen und Träumen. Nicht nur retrospektiv, sondern auch im Erleben war diese Zeit aus zwei Gründen die intensivste der vier Jahre umspannenden Behandlung: Erstens rekapitulierte ich das Vergangene, betrachtete es aus einem anderen Blickwinkel. Zweitens befand ich mich nun in einem Stadium, in dem es weniger um die Beseitigung eines Symptoms, sondern vielmehr darum ging, mit dem Damoklesschwert des absehbaren Abschlusses der Analyse fertig zu werden, mit dem Ausstieg aus dieser Welt, die mir allein gehörte, mit dem Abschied von meinem Bündnispartner. Das spiegelt sich in den letzten Kapiteln, in denen die Grund- oder Ausgangsproblematik von der Beschäftigung mit dem Ende überlagert wird, mit der Lösung von Max Hirtberg, den ich idealisierte wie einstmals Polyklet Doryphoros: bewusste Entscheidung einerseits, Resultat der Gegebenheiten andererseits, skizziert und geformt nach seinen Vorgaben im Rahmen der Behandlung, dieser Schnittmenge unserer Welten, dem Mikrokosmos, in dem wir uns begegnet sind. Was ich meinem Bündnispartner zur dreihundertelften Stunde am 23. Dezember 2009 überreichen konnte, war kein objektiver, geschweige denn seinem Wesen nach wissenschaftlicher Bericht, kein Fachtext. Weder einer, der sich mit der Psychoanalyse als geeigneter oder ungeeigneter Therapieform bei Essstörungen, noch einer, der sich mit Essstörungen und ihrer Therapierbarkeit befasst – nicht mal einer, der eine ideale Analyse, falls es sie gibt, beschreibt. Es war das Manuskript zu diesem Buch, das andere ermutigen soll, die Reise zum eigenen Ich anzutreten, eine subjektive, in ihrer Subjektivität jedoch absolut authentische Reflexion eines, ja, ich möchte sagen: belebenden Erkenntnisprozesses. Max Hirtberg möge die Niederschrift dieser Geschichte meiner – unserer – Analyse vor allem als Dank begreifen, als Anerkennung und als »Liebeserklärung an die Psychoanalyse«. Die zurückliegenden Jahre waren, was meine bewusste Persönlichkeitsentwicklung betrifft, zweifellos die wichtigsten, auch die effizientesten meines 8 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Lebens. Die Essstörung, mit der ich gekommen bin, stellt sich heute in einer Form dar, die meine Lebensqualität nur unwesentlich beeinträchtigt. Ein Behandlungserfolg, für den ich mehr als dankbar bin. Dem Leser und Max Hirtberg erspare ich an dieser Stelle jeden theoretischen Dilettantismus die Frage betreffend, ob man überhaupt jemals als »geheilt« aus einer Analyse geht. Ein weites Feld, dass Berufenere als ich beackern. Festzuhalten gilt, dass ich auf dem Weg bin, den hier beschriebenen Lebensabschnitt als beendet zu akzeptieren. Ja, ich bin auf dem Weg: ausgestattet – Fluch und Segen gleichermaßen! – mit einem völlig unerwarteten Plus an emotionaler Erlebensfähigkeit, Kreativität und Fantasie. Ein weiterer Behandlungserfolg. Der größte Gewinn jedoch ist, zu wissen und zu spüren, dass die Geschichte über das in der Analyse nicht Gewesene, über das nicht Erlebte, Erkannte, Etikettierte, Gesagte, Gedeutete noch zu schreiben ist. Herr Hirtberg, sagen Sie jetzt nicht: »Sie gehen autonome Schritte und schauen sich um, ob Sie zurückkommen dürfen«. Auch das: eine kostbare, gleichwohl späte Erkenntnis. Sie haben alles – sorry: wohl das Meiste – richtig gemacht. Oder wir. Wie sonst sollte ich mir dieser Defizite, meiner eigenen und derjenigen des analytischen Prozesses, bewusst sein? Der Existenz dieser Defizite bin ich mir bewusst, ihre Inhalte ins Bewusstsein zu bringen, ist Aufgabe – ja, wessen?

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Hirtberg schweigt. Nicht.

F

ünfzig Minuten lang lasse ich mich in unbekannte Sphären führen, spüre weichen Sand unter meinen bloßen, an unnachgiebigen Asphalt gewöhnten Füßen, erahne Weite jenseits aller Mauern, Lebendigkeit jenseits der Starre. Mein angeschlagenes Bild vom Psychotherapeuten erweist sich als korrekturbedürftig: Hirtberg erfasst in dieser knappen Stunde mehr als alle anderen mir bekannten Vertreter seiner Zunft zusammen. Umgeben von einer beinahe magischen Aura, einer Mixtur aus Selbstbewusstsein, Empathie und Leichtigkeit, ist er geradezu prädestiniert, Grenzen der Zeit zu überschreiten, Boden zu bereiten und mein enges Korsett behutsam zu lösen. Mit seinem Charisma, seiner Wortgewandtheit und seinem Sinn für Situationskomik springt er direkt in mein Herz. Die Artistin erschrickt. Viel zu dicht war unsere Verstrickung, um dieses Experiment früher zu wagen, stattdessen halbherzige Kompromisse. Vor einer Analyse hatten wir beide Angst. »Frag deine Freundin Anna nach einem guten Therapeuten«, hatte Vincent am Telefon geraten, als ich im April endlich genügend Mut aufbrachte, ihn zu fragen, was ich, der Artistin überdrüssig, tun könnte. Mir ging es hundsmiserabel, erlebte ich doch seit Wochen nicht einen einzigen Tag, an dem ich mich wie ein normaler Mensch ernährte. »Zentral ist meiner Einschätzung nach eine emotional klärende Behandlung«, sagte er, »vielleicht später sogar eine Psychoanalyse, mit möglichst vielen Stunden. Lass dich auf die Sache ein, erwarte keine schnellen Fortschritte, sei beharrlich. Ganz gleich, was du machst: Es wird lange dauern, mehrere Jahre, und es wird teilweise sehr schmerzhaft werden und vielleicht Änderungen im Privatleben mit sich bringen.« Pause. Änderungen? Was für Änderungen? »Wie du weißt, arbeite ich mit der psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt zusammen. Dort kannst du eine stationäre Akutbehandlung machen«, fügte er hinzu, er würde sich auch dafür einsetzen, dass ich schnell einen Platz bekomme. »Vincent, wie stellst du dir das vor? Ich kann nicht einfach für ein paar Wochen aus meinem Job raus, … obwohl … nun … ehrlich gesagt: Ich bin seit Jahrzehnten reif für eine stationäre Behandlung … Wie lange dauert denn so was?« Statt konkret auf meine herumgestotterte Frage nach der Dauer zu antworten, riet

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er mir von der Alternative ab, mich sofort, also ohne vorherige stationäre Behandlung, einer Analyse auszusetzen. »Diese Idee, Benja, entschuldige, halte ich für ineffizient. Ein Analytiker, der keine umfassenden Erfahrungen und Ambitionen auf dem Gebiet der Essstörungen hat, nützt vermutlich kaum etwas. Am Ende weißt du beim Adlerianer, dass du schon immer einen Minderwertigkeitskomplex und unsinnige Kompensationsbemühungen hattest. Ob sich das auf die Symptomatik auswirkt ist unklar. Am besten, du machst erst mal stationär Verhaltenstherapie, damit du aus dem Teufelskreis herauskommst. Wenn das gelingt, können wir gucken, was danach indiziert ist.« Nicht zuletzt dank meines Hanges zum magischen Denken glaube ich an alles, was Hilfe verspricht. Notfalls an die katholische Kirche, an eine Wallfahrt nach Lourdes, ein purgatives Bad im Ganges oder eine Audienz bei Benedictus XVI. Allem vertraue ich mehr als mir selbst. Innerhalb weniger Tage fiel die Entscheidung zu Gunsten der Klinik, wobei das größte Problem darin bestand, eine Erklärung zu finden, warum ich sechs Wochen im Job ausfallen würde. »Sag deinen Leuten im Job, Quandt und der Königin, du hättest eine Reihe medizinischer Untersuchungen durchführen lassen mit dem Ergebnis, dass dein Hausarzt dringend zu Abklärung und Behandlung verschiedener psychosomatischer Symptome rät. Zu diesem Zweck überweise er dich in eine Klinik in Norddeutschland. Der Aufenthalt dort würde voraussichtlich sechs Wochen betragen. Punkt, aus.« Der Versuch, mir Vincents diesbezüglichen Pragmatismus zu eigen zu machen, scheiterte immerhin nicht zur Gänze; und so verbrachte ich schließlich neun Wochen in Bad Bramstedt. Mit dem Ergebnis, am Ende zwar nicht geheilt, doch endlich reif zu sein für die Analyse, die mir als letzte Möglichkeit noch blieb. Vincent hatte mich gewarnt: »Der Analytiker setzt sich erst mal hin und schweigt. Wenn’s sein muss, fünfzig Minuten lang.« Hirtberg schweigt. Also erzähle ich. Von der Artistin, von Vincent, von Anna, von Silzer, die mir sämtlich, mit Ausnahme der Artistin, nahe gelegt haben, im Anschluss an die stationäre Therapie weiterzumachen. »Und Sie?« Hirtberg bricht sein Schweigen. »Wie, ich?« »Was wollen Sie?« »Ach so. Ich will die Analyse, sehe in ihr den einzigen Weg zu echter Freiheit jenseits aller artistischen Attacken, deren Wurzeln in der Fixierung auf das Essverhalten liegen. Das wiederum verdeckt, was wirklich ist – wie beispielsweise das vage Gefühl, dass in der Beziehung zwischen Timo und mir etwas nicht stimmt.« Vincent redete am Telefon von Scheidung. So weit bin ich noch lange nicht.

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Hirtberg schweigt. Nicht. Er hört mir zu. Das ist etwas ganz anderes. Er lächelt ab und zu, erfasst präzise die Situation einer ihm vollkommen fremden Frau, beschreibt meine Situation am Ende unserer ersten fünfzig Minuten glasklar. An der Tür zum Sprechzimmer das Zitat von Carl Valentin: »Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit.« In meiner Wohnung hocke ich auf dem Sofa. Hirtberg hockt in meinem Kopf. Und Jurij fehlt mir. Es gibt nichts, was ich mehr wünsche, als ein paar Tage wirklich mit ihm zusammen zu sein. Irgendwo, Paris, Moskau, New York, meinetwegen Gelsenkirchen-Buer, mit dem, wie Vincent in Verkennung des Ruhrgebietes meint, Wismar Ähnlichkeit habe. Dort, in dieser pittoresken Hafenstadt, saßen wir, Vincent und ich, noch vor wenigen Wochen, am Vortag der Entlassung aus der Klinik, bei strahlendem Sonnenschein endlos lange am Hafenpier. Mit diesem Erinnerungsbild fällt mir ein Gemälde von Yannik Kryzakovskiy ein, »Hafenpier im Winter«, 1979, was wiederum meine Gedanken zu Jurij führt. Seit langer Zeit höre ich Musik. Laut. R.E.M. Sometimes, everybody hurts, sometimes everything is wrong, hold on, hold on … Meine Gedanken schweifen von Jurij zurück zu Vincent, zu Hirtberg und schließlich zu Timo und Loschad. Als wir uns Anfang der 1980er Jahre kennen lernten, studierte Vincent im achten oder neunten Semester Psychologie und stand kurz vor dem Examen. Ein bedächtiger, im Gespräch insistierender Typ mit einem kaum wahrnehmbaren Flattern der Augenlider, das er bis heute nicht verloren hat. Ich erinnere mich an endlose Spaziergänge, er kannte sich in der Gegend um Münster gut aus, und wir stiefelten auf dem alten Treidelpfad den Kanal entlang bis zu einem im Wald gelegenen Moor, wo sich tote Stämme zackig in den morbiden Winterhimmel bohrten. Wir schlenderten die Werse entlang, die sich durch die westfälische Landschaft schlängelt, gesäumt von gelb und weiß gesprenkelten Wiesen. Wir fuhren hinaus ins Grüne, ins Blaue, redeten und tranken draußen nur Kännchen und ich prokelte Löcher in rot-weiß karierte Kunstfasertischtücher. Auf dem ovalen Tablett aus Edelstahl lag ein Deckchen aus gelblichem Plastik in Häkeloptik. Vincent führte mich in Lokale mit Regionalkolorit und urige Kneipen mit Eichentischen, Butzenscheiben und offenem Kamin, irgendwo weit draußen zwischen Kopfweiden und Acker, auf dessen fettglänzenden Schollen um Allerheiligen der erste Reif schimmerte und Krähen um die Überbleibsel des Herbstes zankten. Stundenlang saßen wir in seiner Wohnung unter dem Dach im Hause seiner Eltern, einem ziemlich spießigen Einfamilienhaus in guter Gegend mit Ligusterhecken, Magnolienbäumen, Rhododendren und Garagenzufahrten aus Waschbeton. Er erzählte von Milton Erickson, Helm Stierlin, Jürgen Habermas, Humberto Maturana, Jürgen Kriz oder Paul Watzlawick. Selten besuchte Vincent mich in meinem Appartement, 12 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

das im Süden der Stadt lag. Meistens lag ich rücklings platt auf seinem Teppich und ließ psychologische Experimente zu, ließ mich faszinieren und in andere Welten tragen von seinen Geschichten, die er mit seiner sanften, bisweilen etwas hellen Stimme erzählte, um die Imagination zu steuern. Nach der Studienzeit verloren wir uns. Es hatte ihn in den Osten Deutschlands verschlagen, rund achthundert Kilometer von Assgart entfernt, meinem Empfinden nach eine schier unüberwindliche geografische Distanz. Innerlich schloss ich mit ihm, mit unserer Freundschaft ab. Nicht weil mir Vincent gleichgültig geworden oder ich seiner überdrüssig geworden war: Es war die Resignation vor dem Raum. An diesem abgelegenen Ort schien Vincent nicht greifbar, nicht einmal im Notfall. Mit dieser – bei genauerer Betrachtung, der ich mich jedoch verweigerte – schmerzhaften Erkenntnis arrangierte ich mich und verfolgte zielstrebig meinen Weg der Unberührbarkeit. Ich schob Gedanken und Gefühle in die Rubrik Vergangenheit und schnürte mein Korsett noch etwas enger. Für welchen der Analytiker, die ich parallel in probatorischen Sitzungen besuche, ich mich entscheiden werde, ist nur scheinbar offen. Nehmen würden mich alle drei. Ob das als Kompliment aufzufassen ist, sei dahingestellt. Achterbach ist überhaupt nicht auf meiner Wellenlänge. Seine Praxis befindet sich im Dachgeschoß, ist folglich mit Schrägen ausgestattet, die dem Ganzen einen sehr engen Rahmen geben. Dieser Eindruck wird durch eine gewisse Makramee-Ästhetik gesteigert, die nicht nur das Ambiente, sondern in subtiler Art und Weise den ganzen Mann umspannt. Der zweite, Hassler, ein soignierter älterer Herr, wirkt sehr akademisch, sensibel, fein und klassisch analytisch. Bei beiden Kandidaten tendiert die Gefahr, mich zu verlieben, gegen null. Hirtberg, der dritte, ist nur wenig älter als ich und so faszinierend, dass ich spätestens am Ende der ersten Begegnung fürchte, meine Gefühle nicht dauerhaft unter Kontrolle zu haben. Er ist frech, direkt und unkonventionell. Ich denke über kaum etwas anderes nach als über die Frage, in wessen Hände ich mein Schicksal legen soll. Das Gefühl zieht mich zu Hirtberg, der Kopf treibt mich zu dem feinsinnigen Akademiker. Zu Hassler. Soll ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen, wo ich doch mit dem Bauch so große Probleme habe? Gerade mit dem Bauch – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. In ihm ist beides: Angst und Mut. Leere und Fülle. Beides ist unangenehm. Ein ausgeglichener Zustand ist mir fremd. Mit Hassler rede ich über Kreativität, über das Malen und Schreiben, erzähle von Jurij und der Artistin. Er fragt nach Träumen, ja sicher, die gibt es! Ich sehe Bilder, nicht Szenen, was ihm einleuchtet: Bilder ließen sich kontrollieren, Handlungen und Szenen weniger. Ganz knapp thematisiert er Religiosität und Glauben. Es ginge künftig um Sinnfragen, sagt er, und darum, das Chaos in mir zu lichten. Einverstanden. Ich will weg von Egozentrik hin zu Übergeordnetem. Nach der dritten probatorischen Sitzung bei dem schöngeistigen Akademiker geht dieser wohl davon 13 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

aus, dass ich mich für ihn entscheiden werde. Er – im Gegensatz zu diesem dreisten Hirtberg – fragt nicht nach den Kollegen, die ich aufsuche, obwohl ich auch ihm gegenüber kein Geheimnis daraus mache. Hirtberg hingegen erkundigt sich unverblümt nach den Namen, die ich ihm, wenngleich widerstrebend, nenne, um es dann doch in Ordnung zu finden. Hassler, der Feinsinnige, spricht schnell über organisatorische und wirtschaftliche Eckdaten: Frequenz drei Mal pro Woche, etwa drei Jahre lang, wobei es immer schwierig sei, das Ende zu finden. Um kassentechnisch Luft zu schaffen, schlägt er vor, dass ich eine Sitzung pro Woche privat bezahle – was ich mir zwar leisten kann, aber auch nicht ohne Weiteres. Die Idee an sich finde ich zwar befremdlich, aber nicht dumm: Ein solches Vorgehen würde ja angesichts der Kassenleistungen, die naturgemäß begrenzt sind, zeitlichen Spielraum schaffen. Er klärt mich auf über die Handhabung von Urlaubszeiten und Ausfallstunden, wobei er immerhin die Kulanz einräumt, dass unverschuldet versäumte Stunden – etwa bei Beinbruch oder Herzinfarkt – nicht von mir bezahlt werden müssten. An seiner Praxis komme ich jeden Tag mindestens zwei Mal vorbei. Hirtbergs Praxis liegt im Süden der Stadt. Der Weg ist etwas weit, Parkplatzprobleme sind vorprogrammiert. Hirtberg schlägt einen Rahmen von zwischen ein- bis dreimal pro Woche vor, je nach Bedarf. Honorare und Kassenleistungen thematisiert er gar nicht. »Ach, die Kassen …« Wegwerfende Handbewegung. Interessiert indes zeigt er sich an den Inhalten der Gespräche mit dem Feinsinnigen. Er ist nicht nur unverschämt und selbstsicher, sondern auch unverblümt neugierig. Er interessiert sich für das Wesentliche. Völlig durcheinander, weiß ich bald nicht mehr, was ich wem erzählt habe, geschweige denn, zu wem ich will. Anna hilft mir bei der Entscheidung, indem sie schlicht feststellt, Hirtberg hätte angebissen, wenn er mir schon weitere Termine gegeben hätte. »Außerdem, Benja, nimm es mir nicht übel, aber du hast dich schon jetzt ein wenig in deinen künftigen Analytiker verguckt.« Anna, ihres Zeichens Kinder- und Jugendanalytikerin, ist sehr direkt. »Nach gerade Mal vier Sitzungen? Du spinnst doch. Wie kommst du darauf?« Meine Entrüstung fällt etwas dünn aus. »Noch leide ich nicht, liebe Anna. Und solange ich nicht leide, bin ich nicht verliebt.« Was ich für mich behalte: Genau vor dem Leiden, dieser unendlichen Sehnsucht, habe ich panische Angst. Ich will das nicht. Kann man nicht irgendwie vorher die Notbremse ziehen? Bevor das Ganze in einer emotionalen Katastrophe endet? Anders gefragt: Was reizt mich an der emotionalen Katastrophe? Dass sie mich reizt, kann ich selbst vor mir nicht verbergen. »Wie ist es Ihnen denn nach der letzten Stunde ergangen?«, fragt der Freche. »Nun, bereits in der zweiten Stunde fragten Sie, wie es mir nach der ersten Stunde 14 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ergangen ist. Meine Antwort war unvollständig, ich kam nicht auf den Punkt. Deshalb habe ich jetzt diese Karteikarte dabei, auf der ich notiert habe, was unter allen Umständen zur Sprache kommen muss.« »Und das wäre?« »Beispielsweise eine Frage, die ich mir eigentlich selbst beantworten könnte … Nun, ich bin unsicher«, druckse ich herum, »also: Wie offen darf oder soll ich sein?« Ohne seine Antwort abzuwarten, lasse ich ihn wissen, dass ich mich bereits bei unserer ersten Begegnung verstanden fühlte, mehr noch: in gewisser Weise durchschaut. »Vor allem, als ich auf das Thema Alkohol zu sprechen kam?« »Ja. Ehrlich gesagt fasziniert mich Ihre Art, Ihre Unverblümtheit, Ihre Ironie und Ihr Humor – was mich, wie Sie wissen, nicht davon abgehalten hat, einige Ihrer Kollegen zu konsultieren.« Mutig entschließe ich mich zu schonungsloser Offenheit, gestehe, dass ich diese Faszination als riskant und bedrohlich empfinde, um sodann, gleichsam relativierend hinzuzusetzen, dass natürlich diese Faszination vermutlich nicht allein seiner Person gilt … »Keine Ahnung«, plappere ich weiter, »ob Sie, Hirtberg, etwas erwarten oder nicht. Ich habe keine Ahnung, ob Sie, bliebe ich stumm, tatsächlich fünfzig Minuten schweigen würden. Das ist unfair: Sie sind Profi – im Schweigen und Aushalten. Können Sie mir nicht wenigstens sagen, ob Sie etwas erwarten, und wenn ja, was?« Die ganze Situation macht mich extrem verlegen, und ich fürchte, dauerte sein Schweigen auch nur eine Minute länger, dass ich kommentarlos den Raum verlassen würde. »Was bezwecken Sie damit? Sie müssen doch merken, dass mir das unangenehm ist. Noch etwas: Sie fragten, ob die Symptomatik nach den Besuchen bei Ihnen oder Hassler intensiver oder in zeitlichem Zusammenhang aufträte, was ich verneinte. Warum? Weil mir die Courage fehlte, zuzugeben, dass dem so ist … Es wird immer extrem schwierig sein, über diese Sache zu sprechen. Es ist wichtig, dass Sie verstehen: Es ist der peinlichste, der delikateste Punkt in meinem Leben – dicht gefolgt von Sex. Alkohol und Medikamente – Sie fragten nach der Quantität: Glauben Sie mir nicht? Ich bin clean.« Seine Mimik studierend frage ich mich, warum er auf dem Bild im Internet jünger aussieht als in Wirklichkeit, mit dem vorläufigen Ergebnis, dass es daran liegen wird, dass man das Foto angeschnitten hat, seine Augen und sein Lächeln damit bildbestimmend sind. »Ist irgendwas?«, fragt er und reißt mich aus dem Tagtraum. Fühle mich ertappt. Darüber vergesse ich, ihn zu bitten, die Indikationen für die Behandlung noch mal zusammenfassen. Da gibt es den Komplex um Schuld und Scham, was war noch? Sexualität? Und mein Pferd, Loschad? Oder wie? Tränen tropfen auf die Tastatur. Seit langer Zeit weine ich. Etwas bemüht noch, aber 15 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

immerhin. Sehne mich zurück nach dem, was mit Timo war. Ich meine, ihn zu lieben, begehre aber den Körper, den er früher hatte. Mir fehlt schon lange jede Lust auf Sex mit ihm. Das einzugestehen schmerzt umso mehr, als gleichzeitig mein Inneres nach Jurij kreischt, der anruft, um mich zu überreden, nach Brüssel zu kommen, wo er im Musée des Beaux Arts einen Vortrag halten wird. »Gott sei Dank, Wenja, chabe schon mehrmal angerufen, aber du warst nie zu Chause«, brüllt er, kaum das ich mich melde, »chörrrr bitte zu, du musst kommen, ich chabe dein Einladung, bitte komm …« »Ach, ich weiß nicht …« Warum sage ich nicht einfach: Jurij, du kannst mich mal? Sehne mich, will aber hart sein, ihm heimzahlen, dass er in all den Jahren nie Zeit und kein wirkliches Interesse an mir hatte. Vielleicht finden wir uns, eines Tages, wenn er endlich kürzer tritt … Aber dann ist da Bernie, seine Frau, die ihn auch will, und Timo, der mich will und den, so versuche ich mir einzureden, ich noch immer liebe. Auf die Fahrt nach Brüssel verzichte ich und begleite stattdessen Timo zum Geburtstag meiner Mutter, die den etwas altmodischen Namen Dietlinde trägt. Es geht mir um ihn, Timo, nicht um meine Mutter. Nach Brüssel zieht es mich sowieso nicht, und mich in Frack und Fummel werfen? Nein, ich will das alles nicht. Was ich will, ist Jurij. Aber nicht um den Preis des bettelnden, kostümierten Hündchens. Ergebnislos grübele ich, wie ich mir den Zensor, den Hirtberg ins Feld führt, konkret vorzustellen habe. Ein Zensor, der von mir verlangt, mich so oder so oder anders zu verhalten, der mich ständig straft, der viel zu viel und obendrein das Falsche von mir verlangt? Es gelingt mir nicht, den Zensor von mir abzukoppeln. Er ist ich. Der Zensor und ich, wir sind wie siamesische Zwillinge miteinander verwachsen. Allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass wir es nicht von Geburt an, sondern dass wir, der Zensor und ich, ursprünglich eigenständige Individuen waren. Wessen Forderungen habe ich so internalisiert, dass ich dem Trugschluss aufsitze, es seien meine eigenen? Sind diese Forderungen überhaupt jemals explizit formuliert worden? Zerrissen in der Mitte des Lebens, traurig, unglücklich. Die Artistin hat mich längst eingeholt, was ich Vincent, mir selbst und auch Silzer, meinem Bad Bramstedter Bezugstherapeuten, dem ich versprochen hatte, von mir hören zu lassen, nicht verschweige. Es sei der Verdienst der Verhaltenstherapie, schreibe ich ihm in einer Mail, dass jetzt endlich ich bereit sei für die Analyse, in der ich lerne wahrzunehmen und zu weinen, Musik zu hören und zu schreiben, statt mit Atosil Gefühle zu töten oder der Artistin zu erlauben, Brot nachzuschieben, dass ich Loschad nach Liefem holen und wieder reiten werde, obschon Timo vor der zeitlichen und emotionalen Belastung warnt, die auf mich zukommen wird, weil ich ebenso wenig wie früher ertragen werde, 16 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

dass Loschad, statt auf üppigen Weiden mit Stuten zu flirten, im Stall herumsteht und auf mich wartet. Was Timo betrifft, komme ich nicht umhin, mir sehr gemischte Gefühle einzugestehen. Es tut weh und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll, dass ich an ihm hänge, er aber nicht mit mir redet, jedenfalls nicht richtig. Timo widersetzt sich konsequent einer ernsthaften Auseinandersetzung. Ich erkläre mich bereit, mit ihm wandern zu gehen – er wandert gern. Ich hasse wandern. Verlange, als Gegenleistung sozusagen, dass er endlich kreativ wird, fordere ihn auf, sich vorzustellen, was passiert, wenn wir uns nicht aufeinander zu bewegen: nämlich nichts. »Lass uns im Gespräch bleiben«, sage ich. »Unsere Probleme löse ich nicht allein mit meinem Analytiker. Mit dieser Annahme machst du es dir zu leicht.« Timo bildet seit sechzehn Jahren ein Gegengewicht zu meinen Sehnsüchten und innerem Aufbegehren, bewahrt mich vor Risiken, schützt mich vor dem, was sein kann, aber nicht sein darf. In ihm finde ich Ergänzung und Widerpart, Unterstützung und Herausforderung. Wir geben uns Geborgenheit und Sicherheit und fühlen uns verantwortlich, einer für den anderen. Wir planen unser gemeinsames Alter – so mich denn die Artistin nicht vorzeitig ins Gras zu beißen zwingt – und sorgen in gutbürgerlicher, konventionell-ehelicher Manier vor: Timo hat ein Mehrfamilienhaus in Jena kernsarniert und gut vermietet. Möglich, dass wir uns eines fernen Rententages in den Osten der Republik absetzen werden. Ein hübsches Haus in attraktiver Wohnlage, erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Jugendstil, nachweislich und eindeutig. Mit wachsender Begeisterung und Sinn für ökonomische und ökologische Fragen kümmert sich Timo um Sparverträge, Geldanlagen, Zusatzrenten, Fördermittel. Wir träumen von einer kleinen, feinen Chocolaterie oder einem intellektuell angehauchten Café, in dem die Musik ausschließlich von Schallplatten käme und das gleichzeitig als Galerie für möglichst abgedrehte Kunst fungieren soll. Ich jedenfalls träume. Für Timo dann gleich mit. Doch neben aller Freiheit und Gleichklang der Seelen brauche ich Lebendigkeit, Flexibilität, Fantasie und Kreativität. Ich wünschte mir einen Timo, mit dem ich schöpferisch sein würde, mit dem sich ein gemeinsames Buchprojekt realisieren, ein Resthof restaurieren oder eine Galerie betreiben ließe. Selbst schwimmen, laufen, kochen, stricken, was weiß ich, würde mir gefallen. Nur wandern eben nicht. Das Wochenende habe ich für mich allein. Mit meinem kleinen Therapeuten – Loschad – verfüge ich mich in den Liefemer Wald und erzähle ihm, wie übel die Artistin mit mir spielt, wie sehr sie mich in ihrer Gewalt hat, dass sie nun auch noch meinen Körper ins Visier nimmt, meinen Rachen zum Bluten bringt. Später, in der Box, erzähle ich ihm von Hirtberg. Loschad genießt das Rascheln trockenen Laubes und hört aufmerksam zu, ohne 17 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

etwas zu entgegnen, mich zu unterbrechen, mir Ratschläge zu erteilen, Richtlinien vermitteln zu wollen. Lässt sich die Mähne kraulen und schnaubt, als ich ihn zum Galopp auffordere, buckelt zweimal, sammelt sich dann und zieht an vor dem Baumstamm, der, quer liegend, uns den Weg zu versperren scheint, setzt über und ich fühle seinen Stolz, obwohl es für ihn keine große Leistung ist. Aber er ist stolz, kann Stolz empfinden. Im Gegensatz zu mir, die vor lauter Schuldgefühlen und innerer Unsicherheit die positiven Aspekte in der Beziehung zu Timo nicht sieht: Er restauriert die Holzfenster seiner Genossenschaftswohnung und ich gehe mit Loschad in den Wald. Ich male mir in meinem neuen Kelleratelier die Artistin vom Hals. Wo ist das Problem? Ist es Dietlindes Stimme, die sich suggestiv erkundigt, ob das eine intakte Beziehung sei? Sind es die Stimmen der Medien, die der Psychologen und ich weiß nicht von wem, die mich glauben machen wollen, eine Beziehung sei nur intakt, wenn möglichst viel gemeinsam gelebt wird? Gebricht es mir an Mut und Selbstbewusstsein, unsere Beziehung nicht als solche in Frage zu stellen, sondern sie zu leben in eben den Zeitfenstern, die sich uns öffnen? Oder gebricht es uns an Liebe? Mit Hirtberg lässt sich so wunderbar lachen! Sein staubtrockener Humor geht Hand in Hand mit einem ausgeprägten Sinn für Ironie und Situationskomik – was bleibt ihm in seinem Job auch anders übrig. »Ich konsultiere Sie nicht, um mich zu amüsieren.« »Vergnügen gehört nicht hierher? Wir sind ja auch nicht zum Spaß auf der Welt. Erst die Arbeit, dann, wenn überhaupt, das Spiel.« »Trotzdem, ich fürchte, die Sache hier nicht mit hinreichender Seriosität anzugehen. Wie kann ich sicher sein, dass Sie mich und meine Sorgen und Probleme so ernst nehmen, wie Sie mir sind?« Mir ist es wichtig, ganz klar zu machen, dass es um eine Symptomatik geht, deren Behebung als Resultat unserer Psychochirurgie im Mittelpunkt zu stehen hat. »Ich möchte, Hirtberg, den Eindruck vermeiden, etwas auf die leichte Schulter zu nehmen. Ich möchte Ernsthaftigkeit. Weder vordergründige noch tatsächliche Vergnügtheit bedeutet, dass Vergnügungssucht Motivation zur Analyse ist. Ich komme nicht mit dem Ansinnen, mich zu vergnügen!« Vergnüge mich aber trotzdem. Wir reden über Jurij, oder besser: Ich erzähle, dass ich ihn jahrelang entsetzlich entbehrte, wie ich schreien wollte und weinen, toben und mich in der Luft zerreißen. Und wie ich, statt Letzteres zu tun, Schokolade in mich hinein stopfte, Kekse, Brot, mich des altbewährten Verhaltensmusters bediente, Wut, Enttäuschung und Ungeduld herunterschluckte. Während ich mich stopfend selbst betäubte, glaubte ich zu wissen, warum ich es tat und versuchte zu spüren, wie der Schmerz unerfüllten Begehrens der Betäubung wich. Während Timo Pakete für den Hermes-Versand austrug, starrte ich auf den Fern18 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

sehbildschirm und folge halbherzig den flimmernden Bildern aus einer besseren Welt. Statt zu verstehen, ging ich ins Bad und entledigte mich meiner Betäubung. Ich erzähle von einem typischen Abend, an dem ich verdrossen Mineralwasser und eine Flasche Bier für Timo aus dem Keller holte und bei der Gelegenheit auf meine ersten russischen Lehrbücher stieß: bebilderte Fibeln, anhand derer ich mir autodidaktisch die Schrift und die einfachsten Redewendungen beigebracht habe. Im Fernseher lief eine meiner Lieblingsserien, nach kaum zehn Minuten schaltete ich den Apparat aus: Selbst trivialsten Handlungssträngen zu folgen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Andere Leute lösen Kreuzworträtsel oder lernen Adressverzeichnisse, rückwärts gelesen, auswendig, um sodann bei »Wetten, dass …?« zu brillieren. Ich lernte Kalorientabellen auswendig und russische Vokabeln. Es ging alles viel zu langsam, Ungeduld machte mir zu schaffen. Jahre später gab ich auf. Bis heute bin ich der russischen Sprache nicht mächtig. Während die Hoffnung ungebrochen war, schwand der Glaube, dass Jurij anrufen würde, von Minute zu Minute. In diesem Gefühlscocktail aus Zorn, Enttäuschung und Ungeduld konnte nur Arbeit helfen. Entschieden schmiss ich mich aufs Sofa, korrigierte missmutig schlecht lesbare Druckfahnen und versuchte mich zu beruhigen, indem ich mich auf die Bedeutung der Organisation besann, in deren Auftrag immerhin ich dies tat: Sie würde mir noch viele Möglichkeiten, meine Lust auf die Welt zu befriedigen, bieten und dem Willen, Verantwortung zu übernehmen, Rechnung tragen. Dass dem nie so sein würde, ahnte ich nicht. Russland stand für eine unendliche Sehnsucht nach einem aufregenden, anderen Leben, für Lebenslust, Unabhängigkeit, Freiheit, Erleben, stand für do what you want wherever you want. Ich kostete jede Form von Abwechslung in vollen Zügen aus, war ungeheuer neugierig, beobachtete das Petersburger Leben, als hätte man mir soeben eine Augenbinde abgenommen. Oft wünsche ich mir jemanden, der ähnlich guckt und denkt und fühlt, jemanden, der weniger passiv, rezeptiv und konservativ ist als Timo. Jurij entspricht diesem Bild: aktiv, mutig, kreativ, ständig unterwegs, voller Tatendrang. Ich webte mein eigenes Netz von Vorstellungen aus kaleidoskopartigen Teilkenntnissen der russischen Kultur, der Lektüre von Zeitungsartikeln und Romanen. Dostojewski, Nabokov, Bulgakov, Gorki. Nicht eine TV-Reportage ließ ich aus, Gerd Ruge war deutlich präsenter, als mein Vater es je war. Meine Fantasie spazierte durch eine mentale Tundra, die mir allein gehörte. Die innere Anspannung sank in dem Maße, in dem ich begriff – ein Prozess übrigens, der sich über Jahre hinzog –, wie die Geschichte zwischen diesem Russen und mir lief: nämlich gar nicht. Ich wollte ihn nicht aus meinem Leben verbannen, als reale Person jedoch wollte ich ihn auch nicht unbedingt. Was ich wollte, war diese Geschichte. Ganz für mich allein. Deswegen ist es so schwer, der Geschichte ein Ende zu setzen. Ich halte sie fest, die bittersüße Fantasie und bewege mich frei darin herum, wann immer es mir langweilig ist. Es war mein 19 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Geheimnis, doch ich weiß, es war nur eines: Das Leben hält genug davon parat, ich werde immer eines für mich finden. Augen auf und Mund zu. Wäre die Artistin nicht so viel früher als Jurij auf den Plan getreten, läge die Vermutung nahe, ihre Existenz stünde in ursächlichem Zusammenhang mit Jurijs Erscheinen – und dem damit verbundenen Gefühlschaos. Andersherum wäre natürlich darüber zu spekulieren, ob sie sich, gleichsam frustriert angesichts einer Partnerschaft in vermeintlicher Totalharmonie, verzogen hätte, wäre nicht Jurij aufs Parkett gekommen. Dieser laienpsychologische Ansatz ist mir allerdings in seiner geballten Banalkausalität zu schlicht, abgesehen davon – und jetzt kommt’s – sträubt sich in mir alles, dies zu glauben, weil es in Konsequenz bedeuten würde, einen von beiden in die Wüste schicken zu müssen. Übrig bliebe ich allein, die Artistin hätte auch nichts mehr zu tun. Fakt ist: Neben Timo gab es jemanden, mit dem mich zunächst nichts als Berufliches verband. Jurij und ich wurden zu einem guten Team, verschachern uns gegenseitig Aufträge, realisieren Buch- und Ausstellungsprojekte und halten uns auf dem Laufenden über das, worüber die Szene munkelt, wobei Jurij derjenige mit dem ultimativen Plus an mehr oder weniger aufregenden Informationen ist. Unsere persönliche Beziehung bewegte sich quantitativ auf einem Level, das sich bequem verschweigen ließ.

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Begegnung mit dem Zensor

W

ährend ich über den Zensor nachdenke, den abzuspalten – um zu erkennen, wo mein Über-Ich agiert – mir partout nicht gelingen will, fällt mir auf, dass ich an anderer Stelle bereits eine Abspaltung praktizierte: indem ich die Artistin erschuf. Der Kampf gegen meine eigene Schöpfung hat eine neue Dimension gewonnen, besiegt ist sie damit noch nicht. Die Artistin beobachtet mich aus dem Hinterhalt, grinst hämisch und zwackt mir in den Hüftspeck. Das schmerzhafteste Wort, das Hirtberg an diesem Tag gebraucht, ist Verwahrlosung. Das Schlüsselwort ist Bestandsaufnahme. Erst mal gucken, was ist. Sein Eindruck: Intimität gebe es zwischen Timo und mir nicht. Meiner ist anders, aber darüber werden wir noch sprechen. »Timo ist zu dick«, würge ich das Unsägliche hervor. Nicht genug, dass ich mich für meine eigene vermeintliche Dickleibigkeit schäme, ich schäme mich auch noch für die meines Partners. »Angenommen, er wäre bis März wieder knackig und stellte dann entsprechende Forderungen. Vielleicht wird es Ihnen gar nicht recht sein. Sie haben ein Arrangement«, stellt Hirtberg sachlich fest. »Wenn Sie verrückt wären nach dem Mann und er nach Ihnen: Sie fänden einen Weg, zusammen zu leben.« »Wir wollen das aber nicht.« Was wollen wir eigentlich? Ein Paar sein? Freunde? Ein erneuter Versuch, mit Timo zu reden, ist fällig. Mir ist alles zu viel. Tatsächlich: alles. Einerseits erschlagen von Problemen, die sich in den verschiedenen Themenkreisen wie Partnerschaft, Sex, Job, Pferd, Kreativität verbergen, will ich andererseits alle, am besten sofort, lösen, was Hirtberg durch seine Gesprächsführung allerdings effektiv zu verhindern weiß: Jedes Detail gerät zum Selbstläufer, zu einem in sich wiederum verzweigten Komplex. Die großen Themen gehen unter. Erst mal. »Da ist er, der innere Zensor«, triumphiert Hirtberg, »Ihre Probleme bleiben ungelöst, Sie müssen auch hier etwas leisten, wir sind ja schließlich nicht zum Vergnügen hier … eine sehr protestantische Weltsicht übrigens. Sie haben noch keinen roten Faden.«

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Natürlich höre ich den Vorwurf: Sie haben ja immer noch keinen roten Faden! »Meine Aussage ist wertfrei: Sie haben noch keinen roten Faden. Punkt. Nicht mehr und nicht weniger. Ich helfe Ihnen jetzt mal: Es gibt zwei Ebenen, auf denen Sie sich bewegen, mit denen Sie agieren. Die eine ist die des authentischen Ichs, die andere die des Über-Ichs, die der Zensor als seine Plattform nutzt …« »… und auf der rede ich in der zweiten Person Singular: Du hängst vor dem Fernseher, anstatt zu malen, zu reiten, zu lesen oder sonst etwas Sinnvolles zu tun.« »Was ist denn so sinnvoll am Malen, Lesen oder Reiten?«, fragt Hirtberg und bringt mich damit massiv ins Schleudern. »Weiß ich nicht … Es kommt etwas dabei heraus.« »Was denn?« »Nun, Lesen beispielsweise dient der Bildung – vorausgesetzt, die Lektüre ist von entsprechendem Niveau –, Reiten der Konstitution des Pferdes, vielleicht auch meiner eigenen … Beim Malen entsteht bekanntlich ein Bild. Das kann man im Gegensatz zu Bildung und Körperkonstitution auch noch sehen und anfassen. Jedenfalls handelt es sich am Ende um eine messbare Leistung oder um ein bewertbares Produkt. Fernzusehen indes macht dick, doof und träge, aber was erzähle ich Ihnen …« »Das sagt der Zensor. Was sagen Sie denn dazu? Was sagt Ihr authentisches Ich?« »Weiß ich auch nicht.« Um nicht völlig sprachlos dazusitzen, versuche ich zu formulieren, was ich nur schemenhaft und äußerst formlos wahrnehme: die enge Verknüpfung nämlich von lustvollem Erleben – beispielsweise im kreativen Tun – und dem gleichzeitigen Gefühl der Verpflichtung zum Schreiben, zum Lesen, zum Reiten und letztlich auch zum Lieben. »Der innere Zensor verlangt die systematische Abarbeitung eines vorgeschriebenen Programms«, übersetzt Hirtberg mein Gestammel. »Die von Ihnen beschriebene Verzahnung entspricht der Verkoppelung von Ich und Über-Ich. Ihre Über-Ich-Strenge überlagert alles, auch das lustvolle Erleben.« Beeindruckt von seiner klaren Sicht auf die Verhältnisse sitze ich stumm und staunend da. »Jetzt haben Sie den roten Faden«, sagt er und lächelt mit den Augen. »Das ist der rote Faden, um den es immer wieder, in allen anderen Themenbereichen, gehen wird. In unserer Begegnung projizieren Sie die Erwartungen und Anforderungen Ihres Über-Ichs auf mich, womit Sie den Zensor externalisieren. Unter psychohygienischen Gesichtspunkten ist das positiv: Die extrem enge Kongruenz von Ich und Über-Ich ist damit zumindest temporär und partiell aufgehoben, wodurch es möglich wird, die Identifikation des Ich mit dem Über-Ich zu hinterfragen. Projektion und Übertragung bedeutet Entlastung des Ich, indem Sie die Forderungen des Über-Ichs als Forderungen Ihres Gegenübers interpretieren, womit sie, die Forderungen, außerhalb Ihrer selbst sind.« »Hmm, möglicherweise handelt es sich ja so gesehen bei dem magischen Denken um eine erfundene und irrationale Größe außerhalb meiner selbst, um eine Art Kontrollinstanz?« 22 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wir kommen nicht mehr dazu, das Thema zu vertiefen. »Ist es in Ordnung, wenn ich Ihnen per Mail zukommen lasse, was ich über mein magisches Denken geschrieben habe?« »Ja. Das ist in Ordnung. Wenn es ein längerer Text ist, werde ich den Zeitaufwand zur Lektüre als Stunde verrechnen«, fügt er hinzu und greift damit meinen Vorschlag auf, das so zu handhaben. Ein Fest im Stall, der Mais steht hoch und schützt, stolpernd in den Sonntag. Frühstück in der Sonne, dann: allein. So wohlig müde nach dem Reiten, so schwer, so leicht – zugleich. Die Blutung, Erklärung und Markstein in der Grübelwüste. Heiligenkalender, Gedenktage. Schwarz, kraus, rau. Krude Suche nach einer magischen Legitimation für den Anfang eines selbstbestimmten Lebens: ab Neujahr … Weihnachten, Ostern, Geburts- und Namenstag – Augen auf, es gibt doch mehr: Allerheiligen, Pfingsten, Himmelfahrt, Fronleichnam, Geburts-, Namens-, Weltspar-, Weltfrauen-, Weltgesundheitstag, Tag der Deutschen Einheit, Nationalfeier- und persönliche Jahrestage, singuläre Ereignisse, die sich jähren oder ob ihres einzigartigen Charakters unvergesslich sind, erster, zweiter, dritter, vierter Advent … Jeder Feiertag verfügt über Erinnerungspotenzial und magische Kräfte, Reformationstag, datumsgleich mit Halloween, Allerheiligen, Allerseelen, Totensonntag … Zahlen, Diagramme, ja grafische Muster, die sich aus der tabellarischen Visualisierung von Gedanken und Handlungen ergeben. Das Gelingen eines Tages hängt davon ab, ob sich der Haken in der grafisch-tabellarischen Dokumentation des Essverhaltens ästhetisch plausibel zu anderen Zeichen – etwa denen einer Sporteinheit – verhält. Rote Punkte für das Blut, Haken für jeden Sieg in rhythmischem Wechsel mit blauen Punkten für jede Niederlage. Nichts passt: weder ein Haken noch ein Punkt und am allerwenigsten die Jeans. Je häufiger die Siege, umso zwanghafter das verzweifelte Zerren am Netz von Absolution und Vergebung – ein Gedanke, der mir im Schwimmbad, Bahn 68, kommt, Stöpsel im Ohr, nichts hören als den Herzschlag, Chlor in den Augen, nichts sehen als das Blau und fühlen, auf der Haut, am Körper, so leicht, nichts als das Wasser … Das bittersüße Spiel mit Ereignissen und Zahlen – mentales Stützgerüst, es hält und schützt. Obschon der Suche nach Daten und magischen Zusammenhängen extrem überdrüssig, versuche ich zu eruieren, wie lange das genau mit der Artistin schon geht. Weil mir der Beginn des Dilemmas nur schemenhaft in Erinnerung ist, krame ich alte Tagebücher hervor. Doch so sehr ich mich auch mühe: Das Datum, an dem eine Entdeckung zum Auftakt eines Jahrzehnte dauernden Martyriums geraten sollte, hat sich aufgelöst in einer Erinnerung, die keine ist. Den Recherchen zu Folge gab es im Sommer 1982 bereits massive Verhaltensauffälligkeiten, idealer Nährboden für eine sich schleichend und heimtückisch entwickelnde bulimische Symptomatik. »Waren Sie am Montag im Krankenhaus?«, erkundigt sich Hirtberg unvermittelt, so dass ich zunächst überhaupt nicht verstehe, worauf er hinaus will. 23 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Warum? Ich weiß nicht … Nein, war ich nicht.« Im Geiste prüfe ich sicherheitshalber, ob ich wirklich nicht im Krankenhaus war. Es hätte ja sein, ich einen Filmriss haben können … Hirtberg hat meine Notizen tatsächlich gelesen, es darf natürlich keine Kollision geben – darauf will er hinaus: Offiziell, also zur Abrechnung für die Krankenkasse, hatten wir einen Termin. Auf der Couch liegt der Ausdruck, rote Schrift. Ich frage mich, ob es von Bedeutung ist, dass er die Farbe nicht geändert hat, so wie er mich zuvor fragte, ob es eine Bedeutung hätte, dass ich in Rot geschrieben habe. »Sie verschaffen sich Stabilität und Sicherheit durch Ihr magisches Denken, weil Sie sich selbst nicht vertrauen. Haben Sie heute Abend einen Essanfall?« »Ich weiß nicht.« »Waren Sie am Montag im Krankenhaus? Sie vertrauen sich selbst nicht.« »Deshalb trage ich dieses magische, mentale Korsett, anderenfalls würde ich zerfließen, meine Grenzen würden sich auflösen. Das magische Denken hält mich, schützt mich davor, mich komplett zu verlieren, dämpft allzu große Anspannung.« »Achten Sie doch mal auf Ihre Atmung, wenn Sie wieder so angespannt sind, und machen Sie sich das Atosil zunutze, das Silzer Ihnen verordnet hat.« »Wie kommen Sie denn auf den Quatsch? Das passt überhaupt nicht zu Ihnen.« »Was?« Na, mir eine konkrete Handlungsanweisung zu geben, noch dazu eine, die ich mehr als befremdlich finde. Sorry, Sie sind doch kein Verhaltenstherapeut. Na ja, wie dem auch sei, nein, ich möchte das Zeug eigentlich nicht, weil es extrem müde macht. Es geht nicht von jetzt auf gleich. Es ist, wie es ist. Hirtberg, mir ist das alles zu viel, was Sie machen. Was hier geschieht, ist ein gigantischer emotional overkill. Ich kann nicht so schnell …« Ich fühle mich gehetzt. Hirtberg ist es nicht, der mich hetzt. Im Gegenteil. Ruhig abwartend sieht er mich an. »Und jetzt müssen Sie hier auch schon wieder was leisten … Wissen Sie, wann Sie geheilt sind? Wenn Sie herkommen, sich hinsetzen und sagen: Ach, heute habe ich gar nix Besonderes, jetzt bin ich erst mal da und das ist schön und dann sehen wir, was es sonst noch gibt.« Dem Universum bin ich näher als dieser Gelassenheit! »Der innere Zensor sagt: Wenn du jetzt nicht …, dann bist du im Alter einsam, wenn du jetzt nicht bei Timo sein willst, kannst du gleich zum Scheidungsanwalt!« »Und dazwischen gibt es nichts?« Ich beneide ihn um seine Fähigkeit, scheinbar komplexe Sachverhalte auf eine geniale Art und Weise herunterzubrechen, auf das, was sie sind, nämlich oft genug ganz simpel. »Wie machen Sie das?« »Ich oszilliere lediglich zwischen Identifikation und Distanz«, erklärt er. »Und: Es geht nicht um Timo. Es geht darum, wie Sie mit Ihrem Gewissen umgehen. Vielleicht 24 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

betrachten Sie es erst mal, werden ruhig, identifizieren den inneren Zensor und gehen dann adäquat mit ihm um.« Eine interessante Strategie. Hoffentlich lerne ich im Laufe dieser Veranstaltung, wie mit einem Zensor adäquat umzugehen ist. »Wo ist der rote Faden geblieben?«, frage ich, als es plötzlich um meinen Umgang mit Nahrungsmitteln geht. »Vordergründig ist es Ihr Umgang mit Nahrungsmitteln, tatsächlich – hintergründig, wenn Sie so wollen – geht es um Fülle.« »Allein das Wort – Nahrungsmittel – verursacht das quälende Gefühl des Vollseins.« »Es geht nicht um physische, sondern um geistige und seelische Fülle, die sich in Form von Gedanken, Ideen und Gefühlen ausdrückt, die im kreativen Prozess eine Transformation erfährt und als Text oder Bild Gestalt gewinnt. Damit kann man sich dann auseinandersetzen.« Die sich assoziativ aufdrängende Parallele zum physiologischen Verdauungsprozess von Nahrungsmitteln bringt mich nicht weiter. Trotzdem fühle ich mich in meiner ganzen Abgedrehtheit auf eine sehr diffuse Art und Weise verstanden, ernst genommen. Hirtberg bringt mir Respekt entgegen. Es ist etwas in Bewegung gekommen, wogt in mir und wabert wie Nebel um mich herum. Ein Effekt von gerade mal zehn, zwölf Stunden? »Wenn das so weitergeht, bin ich die Artistin schneller los, als mir lieb ist, und verliere mit ihrem Verschwinden jede Legitimation, mit Ihnen zu reden.« »Ist das nicht so ähnlich wie mit Ihrem Essverhalten? Kaum geht es ein paar Tage gut, wissen Sie nicht mehr, worum Sie kämpfen sollen. Ihr Denken ist bestimmt vom Ringen um Gesundheit, gleichzeitig fürchten Sie die Normalität. Sie wollen etwas, das Sie aber doch nicht wollen.« Noch mal: Wo ist der rote Faden geblieben? Zu Hause setze ich mich an den Rechner und wühle mich durch Dateiverzeichnisse. Gut organisiert und dank einer gewissen Zwanghaftigkeit finde ich mühelos das Gesuchte. Manche Dateien sind so alt, dass ich sie erst konvertieren muss. Doch, hier habe ich sie digital, fortgesetzte Versuche, den Hintergründen meiner Neurose auf die Spur zu kommen. Natürlich wird das ganze Elend in der Kindheit wurzeln, doch offenbar verfügte keiner meiner Therapeuten über geeignetes Werkzeug, um tief genug zu graben. Was mir blieb, war Resignation auf der ganzen Linie. Erst mal. Noch wenige Monate bevor ich mich entschied, in die Klinik zu gehen, waren mir die Ursachen schnuppe, die Suche zu anstrengend, die Ergebnisse zu wenig konkret. Die Artistin fürchtete ihren Rausschmiss, riet mir von jeder wie auch immer gearteten Therapie nachdrücklich ab und ich pflichtete ihr nur zu gern bei. Außer der Essstörung hatte ich keine nennenswerten Probleme. Vor dem Hintergrund dieser Überzeugung konnte ich keinen Therapeuten gebrauchen, der in meinem Inneren herumbuddelt 25 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und sucht und schürft und mich zu allem Überfluss auch noch auffordert, mich an der archäologischen Grabung zu beteiligen, zumal ich zu wissen glaubte, dass es – abgesehen von einer chronifizierten, automatisierten Verhaltensauffälligkeit irgendwo zwischen atypischer und anorektischer Bulimie – nichts zu finden gibt. Ich hielt meine Kindheit, meine sozialen Kontakte und meinen Job für einigermaßen in Ordnung. Wo soll ich da herumgraben? Eher war ich geneigt, ein Seminar zum Thema »Erfolg ist machbar« zu besuchen. Oder »Disziplin für jedermann«. Die gängigen Faktoren – sexueller Missbrauch, körperliche Gewalt, mangelnde Zuwendung, Verwahrlosung – spielten meiner Meinung nach keine Rolle: Ich erinnere mich an meine Hunde, an Reitstunden, Ferien am Mittelmeer, Skilaufen in den Alpen, an die dampfende Portion Pommes frites, die wir, meine Geschwister Josephine und Frederik zusammen mit Mama Dietlinde, nach dem Schwimmen im Hallenbad am Mittwochabend im Auto aßen. Die Scheiben beschlugen, draußen dämmerte es und Dietlinde kann bis heute nicht schwimmen. Behütete Kindheit. Das wohlgemeinte Behüten geriet bereits in meiner kindlichen Wahrnehmung zum Kettenhemd, zu jenem diffusen Gefühl permanenter Unfreiheit, das wie ein Schatten über allen Erinnerungen liegt, von der elterlichen Kontrolle ganz zu schweigen: Regelmäßig wurde mein Schulranzen ausgekippt, der Kleiderschrank ebenso inspiziert wie jede kleine Hautunreinheit. Dietlinde kontrollierte im wöchentlichen Turnus das Gewicht sämtlicher Familienmitglieder und protokollierte es penibel. Obwohl es mir sinnlos erschien, irgendwelche psychosozialen Strukturen aufzudröseln, hegte ich den Verdacht, dass im goldenen Käfig einiges schief gelaufen ist. Nägel gekaut habe ich und Josephine ist bis heute latent magersüchtig. Diverse Therapeuten pulten einiges aus mir heraus – und? Die Artistin ließ nicht locker. Ich kotzte immer noch. Bewältigungsstrategien, die mir angemessen scheinen, wird kein Therapeut dieser Welt freiwillig formulieren. Außer Hirtberg. Nicht ein einziges Mal wird er am Essverhalten herumzuschrauben versuchen. Keine Tipps und Kniffe. Keine Nährmittelkunde. Keine Ausgangssperre. Kein Mindestgewicht. Kein Wiegetag. Kein Druck. Sie können damit hundert Jahre alt werden, wird er sagen. Seit mehr als zwanzig Jahren esse ich jenseits artistischer Übergriffe extrem kontrolliert: gerade genug Kalorien, wie zum Erhalt eines Gewichtes, das sich im normalen Rahmen bewegt, benötigt wird. Analog einschlägiger Empfehlungen achte ich auf die Zusammensetzung der Nahrung. Dass die Energiebilanz unterhalb rechnerisch zu ermittelnder physiologischer Erfordernisse bleibt, wollte – und will – ich nicht wahrhaben, auch nicht, dass die meisten Essanfälle aus physischem Hunger resultieren. Alles eine Frage der Selbstbeherrschung. Und daran arbeite ich ebenso verbissen wie erfolglos. Weigere mich, das Quantum an Energie, das ich in die Optimierung der Selbstbeherrschung investiere, in die Akzeptanz eines höheren Körpergewichts umzumünzen. 26 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Merten, seines Zeichen Verhaltenstherapeut, brachte mich immerhin auf den Gedanken, dass sich hinter der spinnerten Jurij-Liebelei womöglich anderes verberge. Dass sie mehr sei als eine reale und um ihrer selbst willen ernst zu nehmende Faszination. In der ganzen Angelegenheit drücke sich ein Verlangen nach dem aus, was er, Merten, als Geheimnis selbstbestimmten Lebens bezeichnete. Es ging um Autonomie. Aha. Die Affäre als Symbol für das Bedürfnis, Ereignisse und Fantasien für mich allein zu haben. Ein Geheimnis, über das ich schweigen darf, ohne mir – sei es mit den Fantasien und Ereignissen selbst, sei es mit diesbezüglichem Schweigen – Schaden zuzufügen, was ich sowohl mit der Symptomatik selbst als auch mit deren Verschweigen tue. Die Affäre als Ausdruck eines dringenden Wunsches nach etwas Eigenem? Wie kläglich, wie irrig der Glaube, eine zu achtzig Prozent fantasierte Affäre sei in der Lage, die Funktion der Störung zu übernehmen und das Symptom verstummen zu lassen! Doch immerhin eröffnete mir die Affäre – im Gegensatz zur Artistin – die Möglichkeit eines Rückzuges in und auf mich selbst und erlaubte parallel dazu einen selbstbestimmten Schritt. Obendrein, auch das Ergebnis dieser Therapie, würde ich Schuld- und Schamgefühle entwickeln, weil diese Sache aus meiner subjektiven Sicht von besonderer Abartigkeit und moralischer Verwerflichkeit gekennzeichnet ist. Etwa fünf Jahre nach Beendigung dieser zwar mehr oder weniger erfolglosen, aber immerhin einigermaßen erkenntnisreichen, gut zwei Jahre dauernden Therapie bei Merten startete ich einen neuen Versuch, dem schließlich, wiederum Jahre später, die stationäre Behandlung folgen sollte. Bereits nach zehn Stunden verzichtete ich auf weitere Termine mit Frau Tenschel, einer vor allem Milde und Schwäche ausstrahlenden und obendrein extrem zierlichen Vertreterin ihrer Zunft. Tenschel forderte mich konkret zum Handeln auf. Doch mit dem konkreten Handeln ist das so eine Sache: Oft steht es diametral dem gegenüber, was man weiß oder zu wissen glaubt. Was sinnvoller zu tun wäre als das, was man eben tut. Oder eben nicht tut. Essen zum Beispiel. Das Handeln – welch Binsenwahrheit! –, die eigene Entscheidung, zu essen, zu viel zu essen, nicht zu essen, das Essen drin zu behalten oder eben nicht, könne mir kein Therapeut dieser Welt abnehmen, wie sie nicht müde wurde zu betonen. Wie dem auch sei, bei Tenschel konnte ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass sie arg ins Schleudern geriet, weil ich mich selbst so wunderbar analysieren konnte. Im Vergleich zu ihr jedenfalls war ich Meisterin darin. Sie stellte mir Aufgaben, die ich nicht erfüllen konnte, bis heute nicht erfüllen kann. Ich solle einfach mehr und anders essen. Einfach. Aha. Sie sagte: »Finden Sie sich damit ab, dass Sie etwas zunehmen werden, wenn Sie keinen Heißhunger mehr haben wollen.« Schotten dicht. Tut mir leid: Den Preis zahle ich nicht! Ich wünschte, man gäbe mir ein Rezept an die Hand, 27 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

eine Art Handlungsanweisung, bei deren strikter Befolgung garantiert nicht mit einer Gewichtzunahme zu rechnen wäre; wohl aber, idealerweise ebenfalls garantiert, die Symptomatik aufhören würde. Silzer antwortet mir, bedankt sich für das Resümee der Zeit nach der stationären Behandlung. Es spiegele einen fortgesetzten Kampf gegen die Essstörung, die immer noch zu sehr mit meiner Gesamtpersönlichkeit und meiner Geschichte verquickt sei, um Symptomfreiheit zu erlauben. Aha. Nicht nur das. Er zweifelt an den Methoden der Psychoanalyse und hält – hier mag er recht haben – einen endgültigen Sieg ohne permanente Arbeit und Anstrengung für unrealistisch. Realistisch, immerhin, sei eine zunehmende Emanzipierung von kritikloser Unterwerfung unter die Zwänge der Erkrankung. Des Weiteren, fährt er fort, wäre noch der spirituelle Aspekt zu berücksichtigen: inwieweit, fragt er, mein relatives Scheitern an der Überwindung der Essstörung ein erforderliches, funktionelles Korrektiv vor dem Hintergrund narzisstischer Charakterzüge sei. Was das mit Spiritualität zu tun hat, verstehe ich nicht und finde es anmaßend, dass er fordert, hier müsse der Analytiker den Hebel ansetzen und menschliche Reifung ermöglichen. Schließlich vermisst Silzer altruistische Pläne in meinem Fazit – Stichwort Selbsthilfegruppe –, was mir auf meinem Weg weiterhelfen würde. »Und was machen wir, Hirtberg? In der Vergangenheit graben? Die Gegenwart mit ihren konkreten Phänomenen und Problemen betrachten? Die analytische Situation an sich und im Hier und Jetzt beobachten, um sodann etwaige Erkenntnisse auf die Wirklichkeit zu applizieren?« »Na, alles natürlich. Wir haben Zeit.« Hirtberg: personifizierte Gelassenheit. So einfach. So klar. Meine Bewunderung ist grenzenlos. Die gestatte ich mir. Im Gegensatz zu unerfüllbaren Sehnsüchten, über die zu fantasieren ich mir streng untersage, bevor eine harmlose Idee zu einem unkontrollierbaren Gefühl gerät. Seine Art, die ich bisweilen als etwas ruppig empfinde, ist nichts weiter als Unmittelbarkeit, sozusagen der direkte Weg am heißen Brei vorbei. Er hört mir unvoreingenommen zu, geht auf mich ein, reflektiert, nimmt mich ernst. Mir ist es völlig piepegal, ob er das tut, weil es sein Job ist. Er toleriert den Spickzettel: Ich lasse nichts auf mich zukommen. Gewissenhaft bereite ich die Stunden vor. Und nach. Das sei in Ordnung, sagt er, und versetzt mich damit in großes Staunen.

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Das ist jetzt erst mal so

A

ls ich knapp nach der Jahrtausendwende nach Liefem kam, ließ sich allenfalls erahnen, was in meiner qua Vertrag nicht näher spezifizierten Position auf mich zukommen würde – oder auch nicht. Die Jahre in Assgart eingerechnet, arbeite ich seit fünfzehn Jahren für diese personell überschaubare, wirtschaftlich – für mich jedenfalls – wenig durchschaubare Organisation, in der sich niemand bemüßigt fühlt, konkrete Forderungen zu stellen, gar Ziele zu formulieren. Ich danke dem Schöpfer, mich mit einem hinreichenden Quantum an Fähigkeit zu eigeninitiativem Denken und Handeln ausgestattet zu haben. Genau genommen, und das bestätigt sich im Laufe der Jahre, weiß niemand – weder die Königin noch Quandt –, was die Aufgaben einer Kunstwissenschaftlerin sind, geschweige denn sein können. Selbst über die Ziele, oder sagen wir: das Potenzial, der Organisation scheint man sich nicht wirklich im Klaren zu sein. Diffuses Licht fällt in das großzügig dimensionierte Büro, in dem, wie ich damals dachte, ich mich für den Rest des Berufslebens aufhalten würde. Ohne die Mahagonitüren, die in ihrer dunklen Präsenz den ganzen Raum beherrschten und deren Farbton sich in zahnschmerzerregendem Missklang zu der blasslilafarbenen Auslegeware verhielt, wurde die Sache zumindest optisch ansprechender. Zwei Stufen führen auf eine gigantische Terrasse. Im Vorzimmer hatte ich für einige Jahre eine Assistentin installiert, von deren Unverzichtbarkeit die Königin zu überzeugen ein Kunststück war. Während der Zeit als Kuratorin im Museum wusste ich stets Praktikanten und Werkvertragler um mich zu scharen und konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, jede Mail künftig selbst zu schreiben, jedes Buch selbst zu lesen, jeden Anruf persönlich entgegen zu nehmen. Mein Job belastet mich massiv, wenngleich in einem völlig anderen Sinne, als beispielsweise eine Chefsekretärin belastet ist. Es ist vor allem die minimalistische Kommunikationskultur, oder anders ausgedrückt: Jeder macht irgendwas, das gewiss gewissenhaft, kommuniziert sein Tun aber nicht. So weiß ich nicht, was mein direkter Vorgesetzter, seines Zeichens Buchhalter, im Einzelnen tut, der wiederum hat keine Ahnung vom Tun der Dokumentaristin. Die Sekretärin tut, was Sekretärinnen eben tun, weiß aber wiederum nichts von dem, was ich tue und so weiter und so fort. Die Königin regiert das Ganze, wozu auch das fünfköpfige Kuratorium zählt, das

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letztlich nichts als Staffage ist. Insgesamt beherrscht ein lähmender Cocktail aus Diskretion, Gleichgültigkeit, echtem oder vorgetäuschtem Vertrauen, Gewohnheit, Konservativismus und Administrativität die zwar lethargische, nicht aber unfreundliche Atmosphäre. Da es gerade zwei Tage zurückliegt, erzähle ich Hirtberg von einem Telefonat mit Timo. Sehr zeitökonomisch, schlagen wir doch so zwei Themenfliegen mit einer Klappe. »Mein Projekt, Sie wissen schon, das mit der russischen Kunst, stagniert«, jaulte ich in mein portables Telefon, das ich mir zwischen Kinn und Schulter klemmte, um mir, während ich mit Timo redete, ein Stück Kuchen in den Mund zu schieben. Es ginge nicht voran, und ich fühlte mich allein gelassen, klagte ich, alle möglichen Idioten haben Macht und Einfluss und die Königin findet das alles auch noch ganz ausgezeichnet, obwohl es blöde, langweilig oder völlig überflüssig ist … »Im Grunde interessiert sich keine Sau dafür, was ich mache, kann ich auch gleich zu Hause bleiben. Die Königin hat von Kunst nur wenig und von wissenschaftlicher Arbeit nicht die Spur einer Ahnung. Mir fehlt der Austausch auf Augenhöhe. Ob er verstünde, was ich meine, fragte ich Timo.« »Und? Hat er verstanden?« »Keine Ahnung, ich glaube nicht. Es ging dabei ja auch um ihn …« »Sie erwarten keine inhaltliche Beratung, aber Sie erwarten Anteilnahme. Verständnis und uneingeschränkte Solidarität.« »Ja.« »Wie ist das denn für Sie, dass Sie in solchen Situationen nur telefonieren? Können Sie sich vorstellen, einfach nach Assgart zu fahren – so weit ist das ja nicht«, grinst Hirtberg, »und alles persönlich zu besprechen?« »Ach, das ist ja nur einer der Nachteile unseres Getrenntlebens. Als ich vor fünf Jahren nach Liefem zog und Timo in Assgart blieb, habe ich nicht gedacht, dass es irgendwann schwierig werden würde. Na egal, auf jeden Fall versuchte er, mich telefonisch zu beruhigen. Oder zu trösten, als er sagte, ich zeige ein mehr als aktives und scharf umrissenes Profil und dass man mit sich selbst eher unzufrieden sei, scheine wohl normal zu sein … ›Ich bin nicht mit mir, sondern mit den Gegebenheiten in dieser Scheißorganisation unzufrieden‹, brüllte ich wütend. Er schlägt sich immer auf die gegnerische Seite!« »Was meinten Sie denn damit?« »Genau das, was ich sagte: Timo stimmt niemals in mein Wehklagen ein, so gesehen nimmt er mich nicht ernst, null Empathie. Ich weiß auch nicht … Jedenfalls zeigte er sich auch dieses Mal nicht sonderlich beeindruckt. Sagt nicht: Schmeiß doch endlich alles hin und lass mich mit deiner Heulerei in Ruhe! Stattdessen fährt er unbeirrt fort, die Dinge zu relativieren und damit vermeintlich zu entschärfen: ›Dass du von der Organisation in deiner Tätigkeit unterstützt wirst, magst du daraus ersehen, was sich unter deiner Ägide alles geändert hat, wir 30 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

haben oft genug im Einzelnen darüber gesprochen … Die Königin bittet dich zum Gespräch hinzu, das ist doch ein Beleg ihrer Wertschätzung! Sie muss es ja nicht. Alles im grünen Bereich.‹« »Um was für ein Gespräch geht es denn?«, fragt Hirtberg. »Das ist jetzt nicht wichtig. Aber es stimmt, sie bat mich, sie nach Oberhausen zu begleiten, es geht wohl um die Nachfolge des scheidenden Direktors.« »Sind Sie eine Kandidatin?« »Nein, sicher nicht. Selbst wenn: Oberhausen interessiert mich auch nicht. ›Gar nichts ist im grünen Bereich‹, zischte ich ziemlich sauer, nicht ohne besänftigend hinzuzufügen, dass sein Versuch, mich aufzubauen, mich sehr berührt, aber nichts an meiner abgrundtiefen Frustration ändere. Glauben Sie mir, Hirtberg, ich fühle mich, als sei ich gar nicht existent. Als gäbe es mich nicht. Timo redet am Punkt vorbei, von Verlag A kommt kein Angebot – die haben folglich kein Interesse. Verlag B ruft nicht an – auch kein Interesse. Egal, wen ich mit der Bitte um inhaltliche oder biografische Hintergrundinfos angeschrieben habe: Kaum jemand antwortet in einer Form, die mir weiterhelfen würde. Mit Jurij kann ich das Projekt aus verschiedenen Gründen nicht machen … Vor lauter Frust habe ich den Kuchen ins Klo gespuckt. Fertig, aus. Mit wem bitteschön soll ich reden? Mit Ihnen? Über russische Kunst?« »Warum denn nicht?« Ja, warum eigentlich nicht? Hirtberg versteht nicht weniger als alle anderen in Frage Kommenden davon, zeigt sich aber interessiert und, was noch wichtiger ist: Die Methoden wissenschaftlicher Arbeit sind ihm vertraut. Er weiß, wovon ich rede. Inhaltlich kriege ich das schon in den Griff. »Was Ihnen fehlt, ist Kommunikation und Anerkennung. Nicht nur innerhalb der Organisation.« Dann versucht er mir weiszumachen, dass sich die ganze Sache doch besser verkaufen ließe, als ich es jetzt tun würde, die Aufgabe sei viel interessanter, als ich sie darstellte. »Ist Ihnen eigentlich klar, was Sie tun?«, fragt er, »Sie betreiben eine über Jahre hin angelegte Grundlagenforschung und publizieren das Ganze auch noch!« »Ja und? Für eine extrem spezielle Zielgruppe. Ein Renner wird das Buch sicher nicht. Aber darum geht es auch gar nicht …« Aus Angst, ihn zu langweilen, rede ich sukzessive immer schneller, stelle Inhalte oberflächlich dar, gerade so, wie zum Basisverständnis meines beruflichen Alltags nötig ist. Am Ende bleibt eine gewisse, aber aushaltbare Unzufriedenheit: Trotz schnellen Redens und Beschränkung auf das Wesentliche ist mein Referat über die russische Kunst zu ausführlich ausgefallen. Das sind Inhalte, die nicht in den analytischen Prozess gehören. »Wie geht es Ihnen jetzt mit meiner Einschätzung, dass Sie mit den Ergebnissen Ihrer Forschungsarbeit doch einiges aufmischen werden?« Ich nehme ihm sowohl sein Interesse an der Sache als auch seine positive Einschät31 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

zung ab, bin allerdings felsenfest davon überzeugt, dass er die Situation nicht richtig einschätzt: Der Kunstzirkus ist nun mal nicht sein Beritt. »Aufmischen wird die Sache gar nichts: Es handelt sich um Kunstgeschichte im wahrsten Sinne des Wortes, kaum jemand interessiert sich für osteuropäische Kunst!« Wie es mir mit seiner Einschätzung geht? Nun, an dieser Stelle fühle ich mich unverstanden, weil Hirtberg eben nicht wirklich versteht. Einige Tage später bittet mich die alternde Königin um Begleitung zu einer Aufführung im Rahmen eines Tanzfestivals. Besser gesagt: Bei einer ihrer Stippvisiten in meinem Büro gibt sie mir nonverbal glasklar zu verstehen, was sie verlangt: Präsenz. Repräsentanz. Die Art, wie sie verlangt, ist ebenso ätzend wie das, was sie verlangt. Immerhin verlangt sie irgendetwas. Modernem Ausdruckstanz kann ich nichts abgewinnen, bestenfalls langweile ich mich. Trotzdem ziehe ich mich dem Ereignis entsprechend einigermaßen angemessen an und mache mich auf den Weg. Die Königin hat die Macht und mir bleibt nichts anderes übrig, als Aktionen wie diese als Teil meiner Arbeit zu begreifen. Wenn ich Erfolg haben will, muss ich mitspielen. Zur Verfügung stehen. Gesellschaftliche Kontakte pflegen, nicht – oder allenfalls vage – ahnend, dass mein Gehorsam nichts nützen wird. Viele der verhassten gesellschaftlichen Verpflichtungen, Veranstaltungen, anlässlich derer ich mich sehen lassen muss, obwohl mich niemand kennt, geschweige denn sich für mich oder zumindest meine Arbeit interessiert, hätte ich mir ersparen können. Über weite Strecken ist die so genannte Kunstszene eine Farce, deren Verlogenheit mir unheimlich ist. Ich fühle mich als Outsiderin, obwohl ich Insiderin bin. Während durchtrainierte Körper sich auf den Brettern, die die Welt bedeuten, winden, sich verknoten, um kurz darauf emporzuschießen und im Trommeltakt flummigleich auf und nieder zu springen, schiebt mir die Artistin dragierte Schokokugeln in den Mund, die ich verstohlen lutsche, ohne zu schmecken, ohne zu sehen, zu hören und, Sinn des Ganzen, zu fühlen. Mit den Schokokugeln steige ich aus, rolle hinfort, als sei ich eine von ihnen. »Wissen Sie, Hirtberg, ich bin so wütend, dass ich zu diesen Veranstaltungen, mich anziehen, mich sehen lassen muss, obwohl mich niemand sehen und ich auch nicht gesehen werden will. Ich hasse diesen ganzen Affenzirkus, alle Klamotten zwacken und kneifen, selbst der Pullover.« »Und deshalb nehmen Sie die Schokokugeln mit?« »Ja, sie trösten und lenken mich ab von Kleidern, die nicht passen, in denen ich altbacken und blöde aussehe.« »Warum kaufen Sie sich keine passenden?« »Es geht nicht um die Konfektionsgröße. Sie passen nicht zu mir, nicht zu dem Anlass. Sie würden vielleicht passen, in einem anderen Kontext.« »Dann würden sie nicht zwacken und kneifen?« 32 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Vielleicht nicht … Nein, trüge ich sie im Alltag, wäre das in Ordnung.« »Es fällt Ihnen schwer, etwas auszuhalten. Diese Situation zum Beispiel, in der Sie sich unwohl fühlen.« »Aushalten! Das ist das Stichwort! Nein, kann ich gar nicht.« »Worüber wir hier reden, ist Affektregulierung. Die funktioniert bei Ihnen in unzureichendem Maße oder in nicht adäquater Art und Weise. Da können wir dann ja noch mal gucken«, sagt er, und: »Das ist jetzt erst mal so.« Sechs Worte. Kaum ausgesprochen, werden sie zu meinem Mantra. Für die nächsten Jahre, wie sich zeigen wird. Das ist jetzt erst mal so. Vielleicht die wichtigsten sechs Worte der gesamten Therapie. »Und dann gucken wir mal«, fügt er hinzu. Er guckt mich an. Ganz offen. Seine Stimme ist tief, weich und sanft. Er redet mit mir, wie ich mit Loschad rede, wenn er sich angesichts ihm bedrohlich erscheinender Objekte aufspult. Hirtberg beruhigt das Kind, balsamiert meine Seele mit Worten und ich spüre Tränen, die ich nicht weine. Er fasst zusammen. So klug. So klar. So einfach. Bringt Ordnung ins Chaos. Orientierungslos werfe ich den Anker in die graue See: Vollmond. Und Buß- und Bettag. So nebelig wie der Tag, so nebelig auch die Vorstellung meiner emotionalen Verortung, sowohl in der Organisation als auch im Hier und Jetzt. Wo stehen wir? Was mich betrifft – Treibholz auf mächtigen Wogen bemerkenswerter Einzelaspekte: Herkunft und Funktion des Zensors, Ich-Strenge, mangelnde Affektregulierung. »Hirtberg, was machen wir denn jetzt damit?« »Na, erst mal angucken. Schwimmen lernen.« Er zwinkert mir zu. Auf der Metaebene. Hier, in der Begegnung mit dem Kapitän, umfängt mich ein ebenso wohliges wie bedrohliches Gefühl, das ich vorsichtig als Geborgenheit umschreiben würde. Kann, darf das überhaupt sein? Dietlinde und Gerhard, meine Eltern, sind mir, wenn überhaupt, sehr selten einfühlsam begegnet. Jetzt ich bin erwachsen, und das nicht erst seit gestern. Ich brauche keine Eltern mehr. Trotzdem berührt es mich, dass Hirtberg mir zuhört, mich wahrnimmt und versteht. Je mehr er versteht und es zudem versteht zu erklären, was ich nicht verstehe, umso brandender meine Bewunderung, ja Hingabe an seine Souveränität und seinen Schalk. Hirtberg motiviert, tröstet, besänftigt, verwirrt und verunsichert. Findet die im Rahmen einer Analyse gebotene Ernsthaftigkeit überhaupt den ihr gebührenden Raum, solange ich mich weigere zuzugeben, dass mein Essverhalten, wochenlangen stationären Bemühungen zum Trotz, immer noch – oder wieder – miserabel ist? Nein, findet sie nicht: Ich bewege mich auf dem fatalen Irrweg des Gefallenwollens. Das Dilemma: Stehe ich gut da, entfällt das Motiv für die Analyse. Bekenne ich mich zu meinem desolaten Verhalten, überwältigt mich die Scham. Dies umso 33 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

heftiger, als es sich bei dem Gegenüber um einen Mann handelt, dem ich gefallen will. Weil er mir gefällt. Dieser Mann ergeht sich – wie auch immer wir darauf gekommen sind – in einer vergleichsweise ausführlichen Erörterung des Phänomens der neuronalen Plastizität. Seinen Ausführungen zu Folge bin ich gewissermaßen neuronal doppelt geschädigt: Konsequenz stümperhafter Erziehungsbemühungen meiner Eltern einerseits, Konsequenz meines eigenen, auf die schräge Bahn geratenen Verhaltens andererseits. Das meine Kindheit bestimmende Lebensgefühl lässt sich mit einem Wort auf den Punkt bringen: Gefangenschaft. Ich serviere Hirtberg das Bild von gestutzten Flügeln, von einem Vogel, der nicht fliegen kann, obwohl er, was die Sache besonders perfide macht, nicht im Käfig sitzt. So trägt er, der Vogel, Schuld an seiner Flugunfähigkeit. Ihm fehlen die Voraussetzungen. »Sie lebten im ständigen Gefühl der Einengung, der Begrenzung, der Verhinderung, wenn man so will?« »Ja.« »Was fällt Ihnen noch ein?« »Nichts. Doch: die Eisenbahn, die ich in der ersten oder zweiten Klasse gemalt habe. Mein Gott, wie banal … Egal. Weiter. Sie trug die Aufschrift: Assgart. Falsch geschrieben, nämlich mit einem s, Asgart. Geschimpft hat niemand, aber ich erinnere mich, dass ich mich geschämt habe, zumal das Bild – so schlecht war es dann wohl doch nicht – im Klassenraum aufgehängt wurde.« »Wo waren Sie, wenn Sie gemalt haben? Wo sehen Sie sich als malendes Kind?« »Im Kindergarten. Die liebe Sonne bringe ich zu Papier und bunte Blumen, viele archaisch wirkende Tiere, wahrscheinlich Pferde, was Kinder eben malen. In der Schule. Zu Hause am Küchentisch. Wo Kinder eben malen. Ich war ein ganz normales Kind …« Mehr weiß ich nicht. Wo ist die verdammte Erinnerung? »Wir sind ja wieder bei der Kreativität.« »Zufall.« »Glauben Sie das wirklich?«, fragt Hirtberg suggestiv. »Nein.« »Nee, das glaube ich nämlich auch nicht.« »Gut, kein Zufall. Was dann?« »Kreativität ist mehr – und anderes! – als malen oder schreiben. Kreativität braucht Flügel.« Später rufe ich Dietlinde an. Mich macht es verrückt, dass ich mich an so wenig erinnere. Von ihr will ich wissen, woran ich mich nun wirklich und berechtigterweise nicht erinnern kann. 34 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Sag mal, wie lange hast du mich eigentlich gestillt? Wann war ich sauber, wann begann ich zu sprechen und wann konnte ich laufen?« »Warum willst du das wissen?« Ich verzichte auf weitschweifende Erklärungen, die sie sowieso entweder nicht verstehen oder in den falschen Hals bekommen würde – Kind, was machst du denn beim Analytiker? –, hake stattdessen noch mal nach, obwohl ich die Geschichte im Prinzip schon kenne. Jetzt aber will ich es noch mal genau wissen, mit Daten. Dietlinde erzählt, wird zwischendurch traurig. Ich starre auf die lilafarbene Auslegeware meines Büros, löffele Instant-Hühnersuppe und höre zu. Im Mai hatte sie ihre letzte Periode, der errechnete Geburtstermin war der 11. Februar. Erstaunlich offen spricht sie darüber, wie sie von ihrer Mutter verprügelt wurde, als sie ihr in der sechsten Woche von der Schwangerschaft erzählt. Ihre Stimme klingt belegt. Dann die kirchliche Hochzeit im Juli, nicht in Weiß. Direkt danach zu den Schwiegereltern, die eigene Wohnung im August, die von beiden Großmüttern auf Hochglanz gebracht wird. Aha. Gestillt hat sie mich ein gutes halbes Jahr, Windeln brauchte ich mit achtzehn Monaten nicht mehr, Josephine – die war schlau! – war schon als Einjährige sauber. Dafür konnte ich als Einjährige sprechen. Ha! Großvater will, dass ich Fernsehansagerin werde. Schon als Kind war das nicht mein Traumjob, glücklicherweise habe ich mich nie um eine Stelle beworben: Womöglich hätte ich den Job gekriegt. Heute gibt es Trailer und keine Ansagerinnen. Wahrscheinlich wäre ich arbeitslos, Redefertigkeit hin oder her. »Was hier deutlich wird, ist ein generationsübergreifendes Autonomieproblem«, stellt Hirtberg präzise und überzeugend fest. Wortakrobat. Solche Vokabeln habe ich gar nicht in meinem aktiven Wortschatz. »Sie geht zu den Schwiegereltern. War sie bei ihrer Mutter nicht willkommen? Jedenfalls geht sie nicht zu ihr. Beide Mütter putzen die Wohnung … Schuldgefühle? Ein Kind zu bekommen, ist ein Zeichen von Autonomie, endgültige Behauptung gegen die eigene Mutter.« In unbenennbaren Gefühlen ertrinkend erlebe ich ein Chaos, das sich seit Beginn der Behandlung um ein Vielfaches verschärft hat. Seit einigen Wochen höre ich wieder Musik, was ich jahrelang nicht getan habe. Starre und Stumpfheit weichen zunehmend einer Verletzbarkeit, die zuzulassen ich als Experiment begreife und einfach weine, wenn mir danach ist. Neben der Zunahme an Flexibilität, was das Essen betrifft, beobachte ich – argwöhnisch – die Zunahme an Aggressivität anderen gegenüber. Sogar Jurij kriegt sein Fett weg, weil sein Team nicht so funktioniert, wie ich es für professionell halte, bezichtige ihn der Schlamperei, drohe damit, das Projekt einem 35 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

anderen Verlag anzuvertrauen, obwohl ich das längst entschieden habe, behaupte, unsere gemeinsamen Aktivitäten seien mir so langsam egal. Ich mache, was ich will, obwohl ihm das nicht passt. Zumindest gebe ich vor, zu tun, was ich will, im Hinterkopf Angst, dass es ernst wird. Bald wird er mich Verräterin schimpfen, das hatten wir ja schon mal, und dann war’s das. »Hirtberg … da ist so viel Gefühl. So viel Sehnsucht. Lebenshunger.« »Brechen Sie das alles doch mal runter, auf das, was ist: Da gibt es diesen Russen. Der instrumentalisiert verschiedene Frauen, bumst regelmäßig aus Pflichtgefühl und Eigennutz eine unattraktive Mattka und ist überdies gebunden an eine Ehefrau. Und den können Sie nicht haben, schon gar nicht exklusiv. Was ist das Problem? Sie bemerken Ihre Gefühle, sind traurig. Das ist alles. Ist doch eigentlich ganz klar, oder?« »Ja, manche Dinge sind eigentlich ganz einfach …« So wie Hirtberg die Situation darstellt, finde ich sie auch nicht mehr chaotisch. »Sehen Sie sich doch einfach mal versuchsweise als ganz normale Frau.« »Ja, eben. Vielleicht bin ich eine ganz normale Frau. Was mache ich dann hier? Ich stehle Ihnen die Zeit, indem ich ganz normale Sehnsüchte problematisiere, nicht adäquat mit Ihnen umgehe. Bin ich hier fehl am Platze, weil doch alles ganz normal und ganz einfach ist? Kein wirklich normal tickender Mensch braucht einen Analytiker!« »Ihre schnodderige Art kaufe ich Ihnen sowieso nicht ab«, sagt er später, in einem anderen Zusammenhang. Ich weiß genau, was er meint, und fühle mich beinahe ertappt. Das, was er als schnodderige Art bezeichnet, erinnert mich auf eine seltsame, fast ekelerregende Art und Weise an Gerhard, der immer – zumindest bis zu seiner Pensionierung – mein Vorbild, mein Ideal war: verantwortungsbewusst, konsequent, willensstark, ehrgeizig, durchsetzungsfähig, einflussreich – mächtig. Trotzdem verspüre ich jetzt geradezu Abscheu gegen die Ähnlichkeit, was besagte Schnodderigkeit betrifft. »Wer spricht, wenn ich so mit Ihnen rede?« Er schnoddert in abfälligem Ton vor sich hin und trifft sogar die Mimik, obwohl er meinen Vater nie gesehen hat. Wir lachen uns kaputt! Warum ist der Typ nicht Schauspieler geworden? »Gerhard. Mein Vater. Der geht mir übrigens seit dem letzten Telefonat nicht aus dem Kopf: Er wollte mal meine Stimme hören … Wenn ich diese inhaltsfreie Plattitüde höre, wird mir schon schlecht und mir widerstrebt es, überhaupt ein weiteres Wort mit ihm zu wechseln.« »Alles, was mit Gefühlen zu tun hat, machen Sie klein, unbedeutend, packen es in den Keller – ein sehr passendes Bild! –, wo Sie malen, Musik hören. Und wenn’s zu viel wird, gehen Sie an den Kühlschrank?« Hirtberg wirkt ziemlich sexy, wie er da sitzt in seinen Jeans und dem hellen, aus feiner Wolle gearbeiteten Rollkragenpullover. Angesichts dieser Beobachtung schäme mich noch mehr, wenn er das Wort Kühlschrank auch nur ausspricht. 36 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Er zupft eine Fluse von seinem Pulli. »Sie selbst haben gesagt, dass es mit dem Essen besser geht, dass Sie in manchen Situationen lockerer mit dem Essen umgehen können.« Ich höre: Sie haben doch gesagt, dass … und jetzt? Was ist denn nun? Wieso kommen Sie denn schon wieder nicht klar, was ist so schwer daran, normal zu essen? Bin ich Ihr Verhaltenstherapeut? Nun gucken Sie erst mal, dass Sie essenstechnisch in ruhigeres Fahrwasser kommen! Tatsächlich schlägt er lediglich vor, das Problem unter die Lupe zu nehmen. Das setzt schonungslose Ehrlichkeit voraus: Ich fertige eine tabellarische Übersicht an, die Auskunft gibt über gute und schlechte Tage, und über die Qualität der Essanfälle – ob mit Erbrechen oder ohne –, über mein Gewicht und dessen Schwankungen, die sich im Bereich von ein bis zwei Kilo bewegen, über Kalorien und magische Daten. »Bestimmte Situationen sind für die Essanfälle absolut tabu«, sage ich, »da geht es einfach nicht.« »Wie, geht nicht? Das müssen Sie mir aber jetzt mal genauer beschreiben, wieso geht das nicht?« »Ach, keine Ahnung … Ich mache es nicht, wenn ich bei Timo bin. Oder bei meinem Pferd, Loschad. Situationen wie diese, es gibt einige mehr, sind, wie soll ich sagen, in gewisser Weise heilig. Mich anders als diszipliniert zu verhalten würde bedeuten, sie zu entweihen, zu besudeln. Genau das ist in der Klinik passiert, als ich mich dort, nach zehn Tagen, im Wald wieder fand und das Gefühl hatte, Gottes Schöpfung, die maigrüne Natur und mit ihr alles, was da kreucht und fleucht, zu besudeln, zu entweihen, zu verletzen. Ich gehe nicht an den Kühlschrank, wenn es – ja, was denn eigentlich? – zu viel wird, sondern wenn ich mich fett fühle oder denke, sowieso schon zu viele Kalorien in mir zu haben.« »Welche Gedanken haben Sie vor und während eines Anfalls? Gibt es da Menschen, an die Sie denken?« »Sie meinen, in Analogie zu den Personen und den mit ihnen verbundenen Situationen, in denen es eben nicht geht?« Ich denke nach. Drei Tage lang denke ich angestrengt nach. Beobachte mich vor und während der Exzesse und komme zu dem Ergebnis, dass ich weder vor noch während der Exzesse an irgendjemanden denke. Völlig mit mir selbst beschäftigt, spüre ich nichts als den Bund meiner Jeans, addiere die Kalorien, die bereits dabei sind, sich in Materie, in Fett, zu verwandeln. Da ist niemand, den ich attackiere. Nicht im Hier und Jetzt. Was ist mit dem Zensor, den ich nicht von mir trennen kann? Kommt der in Gestalt meines Körpers daher? Ich bin da, das ist alles. Ich allein. »Ich finde mich schrecklich, niemanden sonst. Kann mich nicht leiden, diesen unkonturierten Leib, das Gewicht, die Haltlosigkeit, Ungeduld, die Unfähigkeit, auszuhalten. In den Wahnsinn treibt mich die Angst, dass mein Körper alle Grenzen überschreitet, wenn ich nicht sofort alles wieder los werde.« »Sie empören sich gegen den Zensor. Was stattfindet, ist eine Fokussierung auf 37 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Körper und Gewicht, weil Sie nicht wissen, wohin mit Ihrer Verzweiflung und Ihrer Traurigkeit. Sie haben Ablehnung erfahren, und jetzt wittern Sie sie überall. Das ist ein sehr konkretistischer Umgang mit etwas, das alles andere als konkret ist.« Obwohl für mich längst klar ist, bei Hirtberg an der richtigen Adresse zu sein, spreche ich im Zusammenhang mit der ersten anstehenden Verlängerung meine Bedenken an. »Sie können mir die Essstörung ja schließlich nicht wegmachen. Das hätte ich gern, klar, aber ich erwarte das nicht. Mit der Verhaltenstherapie komme ich einfach nicht klar … Warum mache ich jetzt, mit fünfundvierzig, eine Analyse?« An dieser Stelle aber kann er mir leicht den Wind aus den Segeln nehmen. »Weil Sie sehr differenziert sind im Denken. Heute sind Sie in der Lage zu verbalisieren, was Sie damals gefühlt und empfunden haben.« »Über die Fähigkeit, zu verbalisieren, verfüge ich seit etlichen Jahren, Jahrzehnten. Warum fange ich erst jetzt an zu verbalisieren?« »Meine Sanftheit und mein Wohlwollen kriegen Sie überhaupt nicht mit … Ihre Störung wird immer ein Thema bleiben. Entscheidend ist, welchen Raum Sie dem Thema geben, welchen Ort und welche Zeit. Sie werden mit dem Thema umgehen, nicht das Thema mit Ihnen.« Er nimmt mir den Druck, den ich in der Klinik hatte, nämlich, bitteschön, völlig normal zu essen und damit – damit?! – ganz gesund zu werden. Ich werde nie ganz normal essen. »Sie müssen das auch nicht.«

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Empathie und Entlastung

W

ährend es in der nach meinem Geschmack viel zu früh vollendeten Dämmerung stetig vor sich hin regnet, aromatisiert der Duft von Vanille und Zimt meine ganz und gar unweihnachtliche Wohnung. Ich zünde Kerzen an, entscheide mich für J. S. Bach und schalte meinen Rechner ein. Das Pathos des »Ave Maria« korrespondiert mit meiner Ergriffenheit, die Hirtbergs überwältigendes Einfühlungsvermögen auslöst. Der Umstand, dass Empathie Teil seines Werkszeugarsenals ist, relativiert die Bedeutung der mir geltenden Einfühlung, schmälert aber deren Wirkung nicht. Ein bemerkenswerter Mechanismus, der das Phänomen der Idealisierung befördert: In meiner Wahrnehmung ist Hirtberg ein Genie, ein Gott. Obwohl es mich nichts angeht und es mir tunlichst egal sein sollte, fantasiere ich darüber, welchen Ausdruck er als Normalmensch hat, draußen, im wirklichen Leben. Die Rolle des Analytikers ist ihm jedenfalls auf den Leib geschneidert. Neben dem zunehmenden Verdruss, zu viele Jahre mit offenbar ungeeigneten Therapieformen verbracht zu haben, empfinde ich Dankbarkeit: Erst vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen mit der Verhaltenstherapie vermag ich die Dimension einer Analyse zu erkennen und, dies vor allem, ihren Wert zu schätzen. Allmählich beginne ich eine Vorstellung vom Sinn jahrelanger Lehranalysen zu entwickeln. Hirtberg begrüßt mich offen, freundlich, mit dosiertem Händedruck, nicht zu fest und nicht zu fischig, ein Gefühl von Distanz oder gar Ablehnung lässt er gar nicht erst aufkommen. Fast geräuschlos schließt er die Tür, während ich mich auf einem der beiden leichten, in mittelblauem Leder bezogenen Sessel niederlasse, mit denen man, da sie mit Rollen ausgestattet sind, die räumliche Distanz problemlos variieren kann. Ob es wohl Patienten gibt, die dem Therapeuten, gewissermaßen als sitzende Alternative zur Couch, den Rücken zuwenden? Oder solche, die sich ihm bis auf vierzig Zentimeter nähern, was ungefähr dem in Asien geltenden Individualabstand entspricht? Sein Blick fällt auf die Karteikarte in meiner Hand. Ich weiß nicht, warum er so guckt, ob er sich was dabei denkt. Schweigen. Meine Anspannung steht in scharfem Kontrast zu Hirtbergs Gelassenheit. Je bewusster ich das beobachte, umso unerbittlicher wächst sie mit jeder Sekunde, die

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er so routiniert vor sich hin schweigt, schräg im Sessel sitzend, eine Hand am Kinn, das rechte Knie auf der Lehne, so dass der Fuß lose baumelt. Er sieht mich offen an und vermittelt mir seine grundsätzliche Bereitschaft zuzuhören. »Es verunsichert mich, dieses Schweigen. Können Sie nicht irgendetwas sagen?« »Oh, natürlich kann ich irgendetwas sagen! Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen die ganze Stunde lang die Ohren zuquasseln«, ruft er und liefert ein weiteres Teilchen zu dem Bild, das ich von ihm zusammenpuzzele: schlagfertig und selbstbewusst, cool eben, wenn man so will. Dass er mir fünfzig Minuten lang die Hucke vollquatschen kann, glaube ich ihm unbesehen. »Ich weiß ja nicht, was Sie beschäftigt.« Egal was er sagt, schon mal gut, dass er nicht weiter schweigt. »Soll ich mit so einer Frage kommen wie: Ach, da läuft ja im Städtischen Museum die Ausstellung xyz, haben Sie damit was zu tun?« »Nein, habe ich nicht … und, nein, bitte kommen Sie mir nicht mit derlei lapidaren Geschichten, wozu?« »Sehen Sie, deshalb warte ich erst mal ab. Und dann gucken wir, was ist. Vielleicht wissen Sie ja auch noch nicht so genau, was ansteht. So sehen wir mal gemeinsam, wohin die Stunde uns führt.« Das halte ich auch schon wieder nicht wirklich aus, schiebe ungeduldig die blassgrüne Karteikarte auf dem Beistelltischchen, auf dem nichts als ein Päckchen TempoTaschentücher ihren Weg behindert, hin und her. »Nun, es ist vielleicht eine Anmaßung … Ich möchte Ihnen eine Rückmeldung geben.« »Sehen Sie, da ist es wieder!«, triumphiert er. »Das ist keine Anmaßung. Es ist absolut in Ordnung.« »Es muss Ihnen doch angenehmer sein«, füge ich überflüssigerweise hinzu, »auf fruchtbarem Acker zu pflügen als in trockener Erde taube Nüsse zu verbuddeln, oder? Mir ist die Asymmetrie unserer therapeutischen Beziehung durchaus bewusst – trotzdem kann ich mir vorstellen, dass es Sie interessiert, ob Ihre Bemühungen Knospen treiben.« Ist das jetzt Projektion? Nur weil ich wissen will, ob und wie meine Arbeit ankommt, muss es doch bei ihm nicht auch so sein … Nun, wie dem auch sei, Hirtberg ist kein Heiliger. Objektiv betrachtet jedenfalls nicht. Außerdem ist es mir wichtig, das Wesentliche kurz auf den Punkt zu bringen. Hirtberg ändert seine Sitzposition von abwartender Gelassenheit zu wohlwollender Aufmerksamkeit, so zumindest interpretiere ich es, dass er sich ein wenig mehr mir zuwendet und das Knie von der Lehne nimmt, sich sozusagen in Positur begibt. Mein Pony ist zu lang, ich streiche eine Strähne hinters Ohr. Alain, mein französischer Coiffeur, ist davon überzeugt, dass Frauen sich vorzugsweise in psychischen Krisen eine neue Frisur zulegen. Ihn besuche ich vorläufig nicht, lasse stattdessen zum ersten Mal in meinem Leben meinen Pony mitwachsen, meiner ungeliebten, fliehenden Elefantenstirn zum Trotz. 40 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Zum einen fand ich es sehr ehrlich, dass Sie sagten, die Essstörung werde immer ein Thema bleiben. Zum anderen hat es mich beruhigt, darüber zu sprechen, warum ich erst jetzt auf die Idee verfalle, mich in eine analytische Therapie zu begeben. Sie stimmten mir zu: Die Zeit war eben vorher nicht reif, andere Dinge wollten auf den Weg gebracht werden, der Job vor allem, und die Entscheidung, ob ich allein, wenn nein, mit wem ich leben will.« »Entlastend, richtig? Sie haben die Stunde als entlastend empfunden?«, vergewissert er sich in erwartungsvollem Ton und lächelt, während ich mich, ob des nervtötenden Gequatsches in der Klinik, man könne wieder ganz gesund werden, empöre, was ich für eine total unrealistische Augenwischerei halte und überdies als Druck erlebt habe … Was mir so allerdings nicht bewusst war. »Meiner Meinung nach hängt das sowohl von der individuellen Persönlichkeitsstruktur ab als auch von der Dauer und der Intensität der Störung.« Hirtberg lacht, und ich frage wieso. Zum Lachen finde ich meine Ausführungen nicht. »Versuchen Sie, das doch mal selbst herauszufinden.« Aha, analytische Gegenfrage. Nun gut, ich versuche es. »Sie nehmen mich nicht ernst.« »Und, was fällt Ihnen noch ein?« »Im besten Falle amüsieren Sie sich darüber, dass ich mich über die verbreitete Fehleinschätzung und den Umstand, dass zu große Erwartungen geschürt werden, so echauffiere.« »Noch was? Überlegen Sie doch mal: Warum könnte ich gelacht haben? Kommen Sie nicht drauf, was?« »Nein, ich weiß es wirklich nicht. Und wenn, dann liegt die Ahnung so tief, dass ich sie nicht zulasse.« »Sie kommen gar nicht auf die Idee, dass es ein wohlwollendes, positiv verstärkendes Lachen sein kann? Ich finde das, was Sie sagen, klug, und ich frage mich, ob diese bemerkenswerte Beobachtung – also die mit dem Alter und der Dauer der Störung hinsichtlich einer Genesungsprognose zu berücksichtigende Faktoren – Eingang finden in Ihre Aufzeichnungen.« Pause. »Das kriegen Sie jetzt nicht auf den Bildschirm … Merken Sie was?« Ja, natürlich merke ich was: Ich bin berührt von dem Umstand, dass er sich, ohne dass ich meine Notizen erwähnt hätte, an diese erinnert. Nun gut, er verdient sein Geld damit, wachsam zu sein. Er bekäme sein Geld aber auch, riete er mir, mich der Hausfrauenschreibgruppe bei der VHS anzuschließen. »Was fühlen Sie denn, wenn Sie jetzt mal realisieren, was ich Ihnen gesagt habe?« »Was? Dass Sie meine Überlegungen interessant und klug finden? Oh Gott!« Was empfinde ich? Hmm, Stolz vielleicht, und in der Tat: Es schmeichelt mir. Allein, das zuzugeben – ein Ding der Unmöglichkeit. »Freude oder so ist da vielleicht auch noch«, stottere ich weiter, um überhaupt 41 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

etwas zu sagen, »ich hätte nicht geglaubt, dass Sie überhaupt einen Gedanken an meine armseligen Schreibversuche verschwenden …« »Da ist es wieder: armselig. Wieso armselig?« »Natürlich wäre es schön, wenn sich jemand dafür interessieren würde. Da es aber niemand tut, halte ich besser von vornherein alles unter Verschluss. Der Einzige, der längere Passagen kennt, ist Vincent.« »Sie betreiben lieber gleich Enttäuschungsprophylaxe, warum eigentlich? Und, ist da noch was? Traurigkeit vielleicht?« »Wenn Sie jetzt darauf hinauswollen, dass Eltern, Lehrer oder sonst wer mir in früher Kindheit ausreichende Anerkennung verwehrt haben, dann sage ich Ihnen: kann sein. Traurigkeit entdecke ich im Augenblick nicht. Wenn überhaupt etwas, dann Zorn. Das ist jetzt erst mal so. Vielleicht kommt noch mehr, und anderes, eines Tages Traurigkeit. Vielleicht.« Als wäre es nicht schon des Guten genug, nimmt Hirtberg schließlich noch mehr Druck. »Sie können damit, also mit Ihrer Symptomatik, hundert Jahre alt werden, vorausgesetzt, Sie trinken genug, halten Ihren Elektrolyt-Haushalt in Schuss. Sie können damit uralt werden«, wiederholt er. Entschieden und nachdrücklich will er mir jeden Druck nehmen, um ein gewissermaßen grundgereinigtes Terrain zu schaffen, auf dem freie Erkenntnisgewinnung, ungehindert durch zu hohe Erwartungen, erst möglich ist. Auf dem Weg zur Praxis nehme ich mir vor, nicht über die Artistin zu sprechen. Erstens, weil das Thema stark schambesetzt ist, und zweitens, weil ich meinen Analytiker nicht langweilen möchte: Welch demütigende Vorstellung, er würde meiner auf lang oder kurz überdrüssig, weil er das Gejaule ums Essen und das damit verbundene Chaos nicht mehr hören kann. Im Rückblick auf eine der vergangenen Stunden, in der es um den konkretistischen Umgang mit höchst unspezifischen Ablehnungsgefühlen ging, bleiben wir aber bei Körper und Gewicht. »Wenn ich morgens aus der Dusche steige, verhänge ich, zumindest an ganz schlechten Tagen, den Spiegel mit einem Badetuch, damit ich das Elend nicht sehen muss. Ich verabscheue den Speck, empfinde vor allem die Region zwischen unterem Rippenbogen und Venushügel als besonders unkontrollierbar, Bauch und Hüften monströs. Picassos deformierte Akte der surrealistischen Phase sind Grazien dagegen, und ich bin froh, wenn meine Kleidung alles verhüllt und nicht nur das: sie vor allem auch Grenzen markiert, spürbar macht, dass faktisch nichts ins Uferlose treibt.« »Aua«, sagt er, »das tut weh. Diese Ablehnung! Sie tut mir weh, wenn ich mich mit Ihnen identifiziere, und das tue ich ja laufend. Merken Sie eigentlich, mit welchem Nachdruck Sie sich ablehnen? Tut Ihnen das nicht weh?« »Ja, doch, aber es ist doch nur mein Körper.« 42 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Der aber einen beträchtlichen Teil von Ihnen ausmacht, oder wie sehen Sie das?« »Er macht einen Teil aus, schon. Und ich lehne ihn ja auch nur gefühlsmäßig ab, ich fühle ihn als Monstrum, während ich ihn sehe als durchschnittlichen Frauenkörper, der eigentlich niemanden schockieren dürfte.« »Spüren Sie, dass es ein Unterschied ist, ob Sie Ihren Körper ablehnen oder ihm mit Ihrem verkorksten Körpergefühl begegnen? Ich sag’s noch mal: Sie haben eine massive Körperschemastörung, eine völlig verzerrte Wahrnehmung.« »Das mit dem Unterschied kapiere ich nicht … Aber gut, rein rational betrachtet ist mir bewusst, dass mein Körper ganz in Ordnung ist. Durchschnittlich eben.« Hirtberg zeigt mir einen Vogel: »Wie alt sind sie? Vierundvierzig? Gucken Sie sich doch mal um!« »Wieso? Ja, natürlich, es gibt noch Dickere. Meinem Kopf ist, wie gesagt, klar, dass mein Gewicht im Durchschnitt liegt.« Ich winde mich in meinem Sessel wie beim Zahnarzt, wenn er den Nerv trifft. »Sie kriegen gar nicht mit, dass Sie nicht im Durchschnitt liegen, Sie liegen über dem Durchschnitt – im positiven Sinne, nicht dass Sie das jetzt auch wieder in den falschen Hals kriegen«, sagte er in seinem flapsigen Ton, in einer Schnodderigkeit, die hier authentisch ist und nicht dazu dient, Gefühle zu kaschieren. Das ist mir peinlich. Das mit dem Durchschnitt, in dem ich mich angeblich nicht bewege. Ich kann nicht glauben, dass er meine Figur als attraktiv bezeichnen würde, was er Gott sei Dank nicht tut. Und selbst wenn er es täte, bräuchte ich es ja nicht persönlich zu nehmen. »Natürlich weiß ich, dass Männer meinen Körper anziehend finden, Timo zum Beispiel, er sagt es ja oft genug. Aber ich kriege das nicht mit dem gefühlten Bild von mir selbst überein. Deshalb glaube ich das in der Regel nicht und fühle mich verarscht.« »Da sind wir wieder bei Ihrer konkretistischen Art und Weise, mit dem Verdacht, etwas an Ihnen sei falsch, umzugehen. Sie fokussieren Zweifel, Unsicherheit, Ablehnung auf Ihren Körper: Hier haben Sie die Möglichkeit, überhaupt etwas zu tun: Sie reagieren mit Ihrem Symptom.« Gott sei Dank redet er immer von »Symptom«, was ich als sehr taktvoll empfinde. Silzer, seines Zeichens Verhaltens- und mein persönlicher Bezugstherapeut in der Klinik, war da anders: Zwei seiner Sätze waren derartig brutal, dass ich sicher war, bei ihm nicht wirklich gut aufgehoben zu sein. Einmal sagte er: »Sie haben sich irgendwann gegen das Leben entschieden.« Und ein anderes Mal: »Kommen Sie herunter von Ihrem hohen Ross, etwas mehr Demut würde Ihnen gut tun.« Immerhin bediente er sich gemäß der Gepflogenheiten in der Klinik eines nicht wertenden Vokabulars, sprach von Heißhungerattacken mit selbstinduziertem Erbrechen, wenn es schlicht um Fressen und Kotzen ging. Das wirkte aber auch irgendwie gestelzt und fügte sich schwerlich in seine emotionale Grobheit.

43 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Offen gestanden ist mir überhaupt nicht klar, dass ich mich subjektiv als nicht richtig – also falsch – empfinde. Worauf Hirtberg hinaus will, dämmert mir, und das auch nur im Ansatz, als ich ihm dieses Spannungsgefühl schildere, wort- und gestenreich beschreibe, wie es sich nach einigen symptomfreien Tagen einstellt und am Ende unerträglich wird. »Wissen Sie, das ist ganz ähnlich der Situation, in der Menschen mit selbstverletzendem Verhalten zum Messer, zur Schere greifen und anfangen zu ritzen. Das Gefühl zu quellen steigert sich ins Unermessliche. Wortwörtlich tastend vergewissere ich mich, dass weder Hüfte, noch Bauch oder Busen dabei sind, alle irdischen Dimensionen zu sprengen.« Unwillkürlich ziehe ich den Bauch etwas mehr ein. »Oder Sie fangen an, Kalorien zu zählen, nach magischen Daten zu suchen, den Fettrechner im Internet zu konsultieren, Tabellen zu erstellen und so weiter. Sie müssen überprüfen, ob alles in Ordnung ist, ob Sie noch in Ordnung sind.« »Aha? Sie meinen, wegen dieser Unsicherheit, was, wenn nicht mein Körper, falsch ist, muss er herhalten? Tja, das ist nie anders gewesen. Spätestens mit vierzehn fing ich an, ihn als korrekturbedürftig zu erachten. Und Dietlinde … die wollte ebenfalls korrigieren, was das Zeug hielt, und zwar sowohl sich selbst als auch, quasi aus Resignation angesichts ihres diesbezüglichen Scheiterns, ihre Töchter.« »War Ihre Mutter übergewichtig?« »Retrospektiv kann ich das nicht wirklich beurteilen … Aber lassen Sie mich noch eben weitererzählen: Den Trick mit dem selbstinduzierten Erbrechen entdeckte ich mit einundzwanzig, zweiundzwanzig, aber essgestört war ich definitiv schon viel früher. Nun«, fahre ich mit spitzer werdender Stimme fort, »spätestens wenn die Spannung unerträglich wird und ich diesen fettwuchernden Leib nicht mehr aushalten kann, kommt die nächste Attacke. Manchmal, wenn es vier, fünf Tage lang gut geht, lässt die Spannung nach. In naivem Staunen, überwältigt vom offenkundigen Ausbleiben jener Konsequenz, vor der ich diese fanatisierte Angst habe – nämlich der Gewichtszunahme –, wache ich des Morgens auf und bin: nicht dick. Ich habe gegessen, gelebt … und habe trotzdem nicht zugenommen! Das ist der Moment, der mir regelmäßig den Boden unter den Füßen wegreißt. Aber der Boden, auf dem ich stehe, taugt eh nix. Unmöglich, es zu glauben: Ich bin nicht dicker als gestern! Der Glaube an die Jungfernschaft Mariens ist ein Klacks dagegen.« »Sie zweifeln. Jetzt müssen wir mal gucken, was hinter Ihren Zweifeln steckt«, sagt Hirtberg. »Ja, ich zweifele. Ständig. Fatalerweise sogar an meinem System, dem magischen Denken, das nicht funktioniert, an dem ich aber Tag für Tag festhalte in der Hoffnung, es möge funktionieren. Weshalb ich es ja auch immer weiter verfeinere, seit Jahren, mich darin verfange wie eine Fliege im Spinnennetz, meine Grübelspirale, die in so vielen meiner Bilder auftaucht.« »Sie sind sogar bereit, zugunsten der vermeintlichen Stabilität Ihres Systems eine Attacke zu haben, wenn schon sonst nix stabil und verlässlich ist. Sie zählen, rechnen, 44 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

tabellieren, konstruieren und vergewissern sich so, dass doch alles in Ordnung ist. Dass Sie in Ordnung sind. Nichts ist falsch. Sie sind nicht falsch. Wenn Sie abends im Bett liegen und sich sagen, dass Sie von tausenddreihundertfünfzig Kalorien nicht fett werden, tun Sie nichts anderes, als sich selbst zu beruhigen – wie man ein Kind beruhigt nach einem langen, anstrengenden Tag: Es ist alles gut, schlafe jetzt, mein Kind, die Welt ist stabil, sie trägt dich, und noch mehr: Du bist gut. Alles ist in Ordnung.« Wenn er auf diese Art mit sanfter Stimme spricht, stelle ich ihn mir als Vater seiner Kinder vor und passe schwer auf, dass es mir emotional nicht zu viel wird. Hey, sei vernünftig, es ist nur dein Analytiker, der hier seine Rolle spielt … hoppla, zweite Person Singular. Wer spricht hier mit wem? Weinen nicht manche Menschen im Kino? Wer kennt schon Doktor Schiwago persönlich? Hirtbergs Ton geht mir unter die Haut, als er beschreibt, wie ein Kind sich förmlich aufrichte, groß und stark würde, wenn seine Mutter oder sein Vater ihm über den Rücken streicht und lobt, es ermuntert, an sich zu glauben, ihm Gewissheit geben, dass es gut ist, so wie es ist. Einige Tage später wirkt Hirtberg weniger konzentriert als sonst, ja, lustlos sogar, was sich im Verlaufe der Stunde noch steigert. Wenn mich nicht alles täuscht, ist er nicht – oder schlecht – rasiert, genau kann ich das nicht erkennen: Er sitzt mit dem Rücken zum Fenster und das hereinbrechende Dezemberlicht überstrahlt den Fokus meiner Betrachtungen. Er amüsiert sich darüber, dass ich mich als Weihnachtsallergikerin bezeichne, vermutlich mehr über den Begriff denn über den Tatbestand. Ich erzähle ihm von dem Päckchen, das Dietlinde geschickt hat, von den Gefühlen beim Öffnen und Betrachten des Inhaltes – ein kleines Stoffbeutelchen mit appliziertem Weihnachtsmotiv, darin selbstgebackene Kekse und eine wunderbar duftende Körperlotion. Mich überfallen Schuld- und Schamgefühle ob der Überzeugung, mit Füßen zu treten, was an Werten sie, Gerhard und Dietlinde, ihren Kindern vermitteln wollten. »Es ist sehr wichtig, dass Sie sich ganz konkret bewusst machen, was sich da abspielt: Warum das schlechte Gewissen? Was ist mit der Traurigkeit, von der Sie sprechen? Da ist wieder Ihr Schwarz-Weiß-Denken«, fährt Hirtberg fort, »Sie meinen, alles mit Füßen zu treten, aber warum tun Sie das? Wäre es nicht eine Möglichkeit, zu sagen: Es war damals gut, so wie es war?« Er zeichnet drei Möglichkeiten auf, mit der Weihnachtsallergie umzugehen: »Erste Möglichkeit: Sie wollen nicht feiern, tun es aber trotzdem, einzig aus dem Grund, dass Ihre Schuldgefühle Sie plagen. Diese Variante beruhigt das Gewissen, kann sich aber, einmal im Gange, als schier unerträglich erweisen. Zweite Möglichkeit: Sie wollen nicht feiern, tun es aber trotzdem, weil gute Gründe etwa dafür sprechen, die Eltern zu besuchen: Wer weiß, wie lange sie noch leben. Es tut nicht weh, Entgegenkommen zu zeigen. So macht Timo das: eine gesunde, vergleichsweise rationale und bewusste Entscheidung. 45 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Dritte Möglichkeit: Sie wollen nicht feiern und tun es auch nicht, dies allerdings begleitet von erheblichen Schuldgefühlen. Das ist Ihre Variante. Sie ist verwandt mit der ersten, jedoch mit dem Unterschied, dass sie der Gewissensberuhigung nicht zuträglich ist, dafür aber authentisch.« »Der rote Faden ist zerrissen«, klage ich. »Mir fehlt jede Orientierung, wo stehen wir, was machen wir denn jetzt?« Hirtberg hängt in seinem Sessel, hat endgültig keine Lust mehr. Seine Augen sind klein, er blinzelt. »Und?«, fragt er zurück. »So ist das jetzt eben. Es geht nicht weiter. In diesem Augenblick gibt es nichts abzuarbeiten.« Verunsichert grinse ich ihn linkisch an und komme mir dabei so unendlich dämlich vor. Was gäbe ich darum, käme er auf den Trichter, mir anzubieten: Nun gut, den Punkt Weihnachtsallergie haben wir erledigt. Kommen wir zum nächsten, als da wäre: Ihre Jurij-Fantasien zum Beispiel. Da er das nicht tut, fühle ich mich in die Pflicht genommen, meinerseits etwas anzubieten, um die Konversation in Gang zu halten, als ob es tatsächlich darum ginge, ihn gut zu unterhalten. Mich macht es wütend, dass er für sein untätiges Dasitzen bezahlt wird. Als könne er Gedanken lesen, sagt er, auch etwas lahm allerdings: »Ich tue ja was. Ich gebe Ihnen die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit der Situation.« »Aha. Ich will aber im Programm bleiben, will dort weitermachen, wo wir aufgehört haben. Also, Hirtberg, woher kommen meine Zweifel? Wie erkenne ich sie überhaupt?« »Da sind sie doch schon wieder, Ihre Zweifel. Sie wissen nicht, wie Sie mit der Situation, in der eben nichts passiert, umgehen sollen.« Das hilft mir nicht weiter. Wir schweigen. Mehr als eine Minute halte ich das nicht aus, dann plappere ich schon wieder irgendwas daher. Er entschuldigt er sich für einen Moment, was er noch nie getan hat. Als er wieder hereinkommt, habe ich den Faden, der ohnehin nicht da ist, verloren. »Wo waren wir stehen geblieben?«, frage ich. Hirtberg streicht sich die dort nicht vorhandenen Haare aus der Stirn und gibt mir endlich ein Ende des Fadens zu packen, nach dem ich schnappe wie ein Fisch nach einer Fliege. »Erinnern Sie sich doch einfach noch mal an Ihre Kindheit …« Immerhin ein Angelpunkt. Nun gut, ich erinnere mich. Nach einigem Grübeln fallen mir die zwei Goldfische ein, die der Bruder einer meiner Freundinnen in einem kugelförmigen Glas gefangen hielt und die ich in den Gartenteich kippe mit dem Ergebnis, dass sie am nächsten Tage tot sind. Immerhin habe ich sie aus dem Glas befreit. Besser tot, als im Kreis zu schwimmen. Dann der Igel, den ich in irgendeinem Kindheitsherbst mit einem Stein erschlage, 46 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

weil ich ihn für unheilbar krank halte und von seinem Leid – zwischen seinen Stacheln wimmelt es von Maden – befreien will, was mir nachhaltig gelungen ist. Meine ersten Reitstunden. Wotan und Zachalla. Ich bin zwölf Jahre alt und reite mir den Popo wund, blutig, schweige, leide und reite weiter. In der Stallgasse fühle ich mich neben der Schimmelstute Zachalla, die ich am Zügel führe, unendlich klein und zugleich unendlich stark. Glücklich. Mein Dackel wird überfahren. Der Mörder hält nicht einmal an. Ich falle von Katja, einer Haflingerstute, breche mir die Knochen. Erzähle Gerhard und Dietlinde, ich sei im Wald gestürzt, als ich mit dem Fahrrad über eine Wurzel fuhr. Ich muss ins Krankenhaus. Kinderstation. Draußen herrscht die Ölkrise. An Silvester breche ich mir beim Striegeln eines Schimmels namens Brandy den Unterarm – und reite heimlich weiter, jetzt mit eingegipstem Arm. Ich bekomme zum ersten Mal meine Tage, packe meinen orange-weiß gestreiften Frotté-Slip in ein Plastiktütchen und verstecke das Päckchen im Schrank hinter den Pullovern. Beim Volleyballspiel verletze ich mir das Knie. Dietlinde holt mich von der Schule ab und fährt mit mir zum Orthopäden, der nicht erkennt, dass es sich um einen kompletten Abriss beider Kreuzbänder handelt. Damit laboriere ich heute noch herum und warte darauf, dass ich das Alter erreiche, indem die Implementierung eines künstlichen Gelenks lohnt. Gerhard kauft mir auf der Stutenschau in Gütersloh eine Haflingerstute, Margot. Ich fälsche die Unterschrift meiner Eltern. Verschweige den blauen Brief mit der üblen Perspektive, die siebte Klasse wegen mangelnder Leistungen im Religionsunterricht – auch in der Wiederholung – nicht zu schaffen.

47 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ein Teil des roten Fadens: Zweifel

A

ls wir uns an einem lichten Tag im frühen Januar wieder sehen, bin ich nicht wirklich in Kontakt mit mir. Das war vor der Weihnachtspause anders. In den therapiefreien Wochen war meine Körperwahrnehmung katastrophal, was sich wiederum verheerend auf mein Verhalten auswirkte. Wirkt, um ehrlich zu sein. »Sie zweifeln. An sich selbst, an dem, was Sie tun. Daran, ob überhaupt – und wenn ja, dann wie – andere Sie wahrnehmen. Bei dem, was Sie mit dem Essen und mit Ihrem Körper machen, handelt es sich um einen Konkretisierungsversuch Ihrer latenten Überzeugung, dass Sie irgendwie falsch sind. Ihre Zweifel kommen in ganz unterschiedlicher Gestalt daher: Mal ist es Ihre Arbeit, von der Sie nicht wissen, ob sie überhaupt der Mühe wert ist, dann sind es Ihre Bilder und Texte, deren Qualität Sie in Frage stellen. Ihr Körper schließlich muss herhalten für diesen Wust an Zweifeln, diesen Sturm der Unsicherheit. In ihm finden Sie Sicherheit. Hier wissen Sie, dass er nicht in Ordnung ist. Sie zweifeln, sobald Sie sich zeigen. Sobald Sie nach außen gehen und sich präsentieren, so wie Sie sind.« Hirtberg bietet mir den roten Faden an, entfernt sich von der Körperebene, ohne dass ich es mitkriege. Ich bleibe. »Die Zweifel sorgen zuverlässig für ein unspezifisches, auf jeden Fall aber physisches Unbehagen, das sich mit der Frage verhakt: Was geschieht, wenn die Artistin geht? Wie die Schneeflocken draußen wirbeln körperlichen Missempfindungen und geistig-seelische Unsicherheit durcheinander. Um überhaupt irgendeine Stabilität zu erlangen, glaube ich, dass ich zunehmen werde. Lieber, als herumzutaumeln, als sei ich selbst eine Schneeflocke, glaube ich, zuzunehmen …« »Und zuzunehmen bedeutet den Verlust von Zuwendung, Akzeptanz, Liebe? Können Sie sich vorstellen, dass genau diese Befürchtung Sie mit Ihrem magischen Denken abzuwenden versuchen? Sie zweifeln an der Stabilität dessen, was ist. An der Verlässlichkeit von Beziehungen, an der Tragfähigkeit der Welt. Am liebsten hätten Sie immer eine Art Rückversicherung, wie ein Kind, dem man sagt: Geh nur, es ist alles in Ordnung, ja, wenn du zurückkommst, bin ich noch immer da«, sagt Hirtberg. Mit dem, was er sagt – und mehr noch: wie er es sagt – berührt er einen hochsensiblen Punkt. Allein seine Fähigkeit, mir Worte wie ein samtenes Tuch um die Schultern zu legen, verursacht Gänsehaut am ganzen Körper. Ich schlucke. Mindestens zweimal, hoffentlich unsichtbar.

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»Ich fürchte, diese Bedingungslosigkeit nie erfahren zu haben«, bringe ich etwas stockend hervor. »Gerhard und Dietlinde gaben mir Liebe und Zuwendung, aber … vielleicht nicht einfach so, und«, um einen sachlichen Tonfall ringend, »sicher nicht mehr, nachdem die ersten Anzeichen für erwachende Autonomie sichtbar wurden.« »Es fällt Ihnen schwer, bedingungslos zu akzeptieren, dass in diesem Augenblick alles so ist, wie es eben ist?« Er guckt mich an, als lege er gerade jetzt besonderen Wert darauf, Vertrauenswürdigkeit auszustrahlen. »Es ist gut. Der Boden trägt.« Mir ist eher, als zöge mir etwas den Boden unter den Füßen weg. »Ja, jetzt und hier ist alles gut. Doch ist da dieser Schatten, diese Erwartung negativer Veränderungen … Hirtberg, hören Sie, es gebricht mir nicht an Vertrauen in die Welt. Irgendwie ist mein Selbstvertrauen abhanden gekommen. In diesen Kontext fügt sich die Trübung eines guten Tages, die darin besteht, dass der nächste wieder anders aussehen wird.« Mich fröstelt, als er das samtene Tuch mit einem Ruck wieder wegzieht: »Sie selbst sind dafür verantwortlich.« »Wofür? Dafür, dass die Waage ewig das Gleiche zeigt, selten nur ein wenig weniger? Verantwortlich dafür, dass, je weniger, desto grüblerischer die Gedanken, die sich im Kreise drehen und sich selbst in den Schwanz beißen, den langen, aus irrsinniger Angst vor dem Mehr, stärker denn je und durchwoben von derjenigen vor dem Weniger? Verantwortlich dafür, dass proportional zu jedem verhungerten Gramm die Wahrscheinlichkeit steigt, bei Abweichungen vom einmal festgelegten Maß bei grenzwertigen sechzigkommasechs zu enden? Ergebnis gerade einer handvoll Kalorien über den Erlaubten, kein Mut zum Plus, die Folgen unkalkulierbar. Gefahrenbissen auf der Grenze von tausenddreihundert. Gefahrenbissen, die zum Verlust jeder Kontrolle führen, zur Überschreitung jener Grenze, auf deren anderer Seite der Verderb jenes federleichten Körpergefühls lauert, bei dem die Jeans locker sitzt und damit, streng genommen, nicht. Verantwortlich für die damit verbundene Egozentrik? Die Putz- und Ordnungssucht, verzahnt mit rastlos kreisenden Gedanken um einen wie auch immer gearteten Lebensinhalt, angestrengtes Spähen nach Herumliegendem, Zeitschriften, Blütenblätter, Kaffeelöffel, Brötchenkrümel, Unterwäsche … Verbissenes Dateisortieren, -umbenennen und -verschieben, resolutes Körperpeeling, Nagelpflege bis aufs Blut; verblassende Erinnerung an das Beflügelnde rigide gelebter Tage. Eskapaden schieben sich als dunkle Scholle darüber, Verlorenheit im verzweifelten Bemühen zu erkennen, zu unterscheiden, um schließlich seelische Befindlichkeit, Leidenschaft und Lebensaufgabe schlüssig zu verbinden. Verantwortlich für die innere Zerrissenheit, das ewige Gewichtsgeplänkel trotz Body Mass Index von neunzehnkommafünf, für die Panik, mit der ich die Artistin in ihre Schranken verweise, wenn sie mir lächelnd nahe legt, ein wenig abzuspecken. Die Stärke zum totalen Verzicht ist mir nicht gegeben, und so habe ich meinen Körper über Jahrzehnte hinweg malträtiert. Nein, schreie ich, nehme die Artistin in den Arm und verspreche: Du bleibst. Ganz gehen lassen werde ich dich nicht. Freundschaft 49 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

sollten wir schließen, moderat miteinander umgehen, so dass nicht dieser elende Zwist mit seinen ebenso kraftraubenden wie unfruchtbaren Disputen kaum Zeit zum Leben lässt …« »Sie steigern sich gerade in etwas hinein«, sagt Hirtberg und bringt mich ins Hier und Jetzt zurück. »Der Erwartung, dass die Artistin Sie links überholen wird, könnten Sie ja die Erwartung des Gegenteils gegenüberstellen. Das tun Sie nicht. Sie vertrauen sich nicht. Statt sich zu vertrauen, versuchen Sie, mit Ihrem magischen Denken und dem damit verknüpften Apparat den Alltag in seiner Unwägbarkeit zu beherrschen.« »Jaaaa«, antworte ich gedehnt, »das Tüfteln an Tabellen, Listen und Diagrammen schützt vor dem Sturz in die Verlorenheit …« »Ihre Denkstrategie ist sowohl Stabilisierungs- als auch Ablenkungsmanöver. Um sich selbst und Ihre Gefühle wahrzunehmen, werden Sie sich von dem einen oder anderen Kontrollsystem trennen müssen.« Obschon es auf die Realität überhaupt keinen Einfluss hat, fühle ich mich ohne mein Sicherheitssystem schwankend wie Seegras im Ozean. Vielleicht werde ich ein anderes Verhältnis zur Zeit entwickeln, zum Augenblick. Und tatsächlich: Ich spiele mit dem Gedanken, alle Dateien zu löschen, zu vergessen und stattdessen – im Zurückgeworfensein auf mich selbst – versuchen zu leben. Wieso eigentlich dauert eine Analyse bis zu dreihundert Stunden, wenn doch schon nach einem Sechstel des Kontingents klar ist, wo der Hase im Pfeffer liegt und keine Anweisung kommt, wie er zu erlegen ist? Konsequenterweise müsste ich Hirtberg meine Erwartung mitteilen, die nämlich, dass er mir sagt, was ich machen soll. Dass er mir eine Aufgabe gibt. Das wird er aber nicht tun. Er wird mich zappeln lassen. Es ist mein Problem, mit Situationen, in denen sich nichts Spektakuläres tut, klarzukommen. Nur fort von diesem Gefühl, auf der Stelle zu treten, welches Thema kann ich anbieten? Kindheitserinnerungen, -erfahrungen, -ereignisse? Im Augenblick nicht relevant. Den inneren Zensor, die Über-Ich-Stärke? Das magische Denken? Umschwenken auf den Faktor Zeit? Letzteres führt mich zu dem Verdacht, dass genau dies die Herausforderung ist: die Unbehaglichkeit der Unsicherheit auszuhalten, Zeit verstreichen zu lassen, ohne die Flucht vor ihr in Form inadäquater Verhaltensweisen anzutreten, wobei die inadäquaten Verhaltensweisen ja nur der Versuch sind, das atmosphärisch Unspezifische auf konkretistische Art und Weise zu fassen und dementsprechend – konkret, aber eben inadäquat – zu begegnen. In die nächste Stunde gehe ich mit dem Gefühl, mir einen Knoten ins Hirn gedacht zu haben. Keine Karteikarte der Welt kann mich retten, und so lasse ich mich, gleichsam als Experiment, bar aller Notizen auf die Situation ein, ohne Plan, was am Ende herauskommen soll. Ohne Thema. Nackt, sozusagen. »Hirtberg, es ist Ihre Aufgabe, zu analysieren, nicht meine. Sie sind der Profi, nicht ich.« 50 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Er ist geradezu begeistert angesichts meines Versuchs, mich von der kruden Vorstellung zu lösen, die Analyse sei eine Art Unterricht, dessen Inhalte einem Curriculum folgen und somit planbar sind. Und so erzähle ich von der Königin, die mich nach Basel schickt, nein, besser: die mich zu einer Reise nach Basel einlädt. Keine Ahnung, was ihre Motivation sein könnte, mich diesen Ausflug ausdrücklich auf ihre Kosten, nicht auf die der Organisation, antreten zulassen. Ganz objektiv gibt es im Moment kaum Unwichtigeres, als eine Ausstellungseröffnung zu besuchen, mit der die Organisation rein gar nichts zu tun hat. Das Museum vor allem, aber auch die Ausstellung ist sehenswert, die Werke von Eva Aeppli in ihrer Tristesse kommen meinem Lebensgefühl auf dieser kurzen Reise, die ich gar nicht will, sehr nahe. Bereits auf der Hinfahrt mit dem Zug setzt sich die Artistin zu mir und überzeugt mich am ersten Umsteigebahnhof, dass dieses sinnlose Unterfangen nur mit Bahlsen, Lindt und Coca Cola zu überleben ist, womit sie mich von allem Ringen mit ihr befreit. Es ist der 24. Januar. Das Hotel ist nicht teuer, dafür aber in Ausstattung und Einrichtung eine Katastrophe. Unter vier Sternen sollte man nicht leben, auch nicht aus Bescheidenheit. Die Rückfahrt am folgenden Tag trete ich gleich mit dem ersten Zug an, will so schnell wie möglich raus aus dieser Kaschemme, die sich großspurig »Münchener Hof« nennt. Im Zug finde ich einen kommoden Platz im letzten Wagen und genieße mein Kartoffelbrötchen, das ich für die letzten Franken, die von meinen helvetischen Eskapaden übrig geblieben sind, gekauft habe, klappe meinen Rechner auf und finde mich plötzlich weder zu dick noch zu hässlich mit meinem neuerdings streng zurückgenommenen Haar. Ich freue mich auf den Besuch im Solarium, auf die Reitstunde und den Abend in meinen eigenen vier Wänden, wie ich mich kaum zuvor auf etwas gefreut habe. »Da gibt es die Königin, die Ihnen Gutes angedeihen lassen will«, stellt Hirtberg, in völliger Verkennung der Tatsachen fest, nachdem ich die Schilderung meines desaströsen Ausflugs beendet habe. »Und es gibt Ihr tief verwurzeltes Bedürfnis nach Aufgabenerfüllung: Reisen – nur zum Vergnügen? Noch dazu auf Kosten anderer? Undenkbar!« »Bitte machen Sie sich nicht lustig über mich, Hirtberg. Ich finde es völlig legitim, der Ansicht zu sein, dass mit einem solchen Unternehmen ein Zweck verbunden sein sollte. Die Reise nach Basel nutzte niemandem. Im Gegenteil, im Büro stapelt sich die Arbeit, die zu erledigen sinnvoller wäre als der Besuch einer Ausstellungseröffnung, ohne dort auch nur mit einer einzigen wichtigen Person in Kontakt zu kommen, weil der Kontakt mit den wichtigen Personen anderen wichtigen Personen vorbehalten ist und ich eben keine wichtige Person bin.«

51 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Der inneren Haltung, unter der Sie leiden, versuchen Sie mit Ungeduld, Anstrengung, Zielorientierung und Energie zu begegnen. Damit stehen Sie vor dem Dilemma, den Teufel mit dem Belzebub austreiben zu wollen. Freiheit lässt sich nicht erzwingen, Gelassenheit nicht erarbeiten, Geduld nicht durch angestrengtes Warten darauf, dass sie endlich da ist, erreichen.« »Aha. Und wie, bitteschön, kann es gelingen, Geduld und Gelassenheit zu entwickeln, wenn nicht durch energische diesbezügliche Bestrebungen, durch aktives Ringen und ununterbrochenes Bemühen? Welche Rolle spielen Sie, Hirtberg? Die des wohlwollenden, mit gleichschwebender Aufmerksamkeit ausgestatteten Begleiters in einem Prozess passiven Erduldens eines Zustandes, der sich am ehesten mit Abwarten umschreiben lässt?« Ungeduldig knibbele ich an meinem Daumennagel. »Im Gegensatz zum passiven Erdulden impliziert das Abwarten eine mehr oder weniger ausgeprägte Fokussierung auf die – ungewisse – Zukunft. Die Verunsicherung angesichts des Ungewissen verursacht den aktiven Versuch, die Gegenwart zu stabilisieren und darüber hinaus das Ungewisse zu kontrollieren …« »Und dann, wenn ich Sie recht verstehe, kommt es zum magischen Denken?« »Ja. Das aber keinerlei Einfluss, erst recht keinen positiven, auf die Realität hat. Die ersten Schritte auf dem Weg, diesen völlig irrationalen, realitätsfernen Denkmechanismus zu unterbrechen, liegen in der Wahrnehmung, Benennung und der konsequenten Erduldung tiefer Gefühle von Orientierungslosigkeit, Instabilität, Verlorenheit, Ohnmacht und Hilflosigkeit, im Aushalten der Leere, die im Verzicht auf das vermeintlich stabilisierende Gedankengerüst aus Kalorien- und Gewichtsberechnungen, Tabellen und Kalendern entsteht.« Ohne Zahlenmagie bleibt nackt und kahl das Hier und Jetzt. Der Ort, an dem ich bin, und das Gefühl, das hier an diesem Ort in diesem Augenblick in mir ist. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Im Augenblick bewusster Wahrnehmung der Gegenwart springt die Katze auf den Plan und beißt sich selbst in den Schwanz in ihrem Bestreben, Kontrolle über Ungewissheit und Leere zu gewinnen. Sie versucht, der Gegenwart, den mit dieser verbundenen Umständen und den daraus resultierenden Gefühlen rational auszuweichen. Allerdings auf eine sehr krude, selbstzerfleischende Tour. Wenn es schon ganz ohne Aktivität nicht geht, kann die Übung nur lauten: Spüre deine Unsicherheit, deine Angst und deine Sorgen. Und spüre sehr genau hin, was sonst sich regt. Ernähre dich heute, als hättest du dein Leben lang normal gegessen. Denke eine Minute lang nicht an die nächste. Hirtberg würde fragen: Wer spricht? Das Bild mit dem Pferd, das wild an der Longe tobt, gefällt mir. Ich denke an Loschad, als er gerade dreijährig zu mir gekommen ist. Der Ausbilder in der Mitte des Zirkels als ruhender Pol, um den das Pferd im Kreise rast und buckelt und sich notfalls auf 52 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

die Nase legen kann: Das Vertrauen des Menschen in die eigene Stabilität wird sich irgendwann auf das Pferd übertragen. Es wird sich beruhigen. »Können Sie sich vorstellen, ähnlich duldsam mit sich selbst umzugehen, wie Sie es damals mit dem jungen Pferd getan haben? Wie Sie es heute mit dem erwachsenen Pferd tun?«, fragt Hirtberg und fügt hinzu, dass immerhin das einstmals junge, wilde Tier heute eines voller Vertrauen ist. Das Bild mit dem Pferd – das erstaunlicherweise Hirtberg nach immerhin minutenlangem Schweigen aufgreift – hatte ich falsch interpretiert: Der Mensch in der Mitte des Zirkels entspricht nicht dem inneren Zensor, nicht dem Über-Ich, sondern dem authentischen Ich. Hirtbergs diesbezügliche Richtigstellung ist in ihrer verbalen Eloquenz, Professionalität und Intellektualität derartig anspruchsvoll, dass ich Minuten später schon nicht mehr weiß, was er eigentlich gesagt hat. Auf jeden Fall geht es bei dem Bild mit dem Pferd um die Veranschaulichung einer Objektbeziehung. Da es sich hier nicht um eine Ausbildungsveranstaltung im Sinne einer Vorlesung zum Thema »Modelle der Psychoanalyse« handelt, akzeptiere ich meine Begriffsstutzigkeit bezüglich Hirtbergs Ausführungen, mit denen er sich, wie er sagt, abgrenze vom Triebmodell nach Freud und von dem – späteren – Modell des Selbst und den Objektbeziehungen unterscheide. Das Wesentliche dieses Exkurses ist die Tatsache, dass mein Interesse an den theoretischen Hintergründen der Analyse, so Hirtberg, völlig in Ordnung ist. »Wie, in Ordnung? Kann ich nicht glauben. Rationalisierung als Widerstand hin oder her?« »Indem Sie sich erkundigen, ob Ihre Rationalisierung erlaubt ist, vergewissern Sie sich, dass Sie, ungeachtet Ihrer Autonomiebestrebungen – jetzt hier in der Behandlung – zurückkommen dürfen. Sie dürfen zurückkommen. Wie das Kind, das in die Welt geht und zurückkommen darf.« »Oder das Pferd, das, erst ungestüm, sich schließlich vertrauensvoll seine Karotten abholt?« Ich möchte wissen, ob Hirtberg es begrüßen würde, wenn ich mich endlich auf die Couch verfügte, weil ich – analog einschlägiger Lehrmeinungen – darauf spekuliere, dass es dem analytischen Prozess zuträglich sein wird, wenn es mir gelänge, die elende Rationalisiererei sein zu lassen. Aber ich frage nicht nach der Couch, sondern nebulös nach der Berechtigung von Fragen meinerseits in Erwartung konkreter Antworten seinerseits. Was passiert? Wie beschrieben: Hirtberg erklärt, dass mein Vorgehen eben meines und damit in Ordnung ist. Jesses. Damit schmälert er vorübergehend mein Interesse an der Couch. Er assoziiert, so will mir scheinen, eine übergeordnete Kategorie, die nämlich von Neutralität und Abstinenz in der klassischen Analyse. Wie schon früher verweist er darauf, dass die Psychoanalyse sich seit Freund weiterentwickelt habe. Wieder spüre 53 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ich, dass er sich von allem Starren, von tradierten Lehrmeinungen und Unflexibilität distanziert. »Auf ein und dieselbe Frage, gestellt von einer schizoiden und einer voyeuristischen Person, würde ich unterschiedlich antworten. Nehmen wir ein Beispiel«, sagt er und schlägt seine langen Beine übereinander, die in verwaschenen, einstmals wohl schwarzen Jeans stecken und Stiefeln, die mich fatal an mein eisenbeschlagenes Cowboyschuhwerk der frühen Achtziger erinnern, »wenn mich der schizoide Patient fragt, wie mein Urlaub war, wäre es doch kontraproduktiv, ihm, der nun vielleicht erstmals aus sich herausgeht, Interesse und damit einen gewissen Behandlungserfolg zeigt, eine adäquate, ihn bestärkende Antwort zu verwehren, nur weil die Regel vorsieht, dass der Analytiker über sich und sein Privatleben zu schweigen hat. Wenn mir der voyeuristische Patient dieselbe Frage stellt, hat das eine ganz andere Qualität, und es wird ihm mehr helfen, wenn ich mich erkundige, warum ihn das denn nun interessiert, als wenn ich ihm von maritimen Tauchgängen oder alpinen Kletterpartien erzähle, was zwar seinen Voyeurismus befriedigen, ihm aber letztlich in der Überwindung desselben nicht weiterhelfen wird.« Es braucht keine besondere Intuition, um seiner Freigeistigkeit gewahr zu werden, seiner Flexibilität und seiner Urteilsfähigkeit. Das in Verbindung mit seiner Unerschrockenheit mündet in einer ironisch-biestigen Unkonventionalität, wegen der nicht zuletzt ich mich für ihn entschieden habe. Das habe ich gut gemacht! Es gehöre zu mir, »verstehen zu wollen, rational vorzugehen«, sagt Hirtberg, und entschärft damit meine Sorge, zu viel zu Rationalisieren und folglich zu wenig Gefühl zuzulassen. »Anders wahrscheinlich als viele konservativ arbeitende Kollegen ist es für mich völlig in Ordnung, wenn sich ein Patient für die Theorie interessiert und begreifen will, wie eine Analyse funktioniert. Ich habe nichts gegen Fragen und ich stehe, übrigens auch öffentlich, zu meiner wenig an überkommener Tradition – um der tradierten Lehrmeinung willen – orientierten Methode. Sie sind nun mal gewöhnt, so zu denken: Anders als jemand, der an der Stanze am Fließband steht, arbeiten Sie mit Ihrer Rationalität, die Teil Ihrer Persönlichkeit ist. Warum sollte ich das ignorieren?« Das frage ich mich auch. Dann redet Hirtberg von Diskrepanz. Zwischen was? Meine Zweifel als Dreh- und Angelpunkt, ein Gefühl also? Zweifel ist ein Gefühl?! Das hätte ich nie so benennen können! »Unter anderen dafür bin ich ja da«, sagt er lächelnd. »Sie schildern Ereignisse, Gedanken und Verhalten, und ich etikettiere die dazugehörigen Gefühle, die Sie haben, aber nicht benennen können. Ich verpasse sozusagen dem für Sie im Moment nicht Verbalisierbaren Labels, wenn Sie so wollen.« Und ob ich will! Ich bin begeistert von seiner Gabe, zu sehen, das Unbewusste hervorzukramen, ihm einen Namen zu geben und ins Bewusstsein zu bringen. In mein Bewusstsein. Beeindruckend. Und das ist erst der Anfang! 54 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ich möchte auf die Couch. Ich möchte, dass Hirtberg meine Texte liest. Ich möchte Fotos mitbringen, in die Kindheit reisen, im Dort und Damals graben und eine Verbindung zum Hier und Jetzt herstellen. Ich möchte von Hirtberg gefragt werden: Möchten Sie auf die Couch? Möchten Sie mir Ihre Texte zu lesen geben? Möchten Sie in Ihrer Kindheit graben? Ich möchte von Quandt, meinem erbsenzählerischen Vorgesetzten, gefragt werden: Wie weit sind Sie mit Ihrer Arbeit? Wann drucken wir das Buch? Wie kommen Sie mit unserer Sekretärin klar? Ich möchte von Timo gefragt werden: Wie läuft es mit dem Essen und wie in der Behandlung? Ich möchte von Timo aufgefordert werden, mit ihm Sex zu machen. Ich möchte von Anna angerufen werden. Ich schicke Hirtberg eine Mail. Ich möchte sein Urteil. Warum? »Sie wollen wahrgenommen, gefordert und gefördert werden. Sie wollen Aufgaben, Anerkennung und Bestätigung.« Er lehnt sich zurück und verschränkt die Hände vor der Brust. »Wieso eigentlich?« Manchmal stellt er wirklich komische Fragen. Will das nicht jeder? Und wenn das jeder will, wieso bin ich dann gestört und andere nicht? »Offen gestanden will ich etwas ganz anders, und zwar abnehmen.« Am liebsten würde ich sagen: Geschätzter Hirtberg, ich bin nicht so, wie Sie mich sehen. Bitte helfen Sie mir. Erstellen Sie einen Diätplan, ich werde mich daran halten. Meine Strategie ist kontraproduktiv und führt zum Gegenteil: Ohne mein Symptom, wie Sie es taktvollerweise nennen, wöge ich nicht zweiundsechzigkommasechs, sondern, wie in der Klinik bei einigermaßen normalem Essverhalten, neunundfünfzigkommasechs – zwei Kilo Differenz, die spüre ich, da gibt es gar nichts, und sei es noch so analytisch, hin und her zu deuteln. In ohnehin überbordender Unzufriedenheit setze ich hinzu, ohne auch nur ansatzweise einen Zusammenhang herzustellen, dass ich die verschiedenen Aspekte nicht zu einem schlüssigen Ganzen zusammenkriege, mich überfordert fühle vom inneren Zensor, dem strengen Über-Ich, den Zweifeln, dem konkretistischen Fokussieren von Problemen auf Gewicht und Körper, meiner Ungeduld. »Wissen Sie, das geht nicht nur Ihnen so. Es gibt Untersuchungen, aus denen hervorgeht, dass viele Patienten, befragt nach erfolgreichem Abschluss einer Behandlung, was ihnen denn letztlich geholfen habe, dies nicht konkret zu benennen wissen. Ich bin sehr zuversichtlich und vertraue darauf, dass sich nach und nach ein Bild formen wird, das kommt mit der Zeit.« Das Wort Zeit verknüpft sich in meiner Vorstellung mit Ungeduld und kurz – zu kurz, wie ich finde – steht der Faktor Zeit im Raum, in den hinein ich den Gedanken werfe, dass an artistisch guten Tagen die Zeit beinahe still zu stehen scheint. Statt zack, zack, zack ist da Luft und Raum …

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Misshandlung und Verhöhnung

E

s schneit in dicken, nassen Flocken, die aus diffuser Dämmerung auf glitzernden Asphalt, in ölig schimmernde Pfützen fallen und sich dort verlieren. Entschlossen schalte ich mein Autoradio an. »Electron blue«, »Aftermath«, R.E.M. Nur diese zwei Stücke. In mir pocht das letzte Drittel der Stunde, ich lasse es – atemlos – Revue passieren. Gedanken und Musik vermischen sich, bilden schließlich eine Einheit. Hirtberg hat überzogen. Sieben Minuten. Vor mir verpennt einer die Grünphase. Hirtberg trägt ein gestreiftes Oberhemd unter einem weich fließenden, für die Jahreszeit zu leichten, anthrazitfarbenen Jäckchen. Schwarze Schuhe, schwarze Socken. Gott sei Dank. »Beäugen Sie eigentlich andere Menschen auch so kritisch wie sich selbst?«, fragt er und ich frage mich, ob er Gedanken lesen kann. Blöde Frage, natürlich kann er. »Über Ihr Gewicht habe ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht. Was ich wahrnehme, ist, dass Sie groß und schlank sind. Ansonsten interessieren mich, was Sie betrifft, eher andere Qualitäten. Dass ich visuell präzise und detailliert wahrnehme, hängt wohl mit meinem an Kunst geschärftem Auge zusammen«, ergänze ich, davon überzeugt, dass Menschen, die nicht so genau gucken können, wollen oder es einfach nicht tun, es angesichts des überbordenden ästhetischen Elends in unseren Städten oft leichter haben. Noch mal zurück, there is no doubt, it’s this, here, now, and you close your eyes … now you’ve worked it out, and you see it all … Hinter mir hupt jemand, grüner wird’s tatsächlich nicht. Wäre Hirtberg einfach nur ein Freund und nicht mein Therapeut, den die Krankenkasse freundlicherweise bezahlt und der jahrlang das Aufrechterhalten gleichschwebender, wohlwollender Aufmerksamkeit trainiert hat, würde ich auf der Stelle umkehren, mich wieder in den taubenblauen Ledersessel hängen, weiter reden, mich an der Seele berühren lassen. Ein Ding der Unmöglichkeit, und ganz abgesehen davon wartet Loschad auf Zuwendung, Möhrchen und Heu. »Wer spricht, wenn Sie Ihren vermeintlich fetten Körper verachten? Wenn Sie sich Ihr Gewicht vorwerfen, Ihre mangelnde Disziplin, Ihre Unattraktivität? Sie reden in der zweiten Person Singular: Du bist zu fett, du bist undiszipliniert, du bist unattraktiv, also: Wer spricht?«

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»Dietlinde vielleicht«, antworte ich zögerlich, obwohl ich genau weiß, dass sie spricht und niemand sonst. »Sie war es, die Tabellen geführt, Gewicht und Körpergröße ihrer Kinder, ihres Gatten und ihr eigenes dokumentiert hat, sie war es, die druckreife Karikaturen schuf, wenn ich ihrer Meinung nach zu viel auf den Rippen hatte …« »Was?! Das sagen Sie mir jetzt? Ganz en passant? Hmm, ist ja auch ganz normal, das machen ja alle Mütter …« Entrüstet richtet Hirtberg sich in seinem Sessel auf. »Ist Ihnen eigentlich klar, dass das Misshandlung ist?«, fragt er und neigt den Oberkörper vor, sieht mich fragend, insistierend an, mit weit aufgerissenen Augen – deren Farbe derjenigen von Timos rehbraunen Augen sehr ähnlich ist – und hochgezogenen Brauen. »Das tut weh jetzt, hm?« Er wiederholt, nun eindringlicher: »Das tut weh. Spüren Sie was? Mir tut das weh!« Jetzt oszilliert er, rationalisiere ich, versetzt sich in mich hinein. Wie sonst kann es ihm weh tun? »Nein. Es tut nicht weh. Ich spüre gar nichts.« »Sie wurden seelisch misshandelt. Sie sind nicht traurig, nicht wütend? Wo ist Ihre Empörung? Sie sind identifiziert mit dieser inneren Stimme, die Ihrer Mutter gehört, deshalb empören Sie sich nicht. Noch nicht.« In der Tat, ich kriege mich nicht getrennt von der Stimme, die spricht. Es ist alles schon so lange her. Am Abend schalte ich die langweilige Polit-Diskussion im Fernsehen ab, krame meine Fotoalben aus dem Keller und begucke mir konzentriert, jedes Detail beachtend, Bilder meiner Kindheit und Jugend: Ich finde nicht eines, das Dietlindes Anwürfe, Karikaturen und Prophezeiungen bestätigen, geschweige denn rechtfertigen würde. Wirklich zu dick war ich nie. Ich gucke noch mal, jetzt mit Brille: immer noch nichts. Traurigkeit, Wut und Schuldgefühle. Ich heule ein wenig und gehe dann ins Bett. Bevor mich mein Atosil in einen bleiernen Schlaf entlässt, fallen mir Hirtbergs Worte ein: »Es darf ein bisschen ärgern. Nicht zu viel …«, ein kaum merkliches Zwinkern in seinem Blick. Mit einem ungeheuren Maß an Empathie versteht es dieser faszinierend freche Typ, meiner Verzweiflung angesichts der mit einer Gewichtszunahme verbundenen Qual zu begegnen. »Es bringt mich um den Verstand.« »Was bringt Sie um den Verstand?« »Dieses Gefühl des Aufgequollenseins, der Eindruck, ja die Überzeugung, unaufhaltsam dicker zu werden«, bringe ich hervor, obwohl ich fürchte, mich lächerlich zu machen. »So sind Sie es ja gewohnt«, sagt er. Hirtberg lacht nicht. Lacht mich nicht aus. Nimmt mich ernst. Er ist der Erste, bei dem ich mich ein bisschen ärgern darf. Das ist es wohl, was er Diskrepanzerfahrung 57 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

nennt: In der Klinik wurde die uneingeschränkte Akzeptanz jedweder Gewichtszunahme verlangt, stelle diese doch eine – wenig nachvollziehbare – Voraussetzung zur Genesung dar. Mit dem Umstand, mich nicht ärgern zu dürfen, falls die Waage klettern würde (was sie nicht getan hat), dass es mich nicht frustrieren dürfe, sollte ich dicker werden (was ich nicht geworden bin), dass ich mich über ein, zwei Kilo weniger nicht freuen dürfe – was ich aber doch getan habe! – konnte und wollte ich mich in der Klinik nicht arrangieren. Da gab es Widerstand, und zwar massiv. Das weiß ich jetzt. Bei Hirtberg ist alles anders. Im Gegensatz zu Timo spart er sich auch jede Bemerkung über meine nicht eben üppige Gestalt und hütet sich, wohl wissend, dass er mich damit nicht erreichen wird, davor zu sagen, ich sei sogar zu dünn. »Das Maß ist entscheidend«, sagt Hirtberg. »Ich finde nicht mein Maß. Weder nach oben noch nach unten, weder in finanziellen noch in ernährungs- und gewichtstechnischen Entwicklungen. Egal, ob ich ein Kilo Kopfsalat esse oder eine Schnitte Brot: Nach dem Essen geht es mir immer schlecht.« »Sie kommen mit Ihrem parasympathischen System nicht klar.« »Wie bitte, womit?« »Das hängt mit dem vegetativen Nervensystem zusammen«, erklärt er. »Genauer gesagt, mit dem außerhalb von Gehirn und Rückenmark liegenden Sympathikus-Gegenspieler, dem Parasympathikus, der unter anderem für die Verdauung zuständig ist, während der Sympathikus beispielsweise für Erhöhung von Herzschlag und Atemtätigkeit sorgt, die Durchblutung der Muskulatur und das Schwitzen fördert.« »Moment, Hirtberg, verstehe ich so nicht. Wenn der Sympathikus in Stresssituationen, der Parasympathikus hingegen in Entspannungsphasen dominiert, dann hieße das, mein Parasympathikus schlägt Kapriolen, statt mir Entspannung zu gewähren?« Mitte Februar. Vor genau einem halben Jahr wurde ich aus der Klinik entlassen. Meine Hoffnung war groß, meine Zuversicht hielt sich in Grenzen. Sonntagabend. Schneeflocken tanzen in der Dunkelheit. R.E.M. und literweise quietscheroter Wildkirschtee. Ich surfe ein bisschen herum. Wenn ein Erwachsener einem Kind feindlich und abweisend begegnet, sei es durch Ablehnung, Schweigen, Isolation, Ignorieren, demütigendes Schimpfen, womöglich noch vor anderen, ist das psychische Misshandlung. So steht das im Internet, ausführlicher natürlich und in anderen Worten. Ich versuche, mich zu erinnern. Dietlinde und Gerhard drohten bisweilen, mich ins Heim zu stecken. Dietlinde bezeichnete mich als Satan, in Wolle gefärbt. Was sie mit der Wolle meinte, ist ein bis heute ungelöstes Rätsel. Sie schlägt mich. Gerhard auch. Als sehr kleines Kind reiße ich zornentbrannt an meinem bunten Kleidchen und schreie, verlange markerschütternd: Ich will Haue! Ein Wunsch, den Dietlinde mir nicht ab-, sondern unverzüglich 58 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

zuschlägt. Natürlich gibt’s nicht laufend Prügel, aber verschiedene, üble Szenen habe ich nicht vergessen. Wenn Gerhard von der Arbeit kommt, müssen wir den Fernseher abschalten, und zwar sofort. Gerhard findet unsere Idole bescheuert, alberne Hampelmänner, Dummköpfe allesamt, die sich als immerhin erwachsene Menschen gar nicht so benehmen, wie er es für angemessen hält. Pink Floyd, Ilja Richter, Mick Jagger, Rod Steward, die Bay City Rollers, Sweet, Slade, Uriah Heep, Genesis: Schlimm genug, dass er sie samt und sonders in einen Topf wirft und eine Gruppe nur halbironisch als Kapelle bezeichnet. Ausgeburten dummsinniger Unterhaltung. Dietlinde – künstlerisch begabt und mit messerscharfer Beobachtungsgabe ausgestattet – zeichnet die Konsequenzen auf, die Fehlverhalten, wie zum Beispiel zu viel Schokolade und Ähnliches zu essen, nach sich zieht: Es entstehen wahre Schreckensbilder auf dem Papier, dicke Fettwülste quellen aus Jeans und T-Shirts. Eines Tages werde ich unansehnlich sein. Und damit alles andere als liebenswert. Falls es nicht jetzt schon so weit ist. Meine Zähne sind auch nicht in Ordnung, also bekomme ich eine Zahnspange, in den Siebzigern noch eine Sache für Wohlhabende. Ich hasse dieses rosafarbene Ding und handele mir Schimpftiraden ein, weil ich, anstatt es zu tragen, in meinen Reitstiefeln oder hinter meinen Büchern verstecke. Später wirst du dankbar sein, heißt es, weil in Zukunft mir ein strahlendes Lächeln mit schönen Zähnen beschert sein würde. Ein Umstand übrigens, der entgegen aller Versprechungen nie eingetreten ist, was folglich nur bedeuten kann, dass dieses Kind, das ich war, nicht schön, sondern, ganz im Gegenteil, hässlich ist. Auf jeden Fall so nicht in Ordnung. Manipulationsbedürftig. Das Kind kaut an den Nägeln. Dietlinde pinselt gelblich-braunes Gift aus der Apotheke drauf, das erstens brennt und zweitens scheußlich schmeckt, mich aber nicht vom Kauen abhält, allenfalls daran erinnert, Unrechtes, Verbotenes und obendrein Unheilbringendes zu tun, denn auch hierzu gibt es Skizzen: Dietlindes Visionen von wulstig wuchernden Fingerkuppen, über die kein Nagel sich mehr schieben kann. Hat die sich eigentlich mal gefragt, wie Spargel Asphalt zu durchbrechen vermag? In der tabellarischen Gewichtsübersicht schneidet Josephine deutlich besser ab als ich. Sie kam als zartes Kind zur Welt. Ich hingegen war schon als Baby ein Wonneproppen, ein Brummer. Meine Frisur ist nie in Ordnung: Entweder ist der Pony zu lang, oder, mit kurzem Haar, sehe ich aus wie eine Zwiebel von unten. Bis weit ins Erwachsenenalter hinein bin ich nur dann schön – so überhaupt – wenn ich mich kleide, wie Gerhard seine Töchter gern sieht: konservativ, Kleid oder Rock. Er wird nicht müde, unsere geliebten Jeans zu verdammen. Jeans sind nicht in Ordnung, schon gar nicht an mir: Ich bin zu dick, um so was mit Anstand und gutem Gewissens tragen zu können. Im Gegensatz zu Josephine. Kind, wer schlank ist, kann alles tragen. An einer schlanken Figur sieht alles gut aus, sagt Dietlinde. Trotzdem trage ich meine Jeans. Ich hasse Kleider und Röcke und Dietlinde. 59 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Geborgenheit gibt es in erstickendem Überfluss. Sie fühlt sich an wie ein Gefängnis. Zuwendung? Elternsprechtage machen mir Angst: Eltern und Lehrer sind Verbündete. Mit mir verbündet sich niemand. Wenn Dietlinde hingeht, wird sie nicht den Lehrer bitten, freundlich mit mir umzugehen. Sie geht davon aus, dass er richtig liegt, wenn er mir Faulheit attestiert, Frechheit, Aufsässigkeit und Fahrigkeit. Trost gibt es bei Platzwunden, Zahnschmerzen und Armbrüchen. Bei schulischem Versagen gibt es kein Verständnis, von Trost ganz zu schweigen. Die Schuld liegt bei mir, da ich ja nicht dumm, was noch verzeihlich wäre, sondern faul bin. Wenigstens behauptet niemand, ich sei dumm. Ebenso wenig fragt niemand, warum mich die Schule langweilt und mir Angst macht, warum ich an den Nägeln kaue, später unentwegt Bonbons lutsche, vorzugsweise im Bett, bunte Papierchen unter der Matratze versteckend, und noch etwas später einfach fast gar nicht mehr zum Unterricht erscheine. Ich habe den Rekord an unentschuldigten Fehlstunden, fälsche Unterschriften, kassiere schlechte Noten ohne Ende und bringe dennoch zu guter Letzt mein Abitur über die Bühne, ohne die Schlechteste zu sein. Gerhard und Dietlinde reden viel von Liebe, wollen nur mein Bestes, investieren Unsummen in Nachhilfe, Sprachaufenthalte, Urlaubsreisen, später ins Studium, schließlich in einen Alkoholentzug. Zur Promotion schenkt Gerhard mir ein Pferd: Loschad. Noch fällt es schwer zu akzeptieren, dass meine Kinderseele durch Abwertung und implizite Zurückweisung verletzt worden sein soll. So vergewissere ich mich immer wieder, dass nicht ein grundsätzlich kaltes Verhalten das Familienklima bestimmte. Mir fehlte es, zumindest in der heutigen Wahrnehmung meiner Erinnerung, nicht dauerhaft an Zuwendung, Zärtlichkeit und Sicherheit. Wenn es kaltes, abweisendes und verletzendes Verhalten gegeben hat, dann bekam weder Gerhard noch Dietlinde mit, dass dies einen beträchtlichen Teil unseres Familienklimas ausmachte. Beiden war absolut nicht klar, was sie anrichten würden. War ich etwa nicht aggressiv? Habe ich nicht nur mühsam Gewaltbereitschaft unterdrückt? Oft genug hätte ich Josephine erschlagen können! Zeigte ich nicht unerklärbare Verhaltensstörungen, Entwicklungsverzögerungen? Hat niemand schulische Unzulänglichkeit, Nägelkauen, Blaumachen und Lügen erkannt? Der Eindruck trügt nicht: Es besteht eine vollkommene Übereinstimmung zwischen Hirtbergs und meiner Wahrnehmung, als er, im Rückblick auf eine der letzten Stunden, die ich als eine mit Schlüsselerlebnis bezeichne, festhält: »Kaum dass ich es ausgesprochen hatte, wurde mir klar: Das hat ihr noch nie jemand gesagt … also, dass Sie sich über Ihre Gewichtszunahme ärgern dürfen. Das ist etwas ganz Neues.« Er habe die Erlaubnis zum Ärgern – »ein bisschen, aber nicht zu viel«, wie er mit zwischenzeiligem Augenzwinkern hinzufügt – intuitiv, ohne darüber nachzudenken, formuliert, spontan, so wie er seinen Kindern bestätigt, dass sie in Ordnung sind, wenn sie sich grämen, ärgern, schämen. Er fühlt mit, stärkt und stützt. 60 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wie ist es, als Kind eines Analytikers aufzuwachsen? Es rührt mich, wenn er von »seinen Jungs« spricht. In diesen Momenten vermisse ich den Vater, den ich gern gehabt hätte. Einen empathischen Vater, eindeutig und sanft, so positiv.

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Möglichkeit zum Veto?

S

cham ist wohl das dominierende Gefühl«, diagnostiziert Hirtberg, als ich ihm davon erzähle, dass Gerhard meinen sprießenden Busen berührt hat. »Einmal hat er das getan.« Einmal zu viel. »Das nennt man Hands-on-Übergriff«, sagt Hirtberg und guckt mich ziemlich entsetzt an. »Und dann gibt es da auch noch die Hands-off-Übergriffe, versteckt hinter dem Stolz eines Vaters, der seine Töchter reifen sieht und dies kommentiert mit Wort und Blick … Wie war das bei Ihnen?« Zur Scham gesellt sich Ekel. »Diese Küsserei … Mir war es zuwider, wenn Gerhard mich auf den Mund küsste. Bei uns wurde sich, geschlechtsunabhängig, auf den Mund geküsst, bitte fragen Sie mich nicht, warum. Noch heute täte Gerhard das, würde ich mich nicht geschickt der Situation entziehen. Als sehr kleines Kind habe ich, wohl in dem verzweifelten Versuch, dem Ganzen Grenzen zu setzen, sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, dass ich weder küssen noch geküsst werden will. Wie schon erwähnt, konnte ich sehr früh sprechen.« Kluges Kind. Freches Kind. Weder Gerhard noch Dietlinde hielten es für nötig, mich ernst zunehmen: Warte mal die Zeit ab, das wird sich noch ändern! Schmutzige Fantasie, süffisantes Grinsen, geboren aus der Überheblichkeit wirklich unterbelichteter, verklemmter Erwachsener, fortgesetzte Ignoranz. Gerhards Übergriffe schiebe ich erst mal zur Seite, drücke sie weg, wie ich damals meinen Busen mit mehreren Schichten von T-Shirts wegzudrücken versuchte und erzähle Hirtberg eine andere merkwürdige Geschichte, die mir gerade einfällt. »Dietlinde berichtete, dass Yogis meterweise Mullverband schlucken, um ihn schließlich – den Zustand des geschluckten Gewebes mag man sich gar nicht vorstellen – wieder hervorzuziehen. Das Ganze diene dem Ziel, sich vor den Yogaübungen gründlich zu reinigen. Selbst mir – mit allen Wassern innerer Säuberung vertraut – scheint das bis heute so skurril, dass ich am Wahrheitsgehalt meiner Erinnerungen zweifle. Ja, Hirtberg, da ist er wieder, der allgegenwärtige Zweifel. Aber wie sonst, wenn nicht durch Erleben, sollen diese Gedanken in meinen Kopf geraten sein? Dietlinde mit ihrer blöden Verband-Idee – die sie selbst, obschon phasenweise YogaAnhängerin, meines Wissens nach nicht praktizierte …«

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»… aber vielleicht insgeheim damit liebäugelte?«, wirft Hirtberg ein – eine Idee, die sich angesichts ihrer eigenen Gewichtsproblematik, gekoppelt an einen nicht zu leugnenden Sauberkeitswahn, geradezu aufdrängt. Gerhard, der mich anfasst und schlägt, ständig Grenzen überschreitet, grauenhaft. Das Klima unserer Familie war geprägt von einer Art Verklemmtheit, die sich allenfalls als Pseudoliberalität bezeichnen lässt. »Individualität war gleichgesetzt mit Schwierigkeit: Es musste vereinfacht werden, der stromlinienförmigen Konformität, des lieben Friedens willen. Was bedeuten Ihre Erinnerungen für unsere therapeutische Beziehung?« Hirtberg fängt er mich ein, holt mich zurück ins Hier und Jetzt, in dem er mir als moderner, aufgeschlossener Zeitgenosse gegenüber sitzt, dessen unbefangenes Lachen ansteckend ist und dessen Kompetenz ich nicht im Geringsten anzweifele. Wieso eigentlich zweifele ich hier gerade nicht? Ob er sich meiner anfänglich geäußerten Befürchtung erinnert, seinem Charme emotional zu erliegen? Er ist zwar nur mein Therapeut, aber was für einer! Einer, der sich als Mann positioniert, wenn er erklärt, er habe sich ja mal aus dem Fenster gelehnt, als er in einer der zurückliegenden Veranstaltungen meine Figur als attraktiv bezeichnet hatte … Das hat er tatsächlich mal gesagt, und es klang noch besser als sein ganzes analytisches Gequatsche. Mögen alle Orthodoxen dieser Welt die Hände über ihrem weisen Haupte zusammenschlagen! Dieser Mann fordert mich nun auf, die Szene von außen anzusehen: Da sitzt eine Frau, die sich wegen ihres abnormen Essverhaltens schämt. Als Kind wurde sie von ihren Eltern verbal und körperlich misshandelt. Gedemütigt, geschlagen, beschämt. »Sagen Sie mal ehrlich: Können Sie nachvollziehen, dass sie sich mehr für ihr Essverhalten schämt als für das, was passiert ist?« Mir fällt dazu nichts ein. Kurzerhand setzt er Gerhard und Dietlinde auf die Couch und konfrontiert sie mit der Essstörung ihrer Tochter und den Geschehnissen in der Vergangenheit. »Was glauben Sie, was die beiden sagen?« »Ach, Hirtberg, das ist doch vergebliche Liebesmüh’. Gerhard nimmt die ganze Psychologie nicht ernst. Wenn er sich überhaupt auf dieses Spiel einließe, würde er natürlich energisch, in schnodderigem Ton, versteht sich, jede Grenzüberschreitung leugnen. Vielleicht erinnert er sich nicht …« »Damit schützen Sie ihn.« Dann präsentiert er meinem Erzeuger die juristische Seite: »Die Tochter anzufassen, ist der Gesetzeslage nach eine Misshandlung und damit strafbar. Natürlich ist es sein Recht, Dietlindes Brust zu berühren. Dies vor den Kindern zu tun – was, wie ich früher erörterte, mehrfach vorgekommen ist –, hat indes exhibitionistische Züge und verletzt eine Schamgrenze, und zwar die der Kinder.« Mir ist das alles so peinlich. Mit großem Unbehagen erinnere ich mich dieser Pseudoliberalität. Sprachlos starre ich Hirtberg an. 63 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Und, was würde noch geschehen, wenn die beiden hier sitzen würden?« »Nun, Dietlinde würde ihre Karikaturen rechtfertigen, zum Beispiel. Sie habe ihre Töchter nicht karikiert, sondern gezeichnet, um sie vor dem Unglück des Dickseins zu bewahren. Eine Warnung! Sie, beide, haben es doch nur gut gemeint und wollten unser Bestes … führen unisono Beispiele an: Wir haben mit euch gespielt, sind mit euch gereist, haben euch die Welt gezeigt, es hat euch doch an nichts gefehlt!« »Doch!« Hirtbergs Stimme klingt verärgert. Übertragung? »Ihnen hat bedingungslose Anerkennung gefehlt. Die gab es nicht, hören Sie? Die Vergangenheit, Ihre Erziehung war in höchstem Maße ambivalent: Zuwendung neben Ablehnung, Anerkennung neben Kritik, Schutz neben Häme, Zärtlichkeit neben Gewalt.« Wütend packe ich meine einstmals Erziehungsberechtigten beim schmutzigen Kragen und schmeiße sie achtkantig raus, das hier ist mein Raum, mein Hirtberg! So müde. Kaum körperliche Kraft, keine Arbeitsmotivation und vor allem: nicht die geringste Lust, zur Ausstellungseröffnung zu gehen. Die ganze Kunstkacke nervt. Internationaler Frauentag. Ich weigere mich, meiner Arbeit Aufmerksamkeit zu schenken, im Laufe des Tages steigert sich die anfängliche Lustlosigkeit zur totalen Blockade. Eine innere Sperre hindert mich, auch nur einen einzigen Handschlag an dem zu tun, was dringend der Bearbeitung harrt. Das salatlastige Mittagessen ergänze ich um krümelige Keksberge, entledige mich des Ganzen auf der abgelegenen Toilette im Untergeschoß: sauber, geräuschlos, routiniert. Professionell. Und nun? Was weiter? Soll ich, soll ich nicht? Selbst wenn ich es lasse, werde ich mich morgen schlecht fühlen – spätestens dann kommt der Einbruch, da kann ich mir den Kampf auch sparen, der Tag ist sowieso im Arsch. Andererseits: Lasse ich es für den Rest des Tages und schaffe das auch morgen – was sehr unwahrscheinlich ist –, hätte ich die Möglichkeit, mich konkret an mein letztes Mal erinnern. Es war am 8. März. Ist es wichtig, sich an das letzte Mal erinnern zu können?, würde Hirtberg fragen und mich entgeistert angucken. Noch eine Stunde bis zur Eröffnung: In dieser Zeit könnte ich den Supermarkt stürmen und mich für die Nacht eindecken, sicher wird es spät mit Anna und daheim gibt es nichts, womit sich die Artistin zufrieden geben würde … Verunsicherung. Aber wenn ich heute noch esse, geht morgen definitiv alles schief … Wenn ich heute nicht esse, besteht immerhin die Chance … Und der Abend wäre schöner, stünde ich nicht unter Strom, weil ich ja noch essen muss … Das ist die Phase, bevor der Verstand aussetzt. Abwägen. Zweifeln. Totale Unsicherheit, Entweder-oder. Hirtberg lehnt sich lässig im Sessel zurück, den linken Arm auf der Lehne, das rechte Bein über das andere geschlagen, wartet er ab. Mimik und Haltung signalisieren: Ich bin offen für alles. Er fixiert mich nicht, sondern lässt den Blick schweifen, um sodann meinem wie zufällig zu begegnen, mir versichernd: Ich bin da, aber ich setze Sie nicht unter Druck. Reden Sie, wenn Sie mögen. Krawattenlos 64 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

getragen, mutiert der dunkelblaue Anzug vom Coaching-Dress zu einem Outfit, das seine Persönlichkeit zwischen Intellektualität, Seriosität und Unkonventionalität unterstreicht. »Was spielt sich in Ihrem Kopf ab, unmittelbar bevor die Artistin zuschlägt?«, fragt Hirtberg. »In den meisten Fällen setzt in einem ganz bestimmten, klar umrissenen Moment der Verstand aus. Nichts, was sich konkret fassen ließe, in Worte beispielsweise. Plötzlich, von einer Sekunde auf die andere, ist da einfach rein gar nichts mehr«, versuche ich jenen nadelspitzen Augenblick der Gedanken- und Verstandeslosigkeit zu beschreiben. »Sie haben das schon so lange und kriegen nicht verbalisiert, was vor sich geht. Erstaunt Sie das nicht? Wundern Sie sich nicht darüber? Ich möchte Sie einladen zu staunen. Wahrzunehmen und sich darüber zu wundern, dass das so ist. Wie ist das denn, wenn Sie nicht nachgeben? Wie ist das mit dem Verstand an Ihren guten, wie Sie sagen, gesunden Tagen?« Ich gehe in mich, versuche, zu visualisieren, wie es an den guten, gesunden Tagen ist. »Das kommt ja nicht so oft vor, aber wenn es gut ausgeht, hmm … dann fehlt der entscheidende Augenblick, in dem der Verstand aussetzt. Es passiert dann einfach nicht, ich bleibe bei mir«, druckse ich herum, überhaupt nicht einverstanden mit der Formulierung. Eine bessere fällt mir nicht ein. Pause. Ich zeichne das Muster auf dem Teppich nach, entschlüssele zum tausendsten Mal den Rapport von Farben und Formen, zähle die Fransen. Dann doch: »In dieser Ambivalenz – der Abwesenheit von Eindeutigkeit – vermute ich die Wurzel jener Zweifel, die mein Selbstbild prägen. Langsam dämmert mir, dass auch die rationale Phase vor dem Kontrollverlust von tiefen Zweifeln, von einer quälenden Unsicherheit geprägt ist. Es zerreißt mich. Der Augenblick, in dem ich mich zu Gunsten des vermeintlichen Schlaraffenlandes entscheide, lässt mich zumindest eines gewinnen: Sicherheit …« »Die Frage, ob es sich um eine bewusste Entscheidung im Vollbesitz aller geistigen Kräfte handelt, wird uns noch zu beschäftigen haben«, unterbricht Hirtberg mich kurz, was er sehr selten tut. »… das Ende des Zweifels. Mit dem Ticket für den Trip in die lukullische Hölle fühle ich mich sicher. Anstatt zu grübeln, reise ich, mache mich auf den verhängnisvollen Weg und entziehe mich, eng umschlungen von der Artistin, dem peinigenden Zweifel.« »Das haben Sie gut gemacht«, lobt Hirtberg, »ehrlich, so habe ich das noch nie gesehen. Aber ich bin ja auch kein Spezialist für Essstörungen. Sehen Sie, jeder Zweifel beinhaltet die Option, sich so oder eben anders zu verhalten. Solange die bewusste Entscheidung gegen die Essattacke nicht gefällt ist, gibt es eine Scheinentscheidung, nämlich die für die Schokoriegel. Doch, wirklich, das haben Sie sehr gut gemacht!« »Für den Schokoriegel? Aha. Und – meinen Sie das ernst?« 65 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Das ist Ihnen jetzt unbekannt, hmm? Dass jemand Ihnen sagt, dass Sie etwas richtig gut gemacht haben?« Er schaut mich unverwandt an, aufmerksam und lebhaft. Mir gefällt sein juveniles Temperament. Er rollt mit seinem Stuhl vor und zurück. Ich warte förmlich darauf, dass sich die Fransen des Teppichs in den kleinen Rollen verheddern. Sie tun es nicht. »Nun, völlig unbekannt ist mir das nicht. Es ist ja nicht so, dass mir nie der Rücken gestärkt wurde, dass Gerhard und Dietlinde nur schlecht, nur dumm, nur erziehungsunfähig waren«, nuschele ich diesen halbherzigen Versuch einer Verteidigung. Es fällt mir schwer, die faktische Erziehungsunfähigkeit meiner Eltern bedingungslos anzunehmen. »Gewiss nicht. Wäre es so, säßen Sie jetzt nicht hier. Sie haben genügend gut entwickelte, gesunde Persönlichkeitsanteile. Und noch etwas: Es ist immer Ihre Entscheidung, auch wenn Sie sie mit magischen Denken verkleiden. So wie Sie entschieden haben, dass der zehnte März ein guter Tag ist, können Sie es auch für den elften, den zwölften und so weiter …« »Dissoziieren Sie?«, erkundigt er sich etwas unvermittelt. Die Frage bringt mich nicht weiter, weil meine Vorstellung vom weiten Feld der Dissoziation ziemlich schemenhaft, auf jeden Fall unstrukturiert ist. »Sie zweifeln an Ihrer Autonomie, wie sonst ist es zu erklären, dass Sie als laienhaftes Halbwissen deklarieren, was Sie sich über Dissoziation bei Posttraumatischer Belastungsstörung, Borderline und allem Möglichen sonst angeeignet haben? Woher wissen Sie das alles? Wie haben eigentlich Gerhard und Dietlinde auf scharfsinnige Fragen reagiert?« »Na ja, auf jeden Fall nicht ablehnend, soweit ich mich erinnern kann. Aber was ich Sie frage, Hirtberg, habe ich meine Eltern nie gefragt. Was hätten sie antworten sollen? Was für eine absurde Idee.« Thema erledigt. Hirtberg erklärt die Dissoziation knapp, indem er ihr Gegenstück, die Assoziation, als additiven Mechanismus anführt und die krankhafte Dissoziation als eine nichtwillentliche Abspaltung des Erlebens vom Ich beschreibt. Obschon ich gern mehr über dissoziative Vorgänge wüsste, gebe ich mich damit erst mal zufrieden. Ich will genau an diesem Punkt, der auf die zweifelvolle Grübelphase folgt, weitersuchen. Hier scheint ein Schlüssel zu liegen. Auch Hirtberg bemerkt ihn, bückt sich, nimmt ihn auf und fragt, ob es sich möglicherweise um eine Art fruchtbaren Moment handele. »Ja, ja, genau das ist es! In der Kunst gibt es das Phänomen des fruchtbaren Moments: Es ist dies der dem zeitlichen Wandel unterworfene Augenblick, der das Vorher und Nachher eines bildlich eingefangenen Gegenwartsgeschehens einschließt.« Das berühmte Foto von Rufuso Capa, das einen sterbenden Loyalisten im Spanischen Bürgerkrieg zeigt, schießt mir durch den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich dissoziiere. Oder doch? Vielleicht ist gar es keine bewusste Entscheidung, in die Essattacke zu gehen. Zu dissoziieren bedeutet, hilflos 66 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

einer externen, fremden, vielleicht gar höheren Macht ausgeliefert zu sein, unbewusst und ohnmächtig in etwas hineinzuschlittern … Es scheint beide Varianten zu geben: die bewusste Entscheidung ebenso wie das unbewusste Hineinschlittern. Um eine bewusste Entscheidung scheint es sich vor allem dann zu handeln, wenn ich den nächsten magischen Tag im Visier habe. Ist dies nicht der Fall, dauert die Grübelphase länger. Ohne absehbaren, magischen Tag kommt der Moment, in dem das Denken aussetzt und keine bewusste Entscheidung möglich ist. Wenn der Verstand aussetzt, ist dies der point of no return: Der Stein rollt unaufhaltsam durch den Tag und walzt jeden alternativen Gedanken platt … Hirtberg, wir reden gerade über etwas, das sich in Bruchteilen von Sekunden ereignet.« »Wir entschleunigen«, stellt Hirtberg scharfsinnig fest. Hat der eigentlich für alles das passende Etikett? »Deshalb darf das alles auch noch länger dauern. Sie dürfen auf diesen Punkt zurückkommen, ein, zwei oder mehr Stunden.« »Ich könnte Ihnen einzelne Situationen haarklein schildern, die mit dem Fioretto zum Beispiel oder …« »Ja, machen Sie das!« Er wirkt geradezu begeistert, und ich fühle mich ermutigt, obwohl mir die ganze Angelegenheit so peinlich ist wie sonst nichts. Ohne diese Auseinandersetzung gibt es allerdings keine Chance. Hirtberg wird mir helfen. Aber das kann er nur, wenn ich ihm Boden anbiete, den er beackern kann. »Sie sind nicht lästig und ich finde weder Sie noch Ihre Geschichte langweilig. Im Gegenteil: Ich finde das hochspannend und ich lerne total viel!« Er guckt mich so an, dass ich nicht anders kann, als ihm zu vertrauen. »Sie sind ganz anders, als Sie sich selbst wahrnehmen: Sie sind neugierig und kreativ. Ich bin immer wieder beeindruckt, wie Sie den Dingen auf den Grund gehen. Und ich bin sehr dafür, dass wir uns genau angucken, warum der Begriff Entschleunigung so wichtig für Sie ist.« Das Datum passt nicht und die Jeans noch weniger, zu eng. Extrem angeödet trage ich Adressen zusammen und nicht minder angeödet beantworte ich Mails. Alles geht so langsam, niemand interessiert sich für das, was ich tue. Oder eben nicht tue. Noch besteht die Möglichkeit, die aufkeimenden Gedanken an Müsliweckchen und Puddingschnecken durch andere zu ersetzen. Wie sagte Hirtberg? Noch besteht die »Möglichkeit zum Veto«. Was fehlt, ist Eindeutigkeit. In meinen Zweifeln, die mitunter stundenlang anhalten, bekomme ich eine Entscheidungshilfe, ein externes Signal: Meine Periode kündigt sich an, was mich dazu veranlasst, eine klare Entscheidung zu fällen. Es hängt viel an diesem Blut. Das Jetzt. Mittagessen: eine halbe Stunde zu früh, Kalorienzahl nicht exakt bezifferbar. Völlegefühl, gleichzeitig Resthunger. Ein Fioretto. In Verbindung mit der Unsicherheit keine gute Idee. Ausstellungseröffnung in Assgart, Dali, überkandidelte Kunstbe67 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

flissenheit. Ich will nicht nach Assgart, sondern ins Schlaraffenland. Ungeduld und Langeweile, quelle mesalliance! Unmotiviert und unfähig zu arbeiten, obwohl mir klar ist, was zu erledigen ist, wie und bis wann – das habe ich ja schließlich selbst definiert. Immerhin: diesbezüglich herrschen Klarheit und Sicherheit. Die Grübelphase läuft. Der Schädel zum Bersten voll mit Für und Wider und der verzweifelten Suche nach einem neuen magischen Datum … will zum Verrecken nicht ins Museum, wieder diese Sperre. Das zweite Fioretto überrollt mein Bewusstsein. Gnadenlos. Das Wochenende verbringen Timo und ich in Assgart. Mit einem ganzen Stapel neuer Bücher schmeiße ich mich auf unsere rote Couch, fühle mich bei Timo warm, sicher und geborgen. Ich liebe diese Samstagnachmittage, die wir friedlich lesend verbringen, vielleicht ein wenig durch den nahen Stadtpark spazieren und am Abend irgendwo eine Kleinigkeit essen – womit ich übrigens sehr gut umgehen kann: auswärts essen. Oder bei Timo, wenn er kocht. Sonntagvormittag. Ich will zurück nach Liefem, auf dem Weg bringe ich Timo noch schnell zur Kirche, er kommt etwas zu spät. Stakkatoartige Gedankenblitze, Sekundenbruchteile: Bilder, die schon beim Frühstück zuckten und jede Lust und Freude an den festen Kürbiskernbrötchen zu überblenden drohten. Das kurze Stück zwischen Kirche und Autobahn führt an der Bäckerei vorbei, in der besagte Kürbiskernbrötchen zu haben sind. Rasend schnell schießen mir die Kalorien des Amaretto durch den Kopf, den ich mir am Abend zuvor besser verkniffen hätte und im selben Augenblick ist es passiert: Das Auto verkehrsbehindernd geparkt, die Straße fremdgesteuert überquert betrete ich die Hölle. Vor mir mindestens vier weitere Brot- und Brötcheninteressenten: Zeit genug, um den Hebel im Hirn umzulegen. Um auf dem Absatz umzukehren. Um in den Asphalt zu beißen oder sich vor die nächste Straßenbahn zu werfen. »Fünf Müslibrötchen und fünf Mandelweckchen«, höre ich mich sagen. Am Kiosk gegenüber ersteht die Artistin vier Tafeln Schokolade und eine Flasche Wasser, um später ihr Teufelswerk problemlos umkehren zu können. Auf der Autobahn beobachte ich angewidert, wie ich mir das Zeug in den Mund schiebe und das Interieur meines schicken neuen Golfs mit Sündenkrümeln besudele. Als Hirtberg einige Tage später, mindestens zwei Stufen auf einmal nehmend, zur Praxis hinaufeilt, werde ich mir erneut seiner existenziellen Körperlichkeit bewusst, seiner elastischen Präsenz im Hier und Jetzt. Er ist so da, wach und lebendig in seiner dunklen Kaschmir-Joppe, unter der er ein weißes Hemd mit großen Knöpfen trägt. Es gibt einen Teil in mir, der sich sträubt. Sich schämt: Wieder lese ich Hirtberg meine Notizen nicht vor. Er bringt das Wort Widerstand ins Spiel. Trotzdem gelingt es uns, am Punkt, am fruchtbaren Moment zu bleiben, obwohl es mir mit Abstand mehr Vergnügen bereiten würde, mit Hirtberg über Kunst, Literatur 68 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

oder Freudsche Fehlleistungen im Allgemeinen zu plaudern, meinetwegen auch über meine Kindheit, über Gerhard und Dietlinde, oder, interessanter noch: über unsere therapeutische Beziehung. Aber ich bin hartnäckig. Aufgeben? Abbrechen? Nicht mit mir! Was angefangen ist, wird auch zu Ende gebracht! Wer a sagt, muss auch b sagen! Teller leer essen! Hirtberg unterstreicht meine Ironie, indem er gestisch aggressive Entschiedenheit ausdrückend, seine geballte Faust auf einen imaginären Tisch sausen lässt. Notfalls mit Gewalt will ich begreifen, was vor sich geht, und vor meinem geistigen Auge stampfe ich trotzig mit dem rechten Fuß. Regression? »Sagen Sie mal, kann es sein, dass schon das das vierte oder fünfte Stück Schokolade Teil einer Selbstbestrafung ist?« »Sie meinen, weil bis zu drei Stücken – vorausgesetzt, diesen ging allenfalls Gurkenquark voraus – selbst mir zu genießen möglich ist?« Mühsam klamüsern wir herum. Das macht keinen Spaß. »Ich bin nicht nur ein Indianer auf dem Terrain der Kunst«, gesteht er, übrigens nicht zum ersten Mal, »sondern auch auf dem der Essstörungen.« Als ob ich das nicht wüsste. »Ich komme nicht zu Ihnen, weil ich Sie für eine Koryphäe auf ausgerechnet diesem Gebiet halte. Naturgemäß verstehe ich mehr von diesem Mist als Sie. Sie wecken den Gedanken, dass mein Verhalten selbstbestrafend sein könnte. Woher haben Sie die Idee? Das ist ein Erklärungsansatz, der zwar in der Literatur bis zum Erbrechen, sorry, beschrieben wird, den ich allerdings für hanebüchen halte. Wofür sollte ich mich strafen? Was überhaupt ist die Strafe? Jeder Bissen, der über das Erlaubte hinausgeht und deshalb schon das Gegenteil von Genuss ist? Das Erlaubte zu verwürzen, damit es nicht so gut schmeckt? Oder das finale Ritual?«

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Scampi-Pfanne

K

riegen Sie mit, was Sie gerade machen?« Kopfschütteln. »Sie steigen aus. Machen nicht mehr mit, schalten ab. Ich sage Ihnen, dass Sie klug sind, was ja so sein muss: Obwohl es Ihnen sehr schlecht ging, haben Sie Ihr Studium geschafft. Weil Sie intelligent sind. Was ich mache, ist Folgendes: Ich gebe Ihnen Schokolade. Biete Ihnen Genuss an. Und was machen Sie? Sie steigen aus. Sie spucken mir die Schokolade vor die Füße oder nehmen Sie gar nicht erst an. Was ist so schlimm daran, Sie anzunehmen und aufzuessen?« »Ach, keine Ahnung. Ich finde das Spiel komplett blöde. Aber gut, wenn’s sein muss: Es könnte sein, dass ich wachse, Raum einnehme, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Ich will diesen verdammten Raum nicht, will nicht dick werden.« Mir kommt es vor, als bezöge ich mich mit meiner an Trivialität kaum zu überbietenden Antwort unmittelbar auf Plattitüden, die vermittels semiprofessioneller Ratgeber unters Volk gebracht werden. So geht das nicht! Oder doch? Hirtberg lässt sich nicht beirren. Mit echtem Meersalz, Pfeffer, Koriander, etwas gutem Olivenöl, Knoblauch, einem Salbeiblatt und einem Schuss Weißwein würzt er seine Scampi-Pfanne und kredenzt das Ganze an Wildreis mit Safran, fein gehobelten Karotten, Zucchini und kleinen Trüffelstückchen. »Ihre Scampi-Pfanne ist allein schon in ihrer Komposition enorm triggernd.« »Es sind nur die Scampi, ein paar Gramm Gemüse und etwas Reis. Ist das zu viel?« Ich habe gar nicht zugehört, mich nicht auf das Spiel, auf die Vorstellung eingelassen. Abgeblockt. »Wissen Sie, was Sie gerade erleben? Einen Kontrollverlust, und deshalb steigen Sie aus. Ich frage mich wieder, ob nicht schon hier die Bestrafung für sinnlichen Genuss einsetzt.« »Weiß ich nicht, nein, wahrscheinlich nicht, lassen Sie mich in Ruhe mit derlei Experimenten. Auf jeden Fall, äße ich davon, würde ich das los werden wollen, deswegen verzichte ich besser von vornherein. Behalten Sie Ihre verdammte Scampi-Pfanne und schnippeln Sie mir Salat, aber bitte mit nicht mehr als maximal fünf Zutaten. Sonst muss ich sortieren. Aufräumen auf dem Teller, Ordnung schaffen. Ist erst mal alles im Bauch, ist es zu spät, bleibt nur noch, es wegzuwerfen.«

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Und jetzt? Sind wir im fruchtbaren Moment, im Vorher, im Nachher? Verloren, desorientiert und überfordert, ja, ich steige, etwas angefressen, aus. Ich betrachte die Szene von außen – eine Technik, die ich mir von Hirtberg abguckt habe – und komme mir nun noch blöder vor: Da sitzt eine Frau einer charismatischen, männlichen Gestalt gegenüber, erzählt ihm die grauenhaftesten Dinge und er hört sich das Ganze völlig ungerührt an. Wendet sich nicht ab, schickt sie nicht weg, sagt stattdessen kurz und bündig: »Scham.« »Ja. Und?« »Es geht nicht nur darum, die Szene von außen zu betrachten, sondern auch zu erleben. Es geht um beides. Stichwort Autoappraisal. Sie kommen mit der Großhirnrinde nicht nach: Etwas geschieht blitzschnell auf der Basis eines automatischen Frühwarnsystems.« Er bringt das Beispiel mit dem Laster, der auf der Gegenfahrbahn von eben dieser abkommt, ich kriege die Parallele zur Essattacke nicht hin. »Man kann auf zwei Seiten vom Pferd fallen. Die Kunst ist es, oben zu bleiben. Wenn Sie nur beobachten und nicht erleben, geht das in so eine schizoide Richtung. Andererseits: Wenn Sie ausschließlich und ununterbrochen aus dem Affekt handeln, ohne distanziert zu betrachten, ist das ein bisschen so wie bei einer histrionischen Persönlichkeit. Was Sie inzwischen gelernt haben, ist, aus sich herauszutreten, zu betrachten. Erinnern Sie sich: Zu Anfang waren Sie so identifiziert mit Ihrem inneren Zensor, es passte kein Blatt Papier dazwischen! Zu Anfang haben Sie auch in mir regelmäßig den Zensor gesehen.« »Ja nun, ich musste Sie ja auch erst mal kennen lernen.« »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, nichts zu erklären. Ich mache Sie gerade auf Fortschritte aufmerksam.« Dann kramt er in der Schublade seines Sekretärs und nimmt eine Tablettenpackung heraus. Die legt er auf die Couch. Er gibt mir ein Medikament, mit dem das Symptom, simsalabim, sofort verschwunden ist. »Wie geht es Ihnen damit? Wie fühlen Sie sich und was machen Sie jetzt? Was ist anders?« Noch so ein merkwürdiges Experiment. Ich starre wie paralysiert auf die Pillenschachtel und frage mich, was anders wäre, komme zu keinem befriedigenden Ergebnis, nicht mal zu einem unbefriedigenden. Ich habe keinen Schimmer, was er von mir will. »In dem Sie jeden Tag neu anfangen, verschaffen Sie sich die Illusion, das Leben immer wieder neu vor sich zu haben.« Wenn ich aufhöre, ständig neu anzufangen, sondern akzeptiere, dass es nicht täglich ein neues Leben gibt, ich kein unbeschriebenes Blatt vor Augen habe, sondern ein inzwischen dickes Buch, brauche ich vor dem Blick in dieses dicke Buch keine Angst zu haben. Es ist nicht nötig, es zuzuschlagen, es in die Ecke zu legen und ein neues anzufangen, das ohnehin bald seinerseits zu anstrengend wird … weshalb ich auch dieses zuschlage, in der irrigen Annahme, das nächste sei bequem zu lesen. 71 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Das nächste Leben sei bequem zu leben. »Hirtberg, ich habe ein Chaos im Kopf. Überforderung, Verwirrung, dann Leere, Sprachlosigkeit – was soll ich denn jetzt machen, was wollen Sie von mir?« Er bleibt ganz cool, während ich angesichts der Scampi, dem Frühwarnsystem, den Tabletten und jeder Menge Sätze, über die ich tage- wenn nicht wochenlang brüten müsste, um nur einen Bruchteil davon zu verstehen, nach Luft ringe und mir die Bilder begucke, die seine Praxis zieren: eine naturalistische Studie verschiedener Objekte, die sein Vater mit Bleistift auf Papier angefertigt hat, ein kleinformatiges Ölbild, das auf dem Einband einer seiner Schriften reproduziert ist, zwei Gemälde, die in der Psychiatrie entstanden sind. In einem dieser Gemälde, das eine stark simplifizierte menschliche Figur zeigt, verliere ich mich, identifiziere mich mit ihr in all ihrer Naivität, mit der sie daherkommt und mich spiegelt. »Das habe ich schon ein paar Mal bei Ihnen beobachtet: Sie steigen aus. Jetzt wird Ihnen alles zu viel. Ich reiche Ihnen ein Tablett mit ganz vielen Dingen, und mit dieser Fülle kommen Sie nicht klar. Kriegen Sie das mit?« »Ja, natürlich kriege ich das mit«, ich hänge im Sessel und spüre Widerstand. Resignation. »Verwirren Sie mich eigentlich absichtlich?« »Nein. Aber wir berühren hier einen weiteren ganz wesentlichen Punkt: Ihre Angst vor dem Kontrollverlust.« Die Sonne scheint. Am späten Nachmittag könnte ich mein Auto staubsaugen und waschen, nach der Arbeit Tee, Cappuccino und Joghurt einkaufen, hätte dann Zeit, in Ruhe nach Assgart zu Timo zu fahren. Der Gedanke an eine ebenso schmutzige wie zeitraubende Attacke steht dem sehr präsenten Gefühl, dünn zu leben, diametral entgegen. Blöderweise entbehrt das heutige Datum jeder Markanz. Mein Bedürfnis nach einem guten Tag kollidiert mit der absurden Idee, dass ein guter Tag an einem mit nichts verbundenem Datum sinnlos ist. Selbst wenn es gelänge, die offenkundigen Banalität des Datums zu ignorieren, so wird sich die Artistin bei nächstpassender Gelegenheit ins Spiel bringen: In einer Art panischen Grauens denke ich an die Zeitumstellung. Vielleicht wage ich es einfach, verlasse mich auf mein Jetzt-Gefühl, versuche, erst später zu schauen, was später ist, statt jetzt zu grübeln, was später sein kann. Nachdem ich mein Büro verlassen habe und auf der kurzen Fahrt zum Solarium vor einer auf Gelb springenden Ampel durchstarte, um sie nicht bei Rot nehmen zu müssen, überkommt mich schlagartig die Idee zum Exzess – zum letzten, versteht sich – und schiebt sich wolkengleich vor die mentale Verarbeitung der Inhalte der therapeutischen Veranstaltung vom Vormittag. Immerhin gelingt mir ansatzweise eine Entschleunigung und ich realisiere einigermaßen, was überhaupt vor sich geht: Ich habe Hunger, ein Gefühl jedenfalls, als 72 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

sei mein Magen ausgefüllt mit einem Schwamm – mit unstrukturierter Materie und reichlich ebenso unstrukturiertem Nichts – was angesichts meiner ungebrochenen Bemühungen, unter dem Kaloriensatz zu bleiben, den mein Körper fordert, um sein Gewicht zu halten, nicht wirklich überrascht. In meiner zügellosen Vision von Kindermilchschnitten und Rosinenweckchen verpasse ich mir selbst eine harte Parade, rufe ich mich energisch zurück und vergegenwärtige mir die Alternative: Ein entspanntes Dinner mit Timo, wobei es mir egal ist, ob wir ausgehen oder uns etwas in seiner professionell ausgestatteten Küche zubereiten. Ich strenge mich an, wenigstens halbwegs kritischen Auges wahrzunehmen, in welch kruden Zusammenhang ich meine fantasierte Kindermilchschnittenorgie bringe: Beginn der Sommerzeit, längere Tage, ganz so, wie sie waren, während meines Klinikaufenthaltes und in den Wochen danach, bevor alles wieder aus dem Lot geriet. Wie würde Hirtberg das deuten? Ich verschalte mich, das Getriebe kracht. Würde er auch hier eine Art des Aussteigens erkennen, eine – zunächst fiktive – Flucht ins Schlaraffenland? Etwas in mir schreit danach, die Sucht gewähren zu lassen, und konstruiert eine vermeintliche Legitimation für die reale Reise – mit kurzem Zwischenstopp im Supermarkt. Der vorletzte Tag mit Winterzeit: ein Versuch, den Ausstieg, egal woraus, irgendwie zu verankern, zu rationalisieren, zu konkretisieren? Was geschieht im Augenblick der Magifizierung? Auf der Sonnenbank gelingt es mir, völlig zu entspannen, mit den Gedanken in andere Gefilde zu driften, es ist warm, nach einigen Minuten schwebe ich zwischen Traum und Wirklichkeit. Später riecht meine Haut nach Ozon. Im Kühlschrank wartet eine Mango, deren ledernen Mantel ich mit dem Sparschäler entferne und deren faseriges Fleisch nach Süden duftet. Zwischen den einzelnen Stücken, die ich mir in den Mund schiebe, mühe ich mich angestrengt, mir glaubhaft zu versichern, dass es nicht verwerflich ist, diese Mango zu essen. Ich versuche, mich an in der jüngeren Vergangenheit genussvoll verzehrte Mohn- oder Apfelkuchenstücke zu erinnern, die zwar ursächlich für ein schlechtes Gewissen verantwortlich waren, mich aber entgegen aller Befürchtungen nicht dick gemacht haben. Die Erinnerung gelingt. Immerhin. Gleichzeitig registriere ich, dass ich im Stehen, zwischen Tür und Angel, unerlaubt, ohne sinnlichen Genuss und viel zu hastig esse, um die arme Mango nicht zum Auslöser werden zu lassen. Während im Toaster zwei Scheiben Mehrkornbrot vor sich hin rösten, zwinge ich mich zu der Einsicht, dass es selbst nach dem Brot noch möglich wäre, die sich anpirschende Artistin in die Flucht zu schlagen. Selbst nach der Mango und den zwei Schnitten befindest du dich noch in einem Kalorienbereich, der langfristig zum Verlust von ein, zwei Kilo führen wird … Ich rede in der zweiten Person Singular. Wer spricht? Allerdings – Kindermilchschnitte –, ein Abendessen geht dann nicht mehr – Schokolade –, was soll ich Timo sagen – Rosinenweckchen –, warum ich nichts mehr essen mag? Wie komme ich damit klar, ihm beim Essen zuzusehen und selbst zu 73 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

verzichten – Kindermilchschnitte? Werde ich womöglich um neun wieder Hunger haben – Schokolade –, darf ich mir einen Amaretto – Rosinenweckchen – erlauben, kann ich vielleicht nicht schlafen – Kindermilchschnitte –, und wie werde ich mich jetzt nach der Mango und den zwei Schnitten Brot auf der Fahrt nach Assgart fühlen – Schokolade –, wenn ich die Mango und die zwei Schnitten Brot zum regulären Abendessen erkläre, das Verbotene zum Erlaubten erkläre – Rosinenweckchen –, aber es ist erst fünf – Kindermilchschnitte – Schokolade – Rosinenweckchen – Mehrkornbrot – Kindermilchschnitte – Schokolade … Nicht mehr denken, weiche Süße fühlen. Rechts neben mir gigantische Brummis, bei hundertsechzig lenke ich problemlos mit dem linken Knie, meine Hände sind vollauf damit beschäftigt, Schokolade aus dem Papier zu wickeln und von den Weckchen, noch in der Tüte, mundgerechte Stücke abzurupfen, ganz zu vermeiden ist die Krümelei aber nicht. Spurenlosigkeit im Chaos, lieber tot als dick und so muss alles wieder raus, ach, wie gut, dass niemand weiß … Im Park ist es dunkel, die Hecke schützt, das Bad nicht besudelt, Timos Wohnung nicht entweiht, auf die Leere Atosil und Amaretto. An einem dritten Tag, gegen elf, halb zwölf: Noch ist der Gedanke dünn und kaum wahrnehmbar, aber ich bin sensibilisiert und kriege die Sekunde mit, in der er ausgelöst wird: durch eine einzige Zeile nämlich, die ich in einem User-Beitrag im Forum von www.hungrig-online.de lese: Das kann dauern. Gemeint ist der Genesungsprozess. Als wenn ich das nicht wüsste. Flach noch: Resignation, Frustration, zugleich: Beruhigung in dem Sinne: Na, da haben wir’s doch, es ist normal, wenn du es noch mal machst, mach doch, mach doch! Wer spricht? Montag. In der Klinik begann die zehntägige Rekordsymptomfreiheit mit einem Dienstag. Später: Ich erlaube mir einen kleinen Becher Fruchtquark und wickele eine Pralinenschachtel, die mir eine Praktikantin zum Abschied geschenkt hat, aus dem Zellophan, betrachte die kleinen, mattglänzenden Schokoherzen, klappe die Schachtel wieder zu. Später: ein Becher niederkalorische Hühnersuppe. Hunger? Unsicherheit? Zweifel? Irritation? Verwirrung? Ungeduld? Das ist einer der Fälle, in denen ich keinerlei Einfluss habe, in denen ich in der Tat zu dissoziieren scheine. Wer ist es, der den beherzten Griff in die Schokoherzchenkiste ausführt und so dem quälenden Zaudern das Wort abschneidet? Gewitterblitze an indigoblauem Himmel, Märzhagel prasselt gegen die Windschutzscheibe, liegt als 3D-Konfetti in der grauen Stadtlandschaft herum. Der Hagel macht mich nervös. Hirtberg erkundigt sich, ob Loschad bei Gewitter unruhig würde. Wieder lese ich ihm nichts aus meinen Notizen vor. Sobald wir uns gegenübersitzen, mutieren meine Ausführungen zu einer nicht zumutbaren Banalität, schlagartig schwindet jedwede Courage. Ohne ihm vorgelesen zu haben, bin ich mir alles andere als sicher, ob ich ehrlich genug bin. Ich zweifele an meiner Aufrichtigkeit, beschimpfe mich innerlich als verlogenes, unmoralisches Biest, das sich nur gut verkaufen will. Indem ich die Beschimpfung als gerechtfertigt erlebe, entwerte und identifiziere ich mich mit dem Zensor, ja, ja. 74 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Aller Scham zum Trotz bewegt mich das dringende innere Bedürfnis, Hirtberg alles zu sagen, gleich einem Angeklagten gewissermaßen geständig zu werden – verbunden mit dem Wunsch nach Absolution. Deshalb will ich ihm ja vorlesen: Frei formuliert kriege ich das nicht hin. Mit alles meine ich: Erstens die Häufigkeit der Kontrollverluste in Form von Essanfällen. Zweitens, dass ich unter anderem seine Art, mich mit seinem Sinn für Situationskomik und drögem Humor zum Lachen zu bringen, hinreißend finde. Und mich auf jede Stunde freue. »Was ja alles nicht sein kann und nicht sein darf«, seufzt er, »glauben Sie, Sie beschnitten sich mit Aufgabe der Symptomatik um die Legitimation, hier zu sein?« Bei aller Sehnsucht nach Normalität fürchte ich die Symptomfreiheit, die einem Verlust des Tickets für die Hirtberg-Arena gleichkäme: Ich verlöre meine Berechtigung, hätte mich emanzipiert, hätte Unabhängigkeit erworben, denke ich, und sage: »Nein, nein, das trifft die Sache nicht wirklich.« »Da müssen wir mal gucken, ob das so ist oder nicht. Das weiß ich im Moment auch noch nicht.« Ich liebe seine Aufrichtigkeit: Manche Dinge weiß er eben auch nicht, fertig. »Wo ist das Problem? Ich bin zuversichtlich, dass wir eine Antwort finden werden. Jetzt ist es erst mal so. Punkt. Und später gucken wir mal.« Er gibt sich nicht allwissend, nicht ständig überlegen; und ich bin nicht das dumme Balg – eine Einschätzung, die ich so gar nicht aus meiner Ursprungsfamilie kenne. »Das nennt man Diskrepanzerfahrung. Was glauben Sie denn, was geschieht, wenn Sie eines Tages sagen: Hirtberg, ich bin seit drei Wochen oder meinetwegen drei Monaten symptomfrei, und ich Ihnen gratulieren werde?« »Keine Ahnung.« »Ausstieg!« »Was verlangen Sie von mir? Nichts von dem, was Sie hier skizzieren, kann ich mir vorstellen, alles viel zu weit weg, nein, das geht gar nicht«, echauffiere ich mich. »Tatsächlich: Ich mache nicht mehr mit.« »Wieso eigentlich nicht?«, fragt er. Die Treffsicherheit, mit der er meinen Ausstieg registriert und verbalisiert, schürt meine ohnehin wachsenden Idealisierungstendenzen. »Übrigens, Hirtberg, ein Resultat unserer Entschleunigung dürfte meine zunehmend differenzierte Wahrnehmungsfähigkeit, bezogen auf den fruchtbaren Moment, sein. Meine diesbezüglichen Darstellungen werden jedenfalls sukzessive ausführlicher, gleichzeitig tritt die Artistin – als Figur – weniger häufig in Erscheinung, glauben Sie mir das einfach.« »Warum sollte ich Ihnen nicht glauben? Sie müssen mir nichts vorlesen. Dass Sie die Artistin erfunden bzw. abgespalten haben, nennt man übrigens Ich-dyston. Das Gegenteil davon ist Ich-synton … nur, weil Sie ja so gern die richtigen Bezeichnungen haben.« Hirtberg zwinkert mir, kaum merklich, mit dem linken Auge zu. »Sie machen auf dem literarischen Feld dasselbe, was wir hier machen. Mit anderen Personen zwar und auf anderer Ebene, aber das Prinzip ist das gleiche«, erklärt er. 75 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Statt zu kapieren, was er meint, zucke ich bei dem Begriff literarisch zusammen. Als ob die Stringenz unserer Dialoge nicht sowieso zu wünschen übrig ließe, schneide ich ein weiteres Thema an. »Mir bedeutet es viel, gebraucht zu werden, etwas für andere zu tun, allerdings nicht etwa aus Altruismus. Aus welchen Gründen geben sich etwa Anna oder Vincent überhaupt mit mir ab? Im Stall bin ich glücklich, wenn ich Reitstunden übernehmen und mich auf diese Weise als nützlich erweisen kann: ein Marienkäfer, der die Läuse von den Rosenblättern klaubt … Timo beantwortet mir die Frage, warum er mich liebt, alles andere als konkret.« »Na herzlichen Glückwunsch! Damit haben Sie den besten Beweis, dass er es wirklich tut. Er liebt Sie, nicht weil Sie blond oder klug sind, sondern einfach so.« »Eben. Verstehe ich nicht. Mit Vincent verhält es sich ähnlich: Damals, als wir eng befreundet waren, fragte ich mich, was er an mir gefressen hat, und heute ist es, ehrlich gesagt, auch nicht anders.« »Ist der scharf auf Sie?« »War er früher vielleicht ein bisschen … nein, ich glaube nicht. Er war seinerzeit wohl ziemlich sexualisiert von seinen ganzen Psychoseminaren, Selbsterfahrung, Psychodrama und was er alles gemacht hat.« Damals verweigerte ich mich irgendwann nicht länger der erotischen Komponente, jedenfalls nicht zur Gänze, blockte aber nach wie vor an der Bettkante ab. Seine Unmittelbarkeit, seine Dreistigkeit reizte mich und noch immer kitzeln Vergewaltigungsfantasien, die über mich kamen, als er mich rücklings auf den Schreibtisch zwang, das »Suprematistische Manifest«, von Malevich 1924 geschrieben, unter meinem Rücken begraben, sein Körper an meinem, hart und drängend. »Gut, lassen wir das mal so stehen, Freundschaft, Interesse und ein Restschuss Erotik, und? Ist doch schön, oder?« »Ich nehme zu viel und gebe zu wenig. Ich möchte etwas tun, nicht einfach da sein. Von Timo möchte ich aufgefordert, gebeten werden, seine Fenster zu putzen, die Blumenkästen zu bepflanzen oder ihn in ein Konzert zu begleiten … Immer ist er derjenige, der etwas – ach, was sage ich? –, der alles für mich tut: Steuererklärung, Luftdruck, Öl und Kühlwasser, Festplattenreinigung, Fotoentwicklung, Textkorrektur etc., ich tue gar nichts«, bringe ich jaulend hervor, betone, dass ich, bitteschön, gebeten werden will. Ja, dann würden wir eine Platte von ABBA auflegen und ich würde fröhlich vor mich hinputzen. »Sie tun dann in erster Linie etwas für sich, indem Sie sich Ihren eigenen Daseinsberechtigungsschein ausstellen, Ihre Eintrittskarte zum Leben. Einfach nur so da sein, das können Sie nicht, hm?« Hirtberg hockt auf der Sesselkante, die Ellebogen auf die Knie gestützt, die Fingerspitzen aneinandergelegt. Er schaut mich unverwandt an, abwartend, auffordernd. »Nein, unmöglich. Kann ich nicht. Ausgeschlossen.« Ich bin froh, dass er an der Zeit, die er mit mir verbringt, wenigstens verdient. Hoffentlich nicht schlecht. 76 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Stabilität in der Verlorenheit

V

incent wollte in der Mittagszeit in Münster losfahren. Als er am frühen Abend endlich vor der Tür steht, erklärt er wortreich seine Verspätung, telefoniert mit Rechtsschutz vom ADAC, klärt die Schadensübernahme: Einer ist ihm hinten drauf gesemmelt. Bei schwarzem Tee und zuckerfreien Keksen erzählt er mir von Chris, einem seiner Studienfreunde, mit dem ich ein kurzfristiges Verhältnis hatte und der mich als frigide bezeichnete. Er ist gestorben. Mit fünfzig. Wir bummeln durch die Altstadt, Vincent interessiert sich für die Architektur und natürlich den Dom, beides finde ich an diesem Nachmittag langweilig. Eigentlich ist alles wie früher, allerdings mit dem eklatanten Unterschied, dass Vincent seinen Therapeutenstatus nicht mehr hat. Während ich davon ausgehe, dass er sich nach dem kleinen Dinner, das mir in seine Gegenwart schwer genug gefallen ist, und nach einem Absacker in meiner Wohnung rasch verabschieden würde, versucht er, fast zwanzig Jahre nach seinen ersten Avancen, mich davon zu überzeugen, dass mir ein wenig Zuwendung gut täte. Eine Auffassung, die ich in der Form nicht teile und jeden weiteren nonverbalen Vorstoß in diese Richtung energisch abblocke. Bis hierhin und nicht weiter. Mein Busen gehört mir. Und alles andere auch. Statt den ohnehin asymmetrischen Dialog der Körper fortzusetzen, debattieren wir über das Phänomen der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, wobei er nicht versäumt, deutlich zu machen, dass er bestimmte Züge dieser Störung bei mir zu beobachten glaubt. »Eine grobe Fehleinscheinschätzung!«, ruft Hirtberg geradezu entrüstet aus und bestätigt meinen Verdacht, dass es sich dabei wohl eine etwas verknappte, wenn nicht um eine falsche Sicht der Dinge handelt. Dann erklärt er: »Erstens ist Narzissmus ein Begriff der klassischen Analyse, der grob besagt, dass jedes Kind eben diese Phase durchläuft, was aber so meiner Meinung nach nicht richtig ist. Zweitens gibt es im Rahmen der Psychopathologie die narzisstische Persönlichkeitsstörung, bei der die oder der Betroffene sich, kurz gesagt, einen Dreck um die Belange anderer schert und dabei weder Schuld-, Gerechtigkeits- oder sonst ein Empfinden hat. Und drittens sind es die narzisstischen Kategorien, die in der Individualpsychologie im Zusammenhang mit dem Selbst stehen, wie etwa Stolz, Zweifel und Selbstzweifel, Abwertung und Selbstabwertung etc.« Diese Vorlesung ist zu hoch für mich.

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»Im Schreiben entstehen Kernaussagen, formelhafte Wortfolgen«, sage ich. Steige aus. Hirtberg wechselt die Rolle vom rational operierenden Dozenten zum emotional schwingenden Vis-à-vis. »Das Schreiben hilft zu vertiefen, was wir hier machen.« »Ja. Wenn ich es versäume zu schreiben, geht der rote Faden verloren und mit seinem Entschwinden verliere ich die Bindung.« »Woran?« »Na, an das, was wir hier machen«, kichere ich ein bisschen verlegen und packe den Knoten, den ich – sofort und effizient – lösen will. »Folgende Überlegung geht mir nicht aus dem Kopf: Meine Essstörung ist praktisch lebenslang manifest. Folglich kann sie nicht als Reaktion auf konkret benennbare aktuelle Missstände in Partnerschaft, Sex oder Job begriffen werden. Daraus wiederum folgt, dass die Behebung der Missstände kein Garant für die Reduktion oder gar Aufgabe der Symptomatik wäre.« Hirtberg hört aufmerksam zu, versteht aber nicht. »Sie meinen, wenn Sie die Essstörung nicht hätten, gäbe es die Probleme in anderen Bereichen nicht?« »Nein, das meine ich nicht.« Himmel, so unklar habe ich mich doch auch nicht ausgedrückt! »Die Essstörung ist nicht Ursache aktueller Probleme. Allerdings – und das ist wichtig – sind umgekehrt meine Probleme auch nicht Ursache der aktuellen Symptomatik, geschweige denn der inzwischen als historisch zu bezeichnenden Essstörung. Hirtberg, so einfach ist das alles leider nicht …« »Was Sie da machen, ist eine sehr kausale Betrachtung: Wenn …, dann …, was eine unmittelbare zeitliche Dependenz von Ursache und Wirkung, wenn man so will, voraussetzt. Die ist aber so nicht gegeben.« »Eben. Genau das sage ich doch.« Ich finde meine Betrachtungsweise überhaupt nicht kausal. Er versteht immer noch nicht. Was man ihm aber nicht ansieht. »Es gibt da ein kompliziertes Geflecht, das der Störung zu Grunde liegt und ihre Persistenz sichert. Ein Puzzle, dessen Einzelteile eher unspektakulär sind. Wir fördern Facetten Ihrer Persönlichkeitsstruktur zu Tage, die das Symptom aufrechterhalten. Wir betrachten die elternhäusliche, schulische, universitäre und so weiter Atmosphäre, in der eben jene Persönlichkeitsstruktur gedeihen konnte, von der vielleicht nur ein kleiner Teil genetisch determiniert ist.« Hirtberg reitet weiter auf dem Aspekt der Selbstbestrafung herum. Ich glaube nicht daran, das Wort Strafe passt mir nicht. »Was fällt Ihnen ein, wenn Sie an früher denken? Wie war das mit Strafen?« Wie aus der Pistole geschossen rappele ich eine ganze Gerhard-und-DietlindeLitanei herunter. »Faul, fett, gefräßig, haltlos, fahrig: Du wirst schon sehen, was du davon hast … Euch geht’s ja viel zu gut. Du musst schon sehr viel Geld verdienen, wenn du den jetzigen 78 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Lebensstandard halten willst … Sei mal etwas dankbarer! Beschäftige dich nicht so viel mit dir selbst … Als ich zum ersten Mal allein in Urlaub fahre, wird Dietlinde ernsthaft krank. Strafe. Ich bin schuld. Frag nicht immer, ob du xyz darfst, mach einfach! Gut, ich mache einfach. Das ist garantiert falsch und mit Sanktionen verbunden, zumindest verbaler Art.« »Vieles von dem, was Sie mir da sagen, enthält eine Strafandrohung. Jedenfalls, und da werden Sie mir zustimmen, ist es vor diesem Hintergrund nicht verwunderlich, dass Sie es nicht aushalten, wenn es Ihnen gut geht. Es ist prima, dass Sie das können, aber irgendwann entsteht eine Spannung, die Sie nicht ertragen, der Sie mit einem Essanfall begegnen. Wegmachen.« Das leuchtet ein. »Bleiben wir noch einen Moment bei der Selbstbestrafung. Ich schlage vor, dass wir uns das Vorher mal genau angucken. Bevor die Ampel umspringt. Sie gestatten es sich nicht, es sich gut gehen zu lassen. Zu genießen ohne schlechtes Gewissen.« »Quatsch, ich finde, dass ich eine Menge dafür tue, dass es mir gut geht!« »Ja? Ich finde, Sie tun eine Menge dafür, dass es Ihnen eben nicht gut geht«, kontert er. »Den Umgang mit Ihrem Pferd erleben Sie als lustvoll, interessanterweise gleichzeitig als Pflicht. Meine Scampi-Pfanne zu genießen, können Sie sich gar nicht vorstellen. Sofort fällt Ihnen der Fluch der Mutter ein: Du wirst dick. Gewichtszunahme als Strafe.« Jetzt schweige ich. »Überlegen Sie doch mal, ob es hier einen Zusammenhang geben könnte mit dem Impulsdurchbruch Ihrer Großmutter: Die schlägt Dietlinde, die als Konsequenz für lustvolles Erleben – nämlich Sex, aus dem Sie hervorgegangen sind – schwanger ist.« Ich habe meine Lektion gelernt: Wir sind wieder bei dem generationsübergreifenden Autonomieproblem. In der Zeitung lese ich von einer Krähenplage, hier, direkt in der Nachbarschaft. Sofort habe ich das Krähen der Krähen im Ohr, die zu Tausenden in den Kiefern und Birken rund um die Klinik sitzen. Vor meinem geistigen Auge erblühen die Wiesen, ich fühle die Sonne auf meiner Haut, wenn es endlich etwas wärmer wurde, erinnere den tiefen Schlaf am Nachmittag und das stille Sitzen auf eine Bank während eines Spazierganges entlang der Hudau, den Cappuccino im Eiscafé gegenüber der Kirche, voller Hoffnung und Optimismus. »Warum sehnen Sie sich so sehr zurück nach der Zeit in der Klinik?« »Hm, die Menschen dort sind es sicher nicht. Silzer und seine Kolleginnen bedeuteten mir nicht viel, mit den Co-Therapeuten hatte ich wenig zu tun. Entscheidend war die Atmosphäre: der aufkommende Sommer, die länger werdenden Abende, die Zeit, die ich nur für mich hatte, das unsanktionierte Einfach-da-Sein. Das ging in der Klinik. Natürlich gab es schwierige Situationen, aber nach Ausrutschern konnte ich immer wieder sofort zurück, weil ich ja in der Klinik war.« »Das glauben Sie doch wohl selbst nicht«, unterstellt Hirtberg. 79 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Was?« »Na, dass Sie zurückfanden, weil Sie in der Klinik waren. Es ging Ihnen dort gut, weil Sie von Äußerlichkeiten wie Einkaufen, Aufräumen, Job entlastet waren. Sie durften sich völlig auf sich selbst konzentrieren. Ihnen ist es aber nicht gelungen, dieses gute Gefühl in den Alltag mitzunehmen, in Ihr Leben nach der Klinik. Die Stunden, in denen es Ihnen nicht gut ging, haben Sie vergessen, ausgeblendet.« Im Traum sehe ich Timo und mich, wie wir in einem Reiterhof Quartier beziehen, einem weitläufigen Gebäude in mäßig hügeliger Landschaft mit sandigen Lichtungen in einem von breiten, gepflegten Wanderwegen durchzogenen Mischwald, eine atmosphärische Synthese aus mir bekannten Gegenden. Timo renoviert unser Zimmer, das doppelt so groß ist, nachdem er eine Wand versetzt und einen Teil des angrenzenden Bades hinzugenommen hat. Letzteres ist deutlich geschrumpft. Schnitt. Mein Körpergefühl ist post-essanfallartig, allerdings habe ich keine bildhafte Vorstellung dessen, was ich gegessen haben könnte. Ich ärgere mich, weil das im Urlaub nicht passieren darf. Scham. Schnitt. Ich liege mit einem Mann im Bett, zaudernd zwischen Lust und Ekel. Timo ist es nicht. Ich verweigere mich energisch, finde ihn und mich und die ganze Situation abstoßend. Schnitt. Flüchte, inspiziere die sanitären Gegebenheiten des Hof-Hotels. Sämtliche verfügbaren Toilettenanlagen erweisen sich als ungeeignet: schmutzige, enge Holzverschläge, schlecht bis gar nicht isoliert, nicht abschließbar, wahrscheinlich zu Verstopfungen neigend usw. Schnitt. Steinige Wege im Sonnenschein. Ich schwitze, schwächele und hechele. Meine Angst steigert sich zur Panik … Zweifel: Habe ich überhaupt etwa zu mir genommen? Alkohol? Kann mich nicht erinnern, zum Glas, zur Flasche gegriffen zu haben. Der umliegende Wald: zwischen schlanken Jungbuchen nur lichtes Unterholz. Stark frequentierte Spazierwege, aus dem Nichts tauchen Erholungssuchende auf, von denen ich mich entdeckt, ja entlarvt fühle, bevor, mangels Gelegenheit, ich überhaupt in die Verlegenheit komme, es zu tun. Not und Spannung wachsen proportional zu der bodenlosen Unsicherheit, ob, und wenn ja, was ich gegessen oder getrunken habe. Stundenlang durchirre ich getrieben durch die surreale Paysage, allein und außer Atem … Timo und die anderen – nicht namentlich benennbare Wegbegleiter längst vergessener Tage – mögen sich ob meiner langen Absenz verwundern. Egal, ich will nur eins: endlich irgendwo meinen Bauch umkrempeln … keine Hecke, kein Versteck in Sicht und es ist helllichter Tag. Schnitt. Am Hof-Hotel entdecke ich weitere Toiletten, ebenfalls unbrauchbar. Betätige testweise die Wasserspülung: funktioniert nicht. Der Verschlag ist so eng, dass ich mich sowieso nicht über die Schüssel beugen kann … Timo ist immer noch mit Renovierungsmaßnahmen beschäftigt, wieso verbaut er so viel Sperrholz? Billig, gammelig, an einer Stelle löst sich das Packpapier, mit dem er das hässliche Holz zu kaschieren trachtet. 80 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Sehnsucht packt mich nach den Schimmeln und dem Braunen. Jetzt zu reiten, wäre allerdings ein Sakrileg: Ich bin nicht leer. Paradoxerweise meldet mein fressgeschädigtes Hirn vermeintliche Hungersignale, gemäß rationaler Berechnungen ein Ding der Unmöglichkeit … kann gar nicht sein. Das würde bedeuten, das alles – nur was!? – mir Einverleibte, Introjizierte dem Prozess der Verdauung und damit der Resorption anheimgefallen ist. Keine Chance, endgültig aus ist’s mit dem Wiederhergeben … Mich quält die Vorstellung dessen, was mit der Nahrung in mir, in Gedärm und Blut geschieht, wie sie mich verfettet, sich ablagert, innen, außen, überall. Jeder Versuch, mich zu beruhigen, scheitert, Schuldgefühle drücken, Nervosität klopft in meiner schwellenden Brust und machen es mir unmöglich, trotz nachlassenden Besoffenheitsgefühls Timo in die Augen, die braunen, geliebten, zu sehen. Schnitt. Schräg rechts vor uns die Klinik in veränderter Architektur, jedoch in ihrer charakteristischen, türkisen Farbe. Sie ist von einem hohen Maschendraht umgeben, der allerdings nicht zu sehen, sondern intuitiv und subjektiv zu erfahren ist: Kein Zutritt, aus, vorbei, ich komme da nicht rein. Wut, Sehnsucht, Traurigkeit und Tränen jede Menge brechen aus mir heraus. Timo nimmt mich in den Arm. Kurz nach einem Weltgesundheitstag, dessen Magiepotenzial kaum zu überbieten ist – vormittags Hirtberg, nachmittags Solarium, abends Vortrag im Rahmen des westdeutschen Psychotherapieseminars und eine daran anknüpfende Unterhaltung mit einem wenig talentierten, intellektuell dafür aber umso besser ausgestatteten Reitschüler, dem Psychiater namens Karl –, klage ich Hirtberg mein Leid: »Ich esse permanent zu wenig, weil ich Angst habe. Bei dem Entledigungsritual handelt es sich nicht«, erkläre ich, rubinrot vor Scham, »um Selbstbestrafung, sondern um Angst vor den Konsequenzen – was ja etwas anderes ist als Selbstbestrafung.« »Da haben Sie allerdings recht.« Beginnt er endlich, zu verstehen? »Es handelt sich somit«, setze ich meine Überlegungen fort, »bei dem Bestreben, so wenig wie möglich, auf jeden Fall aber kontrolliert zu essen, um Vermeidungsverhalten: Ich vermeide das Risiko zuzunehmen.« »Und bei einem Essanfall handelt es sich um einen Triebdurchbruch«, sagt Hirtberg. »Kontrollverlust. Und bei Ihrem Entledigungsvorgang handelt es sich ebenfalls um Vermeidung, nämlich der Gewichtzunahme, die zwangsläufig erfolgen würde, überließen Sie Ihrem Körper die aufgenommenen Kalorien zur Verstoffwechslung.« »Tja. Und? Was nun?« »Was halten Sie davon, die Perspektive zu wechseln? Der Perspektivwechsel liegt darin, selbstbestimmt zu sagen: ›Ich finde es gut, schlank zu sein, weil ich mich mit dem Gewicht von sechzig Kilo wohl fühle. Deshalb esse ich nicht mehr als mein Körper braucht.‹ Statt: ›Ich esse so wenig wie möglich, weil ich sonst so dick werde, wie Dietlinde es prophezeit hat.‹ Nicht mehr zu essen, als der Körper braucht, ist etwas anderes, als so wenig wie möglich zu essen. Oder?«

81 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Wie fanden Sie die letzte Sitzung?«, eröffnet Hirtberg ausnahmsweise die Partie, »ich fand, das war eine sehr gute Sitzung«, fügt er hinzu, er habe etwas Wichtiges gelernt. »Dafür bin ich Ihnen dankbar.« Was redet er denn da für ein Zeug? »Sie fanden die Stunde doch auch gut … Können Sie das wenigstens annehmen, dass ich Ihnen dankbar bin?« »Nicht richtig … war doch nix wirklich Neues. Oder? Angstabwehr statt Selbstbestrafung. Enttäuschungsprophylaxe.« Er sieht aus, als freue er sich wirklich, von mir zu lernen, was auch immer. Nicht zu fassen. Seine Dankbarkeitsgefühle fürderhin ignorierend, bestätige ich ansonsten seine Einschätzung der letzten Stunde. »Aber irgendwann kippt es …« »Gut, es kippt. Wie lange hat das denn angehalten, das gute Gefühl nach der letzten Stunde?« »Das weiß ich nicht. Gut fand ich die Sache mit dem Perspektivwechsel. Dass Sie zweimal betonten, kein Spezialist für Essstörungen zu sein, hat indes Zweifel ausgelöst, das deuteten Sie schon richtig …« »Ich finde das gut, dass Sie Ihre Zweifel hier formulieren«, sagt er. »Dann Ihre Anmerkung, ich käme ja nun schon ein Weilchen … Druck: Nun mach schon hin, zeig mal langsam, dass die Veranstaltung nützt.« Da ich keine Lust auf weitere Betrachtungen des inneren Zensors habe, komme ich auf den Punkt. »Als eine der wesentlichen Ursache für die Aufrechterhaltung, das Fortbestehen meiner Essstörung sehe ich das verdammte magische Denken. Ich will unbedingt damit aufhören.« »Womit?« »Na, zuerst mal mit dem magischen Denken.« »Warum tun Sie es dann nicht ganz einfach?« »Weil es eben nicht ganz einfach ist. Ich fühle mich nackt und bloß, verloren in der Welt, in Raum und Zeit bei der Vorstellung, an einem x-beliebigen Tag, so wie es heute einer ist, einfach nur normal zu essen. Mir fehlt ein Gedanke zum Festhalten. Weil dieses Denken mein Essverhalten bestimmt und das Ganze immer kuriosere Auswüchse zeigt, muss ich es irgendwie schaffen, anders zu denken.« »Was halten Sie davon: ›Heute ist einfach ein schöner Tag und mir geht es besser, wenn ich mich normal ernähre.‹ Eine ganz einfache Aussage.« »Vor die sich aber, kaum ist sie formuliert, das Gerüst des magischen Denkens schiebt.« »Damit Sie nur ja nicht nackt und bloß dastehen.« Später, auf dem Weg zum Büro, denke ich an jeder roten Ampel darüber nach, was denn jetzt umkippt. Umspringt.

82 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ganz nackt – einfach so

N

ormalsein ist Unmittelbarkeit. Normalsein bedeutet den direkten Kontakt mit der Realität. Farben und Konturen der Gegenstände, Gerüche und Klänge dringen in den Körper ein, das Selbst wird Teil des Ganzen, gibt seinen distanzierten Beobachtungsposten auf. Auch nicht so leicht zu ertragen.« Hirtberg mustert mich, als wollte er das Beschriebene unmittelbar an mir ablesen. »Das entspricht dem Bild«, sagt er, »dass Sie sich der Welt näher fühlen, sobald Sie sich normal ernähren.« Er fragt nicht, was normale Ernährung für mich bedeutet, akzeptiert, dass sich diese von allgemeingültiger Normalität unterscheidet. Er insistiert nicht auf drei Hauptmahlzeiten gemäß der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung, verzichtet auf ohnehin überflüssige Hinweise auf Vitamine, Mineral- und Ballaststoffe. »Die Absurdität dessen, auf dem ich hier herumreite, ist mir völlig klar. Frage an Sie: Wie blöde muss man eigentlich sein, um derlei Denkmuster zu entwickeln?« »Gegenfrage: Haben Sie sich schon mal darüber nachgedacht, wie klug, wie verzweifelt man sein muss, um diese Form von Überlebensstrategie zu finden?« »Nein, habe ich nicht. Wie dem auch sei, es geht kein Weg daran vorbei, mich diesem Schmerz, dieser Scham auszusetzen. Es ist ganz elementar, zu begreifen, warum in dem Versuch, nicht magisch zu denken, mich dieses überwältigende Gefühl der Verlorenheit, der Schutzlosigkeit, des Ausgeliefertseins und der Leere überkommt.« »Leere bedeute, dass etwas fehlt. Wenn etwas fehlt, entsteht Sehnsucht. Überlegen Sie doch mal: Warum macht sich gerade im Augenblick Ihre Sehnsucht nach der Klinik so deutlich bemerkbar?« »Wenn ich nun die knospenden Bäumen, die Kirsch- und Apfelblüten, die schimmernde, weichere Luft und das keimende Getreide auf den Äckern ins Feld führe, säe ich eine sentimentale, assoziative Verbindung zum Vorjahresfrühling, in dem ich, zuversichtlich, mutig und auf merkwürdige Art und Weise stabil, entschied, in die Klinik zu gehen.« »Sie fühlten das Gegenteil von Verlorenheit? Gucken Sie doch mal hin: Was meldet sich da? Sie sind doch ganz dicht dran …« Ja, ganz dicht an was? An der Realität? Es gibt da einen Sog, der mich an die Grenze meiner inneren, sehr tiefen Sehnsucht zieht. Nein, natürlich weine ich nicht. Dass

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überhaupt Tränen sich melden, irritiert mich weniger als der Umstand, dass Hirtberg ihre Ungeweintheit ertastet. »Diese Verlorenheit«, antworte ich mit etwas erstickter Stimme, »ich kann sie nicht beschreiben, diese Verlorenheit ohne das magische Denken. Die Zeit in der Klinik ist ein Symbol. Getragen. Gehalten. Sehnsucht nach Stabilität. Sicherheit in der Verlorenheit …« »Sehen Sie Ihre Fortschritte? Sie kriegen Ihre Verlorenheit mit, das war nicht immer so.« Ich lasse mich fallen in die Verlorenheit. In der Leere bin ich sicher, kein Zweifel, bestimmt und eindeutig kann ich sagen: Ich fühle mich verloren. Im Fallenlassen in die Verlorenheit liegt die Befreiung. Am Abend widerstehe ich gleich zwei Impulsen: dem, mich vom Fernseher, von ein, zwei Gläsern Wein oder Atosil einlullen zu lassen, und dem, mich mit der überdosierten Einnahme von Abführmittel zu vergewissern, am nächsten Morgen leer zu sein. Etwas ist anders. Aufgewühlt, berührt und traurig bin ich ganz eng an mir selbst und will es noch etwas halten, dieses Gefühl, keinen Boden unter den Füßen zu haben, jedenfalls keinen harten Asphalt. Nach außen bin ich auf der rationalen Ebene ehrlich, auf der emotionalen nicht. Unmöglich, Hirtberg zu zeigen, wie nah mir unsere Gespräche gehen. Aber weinen? Nein, dazu kriegt der mich nicht. Drei Themen wollte ich bearbeiten – die Sehnsucht nach der Klinik, Gerhards drohenden Geburtstag und meine Beziehung zu Timo mit ihrem asexuellen Impetus –, nicht mich berühren lassen, noch dazu an der Seele! Noch immer versuche ich herauszufinden, was in Bad Bramstedt so besonders war, was mich jetzt mit dieser zuckerbitteren Sentimentalität erfüllt. Fest steht: Es war eine Oase, ungeachtet aller Mitpatienten war es doch ein Raum für mich allein. Am Scheideweg. Entweder ich schaffe es, mich vom magischen Denken zu lösen, oder eben nicht. Wenn nicht, werde ich die Artistin nicht los. Als eklatanten Unterschied zur Verhaltenstherapie erlebe ich, dass Hirtberg mit mir, das heißt auch, mit dem magischen Denken, arbeitet – nicht gegen etwas. In der Klinik arbeitet man gegen die Symptome, macht sie weg, wenn alles gut geht. Bei mir hat das, wie bei den meisten anderen, nicht geklappt. Obwohl der Tag alles andere als magisch ist, hält sich die Artistin bedeckt. Er ist allenfalls magisch in dem Sinne, dass er es eben nicht ist. Stattdessen: Sehnsucht nach Stabilität. Nach Einssein mit mir, nach Vertrauen. Danach, dass der Boden mich trägt. Oder jemand anders. Ich selbst zum Beispiel. Von meinem sozialen Umfeld kann ich nicht erwarten, dass es mir analytisch begegnet. Offen gestanden ist es ausschließlich Hirtberg, der mich trägt, mir den Rücken stärkt und mich auffängt, indem er mir gibt, was ich vermisse, ohne dass mir 84 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

bewusst ist, dass ich es – nur was? – überhaupt vermisse. In diesem Zusammenhang auch das Gefühl der Verlorenheit, wenn ich auf das Klammern an Daten, Zahlen, Feiertage zu verzichten versuche. Wo soll ich suchen? In mir? In anderen? Leider ist es nicht ohne Weiteres möglich, für den Rest meines Lebens meinen Analytiker zu besuchen, abgesehen davon, dass die Frequenz, wie hoch sie auch sei, sowieso nicht reichen würde: Ich möchte ihn mit nach Hause nehmen, auf meine Couch setzen und mir seine Geschichte anhören. Nackt und verletzlich stehe ich da, die Welt ist nah, so präsent, zum Beispiel in Form der gut sechshundert Seiten, die mich anschreien, ich möge sie doch bitte endlich redigieren. Statt mich ihrem Geschrei zu beugen, nehme ich mir die Zeit, dranzubleiben an der härtesten Aufgabe der Welt: dem Verzicht auf das magische Denken. »Ich beraube mich meines Glaubens«, stelle ich fest. »Mit Ihrer Form, zu denken, schaffen Sie sich die Illusion, fortlaufend neu anfangen zu können. Tatsächlich ist unmöglich, sein Leben täglich neu zu beginnen. Es gibt die Vergangenheit«, sagt Hirtberg in einem Ton, als verkünde er das Evangelium. »Sie meinen, das magische Denken gaukelt mir vor, das Gewesene sei sozusagen abwaschbar? Keiner meiner Abermillionen magischer Tage hat mir ein neues Leben beschert, keiner mir echte Orientierung gegeben, allenfalls Pseudostabilität für vierundzwanzig oder achtundvierzig Stunden.« »So viel Kraft es Sie kostete, diese Gedanken zu konstruieren, so viel Kraft erfordert es auch, sie zu dekonstruieren. Sie zu eliminieren und durch andere zu substituieren.« Die Analyse enthüllt Defizite. Die Verlorenheit sehen. Aushalten. Hirtberg zeigt mir, wie das geht, macht es mir vor: Er guckt hin und sieht. Benennt Gefühle, etikettiert sie, wie er sagt. Ich brauche es nur nachzumachen. Im Hingucken entdecke ich Leere und Traurigkeit und erlebe gleichzeitig Befreiung. Ich klebe an der Formel ganz nackt, einfach so, weil ich die Welt näher an mir dran spüren will. Ohne Kettenhemd. Als ob Hirtberg nicht längst gemerkt hätte, dass ich ihn als klug erlebe, wachsam und charmant, gestehe ich zu allem Überfluss meine Bewunderung für seine gleichschwebende Aufmerksamkeit oder das, was ich dafür halte, seine publizistische Tätigkeit und was er sonst alles tut: Vorträge, Coaching – wie seiner Homepage, die ich studiere, wie ich die Bibel nie studiert habe, zu entnehmen ist. »Und wissen Sie, was mich am meisten berührt? Dass Sie sofort registrieren, wann ich aussteige, wann es zu viel wird. Ich registriere das, wenn überhaupt, erst wenn das Glas überläuft.« Und schon läuft es über. Für einen Moment schließe ich die Augen, atme tief durch und hoffe, dass er es diesmal wenigstens nicht registriert. Er guckt mich an. »Was ist passiert, wieso driften Sie jetzt so weg? Warum kippen Sie weg?« 85 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Mit seiner Offenheit ist die Welt ist wieder so nah. Dieser Sog. Hirtberg schiebt sich so unter meine Haut, dass es schmerzt. »Zu Anfang habe ich mich gefragt, ob es wohl Sinn mache, mit Ihnen zu arbeiten, weil Sie immer so aussteigen.« »Sorry, ja, und jetzt steige ich schon wieder aus. Riskiere, dass Sie die Arbeit mit mir sinnlos finden … Mich wegschicken. Keine Verlängerung beantragen.« »Ich empfinde die Arbeit mit Ihnen als sinnvoll, wenn Sie das beruhigt. Wir gucken ja unter anderem, was Sie zum Ausstieg bewegt.« Als wollte er mich erden, nachdem ich so abdriftete, schlägt er vor, mich doch zur Abwechslung mal ganz bewusst für einen Essanfall zu entscheiden. »Aha, einfach mal. Mit Verlaub, Hirtberg, diese Idee finde ich völlig daneben, abgesehen davon kenne ich derlei bereits aus der Verhaltenstherapie. Warum versuchen Sie sich überhaupt in diesen Exkursen?« Bin bockig. »Sie wissen doch, dass ich damit nichts anfangen kann!« »Ich möchte Ihnen klarmachen, dass Sie es sind, die entscheidet. Hören Sie, es handelt sich dabei um eine Entscheidung. Pro oder kontra. Viel oder wenig.« »Ich schäme mich meiner Maßlosigkeit. In allem bin ich maßlos.« »Das hatten wir schon mal«, sagt er. Wenn er genervt ist, dann berechtigterweise. Ansehen kann ich ihm nichts dergleichen. »Das ist jetzt schwarz-weiß. Es gibt Bereiche, in denen Sie sehr wohl Ihr Maß finden. Denken Sie an mein Angebot, drei Stunden pro Woche mit Ihnen zu arbeiten. Das lehnen Sie ab. Weil Ihr Maß ein anderes ist, nämlich zwei Stunden. Mit der nachvollziehbaren Begründung, dass es Ihnen zu viel würde, kämen Sie häufiger. Da finden Sie Ihr Maß. Grenzen sich ab. Sie zweifeln nicht. Sie sind sich sicher. Sie wollen zwei Stunden. Sonst kommen Sie mit dem Schreiben nicht hinterher, sagen Sie. Warum zweifeln Sie bei der Entscheidung, ob Sie die Kontrolle über Ihr Essverhalten aufgeben oder ob Sie sie behalten wollen?« Das Studium meiner immer noch akribisch geführten Tabellen und Statistiken bestätigt, was ich meine zu beobachten: Bezogen auf die Zeit der Behandlung sind die Phasen, in denen die Artistin nicht täglich über mich herfällt, länger geworden. Konkret heißt das: Es gibt immer mal zwei Tage am Stück, an denen sie mich in Ruhe lässt. Erschütternd indes, wie oft sie es nicht tut. Hirtberg ist beeindruckt, als ich ihm, ein wenig stockend und zögerlich, davon berichte. »Nun, ein Datum dürfen Sie schon noch nennen«, zwinkert er, will mir die Panik nehmen, die sich einstellt, weil das magische Denken alles andere als verschwunden ist. »Trägt der Boden der positiven Erfahrungen, die Sie jetzt machen? Noch mal«, insistiert er, »sind Sie sicher? Trägt er?« »Ja, er trägt.« In diesem Augenblick meine ich das ganz ernst. »Kein Kontrollverlust dieser Welt kann Ihnen die Erfahrung, die Sie jetzt machen, nehmen.« 86 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Meine Absicht, über meine Gefühle ihm gegenüber zu reden, gelingt nicht. Ich verharre auf der rationalen Ebene, komme trotzdem ins Schleudern. »Also, es ist so: Aus meiner laienhaften Sicht läuft das ja hier wie geschmiert, meine mild positive Übertragung … hm, vielleicht ist es auch keine Übertragung.« »Was?« Er tut so, als verstünde er nicht. »Na, meine …« Das Wort Verliebtheit bleibt mir im Halse stecken, so wie in anderen Situationen die Tränen in den Augen. »Hören Sie, Hirtberg, ich kann hier nicht weitermachen. Besser warte ich, bis meine Übertragung sozusagen analysepflichtig wird.« Er schüttelt sich wie ein Hund. »In der Literatur wird doch darauf hingewiesen, das sich unter die Bewunderung beizeiten Skepsis mischt, in etwaige Verliebtheit Angst vor Enttäuschung und Eifersucht … Irgendwie verstehe ich das alles nicht richtig, kriege das kognitiv nicht auf die Kette, verstehe nicht, was das für unsere Situation bedeutet. Bitte entschuldigen Sie, ich möchte das Thema gern verschieben, jetzt einfach beenden.« Verstohlen schiebe ich mir ein Wrigleys in den Mund, der vor Verlegenheit komplett ausgetrocknet ist und stemme mich unter Aufbietung aller meiner Kraft gegen den Impuls, ihn einfach in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen. »Sie verwechseln da etwas. Kognitiv kriegen Sie das alles sehr wohl auf die Kette. Ihre Affekte schwappen über, und Sie haben den Eindruck, Sie könnten intellektuell nicht folgen. Gefühle sind wichtig«, erklärt er, »aber auch ihre Deutung. Wenn es Ihnen zu viel wird, das gilt auch für positive Gefühle, steigen Sie aus. Kippen Sie um.« Die ganze Nacht lang hat es geregnet, noch immer ist kein Ende in Sicht. Als Hirtberg im Laufschritt die Straße überquert, erkenne ich ihn um den Bruchteil einer Sekunde später, als ich ihn erkannt hätte, wenn er sich nicht die Kapuze seiner sweatshirtartigen Sportjacke über den Kopf gezogen hätte. Jeans und schwarze Sportschuhe. Streetworker. Das Klischee vom Analytiker bringt der jedenfalls gewaltig ins Wanken. Gerhards Geburtstagsfest. Familienfeiern sind mir ein Gräuel. Waren sie immer schon. Sonntagskleidchen, rutschende Kniestümpfe, Buttercremetorte, Zigarettenqualm, alte Männer, Tanten, die ich nicht kannte und die befremdlich rochen, langweiliges Gerede. Stichwort Weihnachtsallergie. Alles, was mit dem Wort Familie zu tun hat, ach was, das Wort allein, schürt Aggressionen. Kinder, Nichten und Neffen. Gerhard wünscht sich keinen Rasenventikulator, keine Golfbälle, keine selbstgemalten und auch sonst keine Bilder – außer dem der Erfüllung seines vorstellungshaften Bildes einer intakten Familie, die Versammlung seiner Kinder und Enkelkinder. Erschütternd: Ist er wirklich so dumm zu glauben, wir seien eine intakte Familie? Desillusionierend: Mein Held, mein Vorbild, mein Papa ist so begrenzt in seinem Horizont, in seiner Wahrnehmungsfähigkeit? Jedenfalls ahnt er nicht im Entferntes87 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ten, wie groß das Opfer ist, das er von mir verlangt. In mir sperrt sich alles. Familie: der Horror schlechthin. Inzwischen wundert es mich nicht mehr, dass ich mich für die Kinderlosigkeit entschieden habe, das übrigens bereits im zarten Alter von zehn oder zwölf Jahren. Ernst genommen hat das natürlich niemand: Kinder können nicht denken, geschweige denn Entscheidungen fällen. Sie sind keine autonomen Persönlichkeiten: Ach, warte erst mal, bis der Richtige kommt. Was der alles richten sollte! Mein Kussunfreudigkeit, Haushaltsunlust, Abneigung gegen Nachkommenschaft … Ich könnte kotzen, ohne dass ich was gegessen hätte, angesichts dieser aufgesetzten Harmonie, die ich mir überstülpen lassen muss, um des lieben Friedens, der Fassade willen. Ich stochere im selbstgebackenen Apfelkuchen herum, beobachte Josephine, die ihrerseits stochert, aber immerhin Kinder bekommen hat und damit die Tradition des generationsübergreifenden Autonomieproblems potenziell fortzusetzen in der Lage ist. Wie bequem ist doch der blauen Sessel mit den Röllchen, auf den ich mich kurzentschlossen setze. Ausstieg. Verlasse das Familiensitten- und tauche ein in mein Neo-Dada-Bild, in meine Geschichte, von der hier am Tische, in dieser zwanghaft entstaubten, gelackten Villa am Stadtrand, niemand etwas ahnt. Fühle mich überlegen, außerhalb und sicher in meiner Verlorenheit, in meiner Sehnsucht nach meinem Retter. Ich widerstehe den lukullischen Verführungen im Status einer Stabilität, die sich meiner in der Hingabe an mein Gefühl, am Rande zu stehen, bemächtigt. »Gerhard wollte Förster werden. Das war sein Traum. Stattdessen wurde er Filialleiter eines unbedeutenden Tabakwaren- und Spirituosengeschäftes, um hernach, Chance des Wirtschaftswunders, aufzusteigen zu einem mit reichlich Macht und Einfluss ausgestatteten Managers in der – ausgerechnet – Lebensmittelbranche.« »Und was hat der mit seinem Traum gemacht?«, fragt Hirtberg, der mich bis hierher hat erzählen lassen, ohne ein einziges Mal einzuhaken. »Nun, er verdiente ja ordentlich Geld, und so pachtete er sich eben seine eigene Jagd. Mit Jagdhütte und Bachlauf. Dietlinde war dagegen, entsorgte nach einigen Jahren sämtliche Trophäen – Reh- und Hirschgeweihe, Wildschweinschwarten, ausgestopfte Birk- und Auerhähne – aus dem immerhin gemeinsamen Haus. Machte ihm die Sache so lange madig, bis er die Jagd wieder aufgab, um fürderhin Golf zu spielen. Mit ihr.« »Merken Sie was? Ihre Mutter hat es perfekt verstanden, auch die Autonomie ihres Mannes in Frage zu stellen, um nicht zusagen: zu kontrollieren.« »Mich hat das alles sehr enttäuscht«, fahre ich fort, »umso mehr, als ich schon genug enttäuscht war, dass er nicht mit mir zum Reiten ging, obwohl er es gewollt hätte. Er mag Pferde, ritt sogar hie und da mit Geschäftsfreunden … Es gibt einige wenige Fotos, die das belegen. Dietlinde hat Angst vor Pferden, weil sie in ihrer Kindheit irgendwann mal mit einer Kutsche umgekippt ist.« 88 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Dietlinde hat Angst und er verzichtet aufs Reiten. Wie erklären Sie sich das?« »Die beiden leben eine Art Komplettsymbiose. Solidarität bis zum Anschlag. Ich glaube, das geht vor allem von Gerhard aus. Widerwärtig. Gerhards Fähigkeit zur Leidenschaft indes habe ich bewundert. Seine Entschiedenheit und seine Klarheit. Dietlinde wollte Modezeichnerin werden. Mit ihrem Schicksal als Mutter und Hausfrau haderte sie. Betonte, auch ungefragt, Gerhard den Rücken frei gehalten zu haben. Fast immer nörglerisch, unberechenbar. Meine Zweifel habe ich von ihr«, sage ich. »Glaube ich auch«, sagt Hirtberg. »Und der calvinistische Kaufmann, bei dem man ja nicht einfach so zur Freude auf der Welt ist, macht die Sache auch nicht besser.« Mir kommt ein unglaublicher Gedanke: Gibt es neben dem bereits erörterten generationsübergreifenden Autonomieproblem noch ein generationsübergreifendes Identitätsproblem? Gerhard wollte Förster werden. Scheitert – woran auch immer. Ich wollte Tierärztin, Agraringenieurin, Landschaftsgärtnerin, Pferdezüchterin oder zumindest Reitlehrerin werden. Scheitere. Werde immerhin eine ordentliche Reiterin, staatlich geprüfte Berittführerin und Reitwartin. »Mein innerer Zwist«, erkläre ich Hirtberg, »beginnt kurz nach dem Abitur, als mein unzureichender Notendurchschnitt nicht im Entferntesten dem NC entsprach und deswegen weder an ein Studium der Tiermedizin, der Agrarwissenschaft oder des Landschaftsbaus zu denken war. Die Botschaft des Systems: Du bist nicht gut genug. Man wollte mich nicht. Ich ließ mich auf den Kompromiss der Kunstgeschichte ein: Ich malte gern und interessierte mich für das Verrückte, das sich aus meiner Sicht hinter Dada und Surrealismus verbarg.« »Die mit einem geisteswissenschaftlichen Studium verbundene Intellektualität ist doch ein Teil von Ihnen«, sagt Hirtberg. »Wären Sie Reitlehrerin geworden, würden Sie sich heute nach der Intellektualität sehnen, die Sie so mit der Kunst leben.« »Na ja, das ist jetzt eben mein Job. Trotzdem kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass es hier einen ungelösten Knoten im roten Faden gibt.« »Ihnen geht es aber nicht schlecht dabei«, konstatiert er trocken, aber leider falsch. »Und ob es mir schlecht geht.« Ich schlucke und habe schwer zu würgen an der Sehnsucht nach dem, was ich in meinem Leben unwiderruflich versäumt habe. »Es kostet mich einige Überwindung, über das Thema zu reden. Ich tue es, weil ich Ihnen vertraue, davon überzeugt bin, dass Sie es schon richten werden.« »Aha«, grinst er, »Sie sind zuversichtlich, dass ich es richten werde? Ja ja, das packen Sie jetzt sicherheitshalber mal zu mir … Hören Sie, das ist Ihre Zuversicht, wenn Sie glauben, ich würde es schon richten.« »Ohne Sie käme ich doch gar nicht da dran. Mich plagt Sprachlosigkeit. Sie versprachlichen doch immer, was mich quält, also bitte …« »Es geht um Beruf und Hobby, Kunst und Reiten, Job und diese Idioten, die sich in den Weg stellten – und stellen. Seien Sie doch froh, dass Sie jetzt schon an diesen Punkt des Versuchs einer Integration kommen, und nicht erst mit sechzig.« 89 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Mein Job, mein Leben, meine Reiterei: so viel Enttäuschung, Frustration, Resignation. Mich will keiner. Ich bin zu doof. Zu ungeschickt.« »Glauben Sie, Sie wären die Einzige, der es so geht, dass die Honigkuchenpferde nicht kapieren? Wenn Sie wirklich nicht darüber reden wollen, höre ich auf und insistiere nicht mehr. Wenn Sie mir glaubhaft versichern, dass Sie gut damit leben können, alles beiseite gepackt zu haben, und sich fortan ruhig und zufrieden Ihrer Arbeit widmen wollen.« »Sie meinen, wenn ich im Einklang mit mir selbst bin, so, wie ich beschlossen hatte, zu leben, weiter leben will? Mich zurücklehne, sage: Ist doch gut so, hast einen sicheren Job und jetzt denke mal nicht weiter nach? Nein, das wäre ja wieder so ein Ausstieg!« Wieder hat dieser Klartextualist es geschafft, einen aus meiner Sicht extrem verquasten Sachverhalt so zu drehen, dass er an Dramatik verloren hat. Das Stichwort Integration hat das Potenzial, einer der Schlüsselbegriffe zu werden.

90 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Sie müssen nicht sofort handeln

W

ie ein Schulkind auf die Sommerferien freue ich mich auf Hirtberg. Welchen der zwei zur Disposition stehenden Themenkreise soll ich anschneiden? Integrationsversuch oder magisches Denken? Letzteres quält mich an diesem Montag mit drängender Unausweichlichkeit. Das eine gegen das andere abwägend wird mir klar, dass es vor jedem Termin mindestens zwei Möglichkeiten gibt: entweder die des rationalen Anknüpfens an die Inhalte des letzten Gesprächs oder die des emotionalen Aufgreifens meiner aktuellen Befindlichkeit. Was ist jetzt, in diesem Augenblick? Das ist: Statt nackt und bloß finde ich mich fest gezurrt in einer Absurdität aus sechs Buchstaben. Gatnom. Oder Tagmon. Nomgat. Montag. Seit der Heiligsprechung des Dienstags ist der Montag die Hölle. Der Artistin ausgeliefert. Wenn das Morgen magisch sein soll, muss das Heute sterben. »Im Rahmen unserer Veranstaltung ist ja inzwischen die Erkenntnis gediehen, dass das magische Denken Sicherheit gibt, wo in Ihrer Wahrnehmung zunächst mal keine ist. Folgerichtigerweise muss der nächste Schritt die Frage sein: Was, außer Gewicht und engen Jeans, beschäftigt mich?« Ich druckse herum. Winde mich ein wenig im Sessel, mir ist kalt. Hirtberg guckt mich unvoreingenommen an. So ich ihm Gelegenheit gebe, wird er Klarheit schaffen. Noch stecken mir die Worte im Halse fest, und um Zeit zu gewinnen, blockiere ich noch ein wenig vor mich hin. »Wissen Sie, es ist doch so: Die Dinge, kaum beim Namen genannt, entwickeln ihre Eigendynamik … bekommen eine andere Realität.« Aus Angst vor der Eigendynamik meiner Gefühle ihm gegenüber setzte ich mein diesbezügliches Schweigen erst mal fort, ringe mich aber immerhin dazu durch, endlich die Katze aus dem Sack zu lassen und die Beziehung zwischen Timo und mir offen in Frage zu stellen. Das Wort Trennung schwebt im Raum. »Und vor den möglichen Konsequenzen dieser Eigendynamik, wie Sie es nennen, haben Sie Angst.« »Ja.« »Ist Ihnen klar, dass Sie nicht sofort handeln müssen?« Es besteht durchaus die Möglichkeit, Dinge gedanklich durchzuspielen, ohne gleich Konsequenzen in die Realität zu tragen.

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Hirtberg ermuntert mich mimisch. Als Filmregisseurin würde ich ihm eine Hauptrolle anbieten. Oskarverdächtig. Analytiker müssen ausgezeichnete Schauspieler sein. Ich lasse mich drauf ein. Zumindest das Gedankenexperiment fordere ich mir ab. Hier habe ich die Chance. Zögerlich beginne ich zu formulieren, dass Timo das Gegenteil von dem verkörpert, was ich anziehend finde. »Natürlich, das war mal anders. Seine Initiativlosigkeit, sein mangelnder Antrieb macht mich rasend. Er ist gebildet, intelligent und interessiert an allem Möglichen, es ärgert mich, dass er seine Talente nicht nutzt, geschweige denn gewinnbringend einsetzt.« »Haben Sie überhaupt Sex?«, fragt Hirtberg unvermittelt und ohne zu präzisieren, ob sich seine Frage auf Timo bezieht oder eher genereller Natur ist, was aber aufs Gleiche herauskommt. »Ich praktiziere keinen Sex. Weder mit Timo noch mit sonst jemandem.« »Haben Sie kein Bedürfnis danach?« Unmöglich, meine diesbezüglichen Fantasien zu offenbaren, zumal er, Hirtberg, ja einer ihrer Protagonisten ist. Holperig skizziere ich ein abstraktes Bild von meinem Ideal, das zu seiner Identifikation geradezu angetan ist. Er braucht nur eins und eins zusammenzuzählen. »Charisma, Fantasie und Visionen sind supersexy, das alles Entscheidende sozusagen. Körperliche Attraktivität kann nicht schaden, bewegt sich so auf einem Level mit Engagement, Erfolg und Macht.« Mit der Skizze mache ich quasi öffentlich, was schon lange in mir gärt: Die sexuelle Anziehung, die mindestens zwei der genannten Faktoren zur Voraussetzung hat, ist zwischen Timo und mir abhanden gekommen. Mir tut alles weh, besonders die Seele. »Was macht denn Timo mit seiner Sexualität?« »Vor ungefähr neun Jahren, als ich die Affäre mit diesem – übrigens sehr dekorativen, intellektuell jedoch durchschnittlich ausgestatteten – Enzo hatte, löste Timo sein Problem mit Prostituierten. Über seine heutige Strategie kann ich nur spekulieren. Er sagt, er täte es nicht. Mit Prostituierten, meine ich. Wahrscheinlich sieht er sich Pornos an, macht es sich selbst … was ich überhaupt bedenklich finde, solange es parallel zu einem ausgeglichenen Sexualleben stattfindet. Wohingegen, heimlich und ausschließlich praktiziert, Onanie zu einer irgendwie schmierigen Angelegenheit gerät.« Ich fühle mich nicht wohl. Der Respekt vor ihm, Timo, und vor mir selbst verliert sich langsam aber sicher hinter dieser schweigenden Fassade, die unsere Beziehung zusammenhält. Timo hat viel von Luise, seiner Mutter: diese elende Antriebslosigkeit, den Mangel an Ehrgeiz, Mut und Risikofreude. Ich bin nicht besser, aber ganz anders. Wie sollen wir gemeinsam weiterleben, ohne dass mein Temperament auf der Strecke bleibt? Wie sollen wir weiterleben, ohne dass wir uns total überfordern? Auch das: eine Frage von Integration? Das Eingeständnis vor mir selbst, dass unsere Ehe nicht in Ordnung ist, reißt mir fast das Herz aus. 92 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Noch mal: Sie müssen erst mal gar nichts tun. Wir schauen uns weiter an, was ist. Und dann sehen wir weiter«, sagt Hirtberg und fügt mit schelmischem Ausdruck hinzu: »Erinnern Sie sich? Zu Anfang fragten Sie ständig: Was jetzt? Was mache ich jetzt damit? Jetzt frage ich Sie: Was machen Sie jetzt damit?« »Erst mal gar nix«, grinse ich zurück und freue mich, dass ich es inzwischen angenehmer finde, erst mal nichts zu tun, statt mich in blinden Aktionismus zu stürzen. »Verrat ist das Letzte, was ich will. Und doch verrate ich Timo, indem ich hier, mit Ihnen, über sehr intime Dinge spreche, statt mit ihm.« »Aber das haben Sie doch getan«, wendet er ein, »Sie haben ihn doch auf das Nichtvorhandensein von Sex angesprochen, mehrfach, wie Sie sagen, seit Jahren. Ist der denn blöd, er wird sich doch auch seinen Teil denken, meinen Sie nicht?« »Er schiebt das weg. Verdrängt, dass Sexlosigkeit ein Indiz für eine Schräglage in der Beziehung ist.« »In der Beziehung als Liebespaar.« »Ja.« »Dass Sie keinen Sex mehr haben, ist Ausdruck einer tiefgehenden Verstimmung. Warum sieht Timo darüber hinweg? Mir scheint, das ist mehr so ein Bruder-Schwester-Verhältnis. Und es gibt zweifellos eine sehr enge Bindung.« »Ja, die gibt es … Aber Timo war früher anders.« »Wie war er denn früher?« »Es ist doch ein Unterschied, ob jemand, Ende zwanzig, gerade mit der Uni fertig ist und nach dem sucht, was er denn will. Alle Türen stehen offen. Oder ob jemand mit Anfang vierzig der Auffassung ist, alles sei gut, wie es eben ist, und sich keinen Millimeter mehr bewegt, den Status quo systematisch konserviert. Und dass, obwohl sich faktisch zwischen siebenundzwanzig und dreiundvierzig nicht so wahnsinnig viel getan hat. Auf der kreativen Ebene«, ergänze ich und vermeide so das Wort Karriere, dass mir in Ermangelung eines trefflicheren Begriffs durch den Kopf schießt. Pfingsten ist ehefrei. So nennen wir das, wenn wir uns am Wochenende nicht sehen. Uns gegenseitig eine Auszeit gestatten. Ein im Prinzip vernünftiges Arrangement. Ob es uns gut tut, bezweifele ich mittlerweile. Vor gut sechzehn Jahren war ich diejenige, die seine Hand genommen hat, zwei, drei Wochen später brachte ich zum Ausdruck, dass ich mit ihm in die Kiste und Jahre später, dass ich meine Ruhe wollte. Ich habe ihn nach Assgart geschleppt. Ich hatte die Affäre, nicht er. Ich habe den Job in Liefem angenommen. Ich spreche Probleme an. Ich erinnere ihn an Zahnarzt und Friseur. Die Entscheidung, ob wir das Wochenende in Assgart oder Liefem verbringen, liegt zumeist bei mir. Ob dies alles Thema wird, liegt an mir.« »Sie haben zu Recht den Anspruch an eine Beziehung, an Timo, nicht allein diejenige zu sein, die Bewegung bringt, die initiiert, egal was. Timo hat sich behaglich eingerichtet. Es ist bequem mit Ihnen, nehme ich an?« 93 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»In gewisser Weise schon. Ich mache keinen großen Ärger, sehe ganz passabel aus und bin einigermaßen clever, jedenfalls intelligent genug, um seinen intellektuellen Ansprüchen zu genügen – von denen ich nicht sicher bin, ob er sie wirklich hat oder ob ich sie ihm andichte.« »Was Sie vermissen, ist Initiative und Aktivität.« »Ja, genau. Timo würde ich als sehr rezeptiven Menschen beschreiben. In erster Linie hört er Musik. Alles. Klassik vornehmlich, aber auch Schlager, Jazz, Pop, alles eben. Er ist sehr versiert auf diesem Gebiet, kennt tausende von Komponisten, die entlegensten Einspielungen, Versionen, historische Ereignisse, Biografien. Er selbst spielt kein Instrument. Er liest. Alles. Klassiker, zeitgenössische Literatur, Schwerpunkt Politik und Gesellschaft, Die Zeit, natürlich. Er selbst schreibt mit viel Gefühl: wunderbare Geschichten, Briefe, Texte zur Kunst in ausgezeichnetem Stil, verfügt über eine präzise Beobachtungsgabe. Alles stimmt – vorausgesetzt, jemand – also ich – ermuntert ihn. Die Geschichten für Gerhard und Dietlinde: Zum jeweils sechzigsten Geburtstag haben beide ein Buch mit je sechzig Geschichten bekommen, eine wahre Neurosenfundgrube, diese multiperspektivische Darstellung unseres Familienlebens … Natürlich auf nett getrimmt, geschrieben zur Hälfte von Timo und mir, zur anderen vom Rest der Familie. Ist jetzt auch schon zehn Jahre her …« »Und weiter?« »Jetzt lernt er reiten, stellt sich nicht ungeschickt dabei an, nähert sich vorsichtig und mit freundlicher Aufgeschlossenheit den Pferden, den ihm so fremden Wesen.« Die bildhafte Vorstellung, Timo zu verlassen, schneidet hinter den Augen, dies umso mehr, als er dem, was ist, mit Zuversicht, Vertrauen und Liebe begegnet. »Sie werden nicht leugnen, dass Sie sich langweilen. Sie haben keine Lust auf Sex, jedes Prickeln, jede Aufregung, jede Spannung fehlt.« »Komplett. Aber er findet offenbar alles prima, ›ich liebe dich und gut is’‹. Nein, ist es eben nicht. Reichen ihm seine Kneipenbekanntschaften, diese unverbindlichen Kontakte zu offenkundig einfachen Leuten wirklich? Ich erwarte nicht, dass er sich mit einer intellektuellen Elite umgibt, aber, sei es allein, sei es mit Freunden gemeinsam, einer Sache nachzugehen – Bogenschießen, Erdbeeren pflücken, Pferde stehlen, was auch immer –, bedeuten doch eine größere Bereicherung als das Kölsch an der Theke!« »Finden Sie. Woher kommt das denn, dass Timo so ist?« »Ach, das hängt mit seiner Mutter zusammen, womit sonst. Sein Vater ist früh gestorben, Timo war erst vier Jahre alt. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viel Wut ich schon auf diese verdammte, vollkommen passive, pessimistische Luise hatte! Der Tendenz nach depressiv, weigert sie sich, selbst das wahr-, geschweige denn etwas dagegen zu unternehmen. Nicht wirklich überrascht, aber doch mit Schrecken beobachte ich diese Züge an Timo, wenn sie auch in einem anderen Gewande daherkommen. Luise kann nicht in den Park am Stadtrand, weil sie keinen Führerschein hat. Sagt sie. Immer wieder. Gebetsmühlengleich. Fakt ist: Sie kann – in Ermangelung der Ausbildung entsprechender Fähigkeiten – weder schwimmen noch Rad fahren, 94 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

auch nicht nähen oder malen, von der Teilnahme an einem Tanz-, Computer- oder Fremdsprachenkurs sei gar nicht erst die Rede. Dass Timo nicht schreibt – nur um ein Beispiel zu nennen, mit dem er seinen Ressourcen Rechnung tragen könnte –, begründet er mit Zeitmangel. Wollte er, nähme er sich die Zeit. Mich macht das traurig, bin enttäuscht, sehe schwarz und werkele verzweifelt und allein an einem neuen Fundament für unsere Beziehung, die wir beenden müssen, sollten sich meine Bemühungen als vergeblich erweisen. Im Schweigen jedenfalls geht es nicht weiter.« Mir stehen die Tränen in den Augen; zugleich bin ich dankbar, dass ich bereit bin für diese innere Auseinandersetzung. »Sie müssen nicht sofort handeln.« Hirtberg händigt mir ein ganzes Schlüsselbund aus, und er wird mir helfen, den richtigen Schlüssel zur entscheidenden Tür zu finden, zu deren Aufsperren allerdings nicht nur der Schlüssel, sondern auch der Zeitpunkt passen muss. Hirtberg zeigt mir, wie das geht: hinsehen, abwarten, aushalten. Gut, ich sehe noch etwas hin, was ich mir angesichts der Berge von Künstlerbiografien, die ich lesen und korrigieren müsste, eigentlich gar nicht leisten kann. Ich muss meine Arbeit gut machen, sonst schmeißt man mich unter Garantie irgendwann raus … Sagt der Zensor. Sonst niemand. Das Einzige, was mir an diesem Job gefällt, ist seine Sicherheit. Funktioniere ich, bin ich freundlich, fleißig und zuverlässig, wird mich niemand rausschmeißen. Sagt Timo. Diese Art von Sicherheitsdenken ist eher Timo-typisch, reflektiert aber auch einen Teil meiner selbst. Nicht zuletzt, um als Greisin nicht allein zu sein, möchte ich mit Timo alt werden. Andererseits möchte ich mir die ohnehin nur vermeintliche Sicherheit nicht um den Preis der Langeweile erkaufen. Außerdem sind wir zu verschieden. Timo braucht selbst für Kleinigkeiten unendlich viel Zeit – ich möchte wetten, dass er die Fugen rund um seine Badewanne bis heute nicht abgedichtet hat. Ich mache immer alles sofort. Sie müssen nicht sofort handeln. Manchmal zu meinem eigenen Schaden oder – schlimmer, aber seltener – zum Schaden anderer. Seit wir in getrennten Wohnungen leben, tritt unsere divergierende Affinität zu einem bestimmten sozialen oder atmosphärischen Umfeld deutlich zu Tage: Timo lebt in einer Genossenschaftswohnung in Süden von Assgart, in einer Gegend, in der, neben einigen, die es zu bürgerlichem Wohlstand gebracht haben, vorwiegend einfache Leute zu Hause sind, viele Alte, Migranten, Hartz IV. Während seine Kleider-, Schuh- und Küchenschränke, Besteck- und Kramschubladen, Regale und Abstellräume überquellen, amüsiert er sich darüber, dass bei mir ständig etwas umkippt, weil überall, wie er sagt, ein labiles Gleichgewicht herrscht, alles austariert und berechnet ist. Instabil, aber übersichtlich. Unpraktisch, aber minimalistisch. Ton in Ton. Viele Schubladen sind leer, ständig entsorge ich etwas, Kataloge, Garderobe, Schuhe, Taschen, Gürtel, sogar Fotos und Bücher. 95 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wer streicht meine Wohnung, wenn die Renovierung im kommenden Jahr fällig ist? Wer macht meine Steuererklärung? Wer hilft mir bei Rückerstattungen von der Krankenkasse? Wer prüft Öl und Luftdruck? Ohne Timo bin ich allein. Immer. Auch wenn ich mit Herzinfarkt oder Schlaganfall in der Ecke liege. Aber in dem Fall bin ich ja jetzt auch allein und wahrscheinlich drei Tage tot, bevor Timo skeptisch wird. In der Nacht wälze ich mich und meine Fragen von der einen Seite auf die andere, stehe auf, schreibe ein wenig, notiere, was ich mit Hirtberg besprechen will, neben Trennungsvisionen auch der erschreckende Gedanke an das Ende der Therapie. Meine Faszination für diesen Mann verschwimmt mit seiner Bedeutung als Retter. Es widerstrebt mir, über meine defizitäre Partnerschaft zu sprechen. Im richtigen Leben würde ich Timo zwar nicht in den Rücken fallen, aber es gäbe die legitime Option des Schweigens. Die gibt es hier zwar auch, bringt mich aber nicht weiter. Fatalerweise auch nicht näher. An Hirtberg, meine ich. Hirtberg ist mein Analytiker. Das immerhin im richtigen Leben. »Kurz, ich muss die Dinge, die schwierig sind, zur Sprache bringen.« »Warum sagen Sie nicht, dass Sie wollen? Sie wollen doch? Sie müssen jedenfalls nicht.« »Mit den Trennungsgedanken kann ich nicht umgehen. Ich bin so froh, dass ich nicht sofort handeln muss …« »Sehen Sie, wir arbeiten hier an zwei Fronten, sozusagen. Einmal geht es um Aufschub. Das hat was mit den Ich-Funktionen zu tun. Sie müssen jetzt noch gar nichts tun. Zum anderen geht es um die Inhalte Ihrer Partnerschaftsproblematik. Sehen Sie den Unterschied? Es geht um zwei Wahrnehmungskategorien, die wir auseinanderhalten wollen: nämlich die Ebene der Realität und die Ebene der Fantasie. Die Ebene der Realität wird von der Fantasie ja zunächst einmal überhaupt nicht berührt.« »Nein. Oder viel mehr doch: Sie wird berührt, denn ganz real gibt es massive Schuldgefühle, eben wegen dieser Fantasien.« »Ja, ja, und dann haben Sie auch wieder alles an der Backe, weil Timo so lieb ist. Wieso will er Sie eigentlich nicht verlieren? Was hat der denn von Ihnen? Nicht sehr viel, hm? Wenn Sie ehrlich sind: eine Frau, die in ihrer eigenen Wohnung lebt und die ihn als Mann nicht begehrt. Warum unternimmt der denn nix? Noch mal: Wie kommt er mit seiner Sexualität klar?« »Das habe ich ihn ja auch gefragt. Nicht nur einmal. Er macht es halt selber.« »Und das reicht ihm?« »Scheint so … ich glaube nicht. Er macht sich was vor, meiner Meinung nach.« »Sie reden nicht darüber. Sie sprechen nicht wirklich miteinander. Über sein Leben, ob er damit zufrieden ist … Wissen Sie das?« »Was?« »Ob er mit seinem Leben zufrieden ist.« »Er sagt, er sei es. Ich glaube ihm, verstehe es aber nicht. Dass er mit unserer nicht vorhandenen Sexualität zufrieden ist, kann ich mir nicht vorstellen.« 96 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Und warum unternimmt der nichts?« »Vielleicht begehrt er mich nicht mehr.« »Das glauben Sie doch wohl selbst nicht!« »Wieso denn nicht? In meiner Wahrnehmung unternimmt er jedenfalls nichts, packt mich beispielsweise nicht einfach mal etwas härter an – ich meine das im wortwörtlichen wie im übertragenen Sinne. Obwohl ich ihm das gesagt habe.« »Was haben Sie ihm gesagt?« »Dass er sich doch verdammt einfach nehmen soll, was er will. Wenn er will. Das kann er aber nicht.« »Nein, das würde ja auch Initiative und Entschiedenheit bedeuten.« »Timo steht dazu, nichts zu unternehmen, wobei er sich wohl nur die körperliche Annäherung vorstellen kann … den konkreten Versuch also, Sexualität wieder herzustellen. Das tut er nicht, sagt er, weil ich mich zu oft verweigert habe. Was im Übrigen auch den Tatsachen entspricht.« »Und damit sind Sie schuld. Er schiebt Ihnen allein die Schuld zu. Er könnte ja auch etwas anderes unternehmen: sich eine Freundin zulegen, sich trennen, Ihnen drohen.« »Das habe ich ihm ja sogar vorgeschlagen, ich meine, das mit der Freundin. Die legt er sich nicht zu, weil er das moralisch nicht verantworten kann. Der Freundin gegenüber, wohlgemerkt.« Hirtberg hängt im Sessel, als befänden wir uns auf einem Sit-in der frühen Siebziger: die Beine ausgestreckt, Hände in den Jeanstaschen, mit dem Po auf der Sesselkante. Manchmal riecht es in der Praxis ein wenig nach Zigarillos. Der Geruch von Gras würde mich auch nicht schockieren. Ein bisschen verlegen registriere ich meine Bemühungen zu ignorieren, dass die von ihm eingenommene Position nicht gerade dazu angetan ist, seine Anatomie zu kaschieren. »In den letzten Jahren hat es nur sehr wenige Männer gegeben, die mich überhaupt interessierten. Die waren – und sind, Präsens – für mich aus unterschiedlichen Gründen jenseits von Gut und Böse.« Vorsichtshalber verschweige ich meine aktuellen Fantasien, obwohl ich vor dem Hintergrund meiner Literaturstudien zum Thema Analyse mutmaße, dass genau diese Beziehungsebene zu betrachten erkenntnisgewinnbringend sein könnte. Sowieso wundert es mich, dass unsere spezielle, eben die Analytiker-Analysandin-Beziehung, kaum eine Rolle spielt. Sie wird schon eine Rolle spielen. Der Asymmetrie unseres Verhältnisses entsprechend kriegt Hirtberg das mit. Ich nicht. Vielleicht verstehe ich die Bücher, die ich seit Monaten verschlinge, total falsch? Möglicherweise hält Hirtberg, unorthodox wie er nun mal ist, nichts davon, eben diese Beziehung zu betrachten? Er könnte mir doch mal sagen, wann ich übertrage, identifiziere, projiziere, regrediere, idealisiere. Er könnte mir sagen, ob es sich bei meinem Bedürfnis, zu erfahren, wann ich übertrage, projiziere, idealisiere, um Rationalisierung oder Intellektualisierung 97 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und damit um eine Form von Widerstand handelt. Wie dem auch sei, mich würde schon interessieren, was da eigentlich passiert, in welche Trickkiste dieser Typ greift, wenn er deutet und versprachlicht und damit immer ins Schwarze trifft. Ich knibbele eine wenig an meinen rosafarben lackierten Nägeln und fahre mit der Zunge über meine glatten, neuen Schneidezähne, die, weil sie zwar nicht krank, aber hässlich waren, ich mir endlich habe vollkeramisch überkronen lassen. Nun schäme ich mich etwas weniger für alle anderen Unansehnlichkeiten, die sich nun mal nicht überkronen lassen. »Was sich da abspielt«, sagt Hirtberg, »halte ich für das Ergebnis eines Ablösungsprozesses, der schon länger andauert. Aus heutiger Perspektive setzte dieser Prozess spätestens mit dem Bezug separater Wohnungen ein und erfährt nun gewissermaßen einen Kulminationspunkt, dessen mögliche Konsequenzen sich nicht prognostizieren lassen.« »Es kann einfach nicht sein, dass Timo wirklich alles in Ordnung findet, das gibt es einfach nicht! Ist es möglich, so perfekt zu verdrängen?« Meine Stimme klingt heller, lauter, überschlägt sich. »Sie reden nicht miteinander.« »Wie denn?« Hätte ich nicht Zweifel an der Schallisolierung dieses Raumes, würde ich schreien. »Hirtberg, ich habe so oft auf die unterschiedlichste Art und Weise Timo zu verstehen zu geben, dass etwas nicht stimmt, aus meiner Sicht nicht stimmen kann. Natürlich gehe ich vorsichtig zu Werke, schließlich will ich ihn nicht verletzen.« »Warum denn nicht? Er enthält Ihnen etwas vor«, stellt Hirtberg fest, als sei diese Erkenntnis das Selbstverständlichste auf der Welt. Da sie das nicht ist, kapiere ich nicht, was er meint. »Zum Beispiel, ein Mann zu sein. Ein Mann mit eigenen Wünschen, Trieben, Vorstellungen, Ideen …« Jedem wäre es unheimlich, wie er die Dinge auf dem Punkt bringt. Jemandem etwas vorzuenthalten, impliziert einen Vorsatz, eine bewusste Entscheidung also. So zu sein und nicht anders entspricht Timos Wesen, es handelt sich demnach nicht um eine bewusste Entscheidung. Ist es da nicht meine Schuld, wenn ich ihn nicht so annehme, wie er ist? Trotzdem stimme ich spontan zu, meine aber etwas anderes: »Ja, genau das macht mich ja schier wahnsinnig! Was er mir tatsächlich vorenthält, sind Forderungen. Widerstand, mit dem ich mich ernsthaft auseinandersetzen müsste.« »Timo lässt sich hängen«, sagt Hirtberg. »Es verletzt mich, wenn Sie so grob über ihn sprechen.« »Sie empfinden eine starke Loyalität?« »Ja, klar.« »Merken Sie, wie Sie über ihn sprechen? Sie dürfen abwertend über ihn reden, aber ich darf das nicht?«

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Nach der Stunde fahre ich direkt zum Stall, um dort ein wenig Ordnung in Gedanken und Gefühle zu bringen, mit der gleichen Absicht, mit der ich zuvor zu Hirtberg gefahren bin. Die zweite Nacht in Folge, die keinen Schlaf bringt. Die Lider innen wie Schmirgelpapier, gebe ich auf und hole meinen Rechner ins Bett. Ständig schieben sich wilde Fantasien übereinander. Während ich wachträumend vor mich hin daddele, muss ich jede halbe Stunde aufs Klo, das kommt von dem vielen Tee. Nachdem es über fast ein halbes Jahr zur bequem-betäubenden Gewohnheit geworden war, davon allabendlich eine Tasse mit zehn bis zwölf Tropfen Atosil zu garnieren, bin ich stolz, seit mehr als einem Monat darauf zu verzichten. Anstelle bleiernen Schlafes ertrage ich nächtliche Putzmunterkeit und mit ihr die Auseinandersetzung mit Fragen, die ich immer wieder als Papperlapapp abzutun geneigt bin in der Versuchung, mich zurückzubeamen in den ruhigen Hafen unentwegter Selbsttäuschung. Rein äußerlich ist das Wochenende wie die meisten anderen. Als könnte ich dem Schuldgefühl davon laufen und gleichsam Sühne tun, spaziere ich mit Timo durch den Wald, wobei ich nach der ersten Viertelstunde dieses langweiligen Dahintrottens nach Loschad lechze, der mich tragen möge. Die relative Langsamkeit menschlichen Gehens in Verbindung mit frühsommerlichem Sonnenschein und Erinnerungen an innere Trägheit auslösende Familienspaziergänge – vorzugsweise als Unterbrechungen der Kaffeetafel anlässlich Hochzeiten, Kommunion, Firmung oder Begräbnis – macht mich aggressiv. In der »Waldschenke« bestellt Timo ein Bockwürstchen mit Pommes frites. Kinderteller. Während ich sanft und sehr zärtlich die Härchen auf seinem Arm berühre, erlebe ich ein inneres Schmerzensfeuerwerk. Bei den Auszügen aus meinem Bericht, die ich Hirtberg als Leseprobe geschickt habe, handelt es sich um Passagen, aus denen implizit hervorgeht, dass er mich elektrisiert, um es vorsichtig zu formulieren. Möglicherweise überschätze ich seine seherischen Fähigkeiten, das jedenfalls hoffe ich beim Betreten des Sprechzimmers. Ich wünschte, es gäbe einen Reset-Button. Gibt es aber nicht. Damit ist er im Bilde. Genau das zu erreichen war ja auch meine eigentliche Absicht, und sei es um den Preis, dass ich mich selbst damit in meinem Stolz verletze. Kind, hast du denn gar keinen Stolz? Wer spricht? Na? Was hat Stolz schon in einer Therapie zu suchen? Hirtberg kann mir nur unter der Voraussetzung, auch die entlegeneren Winkel meiner Seele zu kennen, zu einer anderen Lebensqualität verhelfen.

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»Sie leben das doch schon seit Jahren. Sie sind kein Liebespaar mehr. Was spricht eigentlich dagegen, sich mit dieser Wirklichkeit zu beschäftigen?« Es ist schwülwarm, früh am Morgen. Seine nackten Füße stecken in leichtem, hellbraunem Sommerschuhwerk. In erwartetem Maße souverän umschreitet er meine »charmanten Komplimente« und vermeidet es geschickt, auf meine nun offen vor ihm liegenden Gefühle zu treten. Erstaunlicherweise gelingt es aber auch mir, mit den in gewisser Weise modifizierten Umständen angemessen umzugehen: Statt hypernervös herumzustottern, finde ich es eigentlich ganz lustig, dieses winzig kleine Quentchen Erotik. Wie Hirtberg das sieht, muss mir leider egal sein. »Es kann doch sein, dass es hier gar nicht um Schuld geht, nicht um die Frage: Who is to blame … In Ihren jeweils sehr eigenen Existenzformen entfernen Sie sich voneinander, entwickeln sich auseinander.« »Den Eindruck habe ich allerdings auch. Hinzu kommt«, ergänze ich, »dass es faktisch keine Spannung mehr gibt, und deswegen geht das mit dem Sex auch nicht.« Leider fehlt mir jede Vorstellung davon, wie diese Spannung konkret aussehen könnte, geschweige denn, wie sie zu reaktivieren wäre. »Wie ist das denn hier: Erzeugt die intellektuelle Auseinandersetzung, die wir hier praktizieren, eine gewisse Spannung? Fehlt die Ihnen sonst?« Ja sicher, denke ich, und: Das entspricht exakt der Situation, wie ich sie erlebe. Er identifiziert sich mit mir und spiegelt mein Erleben. Mit seinem hat das bedauerlicherweise gar nix zu tun. »Hmm«, sage ich und werde rot, was mutmaßlich aussagekräftiger ist als so manches Wort, und setze dann, abschweifend, hinzu, dass zwischen Timo und mir durchaus intellektuelle Auseinandersetzungen stattfinden. »Was fehlt, ist die Verbindung von Intellektualität und Emotionalität. Wir reden über Dinge jenseits unserer selbst: die Welt zu Gast bei Freunden, die Nichtexistenz von Kulturpolitik, Sauerbraten, Jakobsmuscheln, Gesundheitsreform, Kopftuchverbot. Und neuerdings: Vertrauen und Balance in der Bewegung. Im gemeinsamen Umgang mit Loschad fühle ich vage eine Annäherung von Verstand und Gefühl …«

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Herzausreißer

W

elchen Einfluss auf Ihre Trennungsfantasien hat eigentlich das hier, diese Situation?« Ich gucke an Hirtberg vorbei und registriere, wie sich das Blattgrün der Bäume vor dem dunkelgrauen Himmel intensiviert. Meint er das Setting oder was? Die Frage verstehe ich überhaupt nicht. Er wird doch wohl nicht der Auffassung sein, ich wollte mich wegen ihm, wegen meiner, na, nennen wir es mal Übertragungsliebe, von Timo trennen? Blitze zucken, Grummeln in der Ferne. Gäbe es eine berechtigte Aussicht auf Erfüllung meiner verquasten Visionen, könnte er recht haben. Da es diese Aussicht aber definitiv nicht gibt, spielt mein Hirtberg-Gefühl keine Rolle. Und die Situation hier hat schon mal gar keinen Einfluss auf meine Trennungsfantasien. Begriffsstutzig schaue ich ihn an. Mein Fokus ist ein anderer als seiner, was die Situation hier betrifft. »Ja, in Liefem ist das ja so mehr oder weniger allgemein bekannt, dass wir getrennt sind.« Ich kapiere nicht. »Wie? Wer ist getrennt?« »Ach, Sie wissen das nicht?« »Was?« »Wir sind getrennt, meine Frau und ich.« Jeden diesbezüglichen Gedanken habe ich beiseite geschoben. Allerdings weniger, weil Hirtbergs Privatleben mich nicht interessiert, sondern um zu vermeiden, dass Eifersucht und Frustration, die es mir halbwegs gelingt abzuwehren, das Zepter übernehmen. Natürlich fantasiere ich über ihn als Normalsterblichen, versuche aber, diese Fantasien nicht ausufern zu lassen. Er ist mein Analytiker. Punkt und Ende. Es beginnt zu regnen. Dicke Tropfen lassen das dichte Blattwerk erzittern, das einfallende Licht ist grün-gelb, ein Windstoß drückt das Fenster ein Stückchen weiter auf. »Eine Ehe ist heute nicht mehr das, was sie vor fünfzig Jahren war. Woraus sich folgern lässt, dass auch eine Trennung nicht mehr zwangsläufig so aussehen muss wie vor fünfzig Jahren, schon gar nicht unter aufgeklärten Menschen. Schauen Sie sich um, und Sie werden diverse Arrangements mit Modellcharakter finden.« Ich beginne zu verstehen, worauf er hinaus will. »Stellen Sie sich vor, genau diese Lösung schwebte mir mit Blick auf Timo

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und mich vage vor, bevor Sie Ihre ›Arrangements mit Modellcharakter‹ ins Feld führten!« »Was meinen Sie damit?« »Na, dass menschliche Verbundenheit in jedem Falle Bestand haben kann, ganz gleich, was passiert. Dass es nicht zwingend nötig ist, sich scheiden zu lassen, dass alles Positive erhalten bleiben kann – falls es uns, Timo und mir, gelingt, zu einem vielleicht unkonventionellen Beziehungsmodell zu finden.« Es geht ihm darum zu demonstrieren, dass viele Lösungen denkbar sind. Die Demonstration an sich klappt gut. Die Überzeugung, dass Hirtberg eine Topehe führt, gab mir Sicherheit, in dem sie die Abstinenzregel mit drei zusätzlichen Ausrufezeichen versah. Das Wissen, dass er von eben dieser Frau getrennt ist, empfinde ich als akute Bedrohung meines Seelenfriedens, zumal meine Verliebtheit, mir selbst und Hirtberg eingestanden, jetzt erst recht die gefürchtete Eigendynamik entwickeln wird. Aus meiner Konzentration auf die analytische Situation gerissen fühle ich mich in die Wahrnehmung der anderen Realität getrieben, die ich aus Respekt vor seinem Privatleben und zu meinem eigenen Schutz entschieden ausgeblendet habe. Verdammt, es nervt, dass der Verlauf so klassisch ist: Alle Analysandinnen verlieben sich auf kurz oder lang in ihren Analytiker. Im Büro mache ich mich umgehend an meine heidenkomplizierte Bibliografie, bei der Genauigkeit und Konsequenz oberste Gebote sind. Erstaunlicherweise läuft die Arbeit wie geschmiert. Mit einem ganzen Eisbergsalat im Magen hänge ich vor dem Fernseher und beschließe, nach den Nachrichten zu schreiben. Die Fußball-WM interessiert mich frühestens zum Halbfinale, und das übrige Programm ist weniger als dürftig. Timo weiß, dass es mir nicht gut geht und dass meine Befindlichkeit mit der Analyse zu tun hat. Dann steht er überraschend vor der Tür, ist einfach da, weil er für mich da ist, immer, und umarmt mich, in der Hoffnung, mir helfen zu können. Zum zweiten Mal an diesem Tag reißt es mir den Boden unter den Füßen weg. Nur gut, dass die Artistin nicht da ist! Timo will nichts essen, ich wüsste auch nicht, was ich ihm außer Joghurt, Tomatensalat oder Vollkornkeksen anbieten sollte. Mineralwasser. Nach kaum zehn Minuten dann der point of no return: unmöglich, so zu tun, als wären die Gespräche mit Hirtberg ohne Einfluss auf meine Wahrnehmung unserer Beziehung. Schon während ich Fassade demoliere, frage ich mich, was ich da eigentlich tue. Ob ich das bin, die alles aufs Spiel setzt, in dem sie gnadenlos den Inhalt der acht Seiten, die auch Hirtberg kennt, referiert. Timo hört geduldig zu, unterbricht mich nicht ein einziges Mal. Sollte er geschockt sein, lässt er es sich nicht anmerken. Etwas anderes hatte ich auch nicht erwartet. Mit ruhiger Stimme lässt er mich schließlich wissen, dass sich die Dinge aus seiner Sicht 102 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ganz anders verhalten und er nicht bereit sei, sich einfach geschlagen zu geben. Eine Trennung will er ums Verrecken nicht. Bildlich gesprochen: Er schaut kurz von seiner Zeitung auf: Trennung? Ohne mich. Kommt nicht in Frage. Ungefähr auf dem Seriositätslevel von »Du hast wohl deine Tage« bewegt sich auch seine Bemerkung, meine Überlegungen gediehen ausschließlich auf dem Humus der Analyse: »Was setzt der dir eigentlich für Flausen in den Kopf?« Vielleicht ist unsere Beziehung tatsächlich weniger schlecht, als sie mir gegenwärtig erscheint. Mir tut alles weh. Gleichzeitig spüre ich eine Art von Befreiung, in der die Chance einer neuen Begegnung ebenso liegt wie die Option auf endgültige Trennung – in welcher Form auch immer. Vielleicht würde sich ein Leben ohne Timo gar nicht erheblich von einem Leben mit ihm unterscheiden. Auf der Skala zwischen Schwarz und Weiß suche ich nach dem passenden Grauton. Der Gedanke, Timo könnte an einer Trennung zerbrechen, forciert meine ohnehin ungeheuren Skrupel. Obwohl kein Zweifel darüber besteht, dass ich es nicht bin, fühle ich mich verantwortlich für sein Seelenheil. Was würde uns fehlen? Die ehefreien Wochenenden häufen sich. Er vermisst mich nicht. Ich ihn auch nicht. Reicht allein die Gewissheit um den anderen? Mit einer Trennung schnitte ich mir ins eigene Fleisch, würde geplagt vom schlechten Gewissen und der Überzeugung, Perlen vor die Säue zu werfen: Timo ist jemand, den man nicht einfach verlässt. Vielmehr ist er jemand, nach dem viele meiner Geschlechtsgenossinnen vergeblich suchen: empathisch, tolerant, gebildet, unvoreingenommen, bescheiden, ließe ich ihn, auch zärtlich, ja sogar konfliktfähig. Wir reden. Wir müssen immer noch nicht handeln. Also reden wir miteinander. Wie erwartet, funktioniert das tadellos. Ich ahne, dass es nicht zu einer Trennung kommen wird. Eine beruhigende Ahnung, schon, aber sie täuscht nicht darüber hinweg, dass etwas fehlt: Lebendigkeit und irgendwie auch Freiheit. Als hätte ich nicht genug davon! Wie stelle ich mir eine funktionierende Beziehung vor? Ähnlich wie diejenige, die ist – aber mit mehr Leben. Unsere Harmonie wirkt so tot. Offen die Frage, was ich will und wie ich unsere Beziehung bewerte. Das Klischee: kein Sex gleich keine funktionierende Beziehung. Wer bestimmt, wann eine Beziehung funktioniert und wann nicht? Wie dem auch sei, ich versuche, etwas zu verändern. Wem zuliebe eigentlich? »Hirtberg, ich werde wahnsinnig. Wieder diese Zweifel: Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Trennung oder Reaktivierung. Egal wofür ich mich entscheide, es ist falsch.« »Ja, das glaube ich auch. Wenn Sie jetzt sofort etwas tun.« Diese erfrischende Unmittelbarkeit! Wenn er lacht, werden seine Augen zu schmalen Schlitzen. Jetzt lacht er aber nicht. »Merken Sie was? Da ist kein Zweifel. Sie sind sicher. Sie sind ganz sicher, dass sowohl das eine als auch das andere falsch ist. Stimmen Sie mir zu? Ja? Gut. Dann 103 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

stimmen Sie mir auch zu, wenn ich behaupte, dass wir genug Zeit haben, um erst mal zu gucken, was denn jetzt eigentlich ist. Nichts tun. Nichts entscheiden. Betrachten.« Meine Bewunderung schwappt bedrohlich nahe an die Tränengrenze. Ich will nicht weinen, lieber ihn umarmen und ihn spüren lassen, wie großartig ich ihn finde mit seinen langen Beinen, von denen er behauptet, sie seien nicht lang, diese Einschätzung sei ein klassisches Produkt meiner Übertragung. Wir betrachten noch ein wenig, deshalb bin ich schließlich hier, nicht wegen irgendwelcher Sentimentalitäten. Wir sind doch nicht zum Vergnügen auf der Welt! Wir gelangen – oder besser: Hirtberg gelangt zu der Erkenntnis, dass Timo und ich längst ein Arrangement konstruiert haben, was in der Tat jenseits aller bürgerlichen Vorstellungen von Ehe liegt. »Aus Angst, Sie komplett zu verlieren, kapiert Timo nicht, dass Sie bereits eben dieses Arrangement leben. Und die gleiche Angst haben Sie auch. Sie haben es doch als entlastend empfunden, als ich darauf aufmerksam gemacht habe, dass es nicht nötig ist, gleich alles aufzugeben, in dem Sinne – Sie erinnern sich –, dass die Ehe heute nicht mehr das ist, was sie vor fünfzig Jahren war. Warum sollte nicht auch die Trennung einer Wandlung unterworfen sein? Wenn er Sie wirklich begehren würde, dann würde er sich doch anders verhalten. Er wäre er verletzt.« »Und ich wäre deutlich schmerzhafter verletzt, als ich es tatsächlich angesichts seiner Bordellbesuche bin.« »Sie haben, wahrscheinlich nicht erst seit gestern, keine Exklusivität der Intimität mehr. Das ist kaum rückgängig zu machen. Wie bei der Zahnpastatube: Was einmal raus ist, kriegen Sie nicht wieder rein.« Hirtberg wirkt müde. Ein Eindruck, der von dem blassmachenden anthrazitfarbenen Piqué-Hemd nicht eben aufgefangen wird. Er presst beide Mittelfinger gegen die Nasenwurzel und reibt sich die inneren Augenwinkel, was ihn sehr real macht. Jetzt befinde ich mich in dem Zustand, der mich zwingt zu erkennen: So ist es jetzt erst mal. Viel weiter kommen wir an dieser Stelle in diesem Augenblick nicht. Radikale Akzeptanz. »Versuchen Sie, die Gelassenheit, die Sie jetzt haben, zu beizubehalten. Versuchen Sie, diese Haltung des abwartenden, aufmerksamen Beobachtens zu bewahren – Sie müssen jetzt nichts Offizielles machen! Kommt Timo denn eigentlich noch zum Reiten?« »Ja, ich sehe auch keinen Grund, warum er das nicht tun sollte. Ich habe den Eindruck, dass es ihm gefällt. Wenn er es nur mir zuliebe täte, müsste er es sagen. Das ist sein Verantwortungsbereich, nicht meiner.« »Realisiert der überhaupt die Brisanz der Situation?« »Rational glaube ich schon, emotional scheint er sie zu leugnen. Zu verdrängen. Aber ich kann mich nicht auch noch mit seiner Psyche beschäftigen! Das ist nicht mein Problem!« »Doch, ich fürchte schon, dass es auch Ihres ist«, grinst Hirtberg und fährt sich 104 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

mit der Hand über den Kopf, als wollte er Haare zurückstreichen, die in der gestisch angedeuteten Fülle faktisch nicht da sind. »Nun, jedenfalls haben wir ja hier beschlossen …« »Nicht wir haben beschlossen. Sie haben beschlossen.« »Gut, ich habe beschlossen – wobei Sie sich ja nun so ganz auch nicht aus der Verantwortung stehlen können: Ohne diese Veranstaltung hätte ich mir nicht eingestanden, das da etwas faul ist.« »Ganz aus der Verantwortung stehle ich mich ja auch nicht. Aber beschlossen haben Sie.« »Ich habe beschlossen, es im Augenblick bei dem zu belassen, was und wie es nun mal ist. Timo und ich müssen in Kontakt bleiben, es darf nicht wieder so eine dichte Hecke wachsen. Ich werde offen dazu stehen, dass ich keine Lust habe, den Sonntag Zeitung lesend auf dem Sofa zu verbringen. Da ziehe ich es vor, allein zu sein.« »Damit ändern Sie ja auch auf der Verhaltensebene etwas.« »Ja, kann schon sein. Aber ich will ihn um keinen Preis verletzen.« »Das würden Sie unter Umständen mit Schuldzuweisungen. Aber es geht ja gar nicht um Schuldzuweisungen. Sie sagen ja nicht, dass Timo als Person langweilig, sondern dass Ihnen die Situation an sich nicht lebendig genug ist.« »Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal stunden- oder tagelang mit einem Mann rumgemacht?« »Keine Ahnung, muss Jahre her sein.« Ich denke an Jurij, sage das auch. »Aber der wollte mich nur schnell, schnell im Vorübergehen, von stunden- oder tagelang kann nicht die Rede sein.« »Ist das nicht irgendwie eine Analogie zum Essanfall, der auch schnell, schnell geschieht? Der Ihnen letztendlich auch nicht reicht und den Sie mit diesem ganzen Komplex um das magischen Denken, Zählen und der Beschäftigung mit Essen unterfüttern?« »Tja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Es geht um so viel mehr: um Erotik, Spannung, Lebendigkeit.« »Kann es sein, dass Sie lieber Sex statt Schokolade wollen?« »Ach, hören Sie mit diesem Blödsinn auf! Das haben Sie doch bestimmt irgendwo gelesen! Essen als Ersatzbefriedigung, das ist mir zu vordergründig, zu trivial, laienpsychologisch, um ehrlich zu sein. Diese Analogie wird ja in der einschlägigen Literatur auch immer wieder bemüht, es ist sogar von Frauen die Rede, die beim Essen, wenn nicht gar beim Kotzen, einen Orgasmus haben. Wirklich, das habe ich mal gelesen, weiß ich allerdings nicht mehr, wo. Diese Erfahrung teile ich übrigens nicht.« »Wäre doch praktisch eigentlich, nicht?« Er grinst. Ich nicht. Eine absurde Vorstellung. »Einwand: Sex statt Essen kommt nicht in Frage. Begründung: Physiologischem Hunger ist nicht mit Sex beizukommen. Und ich esse ständig falsch oder zu wenig«, erkläre ich. Hirtberg akzeptiert den Einwand. 105 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Und wenn ich jetzt sage: Gut, eigentlich hätte ich lieber Sex. Was dann, Hirtberg? Nun sagen Sie schon, was dann? Es gibt doch kaum einen, der attraktiv genug ist, um überhaupt erotische Fantasien auszulösen … Und der bewegt sich dann unter Garantie auf dem Territorium absoluter Unerreichbarkeit, Unmöglichkeit, Undenkbarkeit. Indiskutable Träumereien.« Ich gucke ihn geradeaus an. »Und Sie können sich nicht vorstellen, diese Frustration auszuhalten?« »Doch, natürlich kann mir das vorstellen, muss ich ja. Frustrationen dieser Art bilden sozusagen das Grundmuster meiner erotischen Leidenschaftlichkeit: Will ich jemanden unbedingt, hat der entweder kein Interesse, unterliegt dem Zölibat, dem ehelichen Treue- oder dem Abstinenzgebot. In besonders unglücklichen Fällen addieren sich die Gründe für vorprogrammierte Frustration.« Sie sind so ein besonders unglücklicher Fall, setze ich in Gedanken hinzu. »Sie sagen, Hirtberg, und mit dieser Einschätzung stehen Sie wohl nicht allein da, wenn ein Paar keinen Sex mehr hat, sieht’s in der Regel schlecht aus. Bei uns allerdings ist es so – darauf machte mich Timo aufmerksam –, dass nicht das Paar keinen Sex mehr hat, sondern dass einer der Partner keinen Sex will.« »Hmm, eine gute Antwort. Das ist wirklich eine gute Antwort!« Er meint das ernst, wie sein anerkennender Tonfall verrät. »Ja, das ist ja das Problem … Mit Timo kann man auch noch reden! Obwohl ich weiß, dass es Ihnen völlig gleichgültig ist, beschleicht mich der Eindruck, Sie legten mir die Trennung nahe, das Wort Schluss in den Mund. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl zu versagen, inkonsequent und viel zu weich zu sein, sollte ich doch bei Timo bleiben.« »Hier externalisieren Sie einen inneren Konflikt, indem Sie mir in die Schuhe schieben, was zumindest eine Ihrer Seiten nicht ausschließt: nämlich die Trennung zu vollziehen. Im Gegenteil: Ich habe darauf hingewiesen, dass unendliche viele Varianten von Ehe oder Partnerschaft denkbar sind.« »Stimmt. Ehrlich gesagt bin ich Ihnen dankbar, dass Sie mich damit vor einer überstürzten Handlung bewahrt haben. Ich neige ja dazu, schnell zu entscheiden und entsprechend zu agieren, anderenfalls entsteht ein gewisses Aggressionspotenzial, weil ich etwas nicht zu Ende bringe, mich inkonsequent und unentschieden benehme.« »Sie halten die Ambivalenz schlecht aus. Das ist aber der erste Schritt zu einem sozialen Miteinander, wenn Sie nicht wie George W. Busch oder Osama Bin Laden sein wollen.« Beim Betreten der Praxis kriege ich aus dem Augenwinkel mit, dass Hirtberg meine mit dem Museumslogo bedruckte Stofftasche wahrnimmt. Das Ganze vollzieht sich in Bruchteilen von Sekunden. Es gibt kein Zurück: Er weiß, was kommt, als ich von einer Ausstellung in Assgart zu erzählen beginne, im Rahmen derer mir unter anderem die Aufgabe zufiel, mich mit Alfred Jenssens Rezeption der Zahlenkultur der Maya und indianischen Einflüssen in der nordamerikanischen Moderne der Dreißiger- und 106 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Vierzigerjahre zu beschäftigen. Mein Herz holpert, meine Hände zittern und ich fürchte, meine Stimme klingt schrill. »Es ist das allerletzte Exemplar, Hirtberg, und ich möchte Ihnen das gern schenken, vielleicht darf ich das nicht oder Sie dürfen das nicht annehmen, bestimmt ist das aufdringlich«, rassele ich herunter, ohne Luft zu holen. Obwohl ich weiß, dass der Katalog nicht nur monströs und bleischwer, sondern auch inhaltlich gut ist, schicke ich ein Stoßgebet zu Himmel, er möge sich Worte der Anerkennung, gar des Lobes verkneifen. Meine Nöte kriegt er ganz genau mit, geht aber geflissentlich darüber hinweg und sagt, dass er sich darüber freue, zweimal sagt er das und es klingt kongruent. Erleichterung. Mein Analytiker nimmt etwas von mir an! Er blättert ein wenig in dem Buch, was mir schon wieder zu viel ist. »In der letzten Stunde hatten Sie die Idee zu einer Ausstellung zum Thema ›Das magische Denken in der Bildenden Kunst‹, die ich zwar spontan nicht mit Inhalten füllen kann, die ich aber gern zu gegebener Zeit aufgreifen werde. Ich hoffe, dass sich die Gelegenheit einmal bieten wird. Egal, jedenfalls ist das der Aufhänger, die Rechtfertigung, warum ich Ihnen das Buch mitbringe.« »Das Thema des magischen Denkens fasziniert Sie ja hier auf einer ganz anderen Ebene. Das finde ich sehr bemerkenswert, und so kam mir eben diese Idee …« Hirtberg ist klug genug, mich nicht unmittelbar vor der Urlaubspause in emotionalen Aufruhr zu versetzen. So plaudern wir locker über die Entwicklung der verschiedenen Schulen der Psychologie und über den Primitivismus in der Kunst, über die Bedeutung magischer Rituale für Naturvölker, die Primitivismus-Diskussion, die sich um die Kunst des frühen 20. Jahrhunderts rankt. Während seiner Ferien denke ich jede Minute an ihn. Das ist faktisch zu viel. Einem Konkavspiegel vergleichbar bündelt und reflektiert diese überwältigende Verliebtheit viele Erfahrungen der Vergangenheit, die eindeutig dominiert sind von reißender Sehnsucht ohne jede Aussicht auf Erwiderung, Realisation oder Fortbestand einer Liebesbeziehung. Dominique, der mir schrieb: Pour toujours ou jamais. Ich war fünfzehn oder sechzehn, damals war Paris weit weg. Heute ist er selbst im Internet nicht auffindbar. Von der Untersekunda bis zum Abschluss Oberprima an der Spitze meiner Top Ten: Theo, von dem wir Fakten über Mitochondrien, Golgi-Apparate und den genetischen Code der Drosophila melanogaster lernten. Mit ihm kam es immerhin zu Blicken, Kuscheln und ein paar Küssen. Fast dreißig Jahre später finde ich ihn im Internet und erschrecke: immer noch bärtig, das Haupthaar, damals schon schütter, nun vollends verloren. Für Bruchteile von Sekunden ist das postpubertäre Gefühl von damals präsent. Nicht weniger präsent: der Schmerz in der Erinnerung an Martin, in dessen 107 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Vorlesungen wir etwas über französische Platzgestaltung hörten und dessen objektiv defizitäre Körperästhetik mir ebenso begehrenswert erschien wie seine Seele bindungsunfähig war. Fast auf den Tag genau zwanzig Jahre später beim Betrachten seines Konterfeis im Internet: Herzstich garantiert. Stellvertretend für viele andere: der mindestens teilalkoholabhängige Reitlehrer, Hans, intellektuell unterbelichtet, aber von ziemlich erotischer Ausstrahlung. Jedenfalls solange er auf einem Pferd saß. Nüchtern. Dann die Idee – und viel mehr als eine Idee war es ja nicht – mit Jurij, die sich über Jahre zog und nur sehr punktuell Eingang in die Wirklichkeit fand. Als international agierender und permanent seine Gattin betrügender Kulturmanager hatte er anderes im Sinn, als sich in irgendeiner Form an mich zu binden. Schneller Sex zwischen zwei Terminen in Moskau oder Petersburg waren ihm genug. Mir nicht. Und nun dieser verdammte Analytiker, von dem zu hoffen ist, dass er der letzte in der bitteren Serie und in der Lage sein wird, mir den Weg aus diesem Labyrinth zu weisen. »Sie machen ein Geschenk! Schauen Sie, es kann doch sein, dass die Männer, die Sie begehren, sich nicht in eine emotionale Abhängigkeit begeben wollen. Oder können. Die sind nicht bereit dazu, vielleicht können die das Geschenk nicht annehmen.« »Kann schon sein. Hilft mir aber auch nicht weiter.« Der Mond schimmert warmtonig durch das Laub der alten Buche im Garten, mit ihm gemeinsam höre ich immer und immer wieder das gleiche Stück – come give me your hand, then you’ll understand me, every day is a gift, something we shouldn’t miss, there is no need to run away … – und heule wie ein Schlosshund, weine bitterlich, mit Tränen und allem: Mit Timo wird es zunehmend schwieriger, und so vermisse ich ihn schon mal, quasi prophylaktisch. Anders als Hirtberg, den ich, obwohl er nur gut eine Woche weg ist, faktisch elendig vermisse. Zu weinen ist mir fremd geworden – ich habe schließlich mein Symptom. Als hätte ich das nicht oft genug durchgemacht: verliebt in einen Unerreichbaren, einen Superstar, einen Gott! Warum habe ich beschlossen, mich ausgerechnet von Hirtberg analysieren zu lassen? Wäre es nicht deutlich klüger gewesen, sich für den Piefigen mit den Makramee-Accessoires oder für die feinsinnig-orthodoxe Freud-Kopie zu entscheiden? Mea culpa, das Schicksal herausgefordert. Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um. Nun, feige war ich noch nie. Und ich will alles. Das habe ich ihm so allerdings noch nicht gesagt. »Um wen oder was weine ich eigentlich?«, frage ich Anna, der ich mich in meiner Not anvertraut habe. Sie sitzt mir in einem leichten Sommerkleid an einem der Tische, die viele Restaurants jetzt auf die Straße gestellt haben, gegenüber. Bestellt einen Kinderteller Pommes frites mit Schnitzel. Das Schnitzel ist so groß wie ein Fünf-Mark-Stück, das es ja nicht mehr gibt. Sie isst wie ein Küken, allerdings hat 108 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

sie, rein körperlich, auch die Präsenz eines solchen und kommt wahrscheinlich mit achthundertfünfzig Kalorien am Tag aus. Ich beneide sie um ihren festen kleinen Busen, ihre psychologische Praxis und ihren Humor. Ich bestelle Salat. »Es ist sicher nicht dein Therapeut«, sagt Anna. »Es ist irgendwas und irgendwer, das oder den du auf ihn projizierst, nicht er selbst, glaub mir das. Ja, es tut verdammt weh, die Sehnsucht ist nicht auszuhalten, ist von ungeheurer Kraft.« Ich fange fast an zu heulen. »Dein Therapeut ist nur ein Vehikel für deine Gefühle, Wünsche und Sehnsüchte. Er ist ein Stellvertreter. Meine Liebe, du wirst nicht alles bekommen. Nicht von ihm.« Jetzt habe ich den Salat. Im wörtlichen wie auch im übertragenen Sinne. »Anna, kann es sein, dass er erwartet – so er denn überhaupt etwas erwartet –, dass ich meine Verliebtheit thematisiere? Aus meinen Notizen weiß er doch, was los ist! Vielleicht will er nicht darüber sprechen, will sich mich vom Halse halten.« Anna schiebt sich eine Fritte in den Mund, kaut darauf herum und schweigt. Sie kann das auch, hat jahrelange Lehranalysen hinter sich und was weiß ich alles. Also rede ich weiter, wie bei Hirtberg. »Ich fürchte, dass er mit meinen Gefühlen nichts zu tun haben will und deshalb den diesbezüglichen Diskurs ablehnt. Ich schäme mich so. Wieso kann er nicht mal was sagen, verdammt. Muss ich mich so entblößen? Und das auch noch freiwillig?« »Wenn du weiterkommen willst, wirst du dich wohl entblößen müssen, meine Liebe. Das ist ein Teil des Weges, für den du dich entschieden hast. Gehe ihn. Hirtberg wird dir helfen, aber nicht, indem er mit dir in die Kiste springt, nur weil du dich entblößt hast. Da guckt der drüber hinweg«, sagt sie trocken und schiebt den halbleeren Kinderteller mit stilisiertem Fußballmotiv von sich weg. »Anna! Ich weine, weil ich ihn jetzt und sofort und für immer ganz nah bei mir haben will. Ich stehe am Tor der Hölle und zögere, sie wirklich zu betreten: Wäre es nicht leichter, ja besser, umzukehren?« »Nein, bist du verrückt? Sei froh, dass du bis zum Tor der Hölle gekommen bist, andere eiern jahrelang herum und kommen nicht mal bis zum Fegefeuer!« Ich picke die restlichen Pommes von Annas Teller und denke einen Moment nach. Dann sage ich entschlossen: »Nun gut, da ich ein mutiger und neugieriger Mensch bin, werde ich mich wohl wider aller Vernunft in die Flammen werfen und auf den sekundenlang in Erwägung gezogenen Abbruch der Therapie, die nun wohl die Welt meiner Gefühle erreicht, verzichten.« »Sag ihm, was bei dir abgeht. Er wird dich ganz sicher nicht darauf ansprechen. Diesen Tod wirst du schon selbst sterben müssen, doch vermutlich wird die Welt nicht untergehen. Es kann sogar sein, dass er nicht mal besonders reagiert.« »Wieso? Du meinst, der sagt gar nichts dazu?« »Benja, es ist deine Verliebtheit, nicht seine! Dein Boden bebt, nicht seiner. Aber er wird dich führen und verstehen, ich bin da sehr zuversichtlich.« Jetzt redet sie schon wie Hirtberg. Die beiden sind sich verschiedentlich auf Kon109 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

gressen und anderen Veranstaltungen über den Weg gelaufen, kennen sich aber nicht persönlich. Jetzt lernen sie sich auf eine sehr subtile, aus meiner Sicht fast komische Art und Weise kennen. Meine Hand zittert, als ich Hirtberg die Versichertenkarte reiche und die Praxisgebühr entrichte. Sagen kann ich erst mal nichts. Versteinert starre ihn an, versuche, dass Gefühl, ihm im Hier und Jetzt zumindest räumlich nahe zu sein, intensiv auszukosten, was wiederum mich von jeder konkreten Überlegungen, worüber ich denn nun reden möchte, ablenkt. Ich denke an das Gespräch mit Anna. »Ähämm, haben Sie sich gut erholt, ich meine, hatten Sie einen schönen Urlaub?«, bringe ich stockend hervor, beschämt ob meiner Indiskretion einerseits, wütend andererseits, weil ich so einen Stuss rede, und das nicht einmal flüssig. Hirtberg erzählt ein wenig, erwähnt dabei seine innere Beschäftigung mit zwei Interviews, um die er gebeten worden war. »Selbsterfahrung, sozusagen.« »Sie spielen Golf? Ich hätte eher auf Wassersport, Surfen vielleicht oder Segeln, getippt …« Holperig. So verklemmt rede ich im richtigen Leben nie! »Das ist ja auch nur eine von diversen Sportarten, die ich ausübe.« »Was machen Sie noch?« Viel zu neugierig und nicht besonders pfiffig formuliert. »Joggen, Segeln, Schwimmen, Tauchen …« So ganz verkehrt lag ich also nicht mit meiner Vermutung. »Als Kind bin ich auch mal geritten, erzählt er, »und dann viel später, vor drei, vier Jahren, war ich mit meinen Kindern im Urlaub, es war ein sehr kalter Winter. Die beiden ritten nun täglich durch den Wald und ich war es irgendwann leid, zu Fuß hinterher zu trotten. So kam ich schließlich auf einem Araberwallach zu sitzen. Die Wege waren stellenweise glatt, das Gelände etwas abschüssig, ein Balanceakt zwischen Treiben und Paraden … Aber es war schön, das Pferd ging so weich.« Leider kann ich mir Hirtberg nicht wirklich auf einem Pferd vorstellen. Jedenfalls nicht in einer Form, die mich zusätzlich beeindrucken würde. Da verkantet sich die Idealisierung mit meiner eigenen Sicherheit auf dem Pferd. Dieser Exkurs in das private Sportuniversum meines genialen Analytikers erklärt dessen drahtige Figur. Nein! Das ist jetzt keine Übertragung, wie sich im Laufe des heißen Sommers, in dem Hirtberg mir in körpernahen T-Shirts gegenüber sitzt, bewahrheiten wird. »Keine Ahnung«, lüge ich, »ob ich Sie oder unsere Gespräche vermisst habe …« Ihn natürlich. Natürlich ihn! »Es war schwieriger als erwartet, sehr kompliziert, die Gefühlslage um die Mittsommernacht herum, wegen Timo – und dann, wenig später, weil … nun, wegen Ihnen.« Worte. Verdammt hart an der Tränengrenze. »Sie sind traurig.« Er verpasst meinem Gefühl das einzig adäquate Etikett. Leise, langsam und sehr konzentriert tut er das, neigt den Oberkörper ein wenig vor, die Ellebogen auf die Knie gestützt, sieht er mich eindringlich an. »Frau Thieme, Sie sind traurig«, wiederholt er. 110 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Indem er meinen Namen nennt, meint er mich persönlich. Jetzt reiß dich zusammen. Ich möchte so gern weinen. In dieser Praxis klemmen die Tränen fest. Hier – wie im richtigen Leben – zeige ich mich gut gelaunt, fröhlich, optimistisch, aktiv, motiviert. Innen bin ich traurig. Auch traurig. Langsam glaube ich zu verstehen, was mit dem Begriff Abwehr gemeint ist. Vincent versucht schon lange, mir klarzumachen, dass ich mich mit meinem Hang zur Rationalisierung vor dem akuten Erleben dessen schütze, was auf der emotionalen Ebene in einer Therapie geschieht. Trotzdem leide ich wie ein Hund und schlussfolgere, dass meine Abwehr nicht effizient genug ist. Es ist auch, aber nicht nur schön, in Form schillernder Tagträume von Hirtberg zu fantasieren. In erster Linie tut es hässlich weh. Extreme Ambivalenz. Doch bei allem Schmerz bin ich dankbar, überhaupt etwas zu fühlen. In den vergangenen Monaten habe ich einen fast wissenschaftlichen Handapparat zwecks theoretischer Auseinandersetzung mit Fragen rund um die Analyse zusammengetragen. Wenn nun die Abwehr offenbar ungeachtet aller Anstrengungen nicht effizient genug ist, kann ich sie auch ganz sein lassen, denke ich, und verbanne vorläufig alle Bücher von meinem Kopfkissen. »Sobald ich die fünf Bücher, die noch bei Libri.de bestellt sind, studiert habe, höre ich auf. Zu lesen, meine ich. Galgenfrist.« Sein Superlachen: spontan, authentisch, energetisch. »Lassen Sie mich Folgendes erklären: Ich lese nicht, um Sie zu kontrollieren. Ich vertraue Ihnen, Hirtberg. Ich lese, um mich zu vergewissern, dass ich alles richtig mache, indem ich gucke, wie es bei anderen läuft.« »Und damit kontrollieren Sie sich.« »Ja. Und jetzt will ich sehen, was passiert, wenn ich aufhöre. Zu lesen.« Als Hirtberg das Wort Abhängigkeit – hier gemeint als generelles Phänomen – in den Raum zwischen uns setzt, erfasst mich ein Strudel, dem verzweifelt ich mich zu entwinden suche. Staunen. Entsetzen. Ich? Abhängig? Kann nicht sein. Von ihm? Wie soll sich das anfühlen, abhängig zu sein? Mir ist schwindelig, Druck auf den Ohren, Watte im Mund, ich bin nicht abhängig, emotional jedenfalls nicht, weder von Hirtberg und noch von sonst jemandem. So lange ich denken kann, ist dieses Gefühl wohl das unerträglichste: abhängig zu sein – so wie ich es aus meiner Sicht viel zu lange von Gerhard und Dietlinde war. Jahrzehntelang war Unabhängigkeit – oder das was ich darunter verstand – zu erreichen, das allem anderen übergeordnete Lebensziel und Motor für sämtliche Aktivitäten. Und jetzt redet Hirtberg von Abhängigkeit. »Sie haben Sehnsüchte. Sie haben auch die Sehnsucht, sich abhängig zu machen.« Nicht zu fassen! Ich muss ihn sehr verständnislos angucken, jedenfalls fügt er hinzu: »Ich glaube, das kapieren Sie jetzt noch nicht so ganz, oder?« 111 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Nein, ich kapiere nicht. Weder rational noch emotional. Er redet an mir vorbei, ich höre nicht mehr richtig zu, steige aus. Mache dicht. Später keimt die Überlegung, ob es Ausdruck unspezifischer Sehnsucht war, mich auf die Analyse bei Hirtberg einzulassen. Genommen hätten mich auch Hassler oder Achterbach. Bei beiden war die Gefahr einer emotionalen Verstrickung gleich null. Oder drunter. »An allen möglichen Orten und zu allen möglichen Zeiten bin ich traurig – nur hier nicht.« »Stimmt.« Aha, das ist ihm also auch aufgefallen. »Wissen Sie, ich komme hier als fröhlicher Mensch herein und wirke wahrscheinlich aufgeräumt. Nach fast einem Jahr Analyse müsste ich doch endlich mal Wut empfinden oder eben Traurigkeit. Und zwar hier. Nicht wie eben noch in meinem Büro oder am Abend auf der Weide mit Loschad. Hier ist aber nichts!« »Oh doch!«, kontert er, »da ist eine Menge: Sie fühlen sich doch unwillkommen, nicht? Sie glauben, hier zu stören. Sie zweifeln. Das ist Ihres. Ihr Gefühlsspektrum, das Sie mitbringen. Hier einbringen. Ist doch alles da!« Er sieht mich an, als wollte er sagen: Was wollen Sie eigentlich mehr? Ist doch alles in Ordnung. Sie sind in Ordnung und der Boden trägt. Sein ermutigender Blick kribbelt in der Seele. Kann der sein Hemd nicht um einen Knopf mehr schließen? Seine Beine stecken in Jeans und sind lang, Übertragung hin oder her. Wenn ich ihn noch einmal auf Brusthöhe fixiere, merkt der das. Beherrsch dich doch mal ein bisschen! Ja, Dietlinde! Jetzt erst recht. Das Hemd ist jetzt ein wenig seitlich verrutscht. Gottlob funktioniert meine Impulskontrolle immerhin soweit, dass ich in der Lage bin, mich nicht grenzüberschreitend zu verhalten. Der Katalog, den ich ihm geschenkt habe, liegt immer noch auf der Couch, auf der ich selbst ganz gern liegen würde. Was allerdings den Nachteil mit sich brächte, dass Hirtberg der Unsichtbarkeit anheim fiele. Ich gucke ihn gern an, real natürlich lieber als auf seiner Website, wo ich sein digitales Konterfei so lange vergrößere, bis nur noch Pixel zu sehen sind. »Ich finde das gut, das wollte ich nur noch mal sagen«, hebt er an, »was Sie schreiben. Das hängt ja auch ganz eng mit einem Teil Ihrer Symptomatik, mit dem magischen Denken, zusammen.« Natürlich freue ich mich über seine Wertschätzung meiner Arbeit, möchte aber weiter über Abhängigkeit im engeren und weiteren Sinne reden. Nicht über Kunst. »Ich war schockiert, als Sie das Wort Abhängigkeit ins Spiel brachten. Das ist so ziemlich das Letzte, was ich erreichen wollte.« Er lacht. »Nee, das hatten Sie so nicht geplant! Natürlich nicht.« Hirtberg versucht es mit einem Perspektivwechsel. »Stellen Sie sich vor, dass ich Sie um Rat frage. Sie um Ihre Hilfe als Kunstexpertin 112 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

bitte. Ich möchte ein Bild verkaufen. Wenn ich es nicht verkaufe, bin ich pleite. Dann bin ich doch von Ihnen abhängig. Wie fühlen Sie sich dabei?« »Diese Art von Abhängigkeit ist eine andere als die, von der ich nicht glauben will, dass sie mich ereilt haben könnte. Man kann das nicht vergleichen: Wenn Sie mich als Kunstexpertin um Rat fragen, fehlt die emotionale Komponente. Sie können in die Bildberatung des Museums gehen, da sind Sie genauso gut aufgehoben. Oder besser.« »Sie sind in der Position der Stärkeren.« »Wenn ich kann, helfe ich gern, gebe auch gern etwas ab …« »Weil Sie damit Ihre stärkere Position untermauern.« »Na und?« Der Versuch, das Wesen der Abhängigkeit anhand eines Wechsels der Perspektive zu verdeutlichen, scheitert. Ähnlich unvermittelt, wie Hirtberg das Wort Abhängigkeit ins Spiel brachte, stellt er nun fest, er höre nie etwas von Sehnsucht. Wieder stößt er auf grenzenloses Unverständnis. »Wie, Sie hören nie von Sehnsucht? Das ist, neben dem der Abhängigkeit, eines der Grundgefühle, das mich spätestens seit Eintritt ins Erwachsenenleben begleitet!« Er bekommt die ganze Martin-Geschichte zu hören. Während ich erzähle, ist das Gefühl von damals gegenwärtig. Es entspricht in verwirrend hohem Grade demjenigen, für das jetzt Hirtberg herhalten muss. Vielleicht fällt Martin mir gerade jetzt wieder ein, weil dieses Gefühl da ist, angesichts dessen Hirtberg fragen könnte: Woher kennen Sie dieses Gefühl? Tut er aber nicht. Stattdessen: »Und jetzt stellen Sie fest, dass Sie mich ganz gut finden oder so. Sehen Sie es doch mal nicht als Dummheit an, sondern als Mut, dass Sie hierher gekommen sind, obwohl Sie von Anfang an etwas in der Art befürchteten. Gleichzeitig wollten Sie aber auch genau das.« Ganz gut finden oder so … Sie sind gut, Hirtberg, ich finde Sie hinreißend, will Sie drücken, spüren, küssen, fressen – alles!, schreie ich innerlich, gebe mich aber verhaltener: »Ja, ich bin mutig, das stimmt. Und ich habe gelesen, dass der Erfolg einer solchen Behandlung unter anderem von der emotionalen Qualität dessen abhängt, was in ihr geschieht.« Also riskiere ich es. »Kann es sein, dass Sie das Bedürfnis nach Abhängigkeit gar nicht erst zulassen? Sie könnten sich ja mal die Frage stellen, ob Timo und Sie sich über die Jahre hinweg eben genau dergestalt arrangiert haben, weil Sie hier kein echtes Abhängigkeitsgefühl entwickelt haben oder es nicht entwickeln mussten?« »Ach, Timo … Es geht hier nicht um Timo. Es geht um Sie. Ich vertraue Ihnen, Sie werden es schon richten, mich auf festen Boden stellen.« Auf einen Boden, der trägt.

113 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Experiment www

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nd dann treffe ich Erato im Internet. Ich habe die Nase so voll von diesem spießigen, ereignislosen Leben! Es ist sehr heiß, die Sonne brennt seit Tagen vom Himmel. Aus der Not heraus nehme ich allen Mut zusammen und bekleide mich mit einem Rock, obwohl ich zur Analyse gehe. Ein schwarzer Rock mit zipfeligem Saum, nicht zu kurz, aber auch nicht katholisch. Hirtberg guckt nicht komisch und macht auch keine Bemerkung. Was immer er gesagt hätte: Es wäre falsch gewesen. Allein dafür, dass er, anders als Gerhard, keine Bemerkung, weder positiv noch negativ, zu meinem nun weiblicheren Aussehen fallen lässt, liebe ich ihn. Er öffnet das Fenster, wendet mir dabei den Rücken zu, der sich muskulös unter dem weißen, sehr einfachen T-Shirt abzeichnet. Seine Arme sind leicht gebräunt. Ich untersage mir energisch, mir Weiteres bildhaft vorzustellen. Es klappt. Einigermaßen. Das allerdings nur, weil ich kurzerhand Erato auf Hirtbergs Platz in meinem Herzen setze. Wie ein Püppchen im Spiel. Mensch-ärgere-dich-nicht. Mit dem einen schmeiße ich das andere heraus. Weil ich Erfüllung, zumindest eine Teilerfüllung meiner Sehnsucht will. Das Personal in diesem Stück ist austauschbar. Warum nicht einfach eine neue Partie eröffnen? Ein Spielfeld, das ich vorsichtig, gleichwohl entschieden betrete. Eine Gefühlswelt, die mir bekannt, doch im Laufe der Jahre verschütt gegangen ist. In diesem neuen Match will ich Fantasien um den oder den oder den, die vorläufig nichts weiter sind als ein Ausquartieren meiner Hirtberg-Träumerei auf nichtabstinenzregelversiegeltes Parkett. Das mit Erato erzähle ich Hirtberg noch nicht. Die Sache ist viel zu luftig und pikant. Ich bin ziemlich scharf darauf, diesen Typen kennen zu lernen. Ein bisschen geniere ich mich, über den virtuellen Partnermarkt zu schlendern, eine völlig unbegründete Scham, die nur die ersten Tage währt. Es hilft, mich von meinen zeit- und raumfüllenden Hirtberg-Visionen abzulenken. Hirtberg als Paraderepräsentant der Kategorie der völlig Unerreichbaren, Jenseitigen schlage ich mir besser heute als morgen aus dem Herzen, will ich dem emotionalen Desaster entgehen. Eigentlich möchte ich mit ihm über emotionale Desaster im Allgemeinen und im Besonderen sprechen, doch ich werde den Eindruck nicht los, dass er auf Leistungs-

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orientierung, Minderwertigkeitskomplexe – er spricht von Inferioritätsgefühlen, klingt gleich viel besser – und Selbstwertproblematik hinaus will. Falls überhaupt er auf irgendetwas hinaus will. Im Job läuft alles ganz gut, wir haben nicht zu viel zu tun, kommen dem Projektabschluss näher, alles soweit im Lack. Tatsächlich ist gar nichts im Lack: Die Königin hat mich gemaßregelt, weil ich mal wieder zwei Ausstellungseröffnungen ignoriert habe. Ich erkläre ein wenig die Zusammenhänge und werde mir dabei, ganz en passant, erneut meiner enormen Schwierigkeiten bewusst, meine Position und meine Rolle zu definieren. Mich mit dem zu identifizieren, was ich im Rahmen meines Berufes bin und sein möchte. »Die Königin redet nicht wirklich mit Ihnen. Sie geht nicht auf Sie ein. Das ist oft so, wenn die Argumente sitzen.« Er meint meine, und ergänzt: »Ich bin auch nicht gerade bekannt dafür, die Klappe zu halten.« »Perfekte Affektkontrolle bei der Königin«, sage ich. Sein Superlachen. Ich knutsch den gleich. »Machen Sie sich die Einstellung zu eigen, dass Sie eine Autorität sind, dass Sie auf der fachlichen Ebene am längeren Hebel sitzen. Und strahlen Sie diese Einstellung auch aus!« »Geht nicht«, antworte ich etwas muffig. »Was ist eigentlich so schlimm daran? Sie haben Angst vor Ihren eigenen Fähigkeiten, vor Ihrer eigenen Kompetenz.« »Nein, ich habe keine Angst. Im Gegenteil, ich finde mich sehr mutig.« »Mut setzt Angst voraus: Diese will ja überwunden sein. Sie tun so, als ob Sie so wären, wie Sie eigentlich sind. Aber Sie sind die Expertin, die Autorität! Das ist es, was irgendwie nicht in Ihre Birne will.« Ich habe überhaupt keine Lust auf dieses Geplänkel um Kompetenz und Inferioritätsgefühle, verstehe auch nicht wirklich, worauf er hinaus will, abgesehen davon habe ich keine Vorstellung davon, was ich diesbezüglich ändern könnte. »Das ist eigentlich nicht mein Thema heute, Hirtberg, ich wollte über Abhängigkeit und Sehnsucht reden. Jetzt sagen Sie bitte nicht, dass wir das doch tun und wir uns durchaus entlang des roten Fadens bewegen!« »Gut«, sagt er und lehnt sich zurück, um nichts mehr zu sagen. Um meinerseits nicht zu schweigen, sage ich, dass ich an dieser Stelle nicht weitermachen will, und warte darauf, dass er sagt: Ausstieg. Sagt er aber nicht. Stattdessen rutscht er noch etwas tiefer in seinen Sessel und schweigt analytisch vor sich hin. »Ich soll ja nix mehr sagen. Hier haben Sie die Autorität: Sie verbieten mir, an diesem Punkt weiterzumachen.« »Nun gut, ich nehme es zurück. Also, machen Sie schon weiter.« »Nur aus einer Autonomie heraus können Sie sich es leisten, Abhängigkeit zu riskieren. Jemand, der nicht autonom ist, kann das nicht.« »Könntest du dir eine Beziehung mit mir vorstellen?«, fragt Erato, der, verehelicht, in 115 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

einer festen Beziehung lebt. Wie ich. Allerdings mit dem Unterschied, dass er nicht gedenkt, seine feste Beziehung aufzukündigen. »Es ist gar nicht so leicht, am Anfang in die Gänge zu kommen. Man will nichts falsch machen, verkrampft usw. Wie soll es denn mit uns weitergehen?«, erkundigt er sich. »Nun, ich denke, wir schreiben uns erst mal noch viele, lange E-Mails … Aber gut, wir können uns auch treffen – obwohl mir diese Vorstellung Bauchschmerzen macht.« Es ist der erste Kandidat, der mich immerhin so weit interessiert, dass ich ihn kennen lernen möchte, und es ist das erste Mal überhaupt, dass ich mich auf ein Date einlasse. »Was meinst du denn, wie es weitergeht?«, frage ich ihn. Statt meine Frage zu beantworten, erinnert er mich daran, dass ich eine Beziehung suche, die sich nicht an Konventionen orientiert, so jedenfalls hätte ich das in meinem Porträt im Internetportal »I-Love« – von dem ich allerdings später zum anspruchsvolleren »Parship« wechseln werde – formuliert. »Wenn dir ein Treffen schon Bauchschmerzen bereitet, wie denn dann, wenn die Beziehung Formen annehmen sollte? Ich jedenfalls bin sehr an dir interessiert. Wie sollen wir es nun handhaben? Wehret den Anfängen oder, um mit Hesse zu sprechen: ›Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne.‹ Wollen wir uns verzaubern?« Kühn lasse ich mich auf Letzteres ein. Wir erkennen uns sofort. Seine filigrankultivierte Art gefällt mir und der Umstand, dass er Hesse und einige andere Klassiker zitiert. Ich gefalle ihm, der Rest ergibt sich rasend schnell. Dass es ebenso rasend schnell zu Ende gehen würde, habe ich nicht erwartet. Es ist sonnig und warm, wir sitzen unter der Markise eines Cafés in der Innenstadt, das ich noch nicht kannte. Umständlich porkelt er eine Tablette aus einer Plastikverpackung. Er habe sich möglicherweise in Griechenland einen Grippevirus eingefangen, »rein prophylaktisch«, sagt er, obwohl ich gar nicht danach gefragt habe. Bevor wir uns bei der Verabschiedung rechts-links küssen, fällt mir sein etwas mühsam koordinierter, langsamer Gang auf. Zuerst denke ich an einen Knieschaden. Auch die etwas ungelenke Art, wie er mir die Hand reicht, irritiert mich. Neben dem Umstand, dass überhaupt er mir die Hand reicht. Nach unserer ersten Begegnung schicke ich ihm noch eine Mail, mit der ich mich selbst an Mut übertreffe: »Bevor ich endlich zu Bett gehe, greife ich, in Fantasien von Händen auf Haut, zu einem meiner Lieblingsbücher, stöbere ein wenig darin herum und stoße auf folgende Stelle: ›Vom Blumengarten her kamen Düfte vor Wonne vergehender Blüten, ein lang anhaltendes Flüstern, das von der Hochzeit der Rosen, von der Wolllust der Veilchen erzählte …‹« Es folgt ein ganzer Absatz. Emile Zola. Bei anbrechendem Tageslicht betrachtet erscheint mir meine nächtliche Mail allerdings ein wenig surreal. Während eines dienstlichen Museumsbesuches an einem unsäglich heißen Sommertag erreicht mich die erste SMS einer Serie, die unseren Mailkontakt ersetzen und wenig später jäh abbrechen wird. 116 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Seit unserer ersten Begegnung gestern Abend bin ich in einem anderen Seinszustand. Ich frage mich: Habe ich mich verliebt?« »Die Frage zu beantworten, ist nicht wichtig. Es reicht, sie sich zu stellen.« »Es war eine rhetorische Frage! Ich stehe völlig neben mir.« »Meinst du das jetzt ernst?« »Mich hat es erwischt. Bin voller Gefühle für dich.« Wie kann das sein? Ich sitze im Museum und gucke an den Bildern vorbei. Dreiunddreißig Grad und mehr, die Sonne scheint ununterbrochen. In der Nacht kühlt es sich kaum ab. Im Traum erscheint Jurij in unerwarteter Intensität, mit neuen Zähnen. Wie zu Beginn dessen, was nie wirklich zwischen uns war, begehrt er mich. Wir besuchen eine kulturelle Veranstaltung, eine Eröffnung, nehme ich an. Er macht keinen Hehl daraus, das zwischen uns etwas läuft, beide verhalten wir uns aber diskret und erleben eine für Außenstehende unsichtbare Spannung. Seine Präsenz ist erotisierend wie eh und je, er sagt: »Von Anfange an, weißt du, Wenja, chat mir nie gefallen, was du gesagt chast, dass du nur eine Affäre willst.« Er hat nie begriffen, was ich wirklich wollte. Und will. Schnitt. Ich liege im Bett. Auf dem Rücken. Loschad liegt mit seinen geschätzten fünfhundertfünfzig Kilo quer auf mir – nahezu jede andere Position ließe Erotisches assoziieren, lastet schwer auf Brust und Bauch, bricht mir fast die Rippen. Vor Freude und Glück über sein Vertrauen umarme ich seinen muskulösen Hals, schmiege mein Gesicht an sein glattes, warmes Fell, das nach Sonne und Luzerne riecht. Völlig entspannt, macht keine Anstalten, sich zu erheben oder gar wegzugehen. Schnitt. Jurij trägt Sandalen, nackte Füße. Seine Zehnägel sind unregelmäßig. Er riecht ganz anders als ich, so wie immer: russisch. Ich fahre mit meinen Händen durch seine dichten, dicken grauen Haare. Ihn sinnlich erfahrend vergewissere ich mich des Glückes, ihn wider Erwarten nicht verloren zu haben, als ich ihn meines Herzens verwiesen, aus dem Kopf radiert hatte. Der Radiergummi war offenbar minderer Qualität. »Wie viele Frauen, Erato, hältst du zum Narren?«, frage ich wütend, als ich sehe, dass er ständig in besagter Single-Börse online ist. »Was ist passiert?« »Was du machst, geht mich nix an. Ich schütze mich nur davor, als leichtgläubige Idiotin dazustehen.« »Ich weiß nicht, was und wie ich antworten soll«, stottert er am Telefon, »Dementis bergen immer ein Schuldbekenntnis … Zufall. Ich habe den PC den ganzen Tag laufen, bin quasi immer online.« Wütend schalte ich mein Handy einfach aus, würge ihn ab, mitten im Satz. Soll er doch machen, was er will. 117 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Bei den von dir unterstellten Parallelgleisen würde ich entgleisen. Mir reicht die jetzige – noch nicht – Zweigleisigkeit«, schreibt er später per SMS. In den Bildern der Nacht mutiert Jurij zu Erato. Bizarre Küsse. Erato, auch im richtigen Leben Leiter eines großen Schulzentrums, zeigt mir seinen Arbeitsplatz. Aus dem Nichts tauchen Gerhard und Dietlinde auf, spekulieren wild über Dinge, die sie nichts angehen, fragen nach Timo, warten mit moralischen Vorhaltungen auf, während ich stur bleibe und so und tue, als sei es das Normalste von der Welt, mit Erato hier zu sein, an diesem vor Schülern überquellenden Ort. Übernachtung in einem Schlafsaal. Schüler, Lehrer, Gäste lagern auf dem Fußboden, dicht an dicht, wild gemusterte Bettwäsche, Schlafsäcke, Decken – wie im Notaufnahmelager nach einer Naturkatastrophe. Erato und ich positionieren uns t-förmig, es passt nicht anders: ich quer zu seinen Füßen. Warum hat er nicht ein Hotel gebucht, ein Zimmer für uns allein? Wieso überhaupt übernachten wir hier? Irgendwann verschwindet er im Getümmel, fühle mich verloren, abgewiesen. Schnitt. Wir befinden uns im Büro des Schulleiters. Obwohl ich versuche, mich zu konzentrieren, gelingt es nicht, das mit Hirtberg Besprochene sauber und präzise zu erinnern. Es ging um Sehnsucht und Abhängigkeit. Nach einigem Zögern erzählte ich ihm von meinem Online-Experiment, in dem sich via Mail und SMS erotische Dialoge entspinnen. Noch befinden wir uns in einem Reich jenseits der Realität, das kennen zu lernen mir eine neue Dimension eröffnet. In meinem Sommernachtstraum knöpfe ich ihm langsam die Jeans auf … Gänsehaut. Ich drehe ab in meiner Fantasie. Erato und ich treffen uns zum Cappuccino in der Stadt. Wir fahren zu mir. Unter seiner hell schimmernden, glatten Haut zeichnet sich der Brustmuskel ab, der untere Rippenbogen … rasierte Achseln, Moschusduft, ich streichele seine festen Oberschenkel, während mein Altphilologe schmutziges Zeug, zum Teil in fließendem Latein, redet, was mich ziemlich anmacht. Französisch kann er auch, die Übersetzung gelingt spielend. Erato ist alles andere als der Mann meiner Träume, aber ich fühle viel und bereue nichts. Manchmal beobachte ich an ihm, was ich vage als irgendeine Form von Tremor bezeichnen würde. Vor dem Hintergrund seines unklaren Ganges – bei einem Pferd würde ich sagen: Taktfehler – und der regelmäßigen Medikamenteneinnahme tippe ich auf Parkinson und begebe mich zum Zwecke einer differenzierteren Diagnostik ins Internet. Am Abend eines glühenden Tages in einem unvergesslichen Sommer bleibt zu sagen, dass das mit Erato real Gelebte jede SMS-Erotik in den Schatten stellt – wobei die allein schon von wahrlich explosiver Qualität ist. Die unerwartete Intensität meiner Gefühle nährt eine Sehnsucht, die mich innerlich in dem Maße zu zerreißen droht, wie mich in den letzten Tagen Gespanntheit, bis hin zu schier unerträglicher Nervosität in Erwartung der Begegnung unserer Körper, an den Rand der Zurechnungsfähigkeit trieb. 118 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Zehn gefühlsintensiven Tagen zwischen Anspannung und Aufregung folgt der panische Blick auf das Ende dessen, was noch nicht Wirklichkeit ist. Wochenende. Erato ist auf dem Weg nach Baltrum. Mit seiner Frau. Er schickt eine SMS. »Die Lust verfolgt mich bis zur Nordsee … Schreib mir mal was Geiles.« Der Mensch wächst ja bekanntlich an seinen Herausforderungen, und so lasse ich mich erneut ein auf das Spiel: Verbalsex im elaborierten Code, Wortwitz und Zwischenzeiliges in Hülle und Fülle. Offensichtlich zum Missfallen meines Wortakrobaten kehre ich bei der Beantwortung seiner Frage, was an ihm mich so errege, zum Anstand zurück: »Deine Stimme. Sprache. Spannung respektive Diskrepanz zwischen Konventionalität und Ausbruch. Grenzüberschreitung. Der Umstand, dass wir einander nicht gehören.« »Was ist mit meinem Körper?« »Mich erregen deine Bilder, deine Worte. Du hast mich gefragt. Wenn du Sex pur willst, musst du das sagen.« Das gleiche Spiel. Ich denke an Jurij. Was meint Freud mit Wiederholungszwang? In der Nacht schlafe ich nicht. Scheiß-Ehefrau. Schwindel kreist statt Blut in meinen Adern, Knochen knirschen, Nerven flattern, Augen schwimmen. Ferngesteuert von einer inneren Macht rase ich bei Dunkelgelb über die Kreuzung, wahrscheinlich war es sogar Rot. Ein Benz-Fahrer zeigt mir einen Vogel oder Schlimmeres, genau kann ich es nicht erkennen, ist mir auch egal. Salzwasser steht lidhoch und verschleiert die Sicht. Der Boden bebt. Mein Boden bebt. Ich stürze in die Hölle. Dort, so wenig wie gestern noch im Himmel, wartet jemand auf mich. Am Ende bin ich doch allein. Ich rufe meine Mails ab. »Heute Nachmittag hört das Martyrium auf. Wir sehen uns. Du bist wundervoll. Ich freue mich auf dich. Sei liebevoll umarmt.« Ich glaube ihm keine Silbe. Hirtberg, der schon wieder zum Anbeißen aussieht, zieht mich aus dem emotionalen Schlamm und bereitet mich Schritt für Schritt auf den Sturz in die Unterwelt vor. Ich erzähle ihm alles – allerdings nicht, ohne mich zuvor zu vergewissern, dass ich ihm meine Geschichte erzählen kann. »Sie wollen die Sicherheit, erzählen zu dürfen. Sie dürfen.« »Also gut … Aber erst noch was anderes: In diesem knappen Jahr, das ich nun zu Ihnen komme, hat sich doch einiges verändert, und das muss ich mal eben festhalten, zumal ich mich gegenwärtig an einem Kulminationspunkt zu befinden scheine.« »Sie möchten sich eine Übersicht und damit zusätzliche Sicherheit verschaffen?« »Ja, vielleicht.« »Und, was hat sich verändert?« 119 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Das Wichtigste zuerst: Wir reden ja nicht viel über die Artistin, aber wegen ihr bin ich ja ursprünglich gekommen. Nun, es ist besser geworden mit dem Essen, jedenfalls im Moment. Ich stehe höchstens einmal pro Woche auf der Waage. Das Bewusstsein für den Zensor ist gewachsen, ich spüre ein Plus an Lebendigkeit, ich verzichte auf Atosil und nehme schlaflose Nächte in Kauf, verzichte auf mein Antidepressivum Fluctin, weil das mein sexuelles Empfinden blockiert …« Hirtberg lächelt und nickt affirmativ. Findet er es gut, dass ich ihm ein Feedback gebe? Nicht, um ihm zu schmeicheln, sondern weil er seine Aufgabe ernst nimmt – das als selbstverständlich hinzunehmen, wäre der Distanz zu viel. »Und dann ist da noch so eine Sache, ich meine, Gefühle …« »Sie meinen Ihre Gefühle, die Sie hier empfinden.« Er erleichtert mir den Einstieg. »Was heißt denn das: hier? Ich empfinde sie beim Blumen gießen, Stall ausmisten, am Rechner, beim Cappuccino im Straßencafé …« Fast hätte ich gesagt: beim Sex mit Erato. »Gut, Ihre Gefühle mich betreffend möchte ich nicht mit dem Mechanismus der Übertragung allein – hm, sozusagen abtun. Ich nehme Sie ernst und würde mit Gegenteiligem auch unserer Beziehung nicht gerecht. Natürlich haben Ihre Gefühle schon was mit uns zu tun.« Mir wird schon wieder schwindelig. Oder bin ich es noch vom eben knapp überlebten Nervenzusammenbruch? »Nun, das mit dem Internet habe ich angefangen, um die Gefühle aus dieser verdammten analytischen, irgendwie eingesperrten Situation herauszunehmen. Das ist mir auf die Dauer zu frustrierend.« »Und mit dem, was Sie jetzt machen, entdecken Sie Ihre Sehnsucht.« »Sagen Sie mal ehrlich, Hirtberg, haben Sie eigentlich erwartet, dass das so kommt? Ich meine, dass ich mich in Sie verlieben würde, um dann gleich die Flucht nach vorn anzutreten?« »Erwartet habe ich gar nichts. Sagen wir so: Ich hatte gehofft, dass Sie sensibler – nein, sensibel sind Sie ja –, dass Sie etwas weicher werden. Sich aus Ihrer Erstarrung lösen.« »Es ist so viel Traurigkeit in mir.« »Aber depressiv sind Sie nicht?« »Nein, nein, das ganz sicher nicht. Es ist nur alles so ambivalent. So viel lebendiger, aber auch so viel trauriger … Eines ist inzwischen klar: Die wachsende Distanz zu Timo geht jetzt so weit, dass ich die Trennung will. Unklar ist das Wann und Wie. Aber ich werde mich von Timo trennen. Dessen bin ich mir jetzt sicher, im Gegensatz zu vor ein paar Wochen.« »Sehen Sie, da haben Sie ausgehalten! Vor einigen Wochen waren Sie nicht sicher. Sie hatten Zweifel. Jetzt sind Sie sicher.« »Ja. Und jetzt steht Timos Gefühlswelt im Vordergrund. Ich will ihn auf keinen Fall verletzen, das ist das Wichtigste. Deswegen wird es auch Zeit, vielleicht viel Zeit, brauchen.« »Das darf auch Zeit brauchen. Sie haben an Autonomie gewonnen. Sie wissen 120 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

jetzt, was Sie diesbezüglich wollen. Nun brauchen Sie Zeit, um das umzusetzen. Ihre Perspektive hat sich verändert: Sie sorgen sich weniger um sich als um Timo, den Sie schätzen und als Menschen unendlich gern haben.« »Mir ist das alles zu eng. Ich kann nicht mehr …« »Sie wissen das aber schon länger«, konstatiert Hirtberg und sieht mich forschend, nein: meine Zustimmung erwartend, an. »Und jetzt kommt es an die Oberfläche.« »Ja. Aber Timo kapiert das nicht, will es nicht wahrhaben, lässt es nicht an sich herankommen. Er macht komplett dicht.« »Er wird es schon mitkriegen. Der Typ aus dem Internet ist ein Test: Sie wollen gucken, ob Sie zu solcherlei Gefühlen fähig sind. Und dieser Test geht offenbar positiv aus.« Eratos Lachen ist hinreißend, immerhin. Er sieht sich in meinem Büro um, merkwürdig verhalten, studiert die bunten Buchrücken im wandüberspannenden Regal. Warum berührt er mich nicht? Ich gebe ihm genug Gelegenheit, stehe dicht neben ihm, möchte ihn berühren. Wirklich ihn? Oder will ich Körperkontakt im übergeordneten Sinne? Verlorenheit umfängt mich, als wir uns auf dem Parkplatz unseres Bürokomplexes verabschieden. Er geht langsam, etwas schlurfend, zu seinem Mercedes. Familienkarosse für Hund, Kind und Frau. In genau der Reihenfolge. Ich steige in mein brütend heißes Auto, finde mich alsdann im Supermarkt wieder, stopfe schnell und während ich noch stopfe, beginne ich zu weinen, laut, schluchzend tropfen Tränen in den Joghurt, auf die Kekse, von denen einer noch in meinem Halse steckt. Es schmeckt überhaupt nicht, es ist ekelig und ich verzehre mich innerlich was weiß ich wonach. Während ich über dem Klo hänge, höre ich das Signal, dass eine SMS eingetroffen ist. »Frau Dr. hinter dem Schreibtisch, der Patient davor. Anamnese gelungen. Noch viele therapeutische Sitzungen im Liegen notwendig.« Der spinnt ja total, denke ich, und tippe wütend meine Antwort. »Was meinst du denn jetzt damit? Vielleicht möchte der Patient es mal mit etwas mehr Offenheit versuchen? Mein Lieber, da hapert’s gewaltig!« Warum lügt er mir die Rennrad-Sturz-Geschichte vor, um seinen etwas klemmigen Schritt zu erklären? Glaubt er, ich wüsste nicht, wie jemand sich bewegt, wenn er tatsächlich eine akute Knieverletzung hat? Glaubt er, ich nähme auch sonst den Aufzug? Ich tue es mit vordergründiger Selbstverständlichkeit, um ihn nicht zu beschämen oder zu verunsichern. Glaubt er, ich würde das Zittern seiner linken Hand nicht bemerken? Oder für normal halten? Erotisch fantasievoll und verbal ein Ass, offen,

doch mit Stil, verstärkt sich das Zittern bei emotionaler Erregung. Ich beobachte ihn verstohlen, doch aus Respekt vor seinen Intimitätsgrenzen verzichte ich darauf, ihn mit Fragen zu löchern, studiere stattdessen alles, was des Internet zum Thema Parkinson zu bieten hat, lerne Begriffe wie On-off-Modus, Akinese, Bradykinese, Rigor und L-Dopas. 121 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Als ich nach einer Weile die Nase voll habe und zu Hirtbergs Website wechsele, um auf gesündere Gedanken zu kommen, schickt der Patient mir wieder eine SMS. »Ich wollte dir sagen, dass ich scharf auf dich bin.« »Wenn ich dir das glauben soll, kommst du jetzt her. Sofort.« »Geht nicht. Bin auf dem Weg nach Assgart zu einem Geburtstag. Morgen?« »Bist du sicher, dass du das willst?« »Ja!« Wieder glaube ich ihm keine Silbe. Auf kühlen Laken in meinem halbverdunkelten Schlafzimmer philosophieren wir ermattet über Abschiedsschmerz, der eine jede Affäre naturgemäß begleitet, und den Reiz, der nicht zuletzt in diesem wiederkehrenden Abschied liegt. Ich will mich nicht in ihm verlieren. Es ist haarscharf. Er geht. Nach etwas mehr als zwei Stunden. Jurij kommt mir wieder in den Sinn, es ist das gleiche Spiel. Martin ließ mich nach drei Monaten im Stich. Bei Hirtberg ist nach fünfzig Minuten Schluss. Erato geht und ich bleibe allein mit dem Gefühl, er könne mit dem Umstand, dass ich ihn begehre, nicht umgehen. Er missversteht mich. Oder ich ihn. Wir uns. Mehr und mehr traue ich meiner Erfahrung und bin voller Zuversicht, mich binnen kürzester Zeit verlieben zu können, was mich davon ablenkt, dass mein God-sent Hirtberg nicht in meine Realität involviert ist. Jenseitig. Verliebtheit ist nicht Liebe. Ich suche keine Partnerschaft. Allein die Suche nach weniger Erato-Verquastem oder Timo-Erstarrtem ist vitaler als meine überkommene Verschwörung mit der Artistin. Und darum geht’s: Sie soll weg, nicht ein neuer Partner her! Ich will mich. Keinen neuen Zwang, keine neue Enge. Luft und Liebe, Freiheit, in drei Gottes Namen gekoppelt an das Risiko, allein allein statt – immerhin – zu zweit allein zu sein. Hirtberg verhackstückt mit mir eine Strategie, wie das Problem mit Timo zu lösen sei. Er trägt schon wieder eines dieser Hemden, die mich aus dem Konzept bringen. Sein Lachen. Mit dem Mann stimmt einfach alles. Und genau deshalb beschließe ich energisch, mein neu entdecktes Unterhaltungs- und Ablenkungsprogramm fortzusetzen und zu perfektionieren, so lange, bis ich es leid bin. Es ist in jedem Fall lustvoller und meinen wirklichen Sehnsüchten gemäßer als das, was die Artistin, die sich gegenwärtig selten blicken lässt, mich zu tun drängt. Was Erato betrifft, beginne ich zu begreifen, dass ich es bin, deren Bedürfnisse schon jetzt vollkommen auf der Strecke bleiben. Nach exakt drei Wochen ist die Zauberei, der Spuk vorbei. Das Püppchen namens Erato wird von Jean-Laurent vom Spielfeld geschmissen.

122 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Verwaiste Sehnsüchte

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it Jean-Laurent besuche ich eine Ausstellung. Er gefällt mir. Schon bei dieser ersten Begegnung fühle ich mich ein bisschen beschwippst. Wir verbringen einen amüsanten Nachmittag, sein Humor geht unter die Haut. Für jeden, der online hintenüber fällt, gibt’s Ersatz in der systemintegrierten Favoritenliste. Bloß nicht wieder in Trägheit, Langeweile und schon gar nicht in verzweifeltem Sehnen ersaufen! Jean-Laurent ist verheiratet, lebt getrennt von seiner Frau. Naive Interpretation des Sachverhaltes: Jean-Laurent ist frei. Folglich besteht zumindest theoretisch die Gefahr einer Abhängigkeit. Noch wage ich nicht, Gefühle ihm gegenüber zu entwickeln. Hirtberg gegenüber schäme ich mich für meine Sprunghaftigkeit, für meine Art, mich schnell und unkompliziert in ein wahres Gefühlsfeuerwerk zu schmeißen. Deshalb klingt, wenn ich über Erato spreche, das eher nach einem naturwissenschaftlichen Experiment, einer empirischen Untersuchung – eine Form der Darstellung, die auch emotionale Absicherung bedeutet. Gemeint ist mit meinen Gefühlen weder Hirtberg noch Erato, vermute ich vor dem Hintergrund des mir Angelesenen, was ich Hirtberg auch sage. »Bei dem, was geschieht, handelt es sich um eine Projektion von Sehnsüchten, die sich erst im Realitätstest mit einem Mann, mit dem eben Sie testen wollen, erfüllen können. Nicht müssen.« »Und warum suche ich mir immer solche aus, mit denen es nicht geht?« »Das ist Ihre Angst vor der Abhängigkeit. Kann ja mit Ihrem Internetmann auch nicht passierten: Der Mann ist krank.« »Das weiß ich doch gar nicht, pure Spekulation«, unterbreche ich ihn. »Warum vertrauen Sie nicht Ihrem Gefühl? Sie sehen doch, dass etwas nicht stimmt, oder?« »Ja.« »Der Mann ist krank und überdies verheiratet. Sie können sich entscheiden, so lange an einem Mann herumzuschnitzen, bis er in das Prokustesbett passt. Ob das allerdings von Erfolg gekrönt sein wird, ist offen. Da ist es doch besser, gleich zu sagen, dass es eben nicht passt. Dieser Erato musste als Testprojektionsfläche herhalten. Im

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Praxistest hat sich erwiesen, dass er nur eine Ebene Ihrer Sehsüchte zu erfüllen bereit war: die erotische.« »An ihm faszinierte mich die wirklich beeindruckende Spanne zwischen Intellektualität und Obszönität.« »Das ist die eine Ebene. Das Andere findet er woanders. Und das ist Ihnen zu wenig. Da fehlt das Herz. Was wollen Sie denn eigentlich genau von einem Mann? Egal, ob Sie das jetzt aufschreiben oder nicht, es wird doch da einen ganzen Katalog von Anforderungen geben, die es dann gilt, in der Realität zu überprüfen.« In Gedanken erstelle ich eine komplizierte Liste, dreispaltig. Kopf. Herz. Körper. In der Reihenfolge. »Er sollte bestimmten äußerlichen Rahmenbedingungen folgen, intellektuell sein und Humor haben, mich zum Lachen bringen …« Ich schlucke. Gucke aus dem Fenster. Zwirbele meine Haare. »Wenn ich ehrlich bin, sollte er so sein wie Sie …« »Dass das nichts wird, ist ja klar, wir sind unter anderen Voraussetzungen zusammengekommen. Damit will ich ja gar nicht ausschließen, dass der Praxistest positiv ausfallen könnte, aber das steht hier nicht zur Debatte.« Zack. Fronten geklärt. Der Hieb schmerzt dank meiner ausgelagerten Fantasien nicht nennenswert mehr als ein Schnitt in den Finger, außerdem kann ich jederzeit in meine Hirtberg-Verliebtheit zurück. Im Augenblick sehe ich in ihm in erster Linie den Retter, deswegen muss ich ihn ja nicht weniger begehrenswert finden. »Da ist ein ganzes Bündel verwaister Sehnsüchte, das Sie jetzt entdecken. Wie erklären Sie sich eigentlich die sehr unterschiedlichen Sichtweisen zwischen Timo und Ihnen?« »Nun, im Laufe der Jahre hat sich eine Statik etabliert, die wir beide bewusst oder unbewusst registriert haben …« »Soweit besteht Einigkeit. Uneinigkeit hingegen besteht in der Bewertung: Während Sie vor allem Dynamik vermissen, erachtet Timo die Statik als Wert an sich. Das muss zu Differenzen führen, mit denen Sie sich jetzt auseinanderzusetzen haben.« »Wenn wir weitermachen wie in den letzten Jahren, zieht das Leben einfach so vorbei. Was Timo braucht, ist eine Therapie. Er ist verschlossen wie eine Auster, da komme ich nicht ran. Er selbst auch nicht. Er verleugnet. Vielleicht ist er sogar depressiv, die Antriebslosigkeit könnte ein Indiz sein. Er leistet keinen Widerstand. Die Bücher, die ich ihm zum Thema ›Partnerschaft in der Krise‹ gab, liegen ungelesen herum.« »Er scheint Sie nicht wirklich zu vermissen, wenn er sagt, es ginge ihm gut. Das sind Sie.« »Was bin ich?« »Sie haben mit Schuldgefühlen zu kämpfen, weil Sie sich an seiner Stelle nicht gut fühlen würden. Eine Verwischung von Ich und Du. Wenn Sie aber mal genau hingucken, was tatsächlich stattfindet, dann sehen Sie, dass er nicht kämpft, nicht aus sich heraustritt, sich eben nicht entrüstet!« 124 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Der Sommer neigt sich dem Ende zu, es schüttet wie aus Eimern und Hirtberg trägt gottlob wieder mehr Stoff am Leib als Jeans und ein aufgeknöpftes Polo-Shirt. Erst reden wir über Timo. Wieder stockt es. Eigentlich ist alles gesagt. »Die Trennung wird stattfinden, weil unsere Lebensideen auseinanderdriften …« »Weil Sie mit dem Mann, mit dem Sie einstmals viel verband, heute zu wenig verbindet – für eine Liebesbeziehung«, setzt er hinzu, »da hilft es jetzt auch nichts, wenn er abnimmt und auf das verdammte Bier verzichtet, was ja auch eine sehr konkretistische Herangehensweise ist.« In diesem Augenblick sehe ich förmlich, wie diffuse Traurigkeit mehr und mehr glasklarer Erkenntnis weicht. Aus. Und Wut, weil Timo sich abschottet und mich subtil gefangen hält, indem er komplett ignoriert, was läuft – oder eben nicht. Mich ärgert, dass er meine autonome Entscheidung vorwegnimmt, indem er vorschlägt, dass wir uns den ganzen August über nicht sehen. »Sie machen sich viel zu viele Gedanken um ihn. Um Ihre Schuldgefühle los zu sein. Wäre es leichter, sich zu distanzieren, wenn Sie wüssten, dass er seit Jahren eine Geliebte hat, die halt auf bierbäuchig steht? Oder wenn Sie wüssten, dass er alle zwei Tage in den Puff geht? Oder selbstzufrieden in seiner Wohnung mit seiner Musik und seinen Zeitungen hockt? Er scheint ja keine sehr ausgeprägte Selbsterforschung zu betreiben.« Mich schmerzt, wie Hirtberg es in harten Worten auf den Punkt bringt. Aber ja, es wäre leichter! Vielleicht ist er weniger reflektiert, als ich glaubte? Er hat doch die gleiche Möglichkeit, ein Terrain abzustecken, auf dem er vielleicht glücklicher ist als mit mir. Zu gern würde ich ihm, der sich das Weinen konsequent abgewöhnt hat, nahe legen, sich zu öffnen, sich weniger starr, weniger unflexibel, weniger statisch zu geben. Hirtberg ist bald von seinem Analytikersessel gefallen, als ich sagte, dass ich ihn in sechzehn Jahren nicht einmal mit Tränen in den Augen gesehen habe. Auf die Frage, ob er sich mit Freunden austauschen, von irgendjemandem seelische Unterstützung erfahren würde, antwortet er, dass genau dies er nicht wolle. Er habe keine Lust, als Reaktion auf üblicherweise auftauchende Fragen nach meinem Verbleib erfundene Geschichten wie mehrwöchige Forschungsaufenthalte, Arbeitsüberlastung und Ähnliches zu kolportieren, während er innerlich fassungslos dieses absurde Theater einer so genannten Psychoanalyse zur Kenntnis zu nehmen habe. Er hat recht, wenn er feststellt, dass ich für ihn – im Gegensatz zu Hirtberg – nicht erreichbar bin. Wenn er das Nämliche mit Blick auf Vincent festzustellen meint, ist das falsch. Vincent habe ich gebeten, sich inhaltlich bedeckt zu halten. Das tut er auch, alles andere wäre unprofessionell. Hirtberg erreicht mich. Ja. Sonst bräuchte ich nicht hinzugehen. Timo versteht nicht, wovon ich rede. Jedenfalls meine ich mit starr und unflexibel nicht den Umstand, dass er an mir oder an unserer Beziehung festhalten will, sondern die Tatsache, dass er sich selbst keinen Deut loslässt. Wäre er ein Pferd, würde ich sagen: Er verhält sich. Gespannte Schritte. Festhalten im Rücken. Ohne Losgelassenheit keine Anlehnung. Er guckt nicht richtig hin, wie es ihm geht. 125 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Was ihn betrifft, kommen nur Fassungslosigkeit, Enttäuschung und Verbitterung zum Ausdruck. Das Ganze dann maßlos.« »Womit Sie den schwarzen Peter haben …« »Ich allein zerstöre die Beziehung, assistiert von einem Scharlatan. Timo hat, aus seiner Sicht, nichts damit zu tun. Ich bin schuld, schlecht, untreu, instabil, verantwortungslos und abhängig. Von Ihnen, Hirtberg, meint er. Bislang glaubte ich, stets einigermaßen ehrlich gewesen zu sein. Meine Wünsche habe ich jedenfalls nie verheimlicht. Dass ich eben nicht wirklich ehrlich war, wird mir jetzt klar. Ich glaubte, es sei der Ehrlichkeit genug, Timo wissen zu lassen, dass ich mir wünschte, er möge kreativer, weniger bequem sein. Natürlich habe ich alles aufgeboten, um ihn zu einer seinem Intellekt gemäßen Beweglichkeit zu motivieren.« »Was Sie versäumt haben: sich Rechenschaft abzulegen über die Tragweite Ihrer Idealvorstellungen und der Inkompabilität Ihrer Persönlichkeitsstrukturen.« Ich könnte nun meinerseits von Fassungslosigkeit sprechen: Tatsächlich stellt sich die Divergenz unserer Persönlichkeitsmuster als unüberwindbares Hindernis dar. Timo ist zufrieden mit seinem Lebensentwurf. Fatalerweise ist dieser aber nicht oder nicht mehr oder im Moment nicht kongruent mit dem, was ich mir für mein Leben vorstelle. Da die Dauer unserer Liebe für ihn ein Wert an sich zu sein scheint, hätte ich nicht so lange auf eine Veränderung hoffen dürfen … Und dann, einem spontanen Entschluss folgend, ist Jean-Laurent plötzlich in Liefem. Er ruft mich an. »Können wir uns sehen? Ich habe eine gute Stunde Zeit.« Klar können wir uns sehen, wir treffen uns vor dem Museum und gehen in der Altstadt einen Salat essen. Er sieht älter aus, als ich ihn in Erinnerung hatte. Seinen Mund umspielt ein Lächeln, das mich stark an Nico, meinen allerersten Freund, erinnert. Jean-Laurent steckt voller Humor und Wortwitz, schon unsere Mails rissen mich in eine Faszination, die ich mitnehme in unsere zweite Begegnung. Zum Abschied küsse ich ihn vorsichtig. Ganz kurz spüre ich seine weichen Lippen und den stacheligen Dreitagebart. »Jetzt immerhin ist Timo an dem Punkt, zu realisieren, dass die Lage ernst ist«, sagt Hirtberg. »Er realisiert, dass ihm seine Beziehung entgleitet, seine Ehe zerbricht. Er kann nicht länger wegsehen.« »Seine Enttäuschung und Verwirrung macht mich unendlich traurig, mehr noch: lässt mich zweifeln, ob es richtig ist, so viel zu riskieren.« »Das ist wieder Ihr Autonomieproblem, nicht? Sie gehen einen Schritt in die Welt – und schauen sich um, ob Sie das dürfen. Sehen Sie: Indem Timo mich als Ihren Behandler attackiert und den Prozess, der sich hier und in Ihnen vollzieht, für das, was geschieht, verantwortlich macht, schützt er sie. Es ist ja der Scharlatan, der Sie auf abwegige Gedanken bringt!« 126 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Hmm, ja …« Ich gucke den Scharlatan an und empfinde es als Sakrileg, diese in gegebenem Kontext diskreditierende Bezeichnung zuzulassen. »Nicht nur Timo macht die gegenwärtige Entwicklung an dem Scharlatan fest und projiziert seinen verständlichen Ärger, seine Wut, vielleicht auch Traurigkeit und Enttäuschung auf mich und die von mir durchgeführte Behandlung«, sagt Hirtberg. »In gewisser Weise missbrauchen auch Sie mich, indem Sie es versäumen, Timo gegenüber überzeugend deutlich zu machen, dass es Ihre Position ist, die Sie vertreten. Dass es nicht Hirtberg ist, der die von Ihnen beabsichtigte Trennung heraufbeschwört. Ich provoziere nichts dergleichen. Sie stehlen sich aus der Verantwortung und verschanzen sich hinter Ihrem Scharlatan. Sie spielen uns ja sozusagen gegeneinander aus: Timo wird immer wütender auf mich, und Sie lassen zu, dass ich’s abkriege, so sind Sie erst mal aus dem Schneider.« »So habe ich das noch gar nicht gesehen. Alles andere könnte ja zu Folge haben, dass sich Timos Gefühlswelt plötzlich auf mich konzentrieren, schlimmstenfalls gegen mich richten würde …« »Nicht gerade bequem«, wie Hirtberg völlig richtig anmerkt. Wie unbequem es sein kann, wenn Timo plötzlich etwas fordert, habe ich gemerkt, als er fragte, ob mein Scharlatan denn mal darüber nachgedacht hätte, ihn in ein Gespräch zu integrieren. »Hirtberg wird einen Teufel tun!«, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen und schob, wie mir jetzt klar wird, damit mein eigenes Nichtwollen auf Hirtberg. »Sie müssten dann allerdings schon ganz klar wissen, was Sie mit einer solchen Zusammenkunft erreichen wollen.« »Ich will doch diese Zusammenkunft gar nicht! Dies hier ist meine Therapie! Timo steht es frei, sich seinerseits um therapeutische Hilfe zu bemühen … und, Hirtberg, ich bin sicher: Würde ich Sie fragen, könnten Sie einen geeigneten Kollegen in Assgart empfehlen.« Er sagt nichts, lächelt. »Vielleicht ist sein Leidensdruck einfach nicht groß genug«, fahre ich fort. »Oder gar nicht vorhanden! Oder weil er sowieso alle Therapeuten zur Hölle wünscht, da sie ja Beziehungen kaputt machen.« So ein Quatsch! Nicht die Therapeuten zerstören Beziehungen, sondern die Beziehungen sind suboptimal, und genau das wird vielen Patienten im Laufe einer Analyse klar. Timo indes geht davon aus, dass die Welt wieder in Ordnung sein würde, wäre diese leidige Trennungsfrage endlich vom Tisch. Sein Ziel lautet: kitten, was zu kitten ist. Ich übernehme die Verantwortung dafür, dass ich nicht kitten will: Das in Aussicht Stehende genügt mir nicht. »Fragt der eigentlich mal, was genau sich hier tut? Hier, in unseren Zusammenkünften und, vor allem, jenseits derer, doch aus diesen resultierend? Er könnte ja beispielsweise fragen, wie es Ihnen ergeht … Sagen Sie ihm eigentlich auch, dass es Ihnen, was Ihre Symptomatik betrifft, um einiges besser geht? Darüber könnte er sich doch freuen! Vielleicht sogar nachfragen, wie das kommt, versuchen zu verstehen, 127 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

was jetzt anders ist als vorher. Timo spiegelt Sie überhaupt nicht.« Verständnislos schüttelt der Scharlatan den Kopf. Was er mit spiegeln meint, bleibt vorläufig etwas schemenhaft, ich antworte ausweichend, indem ich zum x-ten Mal auf meine Verunsicherung hinweise, die seine, Timos, scheinbar berechtigte Einwände auslösen. »Andererseits, wenn ich sage: Nun gut, sei’s drum, Schluss jetzt mit dem unbequemen Intermezzo, bleiben wir eben ein Paar und versuchen das Beste draus zu machen … Dann würde ich aus der neuen alten Perspektive um genau das Gefühl von Lebendigkeit trauern, das ich jetzt verspüre. Und wissen Sie was, Hirtberg? Langsam habe ich den Eindruck, dass wir beide nicht wirklich ehrlich zueinander waren. Er liebt das Bild, das er sich von mir macht, nicht mich, wie ich bin.« »Haben Sie eine Idee, wann das angefangen haben könnte?« »Ja, aber das einzugestehen ist sehr schwer, zumal es in die frühen Jahre unserer Beziehung zurückgeht. Es hat mich enttäuscht, dass Timo seine Dissertation nie geschrieben hat … Spätestens nachdem er im Museum aufgehört hat, hätte er es tun können. Tun sollen. Das war vor zehn Jahren! Also, vor zehn Jahren wird es wohl angefangen haben. Ein ganzes Museum hat er aufgebaut, eine Sammlung zusammengetragen, mit großem Engagement und hochqualifiziert. Dabei, wie ich viel später erfahren habe, hat er sehr unter dem teilweise auch öffentlichen Druck gelitten, es mich jedoch nie spüren lassen.« »Ein solches Ziel – wie beispielsweise eine Promotion – zu verfolgen und es schließlich zu erreichen, ist auch Beziehungsarbeit. Man macht dann doch etwas gemeinsam und sagt sich, ja, diesen Weg gehen wir dann, wie auch immer, weiter.« »Nun, jedenfalls war ich an dieser Stelle wirklich enttäuscht. Trotzdem habe ich an ihn geglaubt. Vielleicht ging es auch um Fragen des sozialen Status, um Ansehen, aber in erster Linie darum, die Dinge, wie auch immer, durchzuziehen. Auch wenn sie unbequem sind. Ein Jahr nach der Eröffnung des Museums bekam er den Job in der Agentur, in der er bis heute arbeitet. Seitdem tut sich wenig. Stagnation. Es kann aber doch nicht meine Aufgabe sein, ihn zu inspirieren, motivieren – noch dazu erfolglos. Was ist, genügt ihm.« »Noch mal zurück: Timo spiegelt Sie nicht. Das heißt, anders ausgedrückt, er sagt Ihnen nicht, wie er Sie wahrnimmt. Oder er nimmt Sie nicht richtig wahr.« »Er liebt nicht mich. Er liebt ein Phantom.« »Das Sie ihm auch bereitwillig über die Jahre hinweg geliefert haben. Sie hatten eine Art unausgesprochenes Arrangement: Du siehst in mir das, was du sehen willst, und ich erfülle deine Fantasie. Wie ein Geheimbündnis: Er weiß nichts – denken Sie an Ihre Geschichte mit Jurij –, er will nichts wissen, und er tut so, als ob er nichts wüsste. Die Gegenseite – das sind Sie! – spielt mit: Sie tun so, als ob Sie nicht wüssten, dass er alles weiß. Auf der Basis dieser Vereinbarung sind Sie klargekommen.« »Und jetzt gerät die Vereinbarung ins Wanken. Tja, wenn überhaupt an einer Stelle von Schuld gesprochen werden kann, dann hier: Ich habe Timos Idealbild 128 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

die notwendige Farbe geliefert, indem ich mich nicht genügend gezeigt habe, Timo seinerseits hat es nicht darauf angelegt, dem Phantom die Maske zu entreißen.« »Hat er Sie, was Ihr Essverhalten betrifft, je gefragt, wie oft am Tag, in der Woche, im Monat Sie das machen? Oder: Was ist eigentlich, wenn du mit Jurij in Petersburg oder in Moskau bist? Was ist das für eine Beziehung? Ihm kann doch nicht allen Ernstes entgangen sein, dass sie über eine rein dienstliche Sache hinausging! Ganz gleich, was geschehen oder auch nicht geschehen ist … Und was passiert jetzt?« »Wie? Hier? In der Analyse? Nun, ich erkenne, was wirklich ist, stehe mehr und mehr zu meinen Wünschen und gerate damit in massiven Konflikt mit der Beziehung, in der wir uns einen Raum der Sprachlosigkeit gezimmert haben.« »… und die Ihnen im Lichte dieser neuen Transparenz nicht mehr tragfähig erscheint. Sehen Sie: Der primäre Effekt der Behandlung ist nicht der, dass die Beziehung radikal in Frage gestellt wird. Diese Frage ergibt sich aus dem primären Effekt, nämlich dem, dass ein diffuses Gefühl nach außen drängt.« Jean-Laurent und ich genießen die Aussicht über das Rheintal vom Petersberg aus. Wir besuchen die Kreuzbergkapelle, küssen uns auf einer Bank mit Blick über die sanften Hügel der Eifel. Wir essen eine Kleinigkeit im Freien, obwohl es für Mitte August viel zu frisch ist. Jean Laurent lebt in Bonn. Sein Haus, geschweige denn sein Bett, kriege ich nie zu sehen. Sex gibt’s nur in meiner Wohnung. Er verfügt über eine wunderbar kultivierte Sprache, beherrscht die Kommunikation zwischen den Zeilen, mit der mich so ziemlich jeder Mann um den Finger wickeln kann, hat einen hellwachen, kritischen Geist und sehr viel Herz. »Wenn Sie mit einem Mann ins Bett gehen, lassen Sie sich in mehr als einem Sinne berühren. Und da wundern Sie sich, dass es hinterher anders ist als vorher?« »Ja, ich wundere mich immer wieder aufs Neue, rechne immer noch nicht damit, dass diese Nähe etwas mit mir macht.« »Mit Ihrer schnodderigen Art kommen Sie da nicht weiter. Sie machen sich verletzlich, in dem Sie lebendiger werden. Zurück in die Starre können Sie auch: Die Tür steht Ihnen offen.« »Nein. Das will ich nicht. Ich weiß nur nicht, wie ich mit dieser Lebendigkeit in ihren verschiedenartigen Gewändern umgehen soll.« Zweifel, ob es richtig ist, mich aus meinem bisherigen Leben zu lösen. Mich völlig anders zu verhalten als in den vergangenen sechzehn Jahren, Grenzen zu überschreiten, indem ich mich mit diversen Männern treffe und mich mit einigen einlasse, sei es emotional oder sexuell. Sicherheitshalber fixiere ich mich nicht auf einen. Nicht auf Erato, nicht auf Jean-Laurent. Ich könnte es und wollte es, doch fürchte ich, mich zu verlieren und am Ende doch wieder zu leiden. Meinhard, seines Zeichens Tontechniker in leitender Position beim Rundfunk, entpuppt sich als recht intelligenter, amüsanter Gesprächspartner, allerdings mit einem 129 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

merkwürdig überkommenen Frauenbild und völlig anderen Interessen als ich. Wir verbringen ein, zwei Stunden bei Cappuccino und Gauloises im »Campi« am Wallrafplatz, das Wetter ist sonnig, wir sitzen draußen, er im blau-weiß gestreiften Hemd, ich in schwarzem Rock und nackten Beinen. Er schickt mir später den Abschied. Das ist eine unkomplizierte Methode bei »Parship«, einen Kandidaten definitiv loszuwerden. Man braucht nichts zu erklären. Man verabschiedet sich einfach: passt nicht, Punkt. Kann am Selbstwertgefühl zehren, muss aber nicht. Sowieso spaziere ich lieber mit Jean-Laurent am Fluss entlang an einem lauen Abend mitten im August, nachdem schon kühle Regentage uns haben glauben machen wollen, der Sommer, und mit ihm mein Sommerwunder, sei bereits Vergangenheit; als kulminante Finissage eines bizarren Tages, der mich hat glauben machen wollen, nôtre amour pas encore né, sei nie da gewesen. Er hält mich fest, so fest, wie lange niemand mich hielt, seine Hand in meiner Hand, Gänsehaut an Gänsehaut, sanftes Kribbeln und eine weiche Stimme. Über seine Schulter schweift mein Blick über den dunklen Fluss, bis ich dort, weit hinter dem Horizont, das Hier und Jetzt phantasmagorisch gespiegelt erahne: ein Paar in Unumwundenheit umschlungen, umhüllt von einem Traum aus Zuversicht und zaghaft keimendem Vertrauen, getragen von Schritt für Schritt sich vollziehender, vorsichtiger Annäherung, getrieben von Lust und Verlangen in den Fasern zweier Körper, die dort, einander fremd und doch schon dicht verwoben, das jeweils Andere suchen. Was genau es ist mit uns, wer weiß das schon? »Wo stehen wir?«, fragt Jean. »Ich weiß es nicht«, sage ich. »Schon weit«, sagt er. »Ja, schon weit, chèr Jean.« Ich bin sicher, das es echt ist, was ich fühle hier und jetzt. Der Boden trägt, obwohl er bebt, und ich spüre, dass, wenn ich mich berühren lasse von diesem Mann, der mir ein Rätsel ist und doch schon Freund, an Herz und Körper, ich Verletzlichkeit riskiere. Was ist mit Jean? Tut er das nicht? Wir zwei im Sommerhimmel. Nägelknibbelnd hocke ich Hirtberg gegenüber und grübele ein wenig zu angestrengt, worum es gehen kann, was ich noch sagen soll. Alles ist gesagt, zumal was Timo betrifft. »Unsere letzte Begegnung in Assgart«, erzähle ich, »lässt erwarten, dass es vorläufig entspannt, nichtsdestoweniger aber getrennt weitergeht. Timo sieht gut aus, attraktiv, leicht gebräunte, sehr glatte Haut, ein paar Kilo weniger. Aber wir müssen uns jetzt erst mal nicht länger über Timo unterhalten, die gegebene Situation traue ich mir zu, einigermaßen souverän anzugehen.« Pause. »Da ist erst mal noch etwas anderes, das mir auf den Nägeln brennt: diese unsäg130 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

liche Stagnation in der Organisation nämlich. Absolut antriebslos, unmotiviert, fantasielos, angeödet und unproduktiv vegetiere ich vor mich hin.« Mir ist langweilig. Ein Zustand, der nicht erlaubt ist, verpönt, unangemessen, Kind, sei nicht so undankbar. Ungeduldiges Warten auf Entscheidungen, die nicht nur nicht meine sind, sondern die zudem komplett jenseits meines ohnehin eng umgrenzten Beeinflussungsradius gefällt werden. Mangelnde Motivation, völlige Absenz von Eustress, Abhängigkeit. Das Kuratorium – mithin die Königin – entscheidet, ob meine Forschungsergebnisse nun in Form eines Buches veröffentlicht werden oder nicht. »Sie fühlen sich nutzlos und faul. Das können Sie natürlich mit Ihrem inneren Antreiber nicht vereinbaren.« »Nein, gar nicht. Zwar kenne ich meinen Antreiber nicht persönlich, aber er malträtiert mich, so lange ich denken kann. Aus der Sicht von Gerhard und Dietlinde war ich immer unausgelastet, was sie mich mit heftigem Vorwurf zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wissen ließen.« »Und das klingt bis heute nach. Sie hocken im Büro, haben keine Lust, die Bibliothek abzustauben, was ja verständlich ist, und Ihr Projekt stagniert. Das liegt nicht an Ihnen. Na und? Ist doch eigentlich schön! Warum machen Sie nicht einfach, wonach Ihnen der Sinn steht? Lesen Sie, schreiben Sie!« Er sieht mich aus blitzenden Augen aufmunternd an, ganz so, als wollte er sich spitzbübisch mit mir verbünden und mich komplizenhaft dazu bewegen, geflissentlich zu ignorieren, dass man meine Leistung bezahlt, nicht mattes Herumsitzen. Erst später wird mir klar, dass man in der Organisation eher geneigt ist, matte Präsenz zu honorieren als Leistungen. Doch wie anders als matte Präsenz wollte man die Keks- und Waffelorgien bezeichnen, denen ich mich resigniert und müde hingebe? »Lesen Sie, schreiben Sie … Sie sind gut, Hirtberg! Sobald ich versuche, zu tun, was ich will, überkommen mich massive Schuldgefühle und halten mich davon ab, mich beispielsweise auf diesen Text zu konzentrieren. So schließe ich frustriert, kaum dass ich sie geöffnet habe, die Datei.« »Ich kann mir schon vorstellen, was da passiert: Sie kommen nicht weiter mit dem, was Sie meinen, tun zu müssen. Das Andere, Ihre privaten Aufzeichnungen, erlauben Sie sich nicht. Was entsteht, ist Unzufriedenheit, und die nehmen Sie mit nach Hause, wenn Sie die Spannung überhaupt so lange aushalten. Vermutlich kommt es in dieser Situation auch zu Essanfällen.« Er kennt mich. Gut, ich habe ihm gestanden, dass mein Essverhalten wieder deutlich schlechter ist, was ich kurzerhand auf meine Periode schiebe. Ich leide nicht nur am prämenstruellen Syndrom, sondern auch am postmenstruellen, beides dauert rund ein Dutzend Tage. Rückschritt ins magische Denken. Wird mit dem nahenden Ende des Sommers alles beim Alten sein? Auch dies: magisches Denken. »Ja, diese Situationen sind verhängnisvoll. Im akuten Kreativitäts- und Aktivitätsmangel findet die Artistin den Weg, nichts stellt sich ihr in den Weg. Im Gegenteil, ein tiefschwarzes Loch öffnet sich, es will irgendwie gestopft sein. Es schreit danach, gestopft zu werden!« 131 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Hören Sie: Sie sind nicht antriebslos. Merken Sie, was vor sich geht, wenn Sie mir Ihren Text beschreiben? Da ist Lebendigkeit, Begeisterung, Lust am kreativen Tun. Nutzen Sie die Zeit, in der Ihr Projekt ohnehin stagniert, für sich. Tun Sie, wozu es Sie drängt!«

132 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ambivalenzprobleme

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ie haben ein Ambivalenzproblem«, konstatiert Hirtberg trocken, als ich ihm erkläre, dass es mir gar nicht gut geht, um nicht zu sagen: dreckig. »Säßen Sie jetzt mit einer guten Freundin …« »Sie wissen ganz genau, dass ich keine gute Freundin habe«, maule ich. »Säßen Sie jetzt hier mit einer guten Freundin«, wiederholt er unbeirrt, »würde die Ihnen wahrscheinlich empfehlen, sich mal wieder so richtig heftig zu verlieben.« »So ein Unfug.« Genau das ist ja geschehen. Mir kommt meine Verliebtheit unreif und – Dietlinde wirft das Wort unausgegoren in die Runde –, der Langeweile im Büro ähnlich, unangemessen vor. »Also, die Situation ist die …« Stocken. Irgendwie geniere ich mich, auf einen Kerl, der mich am ausgestreckten Arm verhungern lässt, reinzufallen. Jean-Laurents Brosamen sind demütigend. »… nun, der Typ hat ein chronisches Zeitproblem, das macht mich total hysterisch. Es geht mich ja nichts an, welche Sitzungen wann stattfinden, von denen nämlich faselt er, und davon, dass er seine Steuern erklären muss. Eine merkwürdige Koinzidenz der Ereignisse: Seit dem Tag – die Nächte bleiben auch fürderhin tabu –, an dem wir das erste Mal Sex hatten, gibt es nur noch Zweizeiler statt der wunderbaren Mails, mit denen er mich in seinen Bann gezogen hat. Wahrscheinlich empfinde ich viel mehr als er, was umso absurder ist, als ich mich nur zögerlich auf das eingelassen habe, von dem ich glaubte, er brächte es mir entgegen … Ach, egal, ziehe ich mich eben zurück. Schneckenhaus. Wahrscheinlich bin ich lästig, störe ihn in seiner Welt … Das alles – und dass ich diese meine verwunderte Traurigkeit ihm zumute – habe ich in einer Mail geschrieben.« »Behalten Sie doch Ihren blöden Hammer«, poltert Hirtberg, und: »Ihre schnöde Papperlapapp-Haltung tut’s nicht mehr. Sie kommen jetzt an Dimensionen, mit denen Sie sich auseinandersetzen müssen und es auch wollen. Das ist alles andere als langweilig, aber auch anstrengend, schwierig. Steuererklärung versus Verliebtheitsaktivitäten – eine merkwürdige Alternative.« Verständnisloses Kopfschütteln. »Der überfordert sich komplett, hat vielleicht wirklich keine Zeit.« »Damit verteidigen Sie ihn.« »Was mir widerstrebt. Ja, geht mir gegen den Strich, Jean-Laurent und mithin

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

seine Handlungs- bzw. Nichthandlungsweisen zu verteidigen, zumal sie mir emotional schaden.« »So ist das zu Beginn einer Liebesbeziehung: in höchstem Maße ambivalent. Es kann eine Katastrophe, aber auch was Wunderschönes werden.« »Und in diesem Beginn einer Liebesbeziehung, wie Sie das nennen, in dieser Ambivalenz und den ganzen anderen Ambivalenzen falle ich in dunkle Löcher, greife auf Muster zurück, die ich fast abgehakt glaubte …« Mir schießen Tränen in die Augen. Hirtberg neigt den Oberkörper ein wenig vor, sieht mich an und spiegelt meine Traurigkeit mit seiner warmen, weichen Stimme. »Sie sind traurig.« Mit meiner Beherrschung jetzt erst recht fast am Ende, frage ich mich, wieso überhaupt ich mich zusammenreiße. Wenn er mich noch einmal so ansieht, ist es um die Affektkontrolle endgültig geschehen. Sicherheitshalber konzentriere ich mich auf seine Ohren, die eine Idee zu groß geraten sind. Das Schlimmste ist meine panische Angst, dass alles wieder so wird, wie es war. Ganz sicher: Zurück will ich nicht, spüre sogar Wut auf Timo, der nicht aufhört, mich anzurufen, als hätte sich nichts geändert. Einmal schmeiße ich mein Handy, das darob die Rückwand verliert, im hohen Bogen in die Ecke. Möglicherweise resultiert die besondere Brisanz der Situation aus dem unheilschwangeren Ungleichgewicht, das mir, in der Organisation permanent unterfordert, im Augenblick erlaubt, anders als Jean-Laurent, mit meiner Zeit Verstecken zu spielen. Was für sich genommen schon problematisch genug ist. Jean-Laurent nicht zu fragen, ob er am Abend Zeit hätte, entpuppt sich als extreme Herausforderung. Ungewissheit. Maximale Ambivalenz. Wie hat Hirtberg gesagt? Ambivalenz halten Sie nur sehr schwer aus. Kekse schaffen Klarheit: Spätestens mit ihnen ist der Tag definitiv im Arsch. Flucht aus der Ambivalenz. Eine der Ambivalenz angemessene Reaktion wäre es, sie auszuhalten. Abzuwarten und zu gucken, ob sich nicht doch alles zum Guten wendet. Und wenn nicht – auch das Schlechte wäre das Gute: Klarheit nämlich. Die ist immer noch besser zu handhaben als Ambivalenz. Für das Schlechte, konkret: Jean-Laurent nicht zu sehen, lässt sich eine Lösung finden. Eine Fantasie entwickeln, die mich zu ihm trägt und jene innere Nähe fühlen lässt, die nicht existieren kann, wenn ich der Artistin gestatte, zuzuschlagen, und mich in Verbrüderung mit ihr selbst verzehre, statt wahrzunehmen, was sonst noch ist. Zwei Uhr. Keine Ahnung, ob wir uns sehen, keine Ahnung, wie es mit unserem Publikationsprojekt weitergeht. Treffen offen, Projektfinanzierung offen, alles offen … Eines Tages krepiere ich jämmerlich an dieser Ambivalenz! Es ist zum Kotzen, am liebsten würde ich jetzt … doch wo ist meine Gier? Stattdessen: Magen zu. Halb fünf. Keine SMS, kein Anruf, grenzüberschreitende Enttäuschung. Was habe ich erwar134 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

tet? Dass er mich überraschen, anrufen würde, »Du, Liebe, in einer Stunde bin ich bei dir?« Er nennt mich Liebe. Wie soll ich mit der Einsamkeit umgehen, die ein Lover zu verantworten hat, der von einer Sitzung zur nächsten, von einem Ausschuss zum anderen hastet? Der nie da ist und nie da sein wird, das aber nicht klar und deutlich sagt und damit genau das kreiert, was bei mir zum unaushaltbaren emotional overkill führt: Ambivalenz eben. Am liebsten würde ich ihn anbrüllen, dass er sich zur Hölle scheren, mich in Ruhe lassen und aufhören soll, mir Hoffnungen zu machen, die er nicht erfüllen kann. Soll er doch dazu stehen, dass er nicht bereit ist, beruflich kürzer zu treten und sich vernünftig zu organisieren. Himmel, der ist Französischlehrer, nicht Manager eines weltweit operierenden Energiekonsortiums! Mit unglaublicher Wut im Bauch fühle mich verschoben, vertröstet, verlassen, vergessen. Immerhin: Ich spüre. Halte aus. Drücke nichts weg. Immer noch nicht. Hilflosigkeit, Ohnmacht, Einsamkeit, Sehnsucht. Immer das Gleiche, zum wahnsinnig werden, ein brodelnder Cocktail aus brennender Wut und … ja, was eigentlich? Traurigkeit? Enttäuschung? Verletzter Eitelkeit? Wahrscheinlich ruft Jean-Laurent später an, um mir zu erzählen, dass er »weggeschlafen« ist oder ähnlichen Scheiß. Stünde ich um vier Uhr morgens auf, um zu erledigen, was zuvor aus schierer Unorganisiertheit versäumt wurde: Wahrscheinlich nutzte auch ich jede nicht verbuchte Stunde, um dem bluthochdruckgeplagten Körper zu geben, was er braucht. Schlaf zum Beispiel. Ich bin ihm nicht wichtig. Er sagt, dass ich ihm wichtig bin, genau so wie alle anderen. Außer Hirtberg. Der sagt wenigstens nix. Erato, der nach zwei Stunden aus meinem Bett springt, um heimzufahren, weil der Familienhund – man stelle sich das vor! – nach Frolic lechzt. Jahrelang Jurij: Er unterwegs in der Welt und ich unterwegs in wirren Fantasien. Hirtberg geht nach exakt fünfzig Minuten in den Off-Modus. Die fünfzig Minuten ist er allerdings wirklich und leibhaftig da. Für mich allein. Hirtberg und seine fünfzig Minuten sind berechenbar. Eindeutigkeit statt Doppelbödigkeit. Keine Spielchen, keine Ambivalenz. Ich kann mich darauf verlassen, dass es niemals anders sein wird als jetzt. Unangenehm, aber zuverlässig. Schließlich ist die Spannung nicht länger auszuhalten, ich lasse die Artistin gewähren. Später, als der Spuk vorbei ist, finde ich mich verloren im Sommergewitter, in dem sich Regen und Tränen zu einem Schleier verbinden, der mich umgibt und abschottet gegen die Welt. Ich schalte mein Handy aus, will Jean-Laurent nicht hören und vor allem vermeiden, dass er meine Stimmung mitbekommt. Er würde mich für hysterisch halten. Was ist Wahrheit, was Interpretation und was wirre Fantasie? Orientierungslos in Regen und Tränen schwimmend frage ich mich, wie lange ich das durchhalte, kann mich nicht erinnern, wann zuletzt ich so viel geweint habe wie in diesem bizarren Sommer, der sich nun dem Ende neigt mit endlosem Pladdern, grollenden Gewit135 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

tern und der irren Frage, warum Jean-Laurent mich mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln, wunderbaren Formulierungen mit Witz und Tiefgang verliebt gemacht hat – so lange, bis sich meine Vorsicht in Sehnsucht wandelte und in eine Ambivalenz, in der ich immerhin erkenne, dass zu weinen besser ist als gar nichts zu spüren. Weinen bedeutet auch Lebendigkeit. Die Stunden mit Jean-Laurent möchte ich nicht missen, selbst die nicht mit Erato. Und am allerwenigsten die zuverlässig wiederkehrenden fünfzig Minuten. »Ist irgendwas?«, erkundigt sich Jean-Laurent am frühen Morgen. Natürlich kann er mich nicht erreichen, wenn ich mein Telefon ausschalte. »Nein, nein, alles in Ordnung«, lüge ich mit eher zugeschnürtem Hals. Du kannst dir keine weiteren Entblößungen mehr leisten, zischelt Dietlinde. Sie schickt mich ins verdammte Schneckenhaus, in das ich gar nicht will. Jean-Laurent ist weit weg. Keine Verbindung. Brutal abgerissen. Mitten in der Nacht ruft Wolfgang an, er sei aus der Türkei zurück. Zweimal haben wir uns vor seinem Urlaub getroffen. Das zweite Mal gab Anlass zu wilden Fantasien, offenbar auf beiden Seiten. Jetzt irritiert er meine Jean-Laurent-Fixierung, was mich um Nuancen fröhlicher stimmt. Wolfgang ist schlank, drahtig, sehr sportlich und sieht deutlich jünger aus als sechzig. Um genau zu sein: Er sieht besser aus als die meisten Vierzigjährigen. Vom Radfahren sind seine Oberschenkel stahlhart, mäßig gebräunte Haut, makellose Zähne. Er holt mich ab. In seinem schwarzen Sport-BMW fahren wir zum Reitturnier, kaufen uns eine Tüte bunter Weingummischnüre, wenn wir beide die Mitte erreicht haben, schmecken seine Lippen nach Waldmeister und Zucker. Äußerlich ansprechend und überdies sofort verfügbar, entwickle ich kurzfristig die gar nicht so absurde Idee, mit diesem Püppchen kurzerhand das Püppchen Jean-Laurent umzunieten. Was mir allerdings, wie ich am Abend eines durchaus vergnüglichen Nachmittages eingestehen muss, nur partiell gelingen will: Im Gegensatz zu diesem überintellektualisierten Pauker will Wolfgang mich. Mit Haut und Haar. Seit kurzem bildet sich ein unschöner Wasserfleck an der Decke des Hirtberg’schen Sprechzimmers. Jetzt ist man offenbar dabei, den Schaden in der dritten Etage zu beheben: Mit schwerem Gerät rückt man Mauerwerk und Kacheln zu Leibe. Wir müssen uns anbrüllen. »Sie gestatten, dass ich mal was näher rücke«, zwinkert Hirtberg mir verbal zu und zerrt ein paar Fransen des bunten Baumwollteppichs aus einem der Röllchen seines blauen Sessels. Meinetwegen darf er gern noch näher kommen. Die mechanische Blockade ist ja nun beseitigt. Während meine innere Überzeugung großzügig erlaubt, ja, mich auffordert, JeanLaurent zu vertrauen, schreien die nie verstummenden Stimmen von Gerhard und Dietlinde: Schmeiß dich nie einem Kerl an den Hals, hast du denn gar keinen Stolz, halte 136 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

dich zurück, mach dich rar, dann – und nur dann? – wirst du geliebt. So ein Scheiß! Warum wird mehr geliebt, wer sich rar macht? Das sind doch Spielchen! Daraus ergibt sich die Frage: Haben sie mich nur geliebt, wenn ich nicht störte? Wenn ich nicht da war? Wie oft haben sie mich fortgeschickt? Weggesperrt? »Na, immerhin, an dieser Stelle sind Sie sicher. Sie sind davon überzeugt, dass das, was Sie tun, in Ordnung ist. Wir haben lange daran gearbeitet, um hierhin zu kommen, hmm?« »Ja.« »Was Sie fühlen, ist nicht Zweifel. Es ist Scham. Abhängigkeitsscham.« Aha. »Eine intakte, befriedigende Liebesbeziehung erlaubt auch Spontaneität. Begegnungen, die nicht dem Terminkalender, womöglich noch mit genauer Von-bis-Angabe, folgen. Es braucht Raum für den Augenblick: Du, ich will dich jetzt sehen. Dann sollte der Andere das nicht nur annehmen, sondern auch teilen können.« Pause. Mir fällt nichts ein. »Was Sie dazu brauchen, ist emotionale Sicherheit. Und die fehlt komplett. Es geht um Ihr inneres Erleben, und das ist geprägt von Angst vor Zurückweisung und Ablehnung, von der Überzeugung, als störend, überflüssig, ja lästig empfunden zu werden.« »Ja, dieses Gefühl liegt als archaischer Felsbrocken in einer Wüstenei von Missempfindungen herum …« Noch habe ich weder eine Ahnung, welcher Stoff ihn zu sprengen in der Lage sein wird, noch was eine eventuell gelingende Sprengung bewirken wird. Fatalerweise ist wohl damit zu rechnen, dass, fiele die felsbrockige Blockade weg, sich die – gefühlte – Impertinenz meines Verhaltens noch steigern und ich mich selbst jeder Aussicht auf Zuwendung berauben würde. »Wissen Sie, Hirtberg, kaum, dass ich den blockierenden Felsbrocken übersteige, in dem ich meiner Sehnsucht nach Nähe und Anerkennung Ausdruck verleihe, komme ich mir schäbig vor, wie eine schrundige Obdachlose, japsend wie ein kläglich verendender Fisch auf trockenem Sand, vergehe vor Scham angesichts meiner Bedürftigkeit …« »Sie wollen ja immer Fachtermini«, grinst Hirtberg, »und wenn Sie etwas dazu lesen wollen, gucken Sie sich doch mal unter dem Stichwort Objektbeziehungen um. Sie übertragen aus früheren Beziehungen Gelerntes auf ein anderes Objekt, auf Jean-Laurent in diesem Fall. Oder auf mich, indem, obwohl ich Ihnen angeboten habe, zehn Minuten früher hier zu sein, weil ich zehn Minuten früher gehen muss, Sie eben nicht zehn Minuten früher hier sind.« »Ein Dilemma, dem ich nicht zu entrinnen weiß: Entweder ich bremse mich aus vor lauter Panik, lästig zu sein, oder ich verhalte mich impertinent und vergehe beinahe vor Scham ob dieses infantilen Verhaltens, das bei einem souveränen Mann mit normal entwickeltem Selbstwertgefühl nur als Lächerlichkeit ankommen kann. Bei Ihnen funktioniert das nur deshalb einigermaßen, weil Sie dafür bezahlt werden, meine Impertinenz zu ertragen.« 137 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Das sagt Ihr Gefühl, und zwar auf dem Fundament in Kindheit und Jugend implantierter Verlustängste.« »Emotionale Sicherheit allein reicht aber doch wohl auch nicht. Diese Sicherheit könnte ich haben: Was sonst bietet Timo an, wenn nicht Sicherheit?« »Sicherheit verbinden Sie automatisch mit, hmm, ja, mit gepflegter Langeweile. Das muss nicht sein. Emotionale Sicherheit kann es auch bei gleichzeitig konstanter erotischer und intellektueller Anziehung geben. Hat dieser Mann aus Bonn eigentlich nicht das dringende Bedürfnis, Sie zu sehen?« »Gute Frage!« »Wenn ein Mann eine tolle Frau kennen lernt, können doch nicht allen Ernstes knapp hundert Kilometer zu weit sein! Da fahre ich doch spontan los.« »Ja, Hirtberg. Sie fahren sofort los. Ich auch. Sie würden ja auch top zu mir passen. Aber auf den Praxistest werden Sie es ja bekanntlich nicht ankommen lassen.« »Fragen Sie sich, oder am besten auch ihn, wie ausgeprägt sein Bedürfnis nach Nähe und Bindung ist. Betrachten Sie ihn als Individuum. Betrachten Sie seine Bedürfnisse als solche, die mit Ihnen erst mal nichts zu tun haben. Klären Sie, ob seine Vorstellungen überhaupt mit Ihren übereinzubringen sind. Vielleicht hat eine Frau gar keinen Platz in seinem Leben?« »Zumindest gegenwärtig scheint es so zu sein.« »Selbst wenn seine Argumente noch so nachvollziehbar sind, er beteuert und glaubhaft versichert, Ihnen Sympathie und Interesse entgegenzubringen – sich gar verliebt hat und scharf auf Sie ist, Fakt ist: Was auf der Erlebensebene geschieht, reicht Ihnen nicht.« »Nee, absolut nicht! Zwar kann ich gut allein sein, mich beschäftigen, schreiben zum Beispiel. Dies umso besser, wenn ich mir zwischenmenschlicher Nähe, und sei es auf einer gewissermaßen transzendentalen Ebene, gewiss sein kann, dass der Andere sie ebenso empfindet … Aber Sie haben recht: Auf der Ebene realen Erlebens ist das nicht genug. Ehrlich gesagt: Ich gehe auf dem Zahnfleisch.« »Fragt sich, was er bereit ist, aufzugeben. Für Sie aufzugeben. Müsste man mal gucken, was sich da, ein bisschen provokativ, noch entlocken, ob sich nicht die Testosteron-Ausschüttung ein wenig intensivieren lässt.« Zerreißende Sehnsucht bereitet mir körperliche Schmerzen, die sich nicht zuletzt in der Rückkehr der Artistin ausdrücken. Trotzdem bin ich nicht bereit, dem Schrecken die Spitze zu nehmen und ihm ein Ende zu bereiten, bevor er zu einem ohne jede Aussicht auf Entspitzung gerät. Paradoxerweise ist es ausgerechnet mein Verstand, der mir rät, zu glauben und auf unsere Chance zu vertrauen. Jean-Laurents blaugraue Augen strahlen, als er mir gleich im ersten Satz dafür dankt, dass ich gekommen bin. So echt, dass ich mich nicht lästig fühle, sondern spontan und lebendig an diesem spätsommerlichen Abend, an dem wir noch einmal in einem der quirligen Straßencafés die laue Luft genießen. »Das ist jetzt aber nicht immer so kompliziert und stressig, wenn wir uns sehen 138 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

wollen?«, merkt Jean-Laurent in minimal ironisch gefärbtem Ton an, während er sich eine Pfeife stopft. Als ob das an mir läge! Wir müssen erst mal beieinander ankommen. Empfindet er mich als ebenso fremd und gleichzeitig anziehend wie ich ihn? Entrückt und doch so nah. Ich spüre seine Gegenwart auf der Haut, obwohl wir uns nicht berühren. »Du meinst jetzt nicht meine kurzerhand beschlossene Fahrt hierher, oder?« »Nein.« Er lächelt, moi aussi, nous sommes d’accord, was die Diffizilität organisatorischer und emotionaler Natur betrifft, die unserem mitternächtlichen Rendezvous voran gegangen sind. »Was mir wirklich zu schaffen macht«, er guckt mich ernst an, »ist deine wiederkehrende Enttäuschung. Wie soll ich damit umgehen?« Idiot. Er braucht doch einfach nur aufzuhören, Enttäuschung auszulösen! Unten am Fluss ist es lebendig und der Lebendigkeit ultimatives Plus sind seine zärtlichen Berührungen sowie die Geschichte über seinen besten Freund, die er mir erzählt: ein Mosaiksteinchen aus dem emotionalen Kosmos eines Individuums, das in diesen Minuten mein Universum bedeutet. Im Taumel überraschten Staunens angesichts dessen, was geschieht, frage ich mich und ihn, was das ist, mit uns … »Und was das werden soll?« Er nimmt mir die Worte aus dem Mund. Weiteres bleibt unausgesprochen. Noch drei Minuten etwa, dann sind wir in seiner Straße, wo er mein Auto verlassen und nach Hause gehen wird. Ohne mich. Wir halten an einer roten Ampel, ich schließe für eine kleine Ewigkeit die Augen, spüre seine Hand auf meinem Schenkel, ziemlich weit oben, und habe das Gefühl, dass wir hinsichtlich der sich in nächtlicher Septemberluft verfangenden Frage Ähnliches denken und wünschen. »Du meinst, ich sollte die Entscheidung zeitlich etwas forcieren? Ich habe den Eindruck, du kommst mit diesem Schwebezustand nicht klar, du brauchst was Stabiles, was Festes«, sagt Jean-Laurent, dem es an Mut gebricht, mit seiner Frau, seiner Familie, der Verwandtschaft – ja, auch der, verdammter Familienheini! – endgültig zu brechen. »Kann sein … Andererseits: Genau aus dem Gegenteil eines Schwebezustandes flüchte ich doch gerade.« Jean-Laurent legt Wert darauf, dass er der one and only ist, und er legt Wert auf einen gemeinsamen Alltag. »Eine Distanzbeziehung kommt nicht in Frage«, sagt er. »Das ist schon was anderes, mit uns«, sagt er, »ich will dich nicht verstecken, ich will mit dir protzen«, sagt er, »es ist toll, dass du her gekommen bist und dass du so bist, wie du bist, so offen … mach dir keine Gedanken, das ist so ein Geschenk«, sagt er. Wann immer wir zusammen sind, vertraue ich ihm vorbehaltlos, bin sicher, dass es so ist, wie er es sagt. Trotzdem wünsche ich, er möge aufhören mit dem indifferenten Gequatsche.

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Loschad galoppiert in ruhigem Dreitakt, der Waldboden federt seine Sprünge ab. Meine Intuition spricht klar mit mir: Jean-Laurent will das, was mit uns ist. Goldenes Licht bricht durch Laub, das, ganz vorsichtig noch, beginnt, seine grüne Färbung zu verlieren. Und wenn er in hundert Beiräten vertreten, an tausend Tagen entweder völlig erledigt ist oder keine Minute Zeit hat, und sich in Folge dessen nicht als Gentlemen präsentiert, der seiner Angebeteten die Aufwartung macht: Die daraus resultierende Unsicherheit – Ambivalenz – kommt nicht aus mir und ist nicht meine! Da wüten Gerhard und Dietlinde, gefangen in fragwürdigen Konventionen, mit denen ich nichts zu tun haben will und aus deren Fesseln ich mich endlich, mit geduldiger Unterstützung von Hirtberg, zu befreien suche. Als um ihre Autonomie ringende Frau möchte ich kein Problem damit haben, Jean-Laurent meine Zuneigung zu schenken, nicht ganz bedingungslos zwar, aber immerhin. Wenn ich falle, ist es zum Leiden früh genug. Eines jedoch ist sicher: Zu fallen, ist mit größter Wahrscheinlichkeit nicht Konsequenz eines offenen Umgangs mit Gefühlen. Solange Liebe lebt, darf Sehnsucht sein. Sobald sie stört, ist längst anderes weggebrochen. Timo schreibt E-Mails, mitunter mehrere am Tag: virtuos formuliert, inhaltlich getragen von Alltäglichem. Plötzlich ist er sportlich, nimmt ab, zeigt sich aktiv. Mit seiner Sprache, seiner Wortgewandtheit und seinem Humor, seiner scharfen Beobachtungsgabe und seiner zunehmenden äußeren Attraktivität nähert er sich seinem ursprünglichen Bild. Doch was er jahrelang nicht hinzufügen wollte, wird er auch jetzt nicht hinzufügen: Mut, Biss, Lebendigkeit, Dynamik, Initiative. Ohne das will ich nicht leben. »Na, dann nehme ich mal selbst heute auf meiner Couch Platz«, grinst Hirtberg und spielt damit auf meine fortgesetzten Schwierigkeiten an, mich eben dort hinzulegen. Er lässt sich auf dem hellen Velours nieder und ist nicht mehr als einen guten Meter von meinem Sessel entfernt. Anders ist die Kommunikation angesichts des fortdauernden Baulärms nicht möglich. Resultat der letzten Stunden: Ambivalenz ist das Tor zur Humanität. Ambivalenz ist Sowohl-als-auch. Einerseits-andererseits. Absolut kontraproduktiv: Entweder-oder. Schwarz-weiße Radikalität. Ich komme darauf zurück: »Das Ambivalenzproblem steckt nicht nur in mir, sondern, so finde ich, auch in Jean-Laurent: Im Hinterkopf habe er, eigener Aussage zufolge, die Frage, ob es einen Neuanfang mit seiner Frau geben kann. Für ihn auch eine Glaubensfrage. Mich haut das total um. Andererseits könne er sich vorstellen, sich zu Gunsten eines gemeinsamen Alltags nach Liefem versetzen zu lassen. Meine Zielvorstellungen sind offenbar weiter gediehen, so wie auch meine Trennung von Timo weiter gediehen ist als seine, mit der er sich allerdings schon seit drei Jahren herumschlägt. Er sei von einer anderen Voraussetzung ausgegangen, nämlich derjenigen, dass ich, wie im Profil bei »I-Love« angegeben, eine unkonventionelle 140 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Beziehung suchte. Und nun habe er festgestellt, dass ich etwas Festes und mithin sehr Konventionelles will, nämlich eine richtige Partnerschaft – ohne Wenn und Aber. Ehrlich gesagt stelle ich das auch gerade erst fest. »Natürlich habe ich im Internet zunächst nicht mehr als eine unkonventionelle Geschichte in Betracht gezogen. Allerdings meine ich, dass vergleichsweise schnell klar wurde, dass ich nur bedingt der Typ für unverbindliche Affären bin. Aus der Erkenntnis, Ambivalenz nicht oder nur unter Mühen auszuhalten, liegt es nahe, zu entscheiden: Lassen wir’s besser ganz …« »Vielleicht kann er nach Klärung seiner Glaubensfragen über eine neue Beziehung nachdenken«, wirft Hirtberg ein wenig spitz ein. Es nun ganz zu lassen, wäre allerdings der Ambivalenz der Situation nicht gemäß: Immerhin vermittelt er doch überzeugend, dass er sich eine Liebesbeziehung mit mir vorstellen kann. Am Ende ist sein Glaube an seine Ehe stärker. »Sie machen ein Angebot«, sagt Hirtberg. Mir ist es so unendlich peinlich, mich anzubieten. Warum kann ich nicht vertrauen? Warum plagen mich nahezu tödliche Zweifel, wenn ein paar Stunden lang keine SMS kommt? Mich durchfährt es ein ums andere Mal wie ein Blitz, wenn ich mir vorstelle, ich würde vertrauen und mich fallen lassen, um sodann, womöglich nach Wochen, zu erfahren, dass er ohnehin mit angezogener Handbremse fährt, es doch mit der Ehe noch mal probieren will. Das halte ich nicht aus. Da hilft dann allerdings auch die Artistin nicht weiter … Kann keine Leslie Feist mehr hören, schmeiße kurzentschlossen seine CD in den Müll, finde keine Worte für das, was in mir und mit mir geschieht, die ganze Sache hat mich derartig im Griff, dass es schier unmöglich ist, etwas anderes zu tun, als mich gedanklich mit ihm zu beschäftigen … kein Raum für anderes. Fülle, Gespanntheit, Euphorie und Traurigkeit, Hoffnung und Verzweiflung im Wechsel von Stunden. »Sie wissen, dass Ihnen das alles nicht reicht«, stellt Hirtberg sachlich fest, während mich bei meinem ganzen Lamento das Gefühl beschleicht, ihn zu verraten, indem ich ihn mit diesen Idioten betrüge. Er hat recht, wenn er lapidar feststellt, dass ich für Jean-Laurent eine Affäre bin. Er hat den Schritt, sich von seiner Frau in dem Maße zu lösen, wie ich es von Timo getan habe, nie vollzogen. »Sie sind seine Geliebte. Sein Verhalten hat nichts mit Ihnen zu tun, sondern mit seiner eigenen Problematik. Der Platz für die Rolle, die Sie spielen möchten, verständlicherweise, ist nicht frei. Der Mann ist nicht frei.« »Machen Sie doch einfach nichts«, sagt er in eine Pause hinein und formuliert damit einen weiteren Schlüsselsatz. »Und: Sie müssen nichts beenden. Sie müssen auch nichts forcieren. Gucken Sie, wie es Ihnen mit der Situation geht.« Nun, das sehe ich ja, wie es mir damit geht: wie auf der Achterbahn. Traurig, misstrauisch, enttäuscht, beschämt und wütend. Euphorie, Vertrauen und Zuver141 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

sicht in der geistigen und körperlichen Begegnung, zwölf Stunden später wieder das Gegenteil und so fort. Mit einem Gefühl, das mir in dieser Situation neu ist, verlasse ich die Praxis. Hirtberg würde es wohl mit dem Etikett Wut versehen. Wut auf Hirtberg? Weil er, statt meine Befürchtungen zu zerstreuen, meine negativen Fantasien zusätzlich beflügelt? Mich damit total nervös macht, statt mich aufzufangen? Kann nicht sein, unmöglich, ich bin sauer auf diesen bigotten Familienpapa und auf mich selbst. Beim Aufwachen an nächsten Morgen fühlt sich das Leben an, als sei alles gelaufen. Obwohl ich ins Büro muss, hocke ich eine geschlagene Stunde nicht wie gelähmt, sondern gelähmt im Bett, überlege, was überhaupt noch Sinn macht, zwinge mich, nichts zu tun, und, wohl oder übel, Hilflosigkeit und das Gefühl des Ausgeliefertseins zu ertragen. Ich halte aus und beherrsche mühsam, unter Aufbringung aller mir zur Verfügung stehenden Kraft, den Impuls, Jean-Laurent mit weiteren SMS und Ähnlichem zu behelligen. Nach dem Duschen melde ich mich krank, verfüge mich mit eine Tasse Tee und meinem Notebook wieder ins Bett. Schreibend träume ich ein bisschen von Hirtberg, den ich irgendwie aus Kopf und Herz radieren muss. Dabei verfluche ich Neutralität und Distanz und vor allem diese bescheuerte Abstinenzregel.

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Versuch zu reisen

I

n seinem Profil bei »Parship« wünscht er sich unter der Rubrik »Wünsche und Träume« Unsterblichkeit für seinen geliebten Hund. Ich finde das, formuliert von einem Mann, ziemlich ungewöhnlich, komisch und rührend zugleich. Neben Ringelsocke und Waldschrat, beide angeblich getrennt lebend, schicke ich Unsterblich, immerhin geschieden, drei Kinder, freischaffender Künstler von Beruf, ins Rennen. In meiner Kandidatenliste nenne ich ihn Unsterblich. Seine zweite Nachricht schreibt er, als er gerade aus der Schweiz zurück ist, dort habe er im Angesicht der drei mächtigsten Berge Europas – Mönch, Eiger und Jungfrau – mit seinem fünfundneunzigjährigen Professor den ganzen Tag lang philosophische Gespräche geführt und viel gelacht. Wo Geist ist, sei auch Humor, schreibt er und fragt mich im gleichen Atemzug, ob ich Lust auf drei Tage Bergwandern in der Schweiz hätte, danach kenne man sich ziemlich gut, er habe zwar einen strengen Zeitplan, aber irgendwie gerade Lust, diesen wunderschönen Spätsommer zu genießen. »Kompliment«, antworte ich postwendend, »das ist bis jetzt die originellste und mit Abstand mutigste Art, ein weiteres Kennenlernen vorzuschlagen.« Was den Tatsachen entspricht. »Das Lustige an der Sache ist«, lasse ich ihn vorsichtshalber jetzt schon wissen, dass ich »Wandern extrem langweilig finde und nicht ohne Not und Gebot auf die Idee käme, mehr als einen Kilometer zu Fuß zu gehen. Es sei denn, vier schwarze Beine trügen mich durch Wald und Feld. Nun gesellen sich, was mich betrifft – ich muss die Sache ja irgendwie relativieren –, zur Bequemlichkeit eine ungeheurere Lust auf Abenteuer, na, sagen wir: Lebendigkeit, Neugier und Naturverbundenheit. Bist du dir im Klaren darüber, dass ich mir ein solches Unterfangen vorstellen kann?« Natürlich habe ich mir seine Homepage, deren Adresse er mich bereits in seiner ersten Mail wissen ließ, studiert und bin einigermaßen über das im Bilde, was er als freier Künstler tut, und finde das ziemlich sympathisch. Er ist der erste Kandidat, der meine Mails sofort beantwortet, kein tagelanges Warten, ruck, zuck sind wir mitten drin. »Na siehst du!«, lese ich am Abend, »abenteuerlustig bin ich allemal, und je ungewöhnlicher ein Ansinnen, umso vielversprechender ist es. Mein Zeitplan ist eng«, was er ja bereits anmerkte, »aber wenn wir uns kennen lernen wollen, müssen wir etwas unternehmen. Von mir aus auch Rügen und Reiten am Strand. Ich würde so gern Reiten lernen! Meiner Tochter habe ich vor Jahren ein Pferd gekauft, kenne das ganze

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Drumherum bestens, aber geritten bin ich das letzte Mal als Sechzehnjähriger! Lass uns doch unkonventionell und spontan frisch eine gemeinsame Unternehmung erwägen!!« Das Schreiben über die Stunde mit Hirtberg fließt nicht. Unter anderem gestehe ich, dass es mit dem Essen wieder zunehmend schwieriger wird. »Seit wann ist das so?« »Seit es im Büro so extrem langweilig und tot ist.« »Das ist es doch immer, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Was würden Sie lieber tun, statt Ihr Symptom zu leben?« »Mit Jean-Laurent am Rhein spazieren gehen«, sage ich. Mit Ihnen am Rhein spazieren gehen, denke ich. »Da ist auch ganz viel Sehnsucht, hm? Wonach sehnen Sie sich so?« »Weiß ich nicht. Liebe, Anerkennung, keine Ahnung.« Nach einer Berührung von Ihnen, Hirtberg. Aber das sage ich nicht. »Auch nach Bewunderung?« »Weiß ich auch nicht. Ja, vielleicht ein bisschen. Auf jeden Fall nicht nach Sicherheit und Stabilität, jedenfalls nicht ausschließlich. In aller Ausschließlichkeit kann ich beides bei Timo finden. Was ihn betrifft, kann ich gut mit dem leben, wie es im Moment ist, eben etwas zwischen Schwarz und Weiß. Hören Sie, Hirtberg, da schreibt er, Timo, mir doch tatsächlich, es gebe nicht nur Schwarz oder Weiß, und tut so, als ob das jetzt seine Erkenntnis sei, dabei rede ich seit Wochen davon!« »Timo nimmt Sie nicht wahr. Da ist keine Auseinandersetzung, schon gar nicht im positiven Sinne.« Hirtberg beugt sich ein wenig vor, stützt die Ellebogen auf seine Oberschenkel. »Da gibt es ja in Ihrem Text die Analysandin, die offenbar in Ihren Analytiker verliebt ist, diesen Hirtberg, der ja noch eitler auftritt als ich. Dieser Hirtberg«, fährt er fort, »ist ja nun gemäß seiner Darstellung ausgesprochen selbstverliebt.« Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund sei er zu dem Entschluss gekommen, zu thematisieren, dass er sich gewissermaßen in meiner grenzenlosen Bewunderung sonnt. Hier, meint er, gälte es doch wohl etwas zu klären. Er guckt mich geradeheraus an. Ich kapiere: Er spricht von den acht Seiten, aus denen hervorgeht, was ich für ihn empfinde. »Bisher habe ich das Thema bewusst ausgeklammert, jetzt aber scheint es mir an der Zeit zu sein. Sie können mich ja meinetwegen sexy finden, aber wir sollten doch mal gucken, was es damit auf sich hat, und was das für diesen Jean-Laurent und überhaupt Ihre Männergeschichten bedeutet.« Mir ist das peinlich, aber weniger schlimm als erwartet. »Mich wundert, dass Sie mich jetzt erst darauf ansprechen, auf meine, wie soll ich sagen? – tja, nun gut: Verliebtheit. Hat das Gründe, dass wir die nicht früher thematisiert haben?« Seine Erklärung ist überzeugend: Er habe angenommen, dass ich nicht früher die Souveränität besessen hätte, darüber zu sprechen, über dieses »kleine, zarte Pflänz144 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

chen«, wie er sich ausdrückt, von dem er es vorgezogen habe, erst mal die Finger zu lassen, um in Ruhe seine Entwicklung zu beobachten. Hirtberg ist mein absoluter Top-Favorit. »Jean-Laurent«, so erkläre ich, »war irgendwann eben Plan B. Wohl deswegen ist es mir überhaupt möglich, einigermaßen über meine Gefühle, was Sie betrifft, zu reden. Die sind etwas zur Ruhe gekommen: Meine Internet-Strategie hat sich, so gesehen, bewährt. Hellwach liege ich im Bett, als es weit nach Mitternacht auf den Tag zugeht, von dem ich spüre, dass es unser letzter sein würde. Der krönende Abschluss unseres Sommerwunders vor dessen rasantem Sturz auf den harten Boden seines Glaubens an die Chance eines Neubeginns. Was tun an diesem Abend, den Jean mit seiner Frau verbringt, nachdem wir uns stundenlang geliebt haben? Absolute Leere nach der Fülle überwältigender Gefühle, Stiche im Herzen, Tränen auf dem Parkett, gleich muss ich wischen. In der Gewissheit um die gegenwärtig stattfindende Aussprache, die grundsätzliche Fragen zum Inhalt haben wird, stürze ich mich, getrieben von Unsicherheit, auf den von der Artistin gebotenen Trost – und kann damit leben. Mit Genuss hat das gar nichts zu tun. Es ist ein lupenreiner Akt des Mordes an Gefühlen. Ich spüre förmlich, wie sie unter der Last gehetzter Nahrungsaufnahme ächzen, stöhnen, sich verbiegen, nicht verschwinden. Ich spüre, warum ich es tue. Das ist neu. Völlig anders als sonst. Mit bisher nicht gekannter Klarheit und Entschiedenheit quäle ich meinen Körper, um dem seelischen Schmerz weniger ausgeliefert zu sein. Anderentags umgibt mich, auf das Todesurteil einer wunderschönen Liebe gefasst, eine merkwürdige Ruhe. Eine völlig neue Art gelassener Traurigkeit, die sich im Laufe des Tages allerdings in bekanntem Maße in Hektik, übermäßig angespanntes Warten auf einen Anruf, eine Mail oder eine SMS verwandelt. Wieder eliminiere ich alle Gefühle mit Keksen, Pudding und Grießbrei, bis am Abend alles vorbei ist. Jean-Laurent et moi: C’est passé. Die Mails von Unsterblich irritieren und faszinieren mich gleichermaßen. Er nimmt Zwischenzeiliges wahr und reagiert adäquat: zwischen den Zeilen. Seine Art zu schreiben ruft zunehmend Fantasien hervor, die darauf schließen lassen, dass er etwas in mir berührt. Immer wieder betrachte ich seine Bilder im Internet. Studiere sie. Gucke, was man darin lesen kann. Ein Foto zeigt ihn mit seinem Hund, den er eng umschlungen hält und spitzbübisch in die Kamera zwinkert. Sein Lächeln entblößt eine Reihe unregelmäßiger Zähne, der Zweier oben rechts, von innen gesehen, steht ein kleines bisschen vor, ein Grübchen auf der linken Wange. Auf diesem Bild trägt er einen sportlichen, blauen Pullover, seine Haare stehen in alle Richtungen ab, was mir mindestens so gut gefällt wie die Tatsache, dass er, keine Selbstverständlichkeit für einen Mann um die fünfzig, über einen fülligen, dunkelblonden Schopf verfügt. 145 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Neben diesem Bild hat er eine Art Bewerbungsfoto freigegeben, was mich wundert: Das passt überhaupt nicht zum Klischee des Künstlers. Das dritte Bild zeigt ihn in nachdenkliche Pose: eine Hand am Kinn, den Kopf leicht in den Nacken gelegt, frontalansichtig, hinterfangen von einer großformatigen, abstrakten Bleistiftkomposition. Mager scheint er nicht zu sein. Fröhlich, kräftig, philosophisch. »Zumindest was etwaige Reiseziele betrifft, sind wir uns ja, wie’s scheint, nicht wesensunverwandt: Rügen kenne ich ganz gut, einer meiner besten Freunde aus Studienzeiten lebt dort. Wenn du noch nicht reiten kannst, sollten wir den Strandritt auf später verschieben – so einfach ist das alles nicht. Du würdest echt Reiten lernen wollen? Die meisten Männer nehmen schon Reißaus, wenn sie nur hören, dass eine Frau mit Pferden hantiert. Deswegen habe ich auch das Pferd aus meinem Profil genommen, mit – du wirst dich wundern! – spürbarem Erfolg. Du würdest dich auf das Abenteuer einlassen, mit einer wildfremden Frau, womöglich zuvor nie gesehen, irgendwo hinzufahren? Allein das finde ich, entschuldige den postpubertären Ausdruck – megacool. Wenn’s dir nicht so sehr um das Wandern geht: Was hältst du denn von einem Kurztrip nach Rom, Athen oder Kreta? Letzteres verbindet Kultur und Natur – man könnte auch wandern. Bei eventuellem gegenseitigem Auf-die-Nerven-Gehen böte sich dann immerhin noch Knossos an. Oder ein abkühlendes Bad in der Ägäis. Zürich finde ich auch nicht schlecht, aber da bist du ja jetzt schon. Genf ist auch toll, und am Gardasee war ich auch noch nicht, will ich aber unbedingt mal hin.« Unsterblich antwortet am gleichen Tag. Leider nur kurz. »Weder habe ich Angst vor Pferden noch vor starken Frauen, Unbekanntem zu begegnen, ist mein Job und dieses Spiel ›Wer hat Angst vorm schwarzen Mann‹ sehe ich hier auch nicht so richtig. Athen wäre super. Ich möchte endlich mal wieder ins Nationalmuseum und nach Delphi, eine Fahrt durch die Berge, und dann im köstlichen Mittelmeer baden.« »Habe ich irgendwas von einem schwarzen Mann geschrieben? Die Interpretation kapiere ich jetzt irgendwie nicht so ganz. Sprichst du zufällig griechisch? Ich nämlich nicht, was ja irgendwie auch blöde ist. Lässt sich mit Mitte vierzig wohl auch nicht kurzfristig erlernen. Mein EDV-Berater ist Grieche, kommt aus Athen. Er sagt, die Stadt sei extrem lebendig. Ich war mal dort, das ist aber schon ungefähr achtundzwanzig Jahre her. Wie es dort ums Baden bestellt ist, weiß ich nicht. Delphi klingt gut, dahin hat’s damals einen Landausflug gegeben, vor dem ich mich allerdings, kulturell weitgehend unbeleckt, gedrückt und stattdessen zum Verdruss meiner Eltern mit schönen Griechen geflirtet habe. Na ja, tempi passati. Gottlob.«

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Inzwischen finde ich den Gedanken, mit diesem Kandidaten einfach irgendwo hinzufahren, gar nicht mehr so abwegig. Am nächsten Morgen finde ich eine längere Mail und freue mich zu meiner eigenen Verwunderung bis in den Bauch hinein. »Bin nach einem kleinen Umweg über Bern wieder in Folzheim gelandet. Werde jetzt und morgen mein Büro ordnen, Termine abklären, für die nächste Zeit habe ich ein ziemliches Programm … Am Sonntag bin ich in Bremen zu der diesjährigen Präsentation des Remberti-Tunnel-Projektes, an dem ich seit vier Jahren mitwirke, du findest dieses weltweit einmalige Projekt auch auf meiner Homepage. Ich denke so an vier bis sechs Tage Griechenland, die müssen wir jetzt irgendwie terminlich auf die Reihe kriegen. Wie wäre es mit einem Flug nach Athen, Leihauto und los geht’s? Dann könnte man in der Tat das Nationalsmuseum besuchen und sich anschließend nach Delphi begeben, dort erst mal ausgiebig baden und dann das Orakel befragen! Ich finde unsere ganze Reise-Idee spitze, so herrlich frisch!« Ja, das ist sie, in der Tat. »Übrigens bin ich stolzer Besitzer eines VW-Bully-T4-Generation« – aha – »mit Tisch und Bett und Standheizung und so weiter. Die Rügen-Idee ist auch denkbar: Alles, was man braucht, schnell in den Bus geladen und ab geht’s, gemütliche Autofahrt, dann Quartiersuche. Spontan ist gesund. Angesichts der schon kühleren Temperaturen neige ich dazu, den Vorschlag Griechenland aufzugreifen, um noch mal den Sommer einzuholen. Möglicher Termin wäre bei mir eine der letzten Septemberwochen, wobei sich das am kommenden Dienstag klärt.« Über die Geschichte mit dem Bus muss ich laut lachen. Typisch Mann. Das schreibe ich natürlich nicht, sondern: »Offen gestanden weiß ich im Augenblick nicht so recht, wie ich reagieren soll: Einerseits reizt mich das ja total, mit dieser Reise, ich habe das noch nie gemacht. Du? Andererseits: Was machen wir, wenn wir uns gar nicht mögen? Was ich aber auch irgendwie nicht glaube. Bei mir geht das nur vom 28. September bis 1. Oktober. Bisschen kurz für Griechenland, findest du nicht? Wenn alles schief geht, klappt nicht mal das: Ich muss nämlich um diese Zeit nach München. Hast du nicht auch zufällig in München zu tun? Dann könnte man die Sache schön ausdehnen – bei Bedarf.« »Mir gefällt die Art und Weise sehr, mit der du dich an dieses Thema herantastest, offen und differenziert, spielerisch umkreisend. Falls wir uns überhaupt nicht mögen, was ich auch nicht glaube, werden wir als Erwachsene auch dafür eine angemessene Lösung finden. Auch das eine Frage des Stils. München ist eine großartige Stadt, vom Deutschen Museum über die Alte Pinakothek bis hin zum Biergarten gibt es da für mich mehr als viele Anknüpfungspunkte … In erster Linie aber bist du es, die ich kennen lernen möchte.« 147 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Kribbeln im Bauch. »Vielleicht gehen wir einen Abend ins Schauspielhaus oder irgendwo ins Kabarett. Schlage vor, wir fahren zusammen los, ich fahre allein zurück und du bleibst zu deinen Terminen da – entweder schweren Herzens oder Gott sei Dank. John Lennon hat mal gesagt: ›Das Leben findet statt, während du eifrig dabei bist, andere Pläne zu machen.‹ Wir wagen in dieser abgesicherten, kognitiv reflektierenden und überrationalisierenden Welt ein kleines Abenteuer. Ich freue mich darauf.« Mir gefällt seine Art, wie er mit diesem Spiel umgeht: ziemlich souverän. Das steckt an, ich werde mutiger. »Das topografische Ziel scheint dir vergleichsweise egal zu sein – mir übrigens auch, im Endeffekt geht es ja um Übergeordnetes. So gesehen könnten wir auch nach Wanne-Eickel fahren. Dass du so cool auf München einsteigen würdest, habe ich allerdings nicht gedacht, weil das ja nun wirklich nicht besonders spektakulär ist. Willst du fahren oder fliegen? Preislich kommt das fast aufs Gleiche raus, nur die Bahn ist deutlich teurer … Eine sehr umweltfreundliche Verkehrspolitik haben wir. Ja klar, wenn wir uns nicht mögen, sagen wir es uns mit Stil, sowieso. Der Gedanke amüsiert mich.« »Nun, wenn ich die Wahl habe zwischen Wanne-Eickel und München, nehme ich München. Ich bin beruflich teilweise so intensiv mit dieser Ruhrgebietsproblematik befasst, dass ich immer froh bin, eine, und sei es nur scheinbar, intakte Stadt mit innerer Kraft zu erleben! Was die Fahrt betrifft: Ich besitze einen gepflegten VolvoKombi, der mit Autogas fährt.« Jetzt gibt der auch noch den Preis auf hundert Kilometer an, ich muss wirklich laut lachen. Dass allerdings er mit Gas fährt, beeindruckt mich weit mehr als der VWBus. Nun gut, vierundfünfzig Cent. Weiter: »Damit könnte man bequem und mit gelegentlichen, vielleicht kulturell interessanten Zwischenstops nach München schweben, vielleicht wollen wir ja im ländlichen Bereich übernachten, was kostengünstiger ist und gerade im Frühherbst sehr schön sein kann. Warst du überhaupt schon mal im Schloss Neuschwanstein? Die Geschichte um Ludwig II. fand ich schon immer unglaublich kribbelig, habe das Schloss zuletzt mit sechzehn Jahren besichtigt, ein recht bewusstloses Alter. Ich freue mich auf unsere Tour!« Langsam fange ich an, ihm zu glauben, dass er sich freut. Und ich fange an, in Gedanken meine Tasche zu packen und erkenne mich selbst dabei nicht wieder. »Nein, Wanne-Eickel muss nicht sein, war ein Scherz. Soeben habe ich den Termin arrangieren können: Am Montag und Dienstag bin ich jeweils mehr oder weniger ganztägig im Verlag. Normalerweise würde ich fliegen. Normalerweise koppele ich meine Dienstreisen allerdings auch nicht an privates Amüsement. Das ist sozusagen 148 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

eine Premiere, in verschiedener Hinsicht. Ein Auto-Gas-Auto beeindruckt mich ja jetzt zugegebenermaßen mehr als jedes BMW-Sportcoupé, womöglich tiefergelegt und mit breite Schlappen, wie man in Pott sagt. Wir können gern damit fahren, ebenso gern aber mit meinem Golf, der ist auch nicht tiefergelegt. Theoretisch könnten wir am Freitag fahren, dann hätten wir das Wochenende, um diverse Dinge am Wegesrand und anderswo zu besichtigen – und wenn du mich dann leid bist, kannst du ja am Montag schon wieder zurück und ich nehme dann ein Flugzeug oder what ever. Das wäre eine denkbare Variante. Es gibt sicher noch mehr. Fatalerweise ist zu dem Zeitpunkt in München Oktoberfest, mit den Hotels wird es also schwierig. Verlagsseitig will man für mich reservieren. Wenn wir das wirklich machen wollen, dann müssten wir die Terminierung schnell festzurren. Schloss Neuschwanstein kenne ich nicht. Auch die Geschichte um Ludwig II. müsste ich nachschlagen, ich kam in Kontakt mit ihr wohl in jenem bewusstlosen Alter.« Diese Charakterisierung einer bestimmten Lebensphase gefällt mir. Der Typ scheint recht bewusst durchs Leben zu schreiten. Er schreibt, ihm gefalle meine Art, »mit wenigen Worten viel zu sagen. Fast ein Genuss.« Wieso fast? Er müsse, was die Terminplanung betrifft, weit ausholen, was er dann auch tut. »Definitiv frei bin ich ab dem 30. Oktober, und zwar durchaus eine Woche bis zehn Tage lang! Das ist schon Herbst! Somit könnten wir es einfach wagen, den Plan Griechenland wieder auszugraben und dem Sommer hinterherzufliegen, vielleicht sogar ohne Kulturprogramm, davon haben wir beide im Alltag genug … ääh, hust …, sondern eher in Richtung definitiv faulenzen, schlumpern und genießen. Ein befreundeter Notar hat ein Haus auf Mallorca, komplett eingerichtet, mit Fahrrädern, Strandnähe, in ballermannfreier Lage, auch eine Möglichkeit, oder wir setzen uns ins Auto und fahren nach Elba, ich liebe diese Insel. Man kann baden in kleinen Buchten und das unvergleichliche Licht dort genießen – samt der ausgezeichneten Küche! Handy aus und keiner kennt einen. Nächstes Wochenende sitze ich im Rahmen der Aktion ›Offenes Atelier‹ als Teil der Veranstaltung ›Utopia‹ in einem Pavillon und arbeite in aller Öffentlichkeit an Entwürfen zur Neugestaltung einiger Fassaden. Vielleicht hast du ja Lust, mit deinem nicht tiefer gelegten Golf vorher einen Besuch in Folzheim zu machen, sozusagen zum Beschnuppern, ich habe ein Gästezimmer und einen schönen Garten mit Brunnen – man kann eigentlich auch bei mir Urlaub machen … bloß nicht, da klingelt das Telefon, klappert das Fax und kommt die Post. Mein Traum, ein Ort, den ich schon lange besuchen wollte, ist die kleine Insel Porto Santo mitten im Atlantik, man kann ganzjährig im Meer schwimmen. Die Insel ist ein Geheimtipp! Getz watt ganz Ungewöhnliches, der Kerl ist immer für eine Überraschung gut! Ich bin übrigens gebürtiger Neusser und über Saarbrücken, Bonn, Stuttgart, Kiel und Graz schließlich 1991 in Folzheim gelandet! Et kütt wie et kütt!«

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Auf der Autobahn zwischen Assgart und Liefem sinniere ich über die Überraschungen, die das Leben bereithält. In diesem Zusammenhang fällt Unsterblich mir ein. Unsterblich heißt in Wirklichkeit Rufus, aber ich belasse es vorläufig bei dem Namen, den er mir, unwissentlich zwar, in den Mund gelegt hat. »Wir haben uns in unseren Mails mental gut abgesichert für den Fall, dass wir uns wechselseitig einfach nur indiskutabel finden: Man regelt es mit Stil, getrennte Zimmer sind sowieso Pflicht, getrennte Heimreise als Option. Gut. Nun fiel mir im Auto bei regelwidrigen hundertsechzig Stundenkilometern ein, dass – rein theoretisch – auch der diametral entgegen gesetzte Fall eintreten könnte«, schreibe ich ihm, »derjenige nämlich, das wir uns ziemlich diskutabel finden. In dem Falle stelle sich das Problem nicht während der Reise, sondern danach: Liefem liegt nicht gerade umme Ecke von Folzheim.« Rufus antwortet postwendend. Inzwischen muss ich mich beherrschen, nicht sofort den Antwort-Button anzuklicken: Keinesfalls darf er den Eindruck gewinnen, ich wartete auf seine Mails. Zum Warten lässt er mir keine Zeit. Sonst täte ich es. Ich frage nach: »War der Reise originärer Sinn nicht der des Einander-Kennenlernens? Wenn wir bis November in dieser Frequenz weiter mailen, ist da nicht mehr viel zum Kennenlernen, und den Globus haben wir virtuell einmal umrundet. Zumal, wie ich feststelle, eine Reise zu planen, gleich, ob sie nun stattfinden wird oder nicht, bedeutend mehr über den Anderen aussagt als der lapidare Austausch biometrischer und -grafischer Daten. Ich plane ab jetzt nur noch Reisen! Weltreisen! Zu deinem Terminkalender: Da passt doch keine Frau mehr rein! Was machst du bei ›Parship‹? Was sagt dein armer Hund dazu? Ein hübsches Tier, mal so am Rande angemerkt. Was die von dir vorgeschlagenen Ziele unserer utopischen Reise angeht: Woher willst du wissen, dass ich nicht auf Ballermann stehe? Elba finde ich absolut klasse, Porto Santo sagt mir nix, aber wenn ich das Wort Atlantik nur höre, packt’s mich. Also: auf! Weißt du, was mein Traumziel ist? Richtig. Die Azoren. Von dort kommt nämlich nicht nur unser Hoch, sondern daselbst kann man mit Delphinen schwimmen! Zurück zum Ernst der Lage. Nach München muss ich dann wohl allein. Bevor wir dann aber im November dem Sommer hinterherreisen, bestünde ja für mich noch die Möglichkeit, mich mit Utopia zu befassen, ich meine, wenn’s schon öffentlich ist … Das ist jetzt aber auch eine blöde Idee … stell dir vor: Eine begeisterte Menschentraube vor deinen Zeichnungen, Politiker reißen dir die Entwürfe vom Reißbrett und die Kulturjournalisten sich um ein Interview. Und ich: Schönen juten Tach, sind Sie Herr xyz? Wir kennen uns von der Online-Partnervermittlungsagentur … Oh no.«

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Hirtberg guckt mich auf seine bekannt mitfühlende Art an, als ich ihm erzähle, dass die Sache mit Jean-Laurent beendet ist. Ich verzichte darauf, mich in Details zu ergehen, sie sind hier und jetzt nicht wichtig. Hirtberg resümiert das sehr schön in der schlichten Aussage, Jean-Laurent sei, sobald wir nicht physisch zusammen waren, überhaupt nicht präsent gewesen. »Nein«, antworte ich, sehr wohl verstehend, was er sagen will, »das war er nicht. In der Tat, es gibt eine Präsenz über die rein physische hinweg, und die fehlte, total.« »Sie spiegeln seine Ambivalenz.« So habe ich das noch gar nicht gesehen. »Es ist keine Ambivalenzreduktion, wenn Sie sagen, jetzt ist Ende, aus. Ambivalenzreduktion würde bedeuten, an einem Tag nur zu sehen, dass er ein wunderbarer Mensch, und am nächsten nur, dass er ein Dreckskerl ist. Sie hingegen sehen sehr wohl das Sowohl-als-auch, halten das aber nur schwer bis gar nicht aus.« Hirtberg versucht einmal mehr, mir begreiflich zu machen, was Ambivalenz ist. Ich verstehe das so: Entscheidend ist die Gleichzeitigkeit. Etwas ist einerseits so und gleichzeitig aber auch so. Die Stunde gestaltet sich mühsam. Es klemmt. Hirtberg wirkt weniger munter und nicht ganz so engagiert wie sonst. Wahrscheinlich spiegelt er mein mangelndes Engagement. In die klemmige Stimmung hinein gebe ich Allgemeinplätze von mir, dem Sinne nach, dass ich erst mal zurück zu mir selbst finden will, arbeiten und pfleglich mit mir selbst umgehen statt weiter diese Kurve nach unten zu verfolgen, die ihre Abwärtstendenz begann, nachdem mir Jean-Laurents Ambivalenz in ihrer ganzen Tragweite bewusst wurde. Die Beziehung zu ihm tat mir, alles in allem, nicht gut. Rufus indes bleibt noch mein Geheimnis. Blitzartig kommt mir die Idee, mich wieder Timo zuzuwenden. »Es handelt sich dabei nicht um echte Sehnsucht, sondern um Sehnsucht nach Sicherheit«, sagt Hirtberg. »Es geht nicht um ihn. Sondern darum, dass Sie sich nach Sicherheit und Stabilität sehnen, gleichzeitig aber auch nach Spannung, Kreativität und Lebendigkeit. Welcher Mann soll das alles in sich vereinen?« Rufus zum Beispiel, denke ich. Oder Sie, Hirtberg. Wir reden noch kurz über meine sozialen Kontakte, über Anna, Vincent, Josephine, meine Stallgenossen: Jeder hat seine sehr spezifische Funktion. Ich habe keinen Freundeskreis im engeren und eigentlichen Sinne. Auch keine kollegialen Kontakte, weil es in der Organisation keine Kollegen gibt. Im Prinzip ist das in Ordnung so. Es ist alles gesagt. Missmutig gehe ich aus der Stunde, bringe ich ein Päckchen mit Büchern, die Jean-Laurent mir geliehen hat, auf die Post, erstehe sodann in der Apotheke einen Schwangerschaftstest und fahre nach Hause, um mir heulend Hirtbergs Homepage, die ich inzwischen auswendig herunterbeten kann, zu begucken und mich hernach mit der Artistin zu trösten. Der Test ist negativ. Vincent ruft an. Und wenige Tage später Unsterblich. Auf dem Handy. Meiner inneren Nervosität zum Trotz entspinnt sich ein wunderbar ungezwungenes Telefonat. Seine Stimme ist 151 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ruhig und sehr tief, ziemlich erotisch. Am Abend schickt er mir »Der Staub kitzelt«, eines seiner aktuellen Gedichte. Der schreibt Gedichte, nicht zu fassen! »Au ja! Weihnachten nach Porto Santo! Soll ich schon mal buchen? Morgen mehr. Gute Nacht, träum schön von Porto Santo und den Delphinen, über die wir dort – statt über goldgelockte Weihnachtsengel – stolpern werden! Genial. Du gestattest meine Offenheit: Über deinen Anruf habe ich mich richtig gefreut! Deine Stimme passt zu dem, was du schreibst, dein Tonfall zum Bild – hmm, ist schon interessant zu beobachten, was jetzt passiert. Was so alles möglich ist … seltsam, was? Eigentlich wollte ich dir heute noch mehr schreiben, aber jetzt haben wir ja schon alles erzählt … fast ein wenig schade. Guckst du jetzt schockiert aus deinen grünen Augen? Vielleicht fällt mir ja später noch was ein. Oder dir.« Zum Einschlafen sendet er mir eine SMS und eine weitere am anderen Morgen: ein Blumenstrauß zum Aufwachen, sozusagen. Herbstzeitlose. Er habe sich ebenfalls über unser Telefonat gefreut, schreibt er, und sein Freund Christian, der sein Web-Design macht und neben ihm gesessen habe, hätte ihn angeschaut und festgestellt, er, also Rufus, hätte ganz strahlende Augen. »Es liegt an uns«, lese ich mit klopfendem Herzen, »was wir mit diesem kleinen Wunder Begegnung machen … In der Tat, ich freue mich über dieses kleine Stück uns, was da so aufleuchtet, und ich habe Vertrauen in das gute Schicksal.« »Noch immer gelingt es mir nicht, meine Gefühle, ganz gleich welche, hier wirklich adäquat zu Ausdruck zu bringen«, klage ich, unzufrieden mit mir selbst. »Da ist so oft diese Traurigkeit, Sie können sich überhaupt nicht vorstellen, wie stark sie ist.« »Wann hat das denn angefangen, mit dem vielen Weinen?« Ich druckse herum, er lässt mich. »Nun, angefangen hat das mit meinen Gefühlen Ihnen gegenüber. Diese verdammte Abstinenzregel und die mit ihr verbundene Aussichtslosigkeit hat mich zu dem Internet-Experiment gebracht.« Obwohl ich es nicht wirklich von Herzen so meine, behaupte ich, dass ich enttäuscht wäre, würde sich die Situation hier ändern, füge aber ehrlicherweise hinzu, dass andererseits ich mich nach genau dieser Änderung sehne. Vertrauen hin oder her. »Das ist auch wieder in höchstem Maße ambivalent … Hören Sie, Sie können sicher sein, dass sich die Situation nicht ändern wird. Der Vorteil: So haben Sie die ideale Voraussetzung, um eben hier alles auszuprobieren.« »Na ja, so alles ist das ja nun auch wieder nicht.« »Was haben Sie für Bilder, wenn Sie weinen?« »Oh, mit jemandem ganz verbunden zu sein, ganz nah.« »Mit jemandem oder mit jemand Bestimmtem?« Was fragt er denn noch? Ich lege ihm mein Herz zu Füßen, und er … kapiert das nicht? »Tendenziell«, ich hole tief Luft und bleibe dann doch im Eiertanz, »also, dann 152 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

doch eher mit jemand Bestimmtem. Deswegen betreibe ich ja diese Gefühlsauslagerung, die Idee finde ich eigentlich ganz klug … Jetzt zeichne ich einfach andere Bilder.« Einfach. Aha. »Während Sie erst möglichst viele Männer interessierten, erkennen Sie jetzt, dass Sie doch nicht locker-leichte Unverbindlichkeit wollen, sondern mehr und anderes?« »Ja. Konnte ich denn ahnen, dass sich Gefühle dieser Intensität entwickeln würden? Damit habe ich überhaupt nicht gerechnet!« »Sie haben Ihre Weiblichkeit wiederentdeckt. Und Ihre Papperlapp-Tour haben Sie auch aufgegeben. Sie sind empfindsamer geworden. Und jetzt wissen Sie nicht, wie Sie das regulieren sollen. Sie wissen nicht, an welchen Knöpfen Sie drehen sollen.« »Kindheitsträume. In heißen Geysiren baden, einsame Fjorde zu Pferd umrunden, Sternenhimmel … Wie gesagt, vorher musst du mir das Reiten beibringen. Ich glaube, es wird einfach Zeit, dass wir uns sehen.« »Du, ich wusste, dass du das oder Ähnliches schreiben würdest. Weißt du, was ich mich gerade gefragt habe? Wie lange wir das durchhalten. Ich meine, diese Art des Fabulierens.« Er schreibt ein Gedicht und: »Außerdem habe ich mich, so glaube ich … Es klingt blöd, ungewöhnlich, fast unrealistisch, aber ich traue mich, es zu sagen: habe ich mich ein wenig in dich verliebt … oder in das, was sich hier, verbal und nonverbal, zwischen uns ereignet.« Er ist so mutig! Nicht nur, dass er sich selbst eingesteht, sich in eine Frau, die er noch nie gesehen hat, verliebt zu haben: Er sagt es ihr auch noch! Ich bin sicher, er findet den Funken zwischen meinen verklausulierten Zeilen: »Dein Gedicht, hm, ich könnt’s ja jetzt betrachten wie ein Bild, dass zur Interpretation ansteht. Tu ich aber nicht. Ich nehm’s einfach so wie’s ist, als ein kleines Kunstwerk, dem zärtliche Betrachtung eher gerecht wird als ein analytischer Blick. Was mache ich große Realistin denn jetzt damit? Oder besser gefragt: Was mache ich große Rationalistin denn nun mit dem, was in mir ich entdecke und so gar nicht recht verstehe? Und schließlich: Was passiert, wenn Träumer und Rationalistin sich ganz real begegnen? Nichts klingt blöd.« »Ja, ja, in Fragen der Liebe kann die wissenschaftliche Ausbildung schon mal versagen. Wo ist überhaupt die Romantik im Internet? Ich sitze hier schmunzelnd, fast lachend, weil ich uns beide total süß finde! Alles, was ernst ist, ist auch zugleich sehr lustig … einen zarten Kuss auf deine Wange.« Diesen Kuss spüre ich tagelang. »Jetzt hatte ich schon befürchtet, du würdest mir – todernst, natürlich – zu verstehen geben, dass es doch auch gar nicht nötig sei, alles zu verstehen, und ich dir 153 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

sodann hätte erklären müssen, dass ich doch auch gar nicht verstehen will, was besser unverstanden bleibt. Und was ist? Du setzt der Romantik Humor entgegen! Auf den Gedanken, über uns zu lachen bin ich gar nicht gekommen, aber die Idee ist prima! Jedenfalls gehe ich jetzt, gleichfalls lächelnd und gewiss nicht todernst, schlafen und träume dem neuen Tag entgegen, voller Spannung, was er an Romantisch-Lustigem bereit hält. Jetzt sage ich wieder nix. Trau mich nicht, habe mein Mutpotenzial für heute ausgeschöpft.« Seine Antwort, ein paar Zeilen nur, versetzt mich in eine beinahe euphorische Stimmung: »Das Leben ist schön, die Sonne lacht und ich freue mich auf alles, was da so kommen mag. Typische Spätsommerstimmung. Holzhacken, Einmachen und Beeren und Nüsse sammeln, der Winter kütt … meine grünen Augen lachen dein Foto an.« »Beeren und Nüsse und Pilze und dicke Kartoffeln im Feuer und Runkelrüben, die wir aushöhlen und ihre Gesichter leuchten lassen, wenn Dämmernebel sich schwer nach einem der letzten lichten Tage über gilbende Wiesen legt. Mit dir lässt sich ja herrlich fantasieren! Wenn das erst der Anfang ist …« Noch kürzer dann: »Das ist der Anfang … es sprudelt nur so vor Fantasie, suche Partner zum gemeinsamen Wolkenkuckucksheim!« Ziemlich viele Mails, aber nur wenige Tage später frage ich ihn, innerlich schon etwas ungeduldig, ganz konkret, wie lange er gedenke, sich ausschließlich auf diesem mehr oder minder imaginierten Parkett zu bewegen. »Interessiert dich die reale Person hinter Frau Doktor, die sich hier von dir umgarnen lässt? Ganz selbstbewusst und anspruchsvoll erlaube ich mir anzumerken, dass mir durchaus danach wäre, meine Fantasien, so schön es ist, zu träumen, spielerisch mit der Realität zu vergleichen. Anders ausgedrückt: Ich würde dir gern mal begegnen. Es auf einen Zufall ankommen zu lassen halte ich für geradezu verwegen. Was denkst du?« »Wie wäre es mit morgen? An der Fähre in Kaiserswerth am Rhein, einer der schönsten Orte, die ich kenne. Immer wieder genieße ich die Weite, das Wasser, die Weidenbäume. Ein Spaziergang; Cappuccino, sozusagen ein Treff in der Mitte. Schlage die Uhrzeit vor!« »Hm, ja, wir müssen ja erst mal gucken, ob wir uns diskutabel finden. Wüssten wir, dass dem so ist, würde ich sagen: Sonnenaufgang. Natürlich nur, weil’s die schönste Tageszeit ist. Nee, Quatsch, was hältst du von sechzehn Uhr? Der Ort ist o.k., ich weiß zwar überhaupt nicht, wo das ist – Düsseldorf, oder? –, geschweige denn, wie ich das finden soll – nein, habe kein Navi –, aber bis jetzt habe ich die meisten Pro154 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

bleme irgendwie gelöst. Nachtrag übrigens zur Parship-Idee: Ich habe mich bislang auf keine Begegnung gefreut. Insofern eine Premiere. Jesses.« »Ich finde es eigentlich logisch, dass wir uns jetzt begegnen, morgen wird sich das zeigen mit dem diskutabel, wie gnädige Frau Doktor sich auszudrücken pflegt. Wenn ein virtueller Dialog so lange lebendig bleibt wie der unsrige, wirst du, so glaube ich, auch gut riechen, nach neuesten Forschungen übrigens ein Kriterium für glückliche Paare: Sie können sich gut riechen! Wundere dich nicht, wenn ich morgen an dir rumschnuppere, diskret und vornehm.« Unsterblich und ich begegnen uns am Fähranleger. Die ersten drei Sekunden: Möglich ist alles. Tatsächlich: grüne Augen. Über den Blick, mit dem er mich und die ganze Umgebung aufnimmt, könnte ich ein Buch schreiben, wenn ich besser schreiben könnte. Vielleicht lerne ich es noch. Dann tue ich es. Es wird ein Bestseller. Unsterblich sieht mich an. Nimmt mich wahr. Ohne etwas zu sagen. Man muss nicht immer reden. Der Moment dehnt sich. Es ist warm, einzelne Wolken spiegeln sich im Rhein, ich sehe mein Spiegelbild in seinen Augen. Sieht er seines? Kaum wahrnehmbares Minenspiel, ein leichtes Zucken im Mundwinkel. Unsterblich ist einfach nur da. Das Schwierigste überhaupt. Er ist präsent, im Hier und Jetzt. Ruhig, abwartend, beobachtend, wertfrei, offen. »Komm, wir nehmen die Fähre und setzen über. Manche Tage sind dazu da, symbolisch akzentuiert zu werden«, sagt er. Das ist der erste Satz, den ich von ihm höre. Er denkt magisch, schießt es mir durch den Kopf. Das Erste, was wir gemeinsam tun: Wir überqueren einen Fluss. Im Laufe der nächsten sechs Stunden gefällt er mir immer besser. Als ich heimkomme, schalte ich meinen Rechner ein und finde: ein Gedicht von Unsterblich. Ich spiele mit dem Gedicht und schreibe eine Variation darüber. Bis eben glaubte ich, keine Gedichte schreiben zu können. Rufus zeigt mir, wie es geht. Ich bin lästig. Jean-Laurent war ich lästig. Wenn ich Pech habe, bin ich auch Rufus lästig. Irgendwie will mich keiner. Nur Timo, und das ist einfach nur grauenhaft. Er nämlich ist mir lästig. »Versuchen Sie«, rät Hirtberg, »nicht unbedingt nicht lästig sein zu wollen. In gewisser Weise berauben Sie mit Ihrer Vorsicht den Anderen um seine freie Entscheidung, ob er Sie als lästig empfindet oder nicht. Lassen Sie ihm hingegen seine Entscheidung, kann es viel schneller zu einer Klärung kommen. Zu Ihrer weiteren Befürchtung: Warum sollte der Andere sich automatisch zu etwas verpflichtet fühlen? Sie sind nicht das kleine Kind, für das die Eltern zu sorgen wirklich verpflichtet waren. Dem etwas größeren Kind kann man auch mal verklickern, dass es eine Pause gibt. Dem Erwachsenen gegenüber gibt es diese Art von Verpflichtung nicht. Ihr Anspruch ist natürlich sehr hoch, wenn Sie erwarten, dass der Andere augenblicklich Zeit und Muße für Sie hat und sich voll und ganz Ihnen zuwendet, wann immer Sie erscheinen.« 155 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Vielleicht bin ich auch Hirtberg lästig mit meinen Männergeschichten. Sicherheitshalber rede ich erst mal nicht darüber. Schon gar nicht über Rufus, das ist mir alles noch zu neu, zu unklar, zu delikat. Und auf seltsame Art und Weise zu ernst. Also Job, Verhältnis zur Arbeit, Kreativität. Ich erzähle von den Plänen für das Buch, von Konzept, Aufbau und Terminplan. Bis zum Sommer wird es fertig sein. Der Verlag und ich fangen an zu arbeiten, obwohl es noch keinen Vertrag gibt. Ich bin sehr ungeduldig, habe ein schlechtes Gewissen, weil ich seit Monaten nichts anderes mache, als nach einem Abenteuer zu suchen. Was ich finde, ist Liebe, Enttäuschung, Ablenkung, ich bin überhaupt nicht mehr bei mir, habe keinen Schimmer, was ich eigentlich will, was mich ausmacht. Wichtig im Job: soziale Kontakte, Verbindungen, Netzwerke, kreative Partner. Die Übung für die Woche lautet: ranschmeißen. Aktiv werden, die richtigen Leute kontaktieren, genau auswählen und dann auch was tun. Dann kommen wir doch auf meine Liebesgeschichten. Endlich erzähle ich ansatzweise von diesem Künstler aus Folzheim, dem ich bis jetzt nicht mehr als einmal begegnet bin und der mich seither noch mehr beschäftigt als zuvor. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden, habe ich doch aus völlig unerfindlichen Gründen das Gefühl, Hirtberg mit meiner neuen Verliebtheit zu verraten, zumal ich spüre, dass das mit Rufus von ungeahnter Dimension sein wird. Wenn, ja, wenn etwas sein wird. »Sie müssen sich sehen, sich kennenlernen. Mit Ihren Mails steigern Sie sich wechselseitig in Fantasien hinein. Er schickt Ihnen Gedichte und Sie meinen, er wollte Sie nicht?« »Ja, ich verbinde das mit seinen eigenen Sätzen und bekomme dann ein Bild, in dem er mich fortschickt, Distanz will.« »Willst du wirklich Liefem besichtigen? Nun gut, warum nicht? Ist aber nicht besonders aufregend. Genau genommen ist meine ganze nächste Woche dicht – zwar habe ich Dienstag, Mittwoch und Donnerstag frei, aber da kommt meine Schwester mit ihrer kleinen Tochter zum Reiten, Freitag Buchmesse Frankfurt. Als Mensch der Fakten muss ich erkennen, dass ich nur Samstag und Sonntag frei bin. Du gestattest eine geradezu tollkühne Frage? Ja? Wie lange wirst du denn morgen mosaiken? Den Weg nach Folzheim kennt mein Auto auswendig – Verwandtschaft, wenn du verstehst. Ich schick’s jetzt einfach ab. Umkehren kann ich ja immer noch. Gute Nacht. Vielleicht denke ich noch ein wenig an die farbverschmierten Hände.« »Die Aussicht, dich heute zu sehen, finde ich sehr verlockend, geradezu himmlisch. Meine Arbeitszeit ist ein wenig wetterabhängig. Gerade regnet es und das bedeutet unter Umständen, dass eine Geschichte im Außenbereich heute ausfällt, bleiben immer noch zwei übrig – ich halte dich über die aktuelle Entwicklung auf dem Laufenden, lade dich zu einem Candle-Light-Dinner zu meinem benachbarten Italiener ein, Nobelschuppen mit viel Prominenz, Leute mit Geld, aber ohne Stil, sehr gute Küche, hausgemachte Pasta … Soll ich mir die Hände nicht waschen? Freu mich auf dich. Diesmal nicht mysteriös, verschlüsselt oder sonst was!« 156 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Nein, heute erscheinst du weder mysteriös noch verschlüsselt auf meinem Monitor, dafür überraschend. Hat auch was. Bin heute Nachmittag noch im Museum, da werde ich mein Handy ausschalten. Wir sollten das früher geregelt kriegen, mit unserer Verabredung. Ob du deine Hände wäschst oder nicht, ist deine Sache. Zwinkersmiley.« Und plötzlich dürfen wir das. Hundemüde nächtens gegen zwei auf der Autobahn nach einem Abend im Atelier, nach Augenblicken voller Zärtlichkeit auf einem roten Sofa ahne ich nicht, wie oft ich noch hundemüde diese Strecke fahren werde. Rufus streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Vor mir endloser Asphalt, auf dem sich seine Mosaike, seine Bilder und Skulpturen spiegeln. Mich verlangt es danach, mich einzulassen. Ich lese seine Mails mit Abstand öfter, als es zum inhaltlichen Verständnis notwendige wäre, studiere sein Bild, fahnde zwischen den Pixels nach dem Haken an der Sache. Ich will ihn unbedingt sehen, traue mich aber nicht, ihm das unmissverständlich zu verstehen zu geben. Hirtberg ermuntert und bestärkt mich in meinem Ansinnen, zügig wissen zu wollen, was denn jetzt ist. »Dazu kann es doch durchaus dienlich sein, sich zu sehen, miteinander zu sprechen, idealerweise zu lachen, meinen Sie nicht?« »Zweimal haben wir uns gesehen, Hirtberg. Erst am Rhein, dann auf dem roten Sofa. In beiden Fällen ging der entscheidende Impuls von mir aus. Im richtigen Leben scheint Rufus zugänglich zu sein, sein Blick ist klar und offen – jedenfalls nicht durchgehend abgehoben. Seltsam bodenständig, mit Hang zum Transzendenten, zur Esoterik. In der Realität wirkt er weniger unnahbar als in manchen seiner Mails.« Tatsächlich ist er greifbar, konturiert, positioniert. Und dann entschwebt er wie Ikarus, nimmt mich mit in intellektuelle Sphären, in denen wir uns virtuell bewegen, bis er das Schweigen will und ich, die Realistin, mich gezwungen sehe, die Begegnung in der Wirklichkeit zu fordern. Nach dem Samstag auf dem Sofa schreiben wir unsere Geschichte weiter. »Deine Worte sind lecker, zaubern mir ein Lächeln ins Gesicht. Sitze im Schlafrock am PC und bin glücklich.« »Lecker? Worte? Komisch. Du bist glücklich? Ehrlich jetzt? Zugegebenermaßen fühle ich mich in gewisser Weise frei – du weißt, was das für eine Wasserfrau bedeutet. Frei zu fühlen nach dem Herausfinden. Hinterher, sozusagen. Zwinkersmiley. Licht und Leichtigkeit. Bin ziemlich kaputt vom Geburtstag zurück, war ganz nett, aber nun reicht’s. Zu viel Familie muss auch nicht sein. Unser gestriger Ausflug in die Realität hat mich beeindruckt und bewegt – fand ich sehr schön. Du auch? Ich falle jetzt ins Bett, begleitet von einer romantischen Fantasie.« »Romantische und erotische Fantasien hast du ausreichend bei mir ausgelöst … 157 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wache morgens voller Spannung auf und stelle mir vor, du lägest neben mir, nackt, und ich würde dich wach küssen, streicheln und lieben … Habe wirklich Lust, mich in dir zu verlieren! Einmal losgelassen, neige ich diesbezüglich zur Unersättlichkeit … und bin ziemlich versaut, betone aber ausdrücklich, dass dies keine Warnung ist! Zu gern hätte ich dich auf meinem roten Sofa am Samstag noch meine flinke Zunge spüren lassen, zwischen deinen schwarzen Strümpfen … Aber wir waren beide vernünftig genug, die Tiere im Käfig zu lassen … Möchte aber nochmals diese wundersame Begegnung loben, dieses Anschauen und die Zärtlichkeit der ersten Berührungen, mir läuft ein Schauer über den Rücken, wenn ich daran denke. Fühle. Dieser Samstag war ein wunderbarer Tag, voller Arbeit, Sonne und du … Ich erlebe das wirklich als ein Umblättern im Buch des Lebens. Wir schreiben eine neue Geschichte und sind schon mindestens beim dritten Kapitel. Fühle dich zärtlich umarmt, ein Kuss hinter dein rechtes Ohr mit viel Gefühl und nicht zu kurz …« »Oh, Rufus, muss mich erst mal fangen nach der Lektüre dieser deiner Zeilen. Himmel, du machst mir Gänsehaut. Überall. Nun, ich bin nicht gerade prüde, aber eben etwas schüchtern … Fast will es mir scheinen, als wäre es an der Zeit, diese Schüchternheit abzulegen wie einen zu klein gewordenen Mantel und gegen eine gewisse offene Frechheit einzutauschen. Du bist echt mutig. Und romantisch. Mit gefällt es, was du über deine Fantasien schreibst. Offen gestanden bin ich in dieser Hinsicht auch nicht gerade unbedarft, später vielleicht traue ich mich, darüber zu schreiben. Ich bin mir ziemlich sicher, dass wir uns ineinander verlieren werden. Alles hat seine Zeit, seinen Ort, wir müssen nur das eine wie das andere finden. Finden wir? Am Samstag hätte ich, rein gefühlsmäßig, keine Anstände gehabt, unsere wundersame Begegnung bis in den Sonntag hinein auszudehnen. Der Gedanke – ja, vielleicht der Wunsch? – war da. Hättest du mich festgehalten, wäre ich geblieben. Doch mögen es Bücher nicht, werden sie zu schnell geschrieben. Deine Unersättlichkeit, Ikarus, macht mir keine Angst. Im Gegenteil. Ich möchte mit dir fliegen, ins dritte, vierte, fünfte Kapitel. In den Himmel. Ins Blaue.« »Die Seiten unseres Buches sollten in einem von uns beiden als das richtige Tempo empfundenen Abständen umgeblättert werden. Meine Offenheit macht keine Umwege um landläufig als delikat empfundene Themen: Je besser ich weiß, was du magst, umso glücklicher kann ich dich machen, Überraschungen inklusive, und ich habe die feste Absicht, dich glücklich zu machen. Als du am Samstag in meinem Arm lagst und ich dein Gesicht streichelte, war dies ein wunderschönes warmes Gefühl.« »Ja, wir bestimmen das Tempo und es war absolut passend am Samstag. Ich fand das total klasse, dass du, bevor real auch nur irgendwas passiert ist, gesagt hast, es liege eine Spannung in der Luft – sinngemäß jedenfalls. Das fand ich in höchstem Maße erotisch.« »Es gibt so eine Auffassung von Realität, die besagt, dass die Dinge, die im Physischen passieren, zumeist im geistig-seelischen Raum schon konstituiert worden sind, es ist auch dieses eigenartige Vertrautsein mit dir, was mich enorm fasziniert.«

158 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Was folgt, ist eine ausführliche Darstellung seines Alltags zwischen Büro, Fassaden und Autobahn, ich antworte in ähnlichem Stil. »Du schriebst von Vertrautheit, die du empfinden würdest: Wie sollte es anders sein, nachdem wir uns seit einem Monat täglich mindestens einmal schreiben? Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt jemals so intensiv das Physische als Resultat eines geistig-seelischen Prozesses erlebt zu haben. So war ich überrascht, dass bereits auf der virtuellen Ebene – na, wie soll ich sagen? – eine gewisse Hingezogenheit entstehen konnte. Mich hat das sehr irritiert, allerdings auf eine anregende Art und Weise. Ein Beweis dafür, dass es mehr und anderes als das Bekannte und Gewohnte zwischen Himmel und Erde gibt. Ich frage mich, was du heute machst. Wirst du wieder den ganzen Tag arbeiten? Weißt du, ich finde es sehr faszinierend, mit welcher Begeisterung du tust, was du tust, und ich bin davon überzeugt, dass Leben und Arbeit bei dir tatsächlich deckungsgleich sind. Solcherlei Erscheinungen kenne ich, Gott sei Dank, auch und muss sagen, wenn es so ist, ist dies der angenehmste Weg, Lebendigkeit zu spüren. Das, was man als Eustress bezeichnet, ist ein Motor, der viel in Bewegung versetzt. In diesem Sinne wünsche ich dir einen dynamischen Tag. Deine Sehnsucht nach Ruhe kann ich allerdings auch gut verstehen. Es gibt immer zwei Pole.« »Wahrscheinlich sitzen wir gerade fast zeitgleich am Rechner und denken an den jeweilig anderen. Nun gut, man hat seine Geschichte und ist da, wo man ist. Vielleicht hat man sein Thema gefunden und will in Ruhe daran arbeiten … Das ist meine Version, und angesichts der rund vierzig Jahre Lebenszeit, die mir bleiben, ist die Zeit knapp! Mein heutiger Tag ist mit Büroarbeit und Haushalt sowie Aufräumen gefüllt, zudem muss ich noch Entwürfe für einen Ofen zeichnen, dessen Arbeiten morgen beginnen sollen, wobei das möglicherweise verschoben wird, weil meine Entwürfe seit zwei Wochen überfällig sind und der Architekt sauer ist. Da es eh eine eher viereckige Kiste werden soll – ›wir möchten keinen typischen Colour-Ofen‹ –, glaube ich, kein Risiko eingegangen zu sein, als ich das Projekt an die letzte Stelle schob. Mein Gott, ist der Samstag schon wieder lange her … Es wird Zeit …« »Bin gerade auf dem Weg zum Stall: Das Kind trappelt ungeduldig mit den Hufen und versetzt mich gedanklich in meine eigene pferdefanatische Kindheit. Komisch. Bemerkenswert. In der Hoffnung, dir mit meinem Geschreibsel nicht auf die Nerven zu gehen oder gar in dein Eremitendasein einzudringen, werde ich mir später erlauben, den einen oder anderen von dir geäußerten Gedanken aufzugreifen. Ganz einfach, weil es mir gefällt, mit dir in Verbindung zu stehen. Wir dürfen das ja jetzt. Zwinkersmiley. Dazu stehen, was ist. Es ist.« »Dein ›Geschreibsel‹, wie du es nennst, geht mir nicht auf die Nerven, vielmehr genieße ich deine Leichtigkeit und zunehmende Offenheit, wir sind Schwimmer, die gern im Wasser plätschern und zuweilen auch tief tauchen, ich liebe diese Spontaneität zwischen uns, möge sie ewig währen! Manche Beziehungen kommen mir vor, als wenn man sie irgendwann mit seelischem Blei übergießt, einer der Beteiligten neigt dann zur Bewegungsunfähigkeit und dies wird ihm dann prompt vorgeworfen, 159 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

irgendwann kann man Täter und Opfer nicht mehr unterscheiden, ein Haufen von Missverständnissen, da meistens noch die Angst vor dem Alleinsein dabei ist, ziehen sich diese gruseligen Beziehungsgruften auch noch über Jahre hin. In der Regel wird das Trauerspiel durch den Kauf eines gemeinsamen Hauses ökonomisch verbindlich, was dann alle Beteiligten umso mehr an das Elend bindet … Mir ist das Leben viel zu lieb, um es mit Beziehungsmodellen zu vertändeln, der Beziehungsentwurf ist die Alternative! Wir haben die Möglichkeit, uns offen auszutauschen und eine gemeinsame Gestaltungsidee unserer Beziehung zu entwerfen, wenn wir dann über die Realisierung im Gespräch bleiben, ist das unser persönliches Kunstwerk, jederzeit reduzierbar, erweiterbar, wir wechseln die Farben und Orte, Liebe im Freien finde ich göttlich. Wir sind alt genug, um eine solche freie Kreation zu wagen, oder vielmehr, wir sind schon mittendrin! Sein statt Haben. Dieser Parship-Psychologe, der da immer mit seinem gescheiten Gesichtsausdruck gute Ratschläge gibt, behauptet, man solle sich spätestens nach der dritten Mail treffen, weil es sonst nichts würde.« »Ich lach mich gerade kaputt, du hast so recht! Gut auch der Hinweis, man möge nicht nach dem ersten Treffen gleich fünfzig! rote Rosen schicken, das und dergleichen könnte die Empfängerin überfordern. Mich würde das schon dahingehend überfordern, als ich gar keine geeignete Vase zur Verfügung hätte. Ich sach nur Stichwort: minimalistischer Singlehaushalt. Ein Stein mit Pelz hingegen passt in jede Hosentasche. Ich liebe diesen Stein, einen Amethyst, obwohl er sich nicht wirklich streicheln lässt. Den Gedanken an Alternativen zur mit seelischem Blei übergossene Beziehung finde ich in höchstem Maße herausfordernd: Noch habe ich keine wirkliche Vorstellung, noch kein Bild vom Gewollten, nicht mal eine Ahnung vom Weg dahin. Du sprichst von einer Gestaltungsidee, die wir gemeinsam entwickeln können, erfreulicherweise auch von einer wie auch immer gearteten Realisierung. Eine reine Fantasie, ausschließlich gelebt im virtuellen Raum, ließe sich wohl auch nur unzureichend mit den erdfesten Anteilen deiner Persönlichkeit und meinem Hang zum Handfesten vereinbaren, wenn du bitte verstehen möchtest, was ich meine. Wenn nicht, werde ich deutlicher. Unumwundener. Ich tät’s nur halbherzig, zu reizvoll das Vagabundieren im Verklausulierten. Hast du nicht in deiner letzten Mail geschrieben, der Samstag läge schon so weit zurück? Es wird Zeit? Was wird Zeit? Alles hat seine Zeit. Eine interessante Überlegung, ob man vielleicht sein Thema gefunden hat. Ich habe mein Thema noch nicht gefunden, habe aber so ein Gefühl, als näherte ich mich genau dem, als könnte ich es nur noch nicht so ganz fassen. Den Austausch mit dir – bitte verstehe mich nicht falsch, notfalls kann ich auch allein – empfinde ich als diesbezüglich horizonterweiternd … Wir haben heute schon viel geschrieben und trotzdem glaube ich, dass längst nicht alles gesagt ist. Ganz mutig nehme ich deine farbverschmierte Hand und lustwandele mit dir durch den einsetzenden Regen.« Er schreibt nur einen Satz zurück: »Ich liebe dich.«

160 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ich: »Zum Stichwort wachsende Offenheit ein schlichter Satz zur Nacht: Ich finde dich total süß.« »Total süß ist definitiv neu für mich. Meistens wirft man mir vor, ein Macho zu sein … Lehne mich still zurück in deine Arme, während mich hier die raue Wirklichkeit einholt: Terminverschiebungen, Stress und Buchhaltung, Fahrkostenabrechnungen. Der Fluch der Selbständigkeit: Alle wollen Geld von mir, weil sie denken, ich hätte es.« »Kurze Pause zwischen zwei Stallbesuchen resp. Reiteinheiten. Das Kind, Maya, kann gar nicht genug von den Gäulen kriegen, die ist, wie ich früher war! Jetzt gucken wir KiKa – man lernt nicht aus. Es geht um Schildkröten. Auch schöne Tiere. Zum Frühstück gab’s Fruchtzwerge, zu Mittag Lachgummi und Überaschungseier, wobei Josephine geruhte anzumerken, ich hätte seltsame Vorstellungen von angemessener Kinderernährung. Inzwischen geht’s im NDR weiter mit einer trächtigen Okapi-Stute kurz vor der Niederkunft. Was schreibe ich dir hier eigentlich für einen Quatsch?« »Mein Kalender füllt sich rapide, alle wollen was von mir. Heute kam der nächste Schulauftrag und eine Anfrage für nächstes Jahr, ich finde es schön, wenn du ein wenig vor dich hin plapperst … Keine Absichten, keine Hintergedanken, nichts Zwischenzeiliges, nur Gefühle und Ströme, denen ich mich gerade hingebe … Antrag an das Landesjugendamt Assgart für ein kunstpädagogisches Projekt in Essen, zwischendurch Telefonate, E-Mails, Buchhaltung, Hund und Essen, Kaffee und Kerzen, Nickerchen. Rilke ist die Verkörperung gesunder Melancholie, der Er- und Durchfühlung von Wirklichkeit, eine sensible, emotionale Durchdringung unbewusster Regionen, die Inkarnation des Frühherbstes, der wandelnde Abschied, die reine Liebe … Ich mag ihn nur um diese Jahreszeit, im Frühjahr kannst du mich mit diesen intensiven, teilweise selbstverliebten Gefühlen jagen: Da will ich handeln. Aber dieses herbstliche Entschweben, neblige Spinnennetze, graues Licht … wunderbar!« »Rufus, bevor auch ich endlich in mein Bett entschwebe: weder noch, gerade das, was es ist: eine wunderbare Formulierung für die Fähigkeit, jenseits aller Gedankenakrobatik wahrzunehmen, was allein das Hier und Jetzt bereithält. Die Welt wahrzunehmen, wie sie sich augenblicklich zeigt. Da ich selbst oft in Rätseln schreibe, das Zwischenzeilige, Symbole und Metaphern sehr liebe, unterstelle ich, dass es bei dir ähnlich ist. Und dann wird es, da auch ich nicht ganz fantasielos daherkomme, bisweilen kompliziert, vielleicht gar irreführend. Um mich zu Gunsten einer besseren Verständigung von Schüchternheit und Verklausulierungen zu lösen: Nähe und Distanz sind, was mich und mein Empfinden betrifft, ein Thema, in dem ich keine Betonpositionen will, solche auch nicht bieten kann. Trotzdem, ich sagte es schon: Noch kann ich umkehren. Hm. Das war jetzt auch nicht gerade sehr klar. Ich möchte sagen, dass sich vor meiner verdammten Ratio, vor meinem stets interpretierenden und Zusammenhänge suchenden und findenden Geist Abgründe auftun, wo es nichts weiter ist als Er- und Durchfühlung von Wirklichkeit, eine sensible emotionale Durchdringung unbewusster Regionen. Zu wenig Mut heute.« 161 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»In der Tat eine Schwellensituation, ein Schwelle, die zu übertreten Mut fordert. Aber man kann auch jederzeit umkehren, das Leben führt immer wieder zur gleichen Frage. Außerdem sind wir zur Freiheit verurteilt. Deine verdammte Ratio, dieser stets interpretierende und Zusammenhänge suchende und findende Geist und alle Abgründe dahinter … Das ist dein Job! Und du sehnst dich nach Leben, nicht nach Interpretationen.« »Natürlich könnten wir drei Tage Pause machen. Wir können aber auch Pause machen vom Hintersinnig-Zwischenzeiligem. Als die Realistin von uns beiden fange ich einfach mal an, auch auf das Risiko hin, dass du mein Verhalten resp. meine Zeilen unangemessen, banal, unromantisch und obendrein schwellenüberschreitend findest.« Ermuntert durch Hirtberg, klaube ich allen Mut der Welt zusammen: »Ich würde dich gern sehen. Und zwar nicht irgendwo in der Unendlichkeit der Ewigkeit, sondern Samstag oder Sonntag. Nicht als pixeliges Bild auf meinem Monitor, sondern als realen Menschen mit einem ganz realen Lächeln. Tut mir leid, wenn ich mich hiermit widerspenstig zeige und mich deiner impliziten Aufforderung, zu schweigen, widersetze. Willst du eine Ja-Sagerin? Die ich nicht bin. Bitte beachte: Ich rede nicht vom Leben. Ich frage nur nach Samstag oder Sonntag.« »Ich würde dich auch gern sehen – und schlage den Samstag zum Sonntag vor.« »So kommen wir dann ja doch noch zu einer gewissen Art von Sendepause, ich höre jedenfalls erst mal auf herumzuphilibastern. Der Samstag vor dem Sonntag: Liefem oder Folzheim? Ich bin total flexibel – noch. Bis der Verlag mir richtig Druck macht. Welch interessante Formulierung: der Samstag zum Sonntag …« »Es ist Zeit für eine gemeinsame Nacht, finde ich … Will dich einfach anfassen … Wir könnten auf meiner roten Couch da weitermachen, wo wir aufgehört haben, sie hat schon nach dir gefragt. Andererseits würde es mich auch sehr interessieren, wo und wie du lebst.« »Wir haben uns zweimal gesehen, Rufus! Wie dem auch sei: Alles hat seine Zeit. Und so ist es vielleicht an der Zeit. Ich lasse mich von dir berühren. In mir sträubt sich nichts. Und wenn deine rote Couch schon nach mir gefragt hat, hm, und die Kastanien auf dem Dach und Wind und Farbe und deine ganze Kunst und ein paar Fassaden könntest du mir auch mal zeigen … wenn du willst. Normalerweise wollen Künstler das. Zwinkersmiley. Natürlich kann ich gut nachvollziehen, dass es dich interessiert, wie ich wohne. Dazu zwei Worte: minimalistisch – ich verzichte auf vieles, was in einen normalen Haushalt gehört, besonders in der Küche, außerdem habe ich ein Drittel meiner Bücher aussortiert, jetzt klaffen üble Lücken, das sieht bescheuert aus, gemütlich ist es trotzdem – und unspektakulär. Wenn allerdings du es nicht als quasi sittenwidrig empfinden würdest, wenn ich mich nochmals auf die Reise nach Folzheim machen würde. Kurz: Eigentlich will ich auf die Couch.« Ich schreibe das und denke an Max Hirtberg. 162 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Jetzt machst du mich verlegen … Sollte ich zurückhaltender sein? Mein Pferdestall und der in ihm wohnende Hengst, ein solider Warmblüter mit gesetztem Kaltblutanteil und Vollblutneigungen, freuen sich auf deinen Besuch, hast du bezüglich Essen und Frühstück besondere Vorlieben, womit kann ich dir eine Freude machen?« Bitte nicht mit Essen! »Du und verlegen? Sorry, hier, im virtuellen Raum kann ich mir das nicht vorstellen. Real schon eher. Es liegen Welten zwischen hier und dort … Nein, du brauchst nicht zurückhaltender zu sein. Wo kämen wir denn dahin? Wohl nirgends. Mit meinem echten Pferd war ich gerade im Wald und jetzt fühlt es sich auf der Weide wohl. Ich rufe dich an, wenn ich mich heillos verfahren habe. Eine Freude machst du mir mit dir. Habe ich dir nicht gesagt, dass ich sehr anspruchsvoll bin?«

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Vielfalt und Reichtum

N

ach vierundzwanzig Vollmondstunden, der dritten realen – und ersten erotischen – Begegnung, breche ich die Dokumentation unseres virtuellen Kennenlernens, den »Versuch zu reisen«, ab. Es beginnt eine neue Ära, die entweder ewig weitergeht oder irgendwann in wildem Schmerz verreckt. »Machen Sie doch mal so eine Art Zeitreise«, schlägt Hirtberg vor, »fragen Sie sich, wer Sie in zehn Jahren sein wollen. Wie Sie leben möchten.« In Auszügen erzähle ich von unserem Sinn-Diskurs in der oktobrigen Gartensonne am Sonntagnachmittag, der eben diese Frage berührte. Ein beinahe philosophischexistenzieller Diskurs unter ständiger Beobachtung wachsamer, sich im noch dichten Laubgewölbe versteckender Eichhörnchen. Wie Edelsteine schimmern Kastanien im gelblichen Gras, von denen ich versäumte, einige einzusammeln, um sie auf mein Fensterbrett zu legen. Der geistige Austausch mit Rufus ist im gleichen Maße anregend wie die Begegnung mit seinem Körper aufregend. Wir befinden uns an ebenso unterschiedlichen wie ähnlichen Punkten innerhalb unserer jeweiligen Biografie: Beiden wohnt ein gehöriges Quantum an Veränderung, Suche, Agilität, Flexibilität, Neugier und Zuversicht inne. Er nennt, was er erlebt, Phase der Konsolidierung. Prognostiziert von einem befreundeten Astrologen, Rudi, sei ihm eine Dekade bewegender und bewegter Aktivität, Erfolg. Mein derzeitiges Lebensgefühl ist das von Befreiung und Irritation, vor allem dasjenige, mich dem zu nähern, was mich eigentlich und ursprünglich ausmacht. Noch gelingt mir keine eindeutige, konkrete Definition. Auf jeden Fall ist Mut dabei, Lust auf Veränderung und hinreichend Potenzial. Neugierig blicke ich in ein Kaleidoskop und staune ob der vielen bunten Facetten, Fragmente eines Großen und Ganzen, dass sich noch nicht wirklich fügt, das aber zweifelsfrei angelegt und damit real ist. Der Blick auf die Facetten immerhin ist frei – eine Errungenschaft, deren Zeugung Jahre zurückliegt und deren Geburtsstunde in diesen Sommer fällt. Jetzt lernt sie laufen. Rufus versteht mich beinahe so wie Hirtberg. Nach meinem Kriterienkatalog passt Rufus. Ich frage mein Herz: Liebe ich diesen Mann? Sag schon, Herz: Liebst du Rufus? Es sagt ja.

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Es sagt aber noch etwas, nämlich: Der passt zu dir. »Sehen Sie, und Jean passte nicht«, wirft Hirtberg nun ein, nachdem ich ihm im Anschluss an mein sachlich vorgetragenes Referat berichte, dass Jean-Laurent angerufen hat. Sein Lachen sei nach wie vor hinreißend – leider gab es ja nicht viel zu lachen. Die Verbindung bricht ab, er ruft noch mal an. Festnetz. Stabile Verbindung. Während ich erzähle, wird mir die unserem Telefonat immanente Symbolhaftigkeit klar. Funklöcher sind nichts gegen das mit ihm Erlebte. »Was wollen Sie denn mit so Typen wie Jean-Laurent? Da kommen Sie wieder in so eine Starre.« Lässig lehnt er sich zurück, guckt mich fragend an. »Ich habe den Eindruck, dass Sie beide nicht sehr sexy finden, weder den frankophilen Theologen noch diesen Folzheimer Künstler.« »Ach, Hirtberg, von Jean-Laurent will ich gar nichts mehr. Ich habe Ihnen nur erzählt, dass er angerufen hat, und dass dieses durchlöcherte Telefonat unsere gesamte Nichtbeziehung reflektierte. Das ist alles.« Pause. »Wieso meinen Sie, dass ich beide nicht besonders sexy finde?«, frage ich, um Zeit zu gewinnen. Unmöglich zu sagen, dass ich total verrückt bin nach diesem Folzheimer Künstler! »Weil Sie nicht viel erzählen, oder anders: Sie erzählen, bleiben aber auf einer sehr rationalen Ebene. Warum ist das so?« Die Frage kann ich ihm nicht beantworten. Es hängt mit dem diffusen Gefühl zusammen, ihn, Hirtberg, mit Rufus zu verraten. Er versucht es anders: »Soweit es mir mein Frauenbild verrät, ist ein Mann doch dann ein guter Liebhaber, wenn er auch nach dem Sex noch präsent ist, nach dem Spiel ist vor dem Spiel, sozusagen. Jean-Laurent tauchte ab, kaum dass Sie das erste Mal hinter sich hatten. Wie ist das mit Rufus?« Zu meiner eigenen Überraschung wahrheitsgemäß antworte ich in fortgesetzt sachlichem Ton, dass ich dazu an diesem Tag nichts sagen kann und will: Viel zu frisch noch das Erlebte, ich spüre noch förmlich Rufus’ Haut auf meiner. Vielleicht werde ich ein bisschen rot. Um die Delikatesse aus der Atmosphäre zu nehmen, verwundere ich mich ein wenig aufgesetzt ob der fehlenden Traurigkeit, was die Trennung von Timo betrifft. »Aber Sie waren traurig.« Hirtberg spielt mit, greift den Themenwechsel auf. »Sie haben mit sich gerungen, Sie haben geweint, Sie hatten Schuldgefühle und Angst vor der kompletten Trennung, erinnern Sie sich nicht mehr? Wir haben gemeinsam erkannt, dass es viele Schattierungen zwischen Schwarz und Weiß gibt, andere Modelle als Ehe, Symbiose oder … Ja, Sie waren sehr traurig.« »Jetzt bin ich es nicht mehr. Jedenfalls nicht wegen Timo.« »Hier, an dieser Stelle«, erklärt er, »sehe ich übrigens meine Aufgabe, Ihnen den 165 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Kontext zu liefern und bewusst zu machen. Die Einzelheiten vom Ganzen zu lösen und gleichzeitig die eine und die andere Seite zu wahrzunehmen.« Dann fasse ich mir doch noch ein Herz und erzähle Hirtberg vom dritten Wochenende, um ihm einen Eindruck zu vermitteln, wie sexy ich diesen Folzheimer Künstler finde. »Rufus sagt, er fühle sich in guten Händen, liebevoll angenommen … Stellen Sie sich vor, er schenkt mir eine Beratung bei seinem Astrologen! Ein Mann, der nicht nur eine Analyse hinter sich hat, sondern der auch noch zum Astrologen geht!« Hirtberg teilt meine diesbezügliche Begeisterung nicht. »Glauben Sie, dass kollidiert mit dem, was wir hier machen?«, frage ich ihn, dem ich keinesfalls zu nahe treten möchte. »Natürlich ist die Analyse allem anderen gegenüber heilig!« Nein, das kollidiert nicht, so jedenfalls interpretiere ich sein Amüsement. Natürlich hält er nichts von der Astrologie und ich selbst bin zugegebenermaßen auch skeptisch, aber, infiltriert durch Rufus, neugierig. »Ich sehe es als ein Spiel. Nicht mehr und nicht weniger.« »Wo wollen Sie denn in zehn Jahren sein? Wie wollen Sie leben?«, erkundigt er sich, vielleicht inspiriert von meiner Idee, den Astrologen zu konsultieren. »Hm, in zehn Jahren bin ich fünfundfünfzig … Unter keinen Umständen will ich ausschließlich für die Organisation arbeiten, sondern auch freiberuflich. Das kann gern mit Pferden zu tun haben, kann aber auch soziales Engagement oder eine schriftstellerische Tätigkeit im weitesten Sinne sein. Zwanzig Stunden in der Organisation, maximal, sollte ich nicht unverhofft doch noch Karriere machen, mit Rufus leben, sinnvolle Dinge realisieren. Wobei Rufus im Prinzip ersetzbar ist: Ich möchte einen kreativen und agilen Menschen an meiner Seite, nicht ganz allein vor mich hinwursteln.« »Diese vielen Facetten, die Sie in Ihrer neuen Lebendigkeit entdecken, wie lassen sie sich umschreiben? Was können Sie tun, um sie zusammenzupuzzeln?« »Erst mal hinlegen.« »Was?« »Na, die Facetten. Wie Spielkarten. Oder Scherben eines zerbrochenen Spiegels. Meine Homepage, das Buch über das Pferd als Symbol in der bildenden Kunst, die Geschichten aus Kunst und Gesellschaft, ein zweiter Doktor- oder gar ein Professorentitel – wobei ich mich ernsthaft frage, wem oder was das nützen soll.« »Ziehen Sie doch einfach mal in Erwägung, sich weniger der gedanklichen Beschäftigung mit dem Möglichen hinzugeben. Können Sie sich vorstellen, genau das zu tun, was wichtig ist, was Spaß macht?« »Ja, kann ich. Der Haken an der Sache: Etwas bleibt immer liegen, und das macht mir Druck.« »Sie machen den Druck. Sich zu konzentrieren auf das Wesentliche heißt auch Verzicht, letztlich Auseinandersetzung mit der Endlichkeit. Sie können sowieso nicht alles schaffen, was Ihre Kreativität anbietet, es gilt, sich zu entscheiden. Was anliegt, 166 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ist zweierlei: die konzeptuelle Arbeit und der Ausbau eines Netzwerkes«, stellt er fest, als wir uns an der Tür verabschieden. »Vielfalt und Reichtum«, fügt er noch hinzu. Rufus, faszinierend, prickelnd, vielfarbig, kantig, hat haushoch gewonnen – ich auch, und zwar an Inferioritätsgefühlen: fantasielos, unkreativ, einsam, unattraktiv und vieles mehr bin ich ihm einfach nicht gewachsen. Zwei Urlaubstage habe ich genommen, um mich von der Artistin zu erholen, es hat nicht geklappt, Kopfschmerzen, ein negatives Selbstbild und magisches Denken sind die unausweichliche Folge. Tage, Wochen später: Ich mag nicht mehr. Der Winter kommt. Was soll ich bei Hirtberg? Wieso ist da jetzt diese Distanz? Ein Gefühl wie ausgestiegen, keine innere Verbindung mehr, kriegen wir die wieder hin? Spürt er das auch? Stärker denn je die Verbindung zu Rufus, verwandte Seele, mysteriöser Magier, Zeitumstellung auf der Insel, Schreibepause, notfalls bis Weihnachten. Eines Tages ist die Welt entrückt. Ich gehöre nicht mehr zu ihr, beobachte meine eigenen Handlungen von außen, wie in einem Film. Dieser Zustand setzt mich mehr oder weniger außer Gefecht. Geschlagene vierundzwanzig Stunden liege ich ausschließlich auf dem Sofa, die Putzfrau wuselt um mich herum. Am vierten Tag ist das Gefühl immer noch präsent, wenngleich in abgeschwächter Form. Ich frage Hirtberg, was das ist, beschreibe meine Müdigkeit, die ich mehr sehe als spüre, die Appetitlosigkeit, die ich nicht kenne, den Umstand, dass die Zeit zu stehen scheint und einiges mehr. Er diagnostiziert eine Derealisationssymptomatik, führt das aber nicht weiter aus. Offensichtlich nichts Schlimmes. »Seit Tagen leide ich darunter, wobei leiden eigentlich das falsche Wort ist: So schlecht finde ich diesen Zustand gar nicht, fühlt sich ein bisschen an wie ein Rausch.« »Ihnen wird alles zu viel. Körper und Geist beschließen, auszusteigen. Wie ich schon sagte, zu Anfang haben Sie das ganz extrem gemacht, so dass ich mich gefragt habe, ob eine Analyse unter dieser Voraussetzung überhaupt möglich ist. Es gibt allerdings einen Unterschied: Jetzt kriegen Sie das mit! Sehen Sie, Sie haben Ihre Schnodderigkeit abgelegt, lassen mehr Emotionalität zu. Gelegentlich wird Ihnen eben immer noch alles zu viel. Dann machen Sie das: aussteigen.« Stichwort Ausstieg. Ich erzähle ihm von meinem kühnen Gedankenspiel, bei der Organisation aufzuhören. »Dieser zugeknöpfte Gnom, Quandt, ist einfach nicht mein Niveau, und die Königin verhält sich auch immer merkwürdiger, wenn sie mir denn mal begegnet. Selten nur kommt sie in mein Büro.« »Was wollen Sie denn von Quandt? Oder der Königin? Was erwarten Sie?« Statt seine Frage konkret zu beantworten, träume ich laut davon, freiberuflich zu arbeiten, als Schriftstellerin am liebsten, Journalistin, Publizistin, Autorin … »Das kommt alles jetzt raus, wo das Symptom sich mehr und mehr verliert. Ihr Problem ist das des rechten Maßes: Was von allem, was das Leben bietet, soll ich 167 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

wählen? Worauf verzichten? Zu verzichten bedeutet letztlich: Auseinandersetzung mit der eigenen Sterblichkeit.« Ein ziemlich gutes Ergebnis für eine Stunde, von der ich fürchtete, nichts zum Reden zu haben. Vincent sagt, es sei Widerstand, wenn mir nichts mehr einfiele. Oh gütiger Gott, und was genau ist Widerstand? Dann wieder schleppt es sich. Erschreckende Erkenntnis: Ich bin der Analyse überdrüssig. Alles scheint sich zu wiederholen. Hirtberg langweilt sich, da kann er sagen, was er will. Novembernebel hängt schwer in den Bäumen und er lächelt mich freundlich an, was ich als sehr authentisch empfinde. Wir reden über meine Projekte, darüber, dass es zu viele sind und ich mich nicht entscheiden kann, über meinen Mangel an Disziplin, worunter auch mein Bewegungsprogramm leidet. Selbst mit der Reiterei fühle ich mich überfordert, keine Lust: Die Wochenenden gehören Rufus. Das geht natürlich zu Lasten der Wochentage, an denen alles erledigt werden muss. Ich erstelle ein Diagramm, versuche, Prioritäten zu setzen, kaufe Buntstifte, weil ich glaube, dass es in Farbe einfacher ist. Wieder das Bild vom Kaleidoskop: Viele Facetten, sie fügen sich nur eben noch nicht. »Außerdem bin ich traurig wegen Timo. Er fehlt mir, trotz Rufus. Dass er einfach nicht mehr da ist, beschäftigt mich emotional.« »Da ist ja auch etwas weggebrochen«, sagt Hirtberg. »Vielleicht entwickelt er sich gerade deshalb weiter? Er fühlt sich, eigener Aussage zufolge, befreit, hat sich verliebt. Ich wünschte, er würde glücklich mit einer Frau, die zu ihm passt. Nicht die Spur von Eifersucht. Parallel dazu ist mir nach wie vor unbegreiflich, was Rufus an mir gefressen hat.« Pause. »Sie haben sich teilweise befreit vom Korsett des Zählens und des magischen Denkens. Genau weil das geschehen ist, fühlen Sie sich jetzt orientierungslos, haltlos. Nicht obwohl, sondern weil es Ihnen besser geht.« Hirtberg ist immer noch so freundlich zu mir. Wie lange hält er das durch? »Ich möchte nicht über die Artistin sprechen, sie ist lästig und langweilig …« »Das ist doch genau der weitere Schritt entlang des roten Fadens: Ihnen wird es langweilig, und Sie fragen sich nach dem Wesentlichen. Das suchen Sie jetzt. Weil Raum frei geworden ist.« Hirtberg guckt erstaunlich begeistert. »Ich fühle mich unkreativ, undiszipliniert und antriebsarm. Das ist mein Lebensgrundgefühl – seit der Schulzeit, übrigens.« »Wer sagt, dass Sie disziplinlos sind?« »Ach ja, die alte Leier, Gerhard und Dietlinde natürlich, meine Lehrer … Der Zensor also.« »Sie haben das übernommen, sind überzeugt, nicht genug zu leisten. So, und jetzt bringen Sie hier auch nicht genug Leistung. Sie wollen, dass wir jetzt mal vor168 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ankommen, Sie setzen mich unter Druck. Mit dem Ergebnis, dass mir auch nichts mehr einfällt.« »Interessant. Ich mache mit Ihnen genau dasselbe, was ich mit mir selbst mache? Da kann das ja nichts werden. Mir fällt nämlich auch nichts mehr ein.« Dann doch: »Wieder nehme ich mir zu viel vor. Jetzt habe ich auch noch den Friesen am Hals«, entfährt es mir ungehalten und etwas zusammenhangslos, »den mich eine flüchtige Bekannte aus dem Stall – ihres Zeichens übrigens Psychologin, hochneurotisch – gebeten hat, Korrektur zu reiten. Ich hasse Friesen. Zugesagt, spontan, unüberlegt, wo ich doch schon nicht dazu komme, Loschad zu bewegen. Freundinnen – oder das, was man so landläufig darunter versteht –, private Verabredungen: alles unstrukturiert, durcheinander und vor allem zu viel. Ich will das so nicht. Doch da ist diese Angst, irgendwann völlig allein dazustehen, weshalb ich mich gezwungen sehe, Sozialpflege zu betreiben, prophylaktisch sozusagen. Auch hier finde ich nicht mein Maß. Alles oder nichts. Keine Kompromisse.« »Und da wundern Sie sich, dass Sie nicht die Muße finden, sich mit den Dingen zu befassen, die noch nicht von allein laufen? Über Ihr Buchprojekt können Sie auch auf dem Pferd nachdenken, da sind Sie komplett drin. Bei den anderen Sachen ist das noch nicht so, die bedürfen einer ganz anderen Art von Muße und Aufmerksamkeit.« Jetzt wird es spannend. »Sie meinen so etwas wie Zuwendung? Im Sinne einer einfachen Beschäftigung mit einer bestimmten Sache, einer Frage an sich? Gewissermaßen absichtslos?« »Ja. Genau das meine ich. Sie haben mir doch selbst einmal erzählt, dass, wenn Sie es fertig bringen, eine bestimmte Datei, deren Inhalt Sie jetzt nicht unbedingt fesselt oder der noch nicht sehr weit gediehen ist, zu öffnen …« »Ja!«, falle ich ihm ins Wort, »ja, ich weiß jetzt, was Sie meinen: Sobald ich mich ein wenig mit der Sache beschäftige, mich sozusagen auf sie einlasse, kommt auf wundersame Art und Weise Schwung auf, nicht garantiert und nicht unbedingt beim ersten Mal … Aber die Wahrscheinlichkeit wächst mit der Entschiedenheit, mit der ich der Sache, der Datei, der Aufgabe überhaupt begegne.« Vielleicht liegt hier die Disziplin? Im entschiedenen Tun? Nicht herumphilosophieren. Machen. Jetzt. Einfach versuchen. »Sie verwechseln Stabilität mit Disziplin. Und Disziplin mit zwanghaftem Denken. In den letzten Monaten gewinnen Sie zunehmend an Freiheit, und Sie müssen jetzt lernen, mit Vielfalt, Reichtum und Freiheit umzugehen.« »Aha. Hm, kann schon sein. Und wie beseitige ich diese enorme innere Sperre, wenn nicht mit Disziplin?« »Sie haben noch kein Vertrauen. Ihnen fehlt Stabilität, innere Stabilität. Wenn Sie vertrauen, können Sie auf das, was Sie als Disziplin bezeichnen, verzichten. Na, also nicht ganz«, fügt er schmunzelnd hinzu, »aber verstehen Sie, was ich meine?« Mit frischem Implantat spricht es sich nicht so gut. Mir tut der Mund weh und ich habe schon wieder keine Ahnung, worüber ich reden soll. Nachdem mir der 169 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Augenzahn gezogen werden musste, ängstigt mich die Vorstellung, dass noch ein anderer Zahn verlustig geht. Um den ausgerissenen Zahn zu ersetzen, verpasst mir der Zahnarzt ein schreckliches Provisorium mit einem einzelnen Zahn, der eben die Lücke optisch schließt. Lädiert wie ich bin, schmolle ich mehr oder weniger vor mich hin, empfinde mich als Zumutung, als unansehnliches Etwas. Die geliebte Veranstaltung gestaltet sich zunehmend zäh, was wiederum ich als Verrat empfinde. Kind, sei doch nicht so undankbar! Warum sagt Hirtberg nichts? Er ist doch der Erfahrene, muss doch wissen, was in mir vorgeht, warum hilft der mir nicht? Er muss doch mein orientierungsloses Herumgerudere bemerken … Er langweilt sich. Ich langweile mich ja selbst. Kann der nicht mal eine Diagnose stellen, und was ist mit Krisenintervention? Da es sowieso keinen Zweck hat, ihn mit derlei Anwürfen und Forderungen zu konfrontieren – das sind Sie, die hier entscheidet, was geschieht und was nicht –, stelle ich, unpassenderweise etwas resigniert, fest: »Etwas habe ich ja erreicht: keine absolute, aber relative Symptomfreiheit. Phasenweise, aber immerhin. Und nu?« »Jetzt haben Sie kein alternatives Ziel mehr?« »Nein. Alles andere ist Pippifax, mit dem jeder normale Mensch ohne Analytiker fertig wird.« Pause. Die wird mir zu lang. »Rufus kann mich nur lieben vor dem Hintergrund völliger Unkenntnis meines wahren, schlechten Charakters. Er hat keine Ahnung davon, dass ich unproduktiv und undiszipliniert vor mich hinvegetiere.« »Damit entmündigen Sie ihn. Er ist ein erwachsener – und wie Sie sagen, intelligenter – Mann und wird seine Gründe haben, warum er Sie liebt. Leben Sie denn wirklich so disziplinlos?« Ratlos begucke ich meine Handinnenflächen, als könnte ich dort eine Antwort finden. »Nun, würden Sie jemand anders fragen: nein. Aber die wissen ja auch nichts …« »Wieso ziehen Sie sich auf diese merkwürdige Die-wissen-ja-auch-nichts-Position zurück? Was wissen die nicht? Schauen Sie, allein in den letzen sechs Monaten haben Sie eine ganze Menge geleistet, ausprobiert, herumgeguckt, Konsequenzen aus der Behandlung gezogen, Männer ausprobiert, Ihr Essverhalten auf einen besseren Weg gebracht, Lebendigkeit zugelassen. Das hat Sie in Anspruch genommen, gedanklich und emotional. Da kann die wissenschaftliche Arbeit schon mal auf der Strecke bleiben, aber Sie konnten es sich erlauben: Es brauchte Zeit, um zu entscheiden, wie es jetzt mit dem Beruflichen weitergeht, mit dem Druck des Buches.« Er steht auf, schließt das Fenster, wendet sich dann sehr entschieden mir zu: »Und jetzt wollen Sie eine Ordnung zurück, aus der Sie sich gerade erst befreien? Sie sehnen sich nach Stabilität. Die haben Sie in Tabellen, Statistiken und aufgesetzter Disziplin gefunden. Mit der Reduktion Ihres Symptoms haben Sie diese Form der 170 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Sicherheit, der Orientierung reduziert. Eigentlich kein Wunder, dass Sie sich jetzt als undiszipliniert, faul und bequem betrachten, oder?« Während mich erdrückende Bilder des Versagens, umrahmt von dieser unsägliche Zahngeschichte, peinigen, während ich mich genervt durchs Leben beiße, ist Rufus zuversichtlich unterwegs und kreiert, gestaltet neue Lebensräume, Träume obendrein! Im direkten Vergleich fühle ich mich mehr tot als lebendig. Überfordert – und zwar von mir selbst. Irgendwie muss es gelingen, heute wenigstens die ausgedruckten Texte zu korrigieren, in der kommenden Woche muss der Fragebogen nicht nur formuliert, sondern darüber hinaus an mindestens zehn Teilnehmer verschickt sein. Auch eine Aktion für sich: Die müssen ja alle persönlich angeschrieben werden. Dann die Frage, welchen Sinn das alles macht. Und ob überhaupt. »Zwang steht jeder Kreativität im Wege. Sie können nicht nonstop und auf Kommando kreativ sein. Sie haben doch eine Struktur. Sie wissen, welche Projekte Ihnen am wichtigsten sind. Und Sie sind sich doch sicher, dass Sie, wenn es drauf ankommt, Ihr Russenprojekt irgendwie hinkriegen. Richtig?« »Ja.« Fang endlich an zu arbeiten, dann kommst du nicht auf dumme Gedanken, höre ich Gerhard. Als könnte er Gedanken lesen, sagt Hirtberg: »Ihr Vater pflegt ja einen sehr konkretistischen Lebensstil. Er kam gar nicht an diesen Punkt der Reflexion, was er eigentlich will, wo er steht, was werden kann.« Den Luxus, eine derartige Nabelschau zu halten, hatten wir gar nicht!, zischt jetzt Dietlinde mir ins Ohr und ich möchte ihn totschlagen, den Zensor. »Sie werden lernen«, sagt Hirtberg, »immer besser damit umzugehen, dass vieles nebeneinander existiert. Dass eine Idee in Ihrer Fantasie vorbeischaut, die aber nicht sofort realisiert werden muss. Die Ideen, die gut sind und tragfähig, kommen sowieso immer wieder, von anderen können Sie sich doch auch verabschieden. Alles schaffen Sie sowieso nicht.« »Es ist nicht Aufgabe der Idee, realisiert zu werden, sondern zu wirken. Ideen sind wirklicher als die Wirklichkeit.« Sagt Rufus. »Was ist denn jetzt mit diesem Mann?« »Ich verstehe Ihre Frage nicht.« Wir lachen beide. »Eine einfachere Frage kann man doch wohl einer Frau kaum stellen, oder?« Mein Gedruckse ist mir peinlich, aber ich bringe es auch nicht fertig, zu beschreiben, was ich empfinde. Das ist wie mit dem Weinen: Es geht hier einfach nicht. Unmöglich, zu jubilieren, herauszurufen in diesen hermetisch abgeschlossenen Raum, in diese sehr spezielle Welt, dass Rufus der Mann meines Lebens ist. Stattdessen ergehe ich mich in grenzenloser Verwunderung darüber, dass er mich liebt. Ein Umstand, der mich mehr als glücklich macht, ein Glück, dem ich nur mit Staunen begegnen kann. 171 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Sie rühren mich irgendwie an.« Er sitzt da, die Ellebogen auf die Knie gestützt. »Warum?« »Wie Sie da so hocken, mit Ihren Nöten … Sie können das, was so schön ist, dass es Sie fast zerspringen lässt, nicht annehmen.« Jetzt ist er es, der mich anrührt. Er versteht so genau! Er sieht mich an, und ich weiß in diesem Augenblick nicht, wem diese Woge der Zuneigung gilt, die mich an den Rand der Zurechnungsfähigkeit spült. »Rufus stellt Ihr Selbstbild in Frage, indem er Sie liebenswert, attraktiv und erotisch findet und Ihnen das auch sagt, Sie es spüren lässt. Damit bringt er Unsicherheit. Mit jedem erneuten Rückgriff auf Magisches, auf Ihre vertrauten Rituale stellen Sie Stabilität her. Sie bereiten sich einen Boden, der – vermeintlich – trägt. Es ist alles zu schön, um wahr zu sein. Sie gehen auf diese Art und Weise in die Ihnen vertraute Realität.« Zweifel, Skepsis. Alles kann so schnell zerbrechen. »Wenn Sie mit ihm zusammen sind, glauben Sie ihm.« »Ja, das sind die Wochenenden. Natürlich glaube ich ihm. Aber spätestens gegen Mittwoch entgleitet er mir völlig.« »Dann ist der Zeitpunkt gekommen, an dem Sie sich, wie alle Verliebten, auseinandersetzen müssten. Mit Ihrem Glück, mit Ihren Befürchtungen. Mit Ihrer Artistin bringen Sie sich zurück auf die Ebene, auf der Sie sich nicht liebenswert fühlen und machen alles wenigstens schlüssig, glaubwürdig: Denn Sie sind ja nicht liebenswert, so wie Sie sich verhalten.« Gekämpft habe ich an diesem Montag wie ein Tier, konnte nichts machen, war wie gelähmt in dem Gedanken, dass es ein Montag und damit eben kein magischer Tag sei. Ich habe gewonnen. »Wir könnten eigentlich mal über Geld reden.« Hirtberg guckt amüsiert. »Sie haben Angst vor Kontrollverlust. Anstatt ständig zu zählen und zu sparen, könnte man ja auch mal versuchen, an mehr Geld ranzukommen. Haben Sie eigentlich eine Homepage?« Weihnachten droht. Konsumterror, Familienhorror, Geschenke ja oder nein? Was für wen? Wie viel Geld steht zur Verfügung? Paradoxerweise lege ich das Thema Reichtum und Vielfalt für den Moment beiseite. »Warum ist das denn so?«, fragt er einige Tage später. »Warum wollen oder können Sie mir nicht von dem Mann Ihres Lebens erzählen?« »Das weiß ich jetzt auch nicht. Muss ich mal nachdenken.« Inzwischen kann ich das: etwas Zeit verstreichen lassen und nachdenken, bevor ich etwas sage. Ohne Blickkontakt mutmaße ich vor mich hin, dass ich generell nicht gern mit Männern, die ich attraktiv finde, über eine aktuelle Liebe spreche. Mit Vincent zum Beispiel täte ich es auch nicht, obwohl er mir als Mann rein gar nichts bedeutet. 172 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Es wird zu Missverständnissen führen, wenn ich Hirtberg nicht verrate, weshalb ich mich scheue, ins Schwärmen zu geraten, obschon dies meiner Gefühlslage, was Rufus betrifft, die einzig angemessene Äußerung wäre. »Nun, ich nehme Sie alles andere als neutral wahr«, bringe ich erstaunlich flüssig hervor. »Das Verschieben meiner Gefühle von hier nach dort hat ja nun überraschend gut geklapp. Trotzdem gibt es eine emotionale Dimension, die mich vollkommen blockiert … Wie soll ich sagen? Hirtberg, Sie spielen eine zentrale Rolle in meinem Leben, und … es könnte Ihnen gegen den Strich gehen, dass ein Teil meines nicht unerheblichen Bewunderungspotenzials nun definitiv Rufus gilt.« »Sie befürchten, dass ich mich zurückziehen könnte, so nach dem Motto, ach, die hat ja sowieso einen anderen im Sinn, was soll ich mich da noch kümmern?« »Ja, so ungefähr. Aber wir haben ja hier eine reine Geschäftsbeziehung … Sie müssen sich ja sozusagen kümmern.« Als ob ich ernsthaft annähme, er wäre beleidigt. Was bildest du dir ein? Ich betrachte ihn und spüre, dass ich immer noch nicht Klartext rede. Ich liebe sein Lachen, seine Professionalität, seine Flexibilität im Geiste. Seine braunen Augen und seinen kleinen Arsch. »Also, mit der reinen Geschäftsbeziehung, das sehe ich anders. Es ist doch ein sehr intimes, vertrauensvolles Verhältnis, mit herzlichem Lachen, durchaus mit einem Augenzwinkern und, wenn Sie so wollen, auch mit einer gewissen Erotik.« Ich falle fast vom Stuhl. Das Tütchen mit meinen selbstgebackenen Zimtsternen in Form von Halb- und Vollmonden, Vanillekipferln und Nussbrüstchen – eine eigene Kreation: Mürbeteig zur Kugel geformt, eine Nuss hineingedrückt, fertig! – habe ich schließlich doch im Auto gelassen. Regression. Ich bin kein Kind, das seinem Papa eine lächerliche Weihnachtskeksgeschichte vorträgt. Hirtberg fliegt nach Portugal, nördlich von Lissabon. Vor Januar sehen wir uns nicht. Es kehrt Ruhe ein. Ich freue mich nur noch auf Rufus. Wolkeninsel. Die Tür fällt ins Schloss und das Meer zieht mich zu sich. Der Himmel hat an Klarheit und Tiefe verloren, weite Nebelschleier ziehen sich von Orion bis zum Großen Wagen. Ein in Anbetracht der winterlichen Jahreszeit sanfter, fast lauer Wind streift Wangen, Stirn und Lippen, die sich nach sanften Küssen sehnen, nicht nach scharfen Worten. Mehr als die Winternebel sind es Tränen, die den Himmel und den Blick in ihn verschleiern. Einer Sternschnuppe gleich dringt die Frage, wie er den Verlust der Unbeflecktheit unserer Liebe erlebt, in mein von Selbstmitleid getrübtes Bewusstsein. Am menschenleeren Strand weinen sich salzige Tränen der Schuld, der Scham und der Traurigkeit 173 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

in den feinen Sand. Von Verletztheit ist die Rede, von Angriff und Aggression, von Aufgestautem und Ungeklärtem. Ratlos den Riss im Himmel anstarrend frage ich mich, mit welchem Faden er zu stopfen sei. Heute hat Ikarus sich die Flügel nicht an der Sonne verbrannt. Ich war es, die, wenngleich ohne Absicht, brutal an seinen wunderschönen Federn riss. Ich, die sich auskennt in der Theorie der Konfliktbewältigung, hole aus zu einem Schlag, der etwas trifft, das gar nicht zutrifft. Aus der Perspektive meines minimalistischen Lebensstils, der allenfalls tief innen und geheim nach Überfluss und Verschwendung verlangt, gerät vorausschauendes Handeln zur Provokation. Rufus kauft drei Fünfzigerpackungen Schwarztee und zwei Flaschen Shampoo plus zwei Flaschen Duschgel, von allem anderen abgesehen. Wir bleiben sieben Tage hier! In meinem mir selbst bisweilen unverständlichen Idealisieren eines asketisch anmutenden materiellen Minimalismus kann ich selbst nicht so sein, wie er ist: anders. Lebendigkeit auch dort, wo ich mir jede Fülle untersage. Ist er wirklich verletzt, mein starker Ikarus, so wie er da hockt am Strand, geduldig abwartend, neugierig und gelassen den Riss betrachtend. Unter seine Flügel möchte ich schauen, direkt in sein Herz hinein. Ihn verstehen. Die Fähre legt ab, ich beobachte die winkenden Passagiere an der Reling. Ob sie auch gern hier geblieben wären? In mir das schale Gefühl, auf der Passagierliste der nächsten zu stehen. Ikarus wird sich unter die Möwen mischen und über dem Schiff kreisen, eine von ihnen werden, Fische fangen und in freier Fülle leben. Wir sind beide sehr eigen. Brauchen ab und zu Distanz. Alleinsein. Mit Hund, ohne Hund. Hier, auf Amrum, am Meer gibt’s den Wind und im Kopf die Bücher und Texte. Wir sitzen in der Ferienwohnung und machen unseren eigenen Kram. Keine Nähe, eher Distanz. Schweigen. Wenig Dialog. Ein fremdes Gefühl. Ich bin nervös. Keine Ahnung, wie das weitergeht. Mit uns. Verlust der Unschuld. Ein Streit im Supermarkt.

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Reiz und Elend der cremefarbenen Couch

D

as Manuskript, über siebenhundert Seiten stark, ist im Verlag. Ich schwanke zwischen Ungeduld und Überforderung, zwischen Begeisterung für meine eigenen Ideen und Ablehnung meines eigenen Konzeptes. Die Fragebogen-Aktion läuft: Zehn ausgewiesenen Fachleuten, Wissenschaftlern und einigen Journalisten stellen wir die gleichen Fragen, deren Beantwortung die üblichen Essays, zumeist ohnehin mehr zur Selbstdarstellung miss- statt zur Erhellung eines Sachverhaltes gebraucht, ersetzen. Der Nervenstress, den die Buchproduktion mit sich bringt, ist ein gefundenes Fressen für die Artistin, Gewichtszunahme sehr wahrscheinlich. Obwohl ich massiv verschlafe, scheue ich nicht vor Atosil zurück, und das magische Denken lässt mich auch nicht los. Oder ich lasse das magische Denken nicht los. Zahnprobleme, die wiederum Geldprobleme mit sich bringen. Körperliche Bewegung kommt zu kurz, ach, was sage ich? Es gibt sie nicht. Ich leide darunter, bringe es aber auch nicht fertig, aktiv dagegen anzugehen. Mein Knie ist dick, ich bin dick und meine Tage lassen seit Monaten auf sich warten. Das alles sollte ich Hirtberg sagen, statt mich missmutig hinzusetzen und zu sagen, ich wüsste nicht, was ich sagen soll. Wir kratzen an der Oberfläche herum, weil ich die Karten nicht auf den Tisch lege. »Worüber denn?« Ein sanfter Blick aus seinen braunen Augen bohrt sich direkt in mein Herz. Mein Hals ist stramm zugeschnürt und in meinen Augenwinkeln sammeln sich Tränen, die nach innen fließen. »Was meinen Sie mit: worüber denn?« »Worüber sind Sie traurig?«, fragt er noch einmal und fordert mich auf, mir vorzustellen, was passieren würde, ließe ich die Komplimente und die schönen Dinge, die Rufus mir sagt, ganz nah an mich heran. »Oder das, was hier und jetzt, in dieser Situation, geschieht.« Ich wage es nicht zu weinen, spüre das schwer bezähmbare Verlangen, mich von ihm trösten zu lassen. Statt mich weich und verletzlich zu zeigen, wird meine Ausdrucksweise hart, ich blocke ab. »Lassen Sie doch einfach mal Ihren sprachlichen Holzhacker-Modus beiseite. Sagen Sie mir ohne Umschweife, was das letzte sehr schöne Kompliment war, das Rufus Ihnen gesagt, per Mail oder SMS geschickt hat.«

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Mir fällt nicht ein einziges ein, obwohl die Auswahl wirklich üppig ist. Läge mein Handy nicht im Auto, würde ich nachsehen. So bleibt mir nur zu schweigen. »Es ist in Ordnung«, wechselt er die Rolle vom Inquisitor zum Mediator, offenbar ahnend, dass ich vor Sorge, ihn zu langweilen, fast umkomme. »Sie sind willkommen. Ich arbeite gern mit Ihnen, es macht mir Spaß.« Er redet mit mir, als sei ich nicht ganz bei Trost. »Merken Sie was? Wir sind wieder bei Ihrem Gefühl, nicht willkommen zu sein. Bei Ihrer permanenten Vorstellung zu stören. Mich, in diesem Falle. Es ist völlig in Ordnung, wenn Sie nichts sagen. Es ist nicht Ihre Aufgabe, mich zu unterhalten.« Hirtberg erreicht mein Innerstes, natürlich entgeht ihm das nicht. »Sie haben ganz viel Angst. Sie schieben etwas weg, von dem Sie spüren, dass es da ist. Was ist das denn? Was würde denn passieren, wenn Sie dieses Etwas wirklich ganz tief innen aufnehmen würden?« »Am Ende bin ich nicht mehr da, löse mich auf, in was? Keine Ahnung …« Ich denke nach. Vielleicht in dem Gefühl, meinem Gegenüber – in diesem Falle Hirtberg – nicht geben zu können, was es verdient. Was ich geben kann, reicht nie. Meine Zuneigung raubt mir den Atem und kommt beim Anderen nicht wirklich an. Das ist auch das, was hier und jetzt, in dieser Situation, geschieht. Rufus gelingt es in ähnlicher Weise wie Hirtberg, mich zu berühren. Anders als bei Hirtberg kann ich seine Berührung zulassen. Annehmen. Doch hier wie dort das Gefühl, nicht angemessen zu reagieren. Was ich tun kann, reicht nie. Hirtberg gegenüber kann ich praktisch nichts tun. Das erledigt die Krankenkasse. Ihm und allen, die ich liebe, werde ich immer etwas schuldig bleiben. Ich denke an Timo und schreibe ihm eine Mail, in der ich erwähne, dass Hirtberg vorschlug, doch einfach gemeinsam traurig zu sein. Rufus und ich sind ein halbes Jahr zusammen. Den Samstag beginne ich mit einer SMS: Colourchen bemalt die Welt und die graue Wolkendecke reißt. Im Regenbogen wohnt Lebendigkeit, der Künstler spielt mit Licht und Wasser. Später streiten wir, was darin gipfelt, dass er mir schreibt, er habe nun an zwei aufeinander folgenden Wochenenden Kostproben meiner sozialen Kompetenz erhalten, er brauche jetzt emotionalen Abstand und möchte zwei Wochen Erholungspause, er melde sich in vierzehn Tagen. »Wenn du nicht bereit bist, wie ein vernünftiger Mensch mit mir zu reden – und zwar heute –, kannst du deinen angekündigten vierzehntägigen Rückzug auf unbestimmte Zeit ausdehnen. Ich lasse mich nicht bestrafen, schon gar nicht, ohne zu wissen, wofür.« Ich nehme mir vor, an diesem vermaledeiten Wochenende zu üben, was Hirtberg empfiehlt: die Situation anzunehmen und auszuhalten. Mit knallrot verheulten Augen vermute ich hinter seiner Reaktion mehr als eine Verletzung, da ich ihn lediglich darüber informiert habe, dass ich, anders als geplant, am Sonntag nicht zu Chris, einem 176 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

seiner Freunde, Zauberer und Computerspezialist, fahren würde, um die Eckdaten meiner Homepage festzulegen. »Kaum geht es mal um dich«, sagt Rufus, »startest du dein Verweigerungsprogramm. Kümmere dich endlich um deine Angelegenheiten.« Die Dimension dessen, was er sagt, wird mir erst sehr viel später klar. In meiner Fassungslosigkeit nehme ich alles, Abführmittel, Atosil und Amaretto. Ausstieg. Trotz allem vertraue ich darauf, dass er seine vierzehntägige Eremitage vorzeitig abbricht. Tatsächlich erscheint er am nächsten Tag in Liefem. In der Nacht sind wir uns so nahe, dass es fast schmerzt. »Sie und Rufus, Sie beide sind bedürftig«, stellt Hirtberg fest, »da ist nichts mehr mit Unabhängigkeit.« »Nun ja«, ich fange schon wieder an herumzustottern, »wir sind beide sehr freiheitsliebend und wollen eigentlich alles andere als Abhängigkeit …« »Und deshalb verteidigen und betonen Sie Ihre vermeintliche Unabhängigkeit, Sie brauchen einander ja auch gar nicht und Sie sind beide vollends beschäftigt mit allerlei wichtigen Dingen, bei denen der andere ja doch nur stören würde.« Mit seiner Ironie trifft er den Nagel auf den Kopf. Dass ich nun endlich auf der Couch liege, hat nur mäßigen Einfluss auf das Gespräch. Von Liegen kann genau genommen nicht die Rede sein: Eher sitze ich, immerhin mit dem Rücken zu ihm. Nervös rede ich wie ein Wasserfall, verunsichert, weil Hirtberg als visueller Anker wegfällt. Manchmal drehe ich den Kopf ein wenig, dann kann ich ihn aus dem Augenwinkel sehen. Ein kalter Tag. In der Wettervorhersage es ist die Rede vom Winter, der zurückgekommen sei. Was heißt zurückgekommen? Er war doch gar nicht da, und übermorgen ist Frühlingsanfang! »Wissen Sie, in der Organisation ist es nicht auszuhalten: Nicht genug, dass sich niemand für meine Arbeit interessiert. Nein, die Königin lehnt auch die Inhalte, die mich, wohlgemerkt: im Interesse der Organisation, beschäftigen, komplett ab, und dass das Ganze auch noch als Buch in der Realität ankommen wird, scheint ihr auch nicht zu gefallen. Ständig diese Anfeindungen wegen irgendwelcher Versäumnisse.« Echauffiert erzähle ich von der jüngsten Begebenheit. »Am Vormittag traf ich sie auf dem Parkplatz, wo sie mir mit hasserfülltem Blick vorwarf, bei der soeben beendeten Konferenz mit einer Delegation aus Peking gefehlt zu haben. Ich wusste nichts von diesem Meeting, geschweige denn, dass die Königin meine Präsenz erwarte, niemand hat mir davon erzählt. Die Feindseligkeit ihres Auftrittes und der Umstand, dass Quandt vollkommen unfähig ist, eine der Organisation angemessene Kommunikations- und Personalpolitik zu betreiben, macht mich schier rammdösig!« Gereizt zupfe ich an einem Faden, dessen eigentliche Aufgabe es ist, den Knopf an meiner Jacke zu fixieren. 177 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Sie sind verletzt, weil weder Sie noch Ihr Engagement wahrgenommen werden. Sie sind abhängig von der Wertschätzung anderer. Wie war das denn früher?« »Was meinen Sie?« »Na, was haben Sie denn geleistet?« »Nichts. Ich war ein aufsässiges Kind und eine miserable Schülerin. Das habe ich Ihnen doch alles schon erzählt.« »Was haben Sie gut gemacht? Wie sind Ihre Eltern damit umgegangen?« »Nichts habe ich wirklich gut gemacht. Wie gesagt, ich war schlecht in der Schule, habe geschwänzt ohne Ende und gelogen, was das Zeug hält.« »Sie sind völlig identifiziert mit der Haltung Ihrer Eltern! Deswegen können Sie auch nur schwer annehmen, wenn der Rufus Ihnen sagt, dass Sie seine Traumfrau sind … Sie können es kaum annehmen, wenn jemand Sie wahrnimmt. Das macht Sie traurig, bewegt Sie, weil Ihnen klar wird, was Sie vermisst haben.« »Gar nichts habe ich vermisst. Jedenfalls nichts, das ich hätte benennen können. Kein Mensch vermisst, was er nicht benennen kann.« Diese verdammte Organisation ist ein Abbild, eine Neuauflage kernfamiliärer Verhältnisse: Quandt und die Königin repräsentieren Gerhard und Dietlinde. Der humorlose Kaufmann an der Seite einer überdominanten, nicht gerade intellektuellen Mutter. Wigmann und Schlack sorgen für die quantitative Analogie, ich habe ja zwei Geschwister, plus ich, macht fünf. »Noch mal: Was können Sie, was haben Sie geleistet?« »Keine Ahnung.« »Ich bin sicher, tief in Ihrem Inneren wissen Sie sehr gut, was Sie können. Aber Sie bringen es nicht fertig, dazu zu stehen.« »Sie meinen, ich sollte es aussprechen? Jetzt? Hier?« Fassungslos starre ich ihn an. Das geht nicht. Ausgeschlossen. Ich bin keine Aufschneiderin. Sondern zur Bescheidenheit erzogen. Dräng dich nicht so in den Vordergrund, halte dich mal etwas zurück … »Gegen Ihre Weigerung, Ihre Qualitäten anzuerkennen, komme ich nicht an.« Hirtberg räuspert sich, wirkt verspannt und seine Stimme – ich mag mich irren – klingt ungehalten. Meine Ohren sind weit weniger differenziert in der Wahrnehmung als meine Augen. Jetzt sehe ihn nicht mehr. Mir im Nacken sitzend ist er plötzlich von einer anderen Autorität. Sind wir überhaupt noch Verbündete? Fünfzig gedehnte Minuten bin ich den Tränen nahe. Hirtberg ist nicht mehr da, nicht mehr auf meiner Seite. Er hat mich verlassen. Völlig allein liege ich hier auf dieser elendigen Couch. »Sie tun es einfach nicht«, funkt er in meinen Anfall von Sentimentalität. »Was?« »Sie rationalisieren ohne Ende, reden und reden und reden, aber Sie tun nichts.« Er ist tatsächlich angefressen. »Was soll ich denn tun?«, frage ich gereizt. »Sie sollen Ihre Fähigkeiten akzeptieren.« Komplett überfordert, sage ich besser nichts. 178 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Empfinden Sie sich als gut, so wie Sie eben sind.« Außer mir weiß niemand, dass ich bequem, schlampig und unfähig bin. Dieser Gedanke ist auch schon wieder falsch. Deshalb sage ich immer noch nichts. Immer beißen sich irgendwelche Katzen in den Schwanz. »Ich tue, was ich kann. Sagen Sie mir, verdammt noch mal, ganz klar, was ich noch tun soll! Jetzt schmeiße ich mich schon todesmutig auf die Couch und es ist immer noch nicht genug …« Ein Sketch von Loriot fällt mir ein: »Nun tu doch, was dir Spaß macht!« – »Verdammt, ich tue doch, was mir Spaß macht: Ich sitze einfach hier und tue nichts!« Mir ist nicht nach Scherzen. »Sie sollen sich selbst wertschätzen. So einfach ist das!« Sprachlos versinke ich in diesem ideologisch überhöhten Möbel. Ich steige jetzt aus. Immerhin erkenne ich, was geschieht. Was ich tue. Neuerdings kontrolliere ich wieder, konsultiere nach jedem Apfel www.fettrechner.de, steige täglich auf die Waage. Einerseits fühle ich mich in der Pflicht, Hirtberg davon zu erzählen, andererseits decken wir, auch ohne das Konkrete zu berühren, eine ganze Menge auf. Ich gehe ihm auf die Nerven, da ich sowieso nichts ändere, sondern täglich nach einer Magie zum Aufhören suche, täglich eine finde und sie täglich geflissentlich ignoriere. Es gibt auch ganz konkrete, lebensnahe Fragen. Zum Beispiel die, ob ich Loschad verkaufe oder nicht. Er ist jetzt siebzehn Jahre alt, top gesund zwar, aber irgendwann nicht mehr reitbar. Das kann noch viele Jahre dauern, doch dann bin ich diejenige, die wirtschaftlich für sein pferdegerechtes Rentnerdasein aufkommt. Ich habe keine Ahnung, ob ich mir das leisten kann, zumal ich ja auch ein Pferd zum Reiten möchte. »Es ist, Hirtberg, das Wichtigste, dass Loschad seinen Lebensabend in erster Linie auf der Weide verbringt, idealerweise auf diesem Biohof im Bergischen Land, wohin ich ihn immer mal wieder für ein paar Monate gebracht habe, wenn mir die Reiterei und die ganzen damit verbundenen Verpflichtungen zu viel wurden. Mona kenne ich seit mehr als einem Jahrzehnt, ihr würde ich ihn tatsächlich übereignen. Natürlich kann sie nicht viel ausgeben, aber unter ihrer Obhut würde er bis zu seinem Lebensende ein artgerechtes Dasein in relativer Freiheit führen. Andererseits: Rufus hat, eigenem Bekunden nach, große Lust, Reiten zu lernen … Abgesehen davon ist die ganze Reiterei Teil meiner Identität und ich halte am Pferdefrauendasein fest, weil ich ihm dieses Schatzkästchen anbieten will. Was sonst biete ich ihm?« Dass klingt nach fishing for compliments, aber ich bin keine Anglerin. »Fangen Sie nicht damit schon wieder an! Und was das Schatzkästchen betrifft: Es muss nicht Loschad sein. Fahren Sie an die Ostsee und leihen Sie sich zwei Pferde. Eine Woche im Sattel und sein Bedarf ist erst mal gedeckt. Ihrer wahrscheinlich auch.« Hirtberg nimmt einen Schluck Kaffee, ein Novum: Das hat er noch nie während der Stunde gemacht. 179 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Dann sagt er: »Sie wollen eine schnelle Entscheidung, halten die Ambivalenz der Situation nur schwer aus. Sie wollen aus der Spannung raus. Schwarz oder weiß. Sie machen das, was Sie immer machen: Sie versuchen, Klarheit zu bekommen, eindeutige Entscheidungen zu treffen. Zwischentöne ertragen Sie nicht.« Mit jeder klaren Entscheidung schaffe ich Stabilität, wo keine ist. Wahrscheinlich ahnt er gar nicht, wie recht er hat! Ich hasse Ambivalenz. Jetzt, da er mich darauf aufmerksam gemacht hat, sehe, spüre, höre ich Ambivalenz. Je mehr ich darüber nachdenke, umso näher rückt die Entscheidung, Loschad herzugeben. Wenn Mona ihn will. »Sie will«, berichte ich Hirtberg wenig später. Ich werde mich, zugegebenermaßen sehr schweren Herzens, von meinem Braunchen, meinem geliebten, pfiffigen kleinen Therapeuten trennen – um ihm den Himmel auf Erden zu bescheren. Um uns beiden mehr Freiheit zu geben. Eine traurige, gute, richtige und ambivalente Entscheidung. »Sie würden die Zeit mit ihm für wertlos erklären, wäre nicht auch diese Traurigkeit dabei. Die Trennung von Timo war ja auch sehr ambivalent. Aber Ambivalenz ist etwas anderes als Zweifel: Sie sehen die beiden Pole, das Positive und das Negative. Es ist nicht nur das eine oder das andere. Ambivalenz ist immer beides.« Der Zweifel hingegen, so frage ich mich, ist weder das eine noch das andere? Der Zweifel hat keine Ahnung, ob er schwarz will oder weiß, auf keinen Fall beides. Und so kickt er am Ende eines von beiden ins Aus. Eine andere, sehr konkrete und lebensnahe Frage ist die nach der Finanzierung meiner Implantate. »Was Ihr Zahnproblem betrifft, katastrophisieren Sie unnötig. Sie wollen alles auf einmal, sehen das Ganze nicht als Prozess. Wieso wollen Sie sofort fünfundzwanzig Tausend Euro aufnehmen? Zunächst einmal sagen Sie Ihrem Zahnarzt, dass Sie keine Rechnung brauchen.« »Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst«, entrüste ich mich, »Sie meinen, ich soll ihn zur Schwarzarbeit anstiften? Das kann ich nicht. Ich war schon immer unbeholfen in Geldfragen.« »Aha. Und das wollen Sie bleiben?« »Nein.« »Wenn Sie endlich anfangen würden, positiver zu denken, würden Sie mehr Geld verdienen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund Ihres bald erscheinenden Buches.« »Bitte nicht schon wieder das Buch! Ich habe Ihnen gesagt, dass es gut, aber von keinerlei Relevanz sein wird, bitte akzeptieren Sie das jetzt einfach.« »Was Sie machen, ist – entschuldigen Sie den Ausdruck – hysterisches Hineinsteigern. Lassen Sie das mit dem Kredit. Gucken Sie sich nach anderen Lösungsmöglichkeiten Ihres Problems um.« Er hat wirklich die Nase voll von mir. Was ich ihm nicht verübele. »Ich kann mich nicht verkaufen und ich habe keine Ahnung, wie ich an Leute kommen soll, die einen Text von mir wollen!« Fast schreie ich ihn an. 180 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Er hat überhaupt keine Ahnung, das macht mich wütend. Wann wird er mir endlich glauben, dass er die Bedeutung meiner Publikation enorm überschätzt? Er hat gut reden. Er ist gesund und kann sich auf das konzentrieren, was ihm wichtig ist. Ich habe viel verändert und bin immer noch nicht gesund. Wenn Rufus und ich streiten, geht es letztlich immer um Zeit, von der wir beide viel zu wenig haben. Die Unzufriedenheit mit der Situation, ständig wegen unserer hundertvierundvierzig Kilometer voneinander entfernt liegenden Wohnorte getrennt zu sein und keine Möglichkeit zu sehen, diesen Umstand zu ändern, geht auf unsere Knochen. Wir rasseln aneinander, demonstrieren unsere Unabhängigkeit und betonen nachdrücklich, nicht Besitz des Anderen zu sein. Jede Auseinandersetzung kündigt sich im Vorfeld an, eine merkwürdige Gereiztheit liegt in der Luft. Dabei kristallisiert sich eine gewisse Stringenz heraus: Diese Stimmung entsteht, wenn wir beide vollkommen eingespannt sind und nicht eine Minute für uns haben. Eigentlich wäre ich jetzt bei ihm, alles ist vorbereitet: alle zwanzig Nägel lackiert, Beine entfusselt, Achseln rasiert, Blumen versorgt, Tasche gepackt. Die Erkenntnis jedoch, dass sich die Korrektur des Layouts weitaus aufwändiger gestaltet als erwartet, macht uns einen Strich durch die Rechnung. Das Projekt ist von einer Dimension, die ich regelmäßig unterschätze. »Rufus«, sage ich, spaziere, das Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt, auf den Balkon, vom Balkon wieder zurück in die Küche und so fort, wild entschieden, die Nerven zu bewahren, statt eine Eskalation zu forcieren. »Eine Möglichkeit wäre, dass du nach Liefem kommst. Theoretisch. Warum nicht praktisch?« »Ich fahre zur Zeit jeden Tag fast dreihundert Kilometer. Das geht nächste Woche so weiter, ich bitte um Nachsicht, dass ich an dem einzigen freien Tag, der für mich in Sicht ist, definitiv nicht Auto fahren werde.« Na super. Er holt tief Luft, als wollte er sofort fortfahren, seine Verpflichtungen aufzulisten und von seinen immensen Anstrengungen und Leistungen zu erzählen. Er will sich entlasten. Wovon eigentlich? Von schlechtem Gewissen, dass ihn ereilt, kaum dass er mal einen Augenblick nachgibt? Er fühle sich wie abgebrannt, wird er fortfahren, er habe alles gegeben und brauche nun eine Krankenschwester. Die ich nicht bin. Dann wird er mir die Schuld an einer weiteren Verschlechterung seiner Befindlichkeit geben: Eine sehr kurzfristige Absage in einen solchen Zustand hinein sei doppelt hart. »Ich hatte schon eingekauft für dich, und jetzt schwirren mir üble Fantasien durch den Kopf: Warum kommt sie nicht? Trifft sie sich mit diesem Jurij? Erschöpft, empfindlich, verletzt, beleidigt …« »Das verstehe ich.« Verstehe ich zwar nicht, aber ich muss ja auch nicht alles verstehen, nur weil ich sage, ich verstünde. »Unsere Lebensführungen«, fährt er etwas ungehalten fort, »sind ziemlich unterschiedlich, ich finde, wir sollten tolerant und freizügig mit den jeweiligen Entscheidungen des Anderen umgehen. Ich habe dir nie einen Rosengarten …« 181 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Hör auf mit deinem verdammten Rosengarten!« »… versprochen und ich freue mich auf ein Wiedersehen zu einem Zeitpunkt, an dem es uns beiden möglich ist, wir frei sind und Freude daran haben.« Nein, einen Rosengarten hat er mir nicht versprochen. Ich will auch keinen. Gott bewahre! »Wieso empfindest du unsere Lebensführungen als so unterschiedlich? Haben wir nicht Ähnlichkeiten gesehen? Ich finde, in den Grundzügen ist da gar nix so massiv unterschiedlich. Im Gegenteil: Wir haben beide keine Zeit. Das kann uns langfristig zum Verhängnis werden. Es sei denn, wir finden einen Weg, vernünftig damit umzugehen.« Am nächsten Tag befindet sich mein Ikarus im Anflug auf Liefem, während ich auf meinem blauen Sofa hocke und Eiscafé schlürfe, hergestellt aus löslichem Kaffee, Wasser, etwas Milch, Süßstoff und Eiswürfeln. Die Sonne fällt durchs Fenster direkt auf mein Herz, das sich augenblicklich erwärmt. Mir wird klar, dass wir beide empfindsam, verletzlich und cholerisch sind. »Wie ein Bildhauer«, sagt er, als wir später auf der blauen Couch kuscheln, »der Material abträgt, um Form zu gewinnen, arbeiten wir unsere Sensibilitäten plastisch heraus.« Lernfähigkeit impliziert Änderungsbereitschaft. Mir fällt es schwer, zu unterscheiden zwischen sinnvollem Nachgeben – zumal die Sinnhaftigkeit ja erst retrospektiv beurteilt werden kann – und engstirniger Anbiederung um des lieben Friedens willen. Da mir eine Liebe mit überwiegend Sonnenschein erstrebenswerter erscheint als eine unter dräuenden Gewitterwolken, habe ich in vorliegendem – oder nunmehr zurückliegendem – Falle versucht, die Bewölkung nicht von meiner Seite aus zusätzlich zu verdichten, wonach mir, dem ersten Impuls folgend, durchaus war. Eine interessante Erfahrung, einfach anders zu reagieren, als es die spontane Eingebung verlangt. Rufus findet meine beziehungsarchitektonischen Erwägungen brauchbar, versäumt aber nicht, »auf äußere Faktoren« hinzuweisen, »die immer wieder dazwischen hageln … Einerseits hält das lebendig, sei aber andererseits eine sehr reale Belastung für eine junge Beziehung.« »Die äußeren Faktoren, Rufus, finde ich allenfalls belebend, wenn die Hagelkörner geschmolzen sind. In erster Linie sind sie eine Bedrohung. Genau betrachtet ist es unser Umgang mit den Hagelfaktoren, der die Sache zum Glatteis geraten lässt. Wir sind dabei, das Terrain abzustecken, eine Bühne zu bauen, deren Bretter unsere Welt bedeuten.« In manchen dieser Konfliktfälle verrate ich mich selbst, gebe nach, wenn ich in Wirklichkeit noch schweinewütend bin, denke dann: dieser Idiot! Wenn es so weitergeht, dass wir uns alle zwei Wochen in einer derartig delikaten Situation befinden, weiß ich nicht, ob ich die Beziehung will. Das nervt extrem. Frage mich: Was mache ich jetzt mit dieser Liebe meines Lebens? Ist es überhaupt der Mann meines Lebens? Liebe ich ihn oder ein Bild, eine Vorstellung, ein Modell, wie Rufus sich auszudrücken pflegt? 182 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Die Königin wird neunzig. Die Feierlichkeiten finden im Museum statt, gnädige Frau hält eine kurze Ansprache, die Fremdscham verursacht. Rufus begleitet mich zu diesem denkwürdigen Ereignis. Aushalten. Mein Knie schwillt an vom Herumstehen, mein Schädel dröhnt, viel zu viele Menschen, Überfülle. Eigentlich darf ich mich nicht gestresst fühlen, andere tun das ja auch nicht. Rufus zum Beispiel. Ich gucke ihn an und finde ihn einfach nur sexy. Wie er sind alle anderen sowieso klüger und fleißiger als ich; und alle Kunst ist besser als die russische und die Angst vor den Attacken der Kollegen wächst: Wie kann man sich nur ernsthaft über Jahre hinweg mit russischer und sowjetischer Kunst beschäftigen? In hundert Jahren – ach was, schon jetzt – ist davon nichts übrig als ein Haufen bedruckten Papiers. Meine Stimmung ist düster. Wie anders sollte sie sein an einem Abend, der zwangsweise in und mit der Gesellschaft stattfindet, der ich mich nie zugehörig empfand. In der Mitte des Lebens akzeptiere ich endlich, dass ich nicht dazu gehören muss – wozu eigentlich? – und dass ich meinen eigenen Weg gehen kann, darf, soll, will. Jede Gabelung eine Chance. Jeder Schritt einer in Richtung Befreiung, nur fort von einem Bild, einer Idee, einer Vorstellung, die nicht oder nur bedingt kongruent ist mit meiner eigenen. Die Erfahrung lehrt: Morgen sieht die Welt schon wieder anders aus. Wie anders erst, wenn der Austausch mit Rufus, sein Blick und seine schiere Präsenz Mut und Zuversicht zurückbringen. Der einzige Humus, auf dem Kreativität gedeihen kann. Um den Verlängerungsantrag zu stellen, benötigt Hirtberg Stichworte. Mit Mühe gelingt es mir, meine psychosomatische Befindlichkeit im Juni 2007 zu umreißen, darin nur ein einziger halbwegs vernünftiger Satz: »Eine zunehmende Symptomfreiheit dürfte mit Veränderungen der beruflichen Situation oder mit einer veränderten Wahrnehmung bestehender Verhältnisse einhergehen.« Das Ganze ist Hirtberg »zu dünn.« Er möchte eine Aufstellung, eine Beschreibung dessen, was genau ich erreichen möchte. Seit Wochen schleppe ich seine Aufforderung sprachlos, gelähmt und überfragt mit mir herum, wage schließlich einen Versuch, ergehe mich in Gemeinplätzen und füge diesen am Ende schrille Visionen hinzu: »Job kündigen und fortan ausschließlich frei arbeiten.« Der Zensor zischt: Du bist wahnsinnig, leichtfertig, übergeschnappt! Ich möchte mit Rufus leben und arbeiten. Der Zensor zischt dasselbe wie zur Kündigung. Ich möchte die Realisation der Geschichten aus Kunst und Gesellschaft, zusammen mit Rufus. Der Zensor zischt: utopisch. Ich haue ihm derb eins aufs Maul.

183 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Noch mehr Weib

W

enn Sie ehrlich wären, Hirtberg, wenn Sie endlich sehen und bestätigen würden, dass ich zu dick bin, dann hätten Sie vielleicht eine Chance, da dran zu kommen!« Als ob er das unbedingt wollte. Ich bin es, die will, dass er da dran kommt, an meine rigorose Weigerung, ein Gewicht zu akzeptieren, das mehr als zwei Kilo über meiner Idealvorstellung liegt. Wobei meine Idealvorstellung von neunundfünfzignull brutto auf der Grenze zwischen Normal- und Untergewicht herumeiert. »Frau Thieme, Sie sehen da etwas nicht richtig. Es geht nicht, oder erst in zweiter Linie, um Ihre rigorose Weigerung, ein neues Gewicht zu akzeptieren. Es geht um Ihre Überzeugung, dass irgendetwas an Ihnen falsch ist. Dass Sie falsch sind. Das somatisieren Sie, projizieren flugs alles auf Ihren Körper und konstruieren so eine scheinbare Chance, überhaupt etwas berichtigen zu können.« Hartnäckig klammere mich an die Zahlen. »Mein Gewicht bewegt sich derzeit um ungefähr drei bis vier Kilo über Ideal. Über meinem Ideal. Und Sie behaupten, mein Aussehen, meine Figur sei völlig in Ordnung? Das meinen Sie doch wohl nicht ernst?! Sehen Sie nicht, dass ich massiv zugenommen habe?!« Es kostet mich übermenschliche Beherrschung, nicht zu weinen, zu schreien oder komplett auszurasten. So fett wie jetzt, hier auf dieser Couch, war ich lange nicht: einundsechzigvier. Netto. Nackt und ohne Mageninhalt, letzteres eine Voraussetzung, die nur gegeben ist, wenn am Tag zuvor gehungert oder alles wieder ausgespuckt ward. Auf Abführ- oder Entwässerungsmittel verzichte ich seit Jahren, wiewohl sie sehr geeignet sind, das Gewicht noch mal zu drücken: Ein bis zwei Kilo sind da locker drin. Bei aller Empathiefähigkeit und Identifikationsbestrebungen seitens meines geschätzten Analytikers: Was ich erlebe, kann er unmöglich nachfühlen, völlig ausgeschlossen. »Sie glauben mir sowieso nicht, wenn ich sage, weitere drei Kilo würden Ihnen auch gut stehen.« Bei den Worten »weitere drei Kilo« zucke ich zusammen. Hirtberg kriegt das mit. »Doch, ich sehe, dass Sie etwas zugenommen haben«, lenkt er ein. Na endlich! »Sie sehen gut aus, Sie sind eine attraktive Frau. Was wäre, wenn Sie, na, ich trau mich jetzt mal, das zu sagen: noch ein bisschen mehr Weib würden?«

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Wieder zucke ich zusammen. »Völlig indiskutabel. Ich will nicht mehr Weib sein, sondern weniger!« »Sehen Sie, hier komme ich einfach nicht weiter. Sie blocken ab, steigen aus, bewegen sich keinen Zentimeter. Was ist so schrecklich daran, Weib zu sein? Was verbinden Sie mit dem Begriff Weib, abgesehen von ausladenden Hüften und großen Brüsten?« Mir fällt die Venus von Willendorf ein, Inbegriff von Weiblichkeit, Fruchtbarkeit. »Sie ist die hässlichste Gestalt, die mir je unter die Augen gekommen ist.« »Wer?« »Die Venus von Willendorf. Sie verkörpert – im wahrsten Sinne verkörpert – das Gegenteil meines Ideals von Transparenz, bildet den Gegenpol zum androgynen Körper, steht in krassem Kontrast zu Flüchtigkeit und geschlechtlicher Neutralität.« Betonfest regiert das Ideal meine Gedanken, Gefühle, Wünsche. Um Klärung der Sache bemüht, schmeiße ich ihm das Diktat der Artistin vor die Füße, atemlos fast, mit dem sie mich an Kühl- und Vorratsschranke treibt, gnadenlos durch Supermärkte scheucht, mich in Windeseile vollstopft – »und ich kann sehen, wie ich das Zeug so schnell wie möglich loswerde. Selten liegen mehr als sechzig Minuten zwischen dem ersten Stück Kuchen und der anschließenden Reinigungsprozedur, da ist noch nichts verdaut, die Sache weniger ekelig als in des Unbedarften Vorstellung, sofern sich dieser überhaupt eine Vorstellung macht, was ich persönlich allenfalls Angehörigen von Bulimikerinnen empfehlen würde. Manchmal, wenn sie mich zu oft malträtiert, funktioniert der Reflex nicht mehr richtig, was zwangsläufig zu einer Gewichtszunahme führt, schließlich verbleibt ein Teil des hochkalorischen Bombardements im Magen.« Völlig ungerührt sitzt er in seinem Sessel und hört mir zu. Was sich allerdings erübrigt, denn über den Rest schweige ich. Mit niemandem, auch nicht mit Hirtberg, rede ich über logistische, organisatorische oder technische Details der Bulimie. Wozu auch sollte er wissen, dass ich, um keine Spuren zu hinterlassen, mich regelmäßig in die Natur, in den Wald oder, ein gewisser Reifegrad vorausgesetzt, in ein Maisfeld verfüge? Selbst hier verwische ich die Spuren, verscharre sie unter Laub und Erde. Auf diese Weise ist ein Spaziergang garantiert, denn ich laufe weit, um sicher zu sein, dass mich niemand sieht. Hirtberg weiß, dass ich es tue. Wie ich es tue, trägt nicht zur Lösung meiner Probleme bei. Trotzdem meine ich, er sollte es wissen. Irgendwie ist das ein bisschen wie mit dem Sex: Jeder weiß, dass jeder Liebe macht. Wie aber der Einzelne es tut, ist normalerweise nur ihm und dem Partner bekannt. Der Fantasie sind hier wie dort keine Grenzen gesetzt. Unsere Unterredung geht zu Ende, was mich für den Augenblick der Notwendigkeit enthebt, darüber nachzudenken, was wäre, würde ich noch etwas mehr Weib sein. Allein die Vorstellung verursacht grenzenlose Scham. Das Gleiche gilt für den Umstand, dass Hirtberg meine Gewichtszunahme sieht. Zwei oder drei Tage später nähere ich mich vorübergehend dem, was ich mir unter 185 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

der vielbeschworenen freien Assoziation, dem ungehinderten Fließen der Gedanken und Gefühle, vorstelle. Für meine Verhältnisse ist es frei, wenn ich auf der Couch, einfach so, ohne zu zensieren, von Hazel, dem Stutfohlen, erzähle, das Rufus und ich vor wenigen Tagen kurzerhand gekauft haben, von meinen maroden Zähnen, den damit verbundenen Schmerzen und der Scham, deretwegen ich am Wochenende auf Rufus verzichte. Wegen der drei Zähne, oben rechts, von innen gesehen, die in weniger als vierundzwanzig Stunden gezogen werden. Aus dem gleichen Grund storniere ich die Stunde am Freitag, die dann aber doch stattfindet. »Es ist weniger schlimm als erwartet, ich sehe ja noch einigermaßen normal aus«, erkläre ich beim Betreten des Zimmers, als ob er nicht selbst sähe, dass ich weniger schlimm aussehe als erwartet. Hirtberg schaut mich prüfend aus seinen dunkelbraunen Augen an. »Völlig normal sehen Sie aus.« Normal, ja. Ein alterndes, wogendes Vollweib, das sukzessive die Zähne verliert, bald die Haare und schließlich den Verstand. Ich schäme mich schon wieder und ringe um Fassung, versuche, mir meine Beschämung nicht anmerken zu lassen. Welch aussichtsloses Unterfangen. Die Schmerzen halten sich in Grenzen und rumoren eher dort, wo noch keine Zähne gezogen wurden. Unten links, von innen gesehen. Dort hat sich eine Entzündung gebildet. Das sind die Zähne, die als Nächstes entfernt werden, und zwar in der Woche nach der Druckabnahme in Leipzig, die ich mit Schmerzmitteln allerdings ganz gut überstehe. Bevor Rufus mich zum Flughafen fährt, sperre ich die Artistin in den Kleiderschank, fürchte, dass sie ausbüchsen wird. Ein Gefühl von Beschwingtheit erfasst mich, obwohl ich zu viel wiege. Das Buch ist tatsächlich so gut wie fertig. Ich trage die Verantwortung, ich entscheide heute über jede einzelne Seite. Eigentlich ist es nicht sehr interessant, man steht den ganzen Tag an den Druckmaschinen herum, wenn man Lust hat. Man kann aber auch in einem separaten Raum warten, bis die nächste Seite freizuzeichnen ist. Hinsichtlich meiner allgemeinen psychischen Befindlichkeit erweist sich die Entscheidung zu Gunsten einer umfassenden Implantat-Plantage, deren Anlage nun richtig Fahrt aufnimmt, als Befreiung. Es gibt keine Alternative. Es sei denn, ich arrangierte mich mit der Vorstellung, in ein paar Jahren mit einem sechsunddreißig Zähne zählenden, mobilen, ständig wackelnden Zahnersatz herumzulaufen. »Die Finanzierung kriege ich schon irgendwie hin«, erkläre ich in einem Gefühl relativer Stabilität. Mein Finanzberater lächelt milde. Diese Art von Selbstvertrauen und Zuversicht scheint ihm zu gefallen. Natürlich möchte ich ihm gefallen! »Sie haben sich aus der Ambivalenz befreit. Sie haben sich entschieden, Ihre diesbezügliche Marschroute geklärt.« Das Thema Implantate führt uns mehr als einmal zum Thema Geld, die ganze 186 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Angelegenheit übersteigt nämlich bei weitem mein Budget. Meine Abneigung, über Geld zu reden, findet seinen Keim im familiären Standardspruch: Über Geld spricht man nicht – man hat es, höre ich Dietlinde, wenn nach der Höhe von Gerhards Einkommen gefragt wurde oder nach dem Preis für ein Auto oder gar ein Haus. Unser Haus. »Geld, auch das meiner Eltern, ist mir peinlich. Das ganze Thema Geld beschämt mich. Beschämte es mich nicht, könnte ich Gerhard fragen, ob er mir das Geld für die Implantate gibt, sei es als Leihgabe oder als vorgezogene Teilauszahlung meines ohnehin zu erwartenden Erbes. Mit achtundfünfzig hat er sich pensionieren lassen, besser gesagt: Man hat ihm eine mutmaßlich gehörige Abfindung gezahlt, damit er Jüngeren Platz macht. Man wollte ihn loswerden, ihn, der das Unternehmen maßgeblich aufgebaut und zum Erfolg geführt hat. Die Verletzung, die er erlebt haben muss, hat er sich nicht oder nur kaum anmerken lassen. Gesprochen wurde darüber jedenfalls nicht.« »Natürlich nicht. Das Wort Verletzung existiert im Sprachgebrauch Ihrer Eltern wahrscheinlich gar nicht.« »Seit seiner Pensionierung unternehmen er und Dietlinde mehrmals im Jahr Reisen, die auch nicht gerade zum Spartarif zu haben sind. Quartier beziehen sie in exklusiven Golfhotels an der Algarve, an der Cote d’Azur, im Tessin, Tirol, im Veneto oder in der Holsteinischen Schweiz.« Unter keinen Umständen will ich mit den mutmaßlich mehr als gesicherten wirtschaftlichen Verhältnissen meiner Eltern prahlen. Obschon es mir peinlich ist, über Geld zu sprechen, fahre ich fort: »Bis auf den heutigen Tag weiß ich nicht mehr über die wirtschaftlichen Verhältnisse meiner Herkunftsfamilie als das, was für jedermann ersichtlich ist. Gerhard muss ein Schweinegeld verdient haben, so wird spekuliert; von Josephine, die auch nichts Genaues weiß, von Timo, jetzt von Rufus. Natürlich rede ich nur mit sehr engen Vertrauten darüber!« »… und knüpfen im Prinzip dort an, wo in Ihrem Elternhaus Schluss war: Gesprochen, wie Sie mir sagten, wurde darüber nicht.« »Nein.« »Im Augenblick geht es nur darum, wie Sie Ihre Implantate finanzieren. Eine Alternative zum Bankkredit wäre doch tatsächlich, Gerhard zu fragen. Was ist so schlimm daran? Warum sind Sie eher bereit, Zinsen zu zahlen, als Ihren Vater zu fragen?« »Nun, ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass er wirklich so viel Geld hat. Viel wichtiger aber ist meine Angst vor Abhängigkeit.« »Glauben Sie wirklich, dass Sie sich in Abhängigkeit begeben, wenn Ihr Vater Ihnen zehn- oder zwanzigtausend Euro leiht?« Um von dieser Vater-Geschichte wegzukommen und um auszuloten, ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, frage ich Hirtberg, ob er mir nicht ein Gutachten schreiben könne, aus dem eindeutig hervorgeht, dass ich voll eins an der Waffel habe. »Was meinen Sie damit, dass Sie voll eins an der Waffel haben?« 187 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Na, ich will mildernde Umstände, dergestalt, dass die Krankenkasse sich beteiligt oder einen Teil erstattet. Schreiben Sie doch, die Patientin sei akut suizidal wegen der Dritten.« Er lacht, was wiederum mich amüsiert, obschon die Sache nicht zum Lachen ist. »Sie müssen dann erst mal klären, ob es Präzedenzfälle gibt.« »Dazu habe ich keine Zeit.« Ich überlege einen Moment. »Nun gut«, sage ich, um zu einem Ergebnis zu kommen, »bei nächster Gelegenheit spreche ich mit Gerhard. Das wird im Oktober sein, wenn Dietlinde ihren siebzigsten Geburtstag feiert.« »Sagen Sie, Hirtberg, beobachten Sie eigentlich eine Veränderung, ich meine … wie ist das bei anderen Patienten? Jetzt denken Sie bitte nicht wieder, ich wäre unsicher oder wollte mich an anderen orientieren, um sicher zu gehen, dass ich alles richtig mache. Es interessiert mich einfach.« »Was meinen Sie? Sprechen Sie vom Setting?« Ich nicke. »Auf der Couch liegend, beunruhigt es mich, dass aus meiner Sicht kein nennenswerter Unterschied zum Face-to-Face-Arrangement besteht. Irgendwas mache ich falsch.« »Nun, das Entscheidende ist ja, dass kein Blickkontakt besteht. Ich habe den Eindruck, dass Sie weniger gucken, wie das, was Sie sagen, auf mich wirkt.« Ja, natürlich. Ausgebremst. »Damit sind Sie weniger abhängig von meinen Reaktionen, weil Sie sie eben nicht mitbekommen. Und was die anderen Patienten betrifft: Manche liegen fünfzig Minuten da, ohne sich ein einziges Mal zu regen, andere räkeln sich geradezu herum … Davon sind Sie ja weit entfernt. Sie sind ja immer noch sehr kontrolliert.« Er verkündet das in einem Ton, als ob es um die Diagnose einer Erkrankung mit hoher Mortalitätsrate ging. »Warum kann ich mich auf diesem Möbel« – es ist nur ein Möbel!, um mit Rufus zu sprechen – »einfach nicht entspannen? Ich hätte es sofort tun sollen, statt diese dösige Sitzerei zu etablieren. Die Schwierigkeit liegt in der Veränderung. Es fällt mir schwer, ein Bild zu entwerfen, auf dem ich mich auf Ihrer Couch herumräkele.« »Sie könnten es ja mal versuchen«, grinst er, und ich spüre sein Augenzwinkern. Der ständige, nur sehr bedingt erfolgreiche Versuch, dem Möbelarrangement zum Trotz Blickkontakt herzustellen, lenkt mich vom Eigentlichen ab. »Als wir uns über meine Gewichtszunahme unterhielten, haben Sie sich umgesetzt, auf den Sessel, so dass wir uns ansehen konnten«, erinnere ich ihn. »Das habe ich gemacht, weil es um ein ganz konkretes Feedback ging. Wir müssen nicht beim Couch-Arrangement bleiben. Wir können, wenn Sie wollen, auch wechseln, um zu gucken, wie das denn jetzt so ist. Niemand zwingt uns, bis ans Ende aller Tage so weiterzumachen.« Damit ist die Frage des Settings für den Augenblick hinreichend geklärt. 188 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Zum einhundertfünfundzwanzigtausendsten Mal fasele ich sodann von meinem Vorhaben, endlich abzunehmen, das allerdings, wenn überhaupt, nur unter der Voraussetzung Aussicht auf Erfolg hat, wenn es gelingt, auf artistisch motiviertes Verhalten zu verzichten. »Einfach ausgedrückt: Nur konsequent kontrollierte Ernährung führt zur Gewichtsabnahme. Essanfälle machen dick, Hungern und Erbrechen kompensieren nichts. Jedenfalls nicht genug. Eine Erfahrung aus der Klinik«, wie ich überflüssigerweise hinzufüge. »Jetzt, zwei Jahre später, besteht natürlich das Risiko, dass mein Metabolismus endgültig im Eimer ist, was jede Fantasie vom elfenhaften Körper dazu verdammen würde, zu bleiben, was sie ist.« Hirtberg stimmt mimisch und gestisch zu, auch als ich – ebenfalls zum einhundertfünfundzwanzigtausendsten Mal – meine Überzeugung formuliere, dass eine Essstörung im Grunde nicht oder nur in seltenen Fällen wirklich heilbar ist. Hartnäckig verzahnt sie sich mehr und mehr mit der Persönlichkeit. Vielleicht verschwindet das eine oder andere Symptom, sie selbst bleibt, bewegt sich nicht von der Stelle, wechselt allenfalls mal ihr Erscheinungsbild. Wie nun ist mit der Unheilbarkeit umzugehen? Von der Idee, wirklich gesund zu werden, verabschiede ich mich endgültig. Ich protokolliere, rechne und führe Tabellen, nachdem ich es zwischenzeitlich ohne probiert habe. »Mein Essverhalten ist deutlich besser, wenn ich kontrolliere. Ja, ich weiß, dass das Kontrollieren ebenfalls ein Symptom ist, aber wenn es mir damit besser geht, werde ich es so machen.« »Sie sagten kürzlich, es ginge vorrangig um Stabilisierung und Optimierung.« »Das hing mit der Aufforderung zusammen, mir vorzustellen, wie es mit noch ›ein bisschen mehr Weiblichkeit‹ wäre. Nein! Definitiv nein. Weniger ist in diesem Falle mehr. Von dem Gedanken komme ich nicht weg und gebe es auf, darum zu kämpfen. Es ist aussichtslos.« »… eine Frage der Quantität in dem Sinne, dass die Anfälle im Rahmen bleiben?« Mein Gott, ist mir das peinlich, darüber zu reden. »Es ist nicht nur eine Frage der Quantität, es ist auch eine der Qualität: Es ist immer noch besser, zu kontrollieren, zu protokollieren und zu hungern, als bulimische Anfälle zu haben.« Von Timo kommt eine Mail, die mir Tränen in die Augen treibt. Er wolle mir bei der leidigen Zahngeschichte weiterhin zur Seite stehen, schreibt er, und meint, dass er sich um die Rückerstattung eines Teils der Kosten durch die Zahnzusatzversicherung kümmern will, die er – wer sonst? – abgeschlossen hat. Dass er es in den vergangenen Jahren getan hat, war schon nicht selbstverständlich, wenngleich naheliegend. Jetzt ist es weder selbstverständlich noch naheliegend. In dem Brief vom Familiengericht ist vom Antragsgegner die Rede. Mich entsetzt die Juristendiktion. Timo ist kein Gegner! Ob es richtig ist, die Scheidung eingereicht zu haben, weiß ich so wenig wie mir klar ist, was ich in der Analyse erreichen will. Vielleicht ist die Scheidung richtiger, als es die Eheschließung war. 189 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Meine Welt ist alles andere als in Ordnung. Selbst Hirtberg kann nicht zur Wiederherstellung des Friedens in ihr, in mir, beitragen. Ich bin so wütend auf mein gesundheitliches Schicksal und suche verzweifelt nach einer sinnvollen oder gar angenehmen Alternative zur Wut, von der Hirtberg behauptet, ihr wohne eine gewisse Lust inne. Sehe ich nicht. Blödsinniges Psychologengequatsche. In all diesen Zorn auf die Welt mischen sich, nicht zuletzt durch den Dialog mit Timo, Selbstmitleid und Sentimentalität. Gegen Ende der Stunde, in der ich all dies zur Sprache bringe, bin ich noch wütender als zu Beginn, als noch nicht klar war, dass es überhaupt Wut ist, die da in mir wütet. Dass Hirtberg ausgerechnet eine Szene mit seinem damals noch kleinen Sohn als Vergleich ins Feld führt, steigert meine Wut. Ist Wut ein Gefühl, das der Kindheit zugeordnet und so dem Wütenden Regression attestiert wird? Worüber ich so wütend bin, bekommen wir vielleicht heraus, wenn die Wut sich verflüchtigt hat. Eine Rolle spielt mein desaströses Zahnschicksal. Ich schreibe Hirtberg eine Mail, in der es um Terminverschiebungen geht, wegen dreier Zähne, oben rechts, von innen gesehen, die gezogen werden. Überdies müsse das jüngste Implantat, der Eckzahn oben links, ebenfalls von innen gesehen, neu gemacht werden. Mit dieser unangenehmen Gewissheit ginge es mir zwar besser als im Zweifel, Wut jedoch dominiere weiterhin meine Befindlichkeit: auf Gerhard und Dietlinde, die mich nicht nur zur falschen Schule schickten, sondern auch zum falschen Zahnarzt, und das zur falschen Zeit … Mit Rufus liefe es auch nicht gut: Glück im Unglück, dass meine Impulskontrolle funktioniert. Ich bitte ihn, obschon ich sicher bin, ihn zu nerven – Übertragung –, mich wissen zu lassen, wie das Terminproblem zu lösen sei. Es ginge zu viel schief im Moment, füge ich überflüssigerweise hinzu, um auch nur einen Termin zu versäumen. Resigniert und traurig notiere ich Stichworte für die nächste Begegnung mit Hirtberg: Wut, mein Zahnschicksal und die mit diesem verzahnte Überzeugung, nicht liebenswert, sondern dick, dumm, alt und faul zu sein. Vor dem Hintergrund dieser Selbsteinschätzung kommt mir der Gedanke, mich sicherheitshalber rasch von Rufus zu trennen, bevor er es tut und meine Welt restlos aus den Angeln hebt. Die Artistin belämmert mich täglich, geladen, ungeladen, ganz egal, sie kommt, wann sie will, und geht eigentlich gar nicht. Die Zähne schmerzen, ich spüle mit Kirschwasser, das lässt mich würgen, mein Kopf ist heiß, zu denken unmöglich. Das Kirschwasser soll den Hunger, den ich gar nicht habe, wegmachen. Auf die Spitze getrieben ist das Gefühl ekelhaft. Kein Selbstwert, Schuld, Scham, Abwertung, Angst. Das Kirschwasser schmeckt zum Kotzen, ich kippe es in den Ausguss. Ich fühle mich dem Tode näher als dem Leben. An einem unbeständigen, im Ganzen aber eher verhangenen Tag verfüge ich mich 190 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ohne zu Zögern auf die Couch. Hirtberg lässt mir immer die Wahl, niemals würde er mich auffordern, etwas zu tun oder zu lassen. Es ist nicht unangenehm, die Gedanken fließen zu lassen. Statt eines übergeordneten Themas habe ich mehrere kleine. Eine großartige Erfahrung, bei Hirtberg Narrenfreiheit zu haben, so jedenfalls empfinde ich es, mit großen, kleinen oder auch gar keinen Themen zu ihm kommen zu dürfen. Niemals lehnt er das Gespräch ab. »Rufus lernt reiten.« Ich beschreibe ihm das ein bisschen: »Es macht mich aggressiv, wenn das Knie immer wieder hochgezogen wird, der Absatz nicht unten, das Bein nicht lang ist. Er findet seinen Schwerpunkt noch nicht, ist meilenweit entfernt vom unabhängigen Sitz, was natürlich normal ist. Das kann Jahre dauern, bis der wirklich gegeben ist.« »Sie übertragen Ihre innere Strenge auf Rufus.« »Was habe ich eigentlich bis jetzt mit meinen Erinnerungen gemacht? Beim Sortieren aller meiner privaten Akten fällt mir Timo sekündlich in die Hände.« Ich erzähle Hirtberg das einfach so und sage, dass ich es einfach so erzähle. Hirtberg führt die Ambivalenz ins Feld. »Sie sehen jetzt die schönen Zeiten. Alles andere blenden Sie aus.« Hirtberg war im Radio in einem Interview zum Thema »Alternatives Bauen und Wohnen« zu hören. »Als Sie über das generationsübergreifende Wohnen geredet haben, war ich gerade unterwegs in Richtung Assgart.« »Das erfreut sich ja immer größerer Beliebtheit und es ist wahrscheinlich, wenn wir mal das Alter haben, viel weiter verbreitet als heute, ja vielleicht zur Normalität geworden …« »Ich kann mir durchaus vorstellen, eines Tages mit Rufus und Timo unter einem Dach zu wohnen.« Hirtberg hätte ich gern dabei. Und meinen Zahnarzt. Die Stunde wirkt am Ende, als hätten wir uns nicht genug um sie gekümmert.

191 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Verheddert in der Themenlosigkeit

D

er Ausflug nach Leipzig liegt drei Wochen zurück. Die Bücher sind ein paar Tage früher als erwartet in der Organisation eingetroffen. Immerhin, Quandt nebst Gefolge, bestehend aus Wigmann und Schlack, kommen völlig überraschend mit einer Flasche Sekt in mein Büro, und einen üppigen, wunderschönen Blumenstrauß überreicht er mir auch noch, als hätte mir der Sekt nicht schon die Sprache verschlagen. Nicht das jemand das Machwerk studiert hätte, aber auf ein gewisses Stilempfinden lässt diese Geste durchaus schließen. Der Königin bringe ich das Buch persönlich ins Schloss, hoch oben auf dem Hügel, umgeben von Weiden, auf denen Sommers die Kühe eines Bauern aus der Umgebung grasen. Sie begrüßt mich freundlich, bietet Kaffee an, ein feines handgearbeitetes Kekschen dazu, die Haushälterin kredenzt beides auf einem silbernen Tablett aus dem 18. Jahrhundert. Die Königin nimmt das Buch entgegen, formuliert ein paar höfliche Sätze. Möglicherweise meint sie sogar, was sie sagt. Ich vermisse Herzlichkeit, Spontaneität, Originalität und Begeisterung, ein Leuchten in ihren Augen. Eine schwüle Wärmewelle lastet auf der Stadt, kein Lüftchen regt sich, der Himmel ist bedeckt. Hirtberg schließt das Fenster nicht. In seinem grauen Schlabbershirt und einer Jeans, die schon bessere Tage hinter sich hat, sieht er aus wie ein Hafenarbeiter, zumal er auf die Rasur verzichtet zu haben scheint. »Bitte, setzen Sie sich.« »Sofort. Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.« Etwas umständlich befreie ich das Druckwerk aus der Leintasche. »Darf ich Ihnen das schenken?« Mutig zwinkere ich dem Hafenarbeiter zu und lasse mich dann rasch auf der Couch nieder. Mehr als kurz in dem Buch herumblättern kann er jetzt Gott sei Dank nicht: Wir haben unseren Termin und mir wäre es sehr recht, wir würden alsbald mit der Behandlung anfangen. Er hat den Entstehungsprozess des Buches mitbekommen, mich ermutigt, Ideen beigesteuert. Es schmeichelt mir, dass ihm das Ergebnis gefällt, obschon seine Worte der Anerkennung schwer auszuhalten sind. Zumal ich mir auch nicht wirklich vorstellen kann, dass er sie ernst meint. »Sind Sie stolz?« »Ja. Vor allem darauf, durchgehalten zu haben.«

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Das war das Schwierigste, genau wie bei der Dissertation. Ausdauer und eine gewisse Unerschütterlichkeit ist entscheidender als alle Fachkompetenz, von Intelligenz ganz zu schweigen. Es kann nicht schaden, mit beidem in hinreichendem Maße gesegnet zu sein, das Entscheidende aber ist Zähigkeit auf dem mitunter langen Weg zum Ziel. Fünf Jahre hat mich das Opus gekostet, und die Organisation eine ganze Menge Geld. Einige Wochen später. Hirtberg sitzt hinter mir, trotzdem spüre ich weniger Aufmerksamkeit, weniger Konzentration als sonst. Keine Ahnung, warum ich das spüre. Zwanzig Minuten vor Schluss entschuldigt er sich, er habe wohl zu viel Kaffee getrunken. »Jetzt beginnt eine neue Ära«, erkläre ich, als er zurückkommt. »Mir wird klar, dass meine privaten und freiberuflichen Aktivitäten mehr Beachtung fordern.« »Darüber sollten Sie ebenso gewissenhaft Buch führen wie über alles Dienstliche, ähnlich akribische Listen führen wie über Gewicht, Kalorien, Essverhalten.« »Ja, Sie haben recht, ohne entsprechende Übersicht tue ich einfach nix.« »Was haben Sie denn seit Anfang August, seit Erscheinen des Buches, gemacht? Wissen Sie das?« »Ja, so einigermaßen: einen Katalogbeitrag geschrieben, meine gesamten persönlichen Aktenordner gesichtet und umsystematisiert, mir fünf Zähne ziehen lassen, ein Kaltblutfohlen gekauft und mein Bewegungsprogramm wieder aufgenommen.« »Na, von nix kann ja nur bedingt die Rede sein«, sagt Hirtberg und ergänzt diese relativierende Einschätzung um eine bemerkenswerte Absolution: »Es ist völlig in Ordnung, dass Sie Ihre Listen und Tabellen führen. Sie leben damit Ihre Rituale, und diese Rituale geben Ihnen Sicherheit. Es ist wie mit der Religion, die ja auch für Stabilität sorgt. Sie müssen sehen, wie viel von der Kontrolle Sie brauchen. Wie viel Ihnen gut tut oder zumindest nützt. Und wann sie zur Belastung wird.« Die Rekonstruktion einer wiederum späteren Sitzung gelingt mit nur partiell. Es war eine dieser themenlosen, sehr unbehaglichen Stunden, in denen ich am liebsten aus dem Fenster springen würde. Hirtberg zieht Fragen aus einem imaginierten Koffer, nachdem ich wortreich erläuterte, dass ich keine Vorstellung davon habe, wo und wie wir weitermachen sollen. »Nun hilf mir doch mal! Das ist es, was Sie sagen wollen.« Völlig unerwartet hilft er mir tatsächlich. Mit besagtem Koffer. Zuerst zieht er meine Verliebtheit in ihn heraus. »Was ist eigentlich daraus geworden? Und welche Rolle spielt das Thema im Zusammenhang mit Rufus?« Gottlob sitze ich mit dem Rücken zu ihm. Dann, sagt er, fiele ihm auf, dass ich mir immer noch nicht meiner Wirkgewalt – oder Wirkmächtigkeit – bewusst sei. Rasch projiziere ich eine ungeduldige Betonung auf »immer noch nicht«. 193 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Nein, derer bin ich mir immer noch nicht bewusst.« Hirtberg überschätzt mich maßlos. »Ihre Macht kriegen Sie nicht auf den Bildschirm, Sie haben das immer noch nicht so ganz begriffen … ist so mein Eindruck. Was glauben Sie, warum niemand etwas zu Ihrem Buch sagt? Nicht weil es schlecht ist. Sondern weil es gut ist. Die haben alle Angst, Respekt vor Ihnen.« »So ein Blödsinn!« Gottlob sitze ich mit dem Rücken zu ihm. Und schließlich offeriert er das hinlänglich bekannte Sujet »Noch mehr Weib« … Ein Thema, das, wie ich nicht zum ersten Mal feststelle, mit dem Eingangsthema, meinen Gefühlen für Zauberkünstler, verknüpft ist. »Niemals käme ich ohne Not und Gebot auf die Idee, im Rock, womöglich noch in Netzstrümpfen und hohen Hacken, hier aufzukreuzen! Wie Sie beobachten konnten«, sage ich vielleicht eine Spur zu schnippisch, »trage ich bei sommerlichen Temperaturen durchaus Röcke und Kleider, sogar mit nackten Beinen.« Nun, mit der Idee, mich mit etwas mehr Sinn für subtile Erotik zu kleiden, habe ich des Öfteren geliebäugelt, die Umsetzung allerdings habe ich mir verkniffen, weil ich mir damit nicht sehr authentisch vorkäme. »Wie wäre das, hier in diesem Kontext?« Erst mal tief durchatmen. »Nun, Hirtberg, die Tatsache, dass derlei Koketterie mit unumstößlicher Gewissheit nicht den gewünschten Erfolg verspricht, rückte sie in die Nähe einer Demütigung, die ich mir zu allem Überfluss auch noch selbst einbrocken würde. Sie werden, müssen und wollen mich zurückweisen. Die Blöße will ich mir nicht geben.« »Können Sie sich vorstellen, einfach spielerisch mit diesem Quentchen Erotik, das überhaupt nicht zielorientiert sein muss, umzugehen? Es so mitlaufen zu lassen, neben allem anderen?« »Nein, kann ich nicht … Doch, ja, vorstellen kann ich mir viel … Das Körpergefühl ist natürlich ein anderes, wenn meine Füße in höheren Schuhen stecken, die Art zu gehen ist anders, ein bisschen sexy.« Von Anfang an hätte ich das so machen sollen! Dann hätte er mich gleich anders, vielleicht als Frau, wahrgenommen. Jetzt komme ich aus der Nummer, aus dieser verdammten Intellektuellen-Rolle, nicht mehr raus, ohne mich lächerlich zu machen. Gottlob sitze ich mit dem Rücken zu ihm. Da ich weder über meine Hirtberg betreffenden Gefühle noch über meine vermeintliche Wirkgewalt, geschweige denn über noch mehr Weib reden will, erzähle ich, dass Rufus mir ein Konzept zu einer Skulpturenserie schickt, verbunden mit der Bitte um Korrekturen und konstruktive Kritik. »Ich schnappe mir das Elaborat, arbeite intensiv an der sprachlichen Optimierung, weit davon entfernt zu ahnen, dass es zu massiven Missverständnissen kommen wird. Rufus findet meine Fassung zwar sachgemäß und inhaltlich nachvollziehbar, wie er sich ausdrückt, ändert aber selbst fleißig weiter herum und versäumt am Ende, mir die nun aktuelle Version zukommen zu lassen, was zu einem erheblichen Durchei194 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

nander der Dateien und mithin Versionen führt. Unprofessionell finde ich das und bin obendrein beleidigt.« »Womit hat er Sie beleidigt?«, klinkt Hirtberg sich ein. »Er untergräbt meine Autorität, wenn er am Ende doch macht, was er will.« »Aber es ist sein Text. Sie sind nicht verantwortlich für die Qualität.« »Nein, bin ich nicht. Deshalb habe ich vorgeschlagen, unsere schriftlichen Entäußerungen künftig strikt getrennt zu behandeln, woraus er folgerte, völlig am Eigentlichen vorbei, dass er den Krimi vernichten soll.« »Was für einen Krimi?« »Ach, wir experimentieren ein bisschen herum, schreiben einen Krimi, zum Beispiel. Nach dem gleichen dialogischen Prinzip wie die Neo-Dada-Geschichten. Was den Krimi betrifft, hält er die Zügel etwas arg straff in der Hand. Anders ausgedrückt: Er konstruiert eine Geschichte, die ich im Leben nicht lesen würde. Zuviel Aktion, zu viele Tote – ich blicke auf Seite neunundvierzig schon nicht mehr durch.« »Wie können Sie dann schreiben, wenn Sie auf Seite neunundvierzig schon nicht mehr durchblicken?« »Na eben, ich kann nicht schreiben, weil ich mich mit der Geschichte nicht mehr identifiziere. Rufus bringt Geheimdienste ins Spiel, deren Aufgabe ich nicht verstehe, auch nicht verstehen will.« »Warum machen Sie sich nicht im Vorfeld ein Konzept, in dem klar geregelt ist, welche Personen auftreten und welche Rolle sie spielen?« »Weil Rufus das nicht will. Er will keine Spielregeln, Regeln töten jede Kreativität, sagt er, eine Auffassung, die ich so nicht teile, aber egal, ich bin jedenfalls diejenige, die quasi hinter ihm her aufräumt, damit gewährleistet ist, dass ein etwaiger Leser überhaupt folgen kann.« Warum muss ich eigentlich immer aufräumen, sortieren, ordnen? Das hat doch etwas Zwanghaftes, Neurotisches … Schon wieder denke ich an Dietlinde, die oft ihren Vater, einen sehr musischen, feingliedrigen Mann, der mit vierundfünfzig an einer Staublunge verstarb, zitierte: »Alles Gleichmäßige wirkt schön«, soll er gesagt und die Karotten im Korb parallel ausgerichtet haben. Ich erwische mich bisweilen dabei, im Supermarkt Kartoffeln auszusuchen, die alle gleich groß sind. Hirtberg amüsiert sich königlich, als ich ihn an einer weiteren Episode mit der Königin teilhaben lasse. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie blöde ich mir dabei vorkomme, mit ihr gemeinsam in ihrem Schloss eines der Bücherregale in Ordnung zu bringen. Es ging um maximal zwei laufende Meter. Eine lächerliche Angelegenheit, galt es doch lediglich, einige Bücher etwas nach links, andere etwas nach rechts zu schieben und die Buchrücken parallel zur Regalkante auszurichten.« Intellektuell eine überschaubare Aufgabe, die ich gleichwohl mit Akribie und Ernsthaftigkeit erledige. Die Königin ist begeistert, bedankt sich überschwänglich 195 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

für mein grenzenloses Engagement. Ich habe einen Jungfrau-Aszendenten und weiß, dass ich gut ordnen, gut strukturieren kann. »Und es zermürbt Sie, wenn Sie sich an Ihre nicht lange zurückliegende Reaktion auf Ihre wissenschaftliche Leistung erinnern?« »Ja. Ich fühle mich, ehrlich gesagt, so wenig ernst genommen wie damals, als Gerhard und Dietlinde meinen kindlichen Traum von einer Teilnahme an der Olympiade süffisant belächelten.« »Die Dame ist dement. Den Verdacht habe ich ja schon länger«, sagt Hirtberg mit ernster Mine. »Sie ist nicht in der Lage, Strukturen, auch keine kleineren, zu entwickeln und sich daran zu halten. Deshalb braucht Sie Ihre Hilfe, Ihre Fähigkeit, systematisch zu denken und mit Systemen zu arbeiten. »Gut, dass ich studiert habe.« »Jetzt werden Sie sarkastisch.« »Ja und? Nun, ich werde künftig nur noch aufräumen, nett gucken bei diesem blöden Spiel und mich darüber hinaus meinem eigenen privaten und freiberuflichen Kram widmen.« »Ja, räumen Sie mit ihr auf«, kichert er, »wann immer sie es wünscht. Sie müssen nicht ständig Bücher oder sonst was produzieren. Auch solche Dinge haben, wie das Spiel, ihren Sinn. Sie sind zweckfrei, haben aber einen Sinn. So wie Ihre Geschichten, Ihre Neo-Dada-Storys einen Sinn haben. Sinn-voll sind. Spielen Sie mit der Königin. Und wenn sie so ganz versunken ist, dann sprechen Sie, ganz spielerisch, noch mal Ihre Gehaltsfrage an.« Mir macht es Spaß, auf dieser Ebene mit ihm zu blödeln. Es ist eine sehr feinsinnige Blödelei, die er da inszeniert, ein Spiel mit Sinn. »Noch etwas anderes, Hirtberg. Ich schulde Ihnen eine Antwort auf Ihre Frage, was aus meiner, hm, Sie sprachen von Verliebtheit, geworden ist und welchen Einfluss sie auf die Beziehung zwischen Rufus und mir hat. Wollen Sie sie hören?« Statt seine Reaktion abzuwarten, erkläre ich kurz und bündig, ein wenig knappkantig vielleicht, die Verliebtheit habe keinerlei Einfluss auf die Beziehung zwischen Rufus und mir und sei von rein katalysatorischer Wirkung gewesen. Punkt. Zwar sei ich in der Tat sehr verliebt gewesen, hätte gelitten und sodann beschlossen, diese Gefühle kurzerhand aus diesem Raum herauszunehmen, sie in die Freiheit zu entlassen und meine Bedürfnisse – notgedrungen – außerhalb dieser vier Wände zu befriedigen. Ende. Hirtberg findet das perfekt. Wie aus dem Lehrbuch. Klingt ziemlich ideal, selbst in meinen Ohren. Ja, klug habe ich das gemacht. Dass die Gefühle wiederkommen oder dass sie lediglich überlagert oder verdrängt sein könnten, kommt mir nicht in den Sinn. »Und was die Trennung von Timo betrifft, habe ich alles richtig gemacht«, sinniere ich weiter. »Jedenfalls haben Sie ein tragfähiges Fundament für eine neue Beziehung geschaffen, für eine von Altlasten freie Beziehung mit Rufus. Und Ihre innere Distanzierung von der Organisation ist konsequent und ebenso richtig wie wichtig.« 196 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Nun gut, unsere Veranstaltung trägt offenbar Früchte … Nur, warum kommt sie dann immer noch, die Artistin? Was ist das, Hirtberg?« »Sie haben nicht integriert, dass Sie es sind, die entscheidet. Da ist eine Trennwand: Auf der einen Seite sind Sie, auf der anderen dieses Etwas, nennen Sie es meinetwegen Artistin. Manchmal fällt die Trennwand in sich zusammen. Noch einmal« – er steht kurz auf, guckt aus dem Fenster, wer im Hof diesen Radau veranstaltet und schaut mich dann eindringlich an: »Sie sind es selbst, die entscheidet: zum Teufel mit der Disziplin, her mit den Müsliriegeln, und eine Packung Kekse dazu!« Als ob ich damit auskäme. »Ich stehe neben mir, während ich mit der Artistin turtele, beobachte uns von außen: Was macht diese Person, die eigentlich nicht ich sein kann? Bist du eigentlich restlos bescheuert, du haltloses, verfressenes Ungeheuer? Dietlinde bezeichnete mich so, wenn ich mich recht erinnere.« Natürlich erinnere ich mich recht. »Nun, jedenfalls stehe ich außerhalb meiner selbst und beobachte das absurde Theater.« »Das hört sich nach Dissoziation an«, konstatiert Hirtberg. Leider versäume ich, das Stichwort zu hinterfragen. »Anderen Menschen gegenüber fühle ich mich überhaupt nicht authentisch.« »Sie sind auch vor sich selbst nicht authentisch.« »Ach du lieber Himmel! Und was ist mit den ganzen Kontrollsystemen, die ich führe? Da bin ich doch ich selbst!« Hirtberg guckt wahrscheinlich ratlos. »Ehrlich gesagt fühle ich mich wie ein Indianer. Ich habe einfach keine Ahnung von der psychoanalytischen Disposition von Essstörungen.« Na, da haben wir’s: Er kann es nicht mehr hören. Ich knibbele an meinen Nägeln herum. »Finden Sie es blöd, dass ich schon wieder damit anfange?«, frage ich, obwohl ich genau weiß, dass ich erzählen darf, was ich will. »Nein, ich finde das spannend«, antwortet er, mäßig überzeugend. »Glaube ich nicht. Das sagen Sie, weil Sie mich nicht verschrecken wollen.« Nur vordergründig entkontextualisiert verabschiedet er mich mit den Worten: »Die Verantwortung liegt zu hundert Prozent bei Ihnen.« Rufus und ich haben unseren ersten Jahrestag und fahren an den Ort unserer ersten realen Begegnung am Rhein. Ein paar Stunden später ringe ich schon wieder um ein Thema. Zwei stehen zur Auswahl: Das eine ist die Fortsetzung der Untersuchung meiner Schwierigkeiten im Umgang mit Nahrung. Möchte ich mich weiter durch diesen zähen Brei quälen? Anknüpfen an seine Überlegung, ob ich sicher sei, dass es wirklich nur um ein hermaphroditisches Ideal geht? Wahrscheinlich will er auf eine verdeckte Sehnsucht nach mehr Weib hinaus. 197 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Das andere ist die Organisationsproblematik, die Frage, wie Quandt beizubringen ist, dass ich gedenke, künftig nicht mehr wie bisher, immer, das heißt vierzig Stunden die Woche, im Büro, sondern auch am heimischen Schreibtisch zu arbeiten. Wir entscheiden, nein: Ich entscheide mich für die Organisationsproblematik. Quandt bitte ich später in Form einer Aktennotiz um Verständnis, wenn die wissenschaftliche Arbeit künftig verstärkt an meinem privaten Schreibtisch, in Bibliotheken und Museen stattfinden würde, wobei ich selbstverständlich jederzeit telefonisch, per E-Mail oder Fax erreichbar sei. Quandt reagiert überhaupt nicht. »Sehen Sie das doch einfach positiv, solche Arbeitsplätze sind rar! Man verlangt von Ihnen nichts weiter als Ihre Anwesenheit. Wie in einer Talkshow: ›Schön, dass Sie da sind.‹ Geben Sie Ihren Vorgesetzten, was Sie verlangen: nämlich nichts.« Hirtbergs trockener Humor ist unschlagbar: Er bringt die Sache auf den Punkt und fokussiert dabei den Blick auf die komische Komponente, die jedem Drama innewohnt. Dietlinde feiert ihren siebzigsten Geburtstag in der Schweiz und lädt Josephine, Frederik und mich nebst unserer Partner und Kinder zu einem mehrtägigen Fest ein. Diese exklusive Form der Familienzusammenführung gerät zu einer Art Psychotheater, das Rufus und ich aufmerksam beobachten, ohne uns vereinnahmen zu lassen. Die Behandlung wirkt mitunter an Stellen, wo man es gar nicht erwartet. So lehrt sie mich das nicht wertende Betrachten und Akzeptieren von Gegebenheiten, die nun mal so sind, wie sie sind. Hirtberg hört sich meine Erzählung an, ohne Bedeutsames zu sagen. Was soll er auch dazu sagen? So stolpere ich unbeholfen und allein ins nächste Thema: die Ambivalenz, die vor dem Hintergrund dieses ewigen Pendelns zwischen meiner Wohnung und Rufus’ Atelier entsteht. »Ganz gleich, an welchem Ort ich mich befinde, ein Abschied liegt ständig in der Luft.« Hier geht es im Augenblick auch nicht weiter. Hirtberg lässt mich hängen. Spürbar mühsam hangele ich mich denn weiter. Freundschaft. Gegenwärtig schreibe ich einen Text für eine Künstlerin der dritten oder vierten Garnitur, Hausfrauenklasse. Aus gutem Grund weiß ich derlei in der Regel zu vermeiden, dies aber ist ein Sonderfall: Es handelt sich um eine Freundin von Anna. Nur: Was ist sie, Anna, für mich? Die Atmosphäre im Raum ist unerträglich. Das scheinbar beliebige Anschneiden verschiedener Themen, die zumindest jetzt nicht von Bedeutung sind, macht mich wahnsinnig. Innere Spannungen steigen auf 198 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und intensivieren sich mit jedem Atemzug, den ich von Hirtberg vernehme. Ich wage nicht, mich umzusehen. Schliefe er, wer wollte es ihm übel nehmen? »Das ist jetzt ein Hänger.« Gleich explodiere ich. »Das, Hirtberg, ist mir klar.« Spätestens nach meiner gründlichen Projektion wirkt Hirtberg wirklich gelangweilt und genervt. Ich verstehe nicht, was er hören will. »Sie wollen nicht verstehen«, sagt er, wie mir scheint, gereizt. Es ist das erste und einzige Mal, dass wir komplett aneinander vorbeireden. Die Topfpflanze in der Ecke, eine Begonienart, trägt rosafarbene Blüten. Jede Windung ihrer spärlich beblätterten Äste könnte ich auswendig zeichnen. Draußen scheint die Sonne. Ich steige aus. Die Artistin holt mich vor der Praxis ab. Und sie begleitet mich zur nächsten Stunde. Normalerweise bin ich mehr oder weniger hungrig, wenn ich zu Hirtberg gehe. Nun, gut gefüttert, verschweige ich meinen letzten Alkoholexzess, bestehend aus einem Klaren und drei Amaretto. Ich trage locker sitzende Jeans, um meinen Körper nicht zu spüren. In dem Versuch, mich mit meinem Fettmantel abzufinden, geht es mir extrem schlecht, ich scheitere, werde noch gestörter und greife zu einem tot geglaubten Feind, um mich zu vergessen, dies auf Kosten meiner Wahrnehmung aller Dinge, die es mehr als wert sind, wahrgenommen zu werden. Die Ambivalenz in meinem Leben steigert sich ins Unermessliche. Dann verpasse ich eine Stunde. In einer Mail versuche ich zu erklären, warum ich die Stunde verpasst habe, obwohl mir seine Veranstaltung heilig ist. »Also, was war los? Widerstand? Vielleicht. Darüber könnten wir gelegentlich nachdenken. In den letzten Stunden haben wir uns mit meinem Körpergefühl und meinem Essproblem beschäftigt, wobei erhebliche Schwierigkeiten aufgetreten sind. Und seit einigen Wochen steht die Frage »Noch mehr Weib?« im Raum – dies jedenfalls der Titel jener Datei, in der ich die letzten fünfzehn, zwanzig oder mehr Stunden zu protokollieren versucht habe. Zum Teil rekonstruierend, womit ich schon bei einem Thema wäre: Zeitmangel, um es sehr unanalytisch auszudrücken. Man könnte es auch, nicht weniger unanalytisch, Überfülle nennen, geistiger und seelischer Natur. Ein Phänomen übrigens, das ich positiv bewerte. In Monotonie und Zwanghaftigkeit möchte ich, aller vermeintlichen Sicherheiten zum Trotz, nicht zurück.« Ein weiteres Thema ist die wachsende Selbstbestimmung, die Lösung von der Identifikation mit der Organisation, das Wahrnehmen des Zensors, die selbstbewusste Verbindung mit eigenen Themen und deren schrittweise Realisation – fatalerweise, was den Zeitaufwand betrifft, auf Kosten jenes Vereins, der mich bezahlt. »Doch gestatten Sie mir, einen Augenblick im Konkreten zu verweilen: Geradezu halsstarrig – ein Begriff, der gern in meinem Elternhaus verwandt wurde – halte ich an meinem hermaphroditischen Ideal fest, wohl wissend, gegenwärtig weiter denn je 199 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

davon entfernt zu sein, oder sagen wir: weiter als in den zurückliegenden zwei Jahren. Nein, ich schiebe nicht Ihnen den schwarzen Peter zu! Ich stelle lediglich eine zeitliche Koinzidenz fest, das verankert mich und wurzelt in meinem Hang zum magischen Denken. Also doch Schwarzpeterei? Wie dem auch sei, ich ringe um die Implementierung dieser kognitiven Erkenntnis in mein seelisches Erleben, dass nämlich ich selbst zu hundert Prozent für mein Gewicht verantwortlich bin. Wahrscheinlich auch für das damit einhergehende hundsmiserable Körpergefühl, das mich schier um den Verstand bringt – und obendrein in die bedrohliche Nähe des Alkohol-Abusus, wobei Häufigkeit und Quantität des Konsumierten nicht der Rede wert und die Wirkung folglich eine wohl eher imaginierte ist. Aber Schnaps – den ich, sorry, einfach nur zum Kotzen finde – zu schlucken, halte ich für bedenklich. Inzwischen kämpfe ich an einer anderen Front: neuerdings an der des Versuches, ein paar Kilo mehr zumindest auszuprobieren. Auszuhalten. Es ist nicht auszuhalten, Hirtberg! Konkret: Bei Entlassung aus der Klinik wog ich neunundfünfzig, jetzt ungefähr dreiundsechzig Kilo. Das ist eine Differenz von sechzehn Päckchen Butter! Reines Fett. Numerisch ist mein Gewicht allerdings nicht sehr zuverlässig zu fassen, was mit meinem, wenngleich reduzierten und modifizierten, bulimischen Verhalten zusammenhängt. Ich erspare Ihnen Zahlenspielereien. Um auf den Punkt zu kommen: Leider nicht zum ersten Mal entschieden, ohne Essattacken mit anschließendem Erbrechen zwei bis drei Kilo abzunehmen, gilt mein Augenmerk vermehrter Bewegung, was nicht so einfach zu realisieren ist und nach enormer Disziplinierung meiner eher trägen Grundhaltung verlangt. Schon sind wir wieder beim Zeitproblem, was heute zur Legitimation meiner Abmeldung diente. Hinzu kommt Scham. Ich möchte nicht, dass Sie mich dick sehen. Der Vollständigkeit halber gilt es hinzuzufügen, dass, nach nunmehr drei Wochen lustvollen Herumexperimentierens mit wöchentlich zwei Tagen Arbeit im Atelier an eigenen Themen oder solchen, die Rufus betreffen – was mich mehr interessiert als die Organisation, die sich ja auch nur sehr bedingt für mich interessiert –, erwachte jäh das schlechte Gewissen. Schuldgefühle. Ich tue viel zu wenig für mein Geld. Das ist Fakt. Allerdings: Tue ich mehr, entsteht der Eindruck, unterbezahlt zu sein. Warum ist es so schwer, auch emotional bei der Entscheidung zu Gunsten eigener Themen zu bleiben? Warum bricht sich der innere Zensor immer wieder die Bahn und malträtiert mich? Warum überfiel mich heute eine regelrechte Angst, erwischt zu werden bei meiner physischen Absenz, wenn ich denn zur Stunde gekommen wäre? Warum wollte ich unbedingt präsent sein? Braves Kind. Nur ein Teil von mir hatte tatsächlich die Absicht, das eine oder andere fertigzustellen, wobei das eine vom anderen – freches Kind – schon wieder etwas Eigenes war, das immerhin auch fertiggestellt wurde, womit der Ring frei ist für den nächsten Kampf: ein Text mit Deadline 31. Oktober. Was ist mit dem anderen Teil? Alles nichts Neues für Sie. Und für mich? Nun, neu vielleicht die Tatsache, dass ich so dreist war, die Stunde abzusagen zu Gunsten von Dingen, die vordergründig drängender waren. 200 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Natürlich frage ich mich, ob Sie jetzt überhaupt noch bereit sind, mit mir zu arbeiten. Vielleicht sind wirklich so große Widerstände im Spiel, dass Sie zu dem Schluss kommen, dass es keinen Sinn hat. Andererseits: Nicht ohne Grund, das immerhin beginne ich zu begreifen, dauert eine Analyse unter Umständen mehrere Jahre. Wir haben zwei hinter uns. Schicken Sie mich nicht weg, bitte. Regression? Ist doch nicht verboten. Oder?« Hirtberg antwortet postwendend. »Um Ihre Gedanken aufzugreifen: Vielleicht geht die beglückende Fülle und Buntheit Ihres Lebens, so wie Sie es jetzt zunehmend (ich meine natürlich vermehrt, wollte ich sagen – um Gottes willen), wie Sie es jetzt mehr und mehr erleben und genießen, mit weniger Kargheit und stattdessen mit mehr Präsenz – ich wollte erneut schreiben: Zunahme – einher. Sie sind da. Auch als Frau und Weib. Vielleicht ist das erst einmal irritierend und schwer auszuhalten … wohl nicht nur. Es geht um das Maß, mit dem Sie sich und den Ihnen zustehenden Raum (aus)füllen. Auch körperlich. Sie nehmen an Gewicht zu. An intellektuellem, geistigem, emotionalem, erotischem. Ihre Worte und Ihr Einfluss wiegen schwerer. In Ihrem Fach bringen Sie etwas auf die Waagschale. Es gibt Personen, die demgegenüber satt und fett sind. Ohne etwas zu wiegen. Sie werden schwergewichtiger. Das hat nichts mit Kilos, doch viel mit Wichtigkeiten zu tun. Sie werden wichtiger werden – das dazu passende Gewicht werden Sie herausfinden.« Hirtberg erlässt mir die eigentlich fälligen sechzig Euro, was ich als eine sehr menschliche, warmherzige und tröstliche Geste empfinde. Er erzählt von einer übergewichtigen, sehr erfolgreichen Frau, die, wann immer sie gefragt werde, wie sie es schaffe, so erfolgreich zu sein, antwortet: »Das mache ich mit meinem Arsch.« Ich verstehe, wie er das meint oder besser gesagt, wie sie das meint, aber ich will keinen dicken Arsch. Sphärisch möchte ich durchs Leben schweben, beschwingt und leicht, beinahe transparent, und obendrein erfolgreich sein. Tapfer schreibe ich weiter an einem langen, am Ende ausgezeichneten Katalogbeitrag über einen jungen Künstler, dessen Bildern ich psychologische Inhalte andichte. Die Uhren werden umgestellt. Mir graut vor Herbst, Winter, Dunkelheit.

201 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Doch nur ein Tagebuch

M

an muss nicht Psychologie studiert haben, um zu erkennen, dass die Phase der inneren Lösung von der Organisation mit jener korrespondiert, in der sich die innere Trennung von Timo vollzog. Mein Eingeständnis beruflicher Verödung in verkrusteten Strukturen entspricht dem Eingeständnis, dass die Beziehung zum wechselseitigen Verhinderungskurs verkommen war. Obwohl, oder vielleicht gerade weil Rufus mich nicht blockiert, sondern Zuversicht vermittelt, und seine Form, zu leben, Mut macht, holt mich die Angst vor meiner eigenen Courage oder besser: vor Hartz IV, ein. »Die Organisation und ich haben sich auseinandergelebt, die innere Kündigung ist längst vollzogen. Vielleicht vollzog sie sich in dem Augenblick, als Rufus die Organisation als Mausoleum bezeichnete«, erzähle ich Hirtberg. Wir sitzen uns gegenüber. Ich habe keine Lust auf die Stunde, das Thema nervt. Er schlägt die Beine übereinander und sieht mich ganz normal an. So, wie er den Tankstellenpächter anguckt oder die Frau an der Theaterkasse. »Liefern Sie niemandem einen Kündigungsgrund«, empfiehlt er sachlich, »gehen Sie alle weiteren Befreiungsschritte vorsichtig dosiert und diplomatisch an.« Hält er es für denkbar, dass ich die Brocken einfach hinschmeiße? Ich kopiere meine Arbeitsverträge und schicke sie Frederik, der mir alle Illusionen nimmt: »Vergiss es, du hast einen ganz normalen Feld-Wald-Wiesen-Vertrag. Es ist kein Problem, dir ruck, zuck zu kündigen. Rein juristisch hast du überhaupt keinen Anspruch auf eine Abfindung.« »Er ist brutal«, sage ich. »Ihr Bruder ist nicht brutal, er ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe, Arbeitsrechtler. Was erwarten Sie?« »Nun gut, wenn dem so ist, kann ich definitiv keine Galerie aufmachen. Nicht mal leben.« »Sie wollen eine Galerie eröffnen?«, fragt er, als hätte ich nie mit ihm über diese Option gesprochen. Vielleicht habe ich tatsächlich nicht mit ihm darüber gesprochen. »Die Organisation weiß offensichtlich nicht«, fährt er fort, »wozu Sie da sind. Und das Museum sucht einen neuen Direktor.« »Ja. Ich denke über eine Bewerbung nach. Aber ehrlich gesagt: Eigentlich möchte

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ich einen solchen Job nicht, viel zu eng, das damit verbundene gesellschaftliche Korsett. Mir wird schlecht, wenn ich an Kulturausschüsse, Kulturratssitzungen, Kulturleiterversammlungen und ähnliche Formen der Zeitvergeudung denke. Ich habe keine Ahnung, was ich will, und ich habe keine Ahnung, was ich machen soll.« »Sie übernehmen keine Verantwortung«, stellt Hirtberg fest. »Und wo wir nicht drankommen, ist Ihre Überzeugung, dass Sie irgendwie falsch sind.« »Was heißt, ich übernehme keine Verantwortung? Man überträgt mir einfach keine, so ist das, Hirtberg, und das wissen Sie auch. Soll ich kündigen? Übernähme ich dann Verantwortung?« »Das ist jetzt schwarz-weiß. Ich habe eben gesagt: Gehen Sie alle weiteren Befreiungsschritte vorsichtig dosiert und diplomatisch an.« Pause. »Schauen Sie, es läuft doch in die richtige Richtung, Sie sind mutig und kreativ. Im Idealfall nutzen Sie die Organisation als eine Plattform, von der aus Sie agieren. Verantwortung übernehmen Sie, wenn Sie tun, was Sie für richtig halten. Was Sie gern tun. Und wenn Sie klug dabei sind. Erfüllen Sie keine Forderungen, die nicht gestellt werden. Wenn keine Forderungen gestellt werden, haben Sie Zeit, das zu tun, was Sie für richtig halten, und nicht das, von dem Sie glauben, was die Organisation für richtig halten würde, bezöge sie denn mal Stellung … Warten Sie nicht darauf, dass man Ihnen Verantwortung überträgt. Nehmen Sie sie sich.« Staunen. »Was? Sie meinen Verantwortung in einem übergeordneten Sinne? Wie, Hirtberg, bringe ich Ihre absolut überzeugenden Gedanken in meine Lebenswirklichkeit?« Der Prozess mit Hirtberg bleibt zäh in dem Sinne, als mir viele der kostbaren Stunden vergeudet vorkommen, weil sie nicht effizient genug sind, weil ich nicht genug leiste, Hirtberg auch nicht und wir auseinandergehen wie nach einem Bier in der Kneipe, wo auch nix bei rumkommt. Ich bin weit entfernt davon zu begreifen, dass auch diese Phase wichtig ist. »Das Betrachten des Hier und Jetzt und die ganze Zukunftsplanerei hat mit dem, was ich mir unter einer Analyse vorstelle, wenig zu tun, Hirtberg.« »Was stellen Sie sich denn vor?« »Wenn wir dem Klischee gerecht werden wollen, muss die frühe Kindheit mal wieder aufs Tableau …« »Stichwort ambivalenzfreier Empfangsraum«, sagt er knapp. »… von der ich nicht glaube, dass sie bis in die Gegenwart hinein wirkt. Denken Sie wirklich, dass ich mich falsch fühle, weil die Situation damals so war, wie sie war?« »Die frühesten Erfahrungen sind die konsistentesten«, sagte er. Wieder knapp. Pointiert. »Und, sehen Sie, wir haben die Zeit dazu. Alles andere, Ihre berufliche Umorientierung, muss sich jetzt erst mal weiterentwickeln.« »Ich will nicht in die Kindheit«, regrediere ich trotzig vor mich hin, steige nicht ein in das, was er mir anbietet: den ambivalenzfreien Empfangsraum, sondern frage 203 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ihn, ob er mir was zur Triebtheorie sagen kann, die nämlich, oder genauer gesagt der ganze Komplex um Ödipus, beschäftige mich im Kontext mit einem Künstler, über den ich einen Aufsatz schreibe. Widerstand!, brüllt Vincent, Rationalisierung, Intellektualisierung … Hirtberg lässt sich drauf ein. Mit allem anderen käme er auch nicht weiter, außerdem haben wir nur noch sieben Minuten. »Der Triebtheorie kann man ja sehr kritisch begegnen. Der Sexualtrieb müsste ja, zumal bei diesbezüglich sehr aktiven Menschen, irgendwann befriedigt sein. Folglich dürfte irgendwann kein Bedarf mehr bestehen. Das Gegenteil ist der Fall: Wer viel Sex hat, will auch weiterhin viel Sex. Und wer viel isst, will auch weiterhin viel essen, also isst er viel, …« Er macht eine fast unmerkliche Pause. »… hat also viel Hunger und will immer mehr essen …« Mir ist es völlig schnuppe, ob Hirtbergs Statement wissenschaftlich haltbar ist. Für mich sagt er etwas Entscheidendes, zumal wenn ich seine These umkehre: Wer wenig isst, hat auch wenig Hunger. Hirtbergs Stippvisite ins Reich Sigmund Freuds wird jedenfalls auf einer unerwarteten Ebene relevant. Mir fällt der Begriff der neuronalen Plastizität ein. »… und wer viel arbeitet«, fährt er fort, »will immer mehr arbeiten oder meint zumindest, immer mehr arbeiten zu müssen. Wir tendieren dazu, etwas, was wir einmal gemacht haben, immer wieder zu tun. Von wegen Triebstau! Der Mensch ist kein Vulkan, es kommt nicht zur Eruption. Eher ist das Gegenteil der Fall: Wer wenig Sex hat, will irgendwann gar nicht mehr. Sie sehen, die Triebtheorie ist höchst zweifelhaft. Und Thanatos ist eine Erfindung von Freund angesichts seiner Krebsdiagnose!« Freiräume. Häppchenweise mehr davon – auf Kosten der Arbeit für die Organisation, eindeutiges Zeichen für einen schleichenden Abschied. Ich lasse meine Zukunft offen und beginne eine Ahnung davon zu entwickeln, dass es nicht gefährlich ist, Dinge offen zu lassen. »Es ist nicht nötig, sofort Antworten oder Ergebnisse parat zu haben«, hat Hirtberg gesagt, und: Viel spannender sei es doch, »abzuwarten und genau wahrzunehmen, was ist«. Das allerdings erfordere »Geduld und die Fähigkeit, Ambivalenz zu ertragen, Zerrissenheit, Ungewissheit, Zweifel, das ganze Tableau unbequemer, ungeliebter Gefühle«. Zweieinhalb Jahre nach meiner Aufnahme in die Klinik ist mein Gewicht mittelmäßig, meine Lust auf Essbares unverändert ungebändigt. Entschieden kippe ich den Amaretto in den Ausguss, das harte Zeugs gleich hinterher und beschließe, die Welt als ambivalenzfreien Empfangsraum zu sehen. Die größte Herausforderung im Rahmen meiner Persönlichkeitsentwicklung überhaupt. Der Verkauf von Loschad, die innere Emanzipation von der Organisation und die Scheidung sind ein Klacks dagegen. Um den Termin vor dem Familiengericht entsteht noch einmal eine beunruhigende 204 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

innere Nähe zu Timo, die allerdings auf die Welt, die Rufus und ich bewohnen, ohne Einfluss bleibt. »In den letzten Tagen habe ich oft an Binz gedacht«, schreibt der Antragsgegner, »Binz im Winter. Ständig habe ich dieses Bild vor Augen: Prora im Schnee. Frierende Vögel am Strand. Einmal von Binz nach Prora und zurück. Du warm eingepackt, und noch einmal nach Prora und zurück. Im Schneetreiben. Die Woche in Binz war fast noch schöner als die Hochzeitswoche in Caputh. Aber auch an Caputh denke ich oft. An die Rallen und die Schwäne, an Erbsensuppe mit Wurst im alten Fährhaus, das Rex-Pils und das Hinaufdämmern der Nacht, die dem Tag beschied, zu ruhen. Auch dort eine umtriebige Frau, die laufen, sich bewegen musste, während ich einfach da war. Die Vergangenheit hilft uns nicht. Beide haben wir Partner, die keine Affären sind. Sei sicher: Nie werde ich fort von dir sein.« »Wir haben mehr gewonnen denn verloren«, antworte ich knapp. »In den letzten Tagen wurde mir bewusst«, schreibt er nach der Scheidung, »dass, wie uns das Gesetz nicht verbinden konnte, es uns heute nicht getrennt hat.« Mit Hirtberg rede ich nicht viel über diesen juristischen Akt. Die Trennung hat sich viel früher vollzogen. Rufus und ich erfinden Geschichten, völliger Nonsens, der sich aus sich selbst entwickelt. Ein bisschen Dada, ein bisschen Écriture automatique, ein bisschen freie Assoziation. Neo-Dada, wenn man so will. Das geht so: Einer fängt mit ein paar Sätzen an, der andere schreibt weiter. Während Rufus ständig neue Facetten liefert, neue Personen, Tiere und Phantome ins Spiel bringt, wache ich zumeist über Stringenz, Verständlichkeit und Syntax. Diese Geschichten leben von Spontaneität und Schnelligkeit, vertragen keine langen Pausen, kein Zögern, kein Trödeln und kein übermäßiges Gestalten. Eine Gratwanderung: Einerseits sollen sie sprachlich so plausibel klingen, dass der Eindruck einer Erzählung, einer Handlung, einer Begebenheit entsteht, kurz, als hätten sie einen Sinn, den sie auf einer ganz speziellen Ebene auch haben. Andererseits sollen sie verrückt, witzig, skurril bleiben. Ende November kommt es zu einem garstigen Streit. Auslöser sind die Versuche »Des Hirschen Nachtgesang« und »Perlhuhn an Erdnuss-Dip«. Hirtberg, dem ich das in Ermangelung wichtigerer Themen erzähle, findet das lustig, ich ja auch, »Fantasie haben Sie ja beide!« »Ja. Aber Rufus kommt nicht aus dem Quark.« »Was meinen Sie damit?« »Er braucht ewig, bis er seine Fortsetzung liefert. Das habe ich ihm auch gesagt, und daraus ist ein handfester Schlagabtausch erwachsen, bis Rufus unsere Konfliktbewältigungsstrategie, deren zum Tragenkommen mir entgangen sein muss, für effizient und damit den Streit für behoben hielt. Immerhin sei ja jeder seinen Stress losgeworden und bei ihm herrsche nun reine Luft.« Hirtberg guckt mich forschend an. »Und bei Ihnen nicht?« 205 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Nein. Nun gut, der Ton, in dem ich meine Kritik äußerte, war wohl etwas barsch geraten, aber ich habe mich entschuldigt.« »Die Entschuldigung hat er nicht angenommen?« »Doch, das schon, aber ich habe im Gegenzug von ihm verlangt, nicht ständig mit Liebesentzug zu reagieren. Sie wissen doch, es verletzt mich, wenn, was in großer Geste angeboten, ja für selbstverständlich erklärt wird – dass nämlich sein Zuhause auch mein Zuhause sei –, kurzerhand in Zweifel gezogen wird. Genau das hat er getan, als er verkündete, er wolle das Wochenende für sich allein.« »Frau Thieme, ich weiß, dass Sie hier ein Problem haben. Aber weiß Rufus das auch?« Statt sein Frage zu beantworten, lasse ich mich fallen in dieses Gefühl, nicht willkommen zu sein. »Hirtberg, mich auszuquartieren, verschlägt mir schier den Atem, zieht mir den Boden unter den Füßen weg und ist allein in seiner Dimension nicht die passende Antwort auf einen lediglich etwas barschen Ton. Finden Sie nicht, dass er einen elementaren Schritt zu weit geht, wenn er deutlich macht, dass ich eben doch nur ein Gast bin, den er vor die, vor seine, Tür setzt, wenn er sich nicht gastgemäß benimmt? Irgendwann wird er verstehen, dass der ambivalenzfreie Empfangsraum mit dieser Art von Verbarrikadierung Risse im Putz bekommt! Das ist ein absoluter SchachMatt-Zug. Die Dame fliegt gnaden- und, noch schlimmer, chancenlos vom Feld!« »Wie reagiert Rufus, wenn Sie ihm das so erklären?« »Erst mal hat er mir Aggressivität vorgeworfen, die sich aus seiner Sicht über Tage hinweg kontinuierlich gesteigert habe … Er sagt, er habe den Eindruck, ich sei sozial überlastet, gestünde mir aber nicht ein, dass ich Zeit für mich will.« »Und?« »Nun, Rufus kann nicht wissen, geschweige denn verstehen, dass die Anspannung, die er als Aggressivität wahrnimmt, tatsächlich ein Indiz für das Bedürfnis nach Zeit und Raum für mich ist.« »Dann hat er doch recht mit seiner Wahrnehmung. Intuitiv erfasst er Ihre Abkapselung, deutet sie allerdings falsch, nämlich als gegen ihn gerichtet. Was sie nicht ist.« »Nein, sie hat nichts mit ihm zu tun. Aber wollte ich ihm meine Ängste und Beklemmungen verständlich machen, käme ich nicht umhin, bei Adam und Eva anzufangen: Ess- und Körperschemastörungen sind ihm vollkommen fremd, und die sind es, die mich noch immer bisweilen zur Abkapselung zwingen. Schotten dicht. Ich kann dann nicht mehr.« Rufus und ich diskutieren noch eine Weile hin und her, schließlich schwenke ich die weiße Flagge, rufe weiße Tauben auf den Plan, weil ich ihn grenzenlos liebe. Er schreibt seinen Part in »Des Hirschen Nachtgesang« und schickt ihn mir wenige Tage später. Mit einiger Beunruhigung stelle ich fest, dass meine Notizen zur Analyse ihren protokollierenden Charakter verlieren, zunehmend verwässern und zu einem belanglosen 206 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Tagebuch verkommen. Schuld- und Unzulänglichkeitsgefühle stellen sich mit der nur Ihnen eigenen Zuverlässigkeit ein. Undiszipliniert und haltlos bist du, höre ich Dietlinde, faul und bequem, los, schreib sofort das kleine Einmalsieben so oft auf, bis die Seite voll ist! Ich male große Zahlen und bin in fünf Minuten fertig. Der Wunsch, Hirtberg zum Abschluss der Analyse ein möglichst anspruchsvolles, authentisches und überdies spannendes Verlaufsdokument zu überreichen, ist überschattet von der Vorstellung, dass das Ganze ohnehin nicht außergewöhnlich ist, von perfekt ganz zu schweigen. Nun, was war so viel wichtiger als der Bericht, wichtiger als die Stunden bei Hirtberg? Der Powerpoint-Kurs? Meine minimalistische Homepage, die eigentlich schon im Sommer online gehen sollte und immer noch ihrer Weiterentwicklung harrt? Hirtberg hat mir in den vergangenen Monaten bei der Trennung von Loschad, der Distanzierung von der Organisation, der Scheidung geholfen. Parallel dazu immer wieder das Thema Essen, nicht Essen, Gewicht. Jetzt, hinter mir sitzend, begegnet er diesem immer noch hochsensiblen Sujet mit gleich bleibendem Langmut, jedoch nicht ohne festzustellen, dass er dagegen einfach nicht ankommt. »Wogegen?« »Gegen Ihre unerschütterliche Überzeugung, dick zu sein.« Er wirkt entnervt, gelangweilt. »Sie schieben die Verantwortung auf mich.« »Wieso?« Watte im Kopf. Ich starre die Pflanze an, deren Blätter immer mehr zu vergilben scheinen, betrachte die Krümmung der dünnen Stämmchen, die zum großen Teil halbwelken rosaroten Blüten. »Helfen Sie mir doch einfach.« Mein Gehirn weigert sich zu arbeiten. Ich weiß nichts zu sagen. Ich weiß auch nicht, was ich will. Freie Assoziation? Noch immer habe ich nicht begriffen, wie das geht. Hirtbergs gleichmäßige, ruhige Atemzüge sind das einzige Geräusch in diesem grau beteppichten Raum. Wie aus Trotz, als wollte ich mich von ihm abgrenzen, halte ich die Luft an, würde gern sterben, ersticken, jetzt, auf dieser Couch, während ich verzweifelt auf einen weiteren Satz von ihm warte. »Was möchten Sie denn, was ich tue?« Er denkt gar nicht daran, mir auf die Sprünge zu helfen. Durch dieses Martyrium muss ich wohl selbst. Allein. Obwohl er da ist, ist er nicht da. Ausharren, aushalten, diese unsägliche Spannung, diese Wut, die in mir aufkommt und von der ich nicht weiß, ob sie sich gegen mich oder gegen den schweigenden Freud-Apostel in meinem Nacken richtet. Oder auf den Zensor, der mir befiehlt, mich gefälligst zu konzentrieren, mich nicht so hängen, so gehen zu lassen, schämst du dich nicht? Doch. Ich höre die Uhr ticken, die nicht da ist, spüre die Minuten, wie sie hämisch meine Zeitverschwendung kommentieren: Sag was, tu was, nutze uns! 207 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wir haben versucht, dem Problem mit minutiöser Beobachtung des Vorganges selbst auf die Schliche zu kommen: vom ersten Gedankenblitz – das Brot ist so verdammt lecker, nur noch vierzig Gramm – bis hin zum Gefühl elenden Verreckens, erstickt in bizzarer Fettleibigkeit. Ich habe noch mehr gegessen. Wir haben es versucht mit Integration: Die Ess- ebenso wie die Körperschemastörung ist Teil meiner selbst. Ich habe noch mehr gegessen. Wir haben nach den Wurzeln gebuddelt, uns wieder und wieder der Aufarbeitung vorgeburtlicher und frühkindlicher Erfahrungen gewidmet in dem Bestreben, zu klären, warum, einst unbewusst, ich mich ununterbrochen irgendwie falsch fühle, dieses Gefühl auf meinen Körper projiziere und es damit konkretistisch reduziere. Ich habe noch mehr gegessen. Rein rational ist mir alles klar. Emotional komme ich gegen diese mir unbekannte Macht nicht an. Mein Handeln folgt dem Gefühl. Nicht der Erkenntnis. Am Nikolaustag besucht mich Timo im Büro. Er überreicht mir einen Brief, den er im Zug nach Berlin geschrieben hat und der – ob ihm das klar ist? – eine verdeckte Selbstoffenbarung enthält, verpackt in die akribische Darstellung seiner Affinität zu Bruckner. »Nun wirst du beim Auspacken auf einen bekannten Namen treffen«, lese ich später, als ich allein auf meinem Sofa hocke. »Bruckner. Wenn ich dich an Bruckner heranführen wollte, so hätte ich es mit seiner 6. Sinfonie getan, vielleicht mit der 3. Doch habe ich das Bedürfnis, dir einen Teil meiner Seele an die Seite zu stellen, somit also diese beiden Werke. Wer sich auf diese Musik einlässt, muss sich selbst loslassen. Das Adagio ist dir vielleicht gar nicht so unbekannt: Auf Autofahrten in Kleinkirchheim habe ich oft von dieser Sinfonie nur den 3. Satz gespielt. Damals dirigierte Hans Knappertsbusch …« Für einen Moment lasse ich den Brief auf die Kuscheldecke sinken, in die ich mich gewickelt habe. Ja, ich erinnere mich: Damals waren wir gerade ein halbes Jahr zusammen, und mein Gehirn ruft das Gefühl von damals ab, die Bilder der gigantischen Berglandschaft, die Hitze dieses Sommers ist präsent, unser Begehren … Weiter: »Beide Sinfonien haben nun ihren emotionalen Wert, sonst würde ich sie dir nicht dergestalt ans Herz legen. Was ist nun das Beeindruckende dieser Musik? Die Antwort auf diese Frage werde ich wohl nie finden. Ich beginne nun einfach mit der unvollendeten 9. Bruckner, angesichts seines nicht allzu fernen Todes, wollte dieses Werk dem lieben Gott widmen. … Da es mir nun darum zu tun ist, dich ein wenig an meinem Seelenleben teilhaben zu lassen, habe ich bewusst diese Aufnahme gewählt. Die Aufnahmen unter Jascha Horenstein zählen zu den nicht ganz einfach zu beschaffenden, für mein Empfinden aber zu denjenigen, die absolut nicht auf vordergründige Effekte setzen, sondern beide Werke in all ihrer Emotionalität ausloten. Die beiden Werke haben nun wenig mit Melodie zu tun, wenngleich es nicht viele dissonante Stellen gibt. Wenn man bedenkt, dass der 2. Satz der 9. aus dem Jahr 1890 stammt, dann erstaunt die Brutalität des Klanges, die offensichtlich die laute Monotonie von 208 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Industriemaschinen in Fabriken vorausahnt. Leben und Lebensverachtung, Ewigkeitsgewissheit, das ist der Kern Bruckner’scher Musik. Diese Musik muss man freilich an sich heranlassen. Und die einzelnen Sätze sind gewiss nicht kurz. Etwa eine halbe Stunde Zeit am Stück müsstest du dir schon nehmen, um einen davon zu hören.« Mich erreichen die Schwingungen jenseits der musikalischen Fakten. Sie sind wichtiger als das tatsächliche Begreifen oder gar Erspüren dieser Musik, die ich auch in den letzten siebzehn Jahren weder begriffen noch wirklich erspürt habe. Ich höre sowohl den ersten als auch den zweiten Teil, ohne Versenkungszwang. Am Ende bleibt die Bruckner’sche Musik nur das, was sie für mich ist: Musik, die Timo so unendlich viel bedeutet. »Du wirst damit leben müssen«, antworte ich, »dass ich Rufus liebe und wir heiraten werden. Und er wird damit leben müssen, dass wir, du und ich, eine gute, ja liebevolle Beziehung pflegen. Ich werde mit dem Gefühl leben müssen, nicht immer und nicht in der Form für dich da sein zu können, wie ich es mir wünschte. Aber das, was ist, unterliegt einem ständigen Wandel. Letztlich ist nicht absehbar, was in zwei, fünf oder fünfzehn Jahren sein wird. Ich hoffe allerdings, dass wir mit den Menschen, zu denen wir uns bekennen, alt werden, gesund bleiben und irgendwann in einem Boote sitzen werden. Ein Wunsch, eine Vision, ein Traum. Frieden. Liebe. Aufrichtigkeit. Selbstbestimmung und Zuwendung. 2008 sehen wir uns wieder. Ich freue mich darauf, so wie ich mich darüber freue, dass wir – nun geschieden und autonom agierend – ein offenes und ehrliches Verhältnis haben, in dem auch Tränen kein Tabu sind. Mit dem Lachen, das kriegen wir schon noch.« Bevor ich mich zum Friseur verfüge, sitze ich am frühen Morgen im Atelier an meinem Laptop am Kulissentisch. Wenn schon unsere, Rufus’ und meine, Vision vom Lebens-, Kunst- und Kulturzentrum vorläufig ein Traum bleiben wird, steht es mir doch frei, eine Weihnachtsgeschichte zu erfinden, in der Integration – Hirtberg würde es wohl so etikettieren – das Thema ist. Unendliche Sehnsucht nach Frieden zwischen mir und allen, die mir wichtig sind. Deren Anzahl ist ja überschaubar. Ich wünsche mir, dass sie sich untereinander kennen und verstehen. In meiner Weihnachtsgeschichte gibt es diesen Wohn-, Lebens- und Arbeitsraum. Im Sommer geben Rufus und ich Mosaik- und Malkurse im schattigen Innenhof, im Winter organisieren wir Autorenlesungen, Vorträge und Schreibworkshops am offenen Kamin. In meiner Vision begegne ich Timo im Garten der Wohnanlage, wo er sich, wann immer er Zeit hat, um unsere Kräuterbeete kümmert oder unter der alten Linde sitzt, einen Stapel Zeitungen neben sich. Seinen Unterhalt verdient er als Werbefachwirt, schreibt ansonsten Konzertkritiken für verschiedene Zeitungen. In der schwarz-weiß gefliesten Küche, wo sonst?, treffe ich Hirtberg, der natürlich sofort bereit ist, sich meines Gewichtsproblems anzunehmen. 209 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Eine surrealistische Skizze, eine Weihnachtsgeschichte eben, die ich nicht niederschreibe. Ein Bild ist Ausdruck vielleicht meiner inneren Sehnsucht nach Frieden mit mir selbst. An einem nasskalten, trüben Vormittag im bretonischen Cléder sitzen Rufus und ich am Kamin, der Hund zu unseren Füßen gibt Laute des Wohlbehagens von sich und dient mit seinem dichten Fell als Fußwärmer. In dieser Situation fällt mir, eingehüllt in eine Kuscheldecke, Hirtberg ein und seine knappen Anmerkungen zur Triebtheorie. Wer viel Sex macht, hat auch viel Lust auf weiteren Sex. Übertragen auf das Essen bedeutet das: Wer viel isst, hat viel Hunger. Folglich hat, wer wenig isst, auch wenig Hunger. Das knusprige Baguette, der französische Brie, das Schälchen mit Mandeln und Rosinen und die frischen Madeleines aus der Boulangerie reizen mich nicht mehr. Hier, in diesem kleinen Haus in der Bretagne, probieren wir, wie sich ein Zusammenleben anfühlt, wie wir uns wahrnehmen in einem Haus, in dem ich mich mit Sand und Hundehaaren arrangieren muss und dessen Bad, das dem Standard, den ich für unverzichtbar halte, deutlich hinterherhinkt. Ewige Begegnung von Steinen, Wind und Meer. Im Kamin lodern ganztägig die Flammen, glimmt in der Nacht die Glut. Erde, Luft, Wasser und Feuer. Rufus ist so unglaublich empfänglich für das Elementare! Er beobachtet, nimmt ganz genau wahr, steht begeistert, mit weit ausgebreiteten Armen vor gigantischen Felsmassiven, klettert auf steinzeitliche Steinaufschüttungen, liest Abends über die Menhire, die er tagsüber fotografiert. »Das muss deiner Bildhauerseele doch Futter sein«, sage und wühle in seinen dicken, schönen Haaren. Sein zustimmendes Lachen ist mindestens so hinreißend wie seine Energie, mit der er aller Lebendigkeit an sich, geradezu entgegen springt. Seine grünen Augen leuchten, wenn er von seinem vormittäglichen Strandbesuch mit Benno zurückkehrt, und sie funkeln ab dem späten Nachmittag am Feuer, wenn er von den Elementarwesen erzählt, denen er auf Schritt und Tritt begegnet. »Hier, in dieser Gegend, sind sie so viel zahlreicher und vor allem deutlicher zu spüren als überall sonst«, ruft er mir zu. »Spürst du sie nicht, wenn du mit Benno über die Felder läufst, spürst du nicht diese Kraft, die von ihnen ausgeht? Der Hund spürt sie, weißt du, Hunde sind hellsichtig, Benno kriegt alles mit, guck doch mal, er verhält sich doch hier ganz anders als zu Hause!« Hier besteht die Chance, die grundlegenden Veränderungen, die sich in meinem Denken bereits vollzogen haben und die nun ihren Ausdruck zumindest in Visionen – auf höherer Ebene – finden, ins Konkrete zu überführen. Das bedeutet: keine Tabellen mehr. Einfach eine weitere Hose kaufen. Genau das tue ich, wohl wissend und erneut erfahrend, dass dies allein nichts ändert. Wir kauen auf unserer Beziehung herum: wie sie jetzt aussieht und wie sie nach unserer Heirat aussehen wird, erinnern uns in der frühen Abenddämmerung, den Blick 210 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

auf die Flammen gerichtet, an frühere Beziehungen. Mit Rufus ist alles anders. Wir lieben uns mit aller Leidenschaft, ich habe den längsten Orgasmus meines Lebens. Wir blödeln im Bett und lachen uns halb tot. Um halb sieben, im Morgengrauen, tauft Rufus mich Halbsieben. Später mache ich Feuer und der Wellenbrecher, wie er nun heißt, holt sein Kleinkaliber aus dem silbergrauen T4. Man weiß ja nie, was in der Einöde passiert. Der Himmel ist grau, alles andere auch. Was mit meiner Figur ist, weiß ich nicht. Ich trage immer nur die eine weite Jeans. Wir kauen auf unserem Lebenskunsthaus herum, auf der Umgestaltung des Ateliers, auf der Verbindung des Anthroposophen mit der Akademikerin, wir diskutieren unsere unterschiedlichen Perspektiven auf die Welt, auf die Kunst und das Leben, betrachten unsere unterschiedlichen Fähigkeiten und Kenntnisse. »Wir bringen das irgendwie unter einen Hut, Rufus. Das ist nur ein Balanceakt, getragen von gegenseitigem Respekt und dem Wunsch, etwas Drittes entstehen zu lassen und wachsen zu sehen.« »Du brauchst ein Unternehmenskonzept für deine Galerie«, antwortet Rufus, springt gleich ins Konkrete. »Überlege dir genau, mit wem du arbeiten willst. Kann dir jemand schriftlich zusichern, dass er dir in der ersten Zeit mindestens zwei Texte abnimmt? Das sind dann schon mal zweitausend Euro.« Er denkt an Jurij, aber nein, das geht natürlich nicht. »Sprich mit dem Messefritzen, lass dich beraten. Eins jedenfalls ist sicher: Es gibt kein Zurück.« Was hier geschieht, ist von kosmischer Dimension, was zwischen uns geschieht, von unfassbarer Größe, geprägt von unbeschreiblicher Nähe, von gigantischer Lust, das kleine bretonische Haus erfüllt von Liebe und den Chorälen russischer Mönche. Immer wieder berühre ich mit meinen Lippen seine feine, von Lach- und Lebensfältchen durchwebte Haut oberhalb der Jochbögen, Schweiß und Gänsehaut, entfesselte Leidenschaft auf körperlicher und geistiger Ebene. Rufus wollte nur Holz holen. Für Hunderte von Euro verfeuern wir hier Holz in diesem kalten Winter, für die Bretagne absolut untypisch. Ich ärgere mich, dass er bei der Gelegenheit auch gleich im »SuperU« eingekauft hat. Und Rufus ärgert sich, nicht einfach einkaufen gehen zu können, wann und wie er will. Wir fahren ein Stück in westliche Richtung an der Küste entlang. Strand und Landschaft sind von überwältigender Kraft und Schönheit, die Stimmung angespannt. Zum Abendessen setzt er sich immerhin mit mir an den Tisch. Mit einer Besessenheit, die ich unter anderen Umständen völlig in Ordnung finde, verschlingt er einen Krimi, den er in diesem Haus gefunden hat und der von Geheimgesellschaften im Vatikan und deren Verstrickungen handelt. Ich gehe ins Bett und lese Wolf Schneiders »Hinweise zum Gebrauch der Nebensätze«. Der nächste Tag beginnt vielversprechend, gerät aber dann zu einem einzigen Eiertanz. Geben wir auf? Immerhin stand die vorzeitige Abreise bereits zur Debatte. 211 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

In Roskoff suchen wir einen Supermarkt, finden auch einen, aber der hat geschlossen. Die Artistin will Kekse. Oder ich? Auch in der Stadt sind alle Geschäfte fermé. Sie ist wütend, ich gerate zwischen die Fronten. Früher Nachmittag. Da ich, der geschlossenen Supermärkte wegen, gar nicht erst anfangen konnte, die Artistin zu füttern, möchte ich es dabei belassen. Nichts essen. Trotzdem willige ich ein, als Rufus vorschlägt, in einem kleinen Restaurant am Hafen, das Bouillabaisse und viele Fischspezialitäten der Region anbietet, davon zu kosten. Weitere Auseinandersetzungen stehe ich nicht durch. Widerstrebend spiele ich mit, fühle mich unförmig, versuche aber tapfer, das irisierende Licht, das über der kleinen Stadt liegt und die Boote leuchten lässt, wahrzunehmen und diese Wahrnehmung meinem desolaten Körpergefühl überzuordnen. Es ist lausig kalt. Rufus macht Fotos, ich setze mich auf die Mole. Ein mehr als guter, kurzer Wortwechsel entwickelt sich, ganz organisch, aus der Situation heraus. Später schreibt er einen Nachruf auf seinen verstorbenen Lehrer und ich widme mich meinem Lorna-Ben-Kapitel unseres gemeinsam ersonnenen Krimis, den wir hier zu einem vorläufigen Ende bringen. Nach einem sehr zärtlichen erotischen Dialog, einer abendliche Annäherung, geht es mir seelisch besser, brauche aber um halb fünf Aspirin. Rufus streichelt mich sanft, wir lassen beide los und lieben uns stundenlang. In Brest erstehe ich zwei Jeans, eine schwarze und eine blaue. Rufus flirtet mit der Verkäuferin und wir zwinkern einander zu – die Verkäuferin und ich. Endlich ist es etwas milder, meine Stimmung hebt sich, was sich bis zum Abschiedsspaziergang am nächsten, am letzten Tag, bei geradezu frühlingshaften Temperaturen um elf Grad, fortsetzt und steigert. Unvergessliche Eindrücke bei gleißendem Sonnenlicht. Gegen Mitternacht, im fahlen Licht des Mondes, der wie eine blanke Münze über dem Atlantik hängt, fahren wir noch mal zu unserer Lieblingsstelle unterhalb der steinernen Ruine eines ehemaligen Wachhauses in den Dünen. Die Route der Rückreise führt am Mont Saint Michel vorbei. Rufus ist begeistert, verwandelt sich selbst in einen Abt und könnte wochenlang in den mystischen Gemäuern beten oder mittelalterliche Handschriften vor Feuersbrünsten und anderem Ungemach retten. »Kommst du jetzt? Vor uns liegen rund zehn Stunden Autofahrt.« Ich ärgere mich über meine Ungeduld, noch während ich ihn subtil drangsaliere. Ich beobachte ihn, wie er, neben dem T4 stehend und auf das unendliche Watt hinausblickend, hastig kalte Spaghetti vom Vorabend aus der Schüssel gabelt. Er redet nicht, isst schnell. Meine Zweifel an der Richtigkeit, Rufus zu heiraten, schieben sich zwischen 212 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Verliebtheit und Liebe, wo es ihnen aber offenbar zu eng ist. Ich will genau diesen Mann, diese einzige Herausforderung. Beim Essen verhält er sich egoistisch, finde ich. Vielleicht fällt mir sein diesbezüglicher Mangel an Kultur, seine Unachtsamkeit, vor dem Hintergrund meiner belasteten Perspektive besonders auf. Während der Fahrt schwappt die Abschiedsstimmung ans Ufer eines Tages voller Spannungen. »Wir haben uns auch so ein bisschen voneinander verabschiedet«, sinniert Rufus vor sich hin, womit er mich verletzt, obwohl mir nicht klar ist, was er damit meint. Zum zweiten Mal erleben wir die Heiligen Nächte gemeinsam, diese mysteriöse Zeit zwischen dem Heiligen Abend und dem Dreikönigstag. Visionäres Träumen, halbkonkretes Planen, Abgrenzung, Alleinsein in der Beziehung. Sehen des Gegenübers, Unterstützung im Prozess individueller Umgestaltung auf der Basis von Autonomie und Distanz, aus der Erkennen möglich ist. Rufus rezitiert Sentenzen über Begräbnisrituale alter Kulturen unterschiedlichster Couleur. Er vergleicht den Truffaut-Film, den wir uns ansehen, mit einem Besuch bei Aldi, dann lieber James Bond, sagt er. Mir zu dicht, erschlägt, erstickt, erdrückt mich, zu schnell, die Hohe Straße am verkaufsoffenen Sonntag bei Sonnenschein. Wieso fällt aus einem abgeschossenen Flugzeug eine barbusige, bewaffnete Blondine? Wir legen ein Mosaik. Im Dialog. Schreiben unsere persönliche Weihnachtsgeschichte. »Melchior hat sich verwählt«, auch im Dialog. Die Figürchen der Pyramide von Tante llse laufen irr im Kreis, geschmückt statt Tanne der Ficus, der im Sommer draußen steht. Aufwachen um halb sieben: »galeriehalbsieben«. Ideologisch frei, völlig neu. Meine Angst vor einer Kündigung schrumpft. Reden über Anthroposophie als Basis seines Denkens. Rufus hat sich distanziert und in dieser Distanz etabliert. Er will Modernität. »Ich überlege«, sagt Rufus, »ähnlich wie du, was ich will … Was ich ganz sicher nicht will: zur tragischen Gestalt verkommen, muss oder will ich auch in die Freie Kunst?« Plötzlich erscheint die Idee von »Colour Minimal« viel zu brutal. Thema Pferd. Und Freundschaft, unsere Insel im Bergischen. Wir reden bis tief in die Nacht über die Holzschnittartigkeit des Godart-Films, den wir uns angeguckt haben und den Rufus als emotionalen Resopalschrank bezeichnet, über Minimalismus und Reduzierung in der Kunst und im Leben. Ich will Minimalismus als Antwort auf zu viel Information. Überforderung. Rückzug. Was Rufus macht, geht an mir vorbei. Verunsicherung. Auf dem Terrain konkreten Arbeitens eiern wir ziemlich umeinander herum. Silvester. Auf einer großen, weißen Leinwand kleben versprengte Keramikscherben, an den Keilrahmen gezwackt ein Foto aus der Bretagne. Plötzlich steht Rufus vor mir, Taschenrechner in der Hand. 213 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Vierhundertfünfzig Euro im Monat und du bist hier. Bei mir. Deine Galerie links, Werkstatt rechts. Weiße Wände, meine Bilder.« Im Theater »Slavas Snowshow«, melancholische Mystik. Ein Sektglas in der Hand, sieht Rufus an der Bar bezaubernd aus. »Ich möchte gern ein Heiliger sein«, sagt Rufus. »Wie fühlst du dich, wenn jemand sich unter deinen Fittichen entwickelt und entpuppt?«, frage ich. »Wie ein Gärtner. Aber die Rose ist ja schon eine Rose und wird nicht zur Rose, nur weil ich sie gieße.« »Das Zeug zum Heiligen hast du.« Schönwetterprogramm in der Organisation. Ein Jahr später kündige ich meine Wohnung. »Ich liebe dich und damit ist noch nicht alles gesagt.« Er lächelt mich an. »Ich gäbe viel auf, wenn ich zu dir zöge. Ich habe immer gesagt: Niemals ziehe ich zu einem Mann. Du verdichtest an anderer Stelle.« Verdi, »Nabucco«, der ungarische Nationalchor. In der Musik will ich Maximalismus, wie in der Liebe. Rufus übermalt die organischen Formen, die er mit Bleistift angelegt hatte. Kerzenlicht, müde Lider, wie im Märchen wischt er bei kaltem Neonlicht die anthroposophisch gefärbten Schwünge weg, während der Hund zu meinen Füßen brummt.

214 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Realitäten wie Sand am Meer

U

nsanfte Landung nach zwölf heiligen Nächten auf dem Boden profaner Tatsachen. In der Organisation fühlt es sich staubig, eng und kalt an. Ein Ort, an dem Ideen lediglich verwaltet werden, Mausoleum. Mit Quandt versuche ich, unverbindlich über die Weihnachtferien zu plaudern in dem kühnen Ansinnen, ihn aus der Reserve zu locken, was nur ab und zu gelingt. Heute gelingt es gar nicht. Ich will herausfinden, was aus seiner Sicht oder der der Königin meine aktuelle Aufgabe sein könnte, was im kommenden Jahr anliegt. Der Form halber frage ich nach, ob es Vorstellungen seitens der Organisation gibt. Es gibt keine. »Wir sollten aktiver sein«, quäkt Quandt vage, »aber …« »Ja, was: aber?« Eben. Dann kommt nichts mehr. Es gibt ein Kuratorium, das laut Satzung über das im Einzelfall wie auch immer geartete Engagement der Organisation entscheidet. Tatsächlich aber regiert die greise Königin ihr Reich, hat alle Macht über die Zustände und will, in totaler Verkennung ihrer Kompetenz, allein verantwortlich sein. Quandt blickt mich ausdruckslos an. Er sähe gern mehr Aktivität, sagt er in lichten Augenblicken, hat aber, was er natürlich nicht sagt, schon lange resigniert. Jetzt, kurz vor der Rente, bleibt er im Raster, was ihm, dem Buchhalter, ein Leichtes ist. Ich bin Wassermann. Einen Beratervertrag, den ich am liebsten hätte, wird man mir nie und nimmer andienen. Einigermaßen realistisch erscheint mir die Idee, von Vollzeit auf zwanzig Stunden pro Woche zu reduzieren. Das einzig Lebendige in diesem Büro ist der kleine Springbrunnen, den Rufus mir geschenkt hat. Und der Ficus, dem ich über Weihnachten kleine selbstklebende Sternchen auf einige seiner Blätter appliziert habe und die jetzt irgendwie surreal wirken. Ich schneide die entsprechenden Blätter ab und ein paar der dürren Zweiglein, um dem Bäumchen zu einem fülligeren Aussehen zu verhelfen. Bei allem, was ich tue, fühle mich wie Pinoccio, vermisse Rufus, ringe in einer Mail um adäquate Worte. Doch solange ich Gefangene dieser hölzernen Befindlichkeit bin, bleibt nur, ihm schlicht und unprätentiös zu sagen, dass ich, seine nach zwölf heiligen Nächten nun in der Realität erstarrte Holzpuppe, ihn liebe. Wenig später ruft er an. »Je mehr ich darüber nachdenke«, sagt er, »und mich frage, worin deine persön-

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liche Betroffenheit liegen könnte, umso mehr wird mir klar, dass hinter der Geste Selbständigkeit ein Riesenthema lauert, dass sich bis in die früheste Kindheit zieht, in deine vorgeburtliche Erfahrung … Weißt du, es geht um Zugehörigkeit, gewollt sein, sich geliebt fühlen und Familie. Natürlich will dich die Organisation nicht loswerden; kein Mensch will dich loswerden.« »Jetzt vielleicht noch nicht«, sage ich, davon überzeugt, dass man mir auf kurz oder lang kündigen wird. Weil Sie autonome Schritte gehen, wispert Hirtberg, Sie gehen in die Welt, unsicher, ob Sie das dürfen. »Noch mal«, sagt Rufus, »niemand will dich loswerden. Aber im Hinblick auf den Schritt in eine Selbständigkeit entsteht auch Angst: weit und breit allein auf einer eisigen Fläche, modernes Bewusstsein, Entgrenzung. Du bist gut versorgt und wirst geliebt, willst aber du selbst sein.« »Ach, Rufus, ja, ich fühle mich wirklich wie auf Glatteis, zum Teufel mit Hirtberg und seinem lausigen Boden, der trägt!« Rufus lässt sich nicht beirren, bleibt am Thema. »Unsere einzige Chance in dieser Welt: Ich-Tätigkeit. Ich glaube, dass du jetzt deinen Geburtsvorgang selbständig wiederholst … als Kompensation der misslungenen Urgeburt. Du fühltest dich nicht wirklich empfangen, bis heute verweigerst du die Annahme von Zuwendung.« »Ist das nicht nachvollziehbar?« »Doch. Und deshalb inszenierst du jetzt diese Neugeburt aus eigenem Bewusstsein, eigenem Wollen. Du betrittst diese Erde.« Rufus war sehr jung, als er seine Analyse gemacht hat. Sechzehn. Mit zwanzig war Schluss. Sein Vater beging Suizid, als Rufus sieben Jahre alt war. Gefragt, warum überhaupt er zum Analytiker ging, antwortet er, sein Mathe-Nachhilfelehrer habe eine entscheidende Rolle gespielt, der sei nämlich selbst zur Analyse gegangen, und so sei er mit dieser Art zu denken in Kontakt gekommen. »Weißt du«, sagt er, »tatsächlich war ich älter als sechzehn. Ich habe Freud gelesen und Reich und Steiner und wollte meinen eigenen Weg finden. Ich hatte damals nicht das Gefühl, so zu leben, wie ich leben wollte, und dies schien mir ein Weg.« Seine Art, sich einzufühlen und die Dinge zu betrachten, erinnert mich oft an Hirtberg und das, was ich bei ihm lerne, über mich, über das Leben. Später schreibt Rufus mir eine Mail, in der er unser Telefongespräch um weitere Facetten ergänzt, holt ziemlich weit aus, bemüht Steiner, was ich nicht zur Gänze nachvollziehen kann, und entschuldigt sich am Ende wortreich für seine – zugegebenermaßen individuelle – Orthografie. Wenn mich eines nicht interessiert, ist es seine Orthografie. Anders gesagt: Wenn ich eines Tages – der Himmel möge es verhüten! – eine Mail bekomme, die aussieht, als hätte ich sie mit meiner feinzinkigen Harke malträtiert, wüsste ich: Da läuft etwas schief, aber gewaltig! 216 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Am Freitagnachmittag komme ich mehr als eine Stunde später als geplant in Folzheim an: Auf der Autobahn hat ein LKW seine Ladung verloren. Rufus hat hunderte von Teelichtern und bunten Kerzen angezündet, Sandelholz-Duftöl in ein Schälchen geträufelt und drei dottergelbe Primeln auf dem Fensterbrett arrangiert. Ich hocke auf seinem knallroten Sofa und trinke Cappuccino, den er mir zubereitet hat. Dazu bringt er mir eine Wolldecke und ein Stück Apfelkuchen vom besten Konditor der Stadt. Hier, bei Rufus, kann ich das alles essen, ohne dass etwas Ungeheuerliches passiert. Es wird nicht zu viel. Natürlich frage ich mich, welche Rolle Rufus bei meiner »Geburt« spielt und – dies eigentlich noch mehr: wie er sich dabei fühlt. Wie geht es ihm mit einer Frau, die noch nicht geboren ist? »Stell dir das doch bitte mal plastisch vor, Rufus!« Seine Mail geht mir nicht aus dem Kopf. »Und doch, wie du siehst, ist sie schon da, diese Frau, ein Teil zumindest, jener nämlich, der sich perfekt angepasst hat an die schrägen Machenschaften dieser Welt, die irgendwie damit klargekommen ist – unter Verleugnung ihres Selbst.« Er guckt mich etwas irritiert aus seinen grünen Augen an, setzt sich zu mir auf das Sofa, kuschelt sich dicht an mich. »Kann der Teil, der da ist, dir überhaupt standhalten? Ist es nicht ein Sakrileg, wenn sich dieser zum Beispiel mit deiner Kunst als Ausdruck deiner – ja, ich sage es so: Unverdorbenheit beschäftigt? Mischen sich da nicht Dreck und Splitter meiner Verderbtheit zu Gunsten jener Realität, in der, zweifellos, ich mit meiner feinzinkigen Harke gut zurechtkomme, in deine unbefangene Farbigkeit?« »Ach, du, meine Seelensortiererin, unser Gesellschaftssystem hat uns so dressiert, dass wir ein Leben lang innerlich benoten und vergleichen, statt eine individualisierte, angemessene Betrachtungsweise zu üben.« »Die Seelensortiererin sorgt für Ordnung. Ordnung zu schaffen, ist naturgemäß an den – bisweilen unbewussten – Vorgang des Vergleichs gekoppelt. Außerdem hat deine Seelensortiererin einen Beruf, in dem vergleichendes Sehen Handwerkszeug ist. Ein Vergleich ist allerdings nicht an Wertung geknüpft. So habe ich vielleicht, ohne dass es mir bewusst wurde, verglichen, nicht aber gewertet. Was ist am Vergleich schlecht?« »Am nicht wertenden Vergleich … hm, du hast recht, nichts eigentlich. Aber noch mal zurück zum Stichwort Geburt: Ich bin mindestens so ungeboren wie du, definitiv. Ich glaube, dass wir uns beide in einem Prozess befinden, der mit der Geburt verwandt ist. Ich benötige deine Hilfe, die Unterstützung eines Menschen, der mich ohne Scheu und mit viel Liebe betrachtet.« »Eine Riesenchance, sich gegenseitig so zu begleiten, Rufus. Ja, auch du bist ungeboren. Willst du wirklich auf diese Welt?« Im Augenblick ist es mir Ernst mit der Galerie. Nach einer kurzen Unterredung mit Sylvia, Rufus’ Büro- und Steuergehilfin, werde ich bei der Wirtschaftsförderung der 217 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Stadt und bei der Sparkasse vorstellig. Um eine Galerie zu gründen, brauche ich die Einwilligung vom Arbeitgeber. Rufus stärkt mir den Rücken für das endlich fällige Gespräch mit Quandt. Dieses verläuft ein paar Tage später, wie ein Gespräch mit Quandt eben verläuft: erwartungsgemäß unspektakulär und ergebnislos. »Ich denke darüber nach«, näselt er, das aber auch erst nach einer geraumen Weile. Zehn Tage später tut sich immer noch nichts. Quandt schweigt. Dilettantisch, im Vergleich zu Hirtberg. Brütet, weiß der Kuckuck, worüber. Davon unabhängig wachsen derweil meine Bedenken, ob die Galerie überhaupt funktionieren kann. Am Ende hat Quandt Probleme mit meiner Idee, weil er Interessenskonflikte befürchtet. Nichts ist ihm und der ganzen Organisation mehr zuwider als Konflikte. Ich habe keine Lust auf diese Stunde, Hirtberg auch nicht, projiziere ich munter vor mich hin. In seinem dunklen Anzug wirkt er noch schlanker als in Jeans und Pulli. Vielleicht sollte ich dazu übergehen, Kostüme zu tragen. Statt Jeans. Wir reden über die Galerie. »Eine Existenzgründung ist ein Prozess mit enorm viel Ambivalenz, das müssen Sie aushalten.« Im Leben halte ich das nicht aus. »Überlegen Sie sich, wie viel Nähe und wie viel Distanz Ihre Beziehung mit Rufus verträgt. Aber auch, wie viel sie braucht. Nach einem Arbeitstag auf etwas ganz anderes umzuschalten, ist sehr schwer.« Soll das eine Warnung sein? Ganz sicher bin ich mir allerdings auch nicht, ob ich mit dem angedachten Einzug in seine Wohnung, in sein Atelier, nicht zu viel aufs Spiel setze. Alles verdichtet sich im Augenblick. Die standesamtliche Verdichtung unserer Beziehung ist absolut gewollt, deswegen aber nicht weniger mutig. Wie ist das bei Rufus? Nicht nur ich lasse mich auf das Kunsttier ein, sondern auch er lässt sich ein: auf ein quasi verbeamtetes Wissenschaftstier, das sich erst durch seinen Einfluss und in der Gemeinschaft mit ihm stark genug fühlt, in jene Untiefen zu springen, die ihm seit vielen Jahren vertraut sind. Ohne Rufus täte ich das nicht. Sogar jetzt würde ich ganz in der Organisation bleiben, wenn man mir die entsprechenden Freiräume gewähren würde, wenn ich nur maximal ein- bis zweimal wöchentlich vor Ort sein müsste. Allerdings: Niemand hat auch nur eine vage Vorstellung davon, weshalb überhaupt man mich beschäftigt. Mittelfristig ist die fortgesetzte Fixierung auf die Organisation ebenfalls riskant. Was bleibt? Nun, die Überlegung beispielsweise, den Direktorenposten am Museum anzustreben. Ich bliebe in Liefem und wir, Rufus und ich, setzen diesen Wochenendkram fort, den wir immerhin flexibler handhaben können: Als meine eigene Kontrollinstanz würde ich über Präsenz und Absenz allein entscheiden. 218 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Rufus, in mir kochen verschiedene Suppen«, druckse ich herum und kritzele Undefinierbares auf ein gelbes Pappchen. Ich muss mit ihm darüber reden, jetzt. »Die Idee mit der Galerie reizt mich … Aber mir scheint nicht zuletzt der wirtschaftliche Abhängigkeitsfaktor sehr, sehr hoch: Ohne deinen Mut und deine Kraft stehe ich das nicht durch. Weder möchte ich dir, und sei es mittelfristig, das Gefühl geben, die Verantwortung zu tragen, noch selbst das Gefühl haben, ohne dich definitiv nicht zurechtzukommen. Je länger ich nachdenke, umso deutlicher kristallisiert sich heraus, dass die Realisation des Projektes galerielinear nicht in der Form umsetzbar ist, wie wir uns das in den letzten Wochen vorgestellt haben. Die Kraft habe ich nicht.« »Was soll das heißen?« Seine Stimme klingt belegt, angespannt, mit Tendenz zum Zorn. »Im Grunde ist alles ganz einfach: Ich möchte mit dir leben, und zwar an einem Ort. Das geht nur, wenn ich größere Freiheiten in meiner Arbeitszeitgestaltung habe. Frage: Muss ich, um dies zu erreichen, gleich eine komplett neue Existenzform finden, die Selbständigkeit? Die Frage kann auch lauten: Wie bringe ich die Stadt dazu, in mir die ideale Besetzung für das Museum zu erkennen? Oder noch anders: Wie bringe ich die Organisation dazu, mich auf die Stelle des Direktors zu hieven?« Rufus unterstellt mir, dass ich selbst gar keine fundamentalen Veränderungen in meinem Leben will, weist allerdings zurück, dass diese Ideen nur durch ihn entstanden seien. »Nein, in dir sind sie vorhanden, haben sich allenfalls an mir entzündet. Dein Galeriekonzept stammt nicht aus meiner Feder! Nur letztlich möchtest du doch, dass alles so bleibt, wie es ist. Ein Arbeitgeber, der dir deine Freiheiten lässt, am besten als Museumsdirektorin mit dem gleichen Versorgungsstatus wie jetzt!« »Rufus, ich empfinde die Erkenntnis, dass ich im Kunsthandel völlig deplatziert wäre, als konstruktiven Schritt, nicht als …« Er lässt mich gar nicht ausreden: »Es ist dein Leben! Bitte, lass uns heute Abend darüber sprechen, du kommst doch, oder?« »Ja, natürlich. Gegen halb neun bin ich da.« Mir schwant Böses. Rufus ist alles andere als begeistert von meinem Rückzug. Um Mitternacht sitzen wir immer noch in der Küche und kauen auf unserer Zukunft herum. »Alle gemeinsamen, mit mir verknüpften, letztlich existenziellen Vorhaben werden damit an die Peripherie geschoben«, wirft er mir vor, »wie soll das denn gehen: inoffiziell als Galeristin nebenbei … Mein Bezug zur Kunstschickeria und zum Kunstbetrieb ist minimal. Ich finde die Vorgänge mehr als dekadent. Um Menschen und Gefühle, der Wirkung von Kunst geht es dabei nicht, ein Geschäft voller Eitelkeiten und Zynismus. Wer sich gut verkauft, wer schmiert und anderen zu guten Zähnen verhilft, kriegt seine Ausstellung. Ich bleibe lieber arm, naiv und romantisch und 219 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

rette meine Seele! Mein Leben werde ich als Gärtner beenden, mit Engeln Blumen pflanzen, die Erde streicheln …« Mit seiner Art, zum Rundumschlag auszuholen und dabei den konkreten Punkt aus den Augen zu verlieren, treibt er mich zur Weißglut. Trotzdem stehen mir die Tränen in den Augen, ich liebe diesen romantischen Seelenretter so grenzenlos. In unglaublicher Egozentrik habe ich unser Gemeinsames, habe ihn und seine Vorstellungen übersehen – und das liefert ihm den Grund, so zu reagieren, wie er eben reagiert: defensiv. Mein Rückzug, der vor dem Hintergrund ohnehin mangelhafter Entschiedenheit von meiner Seite aus gar keiner ist, muss ihm überfallartig erscheinen. Was bleibt ihm anderes übrig, als sich zu schützen? Trotzdem: Die Verhältnismäßigkeit der Mittel scheint mir nicht gewährleistet. »Du hast recht, Rufus, natürlich bist du in diese Vorgänge involviert. Es geht aber nicht nur um meine Existenz, sondern auch um unser Zusammenleben. Es tut mir leid, dass ich dich und deine Position übersehen und etwas als eine Entscheidung formuliert habe, was noch gar keine wirkliche Entscheidung ist. Ich war mir über die Brisanz meiner Sätze nicht im Klaren, mir war einfach nicht bewusst, dass es dich verletzen könnte, wenn ein gemeinsam eingeschlagener Weg – wenn es auch primär meiner ist – plötzlich zur Gänze in Frage steht.« »Benja, ich verstehe dich und respektiere deine Entscheidungen, nur bitte ich im Gegenzug um dein Verständnis dafür, dass ich zunächst abwarten möchte, wohin sich unsere Beziehung im Laufe des Jahres bewegt.« »Was meinst du denn jetzt damit?« »Vielleicht verlege ich mein Atelier nach Liefem oder wir treffen uns in der Mitte oder was weiß ich …« Etwas resigniert fügt er hinzu: »Der Energieschub der letzten Wochen ist nun erst einmal beendet. Ich konzentriere mich auf meinen Job und muss die Aufträge für dieses Jahr hereinholen.« Ich stehe auf, laufe durch die kleine Küche wie ein Hamster im Laufrad, fühle mich zerrissen, unverstanden und verzweifelt. Rufus sitzt ruhig am Tisch. Auf mich wirkt er sowohl hilflos als auch dominant, berührt und erstickt mich zugleich. »Du hast jetzt die Seite deines Lebensskriptes aufgeschlagen, auf der das Schicksal deinen Willen zu einem selbstbestimmten Dasein notiert hat«, sagt er, inzwischen etwas matt. »Ja, ich weiß, Rufus. Das heißt, dass es kein Zurück mehr gibt – und damit auch keine Stagnation. Trotzdem: Kein Geld mehr zu haben, mein Horrorszenario, wird umso wahrscheinlicher, je entschiedener ich der Organisation gegenüber meine Interessen vertrete!« »Hör zu, man braucht dich dort, nur ist das niemandem bewusst.« »Ja, und deswegen werden sie mich gehen lassen, ohne mir auch nur ein Träne nachzuweinen. Aus dieser Angst heraus, Rufus, ist die Idee, Direktorin werden zu wollen, geboren. Diese Aufgabe, anders als die einer kommerziell orientierten Galeristin, traue ich mir zu.« 220 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Du wärest noch stärker an die Stadt gebunden.« »Das bedeutet aber doch noch lange nicht, dass ich dort wohnen müsste. Keine Stadt zwingt ihre Diener, in eben dieser zu leben. Natürlich würde ein solches Amt, zumal ich es mit Kraft und Überzeugung ausüben wollen würde, eine gewisse Präsenz erfordern, man denke nur an die offiziellen Anlässe. Ein kleines Zimmer würde reichen.« Rufus verachtet die Kunstszene. Viele ihrer Mechanismen verachte ich ja selbst. So würde ich vieles, sei es als Galeristin, sei es als Direktorin, ganz anders machen, wobei mir das Wie zugegebenermaßen nicht ganz klar ist. Wenn Rufus mit seiner freien Kunst zu Geld und Ansehen kommen will, muss auch er sich, zumindest im Rahmen, entweder dem beugen, was der Markt oder die Kunstszene will. Das sind ja zwei verschiedene Dinge, wobei Ruhm in der Szene meistens auch Geld nach sich zieht. Umgekehrt gilt das nicht: Ruhm am Markt, das heißt auch pekuniärer Erfolg, geht nicht zwangsläufig mit Anerkennung in der Szene einher. »Wenn du sagt, niemand kaufe deine Bilder, musst du dich fragen lassen: Hast du es jemals ernsthaft probiert? Du bist freier Künstler, Rufus; und ich weiß, dass es der Kampf ums Überleben ist, der dich hinderte und hindert, konsequent als solcher zu agieren und in Erscheinung zu treten. So wie du sagst, ich solle was aus meinen Talenten machen, so muss ich, musst du, die gleiche Forderung an deine Adresse richten. Du wirst sehen, auch du wirst dich weiter befreien.« Vielleicht ist es Projektion, wenn er auf meine Befreiung drängt. Ein Mensch, der nie ganz frei geworden ist, obgleich er sich nichts sehnlicher wünscht, wünscht sich sodann nichts sehnlicher, als dass der Mensch, den er liebt, frei wird und fliegt, wohin es ihn zieht. »Nun, Rufus, nehmen wir uns an die Hand und gehen den Weg weiter, den wir eingeschlagen haben. Er wird nicht linear verlaufen, aber im Vertrauen auf sein Ziel und im Vertrauen in dich, in uns: Lass es uns versuchen.« Am Gründonnerstag fahre ich nach Folzheim, bin daselbst anwesend und doch abwesend, wie Rufus es formuliert. Weder will ich am Samstagnachmittag ins Bergische Land, noch weniger will ich ein Abendessen mit Vera, die Rufus zu allem Überfluss kurzerhand einlädt, uns zu Mona und Claus zu begleiten. Für den Sonntag haben uns Dietlinde und Gerhard eingeladen. Ich will das alles nicht. Ich will kein Dinner mit Stieftochter und keinen Kuchen mit der Kernfamilie. Mir wird alles zu viel. Ich steige aus. Emotional. Rufus spürt das. Es kommt zu einem massiven Streit. Am Samstagvormittag schickt er mich nach Hause. »Am besten packst du deine Sachen und fährst zurück nach Liefem«, sagt er, als er von einem kurzen Gang mit dem Hund zurückkommt. Zu dem Zeitpunkt bin ich innerlich schon längst weg, die Tasche ist gepackt. 221 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Es schneit in dicken, puscheligen Flocken, als ich allein ins Bergische Land fahre, auf der Autobahn ist es stellenweise glatt, zwischendurch scheint die Sonne, Reflexe auf dem Asphalt, herrliches Licht. Aller Wut und aller Enttäuschung zum Trotz genieße ich die lange Autofahrt von Erblingen nach Liefem, höre R.E.M, ganz laut, und denke an Hirtberg. In meiner Wohnung angekommen, finde ich eine Mail, in der sich Rufus, verletzt, enttäuscht und wütend, von mir trennt. Seit einem Monat sind wir standesamtlich verheiratet. »Alle Termingeschichten des Osterwochenendes müssen sich nach dir und deinen arbeitstechnischen Bedürfnissen richten«, beschwert er sich, »Änderungen deiner Befindlichkeit werden stundenweise nachgereicht. Du bist selbst in meinem Haus Dirigentin der Ereignisse! Den Termin mit Vera habe ich allein gemacht … Du bist auf peinliche Art und Weise egoistisch, egoman und asozial. Ich kann mit dieser Art Härte und Kälte nicht umgehen und glaube nicht, dass wir jemals zusammen leben können. Die Unterschiede in der emotionalen Feinmotorik sind zu groß. Sei Indianerin und suche dir deinen Winnetou, einen Gespielen, der auf dein Zucken hin pariert und sich nach dir und deinen Kapriolen richtet. Ich habe nach diesen Erlebnissen keine Lust, Hochzeitskarten zu verschicken. Ich habe Lust, mich scheiden zu lassen.« Damit geht er mal wieder einen entschiedenen Schritt zu weit. »Lecke deine Wunden«, antworte ich, »und wenn du wieder bei Verstand bist, reiche die Scheidung ein. Wir regeln die Pferdefrage im Kontext mit der Scheidung. Mein Anwalt wird sich mit dir in Verbindung setzen. Und jetzt sage ich dir mal was: Du bist schweineeifersüchtig auf jeden Künstler, über den ich schreibe. Nicht nur, weil er meine – zeitlich und auch sonst begrenzte – Aufmerksamkeit hat. Du bist brutal. Schlägst mit Worten Menschen, die du vorgeblich liebst. Du brauchst den Kick eines wahrlich grenzwertigen Krieges. Mir fehlt jede Bereitschaft, mich in nicht nur regelmäßigen, sondern auch kürzer werdenden Abständen in dieser Form seelisch malträtieren zu lassen. Zuletzt am Tag vor unserer standesamtlichen Trauung: Auch da warfst du mich – sinngemäß – aus deiner Wohnung, von der du behauptest, es sei auch meine, und damit im übertragenen Sinne aus deinem Herzen. Im Gegensatz zu dir brauche ich diese Kriege, diese Tode definitiv nicht. Stirb deine Tode, aber wundere dich bei deiner Auferstehung bitte über nichts.« Hirtberg korrigiert meine gesamte Bewerbung um die Direktorenstelle. Drei Stunden rechnet er dafür ab, was nicht gerade für meinen Entwurf spricht. Inzwischen habe ich erfahren, dass die Königin auf die ganze Sache erwartungsgemäß sehr verhalten reagiert hat.

222 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Alltag

N

ur mäßig bedrückt ob des Umstandes, dass Rufus sich scheiden lassen will, begebe ich mich an die Arbeit, einen Aufsatz für einen mit Jurij befreundeten Fotografen, der eigentlich Zahnarzt ist, was man seinen Bildern auch ansieht: technisch perfekt, künstlerisch belanglos. Als Jurij und ich uns zuletzt begegneten, fiel mir sein grundsaniertes Gebiss auf. Jede Menge Implantate, kostspielig. Steckte nicht Jurij hinter diesem Auftrag: Ich würde die Finger davon lassen, statt mir die Zähne daran auszubeißen. Das mich der Disput mit Rufus zunächst erstaunlich kalt lässt, ist entweder als Abstumpfung zu interpretieren, Ausdruck dafür, dass ich ihn diesbezüglich inzwischen nicht mehr ernst nehmen kann. Oder, bedenklicher, als unbewusster Wunsch nach einem Leben ohne Mann. »Sie haben ihn geheiratet«, sagt Hirtberg, als ob ich das nicht wüsste. »Ja, und jetzt frage ich mich, ob ich die kirchliche Trauung, ich meine, das Fest und allem damit verbundenen Pipapo im Sommer wirklich will …« Rufus kann sehr wortgewalttätig sein. Ich erzähle Hirtberg von dem Osterstreit, der als solcher auch in unsere, Rufus’ und meine, Geschichte eingehen wird. »Sie sind nicht in der Lage, den Alltag gemeinsam zu leben«, sagt er. Beide nicht. Setzen. Sechs. »Dann hat das Ganze keine Zukunft. Eine Liebe ohne Alltag? Das ist wie Cappuccino ohne Milchschaum! Oder ein Alltag ohne Liebe!« Meine Entrüstung ist echt. »Ich habe nicht gesagt, dass die Beziehung alltagsuntauglich ist, sondern dass Sie wenig Alltag miteinander leben«, korrigiert Hirtberg. »Das nervt so. Nach den jüngsten Grenzverletzungen allerdings schiebe ich – schieben wir? – erst mal die Puzzelteilchen hin und her. Wir können so nicht weitermachen. Wir müssen etwas ändern.« »Das glaube ich auch.« Mehr sagt er dazu nicht. Natürlich nicht. Was soll er auch sagen. Ich verlasse die Praxis in dem Gefühl, dass Rufus in diesem Raum nichts zu suchen hat. Warum schleppe ich ihn dann doch immer wieder mit?

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Konkret: Die Wochenendbeziehung ist langfristig kein tragfähiges Modell. Ob die Alternative dazu, nämlich die Komplettbeziehung, ein tragfähiges Modell ist, wird sich zeigen. Falls sie je gelebt wird. Für die nächsten vier, fünf Wochen ist meine Aufgabe in der Organisation definiert – von mir natürlich. Für die Neuauflage eines Kataloges, den Jurij und ich vor zehn Jahren produziert und über den wir uns kennengelernt haben, schreibe ich die Kurzkommentare und einen Essay dazu. Auch kurz. Unter keinen Umständen kann ich mich mit der Forderung, vierzig Stunden im Büro zu sitzen, arrangieren. Wie kriege ich diese, die einzige Forderung, die die Organisation an mich stellt, zusammen mit der beziehungstechnischen Notwendigkeit, einen Alltag zu entwickeln? Rufus’ Wohnung will ich jedenfalls erst wieder sehen, wenn Blätter an den Bäumen sind. Er ist so extrem – im Positiven wie im Negativen. »Manchmal macht er mir Angst«, gestehe ich Hirtberg, der meinen Exkurs auf die Jobebene unkommentiert zu Kenntnis nimmt. Ich zögere einen Augenblick, sage dann aber doch »extrem potent« und meine damit die Kraft seiner Persönlichkeit. Ich hätte auch »extrem präsent« sagen können. Das wäre allerdings nur zweidimensional. »Rufus ist eine einzige Herausforderung. Das Leben mit ihm prickelt, bewegt, belebt, irritiert, inspiriert, verletzt; ist auf keinen Fall langweilig. Vielleicht gerade weil wir so wenig Alltag miteinander leben?« »Man kann das ja mal ganz wertungsfrei sehen. Alles ist dichter, weil Sie sich nur in begrenzten Zeiträumen sehen.« Gestisch setzt Hirtberg die Vorsilbe Zeit in Klammern. »Sie beide müssen klar definieren, was geschehen soll. Sie müssen kommunizieren. Abgrenzung. Dann aber auch wieder uneingeschränkte Aufmerksamkeit: Zeit zum Lieben, Gucken, Reden, Fühlen.« Ich frage mich, ob er als Analytiker sich überhaupt dazu äußern darf, was aus seiner Sicht ich tun muss. »Als selbstständiger Unternehmer begreift sich Rufus als Einzelkämpfer und hat sein spezielles Modell von Entwicklung: Sie finde nur statt, sagt er, wenn es existenziell wird.« »Und das überträgt er offenbar auch auf Ihre Beziehung.« »Ja, wie sonst ist, vier Wochen nach der standesamtlichen Besiegelung unserer Liebe, seine Lust, sich scheiden zu lassen, wie er sich ausdrückt, zu verstehen?« Ich beklage die Verhältnismäßigkeit der Mittel: »Rufus stellt angesichts eines, gerade zu Ostern zwar unersprießlichen, letztlich aber ganz normalen Konfliktes die gesamte Beziehung in Frage.« »Kann die Beziehung nicht auch wachsen, sich entwickeln, ohne dass eine existenzielle Bedrohung vorliegt, gar herauf beschworen wird?«, fragt Hirtberg, der plötzlich zum Paartherapeuten mutiert. Die Arbeit mit ihm hat einen erheblichen Anteil daran, dass ich den Mut fasse, entgegen aller Planung eine Begegnung mit Rufus zu initiieren. Ich erinnere mich an 224 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Hirtbergs Empfehlung, »dem Konflikt einen Raum zu geben, ihn aber irgendwann in die Ecke zu stellen, um sich, zum Beispiel im Bett, zu begegnen«. Die hereinbrechende Nacht wird über unsere Zukunft entscheiden. Finden wir unsere Nähe wieder, unsere Verbundenheit, unsere Liebe? Kommt das Einzigartige zwischen uns einfach so zurück? Immense Erwartungen an weniger als vierundzwanzig Stunden – das Wochenende ist ja sozusagen um – ohne die jedoch wir uns noch weiter voneinander entfernen würden. Es ist so schon weit genug. Bei mir jedenfalls. Wüsste ich, dass Rufus ähnlich empfindet, gäbe ich uns keine große Chance. Der Riss im Himmel geht bis weit hinter das Blau. Um viertel nach sieben surfe ein wenig im Internet herum, im Hintergrund läuft eine CD von Schiller. In meinem Gefühl bin ich ein Single, was immer noch besser ist, als ständig zu warten. Ich warte nicht mehr. Er wollte um sechs hier sein. Rufus ist nie pünktlich. Das hasse ich. Und ich hasse es, dass er mich regelmäßig seines Hauses verweist, sei es ausdrücklich oder verdeckt. Und dass er an seinen Träumereitagen, an denen seine Aufmerksamkeit allein dem Fernseher und der Nahrungsaufnahme gilt, überflüssigerweise und gebetsmühlengleich betont, er brauche diese Form der Auszeit. Warum erklärt er sich jedes Mal? Dass er nicht mehr anruft, wenn ausgemacht ist, dass ich nach Folzheim fahre, und er weder eine Mail noch eine SMS schickt, hasse ich auch. Er zeigt diesbezüglich eine Beharrlichkeit, die mich auf die Palme bringt. Wie auch die Angewohnheit, Benno ständig mit Brot zu füttern oder, peinlicher noch – Wer findet das peinlich? Ich nicht, es ist wohl der Zensor –, im Restaurant Würstchen für den Köter zu bestellen, mich auf die Palme bringt. Natürlich kann man bei jedem Punkt genau hinschauen und versuchen zu verstehen, was genau ich hasse, was genau mich auf die Palme bringt. Statt mich jedoch mit dergleichen aufzuhalten, nehme ich sicherheitshalber das Foto von Timo von der Wand und verstecke es sorgsam in einer der achtundvierzig Schubladen jener Kommode, die ich noch mit ihm ausgesucht habe. Um viertel nach acht ist Rufus da. Immerhin ohne Hund. Die Nacht wischt allen Zorn beiseite, bringt das Einzigartige zwischen uns zurück, lässt uns unsere Nähe wiederfinden. Wieder stelle ich fest, dass meine Notizen eher den Charakter eines Tagebuches denn eines Therapieberichtes haben. Die Hirtberg-Stunden sind mir heilig, sein Wort das Evangelium. Wann und warum ist mir die Disziplin abhanden gekommen, sie zeitnah zu dokumentieren? Widerstand? Abwehr? Noch immer ist mir weder klar, was das eine noch was das andere ist.

225 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Ich möchte etwas zu der Situation hier sagen«, bringe ich hervor, wie ein Schulkind, das Pipi muss. »Hmm.« Hirtberg schlägt das eine Bein über das andere und guckt mich erwartungsvoll an. Ich sitze kerzengerade auf der Couch, gucke zurück. Fast direkt in seine brauen Augen. »Mir gefällt dieses Liegen nicht.« Dabei liege ich gar nicht. Meine Position unterscheidet sich gegenüber derjenigen im Sessel nur unwesentlich. Nämlich darin, dass ich Hirtbergs Präsenz überdeutlich im Rücken spüre, die Beine hochlege und hoffe, den cremefarbenen Veloursbezug nicht mit meinen Schuhen zu beschmutzen – Kind, zieh die Schuhe aus! »Lieber würde ich Ihnen wieder gegenübersitzen. Im Leben ist Ihnen nicht entgangen, dass ich unentwegt versucht bin, mich umzugucken, Blickkontakt zu suchen. Entweder ich mache alles falsch, oder wir haben uns gemeinsam vom analytischen Prozedere entfernt.« »Wir haben Coaching gemacht. Ja.« Oh, so kurz ab heute? »Sie helfen mir auf die Sprünge, Hirtberg, ja. Im Augenblick beschleicht mich allerdings das Gefühl, dass die Ebene, an die ich ran will, dabei auf der Strecke bleibt. Ich kann hier nicht einfach herumliegen und frei vor mich hin assoziieren … Obwohl es das ist es, was ich will.« Warum hilft er mir nicht? Nach ein oder zwei Frontalgesprächen versuche ich es erneut mit dem Liegen und dem freien Assoziieren, was in völliger Verkrampfung mündet. Hirtberg verhält sich betont ruhig, sagt kein Wort. Er scheint beschlossen zu haben, wieder ganz Analytiker zu sein. Sein Schweigen kriecht bis in die hintersten Winkel des Raumes, hüllt mich in ein Zelt, in dem ich kaum noch Luft bekomme. Keine Empfehlung dieser Welt, kein Ratschlag, kein Hinweis, kein noch so intelligenter Dialog ist in der Lage, einen ganzen Raum zu füllen, nichts dergleichen raubt einem so den Atmen. »Seit Jahresbeginn, in den letzten zwei, drei Monaten«, wirft Hirtberg plötzlich in die Dichte des Schweigens, »haben wir den Dialog gepflegt, weil er, anders als das Schweigen, dazu angetan ist, lebenspraktische Fragen lebenspraktisch zu beantworten.« Der fotografierende Zahnarzt macht erhebliche Schwierigkeiten, plustert sich auf, droht mit dem Anwalt. Natürlich kann er sich jeden Anwalt der Welt leisten. Ich nicht. Es geht um Verletzungen des Urheberrechtes. Meines Urheberrechtes. Am liebsten würde ich Hirtberg die gesamte diesbezügliche Korrespondenz einschließlich jenes Aufsatzes schicken, den ich am Ostermontag unter denkbar schwierigsten Bedingungen in die Tastatur gehackt habe. Das allerdings würde bedeuten, Hirtberg schon wieder als Coach zu missbrauchen, 226 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

statt mich in die Erhabenheit der Analyse zurück- oder sagen wir besser einführen zu lassen. Was ich brauche, ist ein Anwalt. Was liegt näher, als das Problem mit Frederik zu lösen? Kurzerhand schicke ich ihm die gesamte Korrespondenz. »Ist ja nett, mir dieses Mandat anzutragen«, antwortet er, »aber mal ehrlich: Ich möchte das nicht machen. Geht nämlich aus wie’s Hornberger Schießen. Nur mit mehr Aufwand. Es wäre ja so, dass ich den Arzt zur Zahlung auffordern würde, dieser nicht zahlt. Du klagen musst und dann ein Richter einen Vergleich mit einer Fünfzig-Prozent-Quote vorschlägt. Die wiederum wird auf jeder Seite von der Hälfte der Kosten aufgezehrt. Am Ende stehen alle, auch die Anwälte, mit annähernd leeren Händen da und sind dafür auch noch zum Amtsgericht angereist. Bei derartigen Kleinbeträgen muss man entweder von Anfang an so professionell vorgehen, dass man seine Forderung auf jeden Fall ohne Riesenprozess durchsetzen kann oder man bucht so etwas aus. Zu diesem professionellen Vorgehen gehören klare vertragliche Vereinbarungen. Wenn du möchtest, erarbeite ich ein Vertragsformular und AGB mit dir, das du künftig vor deinem Tätigwerden von deinen Werkbestellern unterschreiben lassen kannst. Das mache ich, für dich, gern und ohne Geld. Was deinen Kontrahenten betrifft, stell ihm die neunhundertachtzig Euro in Rechnung.« Hornberger Schießen hin oder her, Frederik prüft des fotografierenden Zahnarztes Ausführungen und kommt zu dem Ergebnis, dass wir tatsächlich einen Werkvertrag geschlossen haben. »Eine Nachbesserung, juristisch korrekt müsse es Nacherfüllung heißen«, sagt Frederik, konnte ich gar nicht verweigern, weil er mich zu keinem Zeitpunkt unter Fristsetzung dazu aufgefordert habe. Stattdessen hat er die nach seiner Auffassung erforderlichen Änderungen selbst durchgeführt bzw. durchführen lassen. Das ist es, was mich so in Rage bringt! Um dieses unsägliche Kapitel zu schließen, biete ich ihm, Frederiks Empfehlung folgend an, fünfhundert Euro zu überweisen. Damit wäre dann alles erledigt. Die Angst vor einem handfesten Rechtsstreit, den ich, obschon im Recht, verlieren könnte und der mich viel Geld und noch mehr Nerven kosten würde, frisst mich schier auf. Natürlich erzähle ich Hirtberg davon. Doch hier, in diesem Raum, geht es um mein Leben. Nicht um fünfhundert Euro. »Manchmal frage ich mich, wie ich den ruhigen Hafen verlassen konnte, in dem ich zwischen Timo und der Organisation dümpelte, ohne Wind, ohne Wolken, ohne Wellengang. Jetzt bin ich in der Haifischbucht gelandet. Und mit Rufus zwischen Traum und Albtraum.« »Immerhin haben Sie doch in der Haifischbucht ganz klar Ihr Muster wieder erkannt: Ihre Angst war das Resultat Ihrer Zweifel. Sie hätten keine Angst empfunden, wenn Sie wirklich überzeugt gewesen wären, im Recht zu sein. Sie hätten gewonnen.« 227 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Ich war und bin im Recht. Aber ich kann nicht mehr. Es kostet mich zu viel Energie, wofür?« Hirtberg schweigt. Ich rede weiter. Fünfzig kostbare Minuten lang rede ich über Zeug, über dass ich nicht reden will, weil es mich nervt und langweilt, über das ich aber reden muss, weil ich Hilfe brauche. Die Königin findet meine Idee, mich als Direktorin zu bewerben, absolut unmöglich. Das hat sie auch wortwörtlich so gesagt. »Was findet sie daran unmöglich?« »Auf den Posten gehöre eine Person mit internationalem Renommee, ein richtiger Ausstellungsmacher. Sie führte eine ganze Reihe Kriterien an, die eine solche Person erfüllen müsse, die ich aber, ihrer Meinung nach, nicht erfüllen würde, eines klischeehafter als das andere. Hirtberg, ich spare mir hier die Details … zu mühsam und führt zu nichts, ich hebe sie auf für eine gesonderte Darstellung in meinen ›Geschichten aus Kunst und Gesellschaft‹.« Am Ende verzichte ich darauf, mich zu bewerben. Ich brauche den Job in der Organisation und will nicht riskieren, dass die Wogen dort so hoch schwappen, dass sie mich hinfortspülen. »Es geht um Autonomie. Wenn Sie mir gegenüber Schuldgefühle entwickeln, weil Sie die Bewerbung entgegen Ihres Beschlusses nicht abgeschickt haben, hadern Sie mit Ihrer Autonomie«, stellt mein Coach sachlich fest. Innerlich winde ich mich, ringe nach Worten, finde keine passenden und begnüge mich schließlich mit unpassenden. Anders als unpassend ist es wohl kaum zu bezeichnen, wenn ich, Hirtberg auf schräge Weise bemitleidend, daran erinnere, dass er Zeit und Mühe in die Korrektur investiert, sie mit mir durchgesprochen habe. »Und ich Idiotin schicke das nicht ab. Ich hätte den Stiefel durchziehen müssen, allein, damit Ihre Arbeit nicht umsonst war. Das wäre mutig, wäre autonom gewesen.« »Sind Sie eigentlich sicher, dass Sie die Stelle wirklich wollten?« Er trifft den Nerv. »… und jetzt halten Sie mich für feige«, fahre ich fort, den Nerv ignorierend. Wer A sagt, muss auch B sagen, nichts führst du zu Ende, fürchtest dich vor deiner eigenen Courage, bist viel zu bequem, wirst nie etwas ändern … »Wer spricht?« »Der Zensor.« »Wer ist der Zensor? Wer hat so mit Ihnen geredet?« »Weiß ich nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob es wichtig ist.« »Vielleicht nicht«, sagt Hirtberg, was mich sehr wundert. »Aber noch mal: Sind Sie sicher, dass Sie die Stelle wirklich wollten?« »Nein.« »Was, nein? Sind Sie sich nicht sicher? »Doch. Ich bin mir sicher. Ich will sie nicht. Ich will irgendetwas, raus aus der 228 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Organisation, aber nicht diese Stelle. Deswegen habe ich die Bewerbung nicht abgeschickt. Das Veto der Königin war nur das Zünglein an der Waage.« »Ich provoziere Sie jetzt mal etwas: Wäre es wirklich autonom gewesen, wenn Sie die Bewerbung abgeschickt hätten?« »Nein. Ich hätte es vielleicht getan, um Forderungen zu erfüllen, die zu stellen ich Ihnen – und Rufus – unterstelle.« »Ich fordere gar nichts.« »… und jetzt habe ich das Gefühl, eine Forderung der Königin zu erfüllen. Da wäre ich doch lieber Ihrer nachgekommen.« »Noch einmal: Ich habe diesbezüglich keine Forderung formuliert. Und was die Erfüllung von Forderungen seitens der Königin betrifft: Die Königin hält Sie für ungeeignet. Die Gründe dafür lassen wir jetzt mal außen vor. Und Sie wollen die Stelle nicht. Beide sehen Sie jedenfalls nicht Frau Thieme auf der Stelle. Warum glauben Sie, der Forderung der Königin nachzukommen, wenn Sie sich nicht bewerben? Könnten Sie sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es Ihre Entscheidung ist?« Was folgt, ist eine ganze Serie von Stunden, in denen ich fortgesetzt aus der Außenwelt berichte, kassenfinanzierte Plauderstündchen. Natürlich ist mir bewusst, dass ich meine, weil die Stunden schließlich bezahlt werden, Leistung zu erbringen, das heißt in diesem Fall frei zu assoziieren habe. Also fordere ich ihn nicht auf, mich zu maßregeln, der Unfähigkeit zur Analyse zu bezichtigen, sondern versuche zu akzeptieren, dass Plauderstündchen in Ordnung sind. Ja, so kennen Sie das, würde er sagen, und: Was haben Sie gegen Plauderstündchen? In dem kläglich scheiternden Ansinnen, mein Geplauder vergnüglich zu akzeptieren, verspüre ich den verzweifelten Wunsch, an etwas heranzukommen, von dem ich keinen Schimmer habe, wie es aussieht, wo es sich befindet, wie es sich anfühlt – geschweige denn, wie es zu benennen, zu etikettieren wäre. Immerhin komme ich im Rahmen eines dilettantischen Versuchs freier Assoziation ohne einleitendes Geplänkel auf den Punkt: »Es gibt da so eine Blockade … Warum, Hirtberg, zögere ich, die Adressen derer, die ich einladen möchte, auf Umschläge zu schreiben und das Ganze einfach abzuschicken?« »Was möchten Sie denn verschicken?« »Na, die Einladungskarten zu unserer Hochzeit«, antworte ich in einem Ton, als hätten wir in den letzten Stunden von nichts anderem als von der Hochzeit gesprochen – was nicht der Fall ist. Hier, in diesem Raum, beschäftigen mich Probleme. Die Heirat ist kein Problem. Jetzt aber gibt es eines, und das resultiert aus meinem eingeschränkten Interesse an sozialen Kontakten. Dass einige wenige bereits verschickt sind, erzähle ich Hirtberg, »ausgerechnet an Quandt, Wigmann und Schlack, an Josephine, Frederik, Anna. Rufus meint, dass es mir als Formfehler ausgelegt werden könne, wenn ich die Königin nicht einlade, aber das ist mir egal.« 229 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Hirtberg steht auf und schließt das Fenster. Seine Bewegungen sind fließend. Feuervogel. Schwanensee. »Zweifeln Sie an der Richtigkeit Ihrer Entscheidung, wieder zu heiraten?« »Nein, natürlich nicht! Wir sind, wie Sie wissen, bereits seit Februar verheiratet. Meine Blockade hat nichts mit meiner Entscheidung für ein Leben mit Rufus zu tun.« »Wo ist das Problem?« »Die Liste.« »Welche Liste?« »Die Gästeliste. Ich komme auf maximal zwanzig, dreißig Personen, Rufus allein auf mehr als fünfzig. Unter diesen zwanzig, dreißig Personen sind mehr als die Hälfte, die ich nur in Erwägung ziehe einzuladen, um mit Rufus mithalten zu können, der vom Kundenbetreuer der Sparkasse über den Direktor der ortsansässigen Waldorfschule bis hin zu seinem Heilpraktiker alle einladen möchte, mit denen er sich irgendwie verbunden fühlt.« »Was verstehen Sie unter ›mithalten‹?« »Hören Sie, wie sieht das denn aus, wenn er achtzig Prozent der Gäste stellt? Freunde … Ich habe gar keine Freunde in dem Sinne, wie Rufus sie hat, dieses merkwürdige Phänomen der langjährig vertrauten Fremden. Ich habe keine Mitarbeiter, geschweige denn Subunternehmer oder Lieferanten. Meine Putzfrau, mein EDV-Betreuer oder mein Zahnarzt stehen mir nicht so nahe, dass sie eingeladen werden können … oder müssen. Fatalerweise sind sie aber auch nicht weit genug entfernt, um definitiv nicht eingeladen werden zu können. Ich habe sie provisorisch auf die Gästeliste gesetzt, weil ich nicht als sozial inkompetent und völlig isoliert dastehen will.« »Was sagt denn Rufus zu Ihrer Blockade?« »Er versteht nicht, was ich meine. Er möchte die feierliche, gesellige Hochzeit, die überschäumende Geste.« »Und Sie? Was möchten Sie?« »Na, ihn heiraten natürlich! Aber eben nicht in diesem Rahmen. Ehrlich gesagt: Mir ist das alles zu viel. Ich fühle mich total überfordert.« »Was wäre denn die Alternative?« »Das ist es ja. Es gibt keine. Nicht mit Rufus. Mit ihm heirate ich einen offenherzigen, spontanen, extravertierten und sich seines Selbst bewussten Idealisten, den ich für seine Offenheit, seine Spontaneität, seine Extraversion und sein Selbstbewusstsein liebe. Deswegen spiele ich mit.« »Und wen heiratet Rufus?« »Mich.« »Und Sie wollen sich nicht zeigen. Sie scheuen das öffentliche Bekenntnis zarter Gefühle?« »Einerseits, ja.« »Und andererseits?«

230 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Am Computer konzentriere ich mich einen ganzen Abend lang auf nichts anderes als auf die Liste, überprüfe meinen Adressatenkreis mehr als kritisch, was ja mit dem meines künftigen Gatten nichts zu tun hat. Am Ende streiche ich rigoros alle Zweifelsfälle, stehe dazu und fühle mich im Bekenntnis zu meinem Hang zum Einzelgängertum authentisch und autonom. Vor ihrer aller Augen werde ich Rufus lustvoll knutschen! Indes: Vor meinem Zahnarzt oder, delikater noch, vor Hirtberg möchte ich das nicht. Anna und ich schlendern an Kunstwerken vorbei, die mir so vertraut sind, dass sie mich extrem langweilen. Sicherheitshalber gucke ich gar nicht mehr hin. In wenigen Minuten wird eine Ausstellung eröffnet, die sich mit den Elaboraten eines ziemlich untalentierten, sehr jungen Pinselquälers befasst. Die Berufsbezeichnung Künstler ist definitiv fehl am Platze. Anna begleitet mich, weil sie ein Bier trinken will. Mit maskenhaftem Gesichtsausdruck, der ein strahlendes Lächeln repräsentieren soll, schreitet uns die Königin in den musealen Hallen entgegen. Sobald sie mich als anwesend wahrgenommen hat, steht meiner Flucht nichts mehr im Wege. Höflichkeitsfloskeln, nichts Persönliches im Klang ihrer Stimme, kein Satz, der es wert ist, gehört zu werden. »Wir rauschen flugs durch die erste Etage, sehen uns die Ausstellung schon mal an«, lächele ich mit geheuchelter Neugier. Das ist so üblich: Die Insider, die wirklich Teil der Szene sind, die schwarz tragen und einander ständig küssen, flanieren vor der eigentlichen Eröffnung durch die Ausstellung, solange sie eben dem gemeinen Volke nicht zugänglich ist. Die Reden interessieren mich nicht. Da packt die Königin mich am Arm! »Kommt gar nicht in Frage. Jetzt beginnt der offizielle Teil! Sie können da jetzt nicht mehr rauf, unmöglich!« Sind Sie wahnsinnig, lassen Sie mich sofort los, möchte ich schreien, was bilden Sie sich ein, Sie sind doch wohl nicht ganz bei Sinnen, fühle ich besinnungslos – und schweige, während sie mich wütend, herrschsüchtig und hasserfüllt anfunkelt. Mir steigt das Blut zu Kopfe, aus Wut, aus Scham und Hilflosigkeit angesichts dieser grotesken Situation, in die ich gerate. Weil ich brav bin. Weil ich da bin. Obwohl mein Inneres kreischt und schreit und mit seinem Radau die Artistin auf den Plan ruft, bin ich brav und besuche wieder eine jener verabscheuten Veranstaltungen, nur weil die Königin meine Präsenz fordert. Sie fordert meine Anwesenheit bei gesellschaftlichen Ereignissen wie Quandt meine Präsenz im Büro fordert: völlig grundlos. Inhaltlich fordert niemand etwas. Bis heute begreife ich nicht, warum sie diesen gesteigerten Wert auf mein Erscheinen legt: Weder fördert sie mich noch stellt sie mich jemandem vor, integriert mich nicht. In den letzten acht Jahren, seit meinem Wechsel vom Museum in die Organisation, ist unser Verhältnis, das nie ein besonders persönliches war, zunehmend kälter geworden. 231 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Ich muss wenigstens kurz ins Restaurant, dort wartet ein Freund«, lüge ich und verschwinde hinter der Glastür wie ein geprügelter Hund unter dem Sofa, Anna im Schlepptau, ich schäme mich zu Tode. Über Eiskonfekt und Weingummi schlittern die Artistin und ich in eine Welt aus Zuckerwatte, ich steige aus, höre nichts, sehe nicht, fühle nichts, nicht einmal, dass meine Jeans nicht sitzt. Verstecken und einschließen will ich mich in meinen vier Wänden und mich in meiner Einsamkeit von der Artistin trösten lassen. Mein Ansinnen, einen möglichst positiven Eindruck zu hinterlassen, ist komplett fehlgeschlagen. Zu erwarten sind investigative Fragen: Ach, Sie waren am Freitag aber doch schnell verschwunden! Natürlich war ich das. Die Artistin setzte mir die Pistole auf die Brust. Es fragt aber niemand. Man interessiert sich nicht für mich. Weder hier noch am nächsten Arbeitstag. Noch immer fasse ich nicht, was geschehen ist: Wie kommt die Königin dazu, mich in die Rolle einer Achtjährigen zu versetzen, die von ihrer Mutter gemaßregelt wird? Das brave Mädchen erscheint in Jeans zum offiziellen Anlass und bewegt sich daselbst undiskutabel. Es schwelen Streit und Unmut zwischen der Organisation und mir, ich will sie nicht mehr und ich glaube, sie mich auch nicht. Es geht einem offenen Ende entgegen. »Wenn die Königin dich hasst, dann weil du verkörperst, was sie nicht ist«, sagt Rufus. Angesichts eines solchen Fiaskos stelle ich Sinn und Wirkung der Analyse in Frage. Hirtberg raube ich Zeit, der Krankenkasse Geld und mir selbst die Achtung. Im Eisfach liegt eine Flasche Doppelkorn, in der praktischen Reisegröße für unterwegs. Ein, zwei, notfalls auch drei Gläser sorgen für Taubheit und Nebel, am nächsten Tag für massive Kopfschmerzen. Wenn ich nichts ändere, sterbe ich. Bald. Auf jeden Fall zu früh. Es ist die Artistin, die mich tötet. Die Königin ist Königin und nicht Mörderin. Schachmatt. Mein Knie zickt, das rechte. Das linke knirscht. Ständig zu viel Säure im Magen. Die Zähne eine einzige Katastrophe. Unerklärlicher Druck in der Brust. Zu wenig Schlaf, zu viele Zigaretten. Und immer wieder die Artistin, die mich treibt, zwingt, quält, fesselt, behindert. Wieso habe ich eigentlich keinen Behindertenausweis? Manchmal möchte ich zurück in die Berechenbarkeit der Welt mit Timo. In diese Welt, die von Beständigkeit und Gleichmaß lebte. In diese Welt, in der Existenzangst ein Fremdwort und gepflegte Langeweile an der Tagesordnung war. Leben ohne Risiko. Gefühle am Nullpunkt. Jenseits der Liebe. Allein mit meinem Gewicht und meinem ungeliebten Leib verzehre ich mich nach Lebenssinn, träume von Hirtberg, meinem Retter, und danke dem Himmel, dass niemand sieht, wie ich mit tränenden Augen, blutroter Nagelhaut, pickeligem 232 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Gesicht und entleertem Magen in einer verqualmten Wohnung vor mich hinvegetiere, Räucherstäbchen glimmen, Kerzen brennen. Ende April. Die Primeln in den Balkonkästen schreien nach Zuwendung. Luft. Ich reiße alle Fenster auf. Mitten in der Nacht schleppe ich Gießkannen.

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Es ist nicht gut, dass ich da bin

W

arum erstaunt es Sie, dass Sie zugenommen haben?« Hirtberg sagt nicht: »Ach, Sie haben doch gar nicht zugenommen.« Oder: »Sie sind doch gar nicht dick.« Er sagt: »Sie essen zunehmend normaler, da ist es doch naheliegend, dass Sie sich irgendwann von Ihrem Ideal verabschieden müssen.« In mir sträubt sich alles. Immer noch. »Außerdem«, fügt er hinzu, »scheint es sich um Gewichtsschwankungen zu handeln. Sie berichten ja in regelmäßigen Abständen von einer Zunahme. Wenn Sie jedes Mal tatsächlich zugenommen hätten, müssten das inzwischen gut zehn Kilo oder mehr sein. Warum können Sie sich nicht darüber freuen, dass Sie Ihre Symptomatik besser im Griff haben?« Hirtberg ist wirklich kein Spezialist für Essstörungen. »Weil ich mein Symptom nicht so im Griff habe, wie ich es gern hätte. Dass ich eine Gewichtszunahme nicht akzeptieren kann, ist auch ein Symptom«, kläre ich ihn auf. Abgesehen davon – das allerdings verschweige ich – ist mein Verhalten weniger gut, als ich es darstelle, und so tue ich als ob. Getreu der Anregung, die uns in der Klinik im Rahmen der Gruppentherapie gegeben wurde: Tun Sie so, als ob Sie gesund wären. »Ach, Hirtberg, die ganze Sache ist so ambivalent. Natürlich freue ich mich darüber, nicht mehr ständig die Artistin am Hals zu haben. Aber der Preis, das Gewicht nämlich, ist mir zu hoch. Bitte, lassen Sie uns das jetzt nicht vertiefen«, sage ich, um sodann meine Aktivitäten der vergangenen Wochen oder Monate zu resümieren, ein übersichtliches Päckchen zu schnüren, mit dem ich mich vor mir selbst rechtfertige. »Verdammt, jede einzelne Aktion kostet Zeit.« »… und dass keine davon mit Ihrem – immerhin bezahlten – Job zu tun hat, macht Ihnen ein schlechtes Gewissen«, ergänzt Hirtberg. »Sie machen das doch ganz richtig: In der Organisation geschieht nichts, man fordert nichts von Ihnen, und Sie begeben sich auf die Suche nach Alternativen.« »Ständig bin ich mit irgendwas beschäftigt, Hamster im Laufrad, absurd getrieben und gehetzt, und das schlechte Gewissen ist ein anderes, ein zusätzliches Problem.« Pause. »Nichts spricht dafür, in der Organisation zu bleiben, die Königin hasst mich sowieso.«

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»Sie kommen hier mit ganz unterschiedlichen Problemkomplexen. Erstens: Sie sind, entgegen Ihrer Selbsteinschätzung, weder faul noch fantasielos. Mit einer ganzen Menge Fantasie entwerfen Sie Möglichkeiten für Ihr künftiges Leben. Zweitens: Das Verhältnis von Lohn und Leistung stimmt nicht mehr. Aus Ihrer Sicht. Drittens: Sie applizieren das Modell Ihrer Herkunftsfamilie auf die Organisation. Die Königin ist nicht Ihre Mutter, und sie muss Sie nicht lieben. Sie müssen die Königin auch nicht lieben.« Geschickt entwirrt er das Geflecht. »Sie meinen, es ist richtig, dass ich meine Kraft an anderer Stelle einsetze? In der Organisation jedenfalls leiste ich nicht, was von mir erwartet wird.« »Es wird doch gar nichts erwartetet«, insistiert Hirtberg. »Das ist es doch, worunter Sie, unter anderem, leiden! Gleichzeitig nehmen Sie das, was Sie jetzt tun, nicht wirklich ernst. Natürlich bezahlt Ihnen niemand Ihr Engagement, und natürlich wissen Sie nicht, ob das je der Fall sein wird. Deshalb eröffnen Sie ja auch ein ganzes Spektrum.« Später telefoniere ich mit Timo und erzähle ihm von meinem Ansinnen, mich auf eine von der Anthroposophischen Hochschule ausgeschriebene Professur zu bewerben. Seine Reaktion entspricht dem, was ich erwarte. »Du bist doch gar nicht habilitiert«, stellt er fest, als ob ich das nicht wüsste. Er hat auch gleich ein Beispiel parat für jemanden, der das Habilitationshandtuch geworfen hat, nachdem ich ihm, zu seinem Entsetzen, auch noch eröffne, dass ich mich mit dem Gedanken trage, mich zu habilitieren. »Benja, ein gewisser Grad an Größenwahn kann an einer Institution, an der man eigentlich langfristig arbeiten möchte, einen sehr negativen Eindruck hinterlassen«, ergänzt er, was mich zwar irritiert, aber nicht aufhält. Ich lasse mich nicht mehr bremsen, das kann ich mir nicht leisten. Ich rufe in der Hochschule an und vereinbare einen Termin mit dem Rektor. Im Pausenrestaurant mit Quandt und der Schlack blicke ich aus dem Fenster in einen ausdruckslosen, mattgrauen Himmel und kann ich mich nicht erinnern, je zuvor mit zwei Personen an einem Tisch gesessen zu haben, mit denen wirklich kein Gespräch möglich ist. Weder fachlich noch persönlich. Null. Mühsam stolpert man Allgemeinplätze ab. Das Thema Wetter ist schnell erschöpft, die Benzinpreise auch, bleiben die Haustiere. Dann erzählt die Schlack von ihren Papageien, die überall in die Wohnung kacken. Quandt schweigt. Wie auch zum Wetter. Und zu den Benzinpreisen. Und zum neuesten Klatsch aus dem Russischen Museum, den ich erfinde, um ihn aus der Reserve zu locken. Vergeblich. Totenstille, wäre da nicht das Klappern von Besteck auf Steingut und das Prickeln der Kohlensäure in Schlacks Glas Coca Cola. Die Stimmung ist neutral, das Schlimmste, was einer Stimmung passieren kann. Die knackige Frische meines rot-grün-gelben Salates konterkariert den ledernen Wortwechsel, in dem es jetzt 235 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

um die Funktionalität der hier zur Verfügung stehenden Salz- und Pfefferstreuer geht. Es ist fast zu warm für Mai. Ich schaue auf die Uhr. Bis zur Eröffnung habe ich noch Zeit. In der Stadt finde ich sofort einen Parkplatz, in den es mir gelingt, auf Anhieb perfekt rückwärts einzuparken. Ein Passant gibt mir eine Zeichen: gut vierzig Zentimeter noch. Das reicht, danke! Das Eiscafé indes, in dem ich einen Cappuccino in der Sonne zu genießen gedachte, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Ich verliere meine paspelierte Jacke, die ich lose über die Tasche gehängt hatte. Ein Passant trägt sie mir nach. Es ist nicht der Parkplatzeinweiser. In den Menschenmassen, die, sommerlich bekleidet, die engen Straßen der Altstadt noch enger werden lassen, verliere ich meine innere Orientierung, vergesse, was ich kaufen wollte. Irgendwas zum Anziehen, daran immerhin erinnert mich mein unpassendes Outfit, wie ich, inzwischen schwitzend, finde. Jede Vorstellung ist jener Leere gewichen, die sich meiner bemächtigt, wenn ich, ganz Frau, shoppen will. Um mich zu sammeln, setze ich mich auf eine Bank oben am Marktplatz. Ein Pärchen, sie nicht älter als zwölf, er vielleicht dreizehn, knutscht neben mir. Sie glauben, ich bekäme nicht mit, dass er ihr zwischen die Beine geht. Ziellos lasse ich mich rund um die alte Stadtkirche treiben, eine Dreiviertelstunde bleibt mir noch. Das Museum liegt einen Steinwurf entfernt. In dieser Gegend gibt es eine Reihe exklusiver Bekleidungsgeschäfte, angesichts derer mir unsere Hochzeit einfällt. Ein Hochzeitskleid muss her! Ein Ziel. Eine feste Marke im Meer der Zerstreuung, einen einzelnen, klar benennbaren Gegenstand! Leicht zu merken, auch wenn mir Hundertschaften von Touristen entgegenrollen. Das rote von Strenesse gefällt mir, ist aber nicht festlich genug. Das andere, ebenfalls rote, von Max Mara, ist aufwändiger gearbeitet. Es wird meinem zukünftigen Gatten schwer fallen zu warten, bis die Gäste sich verabschiedet haben. Der hilfsbereiten Verkäuferin sage ich, dass ich in der nächsten Woche mit mehr Zeit wiederkäme. Ich meine das ernst. Ein leichtes Spiel: Ich weiß, wohin ich will und was mich dort erwartet. Ich schleiche um die Ecke in der Nähe des Museums. Es ist ein kleines Haus, eine ehemalige Apotheke, das heute seinen fünfzigsten Geburtstag feiert. Ich spüre den nur teilverbalisierten Druck, den die Königin ausübt, wenn sie meine Abwesenheit bei Ereignissen wie diesen bemängelt. Dieser Druck legt sich wie eine Schelle um meine Brust, irgendjemand zieht die Schraube fester. Jetzt hilft nur ein Eis. Mit dem Eis in der Hand spaziere ich um den Block, in dessen Zentrum sich das Museum befindet. Wieder dort angekommen, beobachte ich die Kulturbeflissenen, zumeist jenseits der siebzig und adäquat gekleidet, wie sie von der Rednerin begrüßt werden. Ich stelle mir vor, wie eng es in dem Haus sein wird, wie warm. Keine Fluchtmöglichkeit, wie es sie in großen Museen gibt. Das Hörnchen vom Eis werfe ich weg. Laufe noch einmal um den Block, entschieden, auf jeden Fall zu spät zukommen, 236 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

um nicht zum Opfer des obligaten Begrüßungszeremoniells zu geraten. Wieder an meinem Beobachtungsposten angelangt, ist die Rednerin nebst ihrer Souffleusen verschwunden, hinter dem Rednerpult, nehme ich an. Rein theoretisch könnte ich in Assgart gewesen und auf der Bundesstraße Richtung Liefem, in einen kilometerlangen Stau geraten sein, immerhin steht Pfingsten vor der Tür. Der Duck um meine Brust wird schwächer, je weiter ich mich vom Geburtstagskind entferne, ohne ihm gratuliert zu haben. Am Montag bringe ich meine Bewerbungsunterlagen und drei dicke, repräsentative Kataloge persönlich ins Sekretariat der Anthroposophischen Hochschule, deren Atmosphäre mich als seidenes Tuch umfängt. Die Stille hier oben auf diesem Hügel, an diesem Ort der Lebendigkeit, kann man geradezu sehen. Ein weiterer Schritt, mit dem sich mein Abschied von der Organisation konkretisiert, unabhängig von Erfolg oder Misserfolg meiner Bewerbung. Jemand hat der Pflanze die dürren Ästchen gestutzt. Eines, das fast bis an die Decke reichte, ist um mindestens dreißig Zentimeter kürzer, und insgesamt sieht sie lichter aus, was ihr ästhetisch allerdings nicht zum Vorteil gereicht. Wieder ist es bei Hirtberg sehr zäh, nichts bewegt sich. Hilflos und wütend starre ich abwechselnd in die gestutzten Äste und meine innere Leere, Inhalte stagnieren, hier wie im richtigen Leben. Ich habe keinen Einfluss auf die Entwicklungen. Hirtberg schürt meine Wut, indem er sich strikt weigert, mir mit einem Gedankenanstoß zu helfen. Er zieht es offenbar vor, dem Elend seinen Lauf zu lassen, und sei es um den Preis bleierner Müdigkeit, die sich seiner zu bemächtigen scheint. Seine Atemzüge sind ruhig, tief und gleichmäßig, was mich auf die Palme treibt. Gleichzeitig Mitleid. Mit ihm, der so viel für mich tut und getan hat, mit der Pflanze, die so traurig aussieht. Und mit mir. Auf dem Weg von der Praxis zum Auto fange ich hemmungslos zu weinen an. Einige Tage später gebricht es mir in Erwartung einer ähnlich lähmenden Situation an jedweder Lust, überhaupt zur Therapie zugehen. »Ich habe die letzte Sitzung als authentisch empfunden«, erklärt Hirtberg. »Alles andere wäre ein Ausweichen gewesen, eine Verdrängung, Abwehr sozusagen. Sie mussten sich auf die Situation einlassen. Was ist eigentlich so schlimm daran? Warum kriegen Sie diese Panik?« Wie kommt der immer auf Fragen, über die ich noch nie nachgedacht habe? »Mich macht es verrückt, Sie zu langweilen, Ihnen Zeit zu rauben, ich will hier nicht schweigend herumsitzen, es soll sich lohnen.« Wo kommen wir denn hin, wenn plötzlich alle einfach nur da sind? Ganz ruhig wiederholt er, was er schon so oft gesagt hat: 237 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Es ist gut, dass Sie da sind. So einfach ist das. Sie müssen nicht immer etwas leisten, um gemocht zu werden. Sie sind einfach da.« »Das sagen Sie nur so. Als Therapeut. Sie müssen oder wollen mich beruhigen, trösten, aufbauen«, sage ich und glaube selbst nicht, was ich sage. »Außerdem«, füge ich etwas dümmlich hinzu, »fürchte ich, keine Verlängerung zu bekommen. Offenbar brauche ich sie ja nicht. Die Verlängerung, meine ich. Sie werden mich zum Teufel schicken, indem Sie einfach Ihren Antrag so formulieren, dass er abgelehnt wird.« Hirtberg bleibt sachlich. »Dazu wäre mir meine Zeit zu schade. Wenn ich Sie zum Teufel, wie Sie es formulieren, schicken wollte, würde ich mit Ihnen über die Beendigung der Therapie sprechen, Ihnen meine Gründe nennen. Ihnen die Chance geben, Ihre Position zu erklären.« Seine Stimme ist warm und weich und ruhig. Obwohl ich still auf der Couch liege, fühle ich mich wie ein gehetztes Kaninchen. Unsichtbar atemlos. Ein warmer Sommerregen verwandelt den parkähnlich angelegten Garten der frisch weiß gestrichenen Wohnanlage in eine Unterwasserlandschaft. Ich sitze auf meinem teilüberdachten Balkon und füge mich in das Rauschen und Plätschern in der schwülen Luft. Mein Blutdruck liegt bei sechzig zu neunzig, Ruhepuls bei fünfundsiebzig, Lungenfunktion bei einhundertdreißig Prozent, ausgezeichnete Blutwerte, normales EKG, die kleinen Zysten auf den Nieren sind nicht schlimm. Ich bin gesund. Auf meinen dringenden Wunsch hin schreibt mein Hausarzt mich für zwei Wochen krank. Zu Hirtberg gehe ich natürlich trotzdem, denn ich bin ja gesund. »Hmm, eigentlich bin ich tatsächlich krank. Was sonst als eine Krankheit ist denn mein Rückfall in alte Verhaltensmuster?« Mein Analytiker sieht mich sehr ernst an. »Ihnen ist klar, dass, falls Sie nicht sofort gegensteuern, die Gefahr besteht, wieder in diesen Strudel zu geraten? »Ja, doch, natürlich ist mir das klar. Die Angst vor gesundheitlichen Schäden wächst von Tag zu Tag, wie auch die Angst vor einem grandiosen Scheitern in dem Versuch, meine Lebensumstände zu ändern. Bisher geschieht das ja alles nur auf der Erkenntnisebene. In der Organisation kann und werde ich nicht bleiben. Mir wird schon schlecht allein bei dem Gedanken, wie sich morgens um halb zehn, ausreichendem Nachtschlaf zum Trotz, bleierne Müdigkeit auf Geist und Körper senkt. Schon morgens um halb zehn habe ich Hunger.« Lebenshunger. Leben gibt’s aber nicht, auf dieser zweiten Etage der 1980er Jahre Funktionalarchitektur. Dafür absolute Stille hinter und vor geschlossenen, schweren Mahagoniholztüren, automatischen Jalousien, die sich, je nach Lichteinfall oder Windgeschwindigkeit heben und senken. Die Klimaanlage brummt rund um die Uhr, Gleichgültigkeit und Desinteresse wabern als dichter Nebel durch die Korridore. »Dann denke ich an Rufus, der, während ich, dem Tode näher als dem Leben, auf den Monitor oder aus dem Fenster starre, putzmunter, motiviert und engagiert 238 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

der Welt entgegentritt, in Gesichter guckt statt auf lilafarbenen Teppichboden, mit Handwerkern, Kunden, Vertretern, Ärzten oder Studenten redet statt mit glasfaserbeklebten Wänden … Soll ich kündigen oder soll ich mir kündigen lassen?« »Weder noch. Warum wollen Sie jetzt alles abbrechen?« »Weil ich aggressiv werde, kaum dass ich das Büro betrete. Mir wird jede Kleidung zu eng und ich brauche sofort irgendetwas zu essen – deshalb frühstücke ich zum Beispiel im Büro, um den Wüstencharakter überhaupt auszuhalten. Mich macht das wahnsinnig, ich will nicht mehr. Außerdem finde ich es nicht in Ordnung, krank geschrieben zu sein, obwohl ich nicht krank bin.« Hör auf mit dem selbstmitleidigen Lamento. Halt die Klappe, Mama. »Das ist genauso wie in der vorletzten Stunde: Sie halten es nicht aus, einfach nur da zu sein. Sie wollen Leistung. Aber: Sie allein, sonst niemand, verlangt Leistung. Die Organisation verlangt gar nichts von Ihnen.« »Doch. Dass ich da bin. Anwesend. Körperlich, meine ich. Weil es eben mein Büro ist. Das muss man sich mal überlegen: Die Organisation hat keine andere Forderung als die, dass ich im Büro sitze! Dass ich da bin.« »Haben Sie mitbekommen, was Sie gerade gesagt haben?« Ich spüre, wie er sich in seinem Sessel aufrichtet und wende den Kopf so weit, dass ich ihn im Augenwinkel erahnen kann. Er lächelt mich offen und freundlich an, zieht die Stirn in gespannter Aufmerksamkeit ein wenig kraus, aus seinen Augen spricht Freude darüber, dass ich sehr wohl mitbekommen habe, was ich gerade gesagt habe. »Prüft jemand, ob Sie da sind? Sie setzen sich unter Druck und projizieren das auf diese Leute, Quandt, die Königin und wer da noch herumhockt. Schauen Sie, es würde ja Aktivität voraussetzen, Ihnen zu sagen, dass etwas an Ihrem Verhalten nicht in Ordnung ist. Warum soll jemand aktiv werden? War doch bis jetzt auch niemand.« Jurij gelingt es mühelos, mich zu überreden, zur Ausstellungseröffnung im Moskauer Tsaritsino-Palast zu kommen. Mir gelingt es mühevoll, Quandt systematisch das Gefühl zu geben, es sei wichtig, dass er, in seiner Funktion als Chef, die Organisation vor Ort repräsentiert. Ein Löffelchen Honig kann nicht schaden, schließlich soll er das Ganze finanzieren. Drei Tage Moskau. Eine Abschiedsreise, so kommt es mir jedenfalls vor. Am Abend der feierlichen Eröffnung schwirrt Jurij umher, Zeit für mehr als ein paar Worte gibt es nicht. Oligarchen, Journalisten und Politiker stehen Schlange: Jurij hat einen unglaublichen Erfolg. Wohl gerade, weil er in seiner Unkonventionalität in keine Schublade passt und immer er selbst ist: der Nonkonformist, ganz gleich, ob im Kontakt mit gekrönten Häuptern, dem Bundeskanzler oder einer zickigen Museumsdirektorin. Ich fühle mich wie in einem Kokon, komplett abgeschlossen von der Welt, die mich umgibt. Nichts habe ich mit dieser Welt zu tun. Die russischen Reden verstehe ich nicht, die Ausstellung ödet mich an, jedes einzelne Bild kenne ich. Keine Lust, mich zu unterhalten, doch um den Austausch vordergründiger Höf239 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

lichkeiten mit wildfremden Menschen, die Jurij mir vorstellt, komme ich nicht umhin. Quandt steht derweil noch verlorener in dieser schillernden Menge als ich. Farblos, unaufmerksam, nicht die Spur charmant ist er in jedem Falle eine der fadesten Gestalten, die mir je begegnet sind. Mein Chef, mit keinerlei emotionaler oder sozialer Intelligenz ausgestattet, von Führungsqualitäten ganz zu schweigen. Am Tag nach der Ausstellungseröffnung wird mir in der Metro die Brieftasche gestohlen, was ich bemerke, als ich dem Chor in der Kathedrale am Roten Platz ein paar Rubel spenden will. Während ich nun völlig mittellos da stehe, kommt Quandt nicht auf die Idee, mir von sich aus fünfzig, hundert Euro anzubieten, nein, wiederholt lässt er sich bitten. Am Ende rückt er Rubel im Wert von ungefähr dreißig Euro raus. Womit sich jede Flucht in die Arme der Artistin erübrigt. Was nutzen mir dreißig Euro? Die Brieftasche war ein Geschenk von Timo. Schwarz, an den Kanten lila, blau, petrol und orange eingefasst. Bei der Vorstellung, dass jemand sie ausgenommen und dann weggeworfen hat, schießen mir die Tränen in die Augen. Erinnerung an die Jahre, die wir miteinander verbracht haben. Sorge angesichts der Jahre, die vor uns liegen und die wir eben nicht gemeinsam verbringen werden. Ob ich ihn vermisse, kann ich gar nicht sagen. Hin und wieder bereue ich meinen Aufbruch, meinen dilettantischen Versuch, die Artistin durch rigorose Veränderungen der Lebensumstände zu töten. Allein ihr Tod bewiese, dass die damaligen Gegebenheiten ihre Existenz erlaubten. Dieser Beweis jedoch fehlt. Und so frage mich, was ich noch ändern kann. Ich werfe mich auf das blütenweiße Bettzeug in diesem Fünf-Sterne-Hotel und weine, betrauere den Verlust meiner Brieftasche und die absolute Nichtexistenz von Normalität. Später telefonieren Rufus und ich, der horrenden Gebühren zum Trotz, so lange, bis er mich mit seinem relativierenden Optimismus aufgefangen hat. »Wir werden wieder wundervolle Tage in Cléder verbringen«, sagt er, »du kommst nach Hause, erledigst den notwendigen Papierkram, packst die Koffer und schon sind wir unterwegs. Ich werde dir so viele Brieftaschen kaufen, wie du willst, und die Ränder jeder einzelnen, wenn du das möchtest, mit Blattgold einfassen lassen.« Wenig später vergesse ich angesichts der weicher und bunter als im Dezember wirkenden bretonischen Küstenlandschaft die Moskauer Metro, den Verlust meiner Brieftasche und die dekadente Kunstgesellschaft. »Wir hatten das gleiche Haus gemietet«, erzähle ich Hirtberg, als redete ich mit einer Freundin. »Es war sonnig und warm, statt kubikmeterweise Holz zu verfeuern, nutzen wir den Garten im Schatten eines gigantischen Menhirs, unternahmen abenteuerliche Radtouren entlang steil zum Meer abfallenden, rötlich schimmernden Gesteins.« 240 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Da Hirtberg nicht meine Freundin ist und ich nicht zum Vergnügen hier bin, tische ich ihm eine der problematischeren Szenen auf. »Rufus entspannt sich auf dem geblümten Sofa, ich vernehme seinen ruhigen Atem, der mir verrät, dass er dabei ist, ein wenig wegzudämmern. Ich betrachte ihn durch einen Tränenschleier, was ihn weichzeichnet und verletzlich erscheinen lässt. Mich zerreist es innerlich. Er hat etwas Besseres verdient als ein Leben mit mir …« »Jetzt fangen Sie nicht damit wieder an«, wirft Hirtberg ein, doch ich setzte noch eins drauf: »Um eine Trennung komme ich nicht herum. Die Frage ist: von wem?« »Was sind denn die Alternativen?«, erkundigt sich Hirtberg in sachlichem Ton. »Rufus und die Artistin.« Möglicherweise wird ihm jetzt klar, dass mir nicht zu helfen ist. Keinen einzigen artistenfreien Tag traue ich mir mehr zu. »So, wie ich Timo mit der Artistin betrogen habe, betrüge ich jetzt Rufus, schade unserer Beziehung, lasse meine Launen an ihm aus und lüge.« Doch meine Lügen sind keine Lügen, weil sie nicht aus mir kommen, sondern aus meinem anderen Ich, dem kranken, dem brutalen, unbeherrschten. Rufus heiratet mich – und mein zweites Ich, von dem er nur den Schatten kennt; die artistische Aura, denke ich, habe aber keine Lust, das auszuführen. »An welcher Stelle lügen Sie denn?« »Ich lüge, indem ich so tue, als ob ich keine Problem mit dem Essen hätte, keine Körperschemastörung, keine Zwangsgedanken.« »Sie lügen nicht. Sie reden nur nicht über das Thema.« »Nein. Ich möchte niemanden damit strapazieren, Sie im Übrigen auch nicht, Hirtberg.« »Sie strapazieren nicht mich, sondern sich mit dem Thema. Sie bezichtigen sich einer Lüge, obwohl Sie gar nichts sagen. Vor diesem Hintergrund ziehen Sie eine Trennung von Rufus in Erwägung. Finden Sie das angemessen?« Ein paar Tage später liegt etwas brach und platt und unbeweglich in mir. Dementsprechend liege ich auf der Couch. »Ich möchte schreiben. Schriftstellerin sein.« »Aha. Was möchten Sie denn schreiben?« Er fragt nicht: Wie kommen Sie denn darauf? »Erst mal meine ›Geschichten aus Kunst und Gesellschaft‹.« »Was wäre denn die erste Geschichte?« »Keine Ahnung. Es gibt sie nicht. Ich kann nicht anfangen, hmm, ja, weil unklar ist, was danach kommt.« Hirtberg trägt auch dies mit Fassung und prognostiziert kühn und ziemlich ungerührt, dass sich die nächste Geschichte aus der ersten ergeben werde. »Und wenn nicht?« Abgrund. Lähmende Leere. »Sie sagen, Sie könnten nicht anfangen, weil unklar ist, was danach kommt. Wie ist das denn bezogen auf den Anfang eines komplett essstörungsfreien Lebens?« 241 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Manchmal zieht er wirklich merkwürdige Parallelen. Ausweichend: »Vielleicht schreibe ich über eine Königin, die ihr Reich verkommen lässt, weil sie einfach nicht stirbt. Oder über die Abschiedsreise nach Moskau. Kopfbahnhof.« Hier geht es nicht weiter. Die Luft steht wie ein klebriger Brei. Meine Oberflächlichkeit geht mir auf die Nerven, aber der Zug in Richtung Tiefe fährt bereits an mir vorbei, ich hetzte ein paar Meter hinterher, schaffe es aber nicht, aufzuspringen. Um nicht allein herumzustehen, zücke ich einen thematischen Notnagel und erzähle Hirtberg, nun meinerseits ziemlich ungerührt, dass unsere, Rufus’ und meine, Konfliktbewältigung leidenschaftsloser wird. »Was meinen Sie damit: leidenschaftsloser?«, erkundigt er sich leidenschaftslos. Wieder fragt er nicht: Wie kommen Sie denn jetzt darauf? Plötzliche Richtungswechsel irritieren ihn nicht. »Wir gewinnen Bodenhaftung«, stelle ich fest, bemüht, positiv zu denken. »Nehmen wir das Beispiel Einkaufsverhalten. Das könnte unterschiedlicher nicht sein, was zu Spannungen und Diskussionen führt.« »Und die werden leidenschaftsloser?« »Ja. Wobei die zunehmende Leidenschaftslosigkeit, was mich betrifft, auf nichts anderes als Impulskontrolle zurückzuführen ist. Innerlich raunze ich Rufus an, nicht noch mehr Käse, noch ein Shampoo, kein weiteres Fünfhundert-Gramm-Glas Instantkaffee zu kaufen, wir haben noch genug! Ich betrachte das absurde Horten und verkneife mir jede Bemerkung, weil ich diesen Streit mit ihm nicht will.« »Warum wollen Sie den Streit nicht?« Hirtberg wirkt wenig engagiert, was ich ihm nicht übel nehme. Mein eigenes Engagement hält sich in Grenzen. »Er ist im Recht. Er hat den vernünftigen Ansatz. Mein Einkaufsverhalten unterliegt schlechtem Gewissen, Attackenvorbeugung. Ich weigere mich, Vorratshaltung zu betreiben. Unentschiedenheit: Möglicherweise steht schon morgen wieder die Artistin auf der Matte, will süßes Futter oder mir verbieten, etwas anderes als – eine ganz bestimmte – Hühnersuppe zu mir zu nehmen. Und so streift Rufus mit einer Psychopatin durch den ›Super U‹, schlimmer noch: Er heiratet eine Fremde.« »Das ist jetzt schwarz-weiß«, sagt Hirtberg, sichtlich gelangweilt. »Na, immerhin eskalieren unsere Auseinandersetzungen nicht mehr so wie am Anfang«, versuche ich die Situation zu retten und füge hinzu, dass auch unsere Mails magerer, sachlicher geworden sind. »Vielleicht haben Sie sich oft und nachdrücklich genug Ihrer Liebe vergewissert, vielleicht brauchen Sie das jetzt nicht mehr? Es kann doch sein, dass sich die Beziehung in einer Art Konsolidierungsphase befindet. Sie haben sich erst mal kennengelernt, und da Sie sich noch nicht kannten, mussten Sie sich wechselseitig immer wieder Ihrer Zuneigung und Liebe vergewissern: per Mail, per SMS, im nichtdigitalen Zeitalter hätten Sie überall diese gelben Zettelchen verteilt oder mit Lippenstift auf den Spiegel 242 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

geschrieben. Das hat Ihnen beiden Spaß gemacht, keiner fühlte sich verpflichtet. Es war einfach so. Inzwischen haben Sie ein tragfähiges Fundament. Sie verlassen sich aufeinander, glauben einander und aneinander. Das macht eine stündliche Vergewisserung der Liebe des jeweils anderen per SMS obsolet.« Auf dem Weg nach Hause kommt mir der entsetzliche Gedanke, dass ich diesen Menschen hoffnungslos unterfordere. Dr. Sommer würde reichen. Ich brauche keinen Analytiker, sondern einen Ratgeber, Bastei-Lübbe-Verlag: »So finden Sie sich bei der Bahn zurecht«. Die Anthroposophische Hochschule besetzt ihre Professur für Kunsttheorie, allerdings nicht mit mir. Die Absage überrascht mich nicht, ich bin keine Kunsttheoretikerin, geschweige denn Professorin. Eine gewisse Enttäuschung lässt sich allerdings nicht verhehlen, Rufus hat mich mit seinem Optimismus angesteckt. Immerhin Klarheit. Es gewittert heftig, der Himmel hat die Farbe von blauem Blut, Windböen drücken die Verbenen in den Blumenkästen platt. Bis tief in die Nacht tobt ein gigantisches Gewitter in der sommerlichen Dunkelheit, wie ein Zeichen. Der Tod beschäftigt mich, die Angst vor Krankheit, Siechtum, Strafe.

243 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Das letzte Jahr

W

ie viele Stunden haben wir noch?« Eine Frage aus der Rubrik Statistik, Organisation und Tabellen. »Sie wollen Stabilität. Sicherheit. Muss ich mal nachgucken.« Während Hirtberg eine Mappe aufschlägt, in der sich handschriftliche Notizen befinden und ein Blatt Papier mit meiner Stundenauflistung, ebenfalls handschriftlich, betrachte ich seine Hände, als könnten sie mir von ihm und seinem Leben erzählen. Er beugt sich über das Blatt in der Mappe, die er auf einen Stuhl gelegt hat, der nahe bei der Couch steht, auf der ich sitze und das Kinn in beide Hände stütze. Ahnen Sie eigentlich, dass ich Ihre Art, sich zu bewegen, und Ihr Gesicht genau studiere? Ihr kantiges, frisch rasiertes Kinn, die schmale Oberlippe, die drei Querfalten auf der Stirn, die tiefen Naso-Labial-Falten, Ihre braunen, weit auseinanderliegenden Augen, was durch die Brauen, die nicht genau über dem inneren Augenwinkel beginnen, sondern wie minimal nach außen gerutscht wirken, noch betont wird. Meine Empfehlung an Sie: Lassen Sie sich die verbliebenen Haare komplett rasieren. Oder tragen Sie sie höchstens fünf Millimeter lang. Vom Typ her erinnert er mich an Michael Stipe. »Die sechste der letzten bewilligten sechzig«, reißt mich Stipe aus einer Blitzversenkung, mit der ich noch gar nicht fertig bin. »Zum ersten Mal gesehen haben wir uns am 3. August 2005.« »Ja, das weiß ich. Das ist Teil meines magischen Denkens.« »War das jetzt alles mit den Zahlen?« Er schlägt die Mappe wieder zu. Bleibt ein weiteres Jahr. Vierundfünfzig Stunden. »Oh Gott, und ich weiß jetzt schon nicht mehr, worüber ich mit Ihnen reden soll. Mir jedenfalls fällt nichts mehr ein.« Los, konzentrier dich gefälligst, starr nicht immer diesen Rock-Fuzzi an, mach deine Hausaufgaben, lern Vokabeln, hör auf zu träumen. Mein ganzer Körper verspannt sich. Alle Themen sind durch und Hirtberg bietet auch keines an. »Es ist Ihre Stunde.« Sturkopf.

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Die Anthroposophische Hochschule hat Raum- und Terminprobleme, weshalb die Obertal, Professorin für Kunstwissenschaft und leitende Koordinatorin für Lehraufträge, fragt, ob ich mir prinzipiell vorstellen kann, ein Blockseminar abzuhalten statt einer Serie wöchentlicher Veranstaltungen. »Mich enttäuscht diese Nachricht, Hirtberg, können Sie das verstehen?« »Sie fühlen sich abgelehnt. Nicht willkommen.« »Nein, ich fühle mich überhaupt nicht willkommen. Das Ganze hat so einen merkwürdigen Beigeschmack, obwohl mein Angebot angeblich gern gesehen ist.« »Wieso angeblich?« »Steht so in der Mail. Am liebsten würde ich meinen Job sofort wechseln, obendrein einen alten Hof im Bergischen kaufen, mich mit Rufus an die Aus- und Umbauarbeiten begeben und vom Schicksal einen Hinweis auf irgendeine positive berufliche Entwicklung bekommen, und fände diese auch erst in Jahren statt …« »Das Thema ist Aufschub.« Ein Wort für das, was ich umständlich beschreibe. Doch eins fehlt: Sicherheit. Na ja. Nicht minder umständlich fahre ich fort zu erklären, dass meine Vorstellung, ich sei nur unter der Voraussetzung, Erwartungen anderer zu erfüllen, liebenswert, zu einer Befindlichkeit führe, die nur bedingt mit meiner Wahrnehmung der Realität korreliere. »Die ja so schlecht gar nicht ist.« »Was?« »Ihre Realität. Ihre realen Lebensumstände.« »Nee. Immerhin gibt es eine Aufgabe, wenn auch von mir selbst initiiert und definiert, nämlich die, in Kooperation mit dem Museum die grafische Sammlung aufzuarbeiten.« Mehr erzähle ich nicht, weil mich allein der Gedanke daran langweilt und Hirtberg die Details sowieso nicht versteht. Sie gehören hier nicht hin. »Da gibt es schon mal Sicherheit und Sie können etwas leisten«, wirft er mit moderat zynischem Unterton ein. »Ja. Die Sommerblumen in den Balkonkästen blühen üppig, meine Wohnung gefällt mir. Das ist auch Realität. Ich kann tun und lassen, was ich will, selbst im Büro. Künftig bleibe ich einfach ein paar Tage bei Rufus, das Wochenende reicht sowieso nie.« »Sie zweifeln. Sie sind nicht sicher, ob Ihre Auslegung der Situation haltbar ist. Ich finde Sie sehr überzeugend. Da haben Sie ihn doch, den Erfolg: Sie sehen die Dinge, die letztlich die gleichen sind, aus einer anderen Perspektive. Natürlich weiß niemand, was in einem Jahr sein wird. Doch wenn Sie davon ausgehen, dass Ihr Engagement, beispielsweise an der Hochschule, ins Leere laufen wird, zeichnen Sie ein Worst-Case-Szenario.« »Hören Sie, ich bin siebenundvierzig, ich habe keine Lust mehr, mein Leben aufzuschieben! Ich will keinen Aufschub, wie lange soll ich denn noch was weiß ich aufschieben?« »Wenn Sie sich jetzt, wie Sie beschreiben haben, auf den Tag x vorbereiten, sich 245 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Höfe ansehen, den Kontakt zu der Obertal pflegen und einfach Ihre – ich betone: Ihre! – Arbeit tun, schieben Sie kein Leben auf. Dann sind Sie mitten drin.« »Sie haben Distanz und Neutralität besser im Griff als ich«, sagt Hirtberg – in meinem Traum. Der Wecker klingelt. Mir egal. Nur diesen Zipfel des Traumes kriege ich zu fassen. Das andere, seine Distanz und seine verdammte Neutralität, ist Wirklichkeit. »Ich kann nicht mehr. Seit acht Jahren motiviere, organisiere, sanktioniere ich mich selbst. Von der Königin, von Quandt, kommt gar nichts.« »Was ist denn so schlimm daran?«, fragt Hirtberg. »Ich weiß, ich wiederhole mich. Niemand braucht Kunsthistoriker. Sonst würde mich die Anthroposophische Hochschule mit Kusshand einstellen. Oder zumindest mein Arbeitgeber klare Vorgaben formulieren.« »Wie soll er das? Der hat ja nicht mal selbst ein Ziel!« Hirtberg schiebt sich auf die Kante seines Sessels streckt die Rückenmuskulatur, legt die Hände in die Hüften. »Rückenschmerzen?« »Nö. Eigentlich nicht.« Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass er lächelt. Er trägt eine extravagante Kombination aus verschlissenen Sportschuhen und blütenweißem Oberhemd. Plötzliche Erinnerung an den Traum. Müsste ich ihm nicht davon erzählen? Wir können doch das, was sich zwischen uns – genauer gesagt: in mir in Bezug auf Hirtberg – abspielt, nicht ignorieren? Tun wir aber. Ich tue das. Warum ist er immer noch freundlich zu mir? Wann endlich wird er mich der selbstmitleidigen Jammerei bezichtigen, mich anschreien: Tun Sie irgendwas, aber hören Sie auf zu essen und darüber zu grübeln, wenn Sie nicht essen! Unternehmen Sie was, werden Sie aktiv, überwinden Sie Ihren Schweinehund! Allen Mut zusammenklaubend ignoriere ich meine Kinderstube, in der absolute Diskretion als besondere Tugend verkauft wurde, ignoriere den Umstand, dass die Analysandin nicht zu viel, am besten gar nichts, über den Analytiker wissen darf, ignoriere schließlich mein Herzklopfen und frage ihn, mutmaßlich sachte errötend und alles andere als unumwunden, nach seinem Sternzeichen. Kopfschmerzen und Traurigkeit beim Aufwachen, alles spitzt sich ungeheuer zu. Gott sei Dank ruft Rufus an. »Geh morgen einfach nicht in die Organisation, lass dich noch ein paar weitere Tage krankschreiben, setz dich ins Auto, fahre durch die kleinen Orte am Niederrhein, sieh dir Höfe an, dann telefonieren wir, du erzählst mir alles und am Wochenende gucken wir uns was an.« Geliebter Retter! Er will mich aus meiner Weltuntergangsstimmung ziehen. »Pack dir einen Picknickkorb, geh mit Benno am Rhein spazieren, manchmal ist es das Beste, so was zu tun. Aber man muss es dann einfach auch tun!« 246 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Ja, vielleicht mache ich das«, sage ich matt, mit den Gedanken schon beim nächsten Knackpunkt, meiner Angst vor Verarmung, sozialem Abstieg, Hartz IV, Rheinbrücke. »Rufus, egal was ich mache, wenn ich etwas verändere, werde ich kein Geld mehr haben.« »Quatsch nicht, du bist nicht arm und wirst es auch nicht sein. Dein Bruder Frederik hat seine Hütte auch nur mit einer Erbvorabzahlung kaufen können. Du hast deinen Vater und der hat Geld, was will der denn mit seiner ganzen Kohle?« Mir dreht sich der Magen um, aber ich sage nichts. Nie und nimmer werde ich Gerhard um Geld bitten, geschweige denn um viel. Was ist eigentlich so schlimm daran, Ihren Vater um Geld zu bitten?, würde Hirtberg jetzt fragen. Fragt er aber nicht. Anderes steht auf dem Programm. Um Zeit zu gewinnen, halte ich mich ein wenig mit der Idee auf, meine Anwesenheitspflicht in der Organisation auf zwanzig Stunden zu reduzieren, sodann mit einem Update, was diese Notizen betrifft. Schließlich rutsche ich ein wenig tiefer in die Couch und schließe für einen Moment die Augen. »Wir haben in den letzten Monaten das Analytische, dessen Rahmenbedingungen … und die …« Ich spiele an den kleinen Knöpfen meiner schwarzen Strickjacke herum, spüre, wie sich mein Puls beschleunigt und ich in ein wenig in den Achseln zu schwitzen beginne, was selten der Fall ist. Was nun? Weglaufen? Umschwenken auf ein weniger delikates Thema? Aufspringen und ihm klipp und klar sagen, dass ich ihn hinreißend finde? »… und die Beziehung zwischen, also, ich meine, unsere analytische Beziehung aus den Augen verloren … Die ist doch wichtig, wenn man der Literatur Glauben schenken darf?« »Es reicht doch, wenn Sie sie wichtig finden, oder? Aber, ja, Sie haben recht, wir haben das etwas vernachlässigt.« »Eigentlich wissen Sie schon alles … nun, ich träume von Ihnen. Nachts, meine ich. Manchmal. Sie spielen eine nicht zu unterschätzende Rolle in meinem Leben.« Er hört zu, wartet ab. Eines der Knöpfchen löst sich, ich stecke es in meine Hosentasche, dankbar, etwas zu tun zu haben. »Ich will mir nicht ausmalen, was passiert, wenn die letzte Stunde gekommen ist … wir uns … ich Sie nicht mehr sehe.« Routiniert halte ich die Tränen zurück. Soweit bin ich noch nicht. Doch schon längst habe ich entschieden, mir mindestens eine Stunde pro Monat zu leisten, die kann ich privat bezahlen. Falls er mitspielt, was in diesem Augenblick nicht wichtig ist. Jetzt, wo ich diesen Anflug von Mut verspüre und fortfahre, ihm zögerlich Satzfragmente zuzumuten, die er wie ein Puzzle zusammenfügen muss, will ich keine Zeit verlieren. 247 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Da war doch kein Bauzaun vor dem Brachland eben, oder doch? Dass ich beim Verlassen der Praxis völlig die Orientierung verliere, zeigt mir, wie aufgewühlt ich bin. Habe ich nicht vor diesem roten Saab rückwärts eingeparkt? Zweifel an meiner Zurechnungsfähigkeit, an meinem Erinnerungsvermögen, an dem Tatbestand, dass ich mit dem Auto gekommen bin, sogar daran, dass ich eines besitze. Ich rufe die Polizei an, schildere, dass mein Auto, ein Passat mit Werbeaufschrift, nicht mehr da ist. Nein, abgeschleppt sei in besagter Straße wie im ganzen Viertel heute Vormittag noch nicht. Man scheint mich nicht besonders ernst zu nehmen, als ich den Verdacht auf Diebstahl formuliere, wo sonst, bitteschön, soll der Wagen sein? »Wir recherchieren und melden uns später. Sind Sie in der nächsten halben Stunde unter dieser Nummer zu erreichen?«, fragt der Beamte, jetzt sehr freundlich. Es ist ihm nicht entgangen, dass ich einem Nervenzusammenbruch nahe bin. »Ja, natürlich. Was soll ich tun?« »Laufen Sie das Umfeld ab. Vielleicht irren Sie sich einfach in der Straße.« Die Straße, auf der ich geparkt habe, geht von einem von alten Bäumen umgebenen Kreisel ab. Außer dieser gehen vier weitere Straßen von dem Kreisel ab. Es ist schwierig, hier einen Parkplatz zu finden. Als ich nach ungefähr siebenhundert Metern in der dritten Straße umkehre, fiept mein Handy. »Ihr Auto haben Sie nicht gefunden?« »Nein.« Mir ist schlecht. Es ist nicht nur mein Auto, es gehört zur Hälfte Rufus. Das macht die Sache sehr prekär. Ich fühle mich, als hätte ich den Wagen gestohlen. »Wir aber. Wir haben es gefunden. Gehen Sie in die Kongressstraße. Dort steht nur ein Auto mit Werbeaufschrift und Folzheimer Kennzeichen.« Es ist die Polizei, die sich kurzerhand, wohl um ihren Status als Freund und Helfer zu untermauern, mit dem Streifenwagen auf die Suche begab. »Sagen Sie mal, steht da Hirtberg?« Ich liege auf der Couch, ein gelbes Pappchen in der Hand. »Ja, da steht Hirtberg. Das sind Sie. Max Hirtberg. Gefällt Ihnen der Name nicht?« Ich mag es, wenn er sich über meine Ideen, die ihm zu gefallen scheinen, amüsiert. Jetzt amüsiert er sich. Nach einem knappen Ausflug in Richtung Autonomie konfrontiere ich ihn erneut mit meinen Notizen, letztendlich um zu reden über … ja, was eigentlich? »Wie soll ich sagen? Dieses Spiel vermittelt mir den viel beschworenen Flow, und das ist mir vorläufig so viel wichtiger als die Frage, was mit dem Ding am Ende geschieht oder auch nicht. Das spielt jetzt keine Rolle.« »Sehen Sie, das nennt man Aufschub. Sie brauchen nicht mehr auf jede Frage sofort eine Antwort. Diesbezüglich sind Sie sehr viel gelassener geworden.« »Stimmt. Ist mir gar nicht aufgefallen. Ja, sehr entlastend.« »Was ist mit Rufus? Darf der das eigentlich alles lesen?« 248 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Eine Frage, die ich mir auch stelle. Einerseits möchte ich es. Die Analyse, alles, was damit zusammenhängt … Mein Leben, wenn Sie so wollen, geht auch ihn was an. Bedenken habe ich, was die Artistin betrifft. Nein, ich möchte nicht, dass er Details erfährt. Nicht minder delikat die Abschnitte, in denen es um Timo geht. Und schließlich …« Wieder modifiziere ich meine halbsitzende Position dergestalt, dass ich tiefer rutsche, sozusagen in der Couch versinke. Bald liege ich wirklich. »… schreibe ich über Sie, das wissen Sie doch.« »Sie machen sich Notizen über Ihre Analyse, das weiß ich, ja.« Super-Poker-Analytiker-Face. »Und zwar ausschließlich schmeichelhafte Schilderungen, vorsichtig ausgedrückt, dessen, wie ich Sie erlebe, meine anfängliche Verliebtheit, Träume, Fantasien … Rufus könnte das irritieren, vielleicht sogar verletzen.« »Gesetzt den Fall, das Ding wird irgendwann veröffentlicht …« »So weit sind wir noch lange nicht«, unterbreche ich ihn, um mir nicht selbst Größenwahn vorwerfen zu müssen, da ich inzwischen, wenn auch zögerlich, genau den Fall kalkuliere. »Erst mal mache ich das für mich.« Und für Sie, füge ich in Gedanken hinzu. »Nehmen wir trotzdem mal an, es käme zu einer Veröffentlichung«, insistiert er, »dann könnte Rufus ja in jeden Buchladen gehen und sich das Ding kaufen. Was ist denn so heikel daran?« »Jesses, können Sie sich das nicht denken? Zum Beispiel Szenen wie die, in der Sie das Fenster schließen und ich, während Sie das tun, Ihren Körper wahrnehme, der sich unter dem T-Shirt abzeichnet … Die Gefühle, die mich in unserem ersten Jahr bewegten, ja mitgenommen haben, deretwegen ich konsequenterweise jenseits dieser Wände«, flüchtig berühre ich die Raufaser mit der flachen Hand, »nach Alternativen gesucht habe. Die Beziehung zu Rufus hat meine emotionale Befindlichkeit, was Sie betrifft, nicht völlig aushebeln können: Nach wie vor finde ich Sie ein Quentchen mehr als … Ihre Art, wie Sie mit Ungereimtheiten umgehen, Sie haben Charisma, Hirtberg. Und sexy finde ich Sie obendrein.« Warum sage ich nicht einfach, dass ich zwei Männer liebe? »Na ja«, fahre ich stattdessen fort, »Sie müssten ja so sein, wie Sie sind und sich so verhalten, mir gegenüber, wie Sie es eben tun, meinte kürzlich jemand, mit dem ich mich unterhalten habe, das sei Ihre Rolle als Analytiker und in diesem Punkt wären Sie nicht besser als ein Versicherungsvertreter.« Er beugt sich nach vorn, schimmert am Rande meines Gesichtsfeldes. »Ich frage mich gerade, wer das gesagt haben kann …« »Kennen Sie nicht, ich auch nicht. Jemand aus meinem Psychoforum im Internet. Wie dem auch sei, ich erlebe Sie als absolut authentisch und habe nicht den Eindruck, dass Sie hier eine künstliche, eine konstruierte Rolle spielen. Ich habe Vertrauen in meine diesbezügliche Wahrnehmung. Ich vertraue Ihnen.« Geradeheraus sehe ich ihn an und meine genau das, was ich sage. Der Boden trägt. 249 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Da zweifeln Sie nicht! Merken Sie das?« Ich bin selbst ganz begeistert. Von mir. Mit welchem Mut ich zu meinen Gefühlen stehe. Und von dem Versicherungsvertreter. Geradezu beschwingt fahre ich zurück ins Büro, hole mir einen frischen Salat und ein Brötchen, wobei mir letzteres von der Artistin in die Hand gedrückt wird. Ich kriege dich, raunt sie, während ich auf das Brötchen starre, einen Teil der Sonnenblumenkerne abnage, die auf der glatten, hellbraunen Oberfläche kleben und daran rieche. Schließlich wird es mir zu blöd, packe das bedrohliche Ding in die Schublade und mache mir einen leckeren Cappuccino zum Dessert. I’m breaking through, I’m bending spoons, I’m keeping flowers in full bloom, I’m looking for answers from the great beyond, I’m breaking through, I’m bending spoons, I’m keeping flowers in full bloom, I’m looking for answers from the great, answers from the great, answers …, singe ich während der Arbeit an meinen Notizen mit. Anna ruft einen Tag nach unserem gemeinsamen Besuch in der Therme an, will einen weiteren Termin ausmachen, wir einigen uns auf in vierzehn Tagen. »Du kannst jederzeit bei mir übernachten, wenn du deine Wohnung aufgegeben hast«, bietet sie mir an, ganz aufgeschlossen, ganz präsent, ganz interessiert, offen. Die Geschichte mit dem gestohlenen Wagen findet er komisch, was sie ja auch ist, wir beömmeln uns ein bisschen darüber. »Seit ich diese Analyse mache, bin ich deutlich unstrukturierter geworden«, fasele ich in Ermangelung der Erinnerung an das, woran ich anknüpfen wollte. »Nein, Sie sind nicht unstrukturierter geworden, sondern in Ihrer Verbindung mit Rufus fällt Ihre eigentliche Unstrukturiertheit mehr auf.« »Blödsinn. Ich war mal organisierter.« »Kontrollierter vielleicht?« »Ja, das sowieso. Aber nun, ich will ja diese zwanghaften Mechanismen auch auflösen … Aber etwas ganz anderes: Zum einen möchte ich Sie nach einer Bewertung fragen. Zum anderen möchte ich wieder auf die Übertragungsebene, falls Sie verstehen, was ich meine.« »Was soll ich denn bewerten?« »Nun, wie finden Sie meinen Entschluss, meine Liefemer Wohnung aufzugeben und meine Anwesenheitszeit in der Organisation zu reduzieren?« »Mutig.« Dafür, dass er das mutig findet, liegt erstaunlich wenig Temperament in seiner Stimme. »Sie legen jetzt noch mal richtig eins drauf, vielleicht weil die Therapie nicht ewig dauert?« Zack. Nasser Lappen. 250 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Oh, ich finde, ich habe die ganze Zeit was umgesetzt!« Ich wende mich um und gucke ihn etwas irritiert an. »Ja, aber jetzt kommt es auf die sehr konkrete und sichtbare Ebene.« »Sagen Sie mal, glauben Sie, dass es möglich ist, vom Schreiben allein zu leben?« Überraschend offen und alles andere als orthodox-analytisch breitet er quasi seine gesamte Buchhaltung aus: Was er für ein Buch bekommt, für einen Auftritt, eine Rede, mediale Vermarktung seines Wissens und seiner Person … Obwohl ich meinen prominenten Coach mit Tausenden von Fragen löchern könnte, erinnere ich ihn an die Übertragungsebene. Oder das, was ich mir darunter vorstelle, und was ich mit dieser Vorstellung verbinde. »Sie verstehen doch, was ich meine? Hören Sie, Hirtberg, die Endlichkeit dieser Veranstaltung ist mir durch die Bewilligung der letzten sechzig Stunden drastisch vor Augen geführt worden, und jetzt … Hirtberg«, druckse ich herum, »da ist so ein merkwürdiges Gefühl.« »Können Sie das präzisieren?« »Nein.« Statt diesem merkwürdigen Gefühl ein Label zu verpassen, stellt er fest, »dass mit dem Ende der Analyse ja auch ein Lebensabschnitt zu Ende geht. So wie mit der Trennung von Timo ein Lebensabschnitt zu Ende gegangen ist, und wie ein Lebensabschnitt mit der Aufgabe Ihrer Liefemer Wohnung zu Ende geht. Gleichzeitig beginnt viel Neues.« »… was so schnell, wie es neu war, in das immer breiter und unübersichtlicher werdende Spektrum dessen, was vergangen ist, einfließt. Es ist alles ein langsames Sterben.« »Ja. Auch die Therapie.« Der Lappen. Schon wieder. Ich schweige. »Aber wenn Sie sich vorstellen, es ginge wirklich ewig so weiter, hätten Sie wieder – oder immer noch – das Problem mit der Autonomie. Zu gehen, etwas zu beenden, bedeutet immer auch ein Plus an Autonomie. Denken Sie an Ihre Organisation: Sie gehen, autonom. Sie geben Ihre Wohnung auf, autonom. Was folgt, ist Autonomie. In diesem Maße haben Sie das wohl in Ihrem ganzen Leben nicht gehabt.« In einer der folgenden Stunden greife ich seine Feststellung auf, jetzt, kurz vor dem Ende, geschähe so viel. »Wenn jetzt viel geschieht, handelt es sich nicht um Torschlusspanik, falls Sie das meinen.« »Wer sagt denn das?« »Nun, Sie nicht … Die Dinge, die sich auf der Handlungsebene zutragen – Wohnungskündigung, Reduktion der Arbeitszeit –, brauchten sämtlich ihre Vorlaufzeit, es sind ja auch andere daran beteiligt. Es klang so, als wollten Sie sagen: Endlich kommen Sie aus dem Quark!« 251 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Nein, es hat sich die ganze Zeit viel getan. Was jetzt geschieht, ist eine Verdichtung. Ich habe mich nicht wertend geäußert.« »Stimmt. Habe ich das beklagt?« »Wer wirft Ihnen vor, Zeit vertrödelt, erst kurz vor zwölf aktiv geworden zu sein?« »Ja, Hirtberg, immer gilt es irgendwie Unheil abzuwenden.« Die Versetzung schaffst du nur mit Ach und Krach, sieh zu, dass du den Schulbus nicht verpasst, bald hast du die Siebzig-Kilo-Marke geknackt … Habe ich nie! Weiter. Nächstes Thema, Stichwort Wut. »In der gesamten analytischen Begegnung habe bis auf den heutigen Tag nicht den leisesten Anflug von Verärgerung, von Zorn oder Wut ganz zu schweigen, empfunden. Nicht die Spur eines aggressiv gefärbten Gefühls.« Dass ich nie geweint habe, ist eine andere Sache: Alle Tränen, gerade noch rechtzeitig, lasse ich nach innen laufen. »Was die Absenz von Verärgerung oder gar Zorn betrifft: Vermissen Sie dieses Gefühl?« »Nein. Ich frage mich nur, ob das so in Ordnung ist. Andere Patienten verwünschen Ihren Therapeuten, streiten sich mit ihm herum, suchen seine Unzulänglichkeiten …« »Sie fragen sich, ob Sie in Ordnung sind. Ob Sie hier alles richtig machen.« »Ja.« »Sie sind nicht falsch. Außerdem«, ergänzt er, »sind Sie ja auch sehr konziliant.« »Wieso? Weil ich mich nicht ärgere, wenn wir mal fünf Minuten später anfangen? Sie ärgern sich ja auch nicht, wenn, wie kürzlich, ich gleich zwei Stunden hintereinander absage.« »Es sind ja auch Ihre Stunden.« »Ja, ja, ist ja gut«, maule ich, »Sie haben damit ja auch gar nichts zu tun …« »Jetzt ärgern Sie sich?« »Hirtberg, bitte, entschuldigen Sie: Sie haben Ihren Terminplan, und ich möchte Ihnen keine Schwierigkeiten machen. Sie müssen die Stunde neu belegen, für mich einen anderen Termin finden … Wie dem auch sei, ich kann nichts Ärgerliches daran finden, wenn Sie mal etwas zu spät dran sind. Zumal das ja so gut wie nie passiert.« »Etwas ungehalten wirkten Sie immerhin, wenn Ihnen alles zu viel wurde und Sie am liebsten weggelaufen wären.« »Ja, das stimmt. Das hatte aber nichts mit Verärgerung über Sie zu tun, sondern mit Hilflosigkeit angesichts einer emotionalen und intellektuellen Überforderung. Das ist doch etwas ganz anderes!« Nach einigem Nachdenken relativiere ich das Gesagte. »Doch, ja, in der Tat habe ich Sie bisweilen verwünscht, wenn Sie da gleichschwebend aufmerksam herumhockten, während ich nur Watte im Kopf habe …« »Was erwarten Sie denn von mir?« »Nun lassen Sie doch mal dieses blöde Analytikergequatsche. Es ist ja nicht so, als könnten Sie mir nicht helfen. Ein einziges Mal haben Sie das getan, als nämlich Sie fragten, was aus meinen Gefühlen für Sie geworden sei, wir hatten länger nicht darüber gesprochen. Das mit meiner, na, nennen wir es mal Zuneigung, kam ja nicht 252 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

von jetzt auf gleich. Eigentlich wusste ich von Anfang an, dass es so kommen würde, das habe ich Ihnen ja auch gesagt.« »Sie sind zu mir gekommen, weil Sie sich in mich verlieben wollten.« »Stimmt nicht. Ihr Kollege Hassler war mir zu autoritär, und dieser MakrameeÄsthet war erst recht undenkbar. Sie sprangen, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe empor, überraschten mich mit Freundlichkeit, Respekt und einem lockeren Umgangston. Ich hatte einen autoritären Stil erwartet, Maßregelungen, Schuldzuweisungen, so dieses Spektrum …« »Das war Ihre Über-Ich-Strenge, Ihr Zensor.« »Möglich.« »Innerlich, vielleicht unbewusst, hatten Sie das Programm, sich zu verlieben, um Ihre Erotik und Weiblichkeit wiederzufinden. Und Sie haben das ganz systematisch gemacht: Sie haben sich einen Analytiker gesucht, der Sie anspricht, sich verliebt, sich aus der Ausweglosigkeit und der damit verbundenen Traurigkeit umgesehen mit dem Ergebnis, dass Sie heute mit Rufus verheiratet sind.« Schweigen. Seinerseits. Meinerseits. Irgendwann werde ich ihm sagen, dass ich mir sehr viel mehr Intimität mit ihm vorstellen kann, und vielleicht verstehen, was dahinter steht. »Ist Rufus eifersüchtig auf mich«, erkundigt sich Hirtberg, »hat er Sie gefragt, wie Ihre Empfindungen mir gegenüber heute aussehen?« »Nein, hat er nicht. Ihm gegenüber bleibe ich auf der sachlichen Ebene, und da ist Idealisierung erlaubt. Er nennt das Idealisierung.« »Gibt es denn eine Diskrepanz zwischen dem, was Sie Rufus über mich erzählen, und dem, was sich hier abspielt oder besser: was sich hier in Ihnen abspielt?« »Ja, natürlich gibt es die. Es gibt immer Diskrepanzen, auch hier. Einiges verschweige ich. Wenn es zu heikel oder im Moment eben nicht wichtig ist.« »Nun, Sie sind ja generell sehr kontrolliert, schon die Art, wie Sie auf der Couch liegen. Aber das ist ja schon etwas entspannter als zu Anfang … Also, was verschweigen Sie?« Er trägt einen hellen Sommeranzug, ein im Ton passendes Hemd, darunter ein schwarzes T-Shirt. Er ist unrasiert und wirkt irgendwie müde. Noch einmal reden wir kurz über nicht ausgedrückte – oder nicht empfundene? – Wut und Traurigkeit in der Analyse, mit dem Ergebnis, dass es bei mir eben so ist. Mögen alle anderen ihre hysterischen Ausbrüche erleben, ich nicht. Ambivalent auch das: Einerseits möchte ich mir keine Blöße geben, andererseits sehne ich mich genau danach. »Das Schreiben ist mir wichtiger denn je.« »Sie eignen sich das alles noch mal an. Sie packen einen Rucksack für später, wenn das hier zu Ende ist – unabhängig davon, ob Sie privat weitermachen oder nicht. Sie bereiten nach und sich gleichzeitig vor.« »Ja, ich materialisiere, verbinde mich mit den Inhalten, sonst wäre das hier zu flüchtig.« 253 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ich beklage, die analytischen Fachbergriffe für das, was ich beobachte und beschreibe, nicht zu kennen. »Glauben Sie, ich könnte alles, was ich hier tue, mit Fachbegriffen umschreiben?« Natürlich glaube ich das. Jeder weiß, dass jeder Liebe macht. Das Wie ist in der Regel mehr oder weniger tabu, zumindest Privatsache und sehr individuell. Ganz ähnlich ist es mit der Symptomatik der Essstörung: Hirtberg weiß, dass ich bestimmte Dinge tue, das Wie ist von untergeordneter Bedeutung. »Und, Hirtberg, ich frage Sie: Ist es mit der Analyse letztlich nicht auch so? In ihrer Gestalt abhängig von den Individuen, die sie ausführen, hat niemand außer den Beteiligten eine Ahnung von dem, was wirklich geschieht. Eine Analyse ist vielleicht das Intimste, was man, abgesehen von Sex oder einer Essstörung, haben kann …« Die Stunde ist zu Ende. Im Abschied begriffen stehen wir einander gegenüber, reden noch ein paar Sätze. Hirtberg ist faktisch höchstens zehn Zentimeter größer als ich, seine Aura indes füllt den Raum und ich drohe gnadenlos in seinem Charisma zu ertrinken. Ein, zwei Schritte in seine Richtung, und etwas würde sich auflösen. Ich mich zum Beispiel. Oder unser gutes, zwischen Nähe und Distanz oszillierendes Verhältnis. Alle Sehnsucht. Meine Sehnsucht. Ehrlich gesagt halte ich seine Reaktion für übertrieben, als er sagt, »mit dieser Analogie« hätte ich ihm »wirklich was gegeben«, er habe diese Parallelen so noch gar nicht gesehen. Ich ja auch nicht. Sie sind mir gerade eingefallen. Nahezu enthusiastisch betont er, dass nun er es sei, »der aus der Stunde etwas mitnimmt«, was mir ungeheuer schmeichelt – ungeachtet des Umstandes, dass es wohl kaum seine Absicht ist, mir zu schmeicheln. Verlegenheit mischt sich unter den Wunsch, Hirtberg zu berühren, und treibt mich zügig raus aus diesem Raum, in dem ausgerechnet ich meinem vergötterten Analytiker angeblich etwas gegeben habe. Den ganzen Tag – und lange danach – kann ich es nicht fassen. »Sagen Sie mal, war es nicht früher so, dass während einer laufenden Analyse keine existenziellen Entscheidungen getroffen, geschweige denn realisiert werden durften?« Ein gefundenes Fressen für meinen unorthodoxen Individualisten. »Ja, das stimmt, diese Position vertreten manche Kollegen auch heute noch.« »Du lieber Himmel, dann haben wir dann ja alles falsch gemacht!« »Schadensersatzklage!« Da ist er wieder, dieser Humor, für den ich ihn liebe. Unter anderem. »Nun bleiben Sie mal auf dem Teppich. Das wird oft falsch vermittelt, auch in der Literatur. Natürlich durfte man immer grundlegende und wichtige Entscheidungen treffen, man durfte Sie auch in der Realität umsetzen. Man sollte allerdings keine Entscheidungen realisieren, die man nicht vorher mit dem Analytiker besprochen 254 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

hat, das ist richtig. Wir haben ja hier die wesentlichen Dinge sozusagen gemeinsam erarbeitet: Die Trennung von Timo haben wir lange besprochen, bis Sie sich überhaupt dazu entschieden haben. Ihre Jobgeschichten – alles hier ausführlich durchgesprochen, entworfen, skizziert. Die Heirat mit Rufus …, nun, die vielleicht noch am wenigsten.« »Finden Sie?« Ich bin es, die genau das findet. Projektion. Natürlich haben wir das nicht. Ich habe das Thema ausgeklammert, mit Rufus und mir allein ausgemacht. »Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass, im Vergleich etwa zu der Jobfrage, wir weniger darüber gesprochen haben.« »Ja, stimmt … Höchstens in dem Kontext, welche Gäste wir einladen möchten. Und welche nicht – und warum nicht.« Spätestens jetzt müsste ihm dämmern, dass ich auf meine Gefühle zu ihm hinaus will, die der Grund waren, warum ich ihn nun wirklich nicht einladen konnte. Um Gottes willen! »Zu heiraten ist eine Sache zwischen Rufus und mir. Die eine Realität. Und außerdem … irgendwie ist es ein Verrat.« »Was? Wem gegenüber?« »Meine Heirat empfinde ich als Verrat. Ihnen gegenüber.« Hirtberg wirkt angespannt, in seiner Stimme liegt Ungeduld, vielleicht sogar Gereiztheit. Er hat keine Lust, sich auf ein neuerliches Verbalpuzzle einzulassen. »Mit meiner Gefühlsauslagerungspolitik habe ich mich erfolgreich in die Welt bewegt. Allerdings kann ich mich nicht des Eindruckes erwehren, nun, mich offenbar eines additiven – statt eines surrogativen – Verfahrens bedient zu haben. Präziser: Ich bin davon ausgegangen, dass meine Gefühle, na, wie sage ich es jetzt … der Zuneigung … komplett verschwinden würden. Das ist nicht der Fall.« »Leiden Sie darunter?« »Hmm … In Ordnung finde ich das nicht. Hirtberg, ich träume von Ihnen.« »Haben Sie die Fantasie, wir würden wie wild herumvögeln?« »Nein. Ja. Auch.« »Sie haben Rufus gegenüber Schuldgefühle in dem Sinne, dass Sie ihn, wenn auch nur in der Fantasie, hintergehen?« »Ja. Unerfreulich, dass es sich um nicht mehr als eine Fantasie handelt, besorgniserregend, dass sie überhaupt existiert. Wenn wir zusammen sind, Rufus und ich, löst sich was auf. Die Fantasie, meine ich …« »Stellen Sie sich vor, Rufus lebte hier in Liefem mit Ihnen zusammen, Sie gingen nach der Stunde zur Arbeit und abends nach Hause: Wäre das dann auch so?« »Wie?« »Na, dass Ihre Fantasie nachlässt.« Die Frage verstehe ich nicht. Also erkläre ich ihm, dass es sich um zwei verschiedene Welten handelt, zwischen denen ich emotional hin- und herspringe. Springen muss. »Kann es sein, dass Gefühle wie Zuneigung, Dankbarkeit, Verbundenheit, Vertrauen eine Rolle spielen?« 255 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Ja, auf jeden Fall. Aber nicht nur.« »Hier schwingt ja auch schon mal Erotik mit … Das ist so, wenn zwei gegengeschlechtliche, heterosexuelle Individuen in einem so intimen Rahmen aufeinandertreffen.« Mir ist danach, entweder sofort den Raum zu verlassen oder ihn leidenschaftlich zu küssen. Feige wie ich bin, tue ich weder das eine noch versuche das andere. Könnte er Gedanken lesen, würde er jetzt fragen: Und dazwischen gibt es nichts? »Stattdessen: Je nachdem, wie weit Sie sich auf die Fantasien einlassen – und das ist auch eine Frage der Quantität –, steuern Sie das ja auch. Je stärker Sie bestimmte Dinge visualisieren, desto stärker ist das dann in der Wirklichkeit auch. Sie empfinden etwas so, wie Sie es fantasieren.« Lässt sich das auf die Frage nach Essen oder Nichtessen applizieren? Er schaut auf die Uhr. »Muss ich gehen?« »Ja, so langsam.« Gott sei Dank. Ich springe von der Couch und verfasse, gewissermaßen noch im Sprung, eine Art Gedicht als Nachtrag zur Stunde und sende es ihm mit der Bitte, mich nicht falsch zu verstehen. Er antwortet mir noch am selben Tag, bedankt sich für die »schmeichelhaften Komplimente und die Anerkennung unserer gemeinsamen Arbeit«. »Ich verstehe Sie nicht falsch«, schreibt er, »das war es, was ich Ihnen als Fragen vorlegen wollte – wenn ich auch meinen Anteil nicht ganz so sehen würde. Vielleicht ist das die Schwierigkeit: zu sehen, dass ich meinen Job mache, aber das natürlich als der, der ich bin, und mit jener stets individuellen und einzigartigen Beziehung, die sich zu jedem Patienten ergibt. Und im Alltag – das gilt für uns alle – haben wir eben kaum so exklusive Beziehungen, frei von zu leerenden Spül-, zu befüllenden Waschmaschinen, Einkaufswagen, auszufüllenden Überweisungsträgern, zu leerenden Mülleimern und all den anderen Dingen, die uns vorwurfsvoll anschauen, so dass sich ein Paar, sobald es sich gefunden hat, ebenfalls vorwurfsvoll anblickt. Positiv formuliert: Es kommt darauf an, dass sich ein Paar solche Freiräume der Fantasie und des Austausch schafft und erhält, die dem gleichen, was man in einer analytischen Therapie einzeln oder in einer Gruppentherapie gemeinsam erleben und immer auch ein wenig teilen kann.« Am nächsten Tag möchte ich nach dem Pausensalat Kekse, erlaube mir drei Zimtsterne ohne Zimt, Sommervariante, mit Nuss, will prompt mehr und male mir das ganze leckere Zeug aus, wie ich es jetzt hier essen würde. Als mir klar wird, was ich tue, visualisiere ich das Gegenteil: Die Artistin tot am Boden, und ich kann in Ruhe und mit Gelassenheit und der Freude am Normalsein meine Arbeit machen, schreiben, so lange ich will. Ich muss nicht aufs Klo. Doppelbödig, instabil, bipolar, antipodisch, Zwiespalt, Januskopf. Nervöses Oszillieren zwischen Normalität und Abnormität, zwischen Gesundheit und Krankheit. 256 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ständig am Abgrund. Geht es mir schlecht, obwohl es mir gut geht? Geht es mir gut, obwohl es mir schlecht geht? Die Artistin mischt sich ein in die fruchtlose Diskussion und schiebt sowohl die Schuldgefühle meinem Körper gegenüber als auch die wachsende Angst vor Osteoporose, Aneurismen, Niereninsuffizienz, Herzrhythmusstörungen, Speiseröhrenkrebs oder Magenruptur energisch beiseite. Sie kredenzt Schokolade, Streuselteilchen, Gummitierchen: Oh selige Taubheit, Blindheit, und reden muss ich auch nicht mehr. Ist sie da, agiert die Angst: Vor meinem geistigen Auge breche ich mit Gehirnblutungen neben dem Klo zusammen und finde mich selbst mausetot noch zu fett.

257 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Umzug, Stagnation

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irtberg ist schwer erkältet, unrasiert angetan mit einem rosafarbenen Oberhemd, Sportschuhen und einer schwarzen Jeans, die auch schon bessere Tage gesehen hat. Ich hatte ihm einen Auszug aus meinen Notizen geschickt: »Noch mehr Weib«. »Hier, unter uns«, stellt er mit heiserer Stimme fest, »und hier, in diesem Raum, ist es ein Bericht. Sobald das ein Außenstehender liest, ist das Literatur.« Eine gewagte These, wie ich finde. »Literatur kann ja auch fiktiv sein«, ergänzt er. »Den Literaturbegriff können wir hier sicher nicht definieren, aber …«, druckse ich herum, unangenehm berührt davon, dass er mein Elaborat, aus welchen Gründen auch immer, mit dem Begriff Literatur in Verbindung bringt. »Ist es aber nicht. Fiktiv, meine ich. Das, was hier steht«, ich wedele mit meinem Manuskript, »ist wahr. Alles hat sich ziemlich genau so zugetragen. Im Augenblick, im jetzigen Stadium meiner Arbeit, geht es um Authentizität. Natürlich ist viel, viel mehr gewesen, aber das steht hier nicht, weil ich es nicht mehr weiß.« Hirtberg ermutigt mich, stärkt mein diesbezügliches Selbstvertrauen. »Machen Sie arbeitstechnisch erst mal Ihren Bericht, und wenn Sie es abspalten können, haben Sie eine Veröffentlichung im Kopf.« Er kramt nach einem Tempotuch. »Indem Sie schreiben, nehmen ein Stück von mir mit … Ihre Zeit in Liefem war auch stark geprägt von dem, was wir hier tun, von Ihrer Analyse und von dem, was sie für Sie bedeutet.« Mir steigen Tränen in die Augen, was er aber nicht mitbekommt. Ich will kein Stück. »Das steht für mich noch nicht im Vordergrund«, sage ich etwas gepresst, »wir haben ja noch um die vierzig Stunden.« Wenn die vorbei sind, mache ich sowieso weiter, denke ich. Mir widerstrebt es, über die Trennung von Hirtberg nachzudenken. »Mit Ihrer Schreiberei eignen Sie sich diese Veranstaltung an, materialisieren die Inhalte, das stellten wir ja letztens schon fest. Sie verbalisieren. Heute sind Sie in der Lage, Gefühle und Eindrücke zu beschreiben. Sie verbalisieren, wozu Ihnen in der vorsprachlichen Phase die Voraussetzungen fehlten.« Er fährt sich durch die spärlichen Haare und sieht aus, als sei er gerade aus dem

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Bett gefallen. Ja, ich nehme auch ein Stück von ihm mit. Indem ich versprachliche, eigne ich ihn mir an. Internalisierung, Integration, was auch immer. Hirtberg ist kein Phantom, sondern Teil der – meiner – Realität. »Wenn ich Ihnen etwas schreibe, sei es eine Mail oder ein Gedicht, kläre ich zugleich etwas in meinem Kopf, das Gefühl jedoch ändert sich nicht.« Abwehr? Rationalisierung? Dann wieder das Thema Themenlosigkeit. »Was macht Ihnen denn solche Angst? Was ist so schlimm daran, wenn Sie der Leere gegenüber stehen?« Spontan weiß ich keine Antwort, weiche aus: »Nun, ich könnte mich ja fragen, ob dieser Zustand wirklich so dramatisch ist, dass ich ihn unbedingt abstellen will …« »Akzeptieren Sie ihn, wenn er Sie nicht stört, Sie nicht behindert. Aber ist es nicht so, dass dieser Zustand auch fantasie- und kreativitätshemmend ist? Sie fühlen sich doch unter Druck, etwas leisten zu müssen, wo es im Moment einfach nur gut ist, dass Sie da sind …« Es ist überhaupt nicht gut, dass ich da bin, verflixt noch mal, ab in die Ecke, schäm dich … »Ja, wenn Sie so wollen, bezeichnen Sie diesen Zustand als Blockade, wobei er gefühlsmäßig anderes – und mehr – ist als das. Keine Ahnung, wie ich es ausdrücken soll. Ich empfinde mich gewissermaßen als intellektuell nicht existent und logischerweise außerstande, zu verbalisieren, was geschieht, in diesem Vakuum.« »Mit diesem Zustand geraten Sie in einen vorsprachlichen Bereich. Sie nehmen atmosphärisch und emotional etwas wahr, dem Sie mit Intelligenz und Rationalität nicht beikommen – auch mit der Sprache nicht. Erinnert Sie das nicht an Ihr vorsprachliches Sein nach der Geburt?« »Nein. Offen gestanden kann ich mich überhaupt nicht an ein vorsprachliches Sein erinnern. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Dietlinde oder Gerhard ernsthaft Leistung von diesem Kind, das ich war, erwartet haben. Des Weiteren bin mir sicher, dass sie mich nicht abgelehnt haben – nur dass man mich meiner Mutter erst mal weggenommen hat.« »Diese eine Nacht wäre aber zu wenig, um Sie so nachhaltig zu …« »Ja, was? Schädigen? Nun, sie waren stolz darauf, dass ich sehr früh keine Windeln mehr brauchte und mit einem Jahr nicht nur laufen, sondern auch sprechen konnte …« »Das meine ich mit atmosphärisch. Man hat Sie gelobt, und Sie sahen das Strahlen in Dietlindes Augen. Erlaubt das nicht auch den Umkehrschluss?« »Der da wäre?« Eine Antwort warte ich gar nicht erst ab. Ich will das Thema nicht mehr. »Hirtberg, Sie bringen mich komplett durcheinander, ich kann so nicht denken. Ich erinnere mich nicht an pränatale Empfindungen und finde es müßig, hier auf die Suche zu gehen.« 259 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Wir reden von postnataler Wahrnehmung, nicht von pränataler Empfindung.« Er bewahrt die Contenance. »Mag sein. Aber das eine ist fast genau so lange her wie das andere, beides liegt weit jenseits meiner Erinnerungen. Diese Parallele zwischen frühkindlicher, vorsprachlicher Leere und diesem Zustand – ja! der Sprachlosigkeit – kann ich auf der Empfindungsebene wahrnehmen. Ich kann ihn aber nicht beschreiben, verstehen Sie das doch endlich!« Mir wird mal wieder alles zu viel. Ich steige aus. »Steige ich aus, Hirtberg?« »Im Gegensatz zu unseren anfänglichen Stunden praktizieren Sie jetzt vermehrt Selbstregulation. Sie steigen nicht mehr einfach komplett aus und wehren alles ab. Sie bleiben bei sich und entscheiden, wann es genug ist.« Immerhin. Indirekt steige ich doch aus. »Da ist jetzt, in diesen letzten Wochen in meiner eigenen, geliebten Wohnung eine überwältigende Traurigkeit. Wie Sie richtig feststellten: Es geht ein Lebensabschnitt zu Ende, in dem nicht zuletzt Timo eine maßgebliche Rolle spielte. Das macht mich, bei aller Freude über das Leben mit Rufus, auch traurig.« »Ambivalenz. Die müssen Sie einfach akzeptieren. Es bricht etwas weg«, konstatiert er so trocken, wie ich es angesichts des Verlustes, den ich aushalten muss, fast unangemessen finde. »Die Traurigkeit ist in Ordnung, Sie müssen da weder etwas ändern noch verdrängen.« »Mit Rufus ist das Leben im Hier und Jetzt angekommen. Meine Gefühle für ihn sind real, haben mit Timo nichts zu tun. So lange ich denken kann, habe ich mir geschworen, niemals zu einem Mann zu ziehen, ich meine, in dessen Haus, das mit mir nichts zu tun hat. Und ich nicht mit ihm. Mit dem Haus, meine ich. Jetzt frage ich mich: Bist du eigentlich wahnsinnig geworden, spinnst du, willst du dich selbst aufgeben? Einer der Zensoren wirft mir Leichtsinn und Inkonsequenz vor, weil ich meine Meinung geändert, meinen Schwur gebrochen habe.« »Weil Sie völlig autonom entscheiden – das ist es, was ihn irritiert. Sie sind nicht mehr die, die Sie zu dem Zeitpunkt waren, als Sie den Schwur taten, niemals zu einem Mann zu ziehen. Sie haben sich verändert.« »Keine Ahnung, wie das ausgeht, mit Rufus.« »Was?« »Das Zusammenleben. In gewisser Weise mache ich mich sogar wirtschaftlich abhängig: Mit der Arbeitszeitreduktion habe ich zu wenig Geld, um mir eine eigene Wohnung leisten zu können. Das heißt, mir bleibt gar nichts anderes übrig, was nichts daran ändert, dass ich dieses Zusammenleben – aus meiner aktuellen Perspektive uneingeschränkt – will. Ich habe Vertrauen in Rufus, in die Entwicklung meiner und in die unserer gemeinsamen Projekte.« »Das ist das Entscheidende: Sie haben Vertrauen aufgebaut, den Boden bereitet. 260 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Dieser Boden trägt! Sie haben das Gefühl, willkommen zu sein, und auf dieser stabilen Basis konnten Sie Ihre Meinung ändern.« Ich finde mich zu gleichen Teilen einfältig, blauäugig und mutig. »Wir, Rufus und ich, zweifeln erheblich an der Richtigkeit dessen, was wir tun.« »Sie beide sind skeptisch.« »Ja. Das nicht erst seit gestern, sondern grundsätzlich. Natürlich überwiegt der Wunsch, mit dem anderen zusammen zu sein. Aber der Preis ist vergleichsweise hoch: Wir geben beide etwas zu Gunsten einer offenen Situation auf, von der wir nicht wissen, wie sie sich gestaltet.« »Immerhin wissen Sie, dass es so, wie es ist, auf Dauer auch nicht geht. Das einmal erkannt, haben Sie theoretisch Konsequenzen erarbeitet und sind nun auf dem Weg einer praktischen Umsetzung.« »Ja.« Meine Wohnung ist noch nicht weitervermietet. Noch kann ich den Reset-Button klicken. Das ändert aber nichts an der Entscheidung: Wir werden es probieren. In allerhöchstem Maße ambivalent: Ich freue mich auf ein Leben mit Rufus, ich freue mich, mit ihm ein Nest zu gestalten, auch wenn es sich für ihn nur um die Umgestaltung eines bereits vorhandenen Nestes handelt. Die Aktivierung der Reset-Funktion käme einer Bankrotterklärung gleich. Natürlich bin ich auch traurig: Wenn schon sonst wenig in Liefem, meine Wohnung habe ich geliebt, sie absolut reduziert und trotzdem gemütlich eingerichtet, komplett meinen Bedürfnissen angepasst. Kompromisse waren ja nicht nötig. Seit Monaten befinde ich mich in einem die Seele strapazierenden Zwischenzustand: Noch lebe ich hier, aber es lohnt sich nicht mehr, die Sommerblumen, längst verblüht und welk, durch eine Herbstbepflanzung zu ersetzen. Es empfiehlt sich, alle Vorräte aufzubrauchen, um möglichst wenig packen zu müssen. Das Betrachten eines x-beliebigen Gegenstandes geschieht unter dem Gesichtspunkt seiner Transportabilität, ja seines Wertes, aufgehoben zu werden. Ein enormer seelischer Spagat. Ende Oktober, die Kisten sind gepackt. Auf eine hat Rufus den Ausdruck einer seiner Mails an mich geklebt: »Wir gehen beide einen Schritt in eine gemeinsame Welt, die nicht noch existiert, sondern erschaffen werden will. Wir modellieren eine Beziehungsskulptur, Verknüpfungen und Verschmelzungen, Antipathie und Abgrenzung, ein gewaltiges, soziales Experiment an dessen Ende chaotisches Glück, glückliches Chaos, selige Ordnung oder ordentliche Seeligkeit wartet. Wir arbeiten an uns, beobachten, verändern uns, ein Mensch braucht den anderen zu seinem Glück …« Ab Allerheiligen habe ich wieder ein eindeutiges Zuhause. Klarheit. Wie wir unser Zusammenleben in diesem Zuhause gestalten, liegt an uns. Es ist eine Herausforderung, der ich mit größtem Respekt begegne, so, wie ich Rufus mit größtem Respekt begegne. Zuversicht, dass wir es mit Toleranz, Intelligenz und gegenseitigem 261 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wohlwollen schaffen werden, das gemeinsame Leben zu lieben, zu pflegen und seine Eigendynamik, die es entwickeln wird, zu akzeptieren. Ähnlich wie sich die Analyse in meinen Notizen materialisiert, erfährt unsere Heirat, die in Geist und Seele und schließlich auch auf dem Papier stattfand, ihre Verstofflichung im Zusammenleben. Wir eignen uns ein Versprechen auf einer sehr realen, konkret objekthaften Ebene an. Das ist und bleibt mutig. Ich finde uns mutig. Angekommen auf der anderen Seite. Bei jeder Kiste, die ich auspacke, denke ich an meine Wohnung, die bis ins allerletzte Detail so ausgeklügelt war, wie ich sie brauchte. Ohne Rücksicht auf irgendjemanden. Ohne Vorhänge, ohne Kloßpresse, Gänsebräter, Fliegenklatsche, Badvorleger, Wäschetrockner oder diese Papierkörbe, in jedem Zimmer, inklusive Bad. Mir reichte ein Abfallbehälter. Ausblenden: eine Million von Dingen, die ich für mehr als verzichtbar halte. Mir ist das alles zu viel. Ausstieg. Einstieg. In eine Welt voller Wärme, Zärtlichkeit, Kreativität und Fantasie. Hände, die mich streicheln, Blicke, die mich wahrnehmen, und die große Herausforderung, endlich wirklich zu lieben, zu begegnen, sich zu distanzieren und wieder anzunähern. Die sich regelmäßig wiederholende Themenlosigkeit erschöpft mich. Hinzu kommt, »und das ist das Entscheidende, Hirtberg, ich habe an den zwei Tagen, die ich jetzt in der Organisation bin, extrem viel zu tun. Zu achtzig Prozent mit meinen persönlichen Interessen«, zwinkere ich zwischenzeilig. »Und deshalb möchte ich nur noch einmal in der Woche kommen. Bitte fassen Sie das jetzt nicht als Affront auf …« Natürlich tut er das nicht. Warum rede ich immer einen solchen Blödsinn? Hirtberg hakt nach. »Sie glauben ernsthaft, dass ich verstimmt bin, weil Sie nur noch einmal die Woche kommen möchten?« »Ich weiß nicht.« »Sie zweifeln.« »Ja. Aber was anderes: Vilma steckt angesichts ihrer zweihundertsiebenundachtzigsten Stunde ihrer Analyse in einer tiefen Krise, weint bitterlich in ihren Mails und wundert sich, dass ich, noch im September das nahende Ende unserer Analyse betrauernd, jetzt beteure, meinen Alltag auch allein bewältigen zu können.« »Das sind ja auch zwei verschieden Dinge: Allein zurechtzukommen, ist das eine. Die Traurigkeit angesichts der bevorstehenden Trennung ist das andere. Sehen Sie, es geht ja auch eine Ära zu Ende. Wenn wir, in welcher Form auch immer, weitermachen, wird das anders aussehen. Eine Analyse ist nun mal irgendwann zu Ende, ob mit Erreichung eines Zieles oder ohne. Das ist ja auch gut und richtig so.« Noch mal der nasse Lappen. Ich finde das weder gut noch richtig, aber es gibt keine Alternative zur radikalen 262 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Akzeptanz. Ich kenne den Begriff, nicht den Zustand. In der Klinik legte man sie uns hinsichtlich eines bestimmten Gewichtes nahe. »Sie übernehmen künftig«, fährt Hirtberg fort, »wenn Sie nur noch einmal in der Woche kommen, mehr Verantwortung. Sie haben weniger Rückversicherung durch den Analytiker. Natürlich kann man eine Analyse ewig weiterlaufen lassen …« Ja, bitte ewig weiterlaufen lassen! Ungebrochen: der Wunsch, Hirtberg regelmäßig zu sehen. Radikale Akzeptanz auch im Umgang mit den umzugsbedingten Problemen der Ummeldung von Telekom und Internet und diesem ganzen Kommunikationsmist, auf den ja nun kein moderner Mensch, will er denn an gesellschaftlichen Vorgängen teilhaben, verzichten kann? Meine Unfähigkeit, die Funktionsweisen der medialen Voraussetzungen eben dieser Kommunikation aus einer anderen als der Anwenderperspektive heraus zu verstehen, macht mich ungeduldig, versetzt mich schier in Rage. Und zwar in eine solche, wie ich sie kaum aus anderen Bereichen kenne. Absolut unfähig, diesbezüglichen Problemen emotionslos und stringent zu begegnen breche ich, überwältigt von erschlagenden Ohnmachtsgefühlen, in Panik und Zorn bis hin zu offener Aggression aus, die soweit geht, dass meine Impulskontrolle bis an die Schmerzgrenze gefordert ist, um nicht etwas zu zertrümmern: die Tastatur zum Beispiel, das Telefon oder gar den Monitor – in der Vergangenheit hat es das alles schon gegeben. Meine Angst, zu verarmen, generell mein Umgang mit wirtschaftlichen Fragen, fällt in die gleiche Kategorie. »Emotionalität, wo sie unangebracht ist.« Rufus bringt das trefflich auf den Punkt! Der Umgang mit Call-, Service-, Kunden- oder sonstigen entpersonalisierten Centern, rund um die Uhr erreichbar unter zehnstelligen Nummern, Minimum, zermürbt, ja überfordert mich in dieser Situation, in der beinahe alles ungeklärt ist. Sollte nicht die virtuelle Infrastruktur bei der Bewältigung aller möglichen Fragen – von der Ummeldung beim Einwohnermeldeamt bis hin zum Finden eines geeigneten Schwimmbades und dessen Öffnungszeiten – hilfreich sein? Im Umbruch begriffen, ist sie, meine Infrastruktur, nun zum Problem, vom Beschleuniger zum Verlangsamer von Prozessen, geworden. »Warum nimmt das Thema einen so gewaltigen Raum ein? Warum hast du diese Neigung zur unangemessenen Emotionalisierung?«, fragt Rufus, der meine an Hysterie grenzende Hilflosigkeit und Wut unmittelbar mitkriegt. »Du weißt ganz genau, dass ich mit Kontrollverlusten aller Art nicht klarkomme, und das hier ist einer! Ohnmacht, Abhängigkeit von irgendwelchen Mächten, die ich nicht einmal benennen kann: Ständig hat man einen anderen Hotliner an der Strippe, wenn überhaupt … Ich kann nicht mehr.« »Bitte«, sagt Rufus später, als wir stocksteif – ich mit Brille und Buch – nebeneinander liegen, »lass die Telekom hier aus unserem Bett. Werde bitte einfach an dieser Stelle erwachsen und akzeptiere schlichtweg, dass es so ist und nicht anders 263 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und dass alle, die damit zu tun haben, sich darüber ärgern. Aber nicht alle regen sich unangemessen auf, zumal das ja auch nichts bringt.« Radikale Akzeptanz, auch hier. Alltagsbewältigungsfragen. Die haben in der Analyse nichts zu suchen. Rufus und ich klären das, und ich bin stolz darauf. Morgens um halb sechs unterwegs. Der Schnee bleibt auf der vereisten Fahrbahn liegen, glitzert auf dem Asphalt und auf den Hügeln zur Rechten und zur Linken. Lange habe ich die Welt nicht so weiß gesehen. Stau. Ob der Glätte ist jedes Bremsen ein riskantes Manöver, und ich bemühe mich, so langsam zu fahren, dass sich jedwedes Bremsen quasi erübrigt. Die Fahrt kostet mich dreieinhalb Stunden, die ich ohne den Termin bei Hirtberg nicht zu opfern bereit wäre: Schon beim der Anblick der endlosen Schlange roter Lichter, die sich durch die Landschaft schiebt, wäre ich umgekehrt. Hirtberg trägt trotz der winterlichen Verhältnisse Turnschuhe. Dazu einen hellen, naturfarbenen Pullover und einen anthrazitfarbenen Schal, der so ziemlich alles rettet, was ästhetisch eigentlich nicht zu retten ist. Die Stunde steht wie ein Eisklotz herum. Mir ist kalt in diesem nebligen Plaudern über dies und das. Verärgert klammere ich mich an das bereits ausdiskutierte Sujet des magischen Denkens, berühre mit klammen Fingern den Bergkristall in der Hosentasche, der mich an mein Vorhaben, mich normal zu ernähren, erinnern soll. Stopp, mit Filzstift auf die Hand geschrieben, schimmert blass. Das war gestern. Geholfen hat es wenig. Ein Termin pro Woche ist zu wenig. Keine Kontinuität. Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel. Nach fünf Wochen bitte ich Rufus, mir die Umzugskiste Nummer zwölf aus dem Keller zu kramen. Ganz unten, gewissenhaft notiert, befindet sich meine Waage, allerdings ohne Batterie. Mit der Waage unterm Arm auf zum Baumarkt. Samstagvormittag, ein denkbar ungeeigneter Zeitpunkt, zudem Nikolaustag. Bunte Teller müssen her, Nüsse und dieses ganze Zeug, von dem man nur dick wird. Schon jetzt, am zweiten Adventswochenende, werden Weihnachtsbäume gekauft, Weihnachtsbaumständer, Lichterketten, bunte Kugeln, der neueste Baumschmuck, Kerzen. Die Mitarbeiter des Baumarktes sind überfordert, Ungeduld liegt in der Luft. Am nächsten Morgen schnappe ich mir ein zehn Kilo schweres – wie ich später errechne – Mosaik und steige damit auf die mit neuer Batterie ausgestattete Waage. Mit Mosaik: deutlich über siebzig Kilo. Allein die Zahl auf der digitalen Anzeige verursacht Schweißausbrüche. Nun ohne: neunundfünfzigkommazwei, genau so viel wie vor fünf Wochen nach einer Reihe schlechter Tage. In wenigen Tagen ist Weihnachten. Menschenmassen schieben sich durch die Einkaufszentren, weshalb ich es vermeide, Innenstädte zu besuchen. Zu jeder Jahreszeit. 264 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Selbst hier, rund einen Kilometer vom Stadtkern entfernt, ist jeder Parkplatz besetzt. Die Straße, in der Anna wohnt, ist gesperrt. Ich verfahre mich, spüre Wut in mir aufsteigen, zum Glück bin ich allein und niemand hindert mich, herumzubrüllen, niemand bezichtigt mich unerwachsenen Benehmens. Ich will hier nicht sein! Regression, denke ich. Ich will nach Hause. Das erste Mal meine ich Folzheim. Seit Tagen, vielleicht sogar seit Wochen, schwebt die Übernachtung bei Anna wie ein Damoklesschwert über mir. Übernachtungen außerhalb meiner eigenen vier Wände ertrage ich nur im Hotel oder in einer von mir gemieteten und damit bezahlten Ferienwohnung. Annas Einladung anzunehmen, ist ein in höchstem Maße ambivalentes Unterfangen. Ich will die Freundschaft. Anna ist eine komplexe, interessante, hochintelligente Person, eine ausgezeichnete Beobachterin mit schrägem Humor. Zugleich habe ich keine Ahnung, was sie eigentlich von mir will, welchen Narren sie an mir gefressen hat. Zweifel, dass sie mich wirklich mag. Ich will weder bei ihr noch sonst jemandem übernachten, weil ich mich als Belästigung, als Zumutung empfinde. Jetzt immerhin bewusst. Vor Wut über das Wetter, das zu ändern jenseits meine Macht steht, über die bescheuerten Autofahrer, die alle ausgerechnet jetzt hier herumgurken müssen und die ich auch nicht einfach erschießen kann, und über die Tatsache, dass ich jetzt hier bleiben muss, schlage ich aufs Lenkrad, so fest, dass die Handinnenseite brennt. Fahr doch, du Idiot, ich will hier abbiegen. Endlose Autokolonnen verhindern eine zügige Fahrt, es ist schon sieben, jetzt komme ich zu allem Überfluss, der ich sowieso schon bin, auch noch zu spät. Die Dunkelheit liegt lastend auf den Straßen, in den Pfützen spiegeln sich die Lichter der Autos, alles das zusammen ein gigantisches, optisches Verwirrspiel, die Stadt ein Irrgarten, ich eine Blinde. Jede potenzielle Parklücke, die ich erahne, ist zu klein, der Passat ist unübersichtlich, braucht schon ein paar Meter. Plötzlich erkenne ich, wo ich bin: Es ist nicht weit von Annas Haus. Unmittelbar vor der Polizeistation entdecke ich eine Lücke, in die ich so aber nicht reinkomme. Weiter bis zum Ende der Straße – es handelt sich um eine Sackgasse, die immerhin mit einem Wendehammer ausgestattet ist. Ich wende die monströse Kiste und erreiche die Parklücke, bevor mir jemand zuvorkommt. Bis zu Annas Haus sind es vielleicht fünfhundert Meter, in diesem vermaledeiten Nieselregen immer noch zu viel, aber egal, das Auto bleibt hier, ich räume meinen Kram – Schwimmtasche, Körbchen mit Wäsche, einigen Tomaten, Äpfeln und Brötchen zur Sicherheit – aus dem Kofferraum und verlebe einen wunderbaren Abend mit Anna. Sie hat eine Kleinigkeit vorbereitet, Tomate, Gurke, Thunfisch und Radieschen, dazu frisches Roggenbrot, etwas Schafskäse. Mein Sicherheitskorb bleibt unangetastet. Anna bereitet umständlich schwarzen Tee zu, aus Ägypten, wie sie betont, versäumt 265 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

allerdings, ihn auf einem Stövchen heiß zu halten. Ich mag ihn nur ganz heiß, sage aber nichts. Auf keinen Fall jetzt auch noch Umstände machen! Sie trinkt selbst Weißwein. Mich erstaunt, dass sie am Ende eine halbe Flasche oder etwas mehr getrunken hat. »Ich schlafe davon so schön«, sagt sie, ohne dass ich danach gefragt hätte. Warum entschuldigen sich immer alle Leute für ihren Alkoholkonsum, egal in welcher Größenordnung er sich bewegt? Wir sitzen im Wintergarten, rauchen und reden uns warm, plaudern über das, was aktuell anliegt. Annas Haushalt ist einer der wenigen Haushalte, in denen geraucht werden darf. Anna raucht wenig. Kurz vor acht, ein regnerischer Morgen, etwas Schnee ist zwischen den Tropfen, lausig kalt. Das Navi haben sie mitgenommen und ein paar Münzen, die in der Ablage der Mittelkonsole für den Gebrauch von Tankstellenstaubsaugern – ich liebe Streuselbrötchen im Rausch der Geschwindigkeit – und andere Notfälle bereitliegen. Das Navi war ein Geschenk von Rufus. Mir steigen Tränen der Wut, des Hasses und der Traurigkeit in die Augen. Mir fällt die Brieftasche ein, die mir in Moskau gestohlen wurde. Die Scherben auf dem Beifahrersitz künden von der Rohheit unserer gestressten Weihnachtsgesellschaft, von grenzenloser Respektlosigkeit vor fremdem Eigentum und von der Not des Süchtigen, des Arbeitslosen, des moralisch Gescheiterten, wobei mir letzteres vollkommen schnuppe ist. In solchen Momenten bin ich einfach nicht an der seelischen Disposition von Verbrechern interessiert. Hirtberg und ich sehen uns zum letzten Mal vor Weihnachten. Keine Lust, kein Thema, keine Verbindung. Abgerissen. Hirtberg stellt im Verlaufe unserer Plauderei, anders kann ich es wirklich nicht nennen, fest, dass es ja auch in anderen Beziehungen einer Aufwärmphase bedarf. »Ach was, so ein Unfug, wir bedürfen keiner Aufwärmphase, Hirtberg, darum geht es doch gar nicht.« Das weiß er so gut wie ich, aber wir haben beide keine Lust, das zu vertiefen. Das verdammte Setting setzt mich unter Druck. Würden wir im Café sitzen: Wie locker könnte ich mit ihm plaudern! Ich kann plaudern. Aber nicht hier. Mein Leistungsdenken verhindert das. In der Weihnachtspause vermisse ich ihn nicht. Die Gewissheit, dass es erst noch mal so weitergeht, verhindert das. Was danach ist, werden wir dann sehen. Sehen Sie, das nennt man Aufschub. Sie haben die Zuversicht, dass es weitergeht, dass Sie Ihren roten Faden wiederfinden, würde er jetzt sagen, aber ich bin schon wieder auf der Autobahn.

266 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Mehr und mehr auf mich allein gestellt

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ufus und ich erleben die zwölf Heiligen Nächte weit weniger träumend als im Jahr zuvor, als noch vollkommen unklar war, wie es weitergeht. Noch ist dieses Haus nicht mein Zuhause, der Alltag noch kein Alltag, aber das, was ist, ist einfacher geworden; wie leicht, nicht ständig im Abschied zu leben! Diese neue Leichtigkeit führt allerdings offenbar dazu, dass meine Jeans nicht mehr passen. Am Sonntag nach Neujahr passt meine weiteste, die passte bis jetzt nicht. Nach einem Frühstück: ein Apfel, ein halber Joghurt, zwei Gläser Mineralwasser, Zitronensaft und Weizenkleie zu einer voluminösen Suppe vermischt, fühle ich mich voll und dick und – hungrig. Es ist eiskalt, seit Wochen. Jetzt fängt es auch noch an zu schneien, in mikroskopisch kleinen Flocken. Ständig trage ich wollene Overknees, was nicht gerade zu einem guten Körpergefühl beiträgt. Welten prallen aufeinander: das Wissen um die unter ernährungswissenschaftlichen Gesichtspunkten defizitäre Kalorienbilanz und das Gefühl, zuzunehmen. Von rund tausendzweihundert Kalorien am Tag nimmt kein Mensch zu. Auch ich nicht. Stichwort aushalten. Panik: Was, wenn es nie gelingt, abzunehmen? Stunden später sitze ich kopflos an meinem Rechner, habe schon wieder Stollen gegessen und alles Mögliche sonst. Wieder sind zwei Tage fällig, an denen die TausendzweihundertMarke deutlich unterschritten werden muss. Immerhin das schaffe ich jetzt. Die Artistin hat sich umgezogen. Mein Büro ist über die Weihnachtszeit komplett ausgekühlt, und weil es so groß ist, wird es nur langsam warm. Das leise Knacken der Heizung ist, abgesehen von dem der Lüftung des Rechners, das einzige Geräusch. Ich befülle den kleinen Springbrunnen, den Rufus mir zur Verlebendigung der Atmosphäre geschenkt hat, mit Wasser und einem Schuss Anti-Algenmittel, schalte die Pumpe ein, entzünde zwei Bienenwachskerzen, stelle eine davon direkt neben den Monitor, die andere vors Fenster. Man sieht nicht, dass es draußen hell wird. Die nächsten zwei Stunden befasse ich mich mit der Erstellung eines Zeitplans. Erstelle eine Tabelle. Eine Übersicht. Verschaffe mir Sicherheit. Es ist so still. Entschlackungstee, eine Tasse nach der anderen. Niemand kommt auf die Idee, an meine Tür zu klopfen, hereinzuschauen. Quandt

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ist in Aktienkursen abgesoffen und die Schlack benimmt sich kompliziert wie eh und je, was sich in dem Augenblick bestätigt, als ich sie mit der simplen Bitte konfrontiere, mir ein paar Bilder einzuscannen. Einer solche Bitte kann man nachkommen oder sie ablehnen. Schlack kann das nicht. Stattdessen strengt sie, mit mühsam unterdrückter Hysterie in der Stimme, eine Diskussion darüber an, ob diese Bilder überhaupt eingescannt werden müssen. Ich möchte nicht mit ihr diskutieren. Ich möchte auch nicht zur Analyse, sondern meine Arbeit machen. Bei Hirtberg wird mir auch nicht warm. Der Austausch von guten Wünschen zum neuen Jahr vollzieht sich in Bruchteilen von Sekunden. Etwas unterkühlt. Das geht von mir aus. Oder vom Wetter. »Es gibt nichts«, falle ich mit der Tür ins Haus, »jedenfalls nichts, was nicht mit unserer neuen Frequenz zu tun hat.« »Wie meinen Sie das?« »Mir fehlt die Kontinuität. Jedes Mal fangen wir bei Adam und Eva an, und irgendwie habe ich dieses blöde Gefühl, es lohnt sich hier alles nicht mehr, weil unsere Sache sich dem Ende entgegenneigt.« Völlig unmotiviert, empfinde meine Konsultation als Verschwendung, nicht nur meiner, sondern auch seiner Zeit. Hirtberg wirkt gedämpft interessiert. Zweifellos erschöpft von meinen hinlänglich bekannten Themen – die erneut aufzuwärmen ich ja noch gar nicht begonnen habe. Nein, das ist jetzt keine Übertragung! Mich drängt es, über mein Gewicht zu lamentieren. »Es ist anders als früher. Sie müssen lernen, damit umzugehen, dass Sie nicht mehr einfach an die vorhergehende Stunde anknüpfen können«, sagt er matt. Sachlich richtig. »Ja, gut, es ist anders. Eben nicht gut. Unsere Dialoge sind ineffizient, es kommt nichts dabei heraus.« Mein gesamtes Verhalten ist nicht dazu angetan, Neues entstehen zu lassen. Wie soll ihm etwas Vernünftiges oder Hilfreiches einfallen, wenn jede Vorlage fehlt? Ich versuche es mit der Skizzierung eines Gespräches mit Rufus, in dem es um das Elend – und ich leide wirklich darunter – ging, dass mir in der Therapie eben nichts mehr einfiele. »Natürlich, Hirtberg, ist mir klar, dass ich alles andere als fertig bin … Im Augenblick fühle ich mich so dick, dass nicht im Ansatz die Rede davon sein kann, überhaupt jemals fertig zu werden.« Er atmet tief durch. Sag ich doch: Er langweilt sich. »Ein altbekanntes Muster: konkretistische Projektion auf den Körper.« Ich fühle mich diffus bedürftig und kriege es nicht hin, konstruktive Ansätze zu formulieren, nicht mal im Kopf, von einer Versprachlichung ganz zu schweigen. Was versprachlichen, wenn nichts da ist? Wie verbalisiert man intellektuelle und emotionale Nullnummern? 268 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Jedenfalls«, fasse ich genervt von mir selbst zusammen, »schlägt Rufus vor, meine negative Weltsicht, wie er sich ausdrückt, zur Sprache zu bringen. Zu gucken, warum ich den Winter so ablehne und das, was er eben mit sich bringt, die Organisation und vor allem mich selbst.« »Hmm.« Mehr sagt er nicht. Und ich? Spiele mit meinem Armband herum. Übersprungshandlung. Was mache ich eigentlich hier? Es ist doch ganz einfach: Die Kälte finde ich grauenhaft, und ich finde es grauenhaft, mich mehrschichtig anziehen zu müssen. Ich hasse diese ewige Dunkelheit und geschlossene Fenster. Kurz: Der Winter ist nicht meine Jahreszeit. Das gehört doch nicht in eine Analyse! Was die Organisation betrifft, sind es nicht die Inhalte, sondern die personelle Konstellation, die ich ablehne. Ich schäme mich ob der konzentrierten Banalität meiner Gedanken, weshalb ich sie auch für mich behalte. »Berufliche Perspektiven? Es wird sowieso alles nichts. Mir fehlt jede Spur jener Weltsicht, die Rufus erlaubt, sich zuversichtlich an alles heranzuwagen und sein Leben als sinnvoll zu erleben.« »Sie haben kein Vertrauen. Ein bisschen mehr von seiner Lebenseinstellung wäre aber auch nicht schlecht. Einfach mal eher zu sehen, dass das Glas halb voll ist. Nicht halb leer. Sie kommen immer wieder an Ihr Misstrauen, Ihre Zweifel. Sie sind unzufrieden: mit dem Wetter, mit der Organisation, mit Ihrer wirtschaftlichen Situation …« Hirtbergs Replik verhält sich hinsichtlich ihres Tiefganges eins zu eins zu meiner desaströsen Vorlage. »Ja«, sage ich ausdruckslos. »Das haben wir alles schon beredet.« Mein Essverhalten ebenso wie mein Körpergefühl – weshalb ich die Analyse überhaupt begonnen habe – ist schlechter denn je. Ein Tag Kekse, Kuchen, Brötchen und Schokolade, zwei Tage Joghurt und Kopfsalat mit Salz. Der Hund trottet neben mir her, Eisklümpchen zwischen den Zehen. Der Schnee liegt seit einer Woche herum und ist inzwischen grau, nur hier im Wald strahlt er noch. Es sieht wunderschön aus, die Sonne scheint. Trotzdem wünsche ich mir mildere Temperaturen, meinetwegen Schmuddelwetter. Dann hat man auch weniger Probleme mit der Sicht. Im Auto, zum Beispiel, auf der Fahrt vom Büro zu Hirtberg. Die Sonne blendet, wenn ich nach draußen gucke. Und wenn ich auf die Tastatur meines neuen Black Berry gucke, kann ich ohne Brille die Buchstaben allenfalls erahnen. Eine längere Rotphase wäre genehm, um den Lippenstift nachzuziehen. Oder um rasch einen Gedanken zu notieren, doch die Ampel springt in null Komma nichts auf Grün. Trotzdem gelingt es mir, meine aktuelle Befindlichkeit wahrzunehmen – in der Klinik hieß das Blitzlicht – und mir drei Punkte aufzuschreiben, die mir der Rede wert erscheinen. Ein Trugschluss, wie sich herausstellen wird. So gewappnet werfe ich mich vergleichsweise guter Dinge auf die Couch. 269 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Hören Sie, Hirtberg, das geht ja nun wirklich nicht so weiter. Jedes Mal komme ich hierher und weiß nichts.« »Zumal Sie ja gleichzeitig sagen, dass die Zeit nicht reichen wird …« »Nein, sie wird nie reichen. Niemand ist jemals fertig mit einer Therapie, und ich habe noch immer mehr als genug Probleme. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass ich mir so manche Frage inzwischen selbst beantworten kann, wie etwa die, was Sie dazu sagen würden: Ich bin zu fett, will unbedingt abnehmen. Aber ich habe Zweifel, hören Sie? Zweifel, ob mein Körper überhaupt noch abnimmt. Vielleicht ist mein Metabolismus völlig im Eimer. Nun, ich habe Zweifel. Wie können Sie denen begegnen?, würden Sie fragen, und ich würde, nach langem Nachdenken, antworten: einfach ausprobieren. Und dann aushalten«, sage ich. Und er: »Oder ein neues Körperschema entwickeln. Sie können sich auch mit Ihrem Gewicht abfinden. Arrangieren.« Nein. So geht das nicht weiter. Nächster Punkt: »Für die Organisation der Ausstellung will ich ein Honorar. Wie soll ich Jurij das beibringen?« »Fragen Sie ihn doch einfach, wie viel man da so nimmt. Dann weiß er schon mal, dass Sie nicht länger alles umsonst machen. Sie müssen Prioritäten setzen und Ihre Honorarforderungen in die Höhe schrauben.« Die Schlichtheit überzeugt mich. Frage beantwortet, Thema erledigt. Nächster Punkt. Mein Gott, ist das alles weit entfernt von der freien Assoziation! »Mir fehlt die Zeit für das Wichtigste: meine Notizen. Sie gammeln vor sich hin. So wird das nichts.« Wir treten auf der Stelle. Natürlich darf ich ihm auch Unredigiertes schicken. Ich will mich rechtfertigen, ihm beweisen, dass ich die Sache durchziehe, dass ich zuverlässig bin und Durchhaltevermögen habe. Warum eigentlich? Die Schlüsselübergabe wird zum Horrortrip. Während ich mit der Vermieterin und meinem Nachmieter, von dem ich mir gar nicht vorstellen mag, dass nun er im Sommergewitter auf meinem Balkon sitzen wird, über das Schicksal von Waschmaschine und Kühlschrank verhandele, betrachte ich zum letzten Mal mein bei Sonnenschein lichtdurchflutetes Schlafzimmer mit dem Parkett, das kühl und warm zugleich den Füßen schmeichelte, mein Wohnzimmer mit einem Fernsehgerät, das ich zu bedienen wusste, das ich einschaltete, wenn ich von meiner geregelten und gar nicht schlecht bezahlten Arbeit kam, um die »Aktuelle Stunde« und meine Sendungen zu sehen, wann und so lange ich wollte, frisches Obst und die »Psychologie Heute« auf dem minimalistischen Glastisch, die Fensterfront, die keine Vorhänge kannte und deren Rollläden allenfalls bei über dreißig Grad zum Einsatz kamen, alles war offen, sämtliche Zwischentüren hatte ich schon beim Einzug ausgehängt, selbst der Anblick des nunmehr verwaisten Kellers, in dem ich bunte Bilder malend den Glauben an die 270 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Existenz des Unbewussten entdeckte: Das alles versucht, mir Tränen in die Augen zu treiben. Abschied. Zweifel. Was, wenn ich zurück will in mein Leben? Oder finde ich mein Leben gemeinsam mit Rufus? Mir kommt der verwegene Gedanke, Hirtberg um die Ohren zu hauen, wie sehr mich die Analyse nervt. Ihn um Aufschub der verbleibenden vierundzwanzig Stunden zu bitten. Oder mir eine Blockveranstaltung, bestehend aus den restlichen Stunden, anzubieten: vierundzwanzig Hirtberg-Stunden am Stück. Nicht schlecht. Ich bin müde, ständig Gedanken, Ideen, Visionen, Erinnerungen aus mir selbst heraus zu produzieren, ständig in der Pflicht zu stehen, mir etwas einfallen zu lassen. Ich weiß: Ich nehme mich in die Pflicht. Sonst keiner. Jeden einzelnen Termin empfinde ich als unliebsame Unterbrechung meiner aktuellen Tätigkeit, und dieses Missbehagen verschwindet auch während der Stunde nicht. Versagerin! Undiszipliniertes Miststück, du entziehst dich deiner Verantwortung, was heißt schon müde? Es ist deine Stunde! Alternative: hingehen. Hirtberg freundlich anlächeln: Nun gut, lassen Sie uns ein bisschen plaudern! Vielleicht nähme das den Druck und es entstünde wieder etwas, von dem Sie sagen könnten, dass es Sie weitergebracht hat, würde er sagen. Wie man es auch dreht und wendet – es gibt nur diese Möglichkeiten: Aussetzen oder Akzeptanz. Jou! Demnächst werfe ich mich mit Schmackes auf die Couch und rufe gut gelaunt: Hirtberg, das ist jetzt erst mal so! Statt mich selbst der Fantasielosigkeit und Undankbarkeit zu bezichtigen, möchte ich mit Ihnen plaudern. Einfach so. Völlig unanalytisch. Er wird begeistert sein! Ist er aber nicht, weil ich mich nicht mit Schmackes auf die Couch werfe, sondern mit fantasiertem Übergewicht in die Polster sinke. »Die guten Tage in Serie sind noch lange keine Selbstverständlichkeit, vielleicht werden Sie es nie …« Er geht darauf ein: »Immerhin, sie lassen sich wiederholen, nicht nur die Tage, die Serien, wenn ich Sie richtig verstanden habe? Was kennzeichnet denn die guten Tage, was unterscheidet sie von anderen?« »Die Zeit hört auf zu rasen, Farben werden satter, Konturen klarer, Regen duftet. Der Preis: Stimmungsschwankungen, und zwar abhängig vom Körpergefühl, das seinerseits schwankt.« »Wozwischen schwankt denn Ihr Körpergefühl? Können Sie die Pole beschreiben?« »Nun, solange ich nichts zu mir genommen habe, fühlt sich mein Bauch einigermaßen flach an. Nach dem, was ich als Mittagessen bezeichne, ändert sich das 271 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

schlagartig. Mit etwas Glück bringt sich neu einstellender Hunger oder das, was ich für Hunger halte, eine vorübergehende Verbesserung meiner diesbezüglichen Befindlichkeit mit sich.« »Frau Thieme, Sie haben eine ganze Menge erreicht. Kann es sein, dass Sie befürchten, keine Berechtigung mehr zu haben, hierher zukommen, weil Sie Ihr Symptom los sind?« »So ist es nun auch wieder nicht«, unterbreche ich ihn, »einen Teil der Symptomkette bin ich weitgehend los, ja, aber das reicht nicht.« »Noch mal meine Frage: Kann es sein, dass Sie befürchten, keine Berechtigung mehr zu haben, hierher zu kommen?« Jurij ruft an. »Und du, meine Liebe, wo wohnst du? Chast du schon bestellt Chotel?« Er meint während des Aufbaues der Ausstellung, die ich ausschließlich ihm zuliebe ermöglicht habe. »Weiß ich noch nicht, Jurij, nein, ich habe kein Hotel bestellt, für mich jedenfalls nicht.« Natürlich weiß ich es: Ich werde jeden Abend nach Folzheim zurückfahren. Aber das sage ich nicht. »Kannst du bei mir …« Er kichert sein russisches Kichern. Wir reden über einige Formalitäten, Anzahl der Werke, Wandfarbe, Versicherung, Planung des Dinners, später treffe ich mich mit dem Küchenchef und stelle das Menü zusammen, rufe den Versicherungsfritzen an und regele letzte Einzelheiten und frage mich, wieso Jurij, der mich jahrelang verschmähte, jetzt bittet, ein Doppelzimmer für ihn zu buchen. Wahrscheinlich teilt er es mit seiner Frau. Mit mir jedenfalls nicht. Mitten in der Nacht essen wir Himbeersahnetorte. Eine dicke Geburtstagstorte vom besten Konditor der Stadt, mit einer Achtundvierzig aus Schokolade und einem Wintermantel aus Marzipan, steht auf dem Tisch, und Kerzen. Zwei Gläser. Ich kann ein Stückchen von dieser Torte essen, und das mitten in der Nacht! Mit einem Schuss Schampus im Blut vögeln wir uns in einen Tag, den Rufus mir schenkt. Seine Haut ist warm und riecht nach frischer Mandelmilch, im Kerzenlicht sind seine grünen Augen dunkel wie Oliven, seine Haare schimmern rötlich, überall. Ich spüre seinen kleinen Bauch an meinem, seine Künstlerhände packen meinen Po und ich spüre seine ganze Kraft, er möge mich drücken, so fest er kann, ich spüre seine ungeheure Präsenz, sein Ich, seinen Willen, seine Lust – mein Gegenüber, meine Herausforderung, Widerstand. Zwischen uns ist alles, Verschmelzung und Kampf, Nähe und Distanz, Du und Ich, komm, mein Engel, flieg und nimm mich mit auf deinen Schwingen, mit den Fingerspitzen schreibt er ein Gedicht auf meinen Bauch. Rufus schenkt mir Zeit, einen ganzen Tag, mitten in der Woche. Wir verbringen ihn mit Gürteltieren, Ameisenbären und Faultieren, deren Behausungen wir säubern 272 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und deren Näpfe wir mit Obst, Gemüse und Nüssen füllen. Die Tierpflegerin lässt uns mit den Tieren spielen, lässt die Tiere mit uns spielen, und ich habe zum ersten Mal in meinem Leben ein Gürteltier auf dem Arm. Es hat einen ganz weichen, verletzlichen Bauch. Eine Ameisenbärin verliebt sich in Rufus, klettert auf seine Schultern, beißt ihn zärtlich ins Ohr. Ich kann sie gut verstehen. Zum zweihundertdreißigsten Mal Va, pensiero, sull’ali dorate … steig, Gedanke, auf goldenen Schwingen lässt meine Finger über die Tastatur flattern, beflügelt meine Fantasie und bringt kaum wahrnehmbare Spuren eines Traumes in meine Wirklichkeit. Plötzlich, endlich, zärtlich. Schnitt. Im cremefarbenen Coupe über die Milchstraße. Getönte Scheiben, ein Gesicht verliert sich in Lichtreflexen und ich verliere das Bild von Max, über das sich der Schleier eines anderen legt: Wir. In einer Art Bibliothek. Freundliches Parkett unter nackten Füßen. Sein Haus. Genug geredet, verschwimmen Schweigen, Blicke, Berührungen. Va, pensiero, sull’ali dorate … Rufus. Beißende, peinigende Selbstvorwürfe, Vergehen vor Scham, Verboten. Es sei denn, wir beenden die Therapie. Hoffnung. Verlangen, ein offener Blick. Verboten. Ich liebe. In diesem Traum, der Trennungsängste offenbart. Unverantwortlich. Wirklich? Zweifel. Hirtberg weiß alles. Niemand sonst. Er: verwegen, verschmitzt, die Lichtreflexe lösen alles auf. Blitzlichter, die bleiben. Traum ohne Handlung, statische Bilder. Hirtberg, umgeben von einer Aura, gegen die mein Wille keine Chance hat, begleitet mich als Gefühl durch den Tag. Ich schreibe – weil ich es nicht sagen kann – ihm von dem Traum, den ich träumen kann, weil das Lassen des Symptoms die Seele weitet, so viel Platz, mein Herz ein endloser Raum. Er schweigt schockiert. Meine selbst zu verantwortende Vorwegnahme unseres Abschieds erzürnt und stimmt mich gleichermaßen traurig. Auf der Autobahn nach einem Symposium an der Anthroposophischen Hochschule zum Thema »Scheitern« wieder und wieder Va, pensiero, sull’ali dorate in voller Lautstärke, sensible Ohren hätten nun keine Freude mehr daran. Auf dem rechten Fahrstreifen ist ein Caddy liegen geblieben, die Polizei sichert das Malheur mit Blaulicht. Mir fällt die Rückfahrt von Timos und meinem letzten gemeinsamen Urlaub auf Rügen ein: Bei Bramsche verreckte der Volvo und musste in die Werkstatt und wir zwei, auf Kosten des ADAC, über Nacht ins Hotel. Diese Erinnerung verknüpft sich mit dem Bild seiner, Timos, Augen, von denen sich das linke unterhalb der Braue kräuselt, wenn er genüsslich zum Beispiel in ein Brötchen beißt. Das Bild treibt mir die Tränen in die Augen, wie so oft mich Bilder zum Weinen bringen, wenn ich im Auto unterwegs bin und endlich Zeit zum Weinen habe. Rund zwanzig Kilometer später betrauere ich das Ende der Analyse, frage mich, ob Hirtberg gescheitert ist, ob ich gescheitert bin oder ob die Therapie gescheitert 273 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ist. Meine Essstörung bin ich nicht zur Gänze los, aber das ist es definitiv nicht, was mich zu derlei Überlegungen treibt. Was ist es dann?!? Va, pensiero, sull’ali dorate … Statt Timos brauner Augen sehe ich jetzt seine, Hirtbergs, und schlüpfe noch einmal in das Gefühl, das der Traum hinterlassen hat. Die nächsten achtzig Kilometer bin ich damit beschäftigt zu weinen, weil Hirtberg aus meinem Leben geht, dabei rassele ich in eine Radarfalle. Als ich heimkomme, ist Rufus weit entfernt und fremd. Es ist schon nach zehn, er muss noch mal zur Schule, die er farbig gestaltet und mit Mosaiken ausstattet. Später fasst er mir entschieden zwischen die Beine. Im Halbschlaf fühle ich mich warm und geborgen, imaginiere seinen Körper, obwohl ich ihn genauso gut anfassen könnte. Mich erregt es, wenn er sich nimmt, was er braucht, auch wenn er weit weg ist, näher an seiner Arbeit, seinen Kollegen, dem Ofenbaumeister und dessen Lehrling, als an mir. Wir sind beide mehr als beschäftigt, wobei ich mich frage, warum ich buchstäblich den ganzen Tag mit irgendwas beschäftigt bin, ohne nennenswert weiterzukommen. Finanziell geht es mir schlecht, schon Mitte des Monats ist mein Konto um rund zweihundert Euro überzogen. »Hirtberg, was machen Sie eigentlich für eine Radikalablösung mit mir? Haben Sie meine Mail nicht bekommen?«, fahre ich ihn etwas unwirsch an. Richtig sauer bin ich immer noch nicht. Wann werde ich ihn endlich verfluchen? In Frage stellen? »Erst mal danke für diese charmante …« »Ach hören Sie doch auf mit dem Gesülze, darum geht es doch gar nicht! Schon auf meine letzte, mit Abstand unverfänglichere Mail haben Sie nicht geantwortet, das war ja noch halbwegs in Ordnung. Aber wollen Sie das jetzt zur Regel machen?« »Es war eine bewusste Entscheidung. Ich hatte keine Lust«, erklärt er ohne Umschweife, »auf Ihre Selbstschmähungen einzugehen. Hinzu kam einfach Überlastung. Deshalb habe ich nicht geantwortet.« »Mir hätte es sehr geholfen, wenn Sie meine Bewerbung gegengelesen und korrigiert hätten. Sonst haben Sie doch auch immer geantwortet.« »Was denn für eine Bewerbung?« Ich drehe mich auf der Couch um, gucke ihn erstaunt an. »Es hing ein Bewerbungsanschreiben an der Mail, von der ich mir gewünscht habe, dass Sie sie lesen und optimieren. Ich habe das gesamte psychologische Vokabular, dessen Sie sich bedienen und das gerade bei dieser Bewerbung von Nöten gewesen wäre, einfach nicht drauf. Diese Stelle reizt mich, ich will da hin.« »Das tut mir leid, ich habe den Anhang nicht gesehen. Natürlich hätte ich mich, so es meine Zeit eben zugelassen hätte, eingeschaltet.« Wenn er sich auch nur die Spur für mich interessieren würde, hätte er den 274 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Anhang nicht übersehen. Ich übersehe nie Anhänge, aber ich bin ja auch pedantisch. »Na ja, jetzt ist sie unterwegs, die Bewerbung.« Da sowieso nichts mehr zu ändern ist, lasse ich das Thema fallen und erzähle von dem unaufhaltsam wachsenden Vergangenheitsberg, von den vielen Abschieden, Trennungen, vom ewigen Aufhören. »Ich will hier nicht weg! Mich macht unser Ende sehr, sehr traurig.« »Ist Traurigkeit denn ein negatives Gefühl?« »Was für eine merkwürdige Frage! Natürlich ist Traurigkeit ein negatives Gefühl! Ich bin oft traurig, hänge gelebtem Leben nach und wünsche mir Unsterblichkeit.« »Es kommt doch darauf an, was die aufkommende Traurigkeit für eine Funktion hat: Spornt sie an, aus dem Verbleibenden das Optimum herauszuholen? Oder lähmt sie?« »Da kollidiert etwas – nämlich mein entschiedener Wille, das Optimum herauszuholen, wie Sie sich ausdrücken, Hirtberg, mit abgrundtiefer Resignation: Jetzt ist es sowieso zu spät.« »Alle, die hier sitzen und etwas ändern, sagen das«, konstatiert er trocken. »Was?« »Dass es zu spät ist. Sie bedauern, Ihre Änderungen nicht zehn, fünfzehn Jahre früher durchgeführt zu haben. Denen sage ich dann, dass Sie es nicht früher konnten: Die Lebensumstände haben es nicht zugelassen, es aber auch nicht erforderlich gemacht. Noch nicht. Das sage ich jetzt Ihnen: Versöhnen Sie sich mit Ihrer Geschichte und erkennen Sie an, dass es früher nicht hätte klappen können.« Jurij ist von Montag bis Freitag in Liefem. Eine ganze Woche. Jahrelang habe ich mir das gewünscht. Wir bauen die Ausstellung auf. Jurij hat die Haare viel zu kurz geschnitten, was seine Gesamtausstrahlung massiv beeinträchtigt. Seine dicken, grauen Haare haben mich von Anfang an fasziniert. Am Abend hocke ich vor dem Rechner und staune, was ich in meinen Dateien an niedergeschriebenen Hoffungen und Träumen finde. »Seine Wimpern sind so blond wie seine Brauen, die Haut ist blass und schimmert rosig unter vielen feinen Haaren am ganzen viel zu wohlgenährten Leib«, lese ich, und weiter: »Seine Hände zwischen meinen Beinen, drängend, fordernd, fast brutal und doch viel zu schnell wieder weg. Jurij – atemberaubend erotisierend in seiner ungeheuren Präsenz, über Jahre hinweg die Personifikation meiner russifizierten Träume, ich war elektrisiert von seiner dreisten Art, mich zu nehmen, ohne zu fragen, ob ich will, ob er darf. Kein Zögern, nur Wollen, nur Lust und unverhohlene Gier. Ich wollte in seinen Haaren wühlen und tat es. Ich wünschte, er möge mich küssen, und er tat es.« »Kommst du nun mit ins Chotel, cheute Abend?«, fragte er unvermittelt, als wir am nächsten Tag mit dem Aufzug in die zweite Etage fahren. Anstalten, mich zu küssen, wie damals in Moskau, macht er nicht. »Nein, Jurij, ich komme nicht mit.« 275 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Mit seinen etwas unterlaufenen, wasserblauen Auchen guckt er mich ungläubig an. »Du darrrfst nicht? Rrrufus chat verboten?« Einen Augenblick schwanke ich, nur ganz kurz. »Was ich darf und was nicht, bestimme ich, Jurij. Nicht Rufus.« Ich will nicht. Auf keinen Fall. Der macht mich nicht mehr die Bohne an, ehrlich gesagt. Und doch: Ein bisschen will ich schon, aber nicht ihn. Es geht nicht um diesen Russen, und es geht auch nicht um Sex. Sondern … tja, etwas für mich ganz allein. Es würde alles zwischen Rufus und mir unwiederbringlich zerstören. Selbst wenn er nichts erfahren würde: Meine Aura wäre nicht mehr klar, ehrlich, eindeutig, trüge einen Schatten, den vielleicht nur ich spüren würde. Ein Schatten, in dem es mir definitiv zu kalt würde. »Nein, Jurij. Es geht nicht.« Mehr sage ich nicht. Die Aufzugtür schiebt sich auf und wir machen uns wieder an die Arbeit. Sein Handy klingelt und das Thema ist durch. Ich will in seinen Haaren wühlen und lasse es. Ich frage mich, ob ich wünschte, er möge mich küssen. Die Frage beantwortet sich von selbst: Er lässt es. Später finde ich einen Satz in meinen Aufzeichnungen, den Jurij mir im Dezember, die Analyse hatte gerade begonnen, unmittelbar nach einer gemeinsamen Reise nach Moskau, während der sexuell zu meiner Enttäuschung gar nichts gelaufen ist, sagte: »Du und ich, wir bleiben bis zum Ewigkeit.« Mehr als erstaunt sei er darüber, in welch zerfleddertem Zustand sich unser Zusammenleben darstelle, sagt Rufus; und er habe den Eindruck, wir hätten unseren Vorrat an Vertrauen innerhalb kurzer Zeit verspielt. Aha? Verstehe ich nicht. Ich verstehe auch nicht, wieso er sich nicht hinsetzt und mit mir redet, sondern sich stattdessen an Kopierer und Fax zu schaffen macht, als könnte das nicht warten. Ist es Zufall, dass es ausgerechnet in dieser Woche zu einem massiven Konflikt mit Rufus kommt? Wie war das mit dem Schatten? Bemüht, die Fassung zu wahren, fährt er fort mit seinen Anwürfen, die ich überhaupt nicht einzuordnen weiß. »Benja, bei mir stellt sich Distanz ein, und das Gefühl von Fremdheit, es ist, als ob ich dich nicht mehr kennen würde. Wir leben unsere Leben getrennt, niemand weiß, was der Andere wirklich tut.« Reg dich jetzt bloß nicht auf, sage ich mir. Sagt der Zensor mir. Endlich mal eine kluge Empfehlung. »Ich weiß, was du tust. Und wenn du mich fragen und sodann aufmerksam, Rufus, ich betone: aufmerksam, zuhören würdest, wüsstest du, was ich tue.« Seine grünen Augen funkeln fies. »Keine Ahnung, mit wem du momentan Sex hast, mit mir jedenfalls nicht.« Daher weht der Wind. Eifersüchtig. Auf Jurij. 276 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Himmel, Rufus, was glaubst du denn wohl? Wir haben vier Tage nicht miteinander geschlafen, das ist doch wohl zu verkraften.« »Ach, hör doch auf«, mault er, »die ganze lebensvolle, lustbetonte Seite unserer Beziehung hat sich in Luft aufgelöst.« »Und ich bin schuld!?« »Ja, du vermittelst mir das Gefühl, in deiner Nähe allein zu sein, und ich verspüre den Wunsch, nachts allein schlafen zu wollen … sozusagen, wenn schon allein, dann bitte richtig allein.« »Wir werden eine entsprechende Lösung finden«, antworte ich mit einer Souveränität, die mich selbst überrascht. Rufus lässt nicht locker, beklagt, dass sich seine Projekte und Vorhaben nicht mit meinen verbinden. »Müssen sie das? Abgesehen davon bin ich da ganz anderer Meinung.« Stolz auf die Kurzangebundenheit, mit der ich auf seine unangemessenen Vorwürfe reagiere, nehme ich ihm seinen Anfall aber nicht übel. Schließlich unterbreitet er mir seine Weigerung, an der Eröffnung der Ausstellung teilzunehmen, weil er sich als ohnehin störend empfände und sich überdies nicht als männliche Dekoration eigne, er sei kein Timo. Als ob ich einen Mann als Repräsentationsobjekt bräuchte! Und überhaupt sei insgesamt ein aggressiver Ton in allem, was ich sagte, den er nicht besonders schätze, der Zustand, in dem ich mich befände, sei ihm fremd, er fühle sich überhaupt nicht verheiratet. »Sag doch, dass du die Scheidung willst.« »Lebe du dein Leben so, wie es sich mir jetzt zeigt, und ich richte mich auf mein Leben ein.« Papierstau. »Nein, Rufus, das kannst du dir abschminken. Ich werde mein Leben nicht führen, wie es sich dir zeigt oder du glaubst, wie es ist. Ich lebe einfach mein Leben.« Rufus werkelt an dem Gerät herum, als wolle er nicht nur die Ursache des Staus beheben, sondern es gleich einer Generalinspektion unterziehen. »Ich brauche jetzt Abstand, habe keine Lust, den glücklichen Gemahl zu spielen!« »So, wie du mich siehst, und angesichts dessen, was du mir unterstellst, ist es das Beste, mir eine eigene Wohnung zu suchen. Vielleicht erträgst du mich noch ein paar Wochen.« »Vermutlich befinden wir uns in einem selbstgestrickten Irrtum«, resümiert er, »die freiheitsbesessene Wasserfrau und der sensible Krebsmann. Ein paar Wochen werde ich das noch ertragen, ja.« Im Internet logge ich mich bei »Immowelt« ein. Meine neue Wohnung – in Assgart – darf maximal fünfhundert Euro warm kosten. »Stichwort Irrtum: mit weitreichenden Konsequenzen für mich – da ich nicht einmal deine Auffassung vom Irrtum teile.« Später schreibt er mit großen, roten, blauen und grünen Lettern auf einsachtzig mal zweivierzig messende Leinwand: »Bleibe bitte für immer.« 277 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Gegen Ende meiner Ansprache – die Grundzüge des hier präsentierten Werkes müssten jetzt einigermaßen nachvollziehbar sein und der Dankesworte sind auch genug gefallen – entdecke ich ihn. Die Königin starrt mich aus der ersten Reihe an, als hielte ich zum ersten Mal eine Rede. Neben ihr die Witwe des Künstlers, nicht minder senil, beide Abglanz ihrer verstorbenen Gatten. Hirtberg ist tatsächlich meiner Einladung gefolgt. Warum? Wegen der Kunst? Nach rund zweihundertfünfundachtzig Stunden begegnen wir uns jenseits der Couch. Während ich als offizielle Kuratorin der Ausstellung Fragen von Leuten, die ich in diesem Augenblick am liebsten erschlagen würde, zu beantworten und mich im Smalltalk zu üben gezwungen bin, mischt er sich unter die Menge, verschwindet aus meinem Blickfeld. Mit der Königin wechsele ich nur wenige Worte, sie liebt mich einfach nicht mehr. Sie ist nicht meine Mutter: Sie muss mich nicht lieben. Quandt liebt mich sowieso nicht, aber immerhin er hasst mich auch nicht. Er nimmt mich mit den Augen eines Buchhalters wahr, so etwa, wie ich 1&1, O2, der GEZ oder der Telekom begegnen sollte: vollkommen unemotional. Erste Szene: In Begleitung meines real geliebten Ehemannes sehe ich mich meinem Analytiker gegenüber, eine Situation, die sich erstaunlich entspannt meistern lässt. Äußerlich. Was in mir los ist, kann ich niemandem beschreiben. Hirtberg außerhalb der Praxis. Jenseits des gewohnten, des einzigen Kontextes. Irritiert und bewegt kann ich es nicht fassen: Er, mitten in meiner Welt, die eigentlich nicht meine, die aber in diesem Augenblick auch seine ist. Wir sind in der gleichen Welt. Viele Künstler sind gekommen, viele Freunde und Bekannte von Jurij, viele, die ich kenne und die mich kennen, ich bin in meinem Element – und doch wieder nicht, auf dieser Bühne, auf der mindestens zwei Theaterstücke spielen. Heiß ist mir, verdammte Leopardenjacke, aber der Pulli drunter ist zu simpel für diese Gesellschaft und sitzt etwas eng an Bauch und Busen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Rufus und Hirtberg sich über ein Bild unterhalten, was mich völlig fasziniert, berührt. Warum geht mir das so unter die Haut? Das ist Integration, würde Hirtberg jetzt sagen, Frau Thieme, Sie integrieren unterschiedliche Lebensbereiche: Ihre Analyse und die Wirklichkeit. Er ist sehr schlank, zierlich. Faszinierend, beinahe ätherisch. Zweite Szene: Im Museumsrestaurant findet der Umtrunk statt, es ist brechend voll. An der Bar: Hirtberg, ein Glas Bier in der Hand, lässig an den Tresen gelehnt, plaudert er mit Ekki und Margit, was die Situation ein wenig entschärft, schließlich arbeiten Ekki und ich seit einer Weile an einer Ausstellung, die – wo auch sonst? – in Moskau stattfinden soll. Es ist kein Problem, sich dazuzugesellen. Das Dinner war leicht, Fisch, Reis, Gemüse – klug habe ich das gemacht! Mein Körpergefühl um ein Haar vergessend trinke mit den anderen ein Bier. 278 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Um Rufus brauche ich mir keine Gedanken zu machen, er ist mit seiner offenen und humorvollen Art in jeder Gesellschaft sattelfest. Ich beobachte, wie er das Treiben, als dessen Dreh- und Angelpunkt ja nur ich unser illustres Grüppchen erlebe, taxiert. Seine Einstellung zu dem, was sich Kunstszene nennt, ist deckungsgleich mit meiner. In seinem hellen Rollkragenpullover sieht er einfach lecker aus, was ich so ohne Weiteres und unter Verzicht auf meinen ganzen Haufen von Erinnerungen, Fantasien und Idealisierungen weder von Jurij noch von Hirtberg behaupten kann. »Ich chabe dich gesucht, Wenja, überrrall, kommst du schnell, ich kann dirrr geben ein paar Katalogen für deine Frrreunden …« In dieser ohnehin mich emotional beanspruchenden Situation verzichte ich darauf, Hirtberg nun auch noch mit Jurij bekannt zu machen. Meine »Freunde«. So sieht das für Außenstehende aus? »Darf ich Ihnen auch einen schenken?« Mäßig befangen spekuliere ich auf fortgesetzte Unorthodoxie. »Danke! Gern!« Gewonnen! Mein Freudianer weist mich nicht zurück, um etwa zu unterstreichen, dass er, bitteschön, immer noch mein Analytiker ist. Der allerdings befindet sich meiner vorsichtigen Einschätzung nach in einem Rollenkonflikt. Ganz entspannt wirkt er nicht, managt diesen inneren Zwist aber so professionell, dass niemand ihn mitkriegt. Abgesehen von mir.

279 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Es geht um soziale Beziehungen, Verbindlichkeiten

M

eine Art, auf der Couch zu liegen, war immer eine abgesackte Form des Sitzens, weit entfernt von jener entspannten Hingegebenheit, die den freien Fluss der Gedanken und Gefühle ermöglichen soll. Nun sitze ich wieder. Aufrecht. Nicht in einem der blauen Sessel mit den Röllchen, sondern auf der Couch, ähnlich wie das Mädchen in dem Gemälde von Edvard Munch, allerdings ohne diesen pubertären Impetus. Hoffe ich. Mich für diese Positionierung, die linke Schulter Hirtberg zugewandt, zu entscheiden, ist Teil des Abschieds, gleichzeitig Erfolg: Ich bestimme über die Form des Settings, in dessen Rahmen wir jetzt an der Oberfläche bleiben und Bekanntes wiederholen. Ich bin nicht sicher, ob wir je wirklich in den Tiefen meiner Psyche schürften. Oder bin ich sicher, will es nur nicht eingestehen, weil ich ja dann alles falsch gemacht hätte. Über Jahre hinweg. Und so fasele ich, auf der Couchkante hockend wie bestellt und nicht abgeholt, vor mich hin, mehr mir zugewandt als dem Analytiker, dass, hätte ich die Wahl, ich nur noch schreiben würde, über das »Pferd in der Kunst« zum Beispiel, unvollendete Manuskripte liegen seit Jahren in der Schublade … dazu könnte ich dann auch gleich eine Ausstellung organisieren. Will nur keiner. Über alltägliche Begebenheiten, in der Straßenbahn, Beobachtungen im Restaurant, Skizzen aus dem Reitstall. Oder über die Art, wie die Gesellschaft, wie der Einzelne mit Kunst umgeht, wenn überhaupt. Nichts Fachliches, es sei denn, die Voraussetzungen stimmen. »Geschichten aus Kunst und Gesellschaft«, und irgendwann einen Roman, der – ha! – zum Bestseller gerät und gleich auch verfilmt wird, eine Variation zum Thema des Klassikers »Harold und Maude« oder auch »Hahnemanns Frau« zum Beispiel. Hirtberg hört sich das mit offenkundigem Interesse an, hockt aufrecht vorn auf der Stuhlkante. »Sie haben so unendlich viele Ideen, machen Sie was draus!« »Ja, wie denn? Es kräht doch kein Hahn danach, und ich muss Geld verdienen.« »Natürlich geht das nicht von jetzt auf gleich, und wie jeder Selbständige stecken Sie in einem Dilemma: Entweder Sie verdienen gutes Geld, dann sind Sie so beschäftigt, dass Sie zu den Dingen, die Ihnen auf den Nägeln brennen, gar nicht kommen.

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Oder Sie haben genügend Luft, um beispielsweise an Ihren Notizen zu arbeiten, über skurrile Begebenheiten zu schreiben.« »Sie meinen die, von der ich kürzlich erzählte? Die mit der Ölanzeige und dem Nothalt an der Autobahntankstelle?« Er kichert. »Ja, zum Beispiel. Dann allerdings müssen Sie damit leben, dass es dauern kann bis zum nächsten Scheck.« Ich beobachte ihn, wie er voller Lebendigkeit und offensichtlich gut gelaunt verkündet, was mir natürlich nicht neu ist. »Falls der jemals kommt, Hirtberg, Sie unverbesserlicher Optimist! Die Vorstellung, als hauptberufliche Sozialhilfeempfängerin mehr oder weniger mittellos dazustehen, versetzt mich buchstäblich in Angst und Schrecken!« »Statt wie paralysiert in Angst und Schrecken zu verharren«, entgegnet er gelassen, »könnten Sie ja das, was Sie bereits geschrieben haben, an Zeitungen, Zeitschriften schicken, bleiben wir bei dem Beispiel Ihrer Geschichte mit dem Tankstellenpächter und dem Motorschrauber vom ADAC: Schicken Sie sie an die ›Brigitte‹! Das ist doch genial, wie Sie Ihre wissenschaftliche Akribie, mit der Sie die Gebrauchsanweisung Ihres Autos studieren mit der Gleichgültigkeit, die Sie an anderer Stelle an den Tag legen, kollidieren lassen: ›Was weiß denn ich, welches Baujahr die Kiste hat?‹, das ist doch köstlich!« Während er sich glaubwürdig über meine Darstellung dieses denkwürdigen Ereignisses amüsiert, schwenke ich auf ein anderes Thema, schließlich bin ich nicht zum Amüsement hier, zu meinem schon gar nicht. »Und über Freundschaft würde ich schreiben«, sage ich und meine, dass ich über Freundschaft reden möchte. »Das ist auch so ein Bereich, mit dem ich lange nicht zurechtgekommen bin!« »Ja, das weiß ich«, sagt er und folgt mir tapfer auf den von mir eingeschlagenen Pfad der gebotenen Ernsthaftigkeit. »Stellen Sie sich vor, als Ziel meiner letzten Therapie, Mitte, Ende der 1990er Jahre war das, hatte ich als ein Ziel formuliert, mich dergestalt zu verändern, dass es möglich würde, eine Freundin zu finden … jemanden, außer Timo, der es mit mir aushält. Das, was ich als beste Freundin bezeichnen würde, gab es seit meiner Schulzeit nicht mehr.« »Und warum möchten Sie darüber schreiben?«, erkundigt er sich, als zöge er ernsthaft in Betracht, eine erhellende Antwort zu hören. Er stellt keine klassischen Analytikerfragen mehr. Eine solche würde wohl lauten: Was bedeutet Freundschaft heute für Sie? »Weil es ein Thema ist, wie ich schon sagte, das mir lange Zeit Schwierigkeiten gemacht hat. Weil ich keine Freundinnen hatte.« »Und wie ist das heute?« »Sie wissen doch, dass ich keine Freundschaften pflege, enge schon gar nicht. Ich ziehe es vor, allein, statt in halbherzige Geschichten mit lauter zeitraubenden und obendrein langweiligen Verpflichtungen, Geburtstagsfeiern, Kinobesuche etc. eingebunden zu sein.« 281 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Dann erzähle ich von Anna, die seit Wochen nicht auf eine Mail antwortet, die zu schreiben mich einige Überwindung gekostet hat und mit der ich einen weiteren Vorstoß in diesbezügliche Normalität oder das, was ich für normal, wenn auch für mich wenig erstrebenswert halte, gestartet habe. »Was meinen Sie mit Normalität?«, unterbricht er mich. »Na, es ist doch komisch, keine Freundin zu haben, oder?« »Was fällt Ihnen denn zum Begriff Freundin ein?« »Die Zeitschrift. Nee, im Ernst jetzt: eine Beziehung, die, wohl in rosarot verklärter Erinnerung an Kindheit und Jugend, mir erstrebenswert erscheint. Ein Ideal, eine Vorstellung, die für mich nicht funktioniert.« »Sie sind eine erwachsene Frau. Das Schema passt nicht mehr zu Ihnen.« Ja, vermutlich ist das so einfach. Bei Hirtberg wird immer alles so einfach. Ich schweige einen Moment, gucke ihn an und möchte, dass er mein Freund ist. Oder wenigstens meine Freundin. Anna fällt mir ein. »Sie ist ein Sonderfall.« »Wer?« »Anna. Ich habe keine Ahnung, ob es Freundschaft ist, und wenn ja, ob sich diese aufrechterhalten lässt. Sie ist so schillernd, faszinierend mit ihrem Sinn für Situationskomik, ihrer ausgeprägten Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Es gibt wenige Menschen, mit denen ich mich so amüsieren, über die ich so lachen kann!« »Warum zweifeln Sie daran, dass es Freundschaft ist?« »Ach, hören Sie doch auf mit den Zweifeln, ich weiß es eben nicht.« »Sie haben mir mal erzählt, dass es Ihnen nicht schwer fällt, handlungs- oder interessenorientierte Beziehungen herzustellen und zu pflegen. Was ist anders mit Anna? Sie interessiert sich doch, wie Sie mir sagten, auch für Kunst, für Pferde und, darauf lässt zumindest ihr Beruf schließen, für Psychologie.« »Das mit den Pferden stimmt nur bedingt. Wir haben uns über die Pferde kennengelernt, ja, aber für sie war es eine Art Psychoexperiment … Es ging nicht um die Reiterei, sondern um die Bewältigung irgendwelcher Ängste, Hirtberg, ich habe keine Ahnung, können wir jetzt damit aufhören?« »Warum wollen Sie aussteigen?« »Ich will nicht aussteigen, ich habe nur den Eindruck, dass wir hier nicht weiterkommen. Es ist, wie es ist, sie antwortet nicht auf meine Mail und ich denke, dass es zu Ende geht.« »Warum haben Sie ihr denn geschrieben? Was haben Sie ihr geschrieben?« Das ist nicht mein Analytiker, der diese Fragen stellt. Das ist Horst Tappert. »Nun, ich vermute, dass sie beleidigt ist, weil ich ihr Übernachtungsangebot nicht annehme … Ich bat sie, sie möge meine diesbezügliche Zurückhaltung nicht als Affront auffassen, keine persönlichen Hintergründe, allenfalls psychische: Ich störe eben ungern, und sie sei eine sehr wichtige Person in meinem Leben.« Sogar 282 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ausdrücklich fragte ich, ob sie eine Idee habe, wie wir unseren Kontakt optimieren können. Offenbar hat sie keine. »Verbinde dich mit dem, was du willst. Nicht mit dem, was du nicht willst«, sagt Rufus, lässig an die Türzarge gelehnt, die Hände in den Hosentaschen. Was will ich denn? Rufus hat in drei oder vier Monaten zwölf Kilo abgenommen und sieht zum Anbeißen aus in diesem Pullover Marke Mamas Liebling, dunkelblau mit weißem Krägelchen. »Steiner hat gesagt: ›Besser Fleisch essen als Fleisch denken.‹« »Wie kam der denn da drauf?« »Nun, ein Vegetarier klagte nach Monaten absoluter Fleischabstinenz darüber, immer noch an Fleisch zu denken. Wer abnehmen will, darf nicht an Schokolade oder Kuchen denken. Er muss sich verbinden, ganzkörperlich, geistig und seelisch, mit dem, was sein Ziel ist, nämlich dünn zu sein.« In den nächsten Tagen denke ich nicht nur darüber nach, wie ich mich mit meinem Ziel, dünn zu sein, wirklich verbinden kann, sondern hungere mir ruckzuck zwei Kilo runter, was mich euphorisch stimmt, einerseits, weil es ohne bulimische Praktiken geht, was mich panisch stimmt, andererseits, weil ich ganz genau um die Gefahr weiß, in den anorektischen Zirkel zu rutschen. Ich bin nicht mehr jung. Mein Körper verkraftet das nicht mehr einfach so, ich entwickle Todesvisionen, kaufe das neue Buch von Irving Yalom: »In die Sonne sehen«. Den Tod an sich fürchte ich nicht, aber ich will diese Welt nicht vorzeitig verlassen. Anzeichen eines vorzeitigen – aber was heißt schon vorzeitig? – Ablebens sehe ich genügend. Der rechte meiner beiden kleinen Zehen ist gebrochen und schmerzt mörderisch, nachdem ein Pferd draufgesprungen ist. Das rechte Knie wartet nur darauf, durch ein künstliches ersetzt zu werden, und müsste, auch wenn dies nur kurzfristig Linderung bedeutet, punktiert werden. Seit zwei Jahren habe ich Rückenschmerzen im Ischiasbereich. Dann die Zähne, ein sich endlos hinziehendes Thema, und seit einem halben Jahr habe ich Gerstenkörner, das erste im Oktober und seither drei, vier weitere. Kind, das sind doch Zeichen! Ja, Dietlinde, vielleicht. Jedenfalls schiebe ich – ungeachtet des Gefühls, dünn zu sein, was ich natürlich nicht bin – seit Wochen den Erwerb neuer Klamotten, Jeans und ein paar Sommerkleider, vor mir her. Mich strengt das Zuviel unglaublich an: zu viele Menschen, zu viele Dinge, die keiner braucht, die kulinarischen Verlockungen, an jeder Ecke eine Bäckerei, in den Auslagen Mohnstriezel, Mandelhörnchen, Muffins, Mehrkornbrötchen … Abgesehen davon drehe ich den Cent dreimal um. Seit ich weniger Geld zur Verfügung habe, umspült mich eine gewisse Larmoyance: Es kann doch nicht sein, dass ich, bei guter Qualifikation, reichlich Erfahrung und permanentem Bemühen, es mir nicht leisten kann, ein paar einfache Pullis zu kaufen! Sehen Sie auf jeden Fall den Gewinn, den der Verlust eines halben Gehaltes mitgebracht hat, würde Hirtberg jetzt sagen. 283 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Am Tag der offenen Tür herrscht reger Betrieb an der Hochschule. Ich fahre allein hin, Rufus hat keine Zeit. In drei Wochen beginnt meine Lehrveranstaltung, ein Seminar zum Thema »Wie aktuell sind unsere Museen?«, das ich im Vertrauen auf Rufus’ Optimismus, auf Gretels – mit der Obertal bin ich inzwischen per Du – Orakel und aus Spaß an der Sache mache. Zum wirtschaftlichen Nulltarif, im Vertrauen darauf, dass man mich irgendwann dort ganz will, mir einen vernünftigen, das heißt honorierten Gastdozentenstatus anbietet, bin ich bereit, in Vorleistung zu gehen. »Hier sind so einige durch Zähigkeit reingekommen«, hatte sie gleich in einem unserer ersten Begegnung gesagt, man müsse schon dranbleiben, auch wenn es nicht sofort klappt und es zu Rückschlägen kommt. Diese Hochschule biete enorme Chancen, aber sie lote auch sehr genau aus, wem sie sie eröffnet. Was genau sie damit meinte, ist mir bis heute schleierhaft, aber ich bleibe dran. Im Dranbleiben bin ich ja gut. Wenn ich nicht gerade aussteige. Am Nachmittag schlendere ich durch die Wiesen, die das Gelände der Hochschule umgeben und links bis zum Wald, rechts bis zum Horizont reichen. Angesichts der erwachenden Natur überkommt mich die Erinnerung an die Klinik, vier Jahre ist das jetzt her, und auf einmal ist das Lebensgefühl von damals so präsent, als sei ich in die Vergangenheit gerutscht. Überall sprießendes Grün, laue Temperaturen. Vor meinem geistigen Auge Timo, wie er mich hinbringt und wieder abholt. Timo, wie er mit mir durch den Park spaziert, an der Hudau entlang. War es nur eine Laune, die mich mein Leben – und damit auch seines – umkrempeln ließ? Die Rückfahrt nach Folzheim führt mich südlich an Assgart vorbei und mitten in die Melancholie hinein. Den Rhein überquerend, erspähe ich links, hinter den Ästen, die dicke Knospen tragen, das Veedel, wo Timo und ich in unseren ersten Jahren gelebt haben. Die neue Direktorin hat die Bilder spärlich gehängt, was der Ausstellung zugegebenermaßen gut tut. Es ist ihre erste Eröffnung: Alle werden da sein. Ein bewegendes Ereignis für die gesamte pseudo-kunstbeflissene Spießigkeit der Stadt! Selbst nach knapp dreihundert Analysestunden ist mir nicht klar, warum ich dahin, warum ich mich sehen lassen muss, mich aber nicht wirklich sehen lasse, sondern mich in der Menge verstecke, obschon ich gesehen werden will – aber eben nur gesehen. Aha, Frau Thieme ist auch da. Scheißegal warum, mit wem. Gut. Brav. Setzen. Die direkte Begegnung an sich, zumal die mit der Königin, will ich nicht. Sie interessiert sich, seit meiner offenkundigen Distanzierung, seit ich nur noch an zwei Tagen pro Woche präsent bin und damit die Frechheit besitze, sie indirekt zu beleidigen, gar nicht mehr für mich. Sie ist nicht Ihre Mutter! Ja, Hirtberg, ist ja gut. Doch wie bei Dietlinde sitzt ihr Chanelkostüm etwas eng an Hüfte und Bauch, ihre Art, sich zu bewegen, wird zunehmend hölzern. Endzeitstimmung. Klug verdiene ich immerhin mein Basisgehalt, verzichte auf Anerkennung, Förderung oder 284 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Integration: Das gibt es in diesem Abziehbild meiner Herkunftsfamilie nicht. Gott sei Dank Geschichte. Karl Kopper, seines Zeichens Direktor eines großen Museums, plaudert höflich mit ihr. Sie strahlt ihn an wie ein Backfisch seinen ersten Schwarm. Dass er, Kopper, sie ausnimmt wie eine Weihnachtsgans, weiß jeder. Sie nicht. Er umgarnt sie ebenso charmant wie professionell und sichert sich eine weitere Million für sein Museum, mit der er ankauft, was seine Tochter in ihrer jungen Galerie gerade verhökert. Ein charismatischer Typ. Vollkommen nachvollziehbar, dass die alternde Königin sich gern von ihm einwickeln lässt. Ehrlich gesagt: Ich täte es auch. In Ermangelung jeder Chance, mich einwickeln zu lassen, husche ich in ein anderes Kabinett wie ein Kaninchen auf der Flucht vor dem Fuchs. Die Kunstwerke kenne ich alle, recto wie verso. Es ist langweilig. Anna entdeckt mich, ich entdecke Anna, beide geben wir vor, einander nicht zu sehen, und wissen, dass wir nur so tun, als sähen wir einander nicht. Im Augenblick ist Ihre Verbindung etwas lockerer. Ja, Hirtberg, ist ja gut. Irgendwann ziehe ich einen Schlussstrich, und zwar dann, wenn ich meine, dass der Aufwand, der betrieben sein will, um einander zu sehen, in einem eklatanten Missverhältnis zum Ergebnis steht. »Wie kommt das? Was ist das, dass du deine Sache mit der Organisation so extrem emotionalisierst? Es geht nur um Geld. Um mehr nicht. Gefühle gehören woanders hin, hierhin auf jeden Fall nicht!« Rufus grüne Augen blitzen. Meine auch. Weil ich immer noch mehr will als Geld oder wenigstens mehr Geld. »Warum bist du so wütend, wer hat dir heute was getan?« »Niemand hat mir was getan. Wenn doch nur jemand irgendetwas täte!« Hirtberg lacht, als ich ihm das erzähle. »Ich habe keinen Schimmer, warum ich so emotionalisiere, das ist wie bei einem Serverwechsel oder beim Öl nachfüllen: Sowohl dem Server als auch dem Auto gegenüber fühle mich machtlos. Ausgeliefert.« Er beugt sich ein wenig vor, als wollte er mir auch räumlich ins Gewissen reden. »Die Ignoranz, die Sie als Kind erlebt haben, erleben Sie jetzt wieder. Die Ignoranz, die Sie erleben, ist aber eine andere. Sie sind kein Kind mehr. Sie sind eine erwachsene Frau und außerdem bekommen Sie ein Gehalt. Damals und heute ist nicht identisch. Hören Sie?« »Ja, natürlich höre ich. Und was mache ich jetzt damit?« »Finden Sie sich damit ab, dass man Sie ignoriert. Sie sind nicht präsent. Warum sollte Quandt Sie fragen, ob Sie ihn auf seiner Reise nach Havanna begleiten?« »Weil ich Kunsthistorikerin bin und auf einer ganz anderen Ebene mit Künstlern und Museumsleuten reden kann, es geht nicht nur um Geld, es geht um Kunst, um Inhalte, um ein Vermächtnis!« »Ihr Vorgesetzter hat Sie nicht auf dem Bildschirm, wenn doch – hier noch ein 285 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Motiv aus der Kindheit, allerdings mit anderen Vorzeichen –, stören Sie. Sie sind lästig. Sie wollen zu viel. Das stört die Ruhe. Sie sind eine Ruhestörerin.« Ich starre ihn an. Hirtberg, wie machen Sie das? Warum erkennen Sie Zusammenhänge, die ich nicht erkenne, obwohl ich Teil von diesen bin? »Finden Sie sich ab mit dem Desinteresse. Wenn Sie das schaffen und akzeptieren, dass Sie nicht wahrgenommen werden: Dann werden Sie so cool, wie Rufus es Ihnen nahe legt. Wie er es – zu Recht – vorschlägt.« Atmosphärisch nehme ich wahr, dass sich etwas geändert hat, Hirtberg redet sehr unmittelbar, sehr klar, fast ein wenig schneidend mit mir. Ich will wissen, warum. »Es gab in den letzten Stunden ein paar Aussagen meinerseits, auf die Sie nicht weiter eingegangen sind. Vor zwei, drei Jahren hätten Sie, sorry, hätten wir, zwei, drei Stunden damit gefüllt. Sie hätten nachgehakt.« »Was waren denn das für Aussagen?« »Keine Ahnung, ist auch jetzt nicht so wichtig. Ich frage Sie: Was ist das? Machen Sie bewusst ein Entwöhnungsprogramm?« »Nein, das mache ich nicht. Ich mache kein Entwöhnungsprogramm. Ich rede nur ganz anders, viel direkter als damals mit Ihnen. Unsere Kommunikation hat sich geändert. Wir sind viel mehr auf einem Level, wenn man so will.« Aha? Wir? Auf einem Level? Die berühmte gleiche Augenhöhe? »Schauen Sie, früher habe ich gesagt: ›Sie können sich jetzt nicht vorstellen, dass ich kein Entwöhnungsprogramm mache.‹ Jetzt sage ich: ›Ich mache kein Entwöhnungsprogramm.‹ Ganz direkt. Ohne mich erst in Sie einzufühlen. Sie vertragen das jetzt. Sie steigen nicht mehr aus.« Rufus ist zärtlich, einfühlsam und fantasievoll, leider auch das Gegenteil: Gleichgültig und oberflächlich hört er mir nicht zu, geriert sich desinteressiert und egozentrisch, wehleidig, ständig besorgt um seine Gesundheit. Ein Extrem, eine Herausforderung. Nun, ich habe sie gewollt, diese Herausforderung. Er malt vier Leinwände auf einmal. Alles muss schnell gehen, Kunst im Akkord. Geduld hat er in den großen Dingen, kann langfristige Entwicklungen abwarten, ohne nervös zu werden. Für die kleinen Dinge hat er keine Zeit. Wir streiten uns erbärmlich, schreien, rammen uns die Messer in Bauch und Seele, reden aneinander vorbei, hören nicht mehr zu, sind so unglaublich wütend aufeinander, ausgelöst durch irgendeine Kleinigkeit. Nicht zum ersten Mal schießt es mir durch den Kopf, dass ich hierher, in seine Krebshöhle, nicht passe, dass ich weg will, so schnell wie möglich, egal wohin. Rufus schmeißt mein Bettzeug in das Zimmer, das er, einstmals liebevoll, eigens für mich hergerichtet hat. Ich stelle mir vor, wie wir uns am nächsten Tag fühlen werden, sollten wir unserem – immerhin gemeinsamen – Ansinnen, getrennt zu schlafen, nachkommen. Ich stelle mir seinen warmen Körper vor, sollte er später unter meine Decke krabbeln. Ich stelle mir vor, dass er sich vielleicht nach meinem warmen Körper sehnt. 286 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ich packe mir das ganze Gepülfe unter den Arm, schleiche ins Schlafzimmer und nehme ihn wortlos in den Arm. Ein stiller, starker Schritt, auf den ich stolz bin. Vierundzwanzig Stunden später sitzen wir bis tief in die Nacht bei einem Glas Wein und Kerzenschimmer im Garten. In den drei mächtigen Kastanien hängen kleine Windlichter, ein paar Fackeln stecken in den Kräuterbeeten. »Was war das für ein Theaterstück?«, frage ich Rufus. Er nimmt einen Schluck Wein, zündet sich eine Zigarre an, blickt dem Rauch nach, der sich in der Nacht verliert. Statt eine Antwort abzuwarten, komme ich gleich auf den Punkt, den ich für den Hintergrund unseres Streites halte. »Du hast im Augenblick sehr viel Erfolg. Man schätzt deine Arbeit, laufend neue Anfragen, Aufträge. Du bist zufrieden, ich bin es nicht. Während du deine eigenen Projekte realisierst, habe ich in den letzten Monaten das Gleiche getan, was ich getan hätte, wäre ich ganz in der Organisation geblieben.« »Allerdings mit einem wesentlichen Unterschied«, unterbricht er mich, »du arbeitest jetzt hier, nicht in diesem öden Liefemer Büro. Gut, du hast die grafische Sammlung aufgearbeitet, der Katalog erscheint in zwei, drei Monaten …« »Ja, eine langweilige, wenig spektakuläre Angelegenheit, zumal ich sie ja nicht allein, sondern zusammen mit einer Kollegin …« »Hättest du dich wirklich gern allein da durchgequält?« »Nein. Aber ich halte gern die Fäden in der Hand, so war es nichts Halbes und nichts Ganzes. Was draus wird, ist auch ungewiss. Rufus, im Gegensatz zu dir schwimme ich, rudere orientierungslos in einem See der Möglichkeiten, Tausenden von Ideen, die wegen dieser Sache zurückstehen mussten.« »Du kannst jetzt deinen eigenen Dingen nachgehen, du hast Zeit, schreib dein Buch, niemand hindert dich daran, ich am allerwenigsten!« »Ach, das hat doch alles wenig Aussicht auf Erfolg, und ein Buch zu schreiben dauert Jahre!« »Das spielt doch jetzt keine Rolle! Wenn es das ist, was du tun willst, wenn dein Inneres dir sagt, schreib ein Buch, dann tu es. Meine Unterstützung hast du, in jeder Hinsicht.« Schließlich traue ich mich zu sagen, worauf ich schon ein Weilchen herumkaue: »Ich bin neidisch, Rufus. Nicht missgünstig, verstehe mich nicht falsch, aber ich bin neidisch in dem Sinne, als ich auch angerufen, gebraucht werden möchte! In dieser verdammten Organisation schätzt niemand meine Arbeit, versteht sie nicht einmal. Ich habe diesen Mist nur gemacht, weil er ein bisschen Geld eingebracht hat. Hörst du, Rufus, mich langweilt das alles bis auf die Knochen!« »Was hat das mit uns zu tun, warum streiten wir uns dann?«, fragt er, und bringt es dann auf den Punkt: »Du hast gesagt, du bist unzufrieden. Kann es sein, dass es deine Selbstwertproblematik ist, die in diesem grotesken Stück in unsere Beziehung schwappte?« 287 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Sie lieben sich wirklich«, konstatiert Hirtberg, nachdem ich ihm in extenso von unserem leidenschaftlich inszenierten Laiendrama und dessen amateurpsychologischer Bearbeitung berichtet habe. Er trägt schon wieder diese unmöglichen weißen Schuhe mit roten Applikationen, diese ausgelatschten Sportschuhe, von denen ich annehme, dass sie einem seiner Kinder gehören. Es ist die sechsundvierzigste der letzten sechzig Stunden. »Ja, vielleicht ist das so. Vielleicht lieben wir uns. Trotzdem frage ich mich, ob ich das überhaupt alles will.« »Ob Sie was wollen?« »Mit Rufus. Mit Männern ganz allgemein. Eigentlich ist mir das viel zu anstrengend. Die Vorstellung, allein zu leben, hat auch was. Ständig diese Streiterei, ich habe keine Lust darauf.« »Es geht nicht um Männer. Es geht um Beziehungen. Soziale Beziehungen. Erotisch-psychische Verbindungen. Verbindlichkeit.« »Sie meinen, ich bin nicht in der Lage, Verbindlichkeit zu pflegen?« »Sie sind in der Lage, Verbindlichkeiten einzugehen. Das tun Sie ja auch, wenn Sie heiraten. Das haben Sie ja nicht gemacht, weil Sie davon ausgingen, dass Sie sich wenig später wieder trennen wollen. Sie neigen dazu, sich zu isolieren, wenn es zu Konflikten kommt. Dann steigen Sie aus, überlegen sogar, komplett auszusteigen, in dem Sie sich im Internet bei ›Immowelt‹ einloggen.« »Ja, das stimmt. Aber ich habe eben weder Lust noch Zeit, herumzuzanken.« »Sie ertragen die Ambivalenz nicht: Sie wissen, dass Sie sich wieder vertragen werden, aber Sie wissen nicht, wie und wann. In dem Augenblick verlieren Sie Ihre Stabilität, und um die wiederzuerlangen, sind Sie bereit, alles andere aufzugeben.« »So ähnlich ist das auch mit Anna. Innerlich habe ich mich von ihr getrennt. Oder sie sich von mir. Sie war es, die meine Mail unbeantwortet ließ!« »Können Sie sich nicht einfach sagen, dass die Verbindung im Moment eben nicht so eng ist, und damit leben, dass sie vielleicht wieder enger wird?« Mir wird das Ganze zu kompliziert, ich spüre, wie ich auch aus diesem Thema aussteige, weil im Moment eben keine Lösung in Sicht ist. Das gleiche Motiv: alles zu viel. Keine sofortige Antwort: Ausstieg. »Zu viele Verbindlichkeiten möchte ich auch nicht, ehrlich, Hirtberg, das ist mir zu anstrengend, fragen Sie mich nicht warum. Manchmal sehne ich mich nach Timo und der Zeit mit ihm zurück, weil sie weniger aufreibend, weniger kräftezehrend war.« »Wir reden nicht von vielen Verbindlichkeiten. Wir reden von sozialen Beziehungen, die in einem gewissen Grad Verbindlichkeit brauchen, sonst sind es keine Beziehungen. Freundschaften, wenn Sie so wollen. Und was Timo betrifft: Mit Timo hatten Sie keine Intimität mehr. Deswegen haben Sie sich auch nicht gestritten.« »Vielleicht hatten wir keine Intimität mehr, weil wir uns nicht mehr gestritten haben? Hm, ja, das verzahnt sich. Aber Intimität ist doch was anders als Verbindlichkeit?« 288 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Das hängt miteinander zusammen. Intimität ist zwingend an Verbindlichkeit gekoppelt, so ist das in einer Paarbeziehung oder auch in einer sehr engen, vertrauten gleichgeschlechtlichen Beziehung. Lockerere Verbindungen kommen ohne Intimität aus, aber nicht ohne Verbindlichkeit.« Rufus sagt: »Nimm das Angebot von Anna oder Ekki an, es ist doch Wahnsinn, so viel zu fahren.« Ekki sagt: »Du bist herzlich willkommen, es ist doch Wahnsinn, so viel zu fahren.« Anna sagt: »Du kannst jederzeit bei mir übernachten, es ist doch Wahnsinn, so viel zu fahren.« Der eine Zensor brüllt: Du störst! Ich glaube ihm. Der andere Zensor mault: Es ist doch Wahnsinn, so viel zu fahren. Ich stehe zwischen den Fronten, verdammtes, doppelzüngiges Zensorengesocks! Was ich will, nennen andere Wahnsinn. Auch interessant. Ich will über die Autobahn brezeln, nicht reden, nicht beherbergt werden, nicht stören, ich will keine Verpflichtung und keine Verbindlichkeit, geschweige denn Intimität. Träumen will ich, aussteigen für knapp zwei Stunden, allein sein, gern todmüde, übernächtigt neben mir stehen, Zwischenwelten. Um halb fünf verlasse ich das Büro, hole den Passat aus der Werkstatt: Die elektronische Messung ergab, dass, entgegen der digitalen Aussage des Autos selbst, die Parkbremse in Ordnung ist. Scheibenwischer haben sie keine vorrätig, nur für hinten. Hinten brauche ich keine. Aber Rufus. Er will partout einen Satz neuer Wischer, wo man doch bequem noch mit den alten durch den Winter käme. Auf dem Weg zum Arzt, von dem ich die Ergebnisse meines alljährlichen Checkups erfahren will, beschließe ich, den Termin abzusagen. Fühle mich komplett überfordert von dem zu Erledigenden, vor allem aber von dem Tests, dieser Konfrontationstherapie, die ich mir selbst verordnet habe: Ich nehme das Angebot von Ekki und Margit an. Statt erst zum Arzt nun schnurstracks ins Solarium, das mache ich einmal in der Woche: Leicht getönt wirkt mein Körper etwas weniger fett. Als ich den Deckel schließen will, knallen Röhren, die man nach dem letzen Röhrenwechsel an die Wand gelehnt hatte, auf den Boden, zersplittern, zerbersten mit gewaltigem Getöse. Splitternackt erschrecke ich zu Tode, kann am Ende die Bank aber doch nutzen, an ihr selbst war ja nichts geschehen. Was bei Anna klappte, klappt jetzt nicht. Während ich vor mich hinbruzzele, springt mir die Artistin an den Hals. Keine Chance, ich träume von Apfeltaschen und beobachte wenig später entsetzt, wie der Traum, sie zu kaufen und zu essen, ach, was sage ich, sie zu verschlingen, zu einem ganz realen Albtraum wird. Hier ein Streuselweckchen, dort ein Rosinenschneckchen, ein paar Riegel Multaben, gleich im »DroMarkt« verschlungen, kann mich weder konzentrieren noch entscheiden. Wozu auch Wimperntusche, Nagellack und Deo kaufen? Für ein 289 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

unverbesserlich hässliches, verfressenes Monster, ein asoziales, lebensuntüchtiges, ja lebensunwertes Alien? Der Gedanke, bei Ekki zu übernachten, erfüllt mich mit bohrendem Unbehagen. In mir sträubt sich buchstäblich alles. Eine Mutprobe, eine Herausforderung, eine Zumutung. Ein freundliches Angebot, würde Rufus sagen. Mehr nicht. Wie war das denn früher, wenn Sie nicht zu Hause geschlafen haben?, würde Hirtberg fragen. Einen nach dem anderen würde ich mit kugelrunden Augen angucken und sie einladen, doch einfach bei mir zu schlafen. Für Margit erstehe ich ein Buch von Lily Brett, eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen, mit der ich mich seelenverwandt fühle, und im Schreibwarengeschäft gleich nebenan ein kitschiges Schleifchen, das ich geschickt um das Buch wickele, während ich im Eiscafé auf die heiße Schokolade warte. Ein weiteres Buch, getrübten Sinnes für mich selbst hastig ergriffen, befindet sich bereits in meinem Besitz, wie ich jetzt feststelle. Auf einem Sesamriegel kauend stolpere ich zurück. An Ruhe, um ein anderes auszuwählen, gebricht es angesichts der fortgeschrittenen Zeit, schließlich fordert die Artistin ihren Tribut, gut eine Stunde ist dafür einzukalkulieren. Margit öffnet die Tür, zeigt mir das Gästezimmer, nein, um Gottes willen, Wein will ich keinen mehr. Sie hat ihre Gymnastikfrauen, wie sie sagt, zu Gast, ich sei herzlich eingeladen, mich noch etwas dazuzugesellen. Ich würde gern, aber ich kann einfach nicht. Im Gästezimmer unterm Dach ist es kalt, ich kuschele mich direkt ins Bett und schlafe überraschend gut, stehle mich um kurz nach sechs aus dem Haus: Das Schwimmen hat etwas sehr Purgatives. Frisch und sportlich wage ich mich an ein Roggenbrötchen, das mir sofort zu schaffen macht. Ich fahre, immerhin erfolgreich, sämtliche Stacheln aus, um mir die Artistin vom Leib zu halten. Auf der Autobahn Richtung Folzheim geht mir das Gespräch mit Ekki nach. Mich fasziniert seine Zähigkeit, mit der er um sein Motiv ringt, es endlos wiederholt und so eine Monotonie schafft, mit der ich mich komplett identifiziere, auch wenn es ihm nicht darum geht, mit seiner Kunst eine Identifikationsplattform zu schaffen. Die Autobahn habe ich quasi für mich allein, und das bei herrlichstem Wetter. An der Raststätte halte ich an, weil ich pinkeln muss. Im Shop gibt es mindestens fünfzig verschiedene Fachblätter für Autozubehör und Motorsport, zugeschnitten in Aufmachung und Inhalt auf eine männliche Zielgruppe, vom anabolikastrotzenden Bodycoach bis zum blassen Buchhalter, der sich innerlich zum Ranger bestimmt fühlt. Doppelt so viele Hefte für Frauen, ausnahmslos bestückt mit Reduktionsdiäten neben hochkalorischen Dessertkreationen, ein Kingsize-Display für Computermagazine. »Wo finde ich die ›Psychologie Heute‹?«, frage ich am Info-Point. 290 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Die Frau guckt mich an, als trüge ich eine Zwangsjacke, sagt aber nichts. »Das ist eine Zeitschrift«, ergänze ich, verzicht aber darauf, ihr zu erklären, was mit Psychologie gemeint ist. »Ach so«, sagt sie, offenbar verstehend, »Sie meinen dieses Heft, wo immer so zychische Probleme sind?« »Ja«, sage ich, »da sind so zychische Probleme. Haben Sie diesen Problemfall im Sortiment? Wenn ja, wo?« Etwas ungehalten. »Muss ich gucken.« Sie schält sich aus der Ummantelung durch den Tresen, der ihre Leibesfülle zur Hälfte verbarg, schleppt sich zum Zeitschriftendisplay, steuert zielstrebig die Rubrik »Kochen & Genuss« an. Muss mir immer so etwas passieren? Oder bin ich übersensibilisiert? »Hier isse nicht«, stellt sie sachlich richtig fest und schiebt, nun in der Rubrik »Kinder & Familie«, einige Hefte hin und her, um mir dann die »Eltern« zu offerieren, das sei auch was mit zychischen Problemen, »von Kindern allerdings«, wie sie ergänzt. Die Frau kennt sich aus. Ich danke ihr herzlich, sie hat sich Mühe gegeben, mich freundlich beraten. Matt schlufft sie zurück hinter ihren Tresen, wickelt ein Bounty aus dem Papier und schiebt es sich genüsslich in den Mund. Ich beneide diese Frau um ihren so anderen Horizont, der es ihr erlaubt, jenseits aller zychischen Probleme dick zu sein und glücklich Bountys zu essen, ohne sie hinterher auszukotzen. Im Self-Service erlaube ich mir einen Salat, den habe ich mir verdient, ich kann die Stacheln wieder einfahren. In Ermangelung des gewünschten Journals gibt’s die »Art«, die ich in der Tasche habe, als Beilage zum frugalen Mahl. Anhand des Ausstellungskalenders studiere ich die Möglichkeiten, wo ich mich engagieren könnte, und sinniere, welcher Kontakt herzustellen sei, ohne dass ich mich lächerlich mache. Während ich studiere und dabei die letzten roten Bohnen aus dem Schälchen picke, spüre ich überdeutlich, ganzkörperlich sozusagen, wie die innere Faszination für die geistige Dimension der Kunst, ihre Inhalte und Erscheinungsformen, die mich eben noch im Gedankenaustausch mit Ekki erfüllte, verfliegt und einer sehr diesseitigen Frustration weicht. »Mit der Lektüre dieses Heftes wurde alles so real und gleichzeitig so … unauthentisch«, sage ich, an Rufus gewandt, der in der Küche sitzt und einen Knopf an eine seiner Arbeitshosen näht und dem ich von dem Abend, unter Auslassung der grauenhaften Begegnung mit der Artistin, erzähle. »Was meinst du mit unauthentisch?«, fragt er und beißt den Faden mit den Zähnen durch. »Falsch meine ich damit. Ich stoße auf Dinge, die sich jenseits meiner selbst befinden: Ich habe keine Lust, mich in fremde soziale, wirtschaftliche und administrative Konstruktionen hineinzudrängen. Mich und meine Ideen will sowieso keiner.« »Hör doch damit auf, du fängst doch gerade selbst erst an, deine eigenen Ideen überhaupt wahrzunehmen! Wenn du sagst, niemand will dich, ist das Blödsinn … Ich will dich, zum Beispiel.« 291 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Er legt die Hose mit dem angenähten Knopf beiseite und zieht mich auf seinen Schoß. Ich spüre seine festen Oberschenkel an meinem Po, in meine Frustration mischt sich ein Quentchen Lust. Nach unserem letzten Megastreit gibt es eine starke Verbundenheit, wir sind wieder im Dialog. »Rufus, es handelt sich um eine absolut realistische Einschätzung …« »Na gut, nehmen wir es mal so, wie du es sagst. Was glaubst du wohl, warum das so ist? Weil kein Mensch weiß, dass du zu haben bist! Du musst dich erst mal selbst wertschätzen, deine Fähigkeiten anerkennen, und dich dann auch noch zeigen! Nach außen gehen, kommunizieren, was du kannst!« »Ich preise mich nicht an, verdammt noch mal, mir ist das peinlich und ich störe ja doch.« »Und selbst wenn du stören würdest: Was ist so schlimm daran?« »So was Ähnliches hat Hirtberg auch mal gefragt, allerdings in einem anderen Kontext, da ging es um Männer. Weißt du, Rufus, ich fühle mich überflüssig, nicht gewollt. Fachlich gut bin ich wahrscheinlich auch nicht, unbekannt obendrein – das ist das Entscheidende. Bekannt zu sein ist das A und O, daran habe ich nie wirklich gearbeitet. Es ist wichtiger, über ein Netzwerk zu verfügen als über fachliche Kompetenz.« »Du versteckst dich, seit Jahren versteckst du dich und deine Kompetenzen, wurschtelst im Hintergrund, warum eigentlich?« »Mich nicht zu verstecken, wie du es nennst, mein Lieber, wäre einem Verrat meiner Selbst gleichgekommen: Ich bin nicht berechnend, alles andere als diplomatisch, ich sage, was ich denke, und eigne mich überhaupt nicht zur Gesellschaftstussi. Ich gehöre nicht hierhin und nicht dorthin. Ich bin falsch. Vor allem in diesen Kunstkreisen. Indem ich nicht studieren konnte, was ich wollte, bin ich damals nicht meiner inneren Bestimmung gefolgt. Wenigstens Anerkennung, besser noch Ruhm und viel Geld will ich für das, was ich tue, aber nicht liebe – und deswegen auch gar nicht gut sein kann!« »Wie war das denn«, fragt Rufus, »als du diese ganzen Adressen, die dir ja nicht neu sind, gelesen und dir vorgestellt hast, Kontakte aufzunehmen?« »Nun, ich habe meinen Salat aufgegessen, an meinem Weißbrötchen herumgezupft und festgestellt, dass das alles …« »Was alles?« »… meine Gedanken – überhaupt nicht authentisch ist. Ich will nicht. Das kommt nicht von innen, sondern von außen. Impulse aus der Zeitschrift, den gedruckten Buchstaben, die sich mit der Stimme meines inneren Zensors zu einem Chor verbinden: Kind, zieh dich vernünftig an, Beziehungen schaden nur dem, der keine hat!« »Du warst an deinem inneren Wollen, als du mit Ekki geredet hast, und du bist ganz nah an deinem inneren Wollen, wenn du sagst, du willst an die Hochschule oder als Schriftstellerin arbeiten.« Rufus sieht mich mit seine grünen Augen erwartungsvoll an, ob ich vielleicht endlich begreife, was er meint, wenn er von einem Anliegen spricht, das von innen, aus einem selbst herauskommt. 292 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Was ist denn das, was man wirklich will? Was will ich wirklich? Genau sagen kann ich es immer noch nicht. Aber ich spüre, dass manche Dinge eine stärkere Verbindung mit mir haben als andere.« Mindestens genau so wichtig allerdings das Gegenteil, nämlich festzustellen, was ich nicht will: die Sache mit der Galerie. Kunsthandel. Kunstmanagement. Hier habe ich weder Erfahrung noch entsprechende Kontakte. Und was das Wichtigste ist: Ich stehe nicht dahinter, womit die Voraussetzung zu einer überzeugende Darstellung der Sache definitiv nicht gegeben ist. »Sie können das aber nur machen, wenn ein Museum bereit ist, die Ausstellung zu zeigen«, näselt Quandt. Ich sitze ihm mit meiner Idee gegenüber und fühle mich missverstanden, missachtet, klein gemacht, nicht ernst genommen. Jeder vernünftige Personalchef hätte gesagt: Ja, machen Sie das, entwickeln Sie Ihre Idee weiter – zumal in Ermangelung eigener Vorstellungen eines inhaltlich schlüssigen Programms der Organisation –, und am Ende wird ein Museum Interesse daran haben. Oder wir publizieren das. Oder er hätte mich gebeten, die Idee dahingehend zu modifizieren, dass sie zu hundert Prozent mit den Statuten der Organisation korrespondiert … Die Organisation verteilt ihr Geld nach dem Gießkännchenprinzip, ihre Macht spielt sie nicht aus. Mir gibt man keine. Quandt ist der unmächtigste Mann, den ich kenne, eine Schlappe, und die Königin setzt ihre Macht nicht ein. Vielleicht Gott sei Dank nicht.

293 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ambivalenz als Tor zur Humanität

D

as beidseitige Versäumnis, neue Termine zu vereinbaren, ließe sich sicher analytisch deuten. Ungedeutet und – was mich betrifft: einfach vergessen. Hirtberg wohl auch. Was folgt, ist eine – wiederum was mich betrifft: unfreiwillige Entwöhnungsphase. Der nächste Termin ist in vier Wochen. Traurig, trotzdem optimistisch, ambivalent eben, grüße ich ihn per Mail. »Ambivalenz ist das Tor zur Humanität, zu Menschlichkeit und Innenleben schlechthin. Also dann gute Ambivalenz«, schreibt er zurück. Es klingt wie ein Abschied und knirscht unangenehm in meinen Ohren. Rufus gibt ein Mosaikseminar in der Nähe von Frankfurt, wohin ich ihn begleite und als Erstes eine Linie blutroter Kachelscherben lege, durchsetzt mit rundgeschliffenen Glassteinen ähnlicher Farbe, schimmernd wie ein guter Wein. Als steinernes Band schlängelt sie sich diagonal durch ein Feld aus Schiefersplittern, Marmorkieseln, Spiegelscherben. Da haben Sie ihn doch, den roten Faden, würde Hirtberg sagen. Mehr als drei Jahre hat er daran gesponnen, mir immer wieder eines der Enden in die Hand gedrückt, mich zur Kooperation bewegt. Nachdem das steinerne Band zunächst in der Ecke oben rechts endete, befestige ich am nächsten Tag, nach Aushärtung des Betons, mit einem Super-Spezialkleber einen weiteren der rundgeschliffenen, weinroten Glassteine auf dem Rand der sieben Zentimeter dicken Platte. In der zweiten Nacht, die Rufus und ich bei Freunden verbringen, reihen sich Traumbilder aneinander, statische Minimalismen von maximaler Ausdruckskraft: Ekki zusammen mit Hirtberg vor einer Tür, von der ich sicher bin, dass es die Haustür meines Elternhauses ist. Vor dieses Bild, an dem Freud gewiss Freude hätte, schiebt sich das eines historisch anmutenden Portals, wie es Häuser aus der Gründerzeit haben, ausgestattet mit hohem Rundbogen, Marmorstufen, Stuckleisten. Halbreale Bilder und Gefühle. Keine Handlung. Hirtberg, gehüllt in einen langen, dunklen Mantel, bewegt sich in unbestimmte Richtung. Kühle, wolkenlose Neumondnacht. Im regennassen Asphalt spiegelt sich das fahle Licht der Straßenlaternen. Stakkatoartig: Rufus, bringt Lebendigkeit in die gleichförmige Bilderfolge, Tempo. Hirtbergs braune Augen blitzen, und dieses Blitzen hat etwas mit mir zu tun. Grenzenlose Selbstüber-

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schätzung. Bilde dir doch nichts ein, ruft Dietlinde aus der Ferne, dem kannst du doch nicht das Wasser reichen …! Am folgenden Tag versuche ich, den Traum genauer zu erinnern, doch ist er mir entwischt wie beinahe alle Träume. So kann mich nur die Tatsache, dass es ihn gegeben und mit dem Gefühl, das er hinterlassen hat, beschäftigen, wenn ich mich am Abend auf unserer knallroten Couch hinter der Zeitung von gestern verstecke und mich, eingehüllt in die flauschig-weiche Fantasie einer aus roten Fäden kunstvoll gewobenen Decke, erneut erfolglos auf die Suche nach den bewegenden Bildern begebe. Einige Tage später – es ist der vierte Jahrestag meiner Aufnahme in die Klinik – begreife ich angesichts des verbleibenden Analysestundenkontingents, dass es zu Ende ist. Die verbleibenden vierzehn Einheiten kann ich nur plaudernd mit Hirtberg verbringen. Vor einiger Zeit sagte er: »Wissen Sie, wann die Therapie erfolgreich war? Wenn Sie hierher kommen, sich setzen oder legen und munter drauflos plaudern, ohne ein Thema festgelegt, ohne überhaupt darüber nachgedacht zu haben, was anliegen könnte – oder gar, was ich interessant finden könnte.« Hat er mir dabei zugezwinkert? Margit lädt mich zur Geburtstagsparty ein. Ich wage nicht zu fragen, vermute aber, dass Hirtberg unter den Gästen sein wird. Gäbe es nicht Rufus: Zu gern hätte ich die Einladung angenommen. Während die Party ihrem Zenit entgegenstrebt, streife ich mit Benno im Mondlicht durch die Felder und leide nicht unerheblich unter der Vorstellung, die Chance zu versäumen, Hirtberg in einem nichtanalytischen Kontext zu begegnen. Als sie mich sieht, schießen ihr die Tränen in die Augen. Auf der Station B 109, Psychosomatik, findet gerade das Kaffeetrinken statt. Weißes Steingut, Tchibo, dünn und lauwarm. Wie ich von Luise erfahre, ist dieser Programmpunkt Teil der Therapie, in deren Rahmen auch der dazugehörige Kuchen gebacken wird. Wie von der Tarantel gestochen springt sie auf, um mit mir auf ihr Zimmer zu gehen, was angesichts der Enge des relativ kleinen Speiseraumes Erleichterung und Befreiung verheißt. Zu hören ist das Klirren von ungefähr zwanzig Kuchengabeln auf den Erdbeerkuchentellern, von der Dichte des Schweigens bis an die Schmerzgrenze gleichermaßen gesteigert und erstickt. Die Atmosphäre entspricht in etwa derjenigen, die in einem gut gefüllten Aufzug – zugelassenes Gesamtgewicht achthundert Kilo – herrscht. »Du hast aber wirklich ein sehr schönes Zimmer!«, rufe ich, mäßig enthusiastisch, beim Betreten eines neutralen, ebenerdig gelegenen Raumes, dessen Fenster zwar den Blick ins Grüne, nicht aber in die Ferne erlaubt: Etwa sieben Meter vor dem Fenster erhebt sich ein mannshoher Erdwall, eine Anschüttung, wenn man so will, auf der kurz geschorener Rasen sein traurig Dasein fristet. Luise holt mir eine Tasse Kaffee. An einem kleinen Tisch direkt unter dem Fenster sitzen wir uns gegenüber. Ich suche Timo in ihren Augen, frage, wie es ihr geht. Sie redet von Timo, der unsere Trennung wohl nicht verwunden habe, und ich spüre, dass vor allem sie das Geschehene 295 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

nicht verwunden hat. Sie sieht in ihrem pastellbunten Cardigan und der hellen Jeans gut aus, modisch ist sie mir mit ihren mehr als siebzig Jahren immer noch deutlich voraus. Mit der neuen Schwiegertochter ist sie offenbar nicht gerade glücklich. Sie präsentiert mir den Beipackzettel ihres Antidepressivums wie eine Trophäe und den Therapieplan, den ich ziemlich dünn finde. Bewerten Sie nicht. Nehmen Sie wahr, was ist. Sie müssen nicht sofort handeln, erinnert mich Hirtberg. Ich lasse das Ganze unkommentiert. Später, im Eiscafé, ist alles wie vor Jahren. Wir reden über die Tante. Wiederholt mache ich meine Ex-Schwiegermutter darauf aufmerksam, dass es um sie geht, nicht um die Tante. Keine Chance: Sie schafft sie es nicht, Grenzen zu ziehen zwischen sich, der Tante und ihrem Sohn, meinem Ex-Mann. Eine Tragödie, die sich in dieser Familie, bestehend aus exakt diesen drei Personen, abspielt. Innerlich bin ich sehr bewegt und sehr froh, dass Timo sich endlich in eine Therapie begibt. Wie gern würde ich mit ihr reden wie Hirtberg mit mir: Es gelingt mir nicht. Wie würde er sich in dieser skurrilen Eisdielen-Situation verhalten? Ständig sehe ich ihn vor mir, höre das Timbre seiner Stimme, sein Lachen und stelle mir vor, dass er sein Brot mit dem mühsamen Knacken von Nüssen wie dieser verdient. Oder kommen solche Fälle gar nicht erst in eine Analyse? Würde er eine solche Person annehmen? Käme er an sie heran? Mir fällt es schwer, mit dem drohenden Ende der Analyse umzugehen. Nicht nur, dass es beinahe täglich Situationen gibt, in denen ich Hirtberg etwas fragen, seine Meinung hören möchte. Vielmehr ringe ich um emotionale Distanz, die zu erreichen mir unmöglich ist. Verzweifelt kämpfe ich gegen den Impuls, ihm eine Mail zu schreiben, um ihn nicht aus meinem Leben zu verlieren. Wenn in der einschlägigen Literatur im Zusammenhang mit dem Abschied bisweilen die Rede ist von Dankbarkeit und gleicher Augenhöhe, bleibt unberücksichtigt, dass der Analytiker, anders als der Steuerberater, kein Dienstleister ist, sondern eine sehr nahe Bezugsperson, ein Mensch, den man liebt. Ich jedenfalls liebe Hirtberg. Auf eine andere Art als am Anfang, sicher nicht weniger. Ich verzehre mich danach, ihn erotisch lieben zu dürfen. Er liebt mich nicht, oder, wenn doch, beherrscht er seine Gegenübertragung, warum sonst verweigert er mir das Picknick in hüfthohem Sommergras, jedes Gespräch über ihn, den Menschen Max Hirtberg? Über mich zu reden, erübrigt sich wohl nach fast vier Jahren Analyse. Ich wünsche mir die Courage, ihn zu fragen, ob er sich schon mal vorgestellt hat, mir mit anderem als gleichschwebender Aufmerksamkeit zu begegnen. Warum interessiert Sie das, würde er jetzt fragen. Mein Gott, Hirtberg, schicken Sie doch Ihren verdammten Analytiker zum Teufel und brutzeln Sie mir endlich Ihre legendäre Scampi-Pfanne!

296 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Was für ein Tag. Nicht nur, dass es bis jetzt der wärmste des Jahres ist, nein, die Koinzidenz der Ereignisse ist wirklich magisch. Timo ist zum ersten Mal bei seiner Psychologin, Rufus mit einer Schulklasse im Louvre und ich schlendere durch Folzheim, um mich endlich neu einzukleiden. Nach zögerlichem Beginn gerate ich in einen für meine Verhältnisse exorbitanten Kaufrausch, beim Cappuccino in der Sonne lese ich Korrektur und finde meine Notizen mit plötzlich gar nicht so schlecht. In meinem Kopf also Timo, Rufus und Hirtberg, während ich mir angucke, wie die Leute so aussehen. Viele sind zu fett, die meisten haben keinen oder allenfalls einen schlechten Geschmack. Mit welcher Freizügigkeit die Menschen ihre überzähligen Kilos präsentieren, ist beeindruckend. Das gigantische Warenangebot erschlägt und verwirrt, überfordert mich, ich weiß nicht, was ich suche, nur, dass viele meiner Sachen abgetragen, unmodern und zum Teil zu eng geworden sind. Mein Einkauf endet unerwartet erfolgreich, am Abend ist meine Stimmung beinahe euphorisch. Mit meiner Arbeit an den Notizen bei ohrenbetäubend lauter Musik von R.E.M. hole ich mir Hirtberg ins Haus. Sorgfältig geschminkt, angetan mit einer meiner neuen, schwarzen Strickjacken und meinen schönen blonden Haaren äußerlich gewappnet, fühle ich mich innerlich unsicher, angespannt, voller Erwartungen, Hoffnungen, Träumen. Hirtberg holt mich im Wartezimmer ab – nicht zu fassen! Die Haare superkurz geraspelt. Es wird eine Stunde, in der fast nur ich rede, wobei ich sorgfältig überlege, was ich anschneide und was nicht. Wichtig ist zum einen die Begegnung mit Luise. Nicht wegen Luise, sondern weil die Situation eine geradezu klassische war, in der ich mich fragte, wie Hirtberg dieser geballten Unzugänglichkeit, der kompletten emotionalen, selbstreflektorischen Verweigerung begegnen würde. »Da ist mir nichts eingefallen …« »Sie scheinen ja eine sehr gute Repräsentanz von mir zu haben«, er zwinkert mir ein bisschen zu, aber so, dass ich es selbst fast nicht mitkriege, »mir wäre da auch nichts eingefallen!« »Was meinen Sie denn damit, was ist Repräsentanz?« »Ihre Vorstellung, Imagination. Das Bild, das Sie von mir haben.« »Ach, dazu muss ich später noch was sagen, zu der Repräsentanz, diesem Bild.« Mir fällt eine frappierende Parallele zu Jurij ein. »Aber jetzt erst hier weiter.« Ich fühle mich unter Druck, weil ich in dieser Stunde sicher nicht alles unterbringen werde, was mir wichtig ist. Warum habe ich nicht mit Margits Geburtstag angefangen? An dem Tag nahm das Erkennen des ganzen Abschiedselends seinen Lauf. »Hm, keine Ahnung, ob ich eine gute Repräsentanz von Ihnen habe. Wenn ich mit Ihnen in den fiktiven Dialog gehe, was meine Fragen und Probleme betrifft, mag das sein. Jedenfalls kann ich mir ganz gut vorstellen, was Sie dazu sagen würden.« Er hört mir aufmerksam zu, als ich ihm berichte, wie gut ich inzwischen mit 297 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

der gesamten Problematik rund um die Organisation umgehen kann, dass meine diesbezügliche Entemotionalisierung erhebliche Fortschritte macht, ich mich mehr und mehr da herausziehe, ohne Schuldgefühle und schlechtes Gewissen. Tatsächlich mache nur noch, was wirklich nötig ist, was mir gefällt oder was ich für wichtig halte. Er guckt mich zwischen seinen Händen, die er vors Gesicht gelegt hat, komisch an. Der rechte Fußknöchel liegt auf dem linken Oberschenkel, die Ellenbogen aufgestützt. Er trägt diesen beigefarbenen, eher körperfernen Sommeranzug, darunter ein schwarzes T-Shirt, schwarze Socken und braune, glatte Schuhe. »Was ist, finden Sie das blöde?« »Nein, Sie beobachten ausgezeichnet. Nur Ihre Interpretation dessen, was Sie beobachten, also meine Mimik zum Beispiel, ist immer noch oft falsch. Ich freue mich über Ihre Entwicklung, Ihre Fortschritte. Ich finde das gut!« Ja, ich beobachte ziemlich genau. »In dem Buch«, ich reiche ihm »Ein guter Abschied«, »habe ich gelesen, dass die meisten Menschen ihre Therapeuten nach Abschluss der Behandlung nie wiedersehen … Nun, mir macht der Blick auf unseren Abschluss sehr zu schaffen, weniger weil ich Ihre Gedankenanregungen, Ihre konkreten Hinweise und Ratschläge vermissen werde. Das auch, ja. Ihre geniale Versprachlichung meiner Gefühle. Aber es ist eher die sehr persönliche Ebene, die mich … ja, traurig macht. Die mich emotional beschäftigt.« Jetzt schweige ich. Er auch, aber er ist das ja gewohnt. Anschauen kann ich ihn nicht. Wenn ich ihn jetzt anschaue, fange ich garantiert an zu weinen. »Das ist ja auch traurig, finde ich auch, …« Waaas? Er findet das auch traurig? »… dass das nicht in dieser Form weitergeht.« Wie was heißt in dieser Form? Sieht er etwa eine andere Form? Vielleicht sieht er wirklich eine andere Form. Ich sehe sie ja auch. Privat zu bezahlende Stunden sind dabei nur eine, die entschieden unattraktivere Variante. »Sie müssen wissen, Hirtberg, die Beschäftigung mit meinen Notizen gibt mir etwas, das ich für das Kostbarste halte, was ein Mensch überhaupt an Erfahrungen machen kann, nämlich in den viel beschworenen Flow zu geraten, in der Sache selbst zu versinken, im Hier und Jetzt zu sein, wirklich zu leben. Ich komme ganz schlecht wieder raus aus dieser Welt, aus dieser Versunkenheit.« Er guckt mich zustimmend an, nickt beinahe unmerklich, wir sehen uns einen Augenblick wirklich an. »Ja, finde ich auch …«, murmelt er. »Sie haben mich mal gefragt, ob Rufus das alles lesen darf. Nein, darf er nicht.« Endlich habe ich mich entschieden. »Was stehen denn da für schlimme Dinge drin?« »Das habe ich mir gedacht, dass Sie das wieder interessieren wird! Hören Sie, das kann ich jetzt hier nicht so auswendig sagen. Ich schicke Ihnen mal was. Ich beobachte, wie Sie sich bewegen, wie Sie gucken. Ich scanne Sie, sozusagen. Ich bin nicht nur Analysandin, sondern auch eine Frau. Ich sehe Sie mit den Augen einer 298 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Frau. Halten Sie mich meinetwegen für eingebildet, aber ich bin sicher, Sie finden das auch interessant.« »Sie meinen, jenseits aller Eitelkeit?« »Ja, aber keine Sorge, Ihre Eitelkeit wird auch befriedigt«, sage ich und blinzele ihn, versuchsweise etwas kokett, durch meinen langen Ponysträhnen an. »Ihr Bericht ist so eine Art … Übergangsobjekt?« »Was ist das denn? Ist das jetzt ein Fachterminus?« »Weiß ich auch nicht«, grinst er, »wenn wir definieren, dass Ihr Bericht ein Übergangsobjekt ist, reicht das doch, oder?« Im Internet finde ich später zum Stichwort Übergangsobjekt, das es vom Säugling als vorübergehender Ersatz für die abwesende Mutter erschaffen würde, um sich im Zustand des Alleinseins mit Hilfe eben dieses Übergangsobjektes auf den virtuellen Anderen zurückzuziehen. Nein, meine Notizen sind kein Übergangsobjekt, ich bin kein Säugling und Hirtberg keine Mutter. Was hat er sich eigentlich dabei gedacht? Vom Sturm der Gefühle ergriffen, wild bewegt und todesmutig schreibe ich ihm einen Tag später unter der Betreffzeile »jenseits des sagbaren« nur zwei Sätze: »Ich glaube, Sie mögen mich. Ich hätte nicht heiraten dürfen. In Liebe, B.« Irgendwie will ich ihn provozieren. Meinen Mut testen. Gucken, was passiert, wenn ich plötzlich ganz anders bin. Am Wochenende ist Pfingsten. Vielleicht ist er verreist. Das jedenfalls kann er als Erklärung anführen, wenn er gar nicht antwortet. Wenn doch, wird er schreiben: Es besteht kein Zweifel daran, dass ich Sie mag. Das wäre die wohlwollendaffirmative, neutrale Variante. Oder: Ihre Heirat ist Ausdruck und Teil Ihrer Autonomie. Ausweichend. In der nächsten Stunde können wir über Ihre Gefühle und Gedanken sprechen. Diplomatisch, gleichschwebend aufmerksam. Sehr gut wäre: Wir sollten uns über eine Beendigung der Therapie unterhalten. Oh, er will mich! Ganz schlecht: Wenn Sie die Therapie beenden möchten, können wir das in der nächsten Stunde thematisieren. Das würde bedeuten: Ich gehe ihm auf total die Nerven. Noch schlechter: Ihre Gefühle erwidere ich jenseits meiner Rolle als Ihr Analytiker nicht. Bitte schlagen Sie sich Ihre Gedanken aus dem Kopf. Völlig sachlich, eindeutig, geschrieben als Mann, nicht als Analytiker. Er könnte auch schreiben: Sie sind eine fantasievolle Frau und steigern sich in Ihren Analysebericht hinein. Das wäre dann abwertend, nicht ernst nehmend. Schön wäre: Was ist das: mögen? Sind wir nicht längst darüber hinaus? Ironischhumorvoll, zwischenzeilig. 299 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Er finde meine Mail »etwas verwirrend«, antwortet er, »was hat die Tatsache, dass ich Sie mag, mit Ihrer Ehe zu tun? Können Sie nur ohne Reue heiraten, wenn Ihr Analytiker Sie nicht mag? Und kann es sein, dass Ihre Zuneigung (wollen wir es nicht erst einmal so nennen?) in der Form etwas mit dem kommenden Abschied zu tun hat? Ich schlage vor, wir reden da in Ruhe kommende Woche drüber.« Außer mir vor innerer Erregung danke ich ihm für seine nicht minder verwirrende Antwort. Meine Mail, erkläre ich ihm, war das minimalistische Extrakt aus einer irre langen Mail an ihn, die Essenz. Viel zu viele Worte um das Wesentliche, das zu verschwinden drohte in Entschuldigungen, Erklärungen, Irrungen und Wirrungen, es ginge nicht um meinen Analytiker, sondern um ihn, Max Hirtberg, füge ich so knapp wie möglich hinzu, »und, ja, wenn Sie wollen, um den Abschied. Nennen wir es erst einmal so.« Meinen zwischenzeilig formulierten Wunsch – ein intelligentes, mailisches Pfingstgeplänkel – erfüllt er mir natürlich nicht. Statt ausgefeilt Zwischenzeiliges für ihn zu ersinnen, lese ich bis tief in die Nacht hinein »Muss denn Liebe Sünde sein«, studiere die Mechanismen von Übertragung und Gegenübertragung, falle hernach geradezu über Rufus her, genieße Leidenschaft, Lust und Liebe und untersage mir, an Hirtberg zu denken – ein Verbot, das gleichermaßen Lust und Trauer stimuliert. Jetzt ist Schluss mit dem Gezicke. Ich werde mich nicht länger vor Scham auf der cremefarbenen Couch winden, um am Ende nichts oder viel zu wenig gesagt zu haben. Die Zeit drängt. Dreizehn Stunden. Keine Minute mehr werde ich mit indirekten Anspielungen vertrödeln, klipp und klar werde ich auf seine Fragen antworten: Was hat die Tatsache, dass ich Sie mag, mit Ihrer Ehe zu tun? Schon bei der ersten scheitere ich. Können Sie nur ohne Reue heiraten, wenn Ihr Analytiker Sie nicht mag? Warum fragt er nicht, ob ich meine Heirat bereuen würde, wenn er mich mehr als mögen würde? Dann könnte ich mit einem eindeutigen Ja antworten. So wird das mit dem Klipp und Klar schon wieder nichts: So lange, wie seine Sicht der Dinge ein Mysterium ist, bereue ich allenfalls vorsichtig. Nun, ganz verbergen können Sie sich hinter Ihrer Analytikerrolle nicht!, möchte ich ihm sagen, und: Das, was ich wahrnehme, reicht, um mir – und Ihnen – die Frage zu stellen, was geschähe, würden wir uns in einem anderen Kontext begegnen. Kann es sein, dass Ihre Zuneigung – wollen wir es nicht erst einmal so nennen? – … Nein! … in der Form etwas mit dem kommenden Abschied zu tun hat? Natürlich hat meine Gefühlskulmination etwas mit dem Abschied zu tun. Gefühle haben immer mit irgendetwas zu tun. Bald wird er die Metamorphose vollzogen haben: vom Analytiker zu einem Menschen, mit dem mich das Schicksal eine Zeit lang verband und der fürderhin in meiner Erinnerung – statt in meinem Leben! – existiert. 300 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wir können sofort aufhören. Anfangen. Die Regie liegt bei uns. Wir können die Rollen in diesem grandiosen Theaterstück umbesetzen. Und dann gucken, was passiert. Das alles bleibt ungesagt. Jenseits des Sagbaren. Meine letzte Begegnung mit Hirtberg und die mit ihm verbundenen Sehnsüchte finden ihren vitalen Ausdruck im Zusammensein mit Rufus, das sich sehr intensiv gestaltet. Ich beschreibe ihm, Rufus, Bilder, die mich erotisieren: Jeans, in denen sich seine Genitalien andeuten, ein hoch gerutschtes, weißes T-Shirt, dieses Stückchen mäßig behaarter Haut unterhalb des Bauchnabels, Rufus in seiner Boeing 747, wie er vor dem Atelier um die Ecke biegt: Sonnenbrille, weißer Rollkragenpullover, er neben mir im Auto, schwarzer Rolli, Sonnenbrille, seine Fältchen um die Augen. Ausgerechnet im Bett reden wir über Hirtberg. »Der hat so einen weichen Zug um den Mund«, sagt Rufus, »ist vielleicht etwas zu wenig Mann.« »Ich finde, er wirkt durch sein Charisma«, antworte ich so neutral wie möglich und setze geradezu unterkühlt hinzu, dass Ekki Paulsen mal hat durchblicken lassen, dass er wohl bisschen Probleme mit Frauen habe. Paulsen glaubt, dass Hirtberg gern eine Beziehung hätte. Was ich nicht laut sage: Wenn er wirklich nicht in einer festen Beziehung steckt, sich aber eine solche wünscht, soll er sich doch von seiner Analytikerrolle befreien und … Ja, ja, obschon man sagt, ich sei eine attraktive, gebildete und interessante Frau, bezweifele ich erheblich, dass ich ihm überhaupt gefallen könnte. Konjunktiv! Ich bin lebendig, ja. Durch Rufus. Und durch ihn, Hirtberg. Oder umgekehrt. »Der macht sich auch ganz gern mal einen lustigen Abend, das hast du doch gesehen, als wir da bei der Eröffnung mit dem Ekki herumstanden.« »Wie jetzt, meinst du, der pichelt mal ganz gern einen? Im Leben nicht!« »Nein, das meine ich nicht. Ich meine … na ja, er wirkt ein klein wenig unglücklich, unerfüllt. Er ist nicht der Eroberer, obwohl er Löwe ist.« »Wie, obwohl er Löwe ist?« »Du idealisierst ihn. Ich sehe ihn aus der männlichen Perspektive: Er ist längst nicht so stark, wie er auf dich wirkt. Der hat mit seinen eigenen Defiziten zu tun, die breitet der natürlich nicht vor dir aus.« Das weiß ich auch. »Ich glaube, dass er selbst Selbstwertprobleme hat. Oder hatte. Deswegen versteht der dich auch so gut. Deswegen hat der keine Schwierigkeiten, sich in dich einzufühlen.« Ich streichele die zarte Haut seiner Achseln, seine Brust, seinen Bauch, die Linea Alba herunter bis zum Schambein und fantasiere Hirtbergs Haut und Haar, fühle mich schuldig und erinnere mich gleichzeitig daran, das Hirtberg einmal sagte: »Auf der realen Ebene passiert doch noch gar nichts. Sie spielen in Gedanken Möglichkeiten durch. Das ist alles.« 301 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ja, ich spiele Möglichkeiten durch. Und ich lese dem Löwen Teile dieses Kapitels vor. Das absolute Gegenteil von freier Assoziation! »Ist Ihnen eigentlich klar, dass Sie in der ganzen Zeit nie mit mir ins Gefecht gegangen sind? Sie haben mich nicht auseinandergenommen. Ich habe ja auch meine schlechten Seiten.« »Ja, ich kann mir schon vorstellen, dass Sie sehr ekelig sein können. Das sind Sie aber hier nicht. Ich habe Sie nur hier, in diesem Raum erlebt, und hier waren Sie aufmerksam, mir wohlgesonnen, freundlich, vorsichtig, empathisch. Worüber soll ich mich denn da ärgern? Über etwas, was ich nie erlebt habe, sondern mir allenfalls vorstellen kann?« »Ich habe das Gefühl, dass Sie mich immer noch auf einen Sockel stellen, mich idealisieren. Ich habe Sie auch mal versetzt.« »Ein einziges Mal. Da haben Sie sich ausgesperrt und konnten deswegen nicht kommen. Und? Sie haben mich angerufen, sich entschuldigt, ich bin ins Büro gefahren. Wo ist das Problem? Ja, ich idealisiere Sie. Ihre ekelige Seite ist mir unbekannt.« »Was ist denn jetzt Ihre Frage?«, fragt er. Was will er hören? Ich tue so, als grübelte ich herum, während nur eine meine Frage ist: Wollen Sie mich oder wollen Sie mich nicht? »Nun, ich möchte wissen«, und damit komme ich der Realität vergleichsweise nahe, »ob Sie sich irgendwann an einem anderen Ort als diesem mit mir treffen. Ob wir eine andere Plattform der Begegnung finden.« »Wo denn?« Eine blödere Frage kann er wohl kaum stellen. »Der Möglichkeiten gibt es ja viele.« »Weshalb sind Sie denn nicht zu der Party gekommen?« »Weil ich nicht mit Rufus hin wollte, sondern wenn, dann allein.« »Haben Sie den Ekki mal gefragt, ob ich da war?« »Nein, natürlich nicht. Er weiß zwar Einiges von mir – es hat sich da so eine Art Freundschaft entwickelt –, aber gefragt habe ich ihn nicht.« »Sie wären mir dort begegnet, allerdings nicht nur mir. Sie wären mir mit meiner Freundin begegnet.« Wie weit geht seine Empathie? Spürt er meine innere Erstarrung? Ist sie attraktiver, dünner, intelligenter, folglich passender als ich? »Sie fantasieren ja offenbar auch eine erotische Beziehung mit mir«, fährt er fort, doch ich unterbreche ihn: »Ja, aber nicht aus dem Stegreif, nicht in dem Sinne, dass ich mir vorstelle, augenblicklich, von diesem Sofa aus, in eine erotische Beziehung mit Ihnen zu springen, nein, ich würde Sie gern außerhalb dieser Situation hier treffen, Sie kennen lernen und gucken, was dann passiert.« Mir wird klar, dass das auch für mich offen ist. Im weiteren Fortgang des Gesprächs eröffnet er mir, nicht zum ersten Mal, dass er mich attraktiv, intelligent, klug und mutig findet, und, zum ersten Mal: 302 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Ich habe Sie nie begehrt.« Aua. »Und hätte Sie nicht behandelt, nicht behandeln können, wenn dem so gewesen wäre. Das wäre nicht gegangen.« Erstaunlicherweise ist mein Selbstwertgefühl nicht völlig am Boden, der angeblich trägt. »Aber ich finde es absolut blöde«, sage ich ihm bemerkenswert offen, »dass es so ist, wie es ist.« Hirtberg indes lässt, als ob er die ganze Sache, die kaum zu toppen ist, noch toppen wollte, keinen Zweifel daran, dass er nicht gedenkt, mich künftig zu begehren: »Aus diesen Rollen kommen wir nicht mehr heraus. Das kann ich mir nicht vorstellen.« Er könnte sich ja mal ein bisschen Mühe geben, denke ich, aber er will es sich wohl auch nicht vorstellen. »Kann es sein, dass Ihre Gefühle auch so eine Art Ausstieg sind? Ein mehr oder minder bewusster Ausstieg aus der Realität, auch aus der realen Beziehung, in der es den Hund gibt, der nach dem Regen stinkt, die geschlossenen Fenster, die Sie gern offen hätten, die Tassen, die ständig irgendwo herumstehen und die Unterteller, die Sie benutzen müssen?« »Inzwischen muss ich sie nicht mehr benutzen. Aber … ja, mir fällt da noch eine Parallele auf – mein Gott, vielleicht verstehe ich endlich den Freud’schen Wiederholungszwang: Als ich mit Timo zusammen war, gab es Jurij als große, erotische, ja gottgleiche Fantasie, verbunden mit dem gleichen Gefühl unerfüllter Sehnsucht, was mich jetzt um den Verstand bringt. Damals war es definitiv ein Ausstieg, ein Einstieg zugleich, in eine Welt für mich allein.« Ich gucke ihn an, frage mich, ob ich ihn jetzt wirklich küssen möchte, ihn körperlich begehre. Sicher bin ich nicht. Aber ich würd’s machen, genauso, wie ich damals mit Jurij geschlafen habe, obwohl ich es nicht wollte: Er war mächtig, einflussreich, erfolgreich und – unerreichbar. Jetzt ist Hirtberg mächtig. Ein unerreichbares Fantasieprodukt, ein Hirngespinst, ein Ausstieg. Eine Alternative zur Realität. »Womit Sie die Realität an sich ja nicht abqualifizieren«, sagt mein Hirngespinst. Am Abend schreibe ich ihm: »Jetzt haben wir uns sinnigerweise für den kommenden Montag verabredet. Obschon ich den Termin liebend – sorry – gern wahrnähme, muss ich ihn, kaum dass er ausgemacht ist, absagen, da ich Dienstag und Mittwoch Termine in Liefem habe und nicht Montag auch noch fahren kann. Wir – Sie und ich – bewegen uns ja im Augenblick nicht gerade auf der Coaching-Ebene, weswegen ich an (frei)berufliche Verpflichtungen gar nicht gedacht habe. Jetzt stehe ich vor einem ähnlichen Dilemma wie Anfang Mai: zwangsweise Entwöhnungspause. Mit einem eklatanten Unterschied allerdings, nämlich dem, zu wissen, dass Sie – entgegen meiner Annahme, die durch Äußerungen einer Ihrer Freunde geschürt wurde – nicht verfügbar sind, dämpft meine diesbezüglichen, ausufernden Fantasien. 303 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Dass Sie mich nie begehrt haben und Sie sich – Ihren Ausführungen zu Folge – das auch nicht vorstellen können, macht mich nicht gerade glücklich, führt mich aber immerhin zurück auf den Boden der Realität – wenngleich ich noch nicht so recht glauben mag, dass man das nicht ändern könnte. Nun denn. Ich finde Sie trotzdem hinreißend. Wir sehen uns dann am 1. Juli um zehn Uhr wieder.«

304 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Assoziationen und Einfälle

H

irtberg hat sich von mir getrennt. Eiskalt Schluss gemacht. Ganz zu Anfang fragte er nach meinen Gefühlen, ließe ich Tabellen, Statistik und Waage weg. Unendliche Verlorenheit, Verlorenheit in der Unendlichkeit. Der Boden trägt. Nicht. Ihr magisches Denken gibt Ihnen Stabilität. Was ist das für ein Gefühl, wenn Sie sich vorstellen, dass Sie nicht mehr herkommen? Eben das: Verlorenheit. Mehr nicht. Oder doch, fast stärker noch: Enge. Festgenagelt sein auf das, was ist. Kein Raum, kein Traum. Verlust meiner Insel. Ausstieg. Wohin? Die Geschichte für mich allein, weites Feld der Fantasie: geraubt. Weggenommen. Gefangen im Käfig des Hier und Jetzt. Eiskalt Schuss gemacht. Ich habe Sie nie begehrt. Hoffnungslosigkeit. Eindeutigkeit. Die Unsicherheit, war sie besser? Ja, sie war fantastisch. Er hat gar keine Freundin. Er instruiert unseren einzigen gemeinsamen Bekannten, Ekki Paulsen, das Gegenteil zu kolportieren. Falls ich ihn, Ekki, genau das fragen sollte. Natürlich frage ich nicht. Hirtberg schützt sich. Vor mir. Wartet? Um sich am Ende zu offenbaren? Hätte ich Sie begehrt, hätte ich Sie nicht behandeln können. Hätte er mich doch nur begehrt! Er hat gar keine Freundin.

Endlose Olivenhaine, Sonne, Wärme, nackte Haut, Oleander, Duft von herbem Wiesenkraut, Wiehern in der Nacht, Wasser klar wie Glas nach einem scharfen Ritt, schweißnasse Pferdeflanken, vierundvierzig Eisen auf Asphalt und Geröll, in Wasser und Gras, und ich weiß, dass ich hier hin gehöre. Das ist meine Welt.

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»Please control your horse!«, ruft Giovanni, als Rufus den ohnehin mehr als gehfreudigen Intreccio überflüssigerweise die Schenkel spüren lässt. Ich galoppiere hinter den beiden her und bete, dass mein Reiteleve sein labiles Gleichgewicht behalten möge, der strahlt mich später an und küsst sein Pferd aufs weiche Maul zum Dank. Kaltes Gardaseewasser, grün und blau und klar. Mit Rufus um die Wette schwimmen, ich bin schneller, Wassermann, im Motorboot, weit draußen auf dem See, nenne ich ihn Porter Ricks und treffe in mir auf die Fünfjährige, die »Flipper« guckte und für den Hauptdarsteller schwärmte, möchte jeden Tag genau beschreiben, jede Szene sprachlich fassen, doch kaum klappe ich das Notebook auf, spüre ich den lauen Wind nicht mehr, der meine Schultern streift, verliere Rufus aus dem Blick. Statt Muße satt finden wir Lebendigkeit im Überfluss auf ganz realer Ebene, statt minutiösem Feilen an der Satzstruktur hier stundenlange Ausritte, Landschaftspanoramen statt microsoftene Formate, statt Kalorien feine Antipasti, Cappuccino italiano, gesellige Abende mit Vino bianco, San Cantuccino und Menschen, die wir gottlob nie wieder sehen werden. Am 1. Juli, Quartalsbeginn, liest Hirtberg meine Versichertenkarte ein. Der Rechner steht auf einem niedrigen Tischchen im Wartezimmer. Hirtberg, angetan mit blauweiß gestreifter Jeans, schwarzem Shirt, unter dem sich seine Muskulatur abzeichnet, diesen bescheuerten Schuhen mit den roten Bändern, hockt sich vor den Rechner und entblößt, unabsichtlich, nehme ich an, einen schmalen Streifen Rückenhaut – und diese kleinen Speckdinger, die ich bei Männern so attraktiv finde. Jesses, Hirtberg. Ich lege mich auf die Couch. Warum ich mich nun wieder lege, weiß ich auch nicht. Nein, Sigmund, es ist nicht, wie Sie denken! Ein paar Minuten, dann habe ich meinen Atemrhythmus gefunden, gehe sofort in medias res, keine Zeit mehr, um sich mit Urlaubsanekdoten aufzuhalten. »Wissen Sie, mir ist so unglaublich viel klar geworden. Mein Leben lang war ich, unabhängig davon, ob ich liiert war oder nicht, verliebt, und zwar nicht unbedingt – und schon gar nicht ausschließlich – in denjenigen, mit dem ich gerade liiert war. In meinem Kopf gab es immer den Unerreichbaren, oft handelte es sich dabei um jemanden, der, in welcher Form auch immer, eine Autorität darstellte.« »Wir hatten ja schon mehrfach über Ihr Bedürfnis, aus der Realität auszusteigen, ihr zumindest etwas entgegenzusetzen, gesprochen«, unterbricht er kurz meinen Redefluss. »Ja, und in diesem Zusammenhang fällt mir eine Parallele ein«, sage ich, finde diese zwar nur halb überzeugend, aber immerhin auffällig: »Ähnlich wie über Jahre hinweg mit Jurij, entwerfe ich jetzt mit Ihnen ein eigenes Universum, zu dem niemand Zutritt hat, ein surreales Bild. Bei der Vorstellungen, hier wegzugehen, überschattet das Gefühl des Verlustes von Stabilität und Orientierung nicht nur dieses Bild, sondern auch die Realität, und zwar in Form innerlichen Betrauerns des Unabwendbaren, das in der Notwendigkeit besteht, diesen Kosmos 306 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

zu verlassen und mithin all seine Potenzialität aufgeben zu müssen: Vor dem Hintergrund Ihres klaren Neins zum einen, und weil das hier zu Ende geht, zum anderen.« Er hört mir aufmerksam zu, ich kann weitermachen mit meinem skurrilen, schwer verständlichen Monolog. »… unendliche Traurigkeit, weil ich dieses kosmische Bild, diesen abgeschlossenen Raum verlassen muss.« »Sie sehen«, er räuspert sich, »dass es gar nicht so sehr um mich geht. Ich bin weit entfernt davon, Ihre Gefühle mit Übertragung abzutun, aber die Figur in diesem Spiel ist doch austauschbar. Ging das mit Jurij nicht zu Ende, als Sie hierher kamen?« »Hmm …« »Charakteristisch für diese Figuren ist doch, dass Sie mit ihnen nie einen Alltag gelebt haben. Mit keinem der genannten: mit Ihrem Biologielehrer nicht, mit Ihrem Professor nicht, mit Jurij nicht, mit dem haben Sie sich in Hotels geliebt, und mich kennen Sie nur hier, wo ich … Ihnen zuhöre.« Vielleicht wollte er sagen: Wo ich zu Ihrer uneingeschränkten Verfügung stehe. In Anbetracht der Tatsache, dass er eben genau das nicht tut, verkneift er sich wohl besser solche Fallstricke. »Mit Rufus haben Sie den Alltag: Sie müssen sich mit der Realität, in der Sie leben, mit all Ihren Unliebsamkeiten auseinandersetzen. Wenn Sie mit mir den Alltag erleben würden, wenn Forderungen ins Spiel kämen – die ja hier keine Rolle spielen –, würden Sie feststellen, dass ich eben keine langen Beine, sondern einen langen Oberkörper habe, und Sie würden feststellen, dass Ihre Fantasie und Ihre Vorstellung nichts mit dem zu tun hat.« »Mir ist das egal, ob Sie tatsächlich lange Beine haben oder nicht. Das gehört zu meiner Idealisierung, gehört zu meinem Traum.« »Da, sehen Sie?« Er schlägt mit der flachen Hand triumphierend auf die Kopfstütze der Couch. »Da haben Sie es doch: Sie wollen die Realität gar nicht, Sie wollen Ihre Vorstellung!« »Ja, kann sein, zum Teil, aber die ist doch untrennbar mit Ihnen verbunden«, antworte ich inzwischen etwas erschöpft. Er kapiert einfach nicht. »Es kann ja sein, dass ich eher in Ihr Beuteschema passe als der eine oder andere Kollege …« »Es geht nicht um Beuteschemen, nicht um äußerliche Attraktivität«, falle ich ihm jetzt etwas ungehalten ins Wort, »es geht um Ihr Charisma, Ihren Sinn für Situationskomik, Ihre Schlagfertigkeit …« »Och, schade, jetzt wollte ich mir gerade schon was einbilden!« »Hören Sie doch auf, Hirtberg, solche Typen hatte ich auch, schön, aber so langweilig! Auch Rufus hat mich ja mehr mit seiner Art, die Welt zu sehen, mit seiner Ausstrahlung und seinem So-und-nicht-anders-Sein gefangen genommen. Es geht, bitte, nicht um Äußerlichkeiten. Dass ich Rufus auch attraktiv finde, ist zweitrangig«, sage ich und denke, dass es ebenso zweitrangig ist, dass ich ihn, Hirtberg, 307 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

attraktiv finde, wobei in beiden Fällen die jeweilige Attraktivität die Summe von sehr viel mehr ist. »Ja, bei Ihrem Russen war das doch so, dass Sie ihn erst eigentlich gar nicht so recht als Sexualpartner in Erwägung gezogen hatten …« »Nein, Hirtberg, da sehen Sie etwas falsch. Fasziniert hat mich dieser Russe vom ersten Augenblick an seine Ausstrahlung, seine Kraft und Lebendigkeit, seine Unverblümtheit. Mit Ihnen war es nicht viel anders: Sie zeigten sich, und das mit Humor, gleich in der ersten Stunde, wo ich nur Autorität, Strenge und Disziplin gerechnet habe. Sie haben mich überrascht.« Dann halte ich mich zurück mit weiteren Liebesbeteuerungen, zumal immer deutlicher wird, dass es nicht – oder jedenfalls nicht ausschließlich – um ihn, Max Hirtberg, als Person zu gehen scheint. »Sie haben eine Idealvorstellung von einer Beziehung, und die projizieren Sie kurzerhand auf mich«, stellt er fest und lehnt sich in seinem Sessel zurück, als sei damit alles gesagt. »Zu fünfzig Prozent mag das stimmen, aber die anderen fünfzig Prozent gelten Ihnen, Hirtberg.« In meine Beharrlichkeit mischt sich die Frage, ob er nicht vielleicht doch recht hat. »Die Realisation Ihrer Träume – nicht das Ende der Therapie! – wäre das Ende Ihrer Träume.« »Doch, denn mit dem Ende und Ihrem Nein – wobei Letzteres das Ausschlaggebende ist – bricht die gesamte Potenzialität weg.« »Die Potenzialität ist die Basis für Ihre Vorstellungen, auf denen Sie dann ein ganzes Konstrukt, Ihren persönlichen Film aufbauen?« »Ja, und jetzt ist die Potenzialität – und mit ihr alle Hoffnungen auf Realisierung des Idealfalles – einer Realität gewichen, die eben nicht so aussieht, dass wir die Welt umreisen oder im Straßencafé über die Leute lästern. Oder im Bett herumliegen.« Würde ich mir, wären wir ein Paar, wieder einen neuen Traum suchen, ein bunteres Bild malen, eine neue Fantasie, einen eigenen Raum zurechtzimmern? Hirtberg bleibt sachlich: »Die Frage muss doch sein: Welche Funktion hat dieser Traum?« »Vielleicht eine Parallelwelt zur Parallelwelt.« »Wie meinen Sie das?« »Na, viele Essgestörte bilden ihr Symptom gewissermaßen als eigenen Raum aus, als Rückzugsort, sei es bewusst oder unbewusst, absichtlich oder unabsichtlich – so jedenfalls wird es in der Literatur bisweilen beschrieben. Keine Ahnung, wie das bei mir ist … Gab es zwei Parallelwelten? Es ist so gemein«, regrediere ich maulend, »die Bulimie, meinen Rückzugsraum, wenn sie denn einer war, ist so gut wie weg, und jetzt muss ich den anderen auch noch aufgeben.« Ich fühle mich kindisch und blöde, weil mir die adäquaten Worte fehlen für das, was ich gern in elaboriertem Code zum Ausdruck bringen würde. 308 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Das müssen Sie doch gar nicht! Ihn aufzugeben, würde bedeuten, ihn in die Realität zu überführen – und genau das wird nicht der Fall sein, ebenso wenig wie es bei Ihrem Biolehrer, dem Professor und dem Russen der Fall war.« »Und wie, bitteschön, soll ich angesichts der Gewissheit, dass Sie mich nicht attraktiv finden, meine Träumerei fortsetzen?« »Ich habe nicht gesagt, dass ich Sie nicht attraktiv finde. Ich habe nur gesagt, dass ich mir eine Beziehung – eine andere als diese – nicht vorstellen kann. Ich finde Sie attraktiv und Sie finden mich attraktiv und das ist es. Warum und welche Bilder müssen da verschwinden? Ich wiederhole: Die Umsetzung in die Realität würde das Aus bedeuten.« In der nackten Realität fühle ich mich allem Ungemach ungeschützt ausgesetzt, ausgeliefert, entgrenzt, konturlos, undefiniert. Die Existenz einer Parallelwelt macht mich positionierter und ich fühle ich mich irgendwie geschlossener. »Ich habe Schwierigkeiten, der Krankenkasse gegenüber die Notwendigkeit einer weiteren Verlängerung zu formulieren, das ist das Problem.« »Und ich glaube, dass wir jetzt nicht nur am Ende der Therapie, sondern auch an einem ganz wichtigen Punkt angekommen sind …« »Man darf nicht noch mal mit der gleichen Krankheit kommen, innerhalb von zwei Jahren.« »Na dann denken Sie sich doch einfach etwas anderes aus!« Ich spüre, dass ich diese Welt nicht verlassen will. So wie ich auch die Welt am Gardasee nicht verlassen wollte, wo Rufus mir am letzten Tag mehrfach sagte, dass er sehr wohl bemerke, wie schwer mir der Abschied von hier fiele, und Abschiede generell. In der Tat, ich wäre so gern dort geblieben. Am frühen Abend hole ich Anna in ihrer Wohnung ab. Es ist einigermaßen warm, man kann draußen sitzen, was ich sehr schätze, weil ich dann rauchen kann. Spart Kalorien. Sie erwähnt die – auch in Fachkreisen geführte – Diskussion, ob eine Analyse jemals endet, ja, ob sie überhaupt enden darf. »Muss mich mit dem Thema mal beschäftigen«, sage ich, »natürlich bin ich der Auffassung, dass sie im Prinzip niemals endet. Wer sich einmal auf diesen Prozess einlässt, kommt da nicht mehr raus.« »Ja«, sagt Anna, »denk nur an Tilmann Moser, der mehr als vierzig Jahre Therapie dokumentiert hat, und das auch noch sowohl aus der Sicht des Analysanden als auch aus der des Analytikers, er ist ja beides …« »Ja, ich weiß«, antworte ich abwesend, »du, Anna, Hirtberg hat eine Freundin«, sage ich und steuere zielstrebig auf das italienische Lokal zu, in dem ich oft mit Timo gesessen habe. Der Oberkellner ist magersüchtig, auf jeden Fall krank, aber sehr zuvorkommend. Offenbar hat er nicht viel zu tun, knipst die welken Blüten aus den Petunien, die in üppiger Pracht die Terrasse einfassen. Anna schiebt umständlich den Stuhl so, dass sie das Geschehen auf der Straße gut im Blick hat. 309 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Was hast du eben gesagt? Hirtberg hat eine Freundin?« Sie guckt mich erstaunt an. »Ich habe den doch vor kurzem noch in der Stadt gesehen, allein …« »Das heißt doch nichts, Anna, guck mich an, ich bin verheiratet und man sieht mich auch allein.« »Du bist ja auch nicht richtig verheiratet«, grinst sie, »so lange ich dich kenne, bist du immer irgendwie gebunden, dabei aber frei, wenn du gehen willst, gehst du, und wenn du nicht gehst, träumst du.« »Anna!« »Was?« »Ich liebe Rufus.« Sie bestellt Antipasti, sonst nichts. Ich schäme mich etwas, weil ich eine Pizza bestelle, normale Größe, und diese auch zu essen gedenke. Peinlich ist mir das immer noch. »Mich erinnert das hier alles an Timo.« »Was macht der eigentlich«, erkundigt sie sich, »geht’s ihm gut? Seht ihr euch?« »Ja, ziemlich regelmäßig. So, wie es jetzt ist, habe ich mir das vorgestellt. Es ist gut, freundschaftlich … Er hat abgenommen, und als ich letztens mit ihm telefonierte, klang er bedeutend weniger matt als früher, er fühle sich jetzt, knapp fünfzehn Kilo leichter, klarer im Kopf, sagt er, die Watte aus seinem Kopf sei verschwunden, er schwitze viel weniger und könne sich besser konzentrieren … Er hat mir ein paar Bilder geschickt, Anna, ich sage dir, eine Komplettmetamorphose!« »Was soll das heißen?« »Nichts. Ich sage nur, dass er viel besser aussieht und dass er die Schritte, was seine eigene Persönlichkeitsentwicklung betrifft, früher hätte unternehmen sollen.« Dann erzählt sie mir in epischer Breite, wie sie ihren Banker mit dem Fensterputzer verwechselte, präsentiert mir, ein wenig verschämt, ihr Seniorenhandy, nicht ohne mir in der ihr eigenen, sehr anschaulichen Art die Geschichte aufzutischen, wie sie in den Besitz diese klobigen, immerhin sehr übersichtlichen Gerätes kam. »Weißt du, ich konnte nicht mal die Tasten erkennen, geschweige denn die Ziffern darauf, und die ganzen Funktionen brauche ich auch nicht, da sagte der Handyverkäufer, guckt mich so an«, sie macht vor, wie er sie gemustert hat, »ja, dann nehmen Sie doch eins für Senioren!« Nachdem wir gezahlt haben und ich die Geste des Hauses – in Form von Grappa nach meinem Dafürhalten eher eine Zumutung – zu Anna rüberschiebe, sage ich: »Anna, ich kann die Analyse nicht beenden, ich will die Hirtberg-Story nicht loslassen, zum Verrecken nicht. Ich habe Angst vor der geschichts- und fantasielosen Zeit.« »Kannst du nicht Bücher schreiben? Du hast doch genug Geschichten im Kopf. Oder nimm den umgekehrten Weg: Mache die Realität zur Fantasie … oder so ähnlich«, sagt Anna, und: »Du idealisierst ihn immer noch, komm doch mal runter, werd doch mal wütend, weil er dich nicht begehrt, zum Beispiel, macht dich das nicht sauer?« »Nein, traurig, Anna, das ist ein Unterschied«, sage ich, als ob sie das nicht wüsste. 310 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wir reden noch ein wenig hin und her, entscheidend an diesem Abend ist nur ein Satz: »Du, ich glaube, das ist so ein einsamer Wolf. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er eine Freundin hat. Der arbeitet viel und sitzt da in seiner Kemenate herum, schreibt, hält Vorträge, besucht Kongresse … so was eben.« Auf der Heimfahrt nach Folzheim webe ich mich in einen anderen Kokon, konzentriere mich auf Rufus, freue mich auf die Realität mit ihm, auf die Pferde, die Reiterei: Bislang einer meiner Rückzugsräume, teile ich diesen jetzt mit Rufus. Meine Räume – die Pferde, die Artistin, Jurij, meine Wohnung – und die Krönung: die Analyse. Was mache ich jetzt ohne? Ohne die Artistin, ohne Jurij, ohne meine Wohnung und ohne die Krönung, vor allem: Die ist doch nicht steigerungsfähig! Heimlichkeit. Ich habe immer gelogen. Nur da war ich sicher. Die Realität, verkörpert durch Gerhard und Dietlinde, die Schule, die Uni, schließlich die Organisation, war bedrohlich. Wenn ich war, so wie ich war, war ich falsch, aber immerhin authentisch. Wenn ich war, wie ich sein sollte, war ich richtig, aber fühlte mich falsch. Also war immer alles falsch. Ich störte, wäre lieber in der Gebärmutter geblieben, hätte ich denn die Wahl gehabt. So schuf ich erst die Heimlichkeit, dann die Lüge, entwickelte beides weiter zu meinen Räumen, zu denen niemand Zutritt hat. In die ich mich zurückziehen konnte. Kann. »Meine Frage, Hirtberg, brauche ich einen solchen Raum heute noch? Wenn ja, wie kann der aussehen?« »Wozu soll der denn dienen?« »Keine Ahnung.« Ich bin nicht bei mir, nicht bei ihm. »Was ist Ihnen?« Er beugt sich in seinem Sessel vor. Ich spüre das. »Was ist Ihnen«, fragt er noch mal, »Sie wirken so traurig.« »Ich bin traurig … Was habe ich denn noch, wenn das hier ein Ende hat?« »Schauen Sie, es ist ein bisschen wie mit einem guten Buch, das man ausgelesen hat. Unser beider Erfahrung zeigt doch, dass es immer wieder ein neues gutes Buch gibt.« »Das hier ist nicht steigerungsfähig. Was soll denn da noch kommen? Die Analyse ist die wichtigste Erfahrung meines Lebens, und jetzt sagen Sie bitte nicht: ›Frau Thieme, Sie idealisieren gerade die Analyse.‹ Übrigens weiß ich inzwischen, warum ich mich hier so wenig geärgert habe: Das liegt an meiner Idealisierung, die ich auch nicht gedenke dranzugeben.« »Das ist aber dann eine bewusste Entscheidung.« »Ja, natürlich ist es das. Glauben Sie, ich wüsste nicht, was ich tue? Ich idealisiere, was das Zeug hält. Bei vollem Bewusstsein. Ob mir das den Abschied leichter macht, sei dahingestellt …« »Es ist ein Prozess, der sich aus der Situation heraus beendet. Sie sind weggezogen, haben einen neuen Lebensabschnitt begonnen, es geht ja auch rein terminlich311 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

organisatorisch nicht mehr. Das bin nicht ich, der sagt, ich beende jetzt die Analyse. Aber ich sehe Sie auch nicht mehr als krank. Sehen Sie, das ist eine Krankenkasse, die das hier bezahlt, und ich hätte kein gutes Gefühl, der Gutachterin zu sagen, die Frau ist immer noch krank und braucht weitere sechzig Stunden.« »Ach, Sie meinen, ich brauche die nicht mehr?« »Nein, ich sehe Sie nicht mehr als krank.« »Mit dem Essen ist es besser geworden, ja …«, sage ich, verfüge mich dann aber mal eben in meinen Raum, stelle mir mich richtig dünn vor, beschreibe Hirtberg, dass und wie ich mich immer noch dick fühle, dass ich immer noch Kalorien zähle. »Ich bin immer noch essgestört und habe meine Körperschemastörung, aber in einem Maß, das ich ertragen kann. Ich bin ja auch nicht nur traurig. Aber durch die Bearbeitung der Notizen mache ich alles noch mal durch, viele Dinge, die ich schon vergessen habe.« Ich denke an die frühen Kapitel, an den Boden, der trägt, nehme seine Stimme so bewusst wahr, als hörte ich sie zum letzten Mal, spüre die Tränen und bekomme über diese Fokussierung auf seine Stimme den Inhalt dessen, was er sagt, überhaupt nicht mehr mit. Es ist heiß. Hochsommer. Vor vier Jahren haben wir angefangen. … and how do I know if you’re feeling the same as me, and how do I know if that’s the only place you want to be? Singing songs about hopes, about schemes, ooooh they just came true, and if you want it too, there’s nothing left to do … Was kommt, wenn das hier zu Ende ist? Dass wir weitermachen, ist mehr oder weniger klar. Trotzdem hat dieser Abschnitt ein Ende. Bald. »Natürlich waren wir nie Freunde, Sie waren nie mein Freund und ich war nie Ihre Freundin. Für einen Freund möchte ich auch da sein, etwas von ihm erfahren.« »Sie haben doch eine Menge von mir erfahren.« »Ja, natürlich, und ich habe nicht ein Fitzchen davon vergessen … Manchmal habe ich mich gefragt, was Freud wohl dazu gesagt hätte.« »Wozu?« »Na, dass Sie mir doch einiges erzählt haben!« »Der? Gar nix! Seine Adepten hätten sich echauffiert, so gesehen war Freud der einzige Freudianer.« Er begreift sich, so gesehen, in dessen Tradition stehend: ein echter Freudianer, der nicht den gesamten Analytiker rigoros entpersonalisiert oder entindividualisiert oder noch anders: verdinglicht. »Natürlich ist das traurig, das die – ich sage es jetzt mal ganz vorsichtig: kassenseitig verordnete hochfrequente – Analyse zu Ende geht. Zumal, wenn die Chemie, wie bei uns, erfreulicherweise gestimmt hat – oder stimmt. Aber das waren doch Sie, die diese Form, nicht erst jetzt, sondern vor etwas mehr als einem halben Jahr, beendet hat. Sie sind nach Folzheim gezogen, haben sich, sicher nicht zuletzt vor dem Hintergrund dieser Veranstaltung, für ein anderes, ein neues Leben entschieden.« 312 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Rufus und ich sind auf dem Weg nach Bad Bolzen, um Jurij zu besuchen. Während der Fahrt reden wir fast nur über Pferde, die Reiterei und alles, was damit zusammenhängt, wobei Rufus das, was damit zusammenhängt, erheblich unterschätzt. Was ich ihm auch sage, und: »Ich will nicht, dass du reitest, nur weil ich Pferde liebe, abgesehen davon haben wir eigentlich beide keine Zeit«, sage ich in bester Kenntnis der immensen Umstände, die ein Pferd, neben aller Freude, macht. »Aber gut, jetzt haben wir Dana, gucken wir mal, was passiert.« »Warum kannst du das denn nicht einfach annehmen? Ich liebe dich, auch deshalb will ich reiten. Das geht doch nicht«, entrüstet er sich, »dass ich eine Frau habe, die Pferde liebt und ich nicht mitmache!« Nach wie vor bezweifele ich, dass Rufus bei seinem Arbeitspensum dazu kommt, regelmäßig Reitstunden zu nehmen, von Pferdepflege und Zuwendung ganz zu schweigen. Aber er ist die treibende Kraft, auch, was ein weiteres Pferd betrifft. Er will partout sein eigenes Pferd, und jetzt ist es diese riesengroße Stute, in die er sich Hals über Kopf verliebt hat. »Hazel ist doch eher dein Pferd«, sagte er, womit er, was die Beziehungsebene betrifft, wahrscheinlich sogar recht hat. »Was für eine Zeit, überleg mal, in den paar Wochen seit unserem Reiturlaub ein Pferd gesucht und eine Prinzessin gefunden!«, ruft er begeistert, als säße ich nicht neben, sondern galoppierte bereits mit dem Wind hinter ihm her. »Deine Prinzessin, Rufus. Und wir sind dabei wirklich Scheiß-Böcken begegnet und Leuten, die uns schier verarschen wollten.« Ich erinnere mich an diese arthritische Stute in Recklinghausen, bildschön, aber lahm auf den Knochen, dann die beiden in Saarlouis, von denen sich der als »Seelchen« angepriesene Fuchs als Klepper entpuppte und der Schimmel als nervenschwaches Energiebündel, das zudem auch noch hundsmiserabel geritten war. Einzig die Kaltblutstute in Wintersdorf: eine Göttin, Dunkelfuchs mit weißem Behang, bildschön, aber eben jung und in den Anfangsgründen ihrer Ausbildung: Selbst ich als erfahrene Reiterin fühle mich auf ihrem breiten Rücken wie ein Boot auf hoher See, zu viel Pferd, ich kann sie nicht richtig packen. Wie soll ich sie dann so ausbilden, dass Rufus sie reiten kann? Diese Integration, wie Hirtberg unseren Ausbau eines gemeinsamen Hobbys wohl nennen würde, bedeutet für mich natürlich auch den Verlust eines Rückzugsraumes. Die Pferde waren nie mein Hobby, sondern eine Leidenschaft, eine Lebenseinstellung, wenn man so will, und das ist bis heute so. Dana erweist sich als ehrlich, aufmerksam, gut erzogen, riesengroß, schweres Warmblut eben. Ihr goldenes Fell ist kurz und glänzend. Rufus mag ihren Blick, zwinkert ihr zu, bevor er ihre Box betritt, um sie zu streicheln und mit Leckerli zu füttern. Kiloweise schleppt er das Zeug in den Stall. »Guck mal, sie nimmt Kontakt zu mir auf, sie kapiert sehr schnell …« »Die betrachtet dich als Artgenossen, wenn sie ihren Kopf so an deiner Schulter schubbert«, amüsiere ich mich, »das ist übrigens ein Zeichen von Respektlosigkeit.« 313 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Egal, sie ist eine vollendete Skulptur«, sagt Rufus. Zärtlich streicht er ihr über den Rücken. »Guck doch mal, allein schon diese Linie, und hier … Wie sie jetzt steht, das ist kein Pferd, das ist ein Kunstwerk!« Mir wäre es lieber, er würde ihr mal langsam die Hufe auskratzen und sich endlich angewöhnen, die Trense immer am Genickstück anzupacken. Er faltet sie zusammen wie ein Handtuch und ich kann jedes Mal diesen verknoteten Haufen entwirren. »Sie hat so einen schönen Gang«, sagt Rufus, »sie geht nicht, sie schreitet!« Obschon mich seine Begeisterung sehr anrührt, bleibe ich skeptisch, ein wenig distanziert. Wie lange hält das an? Stehe ich am Ende allein da mit diesem Kunstwerk, weil der Künstler anderes zu tun hat? »Deswegen heißt die Gangart ja auch Schritt. Viertakt ohne Schwebephase.« »Und im Trab federt sie, ganz elegant, und wirft die Füße!« »Ja, der Trab ist nun mal eine Gangart im Zweitakt mit Schwebephase.« Mir geht meine eigene Sachlichkeit auf den Geist, aber ich habe das alles so gelernt. Also richte ich mein Pferd gerade und reite es. Vorwärts. Takt – Losgelassenheit – Anlehnung. Nachdem die Skulptur sich erst sperrt und den Rücken wegdrückt, ist sie gegen Ende meiner ersten Reiteinheit bei mir, ich habe sie am Kreuz und bin total begeistert: von Dana, aber auch von mir, dass ich es schaffe, sie zur Durchlässigkeit zu bringen. Ich spüre sie. Mein Gott, wie viele Reitlehrer brüllten mich an: »Nun fühl doch mal, was dein Pferd braucht!« Hände weg vom Pferdemaul! Dietlinde ist das nicht. Um Loschad, mein altes Pferd, um meinen kleinen Therapeuten, wie Timo ihn immer nannte, mache ich mir Sorgen. Im Bergischen hängt der Hausfrieden schief, anders ausgedrückt: Mona und Claus haben sich getrennt, Mona ist kurzerhand ausgezogen und hat Loschad vom Hof genommen, den ich zu seinem Alterssitz erkoren habe, und ihn auf eine Sommerweise gestellt, wo er jetzt abmagert, weil nicht beigefüttert wird, wo er aber immerhin das hat, was ich für ihn wollte: ein artgerechtes Dasein. So artgerecht muss es dann aber auch wieder nicht sein: Da werde ich mich einschalten. And how do I know if you’re feeling the same as me … and how do I know if that’s the only place you want to be? Die Spätsommersonne neigt sich dem Horizont, die Autobahn ist frei, ich fahre, wie ich will, ignoriere sämtliche Verkehrsregeln, genieße die Geschwindigkeit und das Alleinsein mit mir und meinen Gedanken, Träumen und Fantasien. Vor meinem geistigen Auge entschwebt Hirtberg in einer Aureole aus irisierendem Licht in optisch-kompositioneller Verlängerung des Straßenverlaufs gen Himmel, der indigofarben schon wieder ein Gewitter erwarten lässt. Nein, das Paradies verlass ich, nein, meine Suppe ess ich nicht! Vor dieses Bild schieben sich Szenen der Nacht. Rufus und ich, miteinander verknotet, verwoben, seelisch und körperlich, die 314 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

erotische Linie unterhalb seines Bauchnabels, ich zeichne sie nach, immer wieder, rauf und wieder runter, langsam, zärtlich. Später fällt mir Jurij ein, den ich körperlich nie besonders attraktiv fand, auch nicht, als wir auf der Terrasse seines Palastes aus Glas und Marmor saßen, mein mafiöser Russe im dicksten Klinsch mit seiner farblosen Gattin – vor Jahren hätte mich das hoffen lassen – und im engen Schulterschluss mit Rufus, Männersolidarität. »Wenja, wenn du bleibst in Organisation, channst du benutzen gute Name für dein eigene Projekten …« Er wirft Rufus – nicht etwa mir – vielsagende Blicke zu. Rufus steigt ein, lacht. »Wenn du das begreifst, umsetzt und dabei auch noch an dich und deinen Erfolg glaubst, stehen dir alle Türen offen!« Blödsinn, denke ich, steige nicht ein, sondern eher aus, picke in dem russischen Zupfkuchen herum. Die haben beide keine Ahnung und überschätzen sowohl mich als auch die Organisation maßlos. Unter dem Aspekt äußerlicher Attraktivität schmiert Jurij im Vergleich zu Rufus kläglich ab, hält aber unverändert meiner kritischen Wahrnehmung stand: Ausstrahlung, »welcher Mann, mein Zauberer, mein Zauderer, verfügt schon über Charisma?« Das schrieb ich vor Jahren über Jurij, gerade hier am Tisch fällt es mir wieder ein, und weiter: »Ich schreie laut: ›Ich liebe dich, du Idiot‹, und es klingt, gleichsam die Zukunft beschwörend, wie: ›Ich kriege dich, du Idiot.‹« Irgendwie habe ich mit Hirtberg eine Art Jurij und mit Rufus eine Art Hirtberg gefunden. Anders gesagt: Menschen, die verkörpern, was ich mir für mich selbst wünsche. »Sie haben Angst, dass Ihr Symptom zurückkommt, wenn Sie gehen. Sie verweigern sich zu gehen.« »Ja, ich weigere mich. Entschieden.« Er lacht sein unnachahmliches Lachen. Ich beschreibe ihm die Situation auf der Terrasse bei Jurij. »Rufus hat ganz viel von Jurij …« »Schauen Sie mal genau hin: Auch da geht es nicht so sehr um die Figuren, sondern um Eigenschaften, nach denen Sie sich sehnen: Mut, Abenteuerlust, Risikobereitschaft, Fantasie, Intellektualität, Charme, Freiheit. Das sind die großen Themen, die in Ihrer Familie keine Rolle spielten: Ihr Papa, selbst Gefangener seiner materialistisch-rationalen Welt, bot Ihnen keine Innenräume, im Gegenteil, die wurden platt geredet, negiert.« »Hirtberg, bitte, ich habe keine Lust, über Gerhard zu reden, und ich habe auch keine Lust, über mein Studium, von dem ich mich heute frage, warum ich es eigentlich gemacht habe, zu reden.« »Sie haben sich mit den Geisteswissenschaften ja auch einen Bereich ausgesucht, mit dem Sie Innenräume betreten.« »Ich sage doch: Ich habe keine Lust, darüber zu reden. Das hat nichts mit dem 315 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

zu tun, worauf ich hinaus will, nämlich auf meine Fantasiewelten, die immer auch mit Männern zu tun haben.« Im Hinterkopf die Frage: Jurij als Ersatz für Hirtberg? Das behalte ich für mich, Notausgang. Peinliche Fluchtgedanken. »Sie haben einen tollen Mann, eine Superbeziehung, einen Partner, der zu Ihnen passt und der ganz viele Ihrer Sehnsüchte erfüllt, das meine ich umso mehr, nachdem ich Rufus jetzt mal erlebt habe.« »Sie meinen bei der Eröffnung?« »Ja.« »Eine Fachfrage, Hirtberg«, wechsle ich das delikate Thema, »wenn jetzt die Neurose, die Bulimie, sagen wir mal: verschwunden ist, und wenn doch so viel Leid bleibt, bewusst wird, ja sogar neues Leid entsteht: Ist das die Transformation des neurotischen Leidens in alltägliches Leid? So beschreibt Freud doch das als Ziel der Analyse, oder?« Abwehr!, brüllt Vincent in den Dialog. Ich habe ihn so lange nicht gesehen. »Ja, wenn Sie so wollen. Das ist ein ganz spezieller Teil … Was bleibt, ist die Sehnsucht. Sie werden nicht erlöst.« »Das ist das alltägliche Leid?« Mir fehlen die Worte zur Beschreibung dessen, was in mir vorgeht. Etwas geschieht auf rationaler und emotionaler Ebene gleichzeitig, und ich spüre, dass es genau richtig ist, dass unsere Form der Analyse genau richtig ist. »Sie haben auch Ängste, dass Sie das alles hier, die Innenräume, aufgeben müssen, dass Sie das alles verlieren …« »Ja, es ist paradox, aber es ist genau so: Wenn ich hier raus gehe – und zwar im konkreten wie im übertragenen Sinne – spüre ich die Enge der Realität.« »Sie spüren das, womit Sie gekommen sind.« »Was ich aber damals nicht gespürt habe.« »Sie haben es gespürt. Sie konnten es nur nicht benennen.« Die Katze beißt sich in den Schwanz, den langen … Hirtberg guckt mich ernst an: »Eine Analyse führt sich ad absurdum, wenn Sie dem Bild der Analyse – von Freud und seinen Nachfolgen gezeichnet – entsprechen, wenn es ein Schema dafür geben soll. Es gibt kein Schema.« Hier aber, in der Organisation: Schlack hat Geburtstag. Belegte Brötchen, Gürkchen, Kuchen. Man diskutiert die Herkunft von Mottenlarven in Grieß oder Mehl, nennt seine bevorzugten Marmeladensorten, faselt über Emil Schuhmacher. Ich starre auf das Porträt des längst verstorbenen Königs, der sich gewiss im Grabe umdreht angesichts dessen, was unter dem Regiment der Königin in seiner Organisation alles nicht geschieht. Die Augen fallen mir fast zu. Mehr als ein Stück Pflaumenkuchen esse ich nicht. Die Analyse wirkt. 316 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wir erheben uns. Noch vor einem Jahr drängte ich mich geradezu auf, beim Spülen zu helfen. Quandt erhebt sich und kommt gar nicht auf die Idee, Tellerchen zusammenzustellen, geschweige denn, beim Spülen zu helfen. Ich stelle immerhin Tellerchen zusammen, um dann in seinem Büro mit ihm – pro forma – das eine und das andere zu besprechen. Inhalte spielen hier so wenig eine Rolle wie an der nun verwaisten Kaffeetafel.

317 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Die Katze beißt sich in den Schwanz

A

uf dem Weg zur Praxis quält mich Bauchgrimmen. Doch, er wird es annehmen. Nicht orthodox, hat er meine Bücher ja auch angenommen. »Es hat mit Ihnen zu tun, deswegen der Titel ›Ambivalenz‹ oder eben, konkret auf Sie bezogen: ›Vanitas‹«, erkläre ich knapp. »Ach, Sie spielen auf meine Eitelkeit an?« »Ja klar, Ihre. Wessen denn sonst?« Er nimmt das bleischwere, speziell für ihn angefertigte Mosaik entgegen. Geschafft. Jetzt wird er es ja wohl nicht zurückgeben: Nein, das werde ich nicht annehmen, hören Sie, ich bin nur Ihr Analytiker. Ich traue meinen Augen kaum: Mein Analytiker hat einen Gesichtsausdruck, dessen zu Gunde liegenden Affekt ich als Berührtsein etikettieren würde. Tja, langsam kann ich das auch. Nie und nimmer geht dem das hier alles ab wie das Wasser an der Ente, ich glaube, dass er mich mag. Ja. Lieber wäre mir, er wäre scharf auf mich. Vor ihm, auf diesem kleinen eichenhölzernen Beistelltischchen, das weder zu ihm noch zur Einrichtung des Zimmers passt, liegt mein Inhaltsverzeichnis – eine Art Übersicht, um genau zu sein: eine Tabelle, in der ich den Korrekturstatus meiner Notizen dokumentiere, sonst steige ich da selbst nicht mehr durch. Zufällig fällt sein Blick ausgerechnet auf die Zeile, in der steht: »Hirtberg hat gar keine Freundin!« »Was steht da?«, er guckt noch mal hin, kommentiert das Ganze mit seinem typischen, etwas eruptives Lachen. »Ach, ist doch egal jetzt, vergessen Sie’s einfach. Oder nehmen es als das, was es ist: eine meiner geheimen Assoziationen«, sage ich, allenfalls halb verlegen. Versucht, ihn aufzufordern, sich doch etwas zugeknöpfter zu geben, sinke ich, sommerlich mit einem Rock bekleidet, auf die Couch. Und er sitzt da, in einem exakt zu seinem beigefarbenen Sommeranzug passenden, bis zum vierten Knopf geöffneten Hemd. Ich zähle noch mal nach. Gucke, ob einer fehlt. Nein. Ich finde das fast eine Zumutung. Sehnsucht, die keine Erlösung finden wird. Wir reden über Fülle, über meinen Zeitmangel, meine Unfähigkeit, mich auf die Schreiberei zu konzentrieren, die tatsächlich gar keine Unfähigkeit ist, sondern ein Umstand, der in den gegebenen Umständen wurzelt. »Sie werden sich daran gewöhnen müssen, an mehreren Fronten gleichzeitig zu

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kämpfen. In der Organisation hatten Sie das Privileg, sich komplett auf eine Sache zu konzentrieren, das ist jetzt anders.« »Na, hoffen wir mal, dass sich die Gelegenheit ergibt, an verschiedenen Fronten zu kämpfen.« »Richten Sie sich verschiedene Arbeitsplätze ein, am besten sogar mit zwei Rechnern, dann sind Sie immer assoziativ schon auf die Sache eingestellt, die gerade ansteht.« »Mir macht das ja alles Spaß: das Reiten, das Schreiben, selbst die Arbeit für die Organisation, so denn welche anfällt.« »Das ist ja nicht das schlechteste Ergebnis für eine Analyse, wenn der Patient am Ende einer solchen Fülle begegnet«, lächelt er, »gleichzeitig begegnen Sie natürlich Ihrer eigenen Endlichkeit: Alles werden Sie nie schaffen.« Rufus und ich ergänzen uns, was dies betrifft. Er schafft auch nicht alles – und steckt in der Krise. Weltschmerz. Ist ja schon gut, Gerhard. Ich versuche, ihn ernst zu nehmen, obwohl es mir schwer fällt. Spätestens in seinem, nun gut, nennen wir es Weltschmerz, verliert er mich komplett aus den Augen. Es geht nur um ihn. »Mir ist klar, dass einiges in meinem Leben gescheitert ist – oder zu scheitern droht …« Er guckt mich an, als hätte er mir damit etwas völlig Neues offenbart. Es gibt niemandem, der nicht scheitert, an dem einen oder anderen Punkt. Warum sollte es bei ihm anders sein? »Und, wie gehst du jetzt um mit dem, was du Scheitern nennst? Hadern oder radikale Akzeptanz? Ich würde vorschlagen: Letzteres. Die dann aber richtig, Rufus, das bedeutet: Löschung bestimmter Vorhaben.« »Erst mal geht es darum, meine Situation transparent zu machen. Meine Arbeit lebt von meiner sprichwörtlichen Potenz, in diesem Zusammenhang: von einem Übermaß an Einsatz und Willen, ich gebe alles …« »Das stimmt.« »… und jetzt geht das nicht, weil ich angeschlagen bin«, klagt er, »meine Achillessehne verweigert ihren Dienst, einfach überlastet, jede Bewegung schmerzt, ein grauenhaftes Gefühl für einen Macher. Und schon habe ich ein Problem mit dem bedingungslosen Einsatz. Die Finanzen stehen auch nicht zum Besten.« »Sehe ich auch so. Deswegen ist es wichtig, was du dir in Sachen Studium überlegt hast. Mach diese staatliche Anerkennung. Ich weiß, dass du lieber frei bist, aber die Freiheit im Kopf nimmt dir ja keiner. Abgesehen davon hast du als Lehrer …« »Ich werde kein Lehrer, jedenfalls keiner mit betonierter Festanstellung!« Seinen Willen zur Freiheit verteidigt er bis aufs Blut. »… vielleicht mehr Freiraum als im Augenblick als Unternehmer, der selbst angeschlagen noch Fassaden anpinseln muss.« 319 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Irgendeine Kurve habe ich nicht gekriegt, dass ich jetzt, mit einundfünfzig Jahren, Existenzsorgen habe und mit meinem ganzen inhaltlichen Kosmos nicht wirklich integriert bin. Ich bin zum Teil eben auch eine tragische Figur, irgendwas habe ich falsch gemacht …« »Ja, hast du, wahrscheinlich. Ich auch. Alle haben das. Und? Das kannst du jetzt nicht mehr ändern, zumal du nicht genau benennen kannst, was du falsch gemacht hast. Aber du kannst dich trennen von dem, was offenkundig nicht läuft. Zugunsten von etwas anderem. Man muss sich trennen können. Und das dann auch tun.« Mein Idealist. Intelligent, unakademisch intellektuell, begabt, aber nicht wirklich erfolgreich, abseits des Mainstreams in Tagträume verstrickt, so beschreibt er sich, fühlt sich allein, isoliert, unverstanden und von gesellschaftlichen Entwicklungen bedroht. »Vielleicht finden wir einen gemeinsamen Weg, den Tagträumen Ausdruck zu verleihen. Das muss ja nicht vom Gerüst aus geschehen«, versuche ich ihn, den Stürzenden, aufzufangen. »Der Großteil der Menschen ist froh, den Alltag zu bewältigen«, stellte er, weiterhin klagend fest, er wolle mehr, platze vor Ideen, die die Welt nicht brauche, »jetzt jedenfalls nicht, weil nur Geldzähler und Kleingeister am Ruder sind«, womit er ja recht hat. »Ich brauche einfach vierzehn Tage Urlaub. Rein physisch, wenn du das auch nicht ernst nimmst.« Ernst nehme ich das schon, kann es nur nicht nachvollziehen. »Wir waren im Juni vierzehn Tage weg, das ist noch keine drei Monate her! Und noch etwas: Nimmst du meine Arbeit ernst? Nicht mal meine Inhaltsübersicht hast du in Ruhe mit mir angeguckt. Schwupp, schon wieder aufgesprungen. Sorry. Ich muss schon sehr schnell sprechen, wenn ich dir etwas von meinen Inhalten vermitteln will.« Noch ist Sommer. Im Eiscafé in Hombruch gönne ich mir zwei Cappuccino mit Keks, überschlage Fett und Brennwert, nach wie vor bemüht, so wenig wie möglich, aber gerade genug zu essen. Das führt, ebenso nach wie vor, zu Kontrollverlusten. Aber ich kotze nicht mehr. Dafür hungere ich, wann immer es mir gelingt. Nach der Analyse bist du dein Symptom nicht los, weißt aber immerhin, woher und warum du es hast, ach, Vincent, man kann es auch verwandeln, das Symptom, es erträglicher machen! Keine Zeit, um die Artistin zu empfangen. Jeden Tag fragt sie, ob sie kommen kann, umschmeichelt mich im Supermarkt, manchmal beißt sie einfach zu. Das sind dann die Tage, deretwegen ich nicht das Gewicht habe, was ich gern hätte. Das Pferd, Dana, ruft, und die Schreiberei hält mich einigermaßen bei der Stange. Ich habe Angst vor der Zeit, wenn das alles zu Ende ist. Keine Ahnung, welches Buch der Bücher, von denen Hirtberg redet, im Druck ist und darauf wartet, aufgeschlagen zu werden. Keine Ahnung, welches Buch ich schreiben werde.

320 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ehrlich gesagt glaube ich, dass wir uns trennen werden. Mir ist das viel zu anstrengend mit Rufus, er fordert so unglaublich viel. Gut, er gibt auch viel. Ich kann nicht mehr. Seit Tagen höre ich mir sein Gejammer um seinen Fuß an, es gibt kaum ein anderes Thema. Seine gesamte Ferse ist eine offene Wunde, die wirklich sehr schmerzhaft sein muss. Entstanden ist sie, weil er trotz angeschlagener Achillessehne auf Leitern und Gerüste geklettert ist. Mir tut das auch weh, trotzdem nervt diese typisch männliche Wehleidigkeit. Morgens kann ich nicht ruhigen Gewissens aufstehen, es gibt unter Garantie Krach, wenn ich keinen Sex mit ihm mache, sondern mich sofort an meinen Rechner setze, von dem ich annehme, dass er ihm inzwischen ein Dorn im Auge ist. Er kümmert sich einen Dreck um das Pferd, bastelt lediglich an dem Hänger herum und verkauft mir das als etwas, was er für das Pferd, ja für uns tut. Quatsch. Er schleift, lasiert und putzt das Ding, weil er ihn zum Transport seiner Arbeitsmaterialien gut gebrauchen kann, was ja auch völlig in Ordnung ist. Sechzig Prozent des Tages gehen für irgendwas drauf, nicht für meine eigentliche Arbeit, und die besteht nun mal im Augenblick aus den Notizen. Die sind jetzt elementar, existenziell. Ich habe das für mich so definiert, und Rufus wollte das doch auch so. Ich kann und will nicht ständig zur Verfügung stehen. Der Haushalt geht mir auf den Geist, weil Rufus das, was ich, übrigens auch gern, tue, ignoriert, sich rücksichtslos verhält. Ich traue mich nicht, ihn zu bitten, Leckerli und Tempotaschentücher aus Jacken- und Hosentaschen zu nehmen, bevor er das Zeug in die Wäsche wirft, oder aufzuhören, seine Garderobe im ganzen Haus zu verteilen. Bäte ich ihn, würde er mich zwanghaft, neurotisch, kleinkariert schelten. Nie um eine Rechtfertigung verlegen, warum er etwas so tut und nicht anders, gebricht es ihm an der Fähigkeit, einfach zu sagen: Ist o.k., du hast recht. Es ist eben sein Haus, in dem er tut und lässt, was er will. Das ist sein gutes Recht. Ich will aber kein mit Materie aller Art überfrachtetes Depot, das dank geschlossener Fenster zwar ohne Motten und Fruchtfliegen, dafür aber auch ohne Luft, im wörtlichen und übertragenen Sinne, ist. Rufus weigert sich zu begreifen, dass ich unter Druck arbeite, weil die Notizen bis Weihnachten abgeschlossen sein sollen, diese Version jedenfalls. Er respektiert meinen Wunsch nach Zeit für meine Dinge, wenn überhaupt, nur kognitiv. Auf der affektiven Ebene reagiert er mit Verdruss, ist sauer, weil ich Licht und Luft will und weniger Probleme mit Fruchtfliegen habe als mit ihm. Wir sind zu verschieden und ertragen uns nicht. Ich ertrage diesen Mann jedenfalls nicht mehr. Mir fällt ein, was Hirtberg zu diesem Thema – sinngemäß – mal in einer Mail geschrieben hat, dass wir nämlich im Alltag kaum so exklusive Beziehungen haben wie etwa zu einem Therapeuten, die frei sind »von Dingen, die uns vorwurfsvoll anschauen«. Offen, ob Rufus und ich es hinkriegen, uns »Freiräume der Fantasie und 321 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

des Austauschs« zu schaffen und zu erhalten. Alternativ könnte man die Beziehung gleich frei halten von diesen Dingen, die einen doch nur vorwurfsvoll gucken. Was ich tue, sind autonome Schritte. Rufus kann mit meiner Autonomie nicht umgehen. Er wollte keinen Stallhasen, jetzt hat er das Wildkaninchen und will es in seinen Käfig pressen. Ich versuche, mit meinem waidwunden Wildkaninchen zu reden. Es hockt – bei schönstem Wetter – im Wohnzimmer und zappt sich durchs Programm, während es seinen Hinterlauf mit einer intensiv riechenden Salbe bestreicht. Mir tut es weh, Rufus in diesem zugegebenermaßen desolaten Zustand zu sehen, trotzdem bin ich wütend. Ich bin beides: traurig und wütend, setze mich auf die Lehne seines Ohrensessels. »Erst war es nur deine Stimmung, die nicht gut war«, hebe ich bedeutungsschwanger an, »letzte Woche, weißt du noch? Ich hatte versucht, dich mit einer Mail aufzufangen, dann kam das mit dem Fuß und dem Cappuccino, den ich über mein Notebook gekippt hatte …« »… was dann für ein infrastrukturelles Desaster sorgte. Benja, wir sind beide überlastet, seelisch, körperlich. Zu wenig Verständnis, zu viel Unausgesprochenes.« »Wundert dich das? Ich sage ja schon gar nichts mehr, es ist dein Haus, ich bin hysterisch, zwanghaft und Wassermann – quelle mesalliance! Ich habe Schuldgefühle, wenn ich lebe, wie ich leben möchte. Was machen wir jetzt damit? »Es ist eine Art Wohngemeinschaft, sachlich betrachtet hält man das lange durch«, sagt er nüchtern. »Man sucht sich neue Partner. Versuche bitte nicht, mir etwas recht zu machen. Ich richte mich darauf ein, allein zu sein.« »Einen neuen Partner werde ich mir sicher nicht suchen. Mir reicht’s. Ich hatte vom langweiligen Stubenhocker bis zum hyperaktiven Wildkaninchen alles. Was soll da noch kommen? Was du diesbezüglich unternimmst, entschuldige, ist mir völlig gleichgültig.« »Vielleicht besser, du schläfst heute Nacht in deinem Zimmer … Ab inne Ecke und schäm dich! Mach einfach, was du willst, ach, das machst ja du sowieso …« »Du hast doch wohl nicht im Ernst geglaubt, ich schliefe freiwillig auch nur eine einzige Nacht länger neben – von mit ganz zu schweigen! – dir. Und noch was, Rufus: Natürlich mache ich, was ich will. Was erwartest du?« Rufus drappiert mehrere Lagen unterschiedlichen Verbandsmaterials – Mull, Gaze, Watte, ja sogar Blattgold, so will es mir scheinen, als er etwas Metallenes zum krönenden Abschluss gekonnt fixiert – auf seine Wunde und umwickelt alles akribisch mit etwas Stretchartigem. Die ganze Ferse ist rohes Fleisch, und das, in der Tat, schmerzt schon beim Hingucken. »Rufus, hör zu«, sage ich sehr bestimmt, »die Wohngemeinschaft müssen wir wohl notgedrungen ein paar Tage ertragen, leider. Da die Wohnungssuche naturgemäß an mir hängt, würde ich dich bitten, dich um die Rückgabe von Dana zu bemühen. Hazel möchte ich behalten. Ich nehme an, du legst keinen gesteigerten Wert auf sie.« 322 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Gut, dass ich regelmäßig den Immobilienmarkt in Assgart studiere. Es gibt Wohnungen, die ich allein beleben und bewirtschaften kann. Außerdem habe ich Timo gebeten, sich umzuhören und einen befreundeten Künstler, der in Assgart lebt. Autonomie ist neben Rufus offenbar nicht möglich. Unsere Trennungen verschleißen sich. Ich bin traurig, weil ich lieber mit ihm kuscheln würde, allerdings deutlich weniger traurig, als ich es schon mal war. Lerne ich, damit umzugehen, oder war’s das mit der Liebe? Wundern würde mich beides nicht. Am liebsten würde ich Hirtberg schreiben, dass ich mich soeben von Rufus trenne, um fortan mit ihm zu sein. Um frei zu sein. Ich will den ja immer noch, aber er ist nur mein Therapeut, noch dazu einer, der mich nicht begehrt. Wieso eigentlich nicht? Statt ihn mit derlei Mails zu behelligen, respektiere ich zähneknirschend seine Grenzen. Ein paar Tage später – ich bin auf dem Weg zur Therapie – bricht die Sonne spätsommerlich durch das Laub der Bäume, die jene Straße säumen, die ich vier Jahre lang erst zweimal, später einmal in der Woche gefahren bin. Nicht auszudenken, dass das alles zu Ende geht. Ich weine ein bisschen vorab, damit das Malheur nicht bei Hirtberg geschieht. Sechsundfünfzigste der letzten sechzig Stunden. Es geht um Innenwelten. Ich erzähle von unserer neu gegründeten WG. »Was Sie haben, sind Abgrenzungsprobleme. Nehmen wir an, Sie lassen sich jetzt von Rufus scheiden und heiraten mich: Dann haben Sie das gleiche Problem.« »Das sagen Sie! Das wissen Sie doch gar nicht! Also gut …«, ich wende mich halb um. Mittlerweile habe ich meine ultimative, in der einschlägigen Literatur meines Wissens nach bislang nicht diskutierte dynamische Couch-Position gefunden: Manchmal liege, dann wieder sitze ich, hocke auf der Kante, lege mich wieder hin, alles in einer Stunde! So viel zum Setting, welch ein Fortschritt, es ist so entspannt geworden! Mein Analytiker trägt Jeans, braune Schuhe und ein ecrufarbenes Hemd mit mikroskopisch kleinem Karo. Heute höher geschlossen, wir haben ja auch nur vierundzwanzig Grad Maximum. Haare frisch geschoren, fast ein bisschen zu kurz. Bei allem, was ich anschneide, geht es letztlich um Innenwelten und Abgrenzung. »Ich will hier nicht aufhören, ihn nicht verlieren, diesen Raum, den ich für mich allein hatte«, meine damit weit mehr als das Behandlungszimmer, das Setting oder die Person Max Hirtberg. »Das ist ja ganz charakteristisch für Essstörungen, dieses Etwas-ganz-für-sichallein-Haben. Das haben Sie immer von sich gewiesen.« »Inzwischen glaube ich, dass da was dran ist, in gewisser Weise«, unterbreche ich ihn. »Sie werden in Zukunft andere Räume betreten, wenn das hier zu Ende ist und wenn Sie Ihr Manuskript, das ja auch Ihren Raum repräsentiert, fertig haben. Vielleicht erholen Sie sich dann erst mal, freuen sich, dass Sie es geschafft haben.« »Ach hören Sie doch auf mit dem Unfug!« Ich kauere auf der Kante der Couch 323 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und begucke den Teppich, raufe mir die Haare: »Ich mag, ich will mir das nicht vorstellen, dieses Manuskript ist mein Raum, und es wird umso stärker mein Raum, je näher das Ende rückt. Noch viermal … und dann?« Hilfesuchend gucke ich ihn an. »Dann finden Sie neue Räume, schaffen sich welche, schlagen neue Bücher auf, ich bin da ganz zuversichtlich. Erinnern Sie sich, auch hier haben Sie oft gesagt, dass Sie nichts wissen … nicht wissen, worüber Sie reden sollen.« »Ja, wenn Sie mir gesagt haben: Ich gebe Ihnen die Möglichkeit, sich mit dieser Situation auseinanderzusetzen. Jesses.« »Sie haben immer etwas gefunden. Wir haben nicht eine Stunde geschwiegen.« »Es ist ja nicht so, als hätte ich nur mein Manuskript«, versuche ich mich zu beruhigen und denke ein bisschen an Jurij. »Etwas kommt auf Sie zu, Sie lassen sich finden. Anderenfalls konstruieren Sie sich eine neue, eigene Welt. Eine Innenwelt. Die Folgen können Sie natürlich nicht kontrollieren.« Etwas läuft aus dem Ruder, das Gespräch jedenfalls nicht rund, seine Worte empfinde ich als halbherzigen Versuch, mich irgendwie zu trösten, aber so unbeholfen, als hätte er nicht jahrelang Psychologie studiert, sondern Kutter gestrichen oder Heringsnetze geflickt. Ich höre auch nicht richtig zu, kann mich nicht konzentrieren, nicht loslassen, nicht denken. Nur fühlen. Bezugnehmend auf meine Schwierigkeiten mit Rufus erzählt er dann von einer Journalistin, mit der er mal zusammengelebt hat, und beschreibt, wie man zu zweit in einem Arbeitszimmer arbeitete, dass man sich angesprochen hat, »allerdings nur unter Vorwarnung: ›Du, kann ich dich kurz ansprechen?‹ So können Sie das doch auch machen. Die Frage ist, ob Sie das schaffen, gemeinsam jeder für sich zu sein«. Ich will das gar nicht wissen. Mir tut es weh zu hören, mit wem Hirtberg eine Wohnung, ein Haus geteilt hat, und aus dem gleichen Grund ignoriere ich einfach weiter, dass er eine Freundin hat. Für mich hat er keine. Er kann ja auch Schluss machen. Oder sie. So toll ist er auch wieder nicht. Er hat mich nie begehrt. Nie? »Ich kann das. Ich meine, für mich sein. Problemlos, auch wenn Rufus in der Nähe ist. Allerdings ignoriert er meinen Wunsch nach, na, nennen wir es mal Innerlichkeit – oder Konzentration. Er versteht mein Arbeitsprinzip nicht, begreift nicht, das dieses alles Mögliche einschließt: meditatives Blumenschnippeln, Wäsche falten, Küche fegen, Hund ausführen … Das gehört zum Prozess!« »Das machen Sie doch genau richtig!« »Er redet einfach auf mich ein, versteht nicht, dass das alles eine Einheit bildet, hält mich für ein egozentrisches Monster, das einfach bei Bedarf aus der Beziehung aussteigt.« »Aber Sie steigen doch nicht aus der Beziehung aus, die existiert doch weiterhin?« »Aus seiner Perspektive will ich in dem Augenblick keine Beziehung.« »Sie wollen doch die Beziehung, Sie wollen nur in dem Augenblick, in der Stunde, an dem Tag nicht aus Ihren Innenwelten, aus Ihrer Konzentration heraus.« 324 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Ja, Hirtberg, Sie verstehen das. Noch mal: Sie würden ja auch top zu mir passen. Aber Sie wollen das ja nicht.« Denke ich. Oder fühle. Und sage: »Abends lese ich Rufus jetzt doch immer mal wieder ein Kapitel vor, eins nach dem anderen.« »Na, da haben Sie es doch: Sie teilen sich ihm mit, Sie gehen in Ihre Welt und integrieren ihn später. Was will der denn eigentlich mehr?« »Pausenlose Aufmerksamkeit, fürchte ich.« »Aber er macht das doch auch, geht auf seine Baustellen, ist den ganzen Tag weg.« »Ja, wenn er unterwegs ist, klappt das ja auch ganz gut. Aber wenn wir beide zu Hause sind, passiert es sehr schnell, dass er sich zurückgesetzt fühlt. Ich mich übrigens definitiv nicht.« Anfang September. Der letzte Monat mit Hirtberg. Ich male eine Tabelle, fülle sie mit bunten Farben aus. Wie damals in der Klinik, in der Maltherapie. Ein Kunstwerk: Benja Thieme, »Tabelle«, 2009, Pastell-Ölkreiden hinter Papier. Ich beschreibe Hirtberg das Gemälde: »Es gibt zwei Spalten. In der linken steht: Rufus – gemeinsam lieben – streiten – Erotik leben – Partnerschaft – Verbindlichkeit – Wärme. In der rechten: frei in Assgart – von Hirtberg träumen – Geschichten schreiben – ungestörte Innenwelten – Glas und Marmor … Jetzt kommen Sie mir bitte nicht wieder mit Ihrer Integration, Hirtberg«, setze ich hinzu, will gar keine Antwort, keine Reaktion und frage deshalb, ziemlich aus dem Zusammenhange gerissen, was wir mit dem Restkontingent machen. »Welchem Restkontingent?« »Den verbleibenden Stunden. Über den Abschied reden? Neue Kapitel aufschlagen? Lohnt ja jetzt auch nicht mehr«, beantworte ich die Fragen gleich selbst, resigniert, zerfasert, gehetzt, dann weiter: »Meine Notizen will ich so schnell wie möglich fertig stellen, weil so viele nicht geschriebenen Geschichten drängen. So viele nicht gelegte Mosaike, neue Projekte. Sind das die Bücher, die es aufzuschlagen gilt, wenn das eine ausgelesen ist?« »Na bravo!« Hirtberg springt geradezu von seinem Sessel, ist völlig begeistert. »Das würde bedeuten: Abschiedsschmerz und Traurigkeit gelten Ihnen, Hirtberg, nicht der Geschichte, die ich jetzt zu Ende schreiben will. Muss. Denn: Es gibt ja – angeblich – so viele neue.« »Sie betrauern auch das Ende dieses Prozesses hier.« »Der Prozess ist untrennbar mit Ihnen verbunden!« Fünfzig Minuten lang halte ich die Tränen zurück, die mir seit zweihundertsechsundfünfzig Stunden in den Augen stehen, fürchte die Weite jenseits dieser Mauern, die Trennung von der Lebendigkeit diesseits dieser Wände. Mein korrigiertes Bild vom Psychotherapeuten erweist sich als Traum und Albtraum gleichermaßen. »Es ist ein grauenhaftes Gefühl, wenn man sich von jemandem trennen muss, den man liebt, von dem man sich nicht trennen will«, bringe ich sprachlich wenig eloquent und etwas erstickt hervor und frage mich, warum ich ihm nicht sage, dass ich ihn liebe. 325 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Es ist eben meine Geschichte.« Noch mal Begeisterung. »Rufus hat Ihnen etwas voraus, Hirtberg.« »Das hoffe ich doch!« Warum sagt er so einen Blödsinn? »Ihm, Rufus, habe ich die zwei Kapitel vorgelesen, die ich Ihnen vorlesen wollte, mich aber nie getraut habe. Sie bekommen den ganzen Bericht. Die Lektüre können Sie aber nicht verrechnen.« Es soll humorvoll klingen, tut es aber nicht. Mein Augenzwinkern geht baden. »Ich bin sicher, Sie finden ihn interessant. Sie werden ihn schon lesen.« Es soll selbstbewusst und zuversichtlich klingen. Tut es aber nicht. »Ja, ich werde ihn lesen.« »Sie kommen ziemlich gut dabei weg.« »Das befürchte ich!« Er lacht sein Superlachen. Mir ist nicht zum Lachen. »Nun, so ist eben meine Geschichte, und bei mir sah die Analyse, die ich als erfolgreich betrachte, eben so aus … Sagen Sie mal, wie fanden Sie das eigentlich alles, ich meine, vielleicht haben Sie ja mal in einer Supervision darüber gesprochen oder mit Kollegen?« »Nun, ich habe jetzt nicht darüber gesprochen, …« Nein, warum auch, alles problemlos gelaufen, Symptom behoben, Patientin brav, bequem, erfolgreich – wie im richtigen Leben, zu langweilig, um darüber zu sprechen, was bildest du dir ein? »… aber ich fand das gut. Sie haben viel erreicht: Sie kommen mit Ihrem Alltagsgeschäft klar, haben Gelassenheit der Organisation gegenüber entwickelt und ich habe Ihnen von Anfang an gesagt, wenn Sie nur wegen der Essstörung kommen, wird das nix.« Flüchtig erzähle ich von meiner Enttäuschung darüber, dass Anna sich wirklich nicht sehr konstruktiv zu meinen Notizen, von denen ich ihr die ersten drei Kapitel geschickt habe, äußert. Anna schreibt eine Mail, die ich erst mal nicht beantworte. Rufus sagt, dass, so lange er mich kennt, diese »Schabracke« mich einfach immer nur enttäuschen würde, er zumindest habe das noch nicht anders erlebt. Dann schreibe ich ihr doch, bedanke mich für ihre Lektüre meines schriftstellerischen Elaborates. Ich frage sie nicht, ob sie mehr lesen mag – wenn Interesse besteht, wird sie mich um Nachschub ersuchen. Sie hat nicht verstanden, worum es geht. Natürlich wird die Artistin nicht sofort transparent, und dass Vincent ein Studienfreund ist, wird, ebenso wie die Rolle, die Jurij in meinem Leben spielt, erst später klar. Hoffe ich. Weder bei Dieter Wellershoff noch bei Robert Schneider, nicht einmal bei Doris Dörrie ist auf Seite fünfundzwanzig das gesamte Who is who transparent. »Das mit den Reiterferien«, ich habe sie eingeladen, »meine ich ernst. Um die 326 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Sache zu testen, kannst du ja mal an einem Freitag kommen und am Samstag wieder fahren. Wir haben ein schönes Gästezimmer. Wir hätten Zeit füreinander. Ich fände das total klasse!« Sie antwortet kurz: »Ja, war schön mit dir. Natürlich lese ich weiter. Mit der Freitagseinladung: Wunderbar, irgendwann komme ich. Sage euch natürlich rechtzeitig Bescheid.« Immer diese vagen Formulierungen, warum nicht Butter bei die Fische und »Hallo, in vierzehn Tagen bin ich da!?« Timo und ich treffen uns im »Canero«. Er sieht gut aus, kümmert sich um seine Gesundheit. Ich mache mir Sorgen um seine Beziehung zu dieser Frau, die so grob mit ihm umgeht, die den Schmuck, wie er erzählt, den er ihr schenkt, nicht trägt und die ihren fünfzigsten Geburtstag allein auf Madeira verbringt. Diese Frau, die ich flüchtig kenne, ist noch verkapselter als Timo. Er beklagt, nicht an sie heranzukommen, und wirkt an diesem Abend, was dies betrifft, nicht gerade glücklich. Als er die Bernsteinkette, die sie nicht trägt, gekauft hat, habe er an mich gedacht, sagt er, »ich erinnere mich, dass du auf Rügen diesen Bernsteinschmuck so schön gefunden hast«. »Ja«, sage ich, »das war allerdings auch sehr situationsabhängig. Oft ist es so, dass man etwas aus der Welt mit nach Hause bringt, es dort aber an Charme verliert, weil der Kontext fehlt.« Mich berührt es sehr, dass er bei dem Erwerb eben jener Kette an mich gedacht hat. Ganz kurz stelle mir vor, wie es wäre, wieder mit ihm zusammen zu sein. Die Vorstellung hinkt nicht nur, sie funktioniert überhaupt nicht. Ich erzähle ihm von Rufus, von unserem neuen Pferd, Dana. In dem Augenblick ruft Rufus an und sprudelt in der ihm eigenen Art einfach los: »Du hast den stolzesten Mann der Welt«, ruft er am Vorabend unseres dreijährigen Jubiläums, »ich bin Schritt geritten, getrabt und galoppiert, habe Dana allein fertig gemacht, sie in die Halle, an den Aufsteigeblock geführt, bin allein aufgesessen und einfach losgeritten.« Er klingt so stolz, so leicht, so hippophil. Ich unterdrücke den Impuls, ihn telefonisch zu knutschen, weil ich Timo nicht verletzen will mit meiner Beziehung, die so harmonisch wirkt und in totaler Diskrepanz zu stehen scheint zu dem, was er beziehungstechnisch konstruiert. Von Hirtberg erzähle ich, beschreibe ihm in Umrissen die emotionale Katastrophe, die ich auf mich zurollen sehe, von meinen Notizen, verwerfe aber die Idee, ihm, Timo, Auszüge zu senden, weil ich ihn angesichts seines eigenen Einstiegs in eine Therapie nicht beeinflussen möchte. Spätsommermorgen vor der drittletzten Stunde. Morgens um halb sechs auf der Autobahn … and they’ll meet one day far away and say I wish I was something more … Die roten Lichter vor mir verschwimmen, alles andere auch. Statt in die Dunkelheit 327 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

gucke ich nach innen, begegne dort Bildern von Hirtberg, wie er in seiner speziellen Art die Decke auf der Couch zurechtstreicht, kaum dass ich mich erhoben, mich entfernt habe, dem Schwung, mit dem er sich umwendet, nachdem wir uns verabschiedet haben und wir beide wieder in unsere Welten gehen, die in diesem Raum ihre Schnittmenge finden, die mein Universum, mein Kosmos ist, darin Hirtberg als mein Fixstern. So vor mich hin idealisierend ergeht sich meine ganze Seele in Sentimentalität, während mein Kopf auf sie einhämmert: Hey, du, es geht weiter … Meine Seele fühlt das aber nicht. Um überhaupt irgendeine Klarheit zu gewinnen, entscheide ich, dass ich ihm erstens mehr zahle, als er verlangt, und, um eine Zäsur hinzukriegen, dass ich in die Privatpraxis möchte. Sie verschaffen sich Stabilität. Beim Kramen nach einem Tempotaschentuch komme ich einem gigantischen Brummi bedrohlich nahe. Oder er mir. Halb sieben, Assgarter Ring. Statt nach innen blicke ich in den Rückspiegel, ein kleines, rötlich schimmerndes Fenster vor der Dunkelheit. Im Osten Tag, vor mir Nacht. Dazwischen. Zwischenzeit. Im Spiegel, im Licht, im Rot des Tages erglüht mein Fixstern, um im nächsten Augenblick zu verglimmen, zu entschwinden. Meine eigene Resurrection in der Projektion auf ihn: Sie externalisieren Ihre Auferstehungsfantasien. In technischen Alltagsfragen fehlt mir die Gelassenheit immer noch komplett. Ich finde zum Verrecken keinen Parkplatz und erreiche in höchstem Maße geladen die Praxis. Die gesamte Traurigkeit hat sich in Zorn verwandelt. »Ich habe mitten auf dem Schulhof geparkt, völlig verboten.« »Sie erinnern mich gerade an den Anfang, als Sie auch immer so schwarz-weiß argumentierten und bei Ihren überschwappenden Affekten ein bisschen die Kontrolle verloren haben.« Ich möchte kein Thema mehr; nur noch ein bisschen reden über den Abschied, über die damit verbundenen Gefühle. Die Stunde gestaltet sich zerzaust, zerstreut betrachte ich den roten Faden, der windet sich in fusseligen Einzelfasern am Boden, der überhaupt nicht mehr trägt. Wir klären die Frage nach dem Honorar für Privatstunden. Hirtberg zeigt sich mehr fair – vielleicht um zu verhindern, dass ich restlos die Fassung verliere. »Ganz kurz zu dem kleinen Mosaik«, sage ich, weil ich im Hinterkopf habe, ihm jenes Mosaik zum Abschied zu schenken, das ich Anfang Mai gelegt und dabei die ganze Therapie nicht nur Revue passieren lassen, sondern ihn hineingepackt habe. Ich hänge sehr an dem Stück, bin mir aber im Klaren darüber, dass es nicht sein Geschmack sein muss. Keinesfalls möchte ich ihm mit einem Objekt zu nahe treten, das ihm nicht gefällt, wiewohl er die zweifellos dessen innerbildliche Metaphorik verstünde. »Mir ist es wichtig, dass Sie es nicht für Regression halten …« »Was?« 328 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Die Tatsache, dass ich es Ihnen geschenkt habe. Das hat nichts zu tun mit einer Bastelarbeit, die ein Mädchen für seinen Papa fertigt. Ich möchte sicher sein, dass Sie das richtig verstehen.« »Regression? Nein, habe ich als Zeichen der Dankbarkeit aufgefasst.« »Und noch etwas. Mal abgesehen davon, dass Sie die Geste, um die es mir ging, wertschätzen und das Ding schon allein aus diesem Grunde aufheben werden – davon gehe ich jetzt mal aus, weil ich es so machen würde: Mögen Sie eigentlich Mosaike, ich meine, empfinden Sie sie als ästhetische Bereicherung?« »Wenn Sie mich so fragen: Mein Vater hat, als ich klein war, auch immer Mosaike gemacht, und dann gab es da so ganz viele Steinchen, mit denen ich allerdings nicht spielen durfte. Das Mosaik an sich ist ein gewissermaßen besetztes Thema …« Deutlicher muss er nicht werden. Ich verstehe seiner taktvollen Formulierung zum Trotz, dass er nicht unbedingt scharf auf Nachschlag ist. Was ich gut akzeptieren kann. Dann kriegt er den »Roten Faden« eben nicht. Ich erzähle ihm, dass ich viermal zu Weihnachten selbstgebackene Kekse für ihn im Auto hatte, was er offenbar sehr komisch findet. Ich übrigens auch. Wieder stehen mir fünfzig Minuten lang die Tränen in den Augen, aber so bemessen, dass nichts überschwappt. Natürlich finde ich mein Maß! »Irgendwie werde ich allein klarkommen.« »Sie machen doch seit einer ganzen Weile schon das Meiste allein. Ich sage Ihnen doch nur noch selten: ›Nehmen Sie den Hammer doch mal anders in die Hand.‹« Ganz kurz berichtet er, dass er das, was er in seiner eigenen Analyse gelernt hat, mitgenommen und assimiliert hat; und ich erzähle ihm, dass ich mir bei ihm viel abgeguckt habe. »Das Wichtigste: geduldig hinzuschauen und nicht zu bewerten. Die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Gelassenheit.« »Sie haben eine sehr gute Repräsentanz von mir«, vermutet er, als ich ganz knapp umreiße, wie seine Figur in meinen Notizen tatsächlich ihn, wenngleich aus meiner subjektiven Sicht, beschreibt. »Vieles klingt wie ein wörtliches Zitat, obwohl das Wenigste ein wörtliches Zitat ist.« Aber ich kenne seine Wortwahl, seinen Tonfall, seinen Blick. Vielleicht kenne ich ihn besser, als ich glaube. »Bis jetzt hatte ich nur zwei Versionen unserer Beziehung im Kopf: das reale therapeutische Bündnis und die illusionierte Liebesbeziehung. Es gibt – Hirtberg, keine Panik: theoretisch! – eine dritte: die Begegnung in der Welt, im Leben, Transfer des geschlossen-systemischen Funktionierens in offen-systemisches Funktionieren, ähäm.« Ich sage das nur so. Er guckt mich mindestens so verständnislos wie amüsiert an. »Waaas?«, ruft er aus, »da müssen wir mal im Internet googeln!«, kann oder will aber offenbar nichts damit anfangen. In dieser Stunde reiße ich wirklich alles nur an – unerbittlich läuft die Uhr. Wir können nicht mehr einsteigen. 329 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Der vorletzte Termin. In meinem Erleben der letzte. Es gibt kein Thema. »Die ganze Abschiedsphase dauert mir schon viel zu lange«, sage ich so emotionslos wie möglich, um sodann von meinen Notizen zu faseln; von dem, was mir bei deren Überarbeitung wieder begegnet, »die hat ja schon vor ungefähr einem Jahr angefangen … Auf Seite zweihunderteinundachtzig zum Beispiel steht, ›Hirtberg stellt keine klassischen Analytikerfragen mehr.‹ Ihre Intervention hatte sich verändert, haben Sie das bewusst so gemacht?« Meine Stimme ist belegt, zittert ein wenig. Eine so dämliche Frage, gestellt, um ihrer selbst willen. Und um ihn zum Reden zu bringen, damit ich nicht so viel sagen muss. »Schauen Sie, meine Intervention, wie Sie es nennen, hat sich ja immer wieder verändert, sich an die jeweilige Situation angepasst. Ich habe nicht irgendwann einen Schnitt gemacht und gesagt: Jetzt stelle ich keine klassischen Analytikerfragen mehr. Es wäre auch dem Patienten nicht gerecht, den Stil nicht zu verändern, wenn dieser sich verändert. Sie haben sich verändert.« Es ist mir völlig egal, was er redet. Ich höre überhaupt nicht zu, meinetwegen kann er auch schweigen. Wenn’s sein muss, fünfzig Minuten lang. Dann stockt unser ohnehin wirres, fadenloses Geplänkel. Hirtberg ist wie immer. Es ist nicht sein Boden, der bebt. Sollte der ein bisschen schwanken, hat er das im Griff. Was bleibt ihm anderes übrig, will er vermeiden, dass es mir ergeht wie Margarethe Akoluth. Deren Analyse ging viele Jahre gut, bevor sie entgleiste. Ausgelöst durch eine Berührung. Dann verstrickten sich die beiden. Warum ich ausgerechnet dieses frustrierende Buch am Ende meiner Analyse lese, weiß ich auch nicht. Es tut mir jedenfalls nicht gut. »Jetzt habe ich eigentlich genug geheult«, bringe ich hervor, als ich spüre, dass ich die Kontrolle über meine Tränen verliere. »Ich habe schon so viel geweint, beim Schreiben allein, beim Spazierengehen mit Benno, sogar beim Einschlafen neben Rufus.« Mein Schluchzen ist mir peinlich – aber irgendwie auch nicht. Tränen laufen über die Wangen, ich wische sie mit dem Handrücken weg, blinzele Hirtberg aus dem Augenwinkel an, »es ist alles so ambivalent, irgendwie freue ich mich auch auf alles, was danach …« Ich freue mich überhaupt auf gar nichts. Schweigen. Schlucken. Tränen. »Jetzt haben Sie sogar das geschafft …« »Was?« »Na, Sie haben doch immer gesagt: Nein, weinen? Kommt gar nicht in Frage.« Hirtberg schiebt ein einzelnes Tempotaschentuch auf dem Beistelltischchen hin und her. 330 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Keine Ahnung, ob Ihnen klar ist, was das hier bedeutet … Mehr als zwanzig Jahren schleppte ich diese Krankheit mit mir herum – und ich habe wirklich gelitten! – und jetzt …« Schweigen. Ein Blick von ihm. Verspannt hocke ich auf der Kante der Couch, streiche mir Haarsträhnen aus dem Gesicht, sehe mich um, als sei ich nie hier gewesen. Zum ersten Mal sehe ich alles durch einen Schleier: den Raum mit seinen drei Teppichen, dem sechstürigen Sideboard mit den drei, vier neokonstruktivistischen Kleinskulpturen, die abstrakten Grafiken, den alten Schrank, in dem er Akten und Bücher aufbewahrt, den modernen Schreibtisch, den Metallpapierkorb, und natürlich diese Begonienart, der ich vier Jahre beim Wachsen zugeguckt habe. Und sie mir. »… jetzt ist das einfach weg. Das sind Sie, Hirtberg, der das geschafft hat!« »Na, da gehören ja wohl zwei zu.« Das muss er ja jetzt sagen, was sonst soll er sagen? »Ich frage mich, wo ist sie, die Artistin, sie ist einfach nicht mehr da.« Sie ist noch da, angetan mit einem androgynen Kostüm, mit dem ich leben, mit dem ich mich vorläufig arrangieren kann. Das ist jetzt erst mal so. Punkt. Und später sehen wir weiter. »Es ist oft so, dass das Symptom, mit dem man sich in die Analyse begeben hat, immer mal wieder auftaucht, sich in unterschiedlichen Zusammenhängen artikuliert. Meine diversen Ängste, mit denen ich in die Lehranalyse gegangen bin«, lächelt er, »also, ich hatte eine enorme Angst, vor Publikum zu reden, öffentliche Auftritte …« »Oh Gott, das habe ich mir fast gedacht.« »Wieso? Was haben Sie gedacht?« »Na, dass Sie an genau der Stelle irgendwelche Defizite haben. Hatten. Wie auch immer. Ihre Eitelkeit manifestiert sich ja nicht zuletzt in Ihrer Tätigkeit als Coach – Sie trainieren ja schließlich nicht Lieschen Müller, nehme ich an, sondern wohl eher Hochkaräter aus Politik und Wirtschaft, dann in Ihrer Rolle als Referent, Vortragender, Interviewpartner und Publizist. Ihren Spaß an der Öffentlichkeit, sich in ihr zu bewegen und von ihr wahrgenommen zu werden, Hirtberg, beobachte ich nicht nur mit einem gewissen Amüsement, sondern mache mir meinen Reim drauf. Glauben Sie nicht?« Längst bin ich zu dem Schluss gekommen, dass mein geliebter, selbstverliebter Hirtberg viel weniger stark ist als der Analytiker. Habe ich nicht schon ganz zu Anfang festgestellt, dass ihm die Rolle des Analytikers auf den Leib geschneidert ist? Meine Idealisierung ist eine ganz andere Kiste. Ich weiß schon, was ich tue. Nur leider nicht, warum. »Die Ängste machen sich auch heute noch bemerkbar – wohlgemerkt, bemerkbar! – in der einen oder anderen Form. Ich gucke dann, was ist. Und dann ist das eben erst mal so …« 331 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Es rührt mich an, wie er, mein verehrter Analytiker, von beinahe zierlicher Gestalt, leicht, verletzlich und schwach, von seinen Ängsten spricht. Von seinem Lehranalytiker, von dem er sich später entfremdete, »weil er so ganz andere Positionen vertrat«, mit denen er sich »nicht identifizieren« konnte. »Es gibt Auftritte, in die ich sehr cool hineingehe, dann frage ich mich, ob das so richtig ist, ob das gut gehen kann, und bei anderen bin ich nach einer ganzen Weile immer noch in dieser Spannung, aber ganz gleich: Ich nehme es, wie es ist.« Mir fällt ein, was Rufus über ihn gesagt hat: »Er ist nicht der Eroberer, obwohl er Löwe ist.« Was Anna gesagt hat: »Du, ich glaube, das ist so ein einsamer Wolf.« Was Ekki gesagt hat: »Der scheint so ein bisschen Probleme mit Frauen zu haben … Der hätte ganz gern eine Beziehung.« Was Vilma gesagt hat: »Dein Hirtberg ist nicht sehr selbstsicher, jedenfalls nicht selbstbewusst genug, um zuzugeben, dass er dich begehrt. Begehren würde. Du bist eine starke, emanzipierte und kluge Frau: Das macht so manchem Mann Komplexe.« Mir fällt der Titel eines Buches ein, dass ich in den frühen 1980er Jahre gelesen habe: »Umarmen möcht ich dich«. Wieder verschwimmt die Welt, und während ich darüber schreibe, verschwimmt die Tastatur, ich betrauere das Ende der Zeit mit Hirtberg, die ganze komplexe Unmöglichkeit. »Mir kommt es vor, als hätten wir uns gestern zum ersten Mal gesehen, Hirtberg, wo ist die Zeit und was kommt danach, nach dieser Zeit? Mit Rufus, das ist eine wunderbare Beziehung, das ist ein Mann, der zu mir passt … Trotzdem: Ich will Zeit für mich allein, ich will auch das Extreme, das frühe Aufstehen, das rasante, ja teils riskante Autofahren, den Ausstieg, wenn Sie so wollen, diesen ganz speziellen Raum für mich allein, in dem, unter anderem, ich Sie finden kann.« »Sie haben beides: das frühe Aufstehen und die wunderbare Partnerschaft … Sie haben mir doch erzählt, wie viel Sie miteinander lachen, im Bett, nachts, bevor Sie einschlafen, wenn Sie nicht gerade Sex haben – oder dabei lachen.« Er lächelt mich an. »Sie haben beides, Frau Thieme, das ist Ambivalenz …« Um mein Lächeln zu sehen, muss er schon ganz genau hingucken. »Ja, Hirtberg, ich weiß: das Tor zur Humanität.«

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Dazwischen, Zwischenzeit

D

u tust ja, als ob Vater und Mutter gestorben wären, brüllt Dietlinde, als sie mich bitterlich weinend, wehklagend, ja schreiend vor Schmerz überrascht. Erwischt. »Sie sind gestorben«, gebe ich scharf zurück. Mir ist klar, dass sie nicht im Ansatz versteht, wovon die Rede ist. Rufus versteht, zumindest im Ansatz. Ich mute ihm viel zu, mit dieser Traurigkeit, die mich innerlich zerreißt. Dass es so weh tun würde, habe ich nicht erwartet. Der Tag nach Nr. Zweihundertneunundneunzig. Es ist fast noch Nacht, die Autobahn ist frei, in der absoluten und bislang ungebrochenen Rekordzeit von einer Stunde und dreizehn Minuten rase ich von Folzenheim nach Liefem, um ungestört an meinem Abschiedsgeschenk für Hirtberg zu werkeln, statt mich für die Organisation zu langweilen. Lange habe ich gegrübelt, was anstelle der Notizen, die noch in der Korrekturphase stecken, angemessen wäre. Es muss etwas sein, das mit ihm zu tun hat, etwas Persönliches. Warum nicht, ganz zeitgemäß, ein digitales Geschenk? Im Erstellen von Powerpoints bin ich inzwischen ziemlich fit, Bild- und Textmaterial habe ich genug, Ideen und sogar Humor – bei aller Tragik angesichts der allerletzten Stunde. Mir geht es extrem schlecht. Gegessen habe ich nichts. Jetzt quatscht die Artistin mich blöde von der Seite an, behauptet, ich hätte physischen Hunger. Halt die Klappe, verschwinde, nichts kapierst du, ich habe Schmerzen, seelische Schmerzen. Vor mir nur Fragen und ein gigantisches schwarzes Loch. Ungefähr so muss sich eine Depression anfühlen. Kaum im Büro angekommen, fahre ich den Rechner hoch, ärgere mich über dessen Langsamkeit, logge mich ein und hacke hastig eine Mail in die arme Tastatur: »Können Sie bitte den Termin, den Sie gestern gestrichen haben, wieder für mich reservieren? Erklärung: Die Artistin ist weg, aber ich bin halb tot.« Es handelt sich dabei um einen versehentlich notieren Termin nach der allerletzten Stunde. Nr. Dreihunderteins, sozusagen. Ich stehe völlig neben mir. Die Welt nur noch ein Schatten, mein Herz ein Bleiklumpen. Ich habe wirklich keine Ahnung, ob Rufus und ich das schaffen, ich

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habe nicht einmal eine Ahnung, ob ich das schaffe, dem Tode näher als dem Leben, verloren, verlassen, Hirtberg ist einfach nicht mehr da! Vielleicht will er mich gar nicht mehr, und sagt einfach nur, dass er mich nicht mehr krank findet und aus dem Grund ein Problem hätte, bei der Kasse weitere Stunden zu beantragen. Wenn er mich wegschickt, kann ich für gar nichts garantieren, weder für die Beziehung noch für meine Stabilität, nicht einmal für mein Leben. Meine Mail beantwortet er maximal dreißig Minuten später: »Ich schlage vor, Artistin ist mindestens halb tot und Sie kommen auch am 30. September.« Rufus schreibe ich eine SMS, mache mir Sorgen, ob ich ihn nicht emotional überfordere, aber es sei, so schreibe ich, »ein emotional unerwartet gravierender Einschnitt«, was den Tatsachen entspricht: Damit habe ich nicht gerechnet. »Ist ja auch interessant, was unsere Psychohygiene betrifft«, sagt er mir am frühen morgen am Telefon. »Deine Analyse ist eine externe, außerplanetarische Werkstatt, eine Plattform, ohne Wasserkran und Badewanne, auf der du persönliche Fortschritte machst. Die Praxis, ein besonderer Ort, Hirtberg, ein besonderer Mensch.« Ich beschließe, es in den nächsten Tagen zu vermeiden, offen an der Powerpoint oder den Notizen zu arbeiten. Die nächsten elf Stunden kann ich ja mal selbst bezahlen, dann soll er einen Antrag stellen, bis dahin wird er ja wohl eine – neue? – Diagnose stellen, was mit mir los ist. Ich möchte ihn überzeugen, noch Stunden bei der Kasse zu beantragen, ich bin einfach noch nicht fertig, er wird doch wohl irgendeine Begründung finden! Noch mal sechzig, dann hätte ich noch ein Jahr, um genau diesen Punkt zu bearbeiten: Warum kann – und will – ich ihn nicht loslassen? Hat die Verschiebung meiner Gefühle nicht geklappt? Ist das überhaupt Verschiebung? Eine endgültige Trennung von Hirtberg würde unsere Beziehung nicht überstehen. Es geht so weit, dass ich darüber nachdenke, in die Nähe von Liefem zu ziehen, um bis an mein – oder sein – Lebensende zu ihm gehen zu können. Nur mühsam finde ich zurück zur Arbeit an den Notizen, dabei habe ich das Gefühl, Stunden verschwendet zu haben. Aber ich weiß: Nicht eine einzige war Verschwendung. Der Knoten konnte nicht früher platzen. Wie versteinert starre ich auf den Monitor, finde immer wieder Stellen, an denen ich spürte, dass irgendetwas unanalytisch lief, und frage mich: Hat er, dieser wunderbare, einzigartige Analytiker, da was übersehen? Das kann doch nicht sein! Ich wollte diese verdammte Bulimie loswerden und habe dafür mein Leben auf den Kopf gestellt. Und nun falle ich in ein alles erschlagendes, vernichtendes Gefühl der Verlorenheit, womit, ich betone es noch mal, ich nicht gerechnet habe. Jetzt allerdings in eine, in der der Analytiker eben nicht mehr da ist und mich auffängt – anders als damals. Erschütternd: Es gibt gar keine Stabilität. Der Boden, 334 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

von dem er immer behauptet, er trüge, trägt eben nicht! Das Hauptsymptom ist zu fünfundachtzig Prozent weg. Ja. Das habe ich gewollt. Und nebenbei habe ich eine Menge, wirklich eine Menge verändert, erreicht. Aber eben keine innere Stabilität gefunden? Verdammt, Rufus ist so weit weg. Er schreibt fantasielose SMS. Spürt er, dass ich woanders bin? Oder hat er einfach nur so viel zu tun? Eine ziemlich große Geschichte, die er da im Augenblick laufen hat, ein Projekt mit Schülern, am Wochenende ein Steinkunde-Workshop für die Lehrer. Ich überlege, ob es gut für uns wäre, führe ich hin. Ich habe eine klare Vorstellung davon, wie mein Mosaik aussehen würde. Reiten morgens um sieben. Vielleicht komme ich so wieder in mein Bewegungsprogramm. Ich kaufe eine herzförmige Dose, in die ich jeden Tag, an dem mir die Artistin vom Halse bleibt, zwölf Euro stecken will: für zwölf Stunden im ersten Quartal des kommenden Jahres. In den Deckel klebe ich Hirtbergs Bild aus dem Internet. Er sollte es mal aktualisieren. Aus der Abhängigkeit sollte ich mich irgendwann lösen. Aber nicht jetzt. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich mich zu einer emotionalen – nicht einer wirtschaftlichen, intellektuellen oder sonst irgendeiner – Abhängigkeit bekenne. Und ich kenne so einige. Davon, diesen Raum, von – und in – dem ich schreibe, ohne einen anderen Menschen zu betreten, ist mir gegenwärtig sehr schwer bis gar nicht vorstellbar. Eben deshalb sehe ich ja auch die Notwendigkeit, weiterzumachen. Immerhin habe ich inzwischen die Stabilität, sagen zu können: Nein, ich bin noch lange nicht fertig. Vor der Behandlung hätte ich gesagt: Ach, halb so schlimm, stell dich nicht so an, war schön und gut, weiter im Text. Gefühle in eine Kiste gepackt, Deckel drauf, alles verschraubt. Leistung zählt, Indianer kennt keinen Schmerz, jetzt beiß doch mal die Zähne zusammen, hör auf zu träumen, komm auf den Teppich, kämm dir die Haare, zieh dich ordentlich an und fang endlich an zu arbeiten … Jetzt sage ich: »Ich vertraue Ihnen, Hirtberg. Bedingungslos.« Ich weine. Statt mich der Weinerlichkeit, des Selbstmitleids zu bezichtigen, schiebt er ein Tempotaschentuch auf einem Beistelltischchen hin und her. »Ja, ich bin emotional abhängig.« Heute traue ich mich, das zu sagen. Endlich. Mit achtundvierzig. Wenn ich damit fertig bin, kann ich ja mal vorsichtig in das große schwarze Loch gucken, ob es nicht auch Geschichten bereithält. In die Behandlung hineingegangen bin ich mit einer wahnsinnigen Angst vor emotionaler Abhängigkeit, das habe ich auch gleich gesagt. Emotionale Abhängigkeit war eines der wichtigsten Themen, und zwar dahingehend, dass ich mich partout nicht abhängig machen wollte, weder von ihm noch von sonst 335 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

jemandem. Ich könnte sagen: Durch die Analyse habe ich gelernt, mich abhängig zu machen. Ob das jetzt unbedingt erstrebenswert ist, sei dahingestellt. Eine Frage, die ich ihm stellen könnte. Er würde dann so was sagen wie: Hören Sie, Sie sind doch gar nicht von mir abhängig. Was ist das denn, was Ihnen hier so wichtig ist? Statt zur Sache zu kommen, sage ich: »Den ganzen Nachmittag habe ich nach dem Stichwort Borderline gegoogelt, den unter www.psychotherapiepraxis.at verfügbaren Borderline-Test gemacht: Demnach habe ich das nicht. Dafür aber Asperger.« Hirtberg lacht. »Und ich habe festgestellt, dass ich eine ganze Menge für Borderline charakteristischer Züge trage, die auch in der Analyse zur Sprache kamen. Aber Sie hätten das doch diagnostiziert, oder!? Hirtberg, bitte sagen Sie nicht: Frau Thieme, Sie haben keinen Bedarf mehr, Sie sind gesund, jetzt sehen Sie zu, wie Sie ohne mich klarkommen.« Von draußen fällt verhalten Sonnenlicht ein, frühherbstliches, etwas milchiges Orange. Es legt sich statt meiner auf die Couch, überzieht sein Gesicht mit einem matten Schimmer. »Ja, das sehe ich jetzt auch«, sagt er, nachdem ich ihm lang und breit, jedoch nicht unter Tränen, dargestellt habe, dass ich eben nicht fertig bin, dass ich nicht gehen kann, so, in diesem zerfledderten Zustand, schon gar nicht. Ich hocke auf der Sofakante, vornüber gebeugt, fahre mit den Händen in meine Haare, raufe sie mir im Wiedererleben schneidender Verzweiflung. »Ich war so traurig, Hirtberg, Sie machen sich keine Vorstellung davon …« »Doch.« »Ich war ver-zwei-felt«, jede Silbe einzeln betonend. »Ich kenne diesen Schmerz nicht, ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, fünf ganze Tage habe ich neben mir gestanden … und jetzt gerade, auf dem Weg hierher: Ich hatte eine solche Angst, dass Sie mich wegschicken würden.« »Das gehört nicht hierher. Nicht in diesen Raum. Das bin nicht ich. Wer sagt, dass ich Sie wegschicken könnte?« »Sie nicht.« »Sehen Sie, das kommt woanders her. Das hat was mit dem nicht ambivalenzfreien Empfangsraum zu tun. Sie haben das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Das hat nichts mit uns zu tun«, insistiert er mit sanfter, aber bestimmter, sehr bestimmter Stimme. Sprachlos gucke ich ihn an. Er ist so einfühlsam. Immer noch. Schon wieder. Konstant. Verlässlich. Versuchsweise beschreibe ich dieses unsägliche, Gefühl abgrundtiefer Verlorenheit, das mich erfasst hat, ganz wie zu Beginn der Analyse, mit dem Unterschied, dass er nun eben nicht mehr da sein würde. »Im Gegensatz zum Beginn, wo ich mich fallen lassen konnte, weil Sie da waren.« »Aber jetzt können Sie das.« »Was?« 336 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Sich fallen lassen. In das Gefühl der Verlorenheit. Sie haben mir das ganz genau beschrieben. Sie haben sich allein und nackt gefühlt. Verlassen.« Er hockt auf der Kante seines Sessels, spiegelt die Haltung seines Gegenübers, ich weiß nicht, ob bewusst oder unbewusst. Eindringlich, wie zu einem Kind, sagt er: »Sie wissen, das haben wir doch schon besprochen, dass wir weitermachen können. Ich gehe Ihnen nicht verloren.« »Hmm.« Berühren, umarmen möcht ich dich vor Liebe und Dankbarkeit, werde von Gefühlswogen überspült, so intensiv wie in den ganzen vier Jahren nicht, lasse mich fallen und sage ihm, dass ich ihn brauche. Nicht wörtlich, aber er versteht: »Hören Sie, Sie waren nicht willkommen, damals, Sie wurden verhöhnt, verlacht, nicht ernst genommen, geschlagen, Sie haben emotionale Gewalt erfahren. Ich habe mich schon immer gewundert, wie Sie das mit Ihrer kantigen Art – ich sage jetzt bewusst: kantig«, er lächelt, »wie Sie das alles so beiseite packen. Sie hatten mit Ihrer Art Erfolg, sind durchgekommen …« Er hat sich genau gemerkt, dass ich das Wort schnodderig so hasse. »… und jetzt spüren Sie, weil Sie Vertrauen haben, dass Sie nicht alles mit eben dieser Haltung abtun können. Oder wollen.« »Ja, ich vertraue Ihnen.« Fast hätte ich »Amen« gesagt. Blauäugig gucke ich ihn an, vertraue ihm. Bedingungslos. Nie erlebt. Nein, Sie sind keines dieser Analytikerschweine, die ihre Patienten wegschicken. Oder ausnehmen. Sie sind so fair, Hirtberg, so ehrlich. Sie sind so ein wunderbarer Mensch, denke ich, und möchte mit ihm auf einer dieser spätsommerlich-frühherbstlichen Wiesen liegen, den matt-morbiden Duft versterbenden Grases riechen, vertrocknete Eschenblätter zwischen den Fingern zerreiben, die Fingernägel in seine Haut graben, den Blick im schimmernden Braun seiner klugen Augen verlieren, ihm die Schuhe ausziehen, seinen zusehends kahler werdenden Kopf an meine zusehends flacher werdende Brust drücken, seine Brauen nachzeichnen, die Kontur seiner Lippen, in seine großen Ohren beißen, sein Brusthaar, das ich nicht oft genug zwischen zu vielen geöffneten Sommerknöpfen habe schimmern, verstohlen habe sehen können, durchwühlen, erleben, wie ein Feuerwerk – verdammt, wo ist Rufus? Durch das Fenster dieses – unseres – Raumes fällt das Licht des ersten Herbsttages herein, verzahnt sich mit dem bunt gemusterten Baumwollteppich, so, wie sich heute früh zwischen Verkehrshinweis und einem redaktionellen Beitrag zur Wirtschaftskrise I touch his perfect body with my mind um fünf Uhr sechsunddreißig, mit der Autobahn Richtung Assgart, verschränkt hat. Seit Tagen nichts gegessen. Mein Magen knurrt. Ich möchte mich auflösen. Jetzt tue ich es. Die Artistin klatscht vor Vergnügen in die Hände. »Sie sind mit Ihrer kantigen Art durchgekommen, und jetzt schaffen Sie es, Vertrauen zu entwickeln. Nicht in mich. In sich selbst. Sie haben das Vertrauen, dass es in Ordnung ist. Und Sie haben das Vertrauen, dass der Zeitpunkt kommen wird, an 337 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

dem Sie gehen können. Sehen Sie, das haben Sie: Vertrauen. Stabilität. Sie wissen, dass der Zeitpunkt kommen wird, und Sie wissen, dass er noch nicht da ist. Sie kommen mit der eindeutigen Gewissheit, dass Sie noch nicht fertig sind. Dass Sie nicht gehen können. Sie machen das ganz ausgezeichnet!« Ich schiebe mich an die hintere Kante der Couch, die so breit ist, dass jetzt meine Waden auf der vorderen Kante ruhen, hänge sozusagen in den Seilen. »Gucken Sie doch mal, wie Sie jetzt sitzen.« Ich gucke. Mein Bauch ist flach. Gott sei Dank. Ich höre sofort auf zu essen. Ganz. Mir wird klar, dass ich aufgemacht habe. Ich hocke nicht mehr verkrümmt, sondern offen, bin erleichtert: Er ist bei mir und er bleibt bei mir und ich kann weiter zu ihm gehen. Ich bezahle. Ich wollte mehr bezahlen, als er verlangt, aber er sagt, nein, das ginge nicht, er könne seinen Kurs nicht vor dem Hintergrund einer Symptombesserung erhöhen. Wenn ich mal mehr Geld verdienen würde, könnte ich es ihm ja sagen. Ich regele es so, dass ich in der kommenden Woche einen Umschlag für zehn Stunden mitbringe, dann habe ich auch Sicherheit. Eine zusätzliche Sicherheit. Das geht dann bis Weihnachten, eine Stunde pro Woche. Und dann noch mal so eine Aktion. Vielleicht kann er irgendwann neue Stunden beantragen. Oder ich verdiene ein bisschen mehr. »Ich helfe Ihnen auch gern, etwas mehr Geld zu verdienen.« Ich liebe es, wenn mein Coach mich so verschmitzt anguckt. Die Stunde ist um, aber er sagt: »Wir müssen jetzt noch den Rufus verarzten.« »Wie meinen Sie das?« »Sie haben mir erzählt, dass Sie ihm gegenüber das Gefühl haben, ihn mit Ihren Gefühlsäußerungen zu überfordern« »Ja … Ich lese ihm auch nicht mehr vor. Und die Powerpoint habe ich ihm auch nicht gezeigt.« »Machen Sie ihm klar, dass es die Beziehungsebene ist. Die hat mit mir nichts zu tun.« »Doch! Doch, ich will keinen anderen, ich will nur Sie, am besten für mich ganz allein.« Noch während ich das sage, weiß ich, dass es ihn amüsieren wird. Vielleicht sage ich es, weil ich es so mag, wenn er lacht, und sei es über mich. »Ja, natürlich ist unsere persönliche Beziehung«, er unterstreicht das mit einer Geste, »auch mit mir verbunden.« »Manche im Forum von Psychotherapiepraxis sagen, ich sollte mir einen anderen Analytiker suchen. Aber das ist doch unmöglich, wie soll das denn funktionieren?« »Nein, das geht auch nicht. Der Prozess der sich hier abspielt, ist ein individueller, gewachsener, den können Sie hier auch nicht rausnehmen. Indem Sie so regredieren«, damit meint er die Übertragung eines Gefühls, das mit unserer derzeitige Situation eben gar nichts zu tun hat, »kommen Sie an Ihre Gefühle, an Ihr Inneres.« »Sie sind aber nicht meine Mutter oder mein Vater und ich bin nicht Ihre Tochter!« 338 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Er versucht, mir die Beziehungsebene transparent zumachen. Verstehe ich nicht. Ich werde ihn bitten, das grafisch darzustellen, zu zeichnen, zu malen, mir was zum Angucken zu geben. Direkt nach Nr. Dreihundert fahre ich zu Anna, gehe mit ihr in ein extrem spießiges Café in der Innenstadt, berichte ihr alles. Sie hört sich die ganze Geschichte an, erzählt aber dann von einem Film, der mich im Augenblick nicht interessiert. »Das Schreiben ist im Prozess der Analyse immer wichtiger, ja, beinahe Teil von ihr geworden. Na, jedenfalls eigne ich mir meinen Analytiker auch schreibend an, habe ihn quasi immer bei mir. Ganz schön schräg«, poste ich im Psychotherapieforum, »ich denke vierundzwanzig Stunden am Tag an meinen A.« Diese vierzehn Tage zwischen der aus meiner Sicht letzten und der wirklich ersten Stunde der neuen Ära, wie ich das nennen will, waren der Horror. Obschon in der Stunde in-between – Nr. Dreihundert – geklärt wurde, dass es erst einmal weitergehen kann, bin ich zurückgefallen in alles, was man sich nur denken kann. Aufgelöst, konturlos, verloren über spätsommerliche Äcker wankend, um sieben Uhr morgens auf dem Pferd, um überhaupt irgendeinen Ankerpunkt zu haben. Der Stall ist real, das Pferd. Es erwartet etwas, ich fühle mich verantwortlich, gleichzeitig unter Druck, überfordert, aber das kenne ich ja. In diesem Gefühl bin ich zu Hause. Komplett versunken in die Parallelwelt ohne Verankerung in der realen Welt. Ausschließlichkeit im Erleben, keine Stabilität, nirgendwo, nicht einmal in der Parallelwelt, die sich ja aufzulösen droht, faktisch aber nicht auflöst, denn: Hirtberg geht mir ja nicht verloren. Alles, was während der vierjährigen Analysezeit geschehen ist, erscheint jetzt unwirklich, als hätte ich alles, was ich getan habe, in wahnhaften Zuständen getan. Jetzt bin ich zurück, ohne Hirtberg, das ist das Einzige, was sich während der Analyse nicht geändert hat: Mit seinem ambivalenzfreien Empfangsraum war er die ganze Zeit bei mir. Jetzt ist er weg. Und mit ihm die Artistin. Und die Organisation, für die ich mich immer noch zusammenreißen musste, gibt es in der Form für mich auch nicht mehr. Und das ganz Neue, wie Rufus es formuliert, ist noch nicht da, und er selbst, Rufus, ist weg, realisiert in Zusammenarbeit mit den Schülern eines Gymnasiums ein kunstpädagogisches Projekt. Und Hirtberg ist weg. In meinem Erleben ist er weg. Die Analyse ist zu Ende – aber mal ehrlich: Ist eine Analyse überhaupt je zu Ende? Zu dem Thema muss ich unbedingt die Diskussion studieren, von der Anna sprach. Rufus kommt aus diesem hessischen Kaff zurück, was in höchstem Maße ambivalent ist. Ich freue mich auf ihn, finde seine Stimme am Telefon sehr erotisch, und er sieht so gut aus, als er endlich seinen Bus samt Pferdeanhänger geschickt vor dem Atelier einparkt. Seine grünen Augen strahlen, er schmeckt nach Pfefferminz, als er mich küsst, 339 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ich spüre seinen schönen, völlig präsenten, absolut realen, sehr männlichen Körper. Ich habe Pflaumenkuchen gekauft, ein paar Herbstblumen, den Tisch gedeckt und Kerzen angezündet, er soll sich empfangen, erwartet fühlen, was der einen Seite aller Ambivalenz entspricht. Die andere Seite ist die Parallelwelt. Auch am nächsten Morgen, als ich den Kopf in seine Achselhöhle schmiege, seine Brust streichele und an Hirtberg denke. »Du bist in einer schwierigen Übergangszeit. Es ist überall das gleiche Thema, das du da hereingereicht bekommst«, sagt er später, als wir im Garten auf der Bank sitzen. Die Sonne scheint und lässt die Kastanien glühen. »Lass doch einfach mal das Leben zu und versuche, nicht alles zu reglementieren. Du kannst nicht alles planen – und es passiert auch nichts Schlimmes. Bei dir ist das Alte aufgelöst und das Neue noch nicht da. Deswegen kannst du auch jetzt deine Analyse nicht beenden.« Das Pferd erlebe ich als Belastung. Rufus will mit mir am Strand entlang reiten, das ist sein Ziel. Er ahnt nicht im Entferntesten, wie weit er davon entfernt ist. »Es ist doch alles da«, sagt er. Ja, er hat recht, aber er kann weder reiten noch mit Pferden umgehen. Ich fühle mich ständig verantwortlich und glaube obendrein nicht daran, dass nur eine, maximal zwei Reitstunden, ach was heißt hier Reitstunden – Reiteinheiten à dreißig Minuten pro Woche – ausreichen, um dieses Ziel auf absehbare Zeit zu erreichen. Und dann wieder vierzehn Tage gar nicht. Wie soll er das lernen? Oder übertrage ich meine innere Strenge auf diesen liebenswerten, optimistischen Menschen, der mit Freude dieses Pferd mit Möhren füttert, ihm einfach nur die Beine abwäscht und seine helle Freude daran hat? Warum vermurkse ich ihn diese Freude, indem ich fauche: »Der Putzkasten wird nass«, statt ihn einfach kommentarlos zu schließen, alles wegzuräumen und mit ihm und mit dem Pferd zu spielen, die Sonne zu genießen, das Zusammensein mit den beiden? »Das darf ja jetzt auch nicht einfach nur Spaß machen, hier muss gearbeitet werden«, sagt Rufus. Ja. Jedes Wort über Hirtberg verkneife ich mir, weil ich Rufus nicht mit diesem Mann konfrontieren will, solange ich emotional derartig gespalten bin.

340 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Können wir jetzt mit der Analyse beginnen?

I

m Vergleich zur letzten Stunde komme ich ziemlich aufgeräumt zu Hirtberg und erzähle ihm gleich von der Woche ohne Rufus, davon, wie schrecklich verloren ich mich gefühlt habe. »Sehen Sie, das ist ja so ein Grundgefühl bei Ihnen. Noch mal: Ich habe mich immer gewundert, wie Sie über diese frühe Verletzung hinweggegangen sind, ohne sie in den emotionalen Bereich zu lassen.« »Hirtberg, ich glaube, der September mit diesen unermesslichen Ängsten hat einen gigantischen Knoten platzen lassen. Frage an Sie: Können wir jetzt endlich mit der Analyse beginnen?« Er lacht. Gut, dass er Sinn für Humor hat. Ich fühle mich so erleichtert mit der Karteikarte, auf deren Rückseite ich Termine fast bis Weihnachten notiert habe, gerade ausgemacht. Ich muss das alles hier nicht aufgeben. »Sie müssen das alles hier nicht aufgeben«, spiegelt er den einzigen klaren Gedanken, den zu fassen ich in der Lage bin und der offenbar von meiner Stirn abzulesen ist, »das war es, was ich in der letzten Stunde – und auch in der davor – mehrfach habe Ihnen vermitteln wollen. Das haben Sie dann immer kurzfristig angenommen, und wenige Minuten später musste ich es Ihnen noch mal sagen, weil Sie sich schon wieder verloren hatten, weil Sie in diese Regression gegangen sind. Das hier«, er steht auf, schreitet vom Sessel zum Schreibtisch unter dem Fenster und zurück und überreicht mir jedes Wort einzeln wie ein Geschenk, »ist ein ambivalenzfreier Empfangsraum.« Er betont das zum was weiß ich wievielten Mal, aber ich kriege es nicht in den Kopf, vom Gefühl ganz zu schweigen. »Das Meiste, was hier auf der Karteikarte steht, verbuche ich inzwischen unter der Rubrik Alltagsbewältigung: unsere Reiterei, Pferd oder nicht Pferd, mein Knie, meine Zähne, ja sogar die Artistin, die wieder da ist. Ich glaube, es geht um etwas ganz anderes. Es geht viel tiefer. Mit allem Genannten komme ich klar. Womit ich offenbar nicht klarkomme, ist der Umstand, dass ich, verschärft durch diese Ära, die zu Ende gegangen ist, ohne dass das hier«, ausschweifende Geste, »kurz: Ich komme nicht klar mit dem Umstand, dass ich vierundzwanzig Stunden am Tag an Sie denke.« »Was denken Sie denn?«, erkundigt er sich bemerkenswert gelassen. »Das sage ich nur, wenn ich liege.« Ich lege mich hin.

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»Hirtberg, ich mache jetzt ernst, sage ab jetzt alles. Ich denke immer an Sie.« »Und was geht Ihnen da konkret durch den Kopf?« »Na, alles Mögliche«, sage ich vage, »auch Erotisches, aber kein …« »Kein Hardcore-Sex?« »Nein … Sex schon, aber nicht wirklich … Ich stelle mir vor, dass wir auf einer spätsommerlichen Wiese sitzen, ohne Körperkontakt, obwohl es das ist, wonach ich mich am meisten sehne.« Ich will Sie berühren, Hirtberg, denke ich. In der nächsten Stunde sage ich es. Ich erzähle ihm, dass ich in der Armbeuge von Rufus liege und an meinen Analytiker denke. »Was fühlen Sie denn dabei?« »Schuldgefühle natürlich …« »Das lassen wir jetzt mal weg.« »Ja, gut, in der Fantasie ist ja alles erlaubt.« »Und was ist das Gefühl, können Sie das beschreiben?« Ich denke nach. Versuche, das Gefühl abzurufen. Ohne Erfolg. »Und auf der Wiese, was fühlen Sie da?« »Sehnsucht ohne Ende …« »Nein, die haben Sie in dem Augenblick nicht, die befriedigen Sie ja mit Ihrer Fantasie.« »Höchst unzulänglich.« »Was fühlen Sie, Frau Thieme?« »Vielleicht ein bisschen Stolz, dass ein so großartiger Mensch sich überhaupt mit mir beschäftigt.« In der Tat, ich sehne mich nicht nach Hardcore-Sex, was auch immer er darunter versteht, sondern nach erotischer Verschmelzung. Ich will ihm ganz nah sein, ihn umfangen und von ihm umfangen werden. »Es muss nicht Sex sein, dagegen einzuwenden hätte ich allerdings auch nichts. Aber auf den Praxistest werden Sie es ja bekanntlich nicht ankommen lassen.« »Nein.« »Wissen Sie, es gab in den letzten Wochen genau dreißig Minuten, in denen ich nicht an Sie gedacht habe, was mir aber erst nach eben diesen dreißig Minuten aufgefallen ist. Das war in der Reithalle, als ich Rufus Unterricht gegeben habe, ganz sanft.« »Wie haben Sie sich dabei gefühlt?« »Ich weiß nicht.« »Was haben Sie ihm gegeben?« »Wahrnehmung.« »Was noch?« Hirtberg arbeitet mit kurzen, sehr eindringlichen Sätzen. Er kapiert, welcher Knoten sich da lockert. »Sie machen das sehr gut«, sagte er wieder, so wie in der vergangenen Stunde. Ich begreife, dass ich mich auf etwas anderes als Alltagsprobleme einlassen muss. 342 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Und was noch? Was haben Sie ihm gegeben, wenn Sie ihm gesagt haben, dass alles in Ordnung ist, dass Sie bei ihm sind und die Sache im Griff haben?« »Ah, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen!« Er lacht. »Sicherheit. Ich habe ihm einen Boden angeboten, der trägt.« »Ja. Und über diesen Umweg haben Sie einen Boden gespürt, der trägt.« »Bei den Pferden fühle ich mich sicher. Die laufen nicht weg, sind berechenbar, ich habe Erfahrung und weiß, was ich tun muss. Und ich weiß, was Sie tun werden. Der Hallenboden trägt.« »Und genau deswegen denken Sie dann nicht an mich. Weil Sie bei sich sind und Stabilität verspüren.« »Ich wollte Rufus Sicherheit geben, bei ihm sein … Hm, wissen Sie, ich finde diesen Mann nach wie vor klasse, er passt zu mir, es berührt mich, wenn, wie heute früh in der Dusche, er mich aus seinen grünen Augen anblinzelt. Ich lebe in zwei Welten.« »Das müssen wir noch herauskriegen, was das mit dieser Welt, in der Sie mich verorten, auf sich hat. Hören Sie, die Vorstellung von Hardcore-Sex mit mir wäre das Analogon zum Ende aller Fantasie, wenn sie Realität würde!« »Ja, vielleicht. Aber ich weiß es ja eben nicht. Andererseits: Mit allen Männern ist es so, dass das Ende der Träume erreicht wird.« »Mit mir wäre das genau so.« »Wie ich schon sagte: Das weiß ich eben nicht.« Angestrengt denke ich über das Gefühl nach, das sich in den Fantasien von Hirtberg einstellt. Neugier einerseits: Ich will sein Schwächen kennenlernen, seine Neurosen. Vor allem will ich wissen, wie er sich anfühlt. Nein, nicht wissen, ich will das fühlen. Rufus ist Rufus und Hirtberg ist Hirtberg. Ich kann Bilder von Hirtberg beim Sex mit Rufus abrufen, die sind statisch. Bilder eben. Sie korrelieren nicht mit dem Gefühl, dass ich mit Rufus habe. Die Weizenfelder sind wieder Äcker und man kann darüberlaufen. Noch sind die Stoppeln nicht untergepflügt. Noch sind die Bäume voller grüner Blätter. Ich denke an Hirtberg und versuche, mir vorzustellen, mit ihm Sex zu haben. Es funktioniert. Aber noch immer sind es Bilder, nein, weniger noch: Ich sehe seine Augen, seine Hände, ich fantasiere seinen Körper, doch bleiben es Puzzleteilchen. Verlangen? Begehren? Keine Ahnung. Die Autobahn ist frei, ich höre ein ums andere Mal das gleiche Stück, denke an Hirtberg und versuche, mir vorzustellen, mit ihm Sex zu haben. Es funktioniert. Das Gefühl dabei? Sehr erotisch. Aber nicht sexuell. Trotzdem will ich alles mit ihm. Sex, die Wiese, das Leben … Mit ihm sein, allein mit ihm, nicht in Gesellschaft, nicht im Kino, nicht im Konzert, gern auf Kongressen, wenn’s sein muss, Ausstellungseröffnungen, Tagungen. Reiten? Nein. Rufus rührt mich an, wenn er von den Pferden spricht, uns am Strand entlang galoppieren sieht, wie er Dana mit Möhrchen, Traubenzucker, Maiskeimöl, Leckerli und 343 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Äpfeln versorgt. Es schmerzt mehr als das Knie, dass mir im Augenblick der Sinn nicht nach Pferden steht, oder besser: nach Reiten. Zum Stall fahre ich gern, aber ich habe keine Lust, zu reiten. Dressur lohnt nicht mehr, ich will auf keine Turniere mehr gehen, die Zeit ist längst vorbei. Ausreiten können wir noch nicht, es wäre verantwortungslos, den Mann, den ich liebe, den Gefahren, von denen er nicht im Geringsten ahnt, dass es sie gibt, auszusetzen. Reiten ohne Leistung? Nicht mal ein junges Pferd zur Ausbildung ist da, Hazel ist noch keine drei Jahre alt. »Diverse Zensoren, Hirtberg, brüllen mir ins Ohr: Der macht dich absichtlich abhängig, will nur an dein Geld … Red dir doch nix ein … Lass den Mann doch endlich in Ruhe … Schämst du dich eigentlich gar nicht? Wie kannst du dir nur diese Blöße geben? Nimm dich nicht so wichtig! Allesamt Schwätzer, diese Psychogurus! Und wissen Sie was? Die kriegen was aufs Maul!« »Und wenn das nichts nützt, dann schlagen Sie einfach noch mal zu«, grinst er zum Auftakt von Nr. Dreihundertzwei. Äußerlich ist die Situation wie vor dem Ende. Innerlich ist sie besser. Ich kann mich einfach auf die Couch legen, habe keinen Kloß im Hals. Und selbst wenn: Der Typ ist einfach der beste Analytiker der Welt. »Ich habe wieder etwas mehr Stabilität«, erzähle ich ihm, »nachdem ich die neuen Termine eintragen konnte«, um mich dann, etwas zusammenhangslos, zu erkundigen, was Ausstieg auf analytisch heißt. »Reizüberflutung«, antwortet er, um mich erst mit Ausführungen über Ich-Funktionen und Impulskontrolle zu überfluten und mich dann mit einem Bild zu halten: »Ein Baby«, jetzt fängt der schon wieder mit den Babys an, verdammt, ich bin kein Baby, »nimmt man ja auch nicht mit in den Baumarkt. Zu Anfang war das ja so, dass Ihnen alles ganz schnell zu viel wurde. Ich habe ein Weilchen gebraucht, bis ich das kapiert hatte: Es war für Sie wie für das Baby im Baumarkt.« »Im Alltag klappt das mit einer gewissen Abschottung ganz gut: Mein Hang zum Minimalismus hat da wohl seine Wurzeln.« »Als ich das dann kapiert hatte, habe ich Sie gehalten – in einem ganz bestimmten Ton –, indem ich Ihnen gar nicht mehr so viel angeboten habe.« Ich entwerfe das Bild von der gegenwärtigen Situation. Mit ruhiger Stimme und einem leichten Lächeln sage ich: »Wissen Sie, ich sehe das so: Es gibt da diesen roten Faden, der auch in dem Mosaik erscheint, und dieser rote Faden hat einen Knoten, dem sind wir in unserem ersten Jahr begegnet, Sie wissen, wovon die Rede ist. Diesen Knoten haben wir – habe ich – beiseite gelegt, es waren andere Dinge zu regeln, in der Außenwelt, in der ich über den Weg des Chaotisierens vieles neu geordnet habe. Der Knoten war immer da, konnte aber erst Thema werden, als das hier alles, aber auch wirklich alles, zu Ende war. Zu Ende zu gehen drohte.« »Obwohl ich Ihnen immer wieder gesagt habe, dass Sie kommen können, so lange Sie wollen.« »Ja.« 344 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»An dieser Stelle muss ich Ihnen ja mal was gestehen«, sagt er. »Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich doch einen Kassenantrag stellen sollte. Ich habe gesehen, dass Sie nicht fertig sind, aber dann dachte ich, dass es eben jetzt anders gehen muss. Wenn ich weitere sechzig Stunden beantragt hätte, wären Sie an diesen Knoten, diesen Punkt, diese vierzehn Tage, drei Wochen, nicht gekommen.« »Nein.« »Und deswegen habe ich Ihnen gesagt, dass Sie kommen dürfen, dass ich Ihnen nicht verloren gehe. Ich wollte Ihnen Sicherheit geben. Sie halten, wenn Sie so wollen.« »Und gerade mit dem, was Sie jetzt sagen, geben Sie mir ein noch mal so ein gutes Gefühl! Sie sind nicht der Meinung, dass ich gesund bin, fertig mit der Analyse?« »Hören Sie, ich habe sehr deutlich gesehen, und das habe ich Ihnen auch gesagt, dass Sie in Not waren.« Ich frage mich, ob es ihm auch schwer gefallen ist. Nein, natürlich nicht. Aber die Frage, nur mir selbst gestellt, wird ja wohl gestattet sein. Ich bin sicher, dass er es gut findet, dass ich nicht weg bin, sondern mir weiterhin den Boden von ihm bereiten lasse. Dann erzähle ich, dass ich in diesen vierzehn Tagen in-between überhaupt nicht an den Notizen arbeiten konnte, zumal ziemlich missratene Kapitel zur Überarbeitung anstanden. »Ich war da nicht mehr drin, in dieser Welt. Was die Beschreibung der Zeit bis zum Punkt x betrifft, stehe ich jetzt außen vor, betrachte und schreibe und redigiere; wie eine Schriftstellerin, die eine Geschichte erfindet, arbeite ich konzentriert, mit einem veränderten Fokus. Anders verhält es sich mit dem Aktuellen, mit dem ich mich innerlich verbunden fühle, das ist jetzt die Welt, in die ich alle Gefühle gebe. Das ist alles sehr komplex, ich wollte Ihnen das nur erzählen, Sie teilhaben lassen, wir müssen nicht darüber reden.« Nicht, dass er sich damit so lange aufhält wie mit dem Ausstieg. »Sehen Sie, das ist jetzt eine Ich-Funktion, Sie regulieren. Worüber wir uns noch verständigen müssen, ist der Knoten, der wieder aufgetaucht ist«, sagt er, neigt sich leicht nach vorn, ich sehe ihn aus den Augenwinkeln. Für rund dreißig Sekunden schweige ich. Dann: »Es gibt ein Bild für die Situation, wie sie vor drei Jahren, in unserem ersten Jahr war: Damals habe ich alle Gefühle ganz bewusst und entschieden hier herausgenommen, sie nach außen getragen«, ich blicke aus dem Fenster und stelle mir bildhaft vor, wie eben ich diese Gefühle dieses Raumes verwiesen, sie auf die Straße geschickt habe, um dann erst mal dort beschäftigt zu sein, »tatsächlich in dem Glauben, dass würde reichen. Aber es reichte nicht. Jetzt sind es die gleichen Gefühle wie damals. Bitte verschonen Sie mich jetzt mit Vaterübertragung oder so … Was meinten Sie eigentlich mit Hardcore-Sex?« Ein bisschen schelmisch guckt er mich an. »Das habe ich mir gedacht, dass Sie darüber stolpern würden!« »Stolpern? Ich assoziiere Lack und Leder, wenn Sie das meinen: Kann ich mir mit Ihnen nicht vorstellen. Übrigens auch sonst nicht.« 345 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Nein, ich meinte damit genau das, was Sie als Experiment beschrieben haben. Dass Sie, wie Sie es gemacht haben, sich beim Sex mit Rufus mich vorstellen. Wie war das denn? Das, was Sie letztens beschrieben haben, als Sie in seinem Arm gelegen und an mich gedacht haben. Das geht, wie Sie sagen. Das ist stimmig. Nicht stimmig, und das sagen Sie ja auch, ist die Vorstellung von richtigem Sex. Nicht stimmig ist die sexuelle Begegnung. Das entspricht übrigens genau dem, wie ich die Beziehung zwischen uns empfinde.« »Sie finden mich nicht …« »Jetzt hören Sie doch mal auf damit. Ich finde Sie attraktiv, aber ich finde unsere Beziehung ist geprägt von … ja, auch von Zärtlichkeit, Humor, Zuneigung. Aber nicht von Sex.« »Nein. Leider nicht. Wobei ich mir das mit Ihnen sehr gut vorstellen kann.« Beharrlichkeit ist eine meiner Stärken. »Unsere Beziehung ist nicht geprägt von Leidenschaft«, insistiert er. »Doch, gerade von Leidenschaft!« Er versucht es anders: »Von Sehnsucht? Von leidenschaftlicher Sehnsucht?« »Leidenschaft ist so viel mehr. Sie korreliert mit dieser Idealisierung. Apropos: Sie fragten nach den Gefühlen bei dem Marathon des Vierundzwanzig-Stunden-am-Tagan-Sie-Denkens – sagen Sie, ist Neugier eigentlich ein Gefühl?« »Ja, ein ganz basales Gefühl: Interesse.« »Aha. Neugier wäre so ein Gefühl. Ich möchte wissen, wie Sie sich anfühlen … Eigentlich will ich gar keinen Sex, jedenfalls nicht primär. Vielmehr möchte ich wissen, wie Sie sich anfühlen, möchte Sie berühren, körperlich, Ihre Haut spüren, möchte Sie umarmen, aber das ist schon wieder so klischeehaft …« »Wenn Sie jetzt Ihre ganzen Zensoren, die Ihnen sagen, das sei klischeehaft, noch eins aufs Maul geben würden, dann machen Sie das gut. Ja, Sie machen das gut hier!« Inzwischen glaube ich wirklich, dass er mich nicht als lästig empfindet. Nun, ich mache ihm ja auch gehörig Komplimente, die ich alle ernst meine. »Wir müssen mal sehen, dass wir die ganzen Begriffe auseinanderhalten.« »Welche Begriffe? Sehnsucht? Liebe? Verlangen? Bewunderung? Idealisierung? Sex? Erotik? Ihre Art ist einfach hinreißend!« »Was Sie von mir wollen, ist nicht Sex, sondern gehalten werden. Sicherheit. Konstante Zuverlässigkeit.« Bestimmt denkt er, dass er mir genau das geben kann, solange er dafür bezahlt wird. Aber ich glaube, wenn ich absolut kein Geld mehr hätte, würde er es auch machen, zwei, drei Stunden. Allerdings wäre es dann kontraproduktiv: Massive Schuldgefühle wären die Folge. So, wie es ist, ist es absolut in Ordnung und goldrichtig. Zu Mittag esse ich einen Salat und den Deckel eines Kürbiskernbrötchens und mache mich dann an den Vortrag, den ich am nächsten Tag in einer Galerie zu halten habe. Mit dem Honorar kann ich weitere fünfzehn Stunden finanzieren.

346 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Nadelstreifenanzug, rehbraune Schuhe, rehbrauner Gürtel, fein kariertes Hemd. In seinen Augen blitzt für Bruchteile von Sekunden einer meiner Mitschüler, mit dem mich um die Abiturzeit viel verband, dann wieder Timo, ganz ähnlich wie in Rufus’ Augen ab und zu Martin schimmert und seine Züge Jurij nachzuzeichnen scheinen. Perfekte Übertragung, oder was ist das? »Einfach nur sagen … Ich möchte es Sie wissen lassen, nicht darüber reden, das ist nicht nötig, aber ich möchte, dass Sie wissen … »Sehen Sie, hier grenzen Sie sich ab. Hier bestimmen Sie.« »Ja. Ich möchte einfach nur sagen, dass es mit dem Essen wieder geht. Eine ambivalente Hungerphase, abgenommen: niedrigstes Gewicht seit der Klinik. Einfach nur sagen, dass unser Pferdemanagement super funktioniert, einfach nur sagen, dass ich gelernt habe, zu betrachten, zu akzeptieren, etwas mit Ruhe angehen. Einfach nur sagen, dass Timo mit seiner Therapie zufrieden ist und an sich heranzukommen scheint, sich mehr öffnet. Er hat mir erzählt, dass, je offener er wird, ihm seine Freundin umso zugeknöpfter erscheint. Er sagt, ich solle mit dem Vorlesen vorsichtig sein.« Um Hirtberg zu illustrieren, was gemeint ist, lese ich ihm eine Passage vor, die ich auch Rufus vorgelesen habe: »Ich liebe sein Lachen, seine Professionalität, seine Flexibilität im Geiste. Seine braunen Augen und seinen kleinen Arsch.« Bei dem kleinen Arsch lacht er. »Das ist ja noch harmlos«, sage ich, »keine Ahnung, ob ich Rufus mit meinen inneren Geschehnissen seit Mai diesen Jahres konfrontieren kann.« »Hören Sie, das müssen Sie für sich klar kriegen, wie weit Sie ihm was vorlesen können. Solange es so ist, dass eine Ebene hier keine Rolle spielt, ist es doch einzuordnen.« »Dann habe ich noch Fragen, Hirtberg: Warum haben wir an dem Knoten nicht weitergemacht? Warum haben Sie mir nicht geholfen, warum haben Sie nicht interveniert, wenn ich auf der Couch herumgelegen habe und nicht wusste, was ich machen soll?« »Ich habe nichts gesagt, weil ich immer gehofft habe, dass Sie da an diesen Punkt herankommen, an Ihre Verlorenheit. Dass Sie Ihren Boden verlieren.« »Was ich aber nicht getan habe.« »Nein.« Ich betrachte die Blüten der Begonienart und erinnere mich voller Unbehagen an diese Stunden, in denen mir nichts, aber auch wirklich gar nichts einfiel. Eine ist ganz welk, vertrocknet schon, in einer anderen bricht sich das Sonnenlicht. In der Nacht hat es ein wenig gefroren, der Sommer ist endgültig dahin, doch ich bin immer noch hier auf dieser Couch, und Hirtberg spricht mit mir. Er ist da. Ich habe ihn nicht verloren. Inzwischen ist das Setting – endlich! – gar kein Problem mehr. Am liebsten ist es mir, wenn ich liege, ihn aber trotzdem sehen kann, aus dem Augenwinkel. So kann ich weggucken oder Kontakt aufnehmen, ganz wie ich will. Er rollt mit seinem Stuhl ein paar Zentimeter vor, stützt zumeist die Ellenbogen auf die Knie, als wollte er es mir leichter machen, den Kontakt zu halten. Ich fühle mich unwohl, wenn ich keinen Kontakt habe. 347 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Himmel, das fällt mir erst jetzt auf: Ich fühle mich ohne Blickkontakt verloren, allein gelassen. Verlassen. Deswegen diese Schwierigkeiten mit dem Liegen! Von wegen Angst vor Übergriffen und Vorstellungen dieser Art, alles Klischee. Ich wünschte, er würde mal übergriffig, aber das ist ein anders Thema. Himmel, ist das interessant mit diesem Mann! »Warum sind Sie, als Sie überlegten, ob Sie noch mal sechzig Stunden beantragen sollten, zu der Auffassung gekommen, dass es jetzt anders – wie anders? – gehen muss? Haben Sie erwartet, dass ich einfach gehe? Mit ›einfach gehen‹ meine ich auch, dass ich sporadisch mal vorbeikomme und Sie als Coach missbrauche, wenn ich gerade mal nicht weiß, ob ich kündigen, mich scheiden oder mir ein neues Knie machen lassen soll?« »Ja, ich habe gedacht, Sie wären jetzt so stabil, dass Sie gehen würden. Traurig zwar und nicht ganz so leicht, aber ich habe das so gesehen.« »Sie haben nicht erwartet, dass durch diesen scharfen Bruch so etwas wie Retraumatisierung entsteht?« »Nein, das zu erwarten und trotzdem zu riskieren, würde ich für unethisch halten.« Er hat diesen Punkt nicht bewusst forciert. »Ich war erst etwas verwundert«, sagte er, »ich habe nicht geglaubt oder erwartet, dass Sie noch in diese Regression gehen würden.« Ha, das hat er mir nicht zugetraut! Ich habe ihn, meinen genialen Analytiker überrascht. »Es geht nicht um Sex. Es geht um einen Boden, der trägt, um Zuneigung und Verbundenheit. Sie haben es ausprobiert, als Sie mit Rufus im Bett lagen. Da ging es nicht, wie Sie sagen, da schoben sich zwei Glasplatten übereinander.« »Ja. Aber ich liege nicht vierundzwanzig Stunden am Tag mit Rufus im Bett. Ich mache endlose Spaziergänge mit Benno, sitze stundenlang im Auto, brettere mit hundertachtzig und lauter Musik durch die Gegend und Sie glauben nicht, dass es da eben doch geht? Für wie fantasielos halten Sie mich? Ich kann mir alles vorstellen, Hirtberg, auch Sex. Warum versuchen Sie, mir das auszureden und meine Gefühle auf diesen katholischen Teppich zu holen?« »Ich rede Ihnen gar nichts aus. Sie können fantasieren, was Sie wollen, über mich und über alle möglichen Leute.« »Ich fantasiere nicht über alle möglichen Leute. Ich fantasiere über Sie.« »Es kann ja sein, dass Sie mich ganz attraktiv finden, aber es geht hier nicht um Sex. Es geht hier um einen ambivalenzfreien Empfangsraum, den Sie mit Affekten betreten, die einem vorsprachlichen Bereich zuzuordnen sind, die Sie nicht benennen können, da hilft dann kein Sex! Würden Sie mir denn bis hierher recht geben?« »Ja.« »Wir benennen und versprachlichen hier Vorsprachliches, wir gucken uns Affekte an, denen kommen wir nicht mit Sex bei. Wenn Sie fühlen, dass Sie ohne diese Stunden hier nicht leben können, dann …« 348 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Nicht ohne dieses Stunden! Ohne Sie, Hirtberg, sonst könnte ich ja auch zu einem Ihrer Kollegen gehen!« »Gut, wenn Sie fühlen, dass Sie ohne mich nicht leben können, dann ist das ein ganz basaler Affekt. Den können Sie nicht benennen, wenn Sie da etwas wieder erleben: eben diese Verlorenheit.« »Nicht wieder erleben. Erleben, Hirtberg. Ich habe etwas erlebt, das ich so noch nie erlebt habe. Es war existenziell, wie Rufus sagen würde. Am Ende geht es doch darum, dass ich fürchte, wir würden uns durch dieses Benennen des Erlebens vom Erleben selbst entfernen, womit, da ich ja verstehe, schon wieder das Ende droht, denn wenn das Erlebte benannt und verstanden wird, gibt es keinen Grund mehr zu kommen. Und dann haben wir den gleichen Salat, es geht alles von vorn los, oder glauben Sie im Ernst, ich könnte nach diesen laufenden elf Stunden gehen?« »Nein. Das glaube ich nicht. Wir machen hier so eine Gratwanderung: Wir versprachlichen und bezeichnen und deuten – und kommen dann wieder an die Gefühlsebene.« »Hirtberg, ich freue mich auf jede Stunde. Inzwischen denke ich nur noch zwölf Stunden am Tag an sie. Jetzt sagen Sie bitte nicht, ›Na das ist doch immerhin schon mal eine Reduktion um fünfzig Prozent.‹ Oder: ›Was glauben Sie denn, wie das kommt? Was denken Sie denn in den anderen zwölf Stunden.‹ Oder: ›Was genau denken Sie denn in diesen zwölf Stunden?‹« Bei Hirtberg rede ich nicht über mein Knie, von dem ich nicht weiß, ob ich es durch ein künstliches ersetzen lassen soll, noch von dem Streit mit Rufus, bei dem es um das Übliche ging: zu wenig Zeit füreinander, zu wenig Beachtung. Geplant war ein Reitwochenende im oberen Rheintal, ich hatte ihm diese Reise zum Geburtstag geschenkt. Zur Stornierung bewegt uns sein Terminkalender, seine Arbeit, wobei ich mich des Eindrucks erwehren kann, dass ihm der Zustand meines Knies entgegenkommt. Auch Timo spielt hier keine Rolle mehr, ebenso wenig wie meine Zahnproblematik oder der Vortrag in Luxemburg. Die Begrenztheit des Stundenkontingentes ist das eine, das andere: Es geht jetzt und hier um anderes als Alltagsbewältigungsstrategien. Es geht um mein Leben. Bilder. Diese zu entschlüsseln, ist die einzige Chance, aus ihnen, eben diesen Bildern einer Parallelwelt, herauszukommen, ohne die gesamte Symptomatik wieder aufzubauen. Erinnerung an den Schmerz. Verletzt, nachhaltig. Sequenz: wie er mich forschen Schrittes im Wartezimmer abholt. Bewegung: Er wendet sich um – trägt er ein Jackett, schwingt das in einer besonderen Weise, als umspiele ein eleganter Frack seinen schmalen Körper. Handlung: wie er die Couch für die nächste Geschichte herrichtet, während ich den Raum verlasse. Und dann ist da Rufus. Ganz real, körperlich, räkelt sich fröhlich im Bett, lächelt mich 349 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

an, die kleinen goldenen Füllungen seiner Zähne oben rechts – von innen gesehen – blitzen, und seine Augen. Rufus ist, anders als Hirtberg, präsent, diesseitig. Die beiden sind eins und doch zwei. Rufus überspült mich und ich ihn, wir sind beide Steine und beide Wasser, wie dort, wo sich die Ozeane begegnen, oder bei einem Bachlauf, wo Wasser aus zwei Richtungen über einen Stein schwappt. Er stellt das Vogelhäuschen auf – es ist erst Anfang Oktober! – und häuft einen Berg verschiedener Flocken und Körner darin an. Geschätzt gut zwei Kilo. Er ist so stolz auf seine drei Kastanien, die immer noch dichtes, tiefgrünes Blattwerk tragen. »Weißt du, ich habe die Meisen dazu erzogen, die Motten zu fressen. Deshalb sehen die Bäume auch so gut aus. Würde ich ihnen im Winter nicht zu essen geben, würden Sie das nicht tun.« Er war einkaufen, bringt vier Kilo Möhren mit. Für Dana. »Ja, ist doch besser, als den Tierarzt zu bezahlen, oder?« Im Stall bereitet er dem Pferd eine Mahlzeit, als bekäme es sonst nichts: Müsli, Äpfel, Sonnenblumenkern-Öl, Traubenzucker, alles zusätzlich zu Hafer, Heu und Pellets. Viel zu viel Eiweiß und Zucker, ich habe Angst vor Hufrehe und Kreuzverschlag. Benno bekommt Kartoffeln mit Soße, zusätzlich zum Trockenfutter für den gereiften Hund, das er für ein Schweinegeld bei irgendeinem Halsabschneider im Internet bestellt. Rufus freut sich über den Appetit der Tiere. Keines ist zu dick. Unsere Beziehung droht im Alltag abzusaufen. Wir machen einen Plan, ausgehend von vierundzwanzig Stunden, die wir an den Wochenenden, als wir noch nicht zusammenlebten, miteinander verbracht, denen wir entgegengefiebert haben. Wachstunden. Die Nächte kommen noch hinzu, was wir damit machen, ist uns anheimgestellt. Vierundzwanzig Stunden verteilt auf eine Woche. Ich fertige eine Tabelle, eine Übersicht. Schließlich führe ich ja sonst keine Tabellen und Listen mehr. Die Artistin hat sich ein anderes Gewand übergeworfen: Sie kommt jetzt als Hungerkünstlerin. Seit dem Erlebnis, Hirtberg verlassen zu müssen, hatte ich keine bulimische Attacke mehr, das sind jetzt fast vier Wochen. Dafür hungere ich, so viel ich kann. Es geht erstaunlich gut, ich wiege weniger. Ein Kilo vielleicht, aber das fühlt sich gut an. Auch der Hunger fühlt sich ganz gut an. Ab und zu wird er zu arg, dann füttert mich die Artistin – oder ich die Artistin – mit Keksen und Schokolade, die ich komplett bei mir behalte, um dann eine Weile nichts zu esse und manchmal so zu tun, als äße ich. Rufus kriegt das genau mit, sagt aber nichts. So wie er, als ich mich auf der Rückfahrt von der Buchmesse mal wieder verirrt und ihn weg- und hilfesuchend angerufen habe, nicht sagte: Wieso hast du auch dein Navi nicht mitgenommen?, sondern seelenruhig erklärte, wie auf die Autobahn zurück und wie überhaupt der Weg nach Hause zu finden sei. Verabredet sind drei Stunden Zeit für den Stall und Dana. Seine Klage, die Achillessehne schmerze und er könne kaum laufen, versuche ich einfach als das zu nehmen, 350 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

was sie ist: eine Information. Versuche, nicht zu interpretieren, nichts zwischen die Zeilen zu legen, versuche, zu akzeptieren, dass sein Fuß weh tut. Ich fahre allein zum Pferd, lasse los. Später erscheint er im Stall, wollte mich nicht im Stich lassen. Es wird eine gelungene, ja sogar lustige Reitstunde. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, seufze ich und hocke mich auf die Couch. »Ich komme in einem völlig gestressten Zustand hier an, ich kann einfach nicht mehr. Diese Alltagsdinge machen mich total fertig.« Er guckt mich an. »So sehen Sie auch aus.« »Sehe ich so komisch aus?« Ich taste mit der Zunge nach der Stelle, wo das Implantat sitzt, das mich zwingt, nach der Stunde nach Assgart zu rasen, um es wieder loszuwerden. Es klappt nicht: An dieser einen Stelle wächst kein Implantat ein, zu wenig Knochen. In einer verwaschenen Jeans, kombiniert mit einem dunkelblauen Pulli und etwas Weißem darunter, sieht er, im Gegensatz zu mir, sehr frisch aus. »Na, da haben wir’s doch mal wieder«, er schlägt sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel, »sorry, aber können wir uns darauf verständigen, dass Sie das total streichen? Sie sind belastet. Das Pferd belastet Sie, Sie müssen sich arrangieren mit Rufus, dann müssen Sie gucken, wann die Halle frei ist, und dann kann Rufus doch nicht und Sie haben die Sache, quasi alle Verpflichtungen, allein am Hals. Sie sind belastet, aber nicht total. Sie kriegen das in den Griff.« »Ja, genau, und deswegen gehören diese Alltagsdinge hier auch nicht mehr hin! Ich habe gelernt, mit Zahn-, Geld- ja sogar Partnerschaftsfragen allein klarzukommen.« »Sie strahlen richtig, kriegen Sie das mit? Sie strahlen, immer dann, wenn ich das, was Sie erleben, in Worte fasse, die zwei Ebenen, die vorsprachliche und die sprachliche, zusammenbringe. Ich tue in dem Moment nichts anderes, als zu etikettieren, dem Gefühl ein Label zu verpassen.« »Ja!«, rufe ich begeistert. »Sehen Sie, jetzt auch.« »Wir haben hier beide unser Vergnügen.« »Na, ob das nur vergnüglich ist, weiß ich nicht. Wenigstens denke ich jetzt nicht mehr vierundzwanzig Stunden am Tag an Sie.« »Das brauchen Sie ja auch nicht mehr. Ich bin da«, sagt er. »… ich meine, seit ich die Gewissheit habe, dass das hier auch ewig weitergehen kann. Ich bin mir sogar sicher, dass Sie, wenn es ganz schlimm käme, einen Sondertermin einräumen würden.« »Brauchen Sie darauf eine Antwort?« Er lächelt mich an. »Nein«, sage ich, ich brauche keine Antwort. Ich vertraue ihm. »Das können Sie inzwischen ganz gut, sagen: ›Ich weiß, dass alles gut wird. Nur wie, das weiß ich eben noch nicht. Und wann.‹« Ja, er ist da. In meinem Leben. Teil meines Lebens. Mir ist es wichtig zu betonen, 351 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

dass ich, aus der gegenwärtigen Sicht zumindest, immer zu ihm gehen will, gern mein Leben lang. »Wenn ich sagen würde, dass es nicht mehr geht, würde ich Sie verlassen.« »Woher kommt das? Gerhard und Dietlinde haben mich doch faktisch gar nicht verlassen, im Gegenteil: Besonders Dietlinde war immer viel zu präsent.« In diesem Zusammenhang fällt mir meine Überlegung ein, warum das Liegen so lange problematisch war. »Wenn Sie doch immer viel zu präsent war, warum, um Gottes willen, habe ich dann dieses Verlassenheitsgefühl, wenn ich keinen Blickkontakt habe? Lange habe ich mich geweigert zu liegen, aber eins ist klar: Von Anfang an und niemals hatte ich Angst vor Übergriffen, alles, was sonst so mit der Position assoziiert wird, hat bei mir keine Rolle gespielt, das sind doch Klischees!« Wegwerfende Handbewegung: »Ach, das spielt doch hier überhaupt keine Rolle.« Und dann ruckelt er auf dem Stuhl herum, rollt ein wenig weiter zu Seite. »Wie fühlt sich das denn an, wenn ich jetzt ganz aus Ihrem Blickfeld verschwinde?« Es ist still im Raum. Sehr still, angestrengt höre ich in mich hinein, spüre, dass es unbehaglich ist. Es ist in dem Augenblick nur ein Spiel, deswegen kommt das Gefühl nicht richtig durch, käme es das: Ich fühlte mich verlassen. »Sie sind da, aber irgendwie auch nicht.« »Sie erleben hier etwas aus dem vorsprachlichen Bereich. Sie gehen auf der emotionalen Ebene in einen präödipalen Bereich. Was wir hier machen, ist ein relationales Setting.« Ich will schreiben, wobei die »Geschichten aus Kunst und Gesellschaft« gleichsam symbolisch für eine schriftstellerische Tätigkeit, oder übergeordnet: für eine kreative Tätigkeit, stehen. Doch bevor die Notizen zu einem gewissen Abschluss gebracht sind, fange ich nichts Neues an, wobei mich die Umstände zwingen, für eine Woche mehr oder weniger auf die Arbeit am Eigentlichen zu verzichten. Vom Alltag überfordert, fühle ich mich fremdbestimmt, und dabei spielt das Pferd eine ganz entscheidende Rolle. »Wir sind verabredet, Rufus, es ist acht Uhr.« Er sieht etwas blass aus, müde. »Ich will mich wenigstens umziehen und einen Kaffe trinken, ich bin seit halb sieben auf, ich brauche ein paar Minuten. Sei doch nicht so militärisch mit mir.« Mein Erleben: Wir sind verabredet. Warum schafft er es nicht, sich so zu organisieren, dass sowohl für einen Kaffee als auch fürs Umziehen genügend Zeit bleibt, um trotzdem unsere Verabredung einzuhalten? Es geht um unsere Beziehung! Rufus ist der unpünktlichste, unberechenbarste Zeitgenosse, den ich kenne. Mir fehlt jede Lust, mich auf das Pferd zu setzen, ich mag kein Bewegungsprogramm am Abend. Mir fehlt jede Lust, mich in den kalten Stall zu verfügen, reiße mich aber dennoch vom Notebook los, weil wir verabredet sind und weil es letztlich um unsere Beziehung geht. Und meine Verabredung – immerhin Teil der Beziehung – blockt und bockt 352 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und trödelt. Missgelaunt setze ich mich allein ins Auto, Rufus kommt nach. Ich putze das Pferd, sattele es, reite schlecht und denke darüber nach, warum wir überhaupt dieses Verabredungsprogramm fahren. Es ist so: Bitte sei an den und den Zeiten für mich da – falls ich dich dann will. Ich stehe parat, obwohl ich nicht will. Reiten jedenfalls nicht. Rufus will auch nicht, nimmt sich die Freiheit, nicht zu wollen. Das Ergebnis: Ich will das Pferd nicht, es sei denn, wir finden eine auch für mich verträgliche Lösung. Sanft und liebevoll, frisch geduscht, auf dem Sprung zur Hochschule, weckt Rufus mich zu einer Uhrzeit, die mir gefällt. Es ist halb sieben. »Das Pferd muss nicht weg, aber ich werde mich bis Weihnachten ausklinken«, sage ich, als er schon fast zur Tür raus ist.

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Der Weg zurück in die Realität oder: Verzahnung der Welten

A

llen Mut zusammenklaubend erlaube ich mir, Ihnen jene Sequenz meiner freien Assoziationen zuzusenden, die ich letztens als Rohfassung dabei hatte. Ob das zu irgendetwas nütze ist, weiß ich nicht. Vielleicht amüsiert sie Sie, das wäre ja schon was. Nehmen Sie die Sequenz als das, was sie ist. Aber bitte, nehmen Sie sie an.« Mausklick auf »Senden«. »Noch mal: Versuch einer freien Assoziation Mattgelbe Birkenblättchen sprenkeln den Blick ins Ultraviolett, sprenkeln verblichenes Grün, Herbstwiese, moosig, verblassendes Sommerlicht. Feste Haut, riecht nach Erde. Der Boden trägt. Nur ein Wort: geben. Noch eins: ihm. Was? Alles. Eine Decke ausbreiten. Über ihn. Die Decke metamorphosiert zu gigantischen Flügeln, bedecken die zwei, den Einen. Fledermaus beschützt die zarte Seele, umhüllt den Leib des Einen mit ihren filigranen Schwingen, beißt mit spitzen Zähnchen mitten in sein Herz. Zuneigung. Ja, verdammt, Liebe. Resultierend aus dem, was er mit mir macht. Resultierend aus dem, was er ist. Aus meiner Sicht ist. Summe dessen, was er offenbart, und meiner Fantasie. Die Summe! Befreit sich aus den Schwingen. Trägt Schuhe, die einen glänzenden Auftritt garantieren. Die Wiese wird zur Bühne, der Wald zum Auditorium. Innerer Halt auf glattem Parkett. Im Wald, auf Sand, kein Halt. Mit diesen Schuhen? Schuhe, die wenig Halt geben. Den findet er woanders. Meine Wanderschuhe braucht er nicht.

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Ich trete ihm auf die Füße: Ihr Boden ist nicht der Wald? Die Summe tauscht die cognacfarbenen Glattlederslipper gegen profilbesohlte Outdoor-Boots, mit geschickten Mausekrallen rasch die groben Senkel aufgeknüpft. Seine blassen Füße reiben, wärmen. Wollen Sie mein Fell?, fragt die Fledermaus, seidiges Bauchfell, gelbgrün wie Herbstgras, glatt wie Parkett, weich wie Sand. Spüren, wie sich seine Zehen unter meine Flügel schieben. Wärmen. Halten. Schützen. Stützen. Lieben. Pflegen. Geben. Alles. Ich habe Sie nie begehrt. Steppenwolf. Verschmelzung. Mental, emotional, genital. In der Reihenfolge. Die Bühne wird zum Park. Vis-à-vis auf Korbstühlen, helles T-Shirt, ausgelatschte, weiße, rot abgesetzte Sportschuhe. Wolfspfoten streicheln, betrachten, drücken. Attention: Do not crush your analyst’s hands! Aufstehen, sein Gesicht an meinen Busen pressen, Atem spüren zwischen meinen Brüsten, Hüften umschlingen, ihn in die Luft werfen, wieder auffangen. Was macht er mit mir? Nichts. Steppenwolf. Macht mit mir nichts. Ein Geist. Eine Philosophie. Mythos und Mysterium. Er ist da. Präsent. Mein Monolith. Wasser überspült ihn zärtlich, dankbar und die Fledermaus kreischt im Ultraschall: Sehnsucht. Red dir doch nichts ein! Steigere dich nicht so da rein! Komm auf den Boden! Da ist kein Boden! Du spinnst. Reiß dich zusammen. Nein!« Klebe mich und mein Seelenleben an ihn, fixiere mich auf das in meinem Kopf: weniger bunte Sequenzen oder bewegte Fantasien als ein statisches Bild, Gedanken, Strukturen, Grübelspiralen. Worte. Er hockt in jeder Ecke, always on my mind, beim Tassenspülen, Laubharken, bei jedem Spaziergang mit Benno, beim Duschen, beim Schreiben. Verrückt in jeder Hinsicht. Besessen. Die Chance, diese Geschichte zu klären, aufzulösen: Will ich die überhaupt? So 355 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

schmerzhaft diese unerfüllte Sehnsucht ist: Immerhin gibt es sie. Ohne sie, diese Parallelwelt: nackt und leer, verloren. Und da ist noch etwas anderes – was, weiß ich nicht, das gilt es mit Hirtberg herauszufinden. Zwei Welten, zwischen denen sich ein Kampf abspielt, zu dessen Beschreibung mir die Worte fehlen, wie ich im Prozess des Schreibens immer wieder schmerzlich erfahre. Knapp umreiße ich in Nr. Dreihundertundfünf die Perspektive, von der Hochschule einen neuen Lehrauftrag zu bekommen, und erzähle, ebenso knapp, von Vilmas Besuch und deren völlig orthodoxem Analytiker. »Stellen Sie sich vor, nach sechshundert Stunden – die Hälfte davon privat bezahlt – geht jetzt ihre Analyse dem Ende zu, und der Kerl weigert sich, von vier Stunden pro Woche langsam herunterzufahren, besteht auf dieser Sequenz, und sie, Vilma, steht am Ende von einem Tag auf den anderen vor – tja, wovor eigentlich? Das ist doch unglaublich.« »Der ist nicht orthodox, sondern vernagelt. Sehen Sie, es gibt die Präorthodoxen und die Postorthodoxen und das Relationale, können Sie auch nachlesen unter anderem bei Wurmser, der definiert auch das relationale Setting in Abgrenzung zum orthodoxen Liegen auf der Couch, nur weil Sie das ja auch immer so interessiert.« »Lassen wir Vilmas Analyse. Ich bin nur einfach so entsetzt, wie der Mann so unempathisch sein kann.« »Man kann sich auch fragen, wie jemand das über Jahre hinweg aushält.« Allein weil mich das Thema interessiert, aber auch, weil ich mir Sorgen um Vilma mache, würde ich an dieser Stelle gern weiterreden, aber die Zeit ist begrenzt, meine Zeit, das immerhin habe ich inzwischen begriffen. »Es kann sein, dass ich mich von Rufus trennen muss; und zwar wegen einer enormen Abgrenzungsproblematik: Mir bleibt viel zu wenig Raum, dies sowohl im übertragenen Sinne wie im wörtlichen, vermutlich eine narzisstische Störung …« »Jetzt machen Sie mal einen Punkt«, unterbricht Hirtberg meinen Redefluss mit einer Aufforderung, die ich geflissentlich ignoriere: »Welche Rolle spielt die Übertragung? Immerhin habe ich mir diesen Mann gesucht vor dem Hintergrund, dass ich bei meinen Analytiker keine Chance habe. Wäre die Einhaltung der orthodoxen Regelung besser gewesen, nämlich während der Behandlung keine grundsätzlichen Veränderung durchzuführen?« Darauf gibt er mir keine Antwort, sagt aber ganz klar: »Was Sie machen, ist eine andere Verschiebung, Sie werden sich irgendwann von mir trennen müssen. Anstatt das zu akzeptieren, wollen Sie sich von Rufus trennen. Hören Sie, Sie haben da etwas ganz Wertvolles: Einen Mann, der Ihre Kreativität beflügelt und guten Sex – wenn ich Sie richtig verstanden habe – mit Ihnen macht, und von dem wollen Sie sich jetzt trennen, um …« »… ja, um endlich in Ruhe und in einer eigenen Wohnung an Sie denken zu 356 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

können. Vielleicht ist das mit Rufus ja nur Übertragungsliebe – so ganz verstehe ich das mit der Übertragung immer noch nicht …« »Machen wir es mal etwas einfacher: Sie entdecken früher einmal erlernte Beziehungsmuster wieder. Sie übertragen anderswo Erkanntes auf eine andere Person, auf eine andere Beziehung. Sie erkennen etwas wieder. Wenn Sie so wollen, erkennen Sie mich auch in Rufus – oder das, was Sie von mir oder durch unsere Veranstaltung gelernt haben. Sie müssen das Schreiben in Ihren Alltag integrieren, nicht abspalten und eine eigene Welt daraus schustern, die Sie am Ende nicht mehr mit Ihrer Realität überein kriegen. Sie machen hier etwas ganz Gefährliches, ja Zerstörerisches.« Er sieht mich sehr ernst an. »Sie glauben, ich steigere mich in etwas hinein?« »Nein, ich unterstelle Ihnen keine Hineinsteigerei. Ich nehme ernst, was Sie mir sagen, und ich mache Ihnen keine Vorwürfe, sondern ich mache mir Sorgen. Das ist ein Unterschied.« »Allein aus dem Inhaltsverzeichnis der Notizen lässt sich die Entwicklung unserer Beziehungsebene ablesen. Sie wurde immer mal wieder thematisiert.« Was er mir vermittelt, ist, dass es »zwischen uns keine Erotik und keinen Sex gibt. Das fantasieren Sie. Was denken Sie denn, wenn Sie an mich denken?« »Wir reden miteinander.« »Sehen Sie, da ist kein Sex! Warum dann so eine Mail, in der es am Ende doch auf Sex hinausläuft?« »Ich male geistige Bilder, in denen ich Sie unter anderem auch erotisch finde, aber es geht nicht nur um Erotik oder meinetwegen auch Sex … auch in dem, was ich Ihnen geschickt habe, nicht!« Jetzt, wo ich endlich einigermaßen frei assoziiere, schilt er mich: »Ein Wolf und eine Fledermaus können keinen Sex haben! Sie wählen doch nicht zufällig Tiere, die das miteinander nicht machen!« »Ist mir nicht aufgefallen. Ich finde Sie heute sehr brutal.« »Ich weiß nicht, warum Sie sich so auf das Erotische konzentrieren … Wenn hier eines keine Rolle spielt, dann ist das Sex.« Das sitzt. Ich schweige, bestimmt sechsundfünfzig Sekunden lang. Eine Ohrfeige. Sinngemäß: Nun kommen Sie mal auf den Teppich, steigern Sie sich nicht so da rein … Das sagt er aber eben nicht! Stattdessen: »Wenn ich keinen Sex fühle, fühlen Sie das auch nicht.« »Sie sind sehr grob heute.« »Nein, engagiert. Mir ist das alles nicht egal! Sie setzen da gerade etwas ganz Wertvolles aufs Spiel. Ich bewundere den Rufus sowieso, wie der das aushält, wenn Sie da ewig ankommen mit diesem Hirtberg, warum der nicht längst gesagt hat ›Süße, dann zieh doch zu ihm in die Praxis‹, verstehe ich sowieso nicht.« Hirtberg wirkt ungehalten. Ich erinnere mich an die Maßregelungen durch Gerhard und Dietlinde. Es ist der Zensor: Guck nicht so wie ein geprügelter Hund. Hirtberg prügelt nicht, er ist – nicht mehr und nicht weniger – in der Sache engagiert. 357 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Wissen Sie, ich löse mich in diesen Träumereien gewissermaßen auf und weiß nicht mehr, wo die Wirklichkeit anfängt, wo sie aufhört, ob es sie überhaupt gibt.« »Es ist gut und wunderbar, dass Sie so viel Fantasie haben, aber Aufgabe muss doch sein, sie ins Leben zu integrieren, für die Lebenswirklichkeit nutzbar zu machen. Es geht um Ambivalenz. Und Integration. Und es geht auch um das rechte Maß. Sie verlieren das Maß und bauen sich Ihre Parallelwelten auf. Sie verlieren sich darin, oder, wie Sie sagen, lösen sich auf.« Ja, er hat recht: Ich verliere mich. Und finde: keine Stabilität in der Verlorenheit. »Ich bin überhaupt nicht geerdet. Warum ich eigentlich mein Leben lang geglaubt, ich sei die Realistin schlechthin? Warum habe ich mich für stabil gehalten? Ich bin überhaupt nicht stabil, auch nicht konturiert, sondern ein Fluidum.« »Jetzt sind Sie Ihre Tabellen und das ganze Zeug los, und jetzt bauen Sie sich diese Parallelwelt auf. Sie sind Ihre Essstörung los, und jetzt machen Sie das!«, ruft er aus, beinahe entsetzt. Wichtig ist es doch, sich zu fragen: Warum mache ich das? Während der gesamten Sitzung fühle ich mich unsanft aus einem Traum gerissen, gelandet in einer Realität, die ich zumindest so nicht will. Als ich später im Auto an einem Bahnübergang warten muss, fällt mir ein, was Vincent sagen würde: Die Analyse hätte entgleisen können! Ja, Vincent, vielleicht wäre sie entgleist, wäre Hirtberg, wie dieser selbst sagte, nicht »mal etwas leidenschaftlicher geworden«. Ich fühle mich gleichermaßen zurechtgewiesen und besorgt behandelt. Hirtberg nimmt das an, was ich ihm vor die Füße klatsche; und er klatscht mir seine Position vor die Füße, die nämlich, dass ich ihn gefälligst irgendwann zu verlassen habe. Die Basis aller erotischen Bedürfnisse, die er so kategorisch ablehnt, wie ich sie aufbaue und einbringe, kommt zu kurz: Zuneigung, Dankbarkeit und Bewunderung nämlich, von der auch in der Mail eher die Rede war als von Sex – offenbar ist ihm das entgangen. Kann es sein, dass ich mich mit meinem beinahe pathologischen Liebeswahn an ihn binde, um eine Legitimation für weitere Stunden zu haben? Ich will diese Welt, obwohl sie schmerzt. Wenn nicht diese Welt, welche dann? Wo soll ich sie finden? In mir selbst? Verzweifelte Versuche, in die Realität zu kommen, bewusst zu erleben, was jetzt ist. Es geht fast nicht. Augenblicke vollkommener Verwirrung, zerreißender Sehnsucht, kompletten Unverständnisses für die Situation, paradoxerweise durchsetzt von der Ahnung, es schließlich doch zu schaffen, da herauszukommen um den vermaledeiten Preis, Hirtberg nicht mehr zu sehen, und zugleich von der Angst, gefangen zu bleiben, restlos verrückt zu werden, meine Beziehungen zu verlieren – nicht nur die zu Rufus, sondern auch die zu mir selbst. Ende Oktober ist es gerade noch warm genug, um in einem Straßencafé zu sitzen und zu lesen. Frisch erworben, studiere ich die Therapiegeschichte von Margarete 358 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Akoluth und kriege, in unangemessener Identifikation mit der Protagonistin, noch mehr Angst: Was, wenn Hirtberg Behandlungsfehler unterlaufen sind, die ich nicht entlarven kann? Was, wenn die Analyse entgleist ist – oder gerade jetzt entgleist? Ist das, was mir dieses Unbehagen bereitet, ein Entgleisen? Nach Kräften bemüht, die Realität zu erleben, hinzugucken, hinzufühlen, frage ich mich: Ist es nicht allerhöchste Eisenbahn, eine Therapiepause einzulegen und die Notizen beiseite zu legen? Wäre das ein sinnvoller Ausstieg? Was mache ich nun mit der Verletzung, die seine berechtigte Abgrenzung mit sich bringt? Er tut das einfühlsam und ohne mir schaden zu wollen – im Gegenteil: Wahrscheinlich wendet er größeres Unheil ab, indem er sagt, es sei Verschiebung, wenn ich daran dächte, mich von Rufus zu trennen. Vielleicht ist sogar der Zweifel an meiner Liebe zu Rufus eine Verschiebung: Vielleicht zweifele ich tatsächlich daran, dass ich Hirtberg liebe? Rufus hat sich an der Anthroposophischen Hochschule immatrikuliert, um sein Staatsexamen zu machen, was erst heute, nach der staatlichen Akkreditierung der Hochschule, möglich ist. Angesichts des Umstandes, dass sein Atelier vor dem Aus zu stehen scheint, ein mutmaßlich kluger Schritt. Die Auftragslage ist schlecht, Rufus entsprechend frustriert, die Bank hat sein Konto gesperrt. Wenn jetzt nicht dieser Großauftrag aus Datteln kommt, wird er noch vor Weihnachten die ganze Geschichte auflösen. »Ich bin eine gescheiterte Existenz«, sagt er sachlich an einem Samstagmorgen, Anfang November, während er in bedrückter Stimmung Bilder rahmt, Bilder, die Kinder einer Förderschule im Laufe der zurückliegenden Projektwoche gemalt haben. Mir schneidet es ins Herz, dass Rufus, der seine Ideale lebt, sich für andere einsetzt, sich um Schwächere kümmert und an das Gute in der Welt, im Menschen glaubt, nun zur Kapitulation gezwungen scheint. Den geplanten Kinobesuch lassen wir ausfallen, Rufus hat keine Lust, ich auch nicht, stattdessen ein bisschen fernsehen. Später krabbele ich nackt unter seine Decke, versuche, ihm das Gefühl zu geben, nicht allein zu sein, während ich selbst in dieser Analyseverstrickung zappele, eine Skizze für den Lehrauftrag verfassen muss, die ganze Pferdegeschichte nicht mehr will. Obendrein ist das Knie ständig dick, was nicht nur unmöglich aussieht, sondern auch weh tut. »Sie können auf jeden Fall, auch wenn wir unterschiedlicher Meinung sind, weiterhin kommen. Selbst wenn Sie mir auf die Nerven gehen, stellt das unser grundsätzlich vereinbartes Bündnis nicht in Frage. Da sind Sie wieder bei Ihrem Grundmotiv. Sie sind willkommen.« Ob die Entscheidung, schließlich doch ohne Karteikarte hinzugehen, gut war oder nicht, sei dahingestellt. »Sie assoziieren doch jetzt viel mehr als zu Anfang, Sie kommen ohne Ihren Zettel und machen dann solche klugen Sachen wie eben: Flucht – Sucht – Abhängigkeit.« 359 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Eine Flucht ist das nicht«, antworte ich, »wenn ich in die Parallelwelt gehe, eher vielleicht tatsächlich eine Sucht. Es gibt nichts, vor dem ich flüchten möchte.« Es geht mir um den Begriff Abhängigkeit, womit ich natürlich die Abhängigkeit von ihm meine. Ich erinnere mich an einen Satz, den er im Zusammenhang mit Rufus gebrauchte: »Hören Sie, da ist nichts mehr mit Unabhängigkeit.« Hirtberg hat sich die verbliebenen Haare extrem kurz raspeln lassen, so, wie ich es ihm vorgeschlagen hätte, dunkelblauer Pulli, Jeans, rehbraune Slipper. Ich erläutere das Bild von der Fledermaus, das ich in der Assoziation verwendet hatte, und das mit den Schuhen. Missbilligend blickt er mich über den Rand seiner lilafarbenen Brille an. Wir basteln an Vorhandenem herum. Während ich einerseits befürchte, dass es wie früher schon mal zu lähmenden Stunden kommt, stelle ich fest, andererseits, dass ich länger schweigen, ein bisschen nachdenken und akzeptieren, einen Moment lang innehalten kann. »Sie haben sehr viel Fantasie, aber Sie müssen unterscheiden, wo Sie der realen Welt zuträglich ist und wo Sie schadet.« »Mit Rufus ist alles so real. Er ist tatsächlich ein Gegenüber, ein Du. Heute früh gab es im Radio einen Beitrag, in dem es darum ging, dass Liebe die unbedingte Auseinandersetzung mit dem Gegenüber bedeutet. Das ist auch ganz schön anstrengend«, sage ich und gucke ihn über die Schulter hinweg an. Ganz klar gucke ich ihn an und habe für einen Augenblick den Eindruck, dass wir uns auf dem Weg zu einer anderen Ebene bewegen. Im Rahmen meiner freien Assoziation erzähle ich im von dem Satz, den Jurij mit vor ziemlich genau vier Jahren sagte, am Frankfurter Flughafen: »Wenja, hörrr bitte zu, du und ich, wir bleiben bis zum Ewigkeit.« Für einen Moment kommt mir die Idee, Hirtberg kurzerhand durch Jurij zu ersetzen. Verschiebung: Jurij als beliebiges Versatzstück wirrer Fantasiewelten. »Ja, Sie tauschen ein Stück gegen das andere aus, Sie sind da sehr flexibel. Fantasie ist Aktivität. Sie machen die Bilder ja, zeichnen sie selbst.« Vielleicht muss ich mit dieser Verwirrung leben, diesem ewigen Oszillieren zwischen Fantasie und Wirklichkeit, mit dem Gefühl, verrückt zu werden. Vielleicht braucht es die Akzeptanz dieses Zustandes, dieses Umstandes, dass ich eben so bin. Da hilft dann, auf diesem beschwerlichen Weg des Herausgehens, auch keine Analyse mehr. Ich spüre, dass ich mich löse, weil ich mich lösen muss. Die Sehnsucht wird bleiben, diese Sehnsucht. »Ich habe heute Nacht von Ihnen geträumt.« Wieder gucke ich mich um. Gucke ihn ganz klar an und nehme dabei für Buchteile von Sekunden ihn wahr. Ihn, der mich nicht liebt und den auch ich nicht liebe, weil er kein Gegenüber, sondern ein Spiegel ist. Ergehe ich mich hier in der Vorstellung von dem, was Analyse ist? Das ist jetzt der Beginn von etwas anderem, das auf einer anderen Ebene vielleicht, vielleicht auch nicht, mit ihm zu tun haben wird. Konkret: Möge er mich, was die Notizen betrifft, 360 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

beraten, erstens Coach und zweitens möglichst beeindruckt sein von dem, was ich mache. Was wir gemacht haben. Noch einmal wende ich mich um und gucke ihn ganz klar an: »Nein, ich führe wirklich keine Tabellen, keine Listen mehr. Hirtberg, das ist weg, das ist doch ein Wunder!«, rufe ich begeistert aus, als würde mir in diesem Augenblick klar, was geschehen ist: Die Suche nach mir selbst hat meine Essstörung weggemacht. »Wo kein Zwang ist, kann die Fantasie und die Kreativität leben«, sagt er. Die komplett chaotische Stunde geht zu Ende. Wir überziehen ein paar Minuten, aber ein Rätsel bleibt im Raume. Im Schlusssatz von Nr. Dreihundertsieben liegt vielleicht das Entscheidende: »Sie vermeiden es, die Realität wahrzunehmen. Sie vermeiden es, sich mit ihr auseinanderzusetzen.« »Hmm.« »Das würde nämlich zu Entidealisierung beitragen.« »Es geht es nicht nur um Entidealisierung.« »Nun blaffen Sie mich doch nicht so an.« Beim anschließenden Geburtstagskaffee – die Wigmann wird siebenundfünfzig – geht mir die Stunde nach. Wie anlässlich eines jeden Geburtstages unseres vierköpfigen Teams, das keines ist, sitzen wir im großen Büro der Königin an einem lang gestreckten, blank polierten Holztisch aus den 1950er Jahren. »So einen langen Tisch hätte ich auch gern«, wirft die Wigmann unvermittelt in die Runde. Es folgt eine langatmige Beschreibung ihrer eigenen Einrichtung, die niemanden interessiert und die sich in ihrer Langweiligkeit auch niemand vorstellen mag. »Eigentlich ein schöner Raum hier«, sagt die Schlack ohne Bezugnahme auf die Beschreibungen der Wigmann, dafür mit leerem Blick aus wie immer ungeschminkten Augen, die sich in ihrer Ausdruckslosigkeit mit der Blässe des sie umgebenden Teints verbinden. Das überschulterlange Aschblond klebt dicht am Kopf, seit Jahrzehnten im Nacken nicht etwa mit einem Haargummi, von einer schmucken Spange ganz zu schweigen, sondern von einen maroden Gummiband zusammengehalten. »Ja, so hell«, sagt Quandt und lässt sich am Kopfende nieder. Mir fällt der Titel eines Buches ein: »Kleiner König Kallewirsch«. Ich schweige. Das habe ich ja, ebenso wie den Umgang mit belegten Brötchen und Obstkuchen, bei Hirtberg von der Pieke auf gelernt. Anschließend versucht man sich in Prognosen die Bundesliga betreffend, nicht ohne darüber zu spekulieren, ob das Thema Doping auch im Fußball eines ist. Schlack echauffiert sich, als hätte jemand aus der Runde unterstellt, sie selbst sei in derartige Machenschaften verwickelt, dabei spielt sie gar keinen Fußball. Einst fuhr sie Rennrad, jetzt Motorrad. Als es um Verkehrsregeln geht, echauffiert sie sich erneut, sie ist die Einzige, die 361 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

redet. Sie redet sich um Kopf und Kragen, wohl aus einem indifferenten Gespür für die Situation heraus, die danach schreit, dass irgendjemand irgendwas sagt. Ich sage ja nichts mehr. »Ich verstehe die Überholverbote auf der Autobahn nicht«, klagt sie. »Bei uns gibt es heute Abend Chili con Carne«, verrät das Geburtstagskind, sämtliche Verkehrsregeln ignorierend. »Es kommen ein paar Freunde.« Aha. Ich bin heilfroh, dass ich nicht einer derer bin. Wigmann isst keinen Zucker und kein Weißmehl, seit einem Jahr nicht. Für ihr Alter sieht sie zugegebenermaßen recht straff aus. »Zwiebelchen und Paprika kaufe ich immer frisch, und das Hackfleisch wird scharf angebraten, bevor überhaupt etwas anders dazu kommt, das riecht immer so gut!« Wigmann langt nach einem Mettbrötchen mit Zwiebelchen. Ein Königreich für eine Scampi-Pfanne! »Mit dem Motorrad muss ich ja nicht rechts mit sechzig herumlummeln«, knöttert die Schlack, während Quandt einen Todesfall zu verkünden hat: »Einer der Schwäne ist verstorben. Gerissen, vom Fuchs. Kopf ab.« »Oh, mein Beileid«, bringe ich hervor und empfehle, dem verwitweten Tier nun einen neuen Partner zur Seite zu stellen. Quandt stochert im Kuchen, blickt mich ernst, als wollte er mich zu mehr Pietät aufrufen, an: »Das gestaltet sich gar nicht so einfach.« »Rufen Sie doch mal beim Tierpark an«, schlage ich vor, nicht ahnend, dass derlei Verhandlungen bereits angelaufen sind. Im Fortgang des Geplänkels stellt sich heraus, dass alle Beteiligten, mit Ausnahme von mir, bereits tief in die Erforschung rechtlicher und schwanspezifischer soziologischer Fragen stecken. Meine Erfahrungen mit dem Pferdemarkt lassen sich leider nicht eins zu eins übertragen, und so beschränke ich mich darauf, eine betroffene Miene zur Schau zu tragen. Die wirtschaftlich desolate Situation des Ateliers macht mich deutlich nervöser als Rufus, vor allem diese Ambivalenz: Wäre klar, dass er es schließen muss, könnte ich mich darauf einstellen. So hilft nur eins: Abgrenzung. Es ist sein Atelier. Unbeirrt glaubt er an das gute Schicksal und ich schwanke, ob ich ihn ernst nehmen oder belächeln soll ob dieser Naivität – das Wort schiebt mir der Zensor in den Mund. In dem Versuch, ihm Sicherheit zu geben, beteuere ich, auf seiner Seite zu sein, was den Tatsachen entspricht: Ich liebe ihn gerade für seine Lebendigkeit und seine unumstößliche Zuversicht. Was meine wirtschaftliche Situation betrifft, glühen ein paar Eisen im Feuer. Wenn gar nichts klappt, ist es früh genug zu klagen. Das Lebensgefühl in dieser relativen Freiheit möchte ich, allen Unwägbarkeiten zum Trotz, nicht missen. Das ist real: Für Rufus nehme ich mir einen ganzen Nachmittag frei und besuche ihn zum Abschluss seines Bildhauerseminars im Atelier der Hochschule. Es geht um Wahrnehmung: Ich möchte teilhaben an dem, was ihn beschäftigt. Spaziere mit Benno durch den Wald. Es regnet in Strömen, der Schirm klappt 362 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

mehrmals um, die Temperaturen liegen bei zwölf Grad, zu warm für Dezember. Ich finde es herrlich und genieße den Wind. Rufus und ich fahren ins Bergische Land und schauen nach Hazel. Groß ist sie geworden, hat sich in ein dichtes, wenig ansehnliches Winterfell gehüllt und sie sieht aus wie ein glückliches Wildschwein. Für die Artistin habe ich kaum Zeit, steige selten auf die Waage, verzichte auf Essprotokolle, beschäftige mich mit Dingen, die unendlich viel wichtiger sind. Die Realitäten verzahnen sich. Ich schreibe, weil ich schreiben will. Dabei träume ich ein bisschen. Und ich bezahle elf weitere Stunden, das reicht mindestens bis März, zumal ich mich entschlossen habe, das Knie operieren oder besser: meine Beinachse umstellen zu lassen. Beim Einschlafen überlegte ich, ob Rufus mich während der Zeit der Rekonvaleszenz, die ich mit Schiene und Krücken zu bewältigen haben werde, zu Hirtberg bringt, ob ich mit der Bahn fahre oder ob Hirtberg sich bereiterklären würde, zu mailen oder Telefonstunden zu machen. Das wäre eine ganz neue Form der Therapie, eine Möglichkeit des Ausstiegs – nicht eines Abschieds. Ein Übergang. »Ich kann mir nichts anderes vorstellen als die Beziehung, die wir im Augenblick haben: die analytische«, stellt Hirtberg sachlich fest. Ich aber. Ich kann mir vorstellen, dass es ihn beeindrucken würde, wenn ich als autonome Person ginge. Vielleicht könnte er sich dann endlich anderes vorstellen. Als Patientin macht es allerdings keinen Sinn, mit ihm darüber zu reden. Er ist mein Analytiker, weiter weg als Anthony Hopkins. Ich habe keine Angst vor Enttäuschung, vor Ablehnung, davor, nicht attraktiv zu sein oder nicht zu genügen. Frage: Genügt er? Was schiebt er weg? Ich bin eine eingebildete, narzisstische Kuh. Ich habe Angst vor dem Bildersturm. »Sie vermeiden es, der Realität ins Auge zu sehen.« »Ja, nämlich derjenigen, dass Sie ein Privatleben haben. Das wahrzunehmen, womöglich Einzelheiten zu kennen, würde alles zerstören. »Was würde das zerstören?« »Das Bild. Mein mentales Kunstwerk mit seinen vielfältigen Interpretationsangeboten. Mit seinem Potenzial. An exakt diesem Punkt haben wir kürzlich aufgehört, stattdessen über Geld geredet, über die Notizen, sind am Eingemachten vorbeigeschrappt. Widerstand? Abwehr? Egal, jedenfalls haben Sie mich wieder nicht zurückgeholt auf die Couch.« »Abwehr und Widerstand sind eigentlich das Gleiche. Abwehren müssen wir immer etwas, wenn wir was anderes machen.« Ich will auf die Analyseebene zurück, versuche es über die Notizen. »Sie sind auf verschiedenen Ebenen wichtig: Man kann den Verlauf nachvollziehen, die Entwicklung unserer Beziehung. Dann die schriftstellerische Herausforderung; und schließlich die dritte Ebene, meine Traumwelt, meine Parallelwelt … Und dann die Verzahnung der Realitäten, die nicht nur von hier nach dort, sondern auch andersherum erfolgen muss – oder kann. So lange, bis das genau das überhaupt 363 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

funktionieren kann, bis ich mich autonom entfernen und darauf vertrauen kann, dass wir uns nicht ganz verlieren, werde ich diesen ambivalenzfreien Empfangsraum als Zufluchtsstätte sehen. Das Ganze hat auch was vom Tod.« »Zu sterben habe ich jetzt eigentlich noch nicht vor.« Pause. Ihm scheint die Blödheit seiner Ironie an dieser Stelle bewusst zu werden. Dann sagt er: »Und ganz am Ende steht – das spüren Sie jetzt – das, womit Sie hergekommenen sind. Damals haben Sie das nicht zu benennen gewusst.« Was ich will, ist Integration von außen nach innen. Damit es endlich zur »gleichen Augenhöhe« kommt. An einem trüben Abend mitten im Dezember fahren Rufus, eine seiner Kommilitoninnen und einer seiner Professoren nach Berlin, eine Studienfahrt anlässlich einer Carus-Retrospektive. Herr Professor ist ein schmächtiges Bürschchen von maximal vierzig Jahren, knapp drüber, wie ich später erfahre. An der Anthroposophischen Hochschule leitet er den Bereich, in dem ich gern tätig wäre. Damit ist er interessant für mein weiteres akademisches Leben und passt zu hundert Prozent in mein berufliches Beuteschema, ein Grund, warum ich mich dem illustren Grüppchen anschließe. Ein anderer Grund ist der, dass ich Rufus zurück will, der mir beinahe abhanden gekommen ist, und ich ihm. Zwar gelingt es, eine gewisse Nähe zu entwickeln, aber die Beziehung ist ambivalent. Ausgerechnet in einem Museum, umgeben von Bildern, gehe ich in die Realität, verliere Hirtberg für eine halbe Stunde, vielleicht sogar für eine ganze, aus den Augen. Lasse mich versuchsweise ein auf die Kraft der Kunst, beobachte Rufus, wie er eloquent mit Herrn Professor über das parliert, was unter dem Begriff Erdlebenbilder subsumiert wird. Ich frage mich, ob ich mit Hirtberg hier sein will. »Wissen Sie was? Es gibt nur eine Chance, hier einigermaßen unbeschadet herauszukommen. Und das ist die: Ich akzeptiere, dass Sie mich nie begehrt haben. Ich akzeptiere, dass wir in zwei Welten leben.« Lebe ich in zwei Welten? »Wenn ich eine Trennung von Rufus in Erwägung ziehe, dann sagen Sie bitte nicht wieder, ich applizierte den Umstand, dass ich mich von Ihnen trennen muss, auf die Beziehung zu Rufus. Das hat mit Ihnen nichts zu tun, es hat nicht alles was mit Ihnen zu tun. Sondern mit mir.« In sein Schweigen hinein fahre ich fort: »Mit Ihnen lässt sich so wunderbar mailen, Sie haben einen Sinn für Zwischenzeiliges. Mir gefällt Ihre Schlagfertigkeit, Ihre sprachliche Präzision, Ihre Art, sich zu positionieren.« Einen kurzen Moment überlege ich, ob ich weiterreden soll. »Offen gestanden, ich wäre selbst gern so … frech«, und dann wird mir klar: »Irgendwie bin ich auch genau so.« 364 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Spieglein, Spieglein … Doch hier geht es um mehr als Schönheit. »Deswegen klappt das ja auch so gut, zum Beispiel mit dem Mailen.« Er ist ein bisschen wie ich. Nein, anders: Ich bin ein bisschen wie er. »Die Notizen müssen fertig werden. Ich bin darin auch einsam.« »Mit wem wollen Sie das auch teilen? Aber wenn Sie rausgehen, stoßen Sie auf interessante, lustige Dinge. Hier drin bleibt alles, wie es ist, und das ist jetzt kontraproduktiv. Früher war es hilfreich und gut, jetzt wird es das Gegenteil.« Wenige Tage vor Weihnachten liegen zweihundertneunundneunzig Stunden gedruckt und gebunden vor mir. Es ist mitten in der Nacht, draußen schneit es seit dem frühen Nachmittag. Es ist so still.

365 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Traumkäfig

S

tundenlang beschäftigt mich die Frage, ob und wenn ja, wie viele Sternchen ich aufkleben soll, Schleife oder Knoten? Ich entscheide mich für Knoten – in einem mehrfach um schlichtes Packpapier geschlungenen roten Faden. Es wäre unpassend, dieses Machwerk lediglich mit lapidaren Worten umhüllt zu überreichen, als handele es sich um eine linkisch hingeschmierte Seminararbeit. Ich messe meiner Arbeit den Wert bei, der ihr zusteht, unabhängig vom Urteil anderer. Auch ein Novum, übrigens. Es ist der Tag vor dem Heiligen Abend, es ist eisig kalt, der Himmel puderig von Rosa und Blau und Weiß, Schnee liegt in großen Flecken auf der Landschaft. »Von Anfang an habe ich das hier«, umständlich krame ich das Päckchen aus der Tasche, »auch für Sie geschrieben, weil mir bald klar war, dass Sie mir helfen würden. Ich habe geschrieben, weil ich nicht am Ende ohne den einzig angemessenen Dank dastehen wollte: die Reflexion Ihrer Arbeit.« »Das ist ja auch so ein Traumkäfig«, sagt Hirtberg, als ich ihm beschreibe, wie sehr sich mein Inneres dagegen sträubt, den letzten Teil der Notizen zu bearbeiten, »den seit September. Solange ich schreibe, verharre im Eingewobensein in diese analytische Welt.« Vom goldenen Käfig in den Traumkäfig, ein hübsches Spiel. Wir reden ziemlich entspannt, ich versuche es erneut mit der Entidealisierung. »Gucken Sie, ich habe eben, als ich im Auto wartete, etwas zu dem Thema auf die Rückseite eines Einkaufszettels geskribbelt«, ich wedele mit der Karteikarte. »Entidealisierung auf dem Einkaufszettel«, lacht er, »eine bemerkenswerte Variante!« »Also …«, hebe ich etwas gedehnt an, druckse herum, weil es mir unangenehm ist, vermeintlich negative Fantasien über ihn zu offenbaren. »Nun …«, hebe ich an und lache angesichts meiner Unbeholfenheit über mich selbst und sage, statt auf den Punkt zu kommen: »Wissen Sie, mir ist aufgefallen, dass ich in der Zeit hier die Fähigkeit, über mich selbst zu lachen, erheblich ausgebaut habe.« »Ja, das weiß ich aber schon lange, dass Sie über sich selbst lachen können«, antwortete er und guckt mich erwartungsvoll an. »Hmm … Hirtberg, ich glaube, dass Ihr Selbstwertgefühl ein hart erarbeitetes

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

ist, dass darunter eine gehörige Portion Unsicherheit liegt, dass hinter Ihrer Eitelkeit ein erhebliches Maß an Verletzlichkeit steckt, dass Ihre Unkonventionalität Sie in das Dilemma stürzt, sich unverstanden zu fühlen und – dies vor allem – dass Sie in diesem Unverstandensein in gewisser Weise einsam sind.« Sie kriegen das nicht versprachlicht, was Sie fühlen, würde er sagen, wenn er etwas sagen würde. Er sagt aber nichts, guckt abwartend, amüsiert, wie ich so um Worte ringe. »Bereits während ich das notierte«, fahre ich fort, »wurde mir klar, dass ich meine Dinge auf Sie projiziere – wie auch das: Ich glaube, dass Sie im privat-sozialen Kontext fordernd sind, egoman und dominant. Wenn ich klischeehaft an das herangehe, was ich als das Analytische apostrophiere, frage ich mich, inwieweit diese fortgesetzte Idealisierung Indiz für eine narzisstische Störung ist – oder sein kann.« Mir ist klar, dass wir hier nicht mehr einsteigen werden. Er will es offenbar nicht, und ich habe keine Zeit mehr dazu. »Ganz gleich, was es ist, auch Sie haben Ihre Schwächen, Ihre Verwundbarkeiten. Na und? Deswegen mag ich Sie nicht weniger. So gesehen idealisiere ich auch Rufus. Halten Sie mich für blind? Ich bin nicht dumm genug, das Bild für echt zu halten, das ich von Ihnen male.« »Sie nehmen eine Person, sei es Rufus oder wer auch immer, ganzheitlich an, und zwar in der Form, wie Sie Ihnen eben erscheint … Sie haben recht: Das hat mit Entidealisierung nichts zu tun. Vielleicht sollten Sie das auch nicht so kategorisch sehen, so absolut: Wenn Sie komplett entidealisieren, haben Sie ja auch wieder eine Idealform – nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Vielleicht geht es um eine realistischere Wahrnehmung?« Genau darum geht es. Nur ist die in diesem Rahmen nicht möglich. Das analytische Setting, die klare Rollenverteilung, die Regeln – das alles zusammengenommen ist dazu angetan, ein Idealbild entstehen zu lassen und aufrechtzuerhalten. Wenn ich der Realität noch immer nicht ins Auge, sondern scharf und bewusst daran vorbeiblicke, dann wird das sicher nicht zuletzt befördert durch eben diese speziellen Umstände. In dem Augenblick, in dem ich, bemüht um eine realistischere Wahrnehmung, meinen großen Analytiker nüchtern betrachte, sehe ich einen Mann, der mit seiner Kompetenz, seiner sprachlichen Brillanz, seiner Intellektualität, seinem Humor und, last but not least, seiner professionellen – oder zumindest professionalisierten – Empathie einen erfolgreichen Kurs fährt. Ich sehe einen Mann, der irgendetwas kompensiert, was ja nicht verwerflich, geschweige denn negativ ist. Im Gegenteil: Das macht ihn menschlich. »Wie sind Sie denn in Wirklichkeit?«, möchte ich ihn fragen. Kind, halte dich zurück, das geht dich alles gar nichts an. Ich gehorche dem Zensor. In dem Gefühl, mich Schritt für Schritt von der Analyse zu entfernen, verlasse ich die Praxis. Wir sehen uns im neuen Jahr wieder. Am Ende werde ich diejenige sein müssen, die den Beginn von etwas anderem definiert. 367 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Auf der Autobahn, ungefähr Höhe Neuendorfer Dom, wurde mir schlagartig klar, warum das mit der Entidealisierung nicht klappt: Weil es sich nicht um Idealisierung handelt, sondern um – ha! – Mystifizierung. Im Ernst jetzt: Die Idee liegt doch unter anderem vor dem Hintergrund meines Hanges zum magischen Denken nahe, oder? Danke für den Begriff Traumkäfig. Ein Weihnachtsgeschenk«, maile ich ihm und hänge eine Weihnachtskarte an, mit Bildbearbeitungsprogrammen kenne ich mich immer besser aus. Als ich bei dem Gedanken an Loschad in der vierten der zwölf Heiligen Nächte nach einem Besuch bei Mona und Claus und den Pferden anfange zu weinen, nimmt Rufus mich wortlos in den Arm. Er drückt mich fest an sich, ich spüre sein Herz und sehe immer wieder Loschad vor mir, wie er als junges Pferd zu mir kam, zum kleinen Therapeuten, wie Timo ihn nannte, wurde. Ich sehe Rufus und mich am Weidezaun stehen, nachdem ich Loschad innerlich losgelassen, ihm im Bergischen die Freiheit gegeben hatte, die ich mir immer für sein Alter gewünscht hatte. Auch da war es Rufus, der meine Tränen weggewischt hat. Ich bete, dass seine Verletzung ihn, Loschad, am Ende nicht das Leben kosten wird. Eine Weideverletzung, mit der man immer rechnen muss, wenn man sein Pferd im Rahmen einer artgerechten Haltung mehr oder weniger sich selbst überlässt. Ein Risiko, dass man eingehen oder aber vermeiden kann. Zu Silvester fallen böse Worte, ich fühle mich allein, und so weine ich wieder ein bisschen, als Neil Diamond sein I am I said in die Silvesternacht brüllt. »Was würdest du denn jetzt gern tun?«, fragt Rufus am Neujahrstag. Ich stehe, eine Tasse Cappuccino in der Hand, vor ihm und denke nach. Vor vielleicht einem Jahr hätte ich gesagt: mit dir ins Bett gehen, oder: mit dir kuscheln, vielleicht hätte ich sogar gesagt: mit dir zum Reiten gehen, Spaß haben, uns und das Leben genießen. Jetzt sage ich: »An meinem Text arbeiten«, und meine: in meine Welten gehen. Hirtberg – als Person – spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Zwar imaginiere ich oft genug, gewissermaßen zum Trost, ihm jenseits des analytischen Kontextes zu begegnen, bin mir aber nicht darüber im Klaren, ob ich das, mehr oder anderes will. Eigentlich will ich gar keinen Mann. Und kein Pferd. Keines, das verletzt ist, keines, für das allein ich verantwortlich bin, keines, das darauf wartet, ausgebildet zu werden. Mit diesen Gedanken gehe ich ins neue Jahr und frage mich, ob ich noch ganz bei Trost bin, ob ich das mit der Autonomie nicht übertreibe. Alles ist weiß. Der Schnee liegt flächendeckend über der Landschaft, soweit ich sie überblicken kann, und für die nächsten vierzehn Tage ist Winter vorausgesagt. Kaum glaubte ich, auf dem Weg aus der Analyse zu sein, fürchte ich, sie nun dringender zu brauchen den je. »Möchten Sie auch einen Kaffee?«, fragt Hirtberg, als ich den Mantel ablege. 368 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

»Äh, nein danke, damit bin ich jetzt komplett überfordert«, antworte ich, als hätte er mir westfälischen Schweinebraten angeboten. Ich setze mich auf die Couch, er kramt in seiner Tasche nach den Notizen. »Wenn ich mich recht erinnere, war doch dieses hier«, er wedelt mit dem Softcover-Buch, dessen Leimbindung sich als erstaunlich stabil erweist, »das per Mail angekündigte Thema für heute.« »Später. Erst muss ich Ihnen von diesen vermurksten Weihnachtstagen erzählen. Ich hasse Weihnachten. Mit meiner Ursprungsfamilie war es grauenhaft, und jetzt ist es auch nicht besser. Am einfachsten war es noch mit Timo.« Ich rede wie ein Wasserfall, als gäbe es nichts Wichtigeres, als Hirtberg damit zu behelligen, das Rufus seine Kinder zunächst zum traditionellen Gansessen ein-, dann wieder ausgeladen hat, dass Loschad – welch bemerkenswerte Koinzidenz der Ereignisse – mit einer schweren Blessur am rechten Knie geschlagen ist, dass es unmöglich ist, mit Rufus ein Pferd zu halten, und dem diesbezüglichen Resultat, dass nämlich unsere Beziehung darunter leidet und dass die bevorstehende Operation und meine damit verbundene, absehbare, physische Einschränkung mir Angst macht. »Ich werde auf die Hilfe von Rufus angewiesen sein, und im Augenblick traue ich unserer Beziehung nicht über den Weg. Auf jeden Fall, das habe ich Rufus auch gesagt, möchte ich die Verantwortung für das Pferd nicht mehr tragen. Er soll sich eine Lösung einfallen lassen – wenn er es unbedingt behalten will. Ich will es verkaufen.« »Das ist doch eine ganz pragmatische Herangehensweise, die Sie da an den Tag legen: Sie erkennen, dass Sie sich und Ihre Partnerschaft – neben allem, was Sie sonst jeder für sich so machen – überfordern und sagen: Davon – zunächst von dem Pferd, wenn ich Sie richtig verstanden habe – müssen wir uns trennen. Deswegen gleich die Beziehung in Frage zu stellen, ist auch wieder so ein Schwarz-Weiß-Denken«, ergänzt er, eine Auffassung, die ich nur bedingt teile, im Augenblick aber diesbezüglich keinen Gesprächsbedarf sehe. »Wissen Sie, am Ende sehe ich mich wieder allein, ohne Pferd, ohne Rufus, … aber auch ohne diese ganzen Schwierigkeiten.« »Das hat ja auch so ein bisschen was von Borderline – ich sag das jetzt nur mal so, nicht dass ich Ihnen Borderline attestieren würde. Wir machen das alle ein bisschen so: Wir gehen aus Beziehung heraus, bevor der andere es tut; wir springen aus dem Fenster, weil wir Angst vor dem Tod haben. Sie wollen etwas beenden, nur raus aus der Sache, weil sie unsicher ist: Besser das Altbekannte, da sind Sie wenigstens sicher.« Er führt diesen Punkt noch etwas aus, aber ich verstehe ihn nicht richtig – offen gestanden steige ich aus. Um dann, einen Augenblick später, meinen klassischen Ausstieg zu dem in Beziehung zu setzten, was Rufus sehr bildhaft beschreibt: »Er sagt, ich hätte, im Gegensatz zu ihm, eine ›antipathische Weltanschauung‹.« »Was meint er dann damit?« »Er findet, dass ich den Dingen begegne und sie erst mal entschieden von mir wegstieße, um sie betrachten zu können, würfe sie, gleich einem Glas, an die Wand 369 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

und gewänne über die Betrachtung der zu Boden fallenden Scherben ein Selbstbewusstsein im Sinne eines Bewusstseins meiner selbst in Abgrenzung von Dingen, Ereignissen und Personen – auch, was ihn betrifft.« »Indem Idealisierung stattfindet, wird das Reale ausgeblendet und damit Distanz geschaffen, was halten Sie denn davon?« »Als Gegensatz zu meiner Vorstellung, dass Idealisierung Nähe schafft?« Ich überlege, komme mit dem Gedanken nicht wirklich zurecht. »Sie sind die einzige Figur, die einzige Sache, die ich nie wie ein Glas an die Wand geschmissen habe, der ich noch nicht in ›antipathischer‹ – oder abgrenzender – Weise begegnet bin. Ich habe, vielleicht um vermeintlicher Nähe willen, immer idealisiert.« »Und sich dadurch abgegrenzt? Mich also doch an die Wand geschmissen?« »Vielleicht.« »Wie ist das mit Rufus?« »Ihn habe ich idealisiert, bis wir anfingen, eine Partnerschaft zu leben. Je partnerschaftlicher diese Partnerschaft, je realer sie wird, umso weniger idealisiere ich. Es ist ja auch gar nicht mehr der Raum dazu da – anders als hier. Das übrigens auch in einem sehr wörtlichen Sinne! Was Rufus betrifft: Nähe durch Entidealisierung? Das würde Ihre These stützen, dass Idealisierung der Abgrenzung dient. Die ›antipathische Lebensanschauung‹ als Notwendigkeit, sobald keine Idealisierung – als Distanzmaßnahme – vorliegt; eine Waffe in der Begegnung mit der Realität?« Eiskalter Wind fegt mir ins Gesicht. Es ist hell von dem Schnee, obwohl es dunkel ist. Als ich den gefrorenen Acker überquert habe und an den Waldrand gelange, rufe ich, einfach so, ganz laut, seinen Namen, seinen richtigen. Außer den Sternen, die am schwarzen Himmel funkeln, und dem Hund an meiner Seite kann mich niemand hören. Später liegen Rufus und ich, beide rücklings mit vor der Brust gefalteten Händen im Bett, das klassische Altes-Ehepaar-Syndrom, zum Stimmungsbild fehlen nur Brille, Nackenhörnchen und Zahnersatz im Wasserglas. Das Stimmungsbild gefällt mir nicht, flugs zeichne ich ein anderes. Auf dem schwimmen Eisschollen im endlosen Meer, das so dunkel ist wie der Himmel über dem Acker. Ich hüpfe von einer der weißen Inseln zur anderen, erstaunt, dass jede einzelne trägt, obschon jede auf den Wogen schwankt. Ich drohe auszurutschen, in die dunklen Fluten zu stürzen, in den Abgrund, in dem es keine Fantasie mehr gibt. »Das Bild kenne ich«, sagt Rufus, »du hast es nur umgezeichnet. Es entspricht deinem Gefühl als jemand, der auf dem Seil tanzt.« Er steht auf, geht in die Küche und kommt mit einem Glas Wein und einem Eierlikör für mich zurück, zündet zwei Kerzen an, entledigt sich seines Nachthemdes. Auch ihm scheint das Stimmungsbild nicht zu gefallen. »Die Artistin, von der du sagst, du seist sie los, ist ein Teil von dir, und den kannst du allenfalls erkennen und, wenn du klug bist, Frieden mit ihr schließen.« 370 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wie macht Rufus das? Er ist einfach nur an meiner Seite, fängt mich auf, indem er in flotten Linien skizziert, was er beobachtet. So, wie er die Tiere in seinem kleinen Garten beobachtet und schützt, so schützt er auch mich, vor mir selbst. Der Schutzengel unserer Liebe streichelt mich zärtlich, wühlt sich in meine Haare, in meine Haut, in mein Herz. Innerlich berührt beobachte ich am nächsten Tag, wie er Brotkrumen unter einem der kahlen Büsche verteilt, »Für Fritzchen«, erklärt er, »mit dessen Sippe lebe ich jetzt seit sechzehn Jahren hier.« Fritzchen ist eine Zwergspitzmaus. »Wie kommt das denn jetzt auf einmal?«, fragt Hirtberg und richtet sich in seinem Sessel auf, etwas irritiert, wie mir scheint. »Sie haben mir doch erzählt, dass Sie mit so vielen Dingen gut klarkommen, Sie haben einen zuversichtlichen Eindruck gemacht. Und jetzt erzählen Sie mir was von schwankenden Eisschollen?« Ich gucke ihn gerade heraus an, das konnte ich früher nicht. »Ja, ich habe mich auf einem guten Weg gefühlt. Stabiler.« Er wartet ab, guckt mich an. Ich überlege einen Moment, ob ich mich legen sollte, tue es dann aber nicht. Ich will ihn ansehen, wenn ich mit ihm rede. Jetzt aber nicht aus Unsicherheit heraus, sondern aus einer Sicherheit heraus, die ich mir selbst nicht erklären kann. »Ich habe eine Idee, womit sie zusammenhängt, diese Wirrnis der Gedanken, dieses Gefühl der Instabilität: Es ist der bevorstehende Krankenhausaufenthalt …« »Da haben Sie doch Ihren roten Faden wieder«, fällt er mir zustimmend ins Wort, »Sie kommen wieder an einen ähnlichen Punkt wie im September. Wie das mit Ihrer kernfamiliären Situation zusammenhängt, haben wir ja mehrfach erörtert. Sie trauen dieser Beziehung zwischen uns wieder nicht über den Weg, befürchten, dass da etwas verloren geht, wenn Sie jetzt eine ganze Weile nicht kommen können.« »Allein bei dem Gedanken wird mir schon schlecht.« »Das haben Sie allein herausgefunden, Sie machen das ganz ausgezeichnet! Sie sind jetzt in der Lage, viele Dinge selbst zu erkennen, dann tragen Sie sie mir vor und ich kann nur zu Kenntnis nehmen, dass Sie recht haben. Ich wäre da nicht so schnell drauf gekommen.« »So schnell war das auch wieder nicht, ich denke ja seit ein paar Tagen darüber nach.« »Nun, auch ich trage Sie ja auch schon ein Weilchen mit mir herum«, sagt er, Balsam auf meiner Seele, die sich gerade etwas erholt. Wie macht Hirtberg das? Sitzt einfach nur da und hört mir zu und schon ändert sich etwas auf der emotionalen Ebene. Es sind gar nicht so sehr die Erkenntnisse, nicht die kognitive Ebene, die kriege ich in der Tat allein hin. Hirtberg macht etwas auf der Gefühlebene mit mir, was, weiß ich nicht. Aber es ist etwas Ähnliches wie das, was Rufus mit mir macht. »Noch auf dem Weg hierher habe ich überlegt, wie ich in die Stunde kommen soll: als völlig regredierte Patientin, die an allem zweifelt und sich denkt, ach, der 371 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

große Analytiker wird’s schon richten – oder als einigermaßen autonome, halbwegs selbstbewusste Frau, die einfach ihr Buchprojekt bereden will.« Bei dem großen Analytiker kann er sich ein Lächeln nicht verkneifen. Trotzdem: »Das sind Sie, die hier die Erkenntnisse zusammenstrickt, nicht ich. Auf den Zusammenhang mit dem Krankenhaus bin ja nicht ich gekommen. Was die Sache zusätzlich erschwert, ist ja, dass der selbst auch noch nicht mal sicher ist, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Und dann zweifeln Sie, ob unsere Beziehung Bestand hat, über diese Zeit, in der Sie nicht kommen können.« Seit Wochen Dauerfrost. Rufus ruft kurz nach sieben an, vor mir rutscht ein blauer Golf beinahe in die Leitplanke, auf der Überholspur! Beim Klang seiner weichen, erotischen Stimme erinnere mich an den Abend, er sah bezaubernd aus in seinem schwarzen Rollkragenpullover, als er mir begeistert von der Lösung berichtete, die er für Dana gefunden hat. Mit seinem Charme und seiner geballten Sozialkompetenz hat er sie kurzerhand der Reitlehrerin aufs Auge gedrückt, die sich natürlich geschmeichelt fühlt und obendrein völlig frei über ein Verlasspferd mit guten Grundgangarten und reichlich Potenzial verfügen kann. In der Organisation ist ein Neujahrsessen angesetzt, in einem nahe gelegenen italienischen Restaurant. Eine Farce, mich kotzt das alles an. Je nach Stimmung wird genau dieses Organisationsneujahrsessen im Klo landen. »Du brauchst durch die Analyse keine Bulimie mehr, weil du deine Probleme nicht mehr mit dem Astralleib löst, sondern ihnen mit deinem Ich begegnest«, sagt Rufus, als ich ihm, nun einem schlingernden Kleintransporter ausweichend, in einer mich selbst überraschenden Offenheit von meinen Befürchtungen erzähle. »Außerdem gibt es in jedem italienischen Restaurant einen Salat, damit kommst du doch im Zweifelsfalle klar … Oder nimm Forelle, die hat auch wenig Kalorien.« »Ja. Ich werde es versuchen.« Wie auch das: die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Das Leben mit Rufus. Das Bild von Hirtberg. Bei aller Sehnsucht: Es ist doch nicht mein Analytiker, um den es geht. In seinen Worten und Gesten sagt Rufus mir so oft nichts anderes als das Bild, der Spiegel, der Fremde. »Es gibt hier auch eine Decke, wenn Ihnen so kalt ist«, sagt der Fremde, nachdem ich bemerkte, dass es eisig sei in diesem Raume, er hatte das Fenster sperrangelweit auf, um den Qualm zu verscheuchen, was zum Teil gelungen ist. »Um Gottes willen, keine Decke, das wird mir zu gemütlich«, antworte ich, kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, mich hier häuslich einzurichten. Hirtberg setzt sich quer in seinen Analytikersessel, legt die Füße auf die Lehne des daneben stehenden. Da ich auf der Couch liege, scheint es, als spiegele er meine Haltung. Das hat er noch nie gemacht, jedenfalls nicht so offensichtlich. Sein lilafarbenes Hemd ist etwas gewagt an diesem frostigen Tag, wenigstens trägt er ein dunkelblaues, nadelgestreiftes Jackett darüber, was auf eine merkwürdige Art mit 372 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

seinen Ranger-Boots in Konflikt gerät. Ich sehe nicht besser aus mit diesen schwarzen Quadratlatschen, den unlackierten Fingernägeln und einer Plüschjacke, die ich eigentlich nur zu Hause trage. Heute will ich genau so gesehen werden: nicht die Spur aufgebrezelt. Benja pur. Ich liege so, dass ich ihn angucken kann. In Nr. Dreihundertundfünfzehn reden wir über dies und das. Fünfzig Minuten lang. Unter anderem über die Notizen, mit denen ich zum Ende kommen muss oder will oder beides. »Im Krankenhaus werde ich die letzten drei Kapitel bearbeiten, kürzen vor allem. Schauen Sie, Hirtberg, als ich zum allerersten Mal mit Ihnen telefonierte, saß ich auf einer Bank im Garten der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt. Und jetzt gehe ich in die Sportklinik nach Hellersen.« »Ein Kreis, der sich schließt. Ein schönes Bild.« Niemand außer Hirtberg kann so etwas sagen, ohne dass es nach einer Plattitüde klingt. Und ohne dass er es wiederholt, weiß ich: Wir werden uns nicht ganz aus den Augen verlieren. Der Boden trägt. Während ich in meinen Mantel von der Garderobe nehme und mir den knallroten Schal eng um die Hüfte wickele, weil er die Nieren so schön wärmt und den Speck ein wenig komprimiert, zweifele ich noch mal ein bisschen vor mich hin: »Vielleicht gehe ich auch nicht ins Krankenhaus … keine Ahnung.« »Sie sind unmöglich«, zwinkert er. Beim Verlassen der Praxis bin ich nicht traurig. Im Gegenteil, ein kleines bisschen amüsiert. In der Organisation erledige ich alles, was noch erledigt sein will. Viel ist das nicht. Zwei Zähne werde ich mir rasch noch machen und meine langen, blonden Haare kurz schneiden lassen. Ich bereite alles vor. Systematisch. Perfekt. Das gibt mir Stabilität – auch in der Verlorenheit. Auf der Autobahn, kurz vor Folzheim, wird mir klar, dass jetzt die Möglichkeit zum Ausstieg gegeben ist. Hirtbergs Worte klingen nach: »Sie sind unmöglich.« Ja, das bin ich. Noch dreihundert Stunden und ich werde, ganz auf gleicher Augenhöhe, zwinkern: »Sie auch, Herr Hirtberg.«

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Irrungen

Es ist seine Intelligenz, die mich weckt. Es ist sein Humor, der mein Zwerchfell kitzelt. Es ist seine Gelassenheit, die meine Nerven beruhigt. Es ist seine Souveränität, die Respekt verlangt. Es ist sein Bewusstsein, das mein Bewusstsein aktiviert. Es ist seine Stimme, die sich in mein Herz geschlichen hat. Es ist seine Empathie, die mich umhüllt wie eine Daunendecke. Es ist seine Geduld, mit der er tragfähige Brücken baut. Es ist seine Selbstsicherheit, die mich stabilisiert. Es ist sein Lachen, mit dem er so irdisch wirkt. Es ist sein Erfolg, der ihn aufrecht gehen lässt. Es ist sein Blick, der mich elektrisiert. Es ist sein Engagement, das mich motiviert. Es ist seine Ironie, die mich für Sekunden irritiert. Es ist seine Zuverlässigkeit, die Sicherheit vermittelt. Es ist seine Authentizität, mit der er Vertrauen schafft. Es ist seine Unorthodoxie, die sein Tun glaubwürdig macht. Es sind seine Hände, die ich auf meiner Haut zu spüren wünsche. Ist es meine grenzenlose Bewunderung, die mich erblinden lässt? Ist es mein warmes Gefühl, das ich verwechsele mit Verlangen? Ist es mein Narzissmus, den ich verwechsle mit Interesse? Ist es meine Zuneigung, die ich verwechsele mit Liebe? Ist es mein Abgrund, wenn ich ihn ganz verliere? Es ist nichts als sein Job, den er hier macht. Es ist mein Wunsch, ihn in die Luft zu werfen und wieder aufzufangen.

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Epilog

D

ieses Buch, meine Geschichte, mag auf der einen Seite ermutigend sein, und entmutigend vielleicht auf der anderen. Um das Entmutigende – die Schwierigkeiten nämlich, die sich für mich aus der Endlichkeit einer psychoanalytischen Behandlung ergeben haben – zu relativieren, nun das Folgende, der Epilog, um den der Verlag gebeten hat; geschrieben aus der Erkenntnis heraus, dass jeder, der sich auf das Wagnis Psychoanalyse einlässt, für sich definieren muss, was er unter dem »Ende« des Prozesses versteht. Hirtberg hat es mir überlassen, das Ende zu setzen, zu markieren, eine Zäsur zu schaffen. Nach Ablauf der dreihundert dankenswerterweise durch die Krankenkasse finanzierten Stunden habe ich meine Besuche bei Hirtberg in zunächst unwesentlich größeren Abständen als im letzten Jahr fortgesetzt, als wir uns, vor dem Hintergrund einer – nach meinem Umzug von Liefem nach Assgart – beinahe zweistündigen Anfahrt nur noch ein Mal wöchentlich sahen. Damit hatte sich ein Charakteristikum der klassischen Analyse, die hohe Frequenz nämlich, ohnehin erledigt und der Ausstieg im Grunde bereits im Herbst 2008 begonnen. In dieser Zeit war der Abschied immer wieder ein Thema. Die Abstände zwischen unseren Terminen vergrößerten sich, was nur bedingt wirtschaftliche Gründe hatte: Eine wöchentliche Konsultation hätte ich mir durchaus leisten können, zog es aber vor, mich sukzessive zu entwöhnen. Hirtberg wurde nicht müde zu betonen, dass ich in der Wahrnehmung seiner Person einer Idealisierung aufsäße, was ich nie bestritt. Bis heute bin ich davon überzeugt, ihn auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die ich nicht analysieren kann und auch nicht analysieren will, geliebt zu haben – ihn oder mich oder uns beide oder die Situation, diese Therapiegeschichte, die ich für mich allein hatte. Warum ich diese Form des Rückzugs brauche, weiß ich nicht: Die Zeit war zu knapp, um eine befriedigende Erklärung zu finden. Wie eingangs gesagt: Der Defizite, meiner eigenen und derjenigen des analytischen Prozesses, bin ich mir bewusst. Ihre Inhalte ins Bewusstsein zu holen, ist meine Aufgabe. Doch werde ich mich hüten, mich an dieser Stelle in amateurhaften Spekulationen zu ergehen. Die Analyse, meine Analyse, hinterlässt so viele offene Fragen, wie sie Antworten gegeben, wie sie Probleme aufgedeckt und zu deren Lösung sie beigetragen hat. Das Primärziel ist erreicht: Der Zustand relativer Symptomfreiheit ist stabil. Ich vertraue meinem Körpergefühl, konsultiere die Waage maximal einmal im Monat, zähle keine

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Kalorien mehr und bin immer noch nicht dick. Die Essanfälle mit anschließendem, selbstinduziertem Erbrechen seit November 2008 sind an einer Hand abzuzählen. Die Artistin trägt das Kostüm der Angst, an Körpergewicht zuzunehmen, und es fällt noch immer schwer, gesund und regelmäßig zu essen. Doch damit lässt sich leben. Die Analyse hat allerdings weit mehr bewirkt als die Beseitigung des Symptoms, oder sagen wir: Sie bewirkt mehr als den einigermaßen adäquaten Umgang mit einer Störung, die zu tief verankert ist, um sie zur Gänze auflösen zu können. Noch im analytischen Prozess mit Hirtberg befindlich, glaubte ich, irgendwann sei dieser abgeschlossen. Ein Irrtum! Jetzt ist der analytische Prozess mit Hirtberg beendet – und läuft ohne ihn weiter. Bildhaft gesprochen: In der Begegnung mit dem Analytiker begegnete ich mir selbst, und zwar im Außenraum, gewissermaßen jenseits meiner physischen Grenzen. Jetzt begegne ich Hirtberg im Innenraum, führe einen inneren Dialog mit ihm, wenn Probleme auftauchen, Verhaltensweisen, die es zu hinterfragen, Entscheidungen, die es zu fällen gilt. Manchmal kommt es zu einem Disput zwischen der Stimme des Zensors, der mich belehren, zurechtweisen will, und der des Analytikers, die mich ermutigt, zu denken, zu fühlen und zu tun, was ich will, die mich auf meine Ängste, Zweifel und beabsichtigen Ausstiege aufmerksam macht. Im Erkennen und Benennen von Gedanken, Gefühlen und Verhaltensweisen liegt die reelle Chance anzunehmen, was ich für richtig halte – auch wenn der Zensor mich für verrückt erklärt. Jetzt ist es nicht mehr Hirtberg, der mir in die Seele, auf die Finger guckt. Seit Anfang des Jahres 2010 haben wir uns, da ich mich einem operativen Eingriff unterziehen musste, nur noch sporadisch gesehen. Im Krankenhaus und in den folgenden Wochen habe ich gelitten und geweint, vermisste Hirtberg, war mir aber im Klaren darüber, dass dieser Schmerz vergehen würde. Der Prozess der Behandlung war abgeschlossen. Das zu akzeptieren, fiel mir schwer, ich klebte mich an Fantasien, sehnte mich nach einer unendlichen Geschichte. Ohne die Therapie hätte ich mich wohl kaum auf den Weg gemacht, den meine grundsätzliche Lebenslust, meinen Mut und meine Energie spiegelnden Partner, den ich in Rufus gefunden habe, zu suchen, und wäre schließlich nicht an diesen biografischen Wendepunkt gelangt, an dem sich endlich vollzieht, was absehbar war. So brachte der Sommer ohne Hirtberg, wie ich den Sommer 2010 nennen möchte, eine ungeheure Dynamik – bezogen auf die Frage nach meiner künftigen Lebensgestaltung – mit sich, nach meinem Motiv, wie Rufus es formuliert, nach meiner Bestimmung, nach dem, wozu ich mich berufen fühle. Was Sie wollen, ist Autonomie, würde Hirtberg sagen. Die Entscheidung, der Organisation und ihren verkrusteten Strukturen den Rücken zu kehren, auszusteigen aus der institutionalisierten Ziel- und Absichtslosigkeit und einem sozialen Mechanismus, mit dessen Mangel an Entwicklungsbereitschaft ich mich nicht identifiziere und der seit Jahren offen gestanden ausschließlich dazu diente, Lebensunterhalt und Rente zu sichern, fiel während einer dreitägigen Dienstreise nach Moskau, im Rahmen derer ich vor dem Hintergrund bestimmter 376 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Leistungen zu einem der Protagonisten dieses absurden Stückes geriet: Bei über dreißig Grad im Schatten, in unklimatisierten Ausstellungsräumen hatte ich, angetan mit blutrotem Seidenkleidchen, drückenden Pumps und aufgesetztem Lächeln, der internationalen Presse Rede und Antwort zu stehen. Diese Rolle hätte mir durchaus gefallen, wäre da nicht der Schmerz nicht vorhandener Identifikation mit eben jener Institution, die es zu vertreten galt, gewesen. Spät in der Nacht übereignete ich Kaviar und Blini dem Fünf-Sterne-Klo und beschloss meinen Ausstieg – aus der Organisation und aus dem ganzen verqueren Kunstzirkus, in dem ich mich immer als Außenseiterin erlebt habe. Auf der Basis des Lebens mit Rufus, der seine Bestimmung spürt, mit beiden Füßen auf dem Boden steht, der an die Wirkgewalt der Engel und das gute Schicksal glaubt, der sich in der Umsetzung seiner Ideale sozial engagiert, ohne dabei die Wirtschaftlichkeit seines Tuns aus den Augen zu verlieren, konnte mein Eingeständnis wachsen, dass ich in dem nicht zuletzt von der Organisation getragenen und oft unreflektiert geförderten Kunstbetrieb jämmerlich zu Grunde gehen würde. Mein Anwalt ist damit beschäftigt, eine geeignete Strategie zu Gunsten einer möglichst einvernehmlichen Trennung zu entwickeln. Es erfordert Mut, zu einem biografisch vergleichsweise späten Zeitpunkt die Entscheidung zu fällen, sich mit Leib und Seele dem zu verschreiben, was die Umstände – gesellschaftliche Anforderungen etwa oder die Notwendigkeit, sich wirtschaftlich zu positionieren – verhindert haben, von der eigenen, inneren Disposition ganz abgesehen. Jetzt habe ich den Mut, mich in der Weise mit Pferden zu beschäftigen, als sei das Fernziel bereits jetzt mein Beruf. Meine Berufung jedenfalls scheint hier zu liegen. Ich zweifele nicht an der Sinnhaftigkeit meiner Idee, deren Wirkung auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema zum Ausdruck kommen mag. Das Gleiche gilt für die Kunst: Nicht ihr, die nur in geistiger und seelischer Freiheit entstehen kann, kehre ich den Rücken, sondern den mit ihr verknüpften und sie schließlich einengenden gesellschaftlichen Gepflogenheiten und Gegebenheiten. Ich lasse mich nicht länger dafür bezahlen, dass ich stromlinienförmig mitschwimme, lieber nichts als das vermeintlich Falsche tue. Ich nehme mir die Freiheit, anders mit Kunst umzugehen: Ohne institutionelle Bindung sehe ich mich nicht gezwungen, Trends aufsitzen, für gut zu befinden, was sich gut verkauft, Shootingstars zu protegieren oder mich mit Künstlern zu befassen, deren Schaffen nur andere überzeugt. Unabhängig von einer Institution, die ihre eigenen Wurzeln verrät und sich unkritisch dem Diktat egomaner Museumschefs beugt, steht es mir frei, meine eigene Meinung über die Zusammenhänge von Kunst, Wissenschaft, Handel, Ausstellungen und Gesellschaft zu vertreten. Kein zwackendes Kostümchen mehr, keine Maske und keine hohen Hacken. Es sind die ökonomischen und gesellschaftlichen Mechanismen der sogenannten Kunstszene, die ich ablehne. Der anthroposophisch motivierte Impuls indes erscheint mir umfassend, human und alltagstauglich genug, um über diesen mit Rufus in einen 377 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

spannenden Dialog zu treten. Aus Gründen, die differenziert darzustellen hier nicht der Ort ist, setzt er mit seinem Kunstverständnis Akzente jenseits der Kunstmuseen und -messen mitten in den Alltag, agiert in und mit dem Leben, was einer von verschiedenen Ausgangspunkten unserer gemeinsamen Arbeit sein mag. Vielleicht ist es tatsächlich weniger schlimm, heute nicht zu wissen, was morgen sein wird, als zu ahnen, dass die Rente doch nicht sicher ist. Noch wirkt die Ungewissheit bedrohlich, doch in der Überzeugung, dass er das Ziel ist, mache ich mich auf den Weg – ungeachtet des gestrengen Blicks des Zensors angesichts der wirtschaftlichen Einbußen und des Verlustes diesbezüglicher, wenngleich vermeintlicher Sicherheit, die mein neuer Kurs – zunächst – mit sich bringt. Die Behandlung hat mich in vielerlei Hinsicht befreit, meine Neigung zur Unkonventionalität gestärkt und mich einen Sinn für das entwickeln lassen, was Autonomie bedeutet. Die Basis für autonomes Denken und Handeln ist die Fähigkeit, Gefühle wahrzunehmen und eindeutig zu benennen, was mir immer noch nicht leicht fällt. Übertragen auf die Handlungsebene führt das Quantum an gewonnener Freiheit im Denken und Fühlen auch zu emotionaler und kognitiver Instabilität. Ideenreichtum, Phantasie und Kreativität haben zugenommen. Das Zusammenleben mit Rufus tut ein Übriges – sowohl was die Freiheit betrifft als auch die Entwicklung von Ideen, Perspektiven und Projekten –, um in der Fülle des Lebens bisweilen ins Schleudern zu geraten, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Der Verzicht auf Listen, Tabellen, Kalorienzählen und das Ausleben eines zeit-, kraft- und geldraubenden Symptoms führt auf der ganz realen Ebene, nämlich was die Zeit betrifft, zu weiteren Freiräumen, in denen wieder Neues entsteht. Die Herausforderung besteht darin, Stabilität im Innenraum zu schaffen, um Halt zu finden in der Instabilität des Außen – eine Herausforderung, der ich mich täglich stellen muss, die zu bestehen mir Hirtberg aber das Grundwerkzeug mitgegeben hat. Ich gehe davon aus, dass dieser Prozess andauert, mutmaßlich ein Leben lang. Für mich gilt die radikale Akzeptanz der Gegenwart, so wie sie eben ist: Es liegt an mir, sie zu gestalten. Für mich gilt die radikale Akzeptanz der Ambivalenz, mit der sich die Dinge präsentieren, die radikale Akzeptanz innerer und äußerer Instabilität, womit ich immerhin das finde: Stabilität in der Verlorenheit, in der Offenheit, im Reichtum, den eine lebendige Existenz bereithält. Heute wie am ersten Tag unserer Begegnung ermuntert mich Rufus, geistige und seelische Fesseln zu sprengen und Offenheit auf der existenziellen, ganz realen Handlungsebene zuzulassen. Mit seinem hohen Maß an Empathie beschreibt er innere und äußere Zustände, erfindet Bilder für meine seelische Befindlichkeit, vergleicht mich mit einem Schmetterling, der von Blüte zu Blüte, leicht vom Wind, getragen wird. In der Tat: Oft fühle ich mich bis ins Physische hinein unkonturiert, geistig beweglich und seelisch entgrenzt, vertraue jedoch zunehmend darauf, dass der Boden tragen wird – wenn ich ihn nur endlich unter meinen Füßen spürte! Gegenwärtig sehe ich mich in einer Situation, die mich mit einem Maximum an Ambivalenz konfrontiert: Welch eine Befreiung, angesichts der Offenheit der Lage tun und lassen zu können, 378 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

was ich will, einerseits. Welch eine gigantische Herausforderung, Strukturen, Stabilität und Sicherheit im Inneren zu finden, andererseits. Max Hirtberg als Fels in der Brandung, als Anker und Spiegel ist weit weg. Manchmal wünsche ich, er möge sich nach meinem Ergehen erkundigen, mir eigeninitiativ, wie ein Freund es täte, eine E-Mail schreiben. Er wird sich hüten. Doch allein zu wissen, jederzeit in seinem ambivalenzfreien Raum willkommen zu sein, beruhigt. Sein Angebot indes werde ich vorläufig nicht in Anspruch nehmen: Wie die Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit zeigen, bin ich selbst in der Lage, Gefühle einigermaßen treffsicher zu benennen, wirre Gedanken zu entflechten und in ihre Einzelteile zu zerlegen, Fragen eher zu deuten, denn um ihre Beantwortung zu ringen, die Nuancen zwischen Schwarz und Weiß in meine Betrachtungen einzubeziehen, mich von Wertungen fernzuhalten – Voraussetzung für all das: Zeit, Muße, Achtsamkeit und Bewusstheit. Böse Zungen behaupten, bei Abschluss einer psychoanalytischen Behandlung sei der Patient sein Symptom zwar nicht los, wisse aber um dessen Ursachen. Angesichts meiner immer noch vorhandenen Selbstwert-, Autonomie- und Abgrenzungsproblematik, der Neigung zu selbst zu verantwortender emotionaler oder kognitiver Überforderung und der phasenweise daraus resultierenden Dissoziationen mag die Frage, ob von einer gelungenen Analyse die Rede sein kann, gerechtfertigt erscheinen. Hinzu kommt die durchgehende Idealisierung des Analytikers, die erst jetzt einer deutlich kritischeren und damit realistischeren Betrachtung weicht. In meinem Erleben war die Behandlung erfolgreich, völlig unabhängig davon, ob sie nun aus fachlicher Sicht von vorn bis hinten gelungen ist. Meine Zweifel, das Grundgefühl, keinen Platz in dieser Welt zu haben, nicht willkommen zu sein in sozialen Zusammenhängen – dies und anderes ist mir bewusst, was ich als Gewinn betrachte: Immerhin besteht die Chance, adäquat mit den genannten Phänomenen umzugehen. Der Psychoanalyse als Prozess des Erkennens und Beschreibens muss nun, auf der Ebene konkreten Handelns, der Transfer des Erkannten und Beschriebenen in die Realität folgen. Der Abschied liegt hinter uns. Vor uns, wenn alles gut geht, die Begegnung auf gleicher Augenhöhe. Folzheim, Oktober 2010

379 © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Regine Alegiani

Die späte Suche nach Grund Eine analytische Psychotherapie im höheren Alter Mit einem Vorwort von Gerd Lehmkuhl.

Mit 69 Jahren entschließt sich Regine Alegiani zu einer analytischen Psychotherapie und trifft auf einen Analytiker, der sich trotz ihres Alters darauf einlässt. Vor dem Hintergrund der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung werden aus der Sicht der Patientin wesentliche Phasen der Arbeit an dieser frühen seelischen Störung wiedergegeben, die ihr Leben bis ins Alter hinein beschattete. Der Bericht schildert die Kommunikationslinien und das Beziehungsgeschehen zwischen Analytiker und Patientin. Regine Alegiani besticht durch ein hohes Reflexionsniveau und ihre Gabe zu schreiben. »Das Buch ist ein Gewinn nicht nur für Menschen der Geburtsjahrgänge der dreißiger und vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, sondern für alle, die den Weg der Veränderung als lockend und lohnend empfinden.« ab 40. Zeitschrift von, für, über Frauen »Gleich auf den ersten Seiten wird deutlich, welch ein Schatz sich hier auftut. Abgewogen, nachdenklich, Freiräume gebend, zum eigenen Hinterfragen einladend, spannend und zugleich zart in Empfindungen und Gedanken [...]« Dr. Anton Drähne, www.buchbesprechungen-psychotherapie.de

Regine Alegiani

Bewohntes Land Psychotherapie als Öffnung zur Welt Mit einer Einführung von Kurt Hemmer.

Dieser Bericht gibt Einblick in die Endphase einer mit 70 Jahren begonnenen analytischen Psychotherapie. Ausgehend von der frühen Kindheit macht sich die Autorin mit verdrängten seelischen Inhalten vertraut und lernt mit unintegrierten Impulsen umzugehen. Bei der Bewältigung von Konflikten orientiert sie sich an dem vielschichtigen Geschehen in der analytischen Beziehung. Je mehr auf den Analytiker gerichtete Projektionen zurückgenommen werden können, umso deutlicher wird seine reale Gestalt sichtbar als die eines unabhängigen, von ihr selbst getrennten Anderen. Diese Wahrnehmung erlaubt es auch der Autorin, sich als eigenständig zu erfahren. Dies öffnet ihr neue Zugänge zur Welt. Dank der stärkenden Kraft der analytischen Beziehung baut sich eine seelische Mitte auf, die das Dasein zu tragen beginnt. Regine Alegiani gelingt der Übergang aus einer entfremdeten inneren Welt in das reale Leben. Dr. Kurt Hemmer hat als behandelnder Psychoanalytiker die Einführung geschrieben. Dieses Buch schließt sich an ihren Therapiebericht »Die späte Suche nach Grund« (2009) an. © 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Wenn Sie weiterlesen möchten ... Elisabeth Walsum

Und wo bleibt der Dank! Meine Psychotherapie in Träumen Die Kindheit und Jugend von Elisabeth Walsum sind geprägt von den Folgen der Scheidung ihrer Eltern. Fehlende Anerkennung und Liebe kompensiert sie durch Leistungswillen und Zielstrebigkeit. So schafft sie es, sich eine bürgerliche Existenz aufzubauen, in der sie soziale Anerkennung erfährt. Sie ist ausgefüllt vom täglichen Kümmern als Hausfrau und Mutter, als Lehrerin und als politisch und sozial Engagierte. Nur ihrer eigenen Person kann sie wenig Aufmerksamkeit widmen. Sie tritt immer zugunsten scheinbar wichtigerer Themen und Personen zurück. Durch ihre Aktivitäten merkt sie nicht, dass ihr Selbstbewusstsein und Selbstachtsamkeit fehlen. Mit sich selbst mag sie sich auch gar nicht beschäftigen. Sie selbst ist sich uninteressant, unwichtig. Auf die Frage »Wer bin ich?« kann Elisabeth Walsum nur mit Äußerlichkeiten antworten. Psychische Zusammenbrüche mit tagelangen Weinkrämpfen sind ihr unerklärlich und müssen gegenüber ihrer Umwelt verheimlicht werden. Sie sucht die Hilfe einer Psychotherapeutin, die Angst und depressive Störungen diagnostiziert. Knapp drei Jahre dauert ihre tiefenpsychologisch orientierte Einzeltherapie. In der Therapie spielen Träume und Literatur eine große Rolle. Anschließend beginnt sie, ihre Träume aus dem Traumtagebuch zu interpretieren. Die Verarbeitung eines jeden Traumes ist für sie noch einmal eine persönliche Therapiestunde. Danach fühlt sich Elisabeth Walsum seelisch und körperlich geheilt, ihre Rückenschmerzen und Nackenverspannungen haben auch aufgehört.

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Kreatives und therapeutisches Schreiben

Silke Heimes

Silke Heimes

Kreatives und therapeutisches Schreiben

Schreib es dir von der Seele

Ein Arbeitsbuch

2010. 168 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40430-0

2., durchgesehene Auflage 2009. 132 Seiten, kartoniert ISBN 978-3-525-40412-6

Kreatives und therapeutisches Schreiben fördert die Wahrnehmungsfähigkeit, hilft lebensgeschichtliche Konflikte aufzuarbeiten und trägt zur Persönlichkeitsentwicklung bei. Durch das Schreiben werden psychische Heilungsprozesse unterstützt. Jedem Menschen steht kreatives Schreiben offen, es bedarf keiner besonderen literarischen Fähigkeiten, denn in jedem ist sprachliches Ausdrucksvermögen vorhanden. Dieses Arbeitsbuch enthält zahlreiche Übungsanleitungen für Therapeuten und Schreibgruppenleiter wie auch für die poetische Selbstanalyse.

Kreatives Schreiben leicht gemacht

Schreiben entlastet, schafft Ordnung im Chaos, verhilft zu Einsichten und führt zu einem reichen und lebendigen Leben. Anhand vielfältiger praktischer Übungen, die leicht durchführbar sind und Schreibspaß vermitteln, zeigt Silke Heimes, wie es gelingen kann, das »Schreib-Ich« zu wecken und Schreiben als natürliche, kreative Kraft und Inspirationsquelle zu nutzen. Ob spielerisch die Zeilen geschnitten werden (Cutup-Technik) oder die Lieblingsspeise imaginiert wird, der Schreibende erweitert seinen Blick, wechselt die Perspektive, öffnet sich für neue Erfahrungen und tritt in tiefen, befriedigenden Kontakt mit sich und seiner Umwelt.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7

Mit Leichtigkeit zum achtsamen Leben

Friedrich D. Hinze

Acht Schritte zur Achtsamkeit Ein Buch zum Tun und Lassen 2011. 158 Seiten mit 19 Abb. und 23 farbigen Karten, kartoniert in Schuber ISBN 978-3-525-40432-4

Das Buch ist mehr als ein Buch. Es besteht aus zwei Teilen: Einem Lesebuch und den »Einsichtskarten der Achtsamkeit«. Die alltagsnahe, handlungsorientierte und leicht verständliche Darstellung des Themas regt zum Weiterdenken an. Farbige Abbildungen erweitern den Blick. Vielseitige Übungen setzen achtsames Verhalten in Gang. Die Einsichtskarten vermitteln Einsichten, die zum Tun bewegen und zum Lassen raten. Mit den wegweisenden Karten in der Hand hat der Leser gute Aussichten, in acht Schritten zum achtsamen Umgang mit sich selbst und seinen Mitmenschen zu gelangen.

© 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 978-3-525-40102-6 — ISBN E-Book: 978-3-647-40102-7