Reinhart Koselleck als Historiker: Zu den Bedingungen möglicher Geschichten [1 ed.] 9783666317293, 9783525317297

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Reinhart Koselleck als Historiker: Zu den Bedingungen möglicher Geschichten [1 ed.]
 9783666317293, 9783525317297

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Reinhart Koselleck als Historiker Zu den Bedingungen möglicher Geschichten

Herausgegeben von Manfred Hettling und Wolfgang Schieder

Reinhart Koselleck als Historiker Zu den Bedingungen möglicher Geschichten

Herausgegeben von Manfred Hettling und Wolfgang Schieder

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung, Köln.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Reinhart Koselleck bei der Vorstellung eines Bandes mit eigenen Karikaturen anlässlich seines 60. Geburtstags, 1983 in Aschaffenburg. © Foto: Manfred Hettling Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-31729-3

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Manfred Hettling und Wolfgang Schieder Theorie des historisch Möglichen. Zur Historik von Reinhart Koselleck . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Steffen Kluck und Richard Pohle Koselleck, Heidegger und die Strukturen geschichtlicher Situationen . . . 61 Christof Dipper Der Gelehrte als Schüler. Der Briefwechsel Reinhart Kosellecks mit Carl Schmitt . . . . . . . . . . . 87 Reinhard Blänkner Otto Brunner und Reinhart Koselleck. Sprache und politisch-soziale Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 Wolfgang Schieder Werner Conze und Reinhart Koselleck. Zwei begriffsgeschichtliche Konzeptionen in den Geschichtlichen Grundbegriffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Harald Bluhm Alexis de Tocqueville und Reinhart Koselleck. Der Wandel der modernen politischen Sprache . . . . . . . . . . . . . . . 171 Jürgen Kocka Reinhart Koselleck als Sozialhistoriker Preußens . . . . . . . . . . . . . . . 194 Monika Wienfort Reinhart Koselleck, Preußen und das Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Manfred Hettling »Identitätsstiftung« eines »Überlebenden«? Reinhart Kosellecks Strukturanalysen des politischen Totenkults . . . . . 225 Bettina Brandt und Britta Hochkirchen Bilder als Denk- und Erfahrungsraum möglicher Geschichten im Werk Reinhart Kosellecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

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Inhalt

Tobias Weidner Der Historiker als Fotograf: Reinhart Kosellecks Blick(e) . . . . . . . . . . 276 Peter Tietze Kosellecks reflektierter Historismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Reinhard Mehring Negativer Kantianismus. Kosellecks sinnkritische »Primärerfahrung« . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Sebastian Huhnholz Die (un-)endliche Geschichte. Reinhart Kosellecks »Historik« zwischen geschichtswissenschaftlicher Methodologie und Politischer Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Ulrike Jureit Auf dem Dachboden des historischen Bewusstseins. Erinnerungsschichten, Primärerfahrung und Geschichtlichkeit im Werk Reinhart Kosellecks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 402 Dieter Langewiesche Historische Anthropologie und Sprache bei Reinhart Koselleck. Geschichtliche Prognostik als Wiederkehr der Historia Magistra Vitae? . . . 425 Anhang Reinhart Koselleck Der Jakobinismus und die Französische Revolution (1950) . . . . . . . . . 439 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 458

Vorwort Der Band geht zurück auf eine von den Herausgebern in Zusammenarbeit mit Vito Gironda organisierte Tagung im Zentrum für Interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, die vom 6.–8. Dezember 2018 stattfand. Sie stand unter dem Thema »Bedingungen möglicher Geschichten. Die Vielfalt Reinhart Kosellecks«. Es war das Ziel der Tagung, das wissenschaftliche Werk Reinhart Kosellecks nicht auf die Begriffsgeschichte oder seine Bemühungen um eine Theorie der Geschichte zu reduzieren, sondern die Vielfältigkeit seiner Forschungsinteressen zu diskutieren. Koselleck sollte in systematischer Hinsicht als Universalhistoriker verstanden werden. Die Mehrzahl der Vorträge auf der Tagung ist für den Druck überarbeitet und in diesen Band aufgenommen worden. Einige Beiträge konnten erfreulicherweise noch nachträglich zur Abrundung des Bildes von Koselleck gewonnen werden. Wir hoffen, damit zu einer umfassenden Diskussion über das Werk anzuregen und zu einer kritischen Würdigung und fruchtbaren Auseinandersetzung mit einem der bedeutendensten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts beizutragen. Wir danken Janet Dilger vom Deutschen Literaturarchiv Marbach für ihre Unterstützung bei der Nutzung des Nachlasses von Koselleck; Christof Dipper für die Einsichtnahme in seinen Briefwechsel mit Reinhart Koselleck und für weiteres Material und Hinweise; Reinhard Blänkner für Kommentare und Kopien von Briefen; Dieter Langewiesche für seinen Hinweis auf das Interview mit Koselleck in Madrid; Christina Morina für die Kopie eines Interviews, das sie mit Alfred Kessler geführt hat; Manfred Schön für die Entzifferungsarbeit bei handschriftlichen Texten Kosellecks; Tim Hofmann für redaktionelle Überarbeitungen; Kay Schmücking für findige Hilfe bei der Erstellung der Druckfassung von Reinhart Kosellecks Jakobinismusreferat. Ganz besonders herzlich danken wir der Erbengemeinschaft Koselleck, namentlich Katharina Koselleck, für ihr Entgegenkommen und ihre Hilfen und die Möglichkeit, den Nachlass Arno Kosellecks zu sichten. Unser Dank gilt auch dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung in Bielefeld, das im Dezember 2018 die Tagung ermöglichte und unterstützte; Vito Gironda für seine Hilfe in Bielefeld; vor allem aber der Thyssen Stiftung, namentlich Dr. ­Thomas Suermann, die nicht nur diese Tagung finanziell ermöglichte, sondern auch die Drucklegung durch einen großzügigen Zuschuss unterstützte. Und schließlich sei dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, namentlich Daniel Sander, für die gewohnt konstruktive und unkomplizierte Zusammenarbeit gedankt. November 2020

Manfred Hettling (Halle), Wolfgang Schieder (Köln)

Manfred Hettling und Wolfgang Schieder

Theorie des historisch Möglichen. Zur Historik von Reinhart Koselleck

I. Erfahrung und Erkenntnis Wer Geschichte, wie Reinhart Koselleck, als »Erfahrungswissenschaft« begreift, verweist auf den Zusammenhang von individueller Erfahrung und theoretischer Erkenntnismöglichkeit.1 Wie persönliche Erfahrung und historische Erkenntnis zusammenhängen, war daher eine seiner wissenschaftlichen Leitfragen. Auch betonte Koselleck selber seinen »Erfahrungsraum«, der ihn persönlich geprägt habe.2 Die politischen und wirtschaftlichen Ereignisse der 1920er und 1930er Jahre hätten tief in »unsere Familie eingegriffen«, bekundete er bei der Aufnahme in die Darmstädter Akademie für Sprache 1980. Mehr noch, »dieser Erfahrungsraum hat mich geprägt«, fuhr er fort. Koselleck verzichtete dabei jedoch darauf, besondere oder individuelle Bedingungen seines Erfahrungsraums zu bestimmen, sondern beschrieb den Zusammenhang als generationsspezifischen, der für viele andere gleichermaßen bestanden habe. Sein Weg, diese Erfahrungen zu verarbeiten, führte ihn – so seine Selbstaussage – zur Geschichtswissenschaft. »Im Studium, nach der Rückkehr aus der russischen Gefangenschaft, suchte ich ihn geschichtlich auszumessen.« Denkbar wäre es also, seine Entscheidung, Historiker zu werden, als Verarbeitung eigener Erfahrungen zu beschreiben, doch würde dies einen besonderen Erkenntnisgewinn bringen? Wohl kaum. Entscheidender wäre vielmehr die Frage, wie sich das historische Denken Kosellecks auf seinen Erfahrungsraum beziehen lässt.3 1 Koselleck, Reinhart, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze (1988), in: ders., Zeitschichten, Frankfurt a. M. 2000, S. 27–77, hier S. 30; Koselleck hat sich relativ oft mit seiner Biographie befasst, die von ihm dabei gesetzten Schwerpunkte beeinflussen zweifellos den Blick auf seine Erfahrungswelt. 2 Koselleck, Reinhart, Vorstellung, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung. Jahrbuch 1981, Göttingen 1982, S. 89. – An biographischen Skizzen vgl. die Nachrufe von Willibald Steinmetz, Lucian Hölscher und Christian Meier, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte, Frankfurt 2011, S. 57–83, 84–93 u. 103–120; sowie vor allem die Studie von O ­ lsen, Niklas, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012; erste Überblicke über Koselleck ermöglichen Joas / Vogt, Begriffene Geschichte; Dutt, Carsten / Laube, Reinhard (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013. 3 Innovationen im Sinne von Koselleck, Erfahrungswandel, S. 28. Angebote hierzu gibt es etwa von Daniel, Ute, Erfahrene Geschichte. Invention über ein Thema von Reinhart Koselleck,

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Immerhin »ist der erfahrende als ein dahin, wo er forschen soll, gehender gedacht«, heißt es im Grimmschen Wörterbuch in einer Formulierung, auf die Koselleck gerne verwies.4 Den Weg, den Koselleck als Historiker ging, auf seine Erfahrungen zu beziehen, ohne sein Denken einfach davon abzuleiten, ist deshalb eine Herausforderung, die Differenzierung erfordert. Unbestreitbar dürfte sein, dass seine Lebenserfahrung tatsächlich auch eine, aber nicht die einzige Grundbedingung seines wissenschaftlichen Denkens bildete. Diese Vorgaben konsequent zu erschließen erforderte es, seinen biographischen Erfahrungsraum sowohl nach den Impulsen durch eine ungewöhnliche familiäre Konstellation als auch nach den Sozialisationsfolgen einer in vielerlei Hinsicht typischen Kindheit und Jugend in einer Professorenfamilie, wie auch nach generationsspezifischen und allgemeinpolitischen Erlebnissen und Wahrnehmungen im Nationalsozialismus, im Krieg und in der Gefangenschaft sowie während der frühen Nachkriegszeit zu befragen. Und ebenso nach spezifischen Erfahrungen und nach ihren individuellen Folgen. Nur dann lassen sich in Kosellecks persönlichem Erfahrungsraum möglicherweise Bedingungen für intellektuelle Impulse entdecken. Das aber erforderte eine umfassende biographische Zuwendung, wie sie hier nicht zu leisten ist. Deshalb konzentrieren wir uns auf drei zentrale Erfahrungsschichten im Leben Kosellecks. Diese lassen sich analytisch teilweise auch diachron unterscheiden, sie sind jedoch als akkumulierendes und in sich verflochtenes Bedingungsgefüge zu verstehen. Wir unterscheiden zum einen die Erfahrungsschicht seiner bildungsbürgerlichen Herkunft und familiären Sozialisation, zum zweiten die seiner ›Kriegserfahrungen‹ als Soldat der Wehrmacht und als Kriegsgefangener in der Sowjetunion, sowie drittens seine akademischen Erst- und Sekundärerfahrungen, die er seit dem Beginn des Universitätsstudiums in Heidelberg 1947 gemacht hat. Wir konzentrieren uns bei letzterem auf den »akademischen Erfahrungsraum«, der sich dem nach sechs Jahren aus Krieg und sowjetischer Gefangenschaft Heimgekehrten seit 1947 öffnete. Die zeitlich vorausgehenden Erfahrungsschichten werden dabei aufgegriffen, wenn Koselleck sie in seinen biographischen Selbstdeutungen erwähnt und als Bedingungen für seine akademische Laufbahn thematisiert hat. Die Bedeutung des familiären Umfelds und der Kriegserfahrung lässt sich anhand seines persönlichen Nachlasses unter Benutzung bisher nicht bekannter Quellen deutlicher erhellen, als es von ihm selbst in zahlreichen Interviews dargestellt wurde. Bestimmend bleibt aber die Vorgabe, die zahlreichen Egodokumente Kosellecks daraufhin zu prüfen, welches Gewicht sie für seine Selbstbeschreibung gehabt haben und welche Bedeutung er seinen Erfahrungen für sein Werk zugewiesen hat.

in: Dutt / Laube, Sprache und Geschichte, S. 14–28; Hoffmann, Stefan-Ludwig, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Joas / Vogt, Begriffene Geschichte, S. 171–204. 4 Koselleck, Erfahrungswandel, S. 28.

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Das schließt auch ein, auf von Koselleck nicht thematisierte Bereiche zu verweisen; denn »zeigen heißt verschweigen«5, wie er selbst in anderem Zusammenhang betont hat. Jede erzählte Biographie präsentiert ein gedeutetes, ein interpretiertes Leben. Dass es sich nicht um lebensgeschichtliche Interviews handelte, die mit Koselleck geführt worden sind, ist methodisch insofern problematisch, weil die Fragen strukturierende Vorgaben darstellen und die Interviews für die Veröffentlichung überarbeitet wurden. Dabei ist besonders zu berücksichtigen, dass die autobiographischen Erzählungen Kosellecks manchmal in sich widersprüchlich sind. In den zahlreichen Interviews, die er in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens gegeben hat, gibt es auffällige Wiederholungen und erkennbare Defizite. Koselleck versäumte es beispielsweise fast nie, auf seine bildungsbürgerliche Sozialisation zu verweisen. Welche Folgen diese aber beispielsweise für seine Erfahrungen der soldatischen Kameradschaft oder der Kriegsgewalt gehabt haben, erfahren wir nicht. Er soll deswegen nicht beckmesserisch kritisiert werden, vielmehr geht es uns darum, Lücken in seinen Erzählungen kenntlich zu machen. Ob es sich dabei um nicht gemachte, nicht erinnerte oder nicht erzählte Erlebnisse und Erfahrungen handelt, wird im Einzelfall kaum zu klären sein. Im zweiten Teil dieser Einleitung gehen wir auf Kosellecks historische Theoriebildung ein und wollen aufzeigen, dass sich in dieser trotz der disparaten Veröffentlichung in zahlreichen Aufsätzen über Jahrzehnte hinweg eine gewisse Konsistenz von Grundfragen und theoretischen Annahmen nachweisen lässt. In dem Maße, wie sich Koselleck dabei von Kategorien der Existenzphilosophie gelöst und eigene Begriffe und Problemstellungen entworfen hat, entwickelte er genuin historische Angebote für die von ihm diagnostizierte ›Theoriebedürftigkeit‹ der Geschichtswissenschaft. Ob man hierbei von einer ausdifferenzierten Historik sprechen kann, dürfte weiterer Diskussion vorbehalten sein, Koselleck befand sich nach eigenem Verständnis jedoch zweifellos auf dem Weg zu dieser. Seiner konsequenten Ablehnung aller geschichtsphilosophischen Konstruktionen entsprach gleichzeitig eine Skepsis gegenüber bloß chronologischen Ablaufserklärungen in der Geschichte. Für die historische Analyse der Spannung zwischen strukturellen Vorgaben und der Offenheit des Ereignishandelns fragte er nach Bedingungen für historisch jeweils mögliche Geschehnisse. Von ­Heidegger angeregt, unterscheidet er sich von dessen Denken durch die empirische Konkretisierung in historischer Wirklichkeit.6 Und er entzog sich allen Theorien, die kausale Erklärungen suchen. Die Grundlage seiner Historik ist stattdessen die Frage nach den Bedingungen für die »Ermöglichung tatsächlicher Geschichten«.7

5 Koselleck, Reinhart, Die Transformation der politischen Totenmale im 20. Jh., in: Transit 22 (2002), S. 59–86, hier S. 69. 6 Vgl. zu Heideggers Bedeutung für Koselleck den Beitrag von Steffen Kluck und Richard Pohle. 7 Koselleck, Reinhart, Historik und Hermeneutik, S. 101.

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II. Der Erfahrungsraum einer bildungsbürgerlichen Familie Über seine bildungsbürgerliche Herkunft hat Koselleck häufiger und ausführlicher gesprochen als über seine Erfahrungen in Krieg und Gefangenschaft. Er betonte gerne, dass er eine »akademisch geprägte Familiengeschichte« hatte. Sowohl sein Vater sei Akademiker gewesen »wie fast alle Vorfahren mütterlicherseits«.8 Seine väterliche Familie bezeichnete Koselleck als eine soziale Aufsteigerfamilie, deren Verbürgerlichung sich über drei Generationen vollzogen habe. Der Vater, Arno Koselleck, vollzog schließlich den Schritt vom gewerblichen Bürgertum ins Bildungsbürgertum. Er wurde 1891 als Sohn eines Kaufmanns und Mühlen­direktors geboren, studierte seit 1909 (nach einem ersten Semester in Freiburg) in Leipzig Geschichte, klassische Philologie, Germanistik sowie Theologie und war als Student Mitglied im protestantisch geprägten und antisemitisch getränkten Verein deutscher Studenten (VDS). Seit August 1914 nahm er – als Kriegsfreiwilliger – am Weltkrieg teil, in dem er 1915 Leutnant der Reserve und 1916 Adjutant eines Feldartillerieregiments wurde. Nach viereinhalbjähriger Kriegsteilnahme ging er wieder an die Universität zurück und wurde 1919 in Leipzig im Fach Geschichte promoviert.9 1920 wechselte er in den Schuldienst nach Görlitz und wurde 1928 Direktor am Heilig-Geist-Gymnasium in Breslau. Görlitz wurde deshalb am 23. April 1923 auch der Geburtsort von Reinhart Koselleck, in Breslau kam er in die Volksschule. Da ein enger Freund des Vaters seit den Studienjahren in Leipzig, Johannes Kühn, ebenfalls Historiker war, zudem als Patenonkel und späterer Doktorvater Reinhart Kosellecks kontinuierlich in engem Kontakt zur Familie stand, liegt die Vermutung nahe, dass im Sozialisationsraum auch historische Anregungen vermittelt wurden. Kühn verdankte er dabei nicht nur intellektuelle Impulse, sondern auch die Betreuung der schon damals aus dem Rahmen fallenden Dissertation und die Einstellung als Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Historischen Seminars der Universität in Heidelberg (die erfolgte, als Kühn aus dem Amt schied). Bei Arno Koselleck findet sich ein völkisch-nationales, aber kein genuin rassistisches Denken mit einem betont rechtsstaatlichen Akzent. Er war ein Anhänger der Reformpädagogik, wie sie in der Weimarer Republik vom preußischen Kultusminister Carl Heinrich Becker gefördert wurde. Direkte politische Äußerungen sind von ihm nicht überliefert, aus verschiedenen Publikationen lässt sich jedoch 8 Hettling, Manfred / Ulrich, Bernd, Formen der Bürgerlichkeit. Ein Gespräch mit Reinhart Koselleck, in: dies. (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 40–60, hier S. 47 (das Gespräch fand 2002 statt). 9 Hesse, Alexander, Die Professoren und Dozenten der preußischen Pädagogischen Akademien (1926–1933) und Hochschulen für Lehrerbildung (1933–1941), Weinheim 1995, S. 443 f.; Personalblatt Arno Koselleck (1928), Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung / Archiv. Arno Koselleck erhielt die Lehrbefähigung in Religion für die zweite, in Geschichte und Deutsch für die erste Stufe.

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seine politische Einstellung erhellen. Damit lässt sich zumindest einschätzen, wie das politische Klima in der Familie war, in der Reinhart Koselleck aufwuchs. Obwohl Mitglied im VDS, teilte er den dort häufig vorzufindenden radikalen Antisemitismus nicht.10 Seine betonte Hervorhebung von Volk und Nation als politischen Kategorien gründete auf einem historisch-kulturellen Verständnis, nicht auf Abstammungsprinzipien. So schätzte er Paul de Lagarde als Lehrer eines »völkischen Bewußtseins«, das er, nicht unbedingt zutreffend, explizit von rassistischen Einstellungen abgrenzte. Völkisches Bewusstsein bei Lagarde umfasse »an sich nicht den Rassenzusammenhang, sondern das geschichtlich gewordene Volk«.11 Was er Lagarde zuschrieb, entsprach wohl eher Arno Kosellecks persönlichem politischen Ideal eines bildungsbürgerlichen, historisch-kulturell argumentierenden Verständnisses von Volk und Nation. Seiner Wertschätzung Lagardes tat es indes keinen Abbruch, dass dieser nicht nur einem biologistisch argumentierenden Antisemitismus, sondern auch einer vehementen Staatskritik frönte, für die es bei Koselleck keine Spuren gibt, ganz im Gegenteil.12 Koselleck hat bei seinem Vater später einen »impliziten sillschweigenden Antisemitismus« vermutet, mit einer »gedämpften Reaktionsfähigkeit« gegenüber antisemitischen Praktiken. Das schloss aber nicht aus, jüdische Freunde zu haben.13 Reinhart Koselleck wuchs, so kann man schließen, in einem dezidiert deutsch-national gesinnten Elternhaus auf, in dem die nationale Orientierung vor allem historisch und kulturell erfolgte, während ›völkisches‹ Gedankengut im Sinne biologistischer Konstruktionen wohl kaum präsent war. Arno Kosellecks Dissertation über den Kölner Bürgerstand im Mittelalter, 1914 abgeschlossen, aber kriegsbedingt erst 1919 zum Beginn des Promotionsverfahrens eingereicht, argumentiert wortgeschichtlich, stellenweise begriffsge-

10 Als Beispiel ein Bericht, den er über das Treffen der Jugendbewegung auf dem Hohen Meißner schrieb, Koselleck, Arno, Freideutsche Jugend, in: Akademische Blätter 28 (1913/14), S. 248–251; zum VDS siehe Kampe, Norbert, Studenten und »Judenfrage« im deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschaft des Antisemitismus, Göttingen 1988, S. 125–151; zum Selbstverständnis und der Bedeutung der antijüdischen Einstellungen im VDS vgl. von Petersdorff, Hermann, Die Vereine Deutscher Studenten. Zwölf Jahre akademische Kämpfe, Leipzig 21895. 11 Ders., Die Entfaltung des Völkischen Bewußtseins bei Paul de Lagarde, in: Historische Vierteljahrsschrift 30 (1935), S. 316–360, hier S. 360; vgl. auch ders., Paul de Lagarde als Religionspädagoge, in: Deutsche Evangelische Erziehung. Zs. für den evangelischen Religionsunterricht 47 (1936), S. 458–466; sowie unveröffentlichte Manuskripte: Paul de Lagarde als politischer Prophet, 1943, 20 S. (ein Vortrag für das Wehrbezirkskommando); Paul de Lagardes pädagogische Anschauungen, 43 S. 12 Diese Form von Lagarde-Begeisterung durch die Hervorhebung von Teilen seiner Kulturkritik und eines Ausblendens anderer Bestandteile war nach der Jahrhundertwende wohl nicht typisch, aber in manchen Kreisen durchaus vorzufinden; vgl. Sieg, Ulrich, Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007, S. S. 305, 309. 13 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 50.

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schichtlich.14 In den 1920er Jahren wandte er sich dann Themen der Neuzeit zu, das Interesse am Mittelalter trat zurück.15 Sein beruflicher Aufstieg vom Gymnasium an die neuen Pädagogischen Akademien war mit mehreren Ortswechseln in rascher Folge verbunden (1928 Breslau, 1930 Kassel, 1932 Dortmund, 1936 Saarbrücken). Zum 5.4.1934 wurde der Vater als dezidierter Republikaner aus dem Hochschuldienst entlassen, bei zuerst ausgesetzten, dann fortlaufenden Dienstbezügen ohne neue Verwendung. In Dortmund unterrichtete er an einer Hochschule, die infolge der Strafversetzung Ernst Kriecks dorthin scharf in zwei ideologische Lager gespalten war. Auch wenn Krieck 1932 schon wieder nach Frankfurt zurückgekehrt war, blieb der politische Konflikt in Dortmund bestehen. Zum Wintersemester 1936/37 erfolgte schließlich seine kommissarische Wiederberufung als Professor für deutsche Geschichte und Methodik des Geschichtsunterrichts an die Hochschule für Lehrerbildung in Saarbrücken. Kosellecks Mutter, Elisabeth Marchand, entstammte einer streng calvinistischen Familie hugenottischer Herkunft. Diese bestand bis ins 18. Jahrhundert zurückgehend aus preußischen, teilweise geadelten »Professoren oder hohen Verwaltungsjuristen«.16 Ihr Vater war Professor für pathologische Anatomie an der Universität Leipzig, dort Nachfolger von Rudolf Virchow. Sie wurde zur Konzertviolinistin ausgebildet, absolvierte aber noch während des Kaiserreichs ein Universitätsstudium in Französisch, Geschichte und Geographie in Genf und Leipzig. Einen Beruf übte sie nach ihrer Heirat zwar nicht aus, jedoch führte sie ganz im bildungsbürgerlichen Stil ein geselliges Haus mit häuslicher Kammermusik, mit gemeinsamem Literatur- und Kunstgenuss. Koselleck wurde durch sie zum Cellospiel animiert, ein Instrument, das er auch später noch ziemlich gut beherrschte. Alle drei Brüder erhielten von der Mutter aber auch eine ausgesprochen strenge Erziehung, deren oberste Ziele Verzicht und Selbstlosigkeit gewesen zu sein scheinen. Etwas boshaft bezeichnete Koselleck seine Mutter später als »calvinistische Kontrolleuse«.17 Gefragt, wie man sich sein jugendliches bildungsbürgerliches Leben vorzustellen habe, antwortete er einmal »Hausmusik, Lesen und nochmal Lesen, Konzert- und Museumsbesuche«.18 14 Koselleck, Arno, Untersuchungen über die Entstehung des Kölner Bürgerstandes, Leipzig 1914 (Betreuer Gerhard Seeliger, Zweitgutachter Erich Brandenburg); vgl. auch ders., Rezension zu R. Koebner (Hg.), Die Anfänge des Gemeinwesens der Stadt Köln, Bonn 1922, in: Hist. Vierteljahrsschrift 21 (1922/23), S. 349–354. 15 Ders., Persönlichkeitsidee und Staatsanschauung in der deutschen Geniezeit, in: Hist. Vierteljahrsschrift 24 (1929), S. 33–58. 16 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 47. 17 Koselleck, Krisenerfahrungen. 18 Ders., Formen der Bürgerlichkeit, S. 46. Vgl. die Schilderung Benno von Wieses über Arno Koselleck als »Lehrer für die Begabten« (in Görlitz), der auch einem primär geistesgeschichtlich Interessierten wie von Wiese die Bedeutung rechtshistorischer Strukturen vermitteln konnte; von Wiese, Benno, Mein Leben, Frankfurt a. M. 1982, S. 29, 33. – Erhalten sind zahlreiche Briefe zwischen Reinhart und Vater und Mutter, sowie (wenige) zwischen Reinhart und dem zwei Jahre älteren Wolfram, sowie mit einem Onkel mütterlicherseits aus den Jahren 1942 bis 1944; Familienarchiv Koselleck. Der Inhalt dreht sich in der Regel um

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Reinhart Koselleck führte es auf die häufigen Umzüge in »verschiedene Gegenden Deutschlands« zurück, dass er außer seinem Elternhaus »keine Heimat im weiteren Sinne gehabt« habe.19 Den mehrmaligen Wechsel der Schule – er war auf humanistischen Gymnasien – scheint er ohne erinnerungswürdige Probleme überstanden zu haben. Er war seit 1934 seinem Alter entsprechend im Deutschen Jungvolk, später in der HJ, und zwar in einer »Reitergefolgschaft«, in welcher er seine Dienstverpflichtung »erfreulicherweise mit einem Sport« verbinden konnte, so seine Erzählung 1953 – stimmig und zugleich passend zu entpolitisierten Erinnerungskonstruktionen der 1950er Jahre.20 Im Februar 1941 machte er in Saarbrücken am Ludwigsgymnasium eine Art Notabitur, bei dem das Weihnachtszeugnis von 1940 als Abiturzeugnis anerkannt wurde.21 Über seine Wahrnehmung des ›Dritten Reiches‹ während Schulzeit und Krieg hat Koselleck relativ wenig erzählt, allerdings fehlten auch fragende Interessenten. Nur in Gesprächen mit Eric A. Johnson (1998) und Carsten Dutt (2003/4) gibt es dazu längere Passagen.22 Neben differenzierenden Aussagen über eine familiäre Distanz zum Nationalsozialismus finden sich hier auch Verweise auf seine eigene Wahrnehmung der nationalsozialistischen Politik. Er legte ferner in seinen autobiographischen Erzählungen Wert darauf, für seine Familie, insbesondere für seinen Vater Arno Koselleck, eine innere Distanz zum NS-Regime zu

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Alltägliches und um die Verletzung, verstreut finden sich Hinweise auf die Lektüren. Als er nach der Fußverletzung im Lazarett lag, fragte ihn der Vater (11.7.1942), was er lesen wolle: »Willst Du eine Kunstgeschichte bandweise lesen oder einen Dichter oder Philosophen«. Später hieß es (30.8.1942), ob er einen Clausewitz besorgen könne, wisse er nicht (das Haus der Familie war am 31.7.1942 nach einem Bombenangriff ausgebrannt). Später schickte er den gewünschten »Windelbandt« (sic), Kants »Metaphysik der Sitten« und Goethes »Wahlverwandtschaften«, die könne er »daneben als Erholung zu Dir nehmen. Wenn Du zu Kant kommst, wird es Dich manchen Schweißtropfen kosten« (6.12.1942). Später schrieb Reinhart an den Vater, er lese »jetzt den Napoleon, wenn auch ein historischer Atlas fehlt. Das Thema reizt heute wirklich besonders«, er fragt, »hatten wir Vasari? Den Faust von Marlowe?« (5.3.1943); Goethes Faust hatte er bereits erhalten. Seine späten Erinnerungen betonen die politische Dimension der Lektüren, seinem Vater habe er die Zusendung eines Fichtetextes als Lektüre in den russischen Winter 1941/42 »fast schon übel« genommen (Koselleck, Reinhart, Von der Judenvernichtung erfuhr ich erstmals als Frontsoldat in Russland, in: FAZ 4.12.2013, N 4). Koselleck, Reinhart, Mein Lebenslauf (15.10.1953), Promotionsakte Koselleck, UA Heidelberg, H-IV-757/56; diese Aussage von 1953, dass er sich mit seiner schlesischen Geburtsregion nicht besonders verbunden gefühlt habe, findet ihre Bestätigung auch darin, dass er die als ›Wiedervereinigung‹ verstandene territoriale Rückgewinnungspolitik der westdeutschen Vertriebenenverbände später strikt ablehnte, die Ostpolitik der Bundesregierung Willy Brandts dagegen rückhaltlos unterstützte; ders., Formen der Bürgerlichkeit, S. 59 f. Koselleck, Lebenslauf. Ders., Formen der Bürgerlichkeit, S. 51. Ders., Erfahrene Geschichte (Gespräch mit Carsten Dutt, 2003/04), in: Koselleck, Reinhart / Dutt, Carsten, Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 11–43; Koselleck, Reinhart, Recollections of the Third Reich. Interview mit Eric A Johnson, in: NIAS 1998/99 (das Interview wurde vor den Fellows öffentlich geführt, Koselleck war Ende 1998 Gast am Netherlands Institute for Advanced Study in Wassenaar).

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reklamieren, wie das auch durch dessen Entlassung als Professor 1934 nahegelegt wird. Als Lehrer scheint Arno Koselleck sich direkten politischen Verortungen bewusst entzogen zu haben. Ihm ist es wohl gelungen, unter der nationalsozialistisch gesinnten Studentenschaft Anerkennung zu finden, obwohl er gleichzeitig in der NS-Presse öffentlich als Unterstützer kommunistischer Studenten attackiert wurde. Auch lehnte er 1933 den ihm angeratenen Parteieintritt ab, gleichwohl wurde er in Saarbrücken 1937 zum Vertrauensdozenten der Studenten gewählt, obwohl er kein Parteimitglied war.23 Die Judenverfolgung wurde über jüdische Freunde »aus der Nähe« erfahren, wobei nach der Aussage von Reinhart Koselleck in der Familie wenig darüber geredet wurde. Aus welchen Gründen das geschah, aus politischer Vorsicht, aus Feigheit oder aus stummem Antisemitismus, das könne er ex post nicht entscheiden.24 Dass der Vater 1941 bei seiner Berufung nach Hannover in die NSDAP eintrat, was er 1933 noch abgelehnt hatte, erwähnte Koselleck in seinen Interviews jedoch nie.25 Ansatzweise oder vielleicht besser fragmentarisch – »Reihe von Erfahrungen«26 – entstand ein Verständnis für die im Nationalsozialismus zu gewärtigenden ideologischen Zumutungen und Vereinnahmungsversuche. Das wurde auch begünstigt, wie Koselleck wiederholt zugestand, durch die Abgrenzung gegen den deutlich älteren Bruder, der sich früh dem Nationalsozialismus angeschlossen hatte. Der Vater pflegte mit den beiden älteren Söhnen ein durchaus intensives Gespräch über historische Themen. Er schickte Manuskripte, Aufsätze und Vortragstexte an sie und bat um ihre Meinung. So übersandte er Reinhart 1943 das Manuskript eines Vortrages über Friedrich den Großen, den er vor Soldaten halten wollte. Er verband das mit einer Hymne auf die politische und menschliche Größe Friedrichs, der sich im Siebenjährigen Krieg mehr vom Willen als vom rechnenden Verstand habe leiten lassen.27 Reinhart Koselleck wuchs somit offensichtlich damit auf, dass er vom Vater in fachliche Gespräche miteinbezogen wurde. In einem 23 Vgl. Bartholomé, Lehrerausbildung in Dortmund, S. 18 f., 20–23; Wilmin, Henri, Souvenirs messins d’un instituteur lorrain Novembre 1940-Février 1941, in: Mémoires de l’Académie Nationale de Metz 165 (1984), Ser. 6, Bd. 2, S. 124–137, hier S. 129. Wilmin hatte Arno Koselleck als Dozenten in einem Umschulungslager für lothringische Lehrer in Metz erlebt. 24 Koselleck, Judenvernichtung. 25 Bartholomé, Lehrerausbildung; die Aufnahme beantragte er am 15.1.1941, sie erfolgte am 1.4.1941, er erhielt die Mitgliedsnummer 8389931. Am 1.5.1933 war der Eintritt in den NSLB erfolgt, mit der Mitgliedsnr. 233881; BArch, Slg. BDC, R 9361-IX KARTEI 22481359. 26 Koselleck, Erfahrene Geschichte, S. 19. 27 NL Arno Koselleck, Mappe Vorträge, Familienarchiv Koselleck (Brief an Reinhart Koselleck einliegend, undatiert, 1943 oder 1944); der Vater schrieb zu seinem Friedrichvortrag, den der Sohn ebenfalls für einen Vortrag vor Soldaten nutzen wollte: Die »Nachlebenden werden die Größe in der Haltung des Königs nie ganz nachfühlen können«, da sie den glücklichen Ausgang des Krieges ja kennen würden, er ihn bei seinen Entscheidungen aber nicht. Er zitiert eine Äußerung Friedrichs, dass er »keinen Schimmer von Hoffnung mehr, mich zu retten« habe, aber dennoch weiterkämpfen werde, um zu siegen oder einen ehrenvollen Tod zu finden. Der Vater kommentiert das mit den Worten, »daß in solcher Lage der Wille stärker ist als der rechnende Verstand, darauf kommt es an«.

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späteren Brief an Rudolf Vierhaus führte er sein Interesse, historische Fragen »immer im Medium anderer systematischer Fragestellungen zu formulieren«, der Anthropologie, der Rechtsgeschichte, der Kunstgeschichte, der Sprachgeschichte »oder eben auch der Sozialgeschichte«, auch auf Einflüsse seines Vaters zurück.28 Politisch wurde er dabei groß in einem geistigen Milieu, das deutsch-national geprägt war, mit Distanz zum Nationalsozialismus als Partei und Ideologie, wohl auch ohne explizite antisemitische Tönungen. Viele Jahre später attestierte sich Koselleck einmal, er sei politisch in seiner Jugend »deutschnational bis in die Knochen« gewesen, er sei in den Krieg gezogen als »überzeugter großdeutscher Freiheitskämpfer«.29 Dass er dabei wohl durch den familiären Einfluss frei blieb von einer Übernahme der im ›Dritten Reich‹ propagierten rassen-antisemitischen Einstellungen30 stellt vielleicht eine Bedingung dafür dar, später – im Vergleich zu vielen anderen – relativ offen über seine jugendliche Gesinnung Auskunft gegeben zu haben.

III. Krieg und Gefangenschaft Der Krieg nimmt in den schriftlich zugänglichen Erinnerungen Kosellecks einen relativ kleinen Raum ein, obwohl er als 80-Jähriger auf die Frage, was ihn wissenschaftlich am nachhaltigsten geprägt habe, lakonisch antwortete: »Krieg und russische Gefangenschaft – Erfahrungswissenschaft«.31 Auffällig ist, dass Koselleck in seinen autobiographischen Aussagen so gut wie nie darauf verzichtete, über seine Gefangenschaft in der Sowjetunion zu berichten, dass er aber über seine vorausgehenden Kriegserlebnisse nur selten Auskunft gab. Das mag mit den Fragen zusammenhängen, die ihm jeweils gestellt wurden, es zeigt jedoch auch, dass seine Kriegsgefangenschaft für ihn wahrscheinlich eine stärkere Erfahrungstiefe hatte – oder eine leichtere Erzählbarkeit besaß, als der Krieg selbst. Vielleicht spielte in seiner Erinnerung auch eine Rolle, dass in der Vergegenwärtigung des Krieges sich Täter- und Opferdimensionen verschränkten, er sich in der Erinnerung an die Gefangenschaft aber als Opfer fühlen konnte. Über den Erwartungshorizont, mit dem der 18-Jährige nach einer dreimonatigen Ausbildung im August 1941 ›in den Krieg zog‹, ist wenig bekannt, auch der Erfahrungsraum, der sich aus dem Krieg für ihn ergab, ist nur bruchstückhaft zu erhellen. Die äußeren, ereignishaften Bestandteile, lassen sich aber knapp skizzieren. Im Frühjahr 1941 hat sich Koselleck nach dem Abitur nach eigenen Angaben mit fast 28 Reinhart Koselleck an Rudolf Vierhaus, 22.8.1989, DLA Marbach, NL Koselleck. 29 Das erste Zitat in einem Gespräch mit Christof Dipper, dem wir für diesen Hinweis danken; das zweite Zitat aus einer Erinnerungsnotiz Kosellecks an seine Ausbildung in der Wehrmacht 1941 (Mappe Krieg, Familienarchiv Koselleck). 30 »Mein Vater hatte […] jüdische Freunde und Kollegen, die auch ich gut kannte«; Koselleck, Erfahrene Geschichte, S. 20. 31 Fragebogen Forschung & Lehre 2003, S. 464.

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der ganzen Klasse »als Kriegsfreiwilliger zum Reichsarbeitsdienst« gemeldet.32 Dies sei geschehen, weil er nur so die freie Wahl für einen Waffenteil der Wehrmacht gehabt habe und damit die Einberufung in die als besonders verlustreich geltende Infanterie habe vermeiden können.33 Im Mai 1941 wurde er so wunschgemäß zur Artillerie einberufen. Seit dem Winter 1941/42 war er an der Ostfront in der Sowjetunion im Einsatz. Wegen eines schweren Unfalls kam er Anfang Juli 1942 ins Lazarett, nach einer langwierigen Behandlung schließlich, unterstützt durch beharrliches eigenes Bemühen, zur Luftwaffe. Er wurde zwischen 1943 und 1945 in Frankreich bei der Luftabwehr eingesetzt, im »Jägerleiteinsatz« in einer Funkmessstellung. Erst als er im März 1945 schließlich nach Böhmen zur Infanterie versetzt wurde, dürfte er wieder in Gefechtssituationen gekommen sein.34 In der Nähe von Mährisch-Ostrau kam er kurz danach in sowjetische Gefangenschaft, aus der er nach anderthalb Jahren im Herbst 1946 entlassen wurde und zu seinen Eltern in die Nähe von Hannover zurückkehrte. Bei den Erinnerungen Kosellecks handelt es sich im Grunde um die Schilderung von Einzelereignissen ohne übergreifenden Zusammenhang, jedoch lassen sich verschiedene erzählerische Muster der Darstellung erkennen. Diese kann man chronologisch unterteilen (Kriegseintritt, Krieg, Gefangenschaft) und in ihren Deutungsstrukturen unterscheiden. Alle Schilderungen bleiben aber fragmen­ tarisch. Auffällig ist dabei, dass Koselleck über persönliche Wahrnehmungen, Erwartungen und Einstellungen praktisch keine Aussagen macht. Diese subjektive Perspektive lässt sich aber zu einem gewissen Teil ergänzen durch Briefe aus den Jahren 1942 bis 1944 zwischen Reinhart Koselleck und seinen Eltern sowie mit einem Onkel mütterlicherseits und dem älteren Bruder.35 Obwohl jeder Feldpostbrief im Wissen um die Zensur verfasst wurde, ermöglichen sie immerhin einen begrenzten Blick auf seinen damaligen Erwartungshorizont. Die freiwillige Meldung zur Wehrmacht wird von Koselleck als rationales Kalkül geschildert. Er begründet die Freiwilligkeit der Meldung damit, dass man sich »entweder zu Heldengattungen oder zu sogenannten Drückebergergattungen« melden konnte.36 Sein Vater habe dafür gesorgt, »daß ich zur Artillerie kam, wo immerhin eine etwas höhere Überlebenschance bestand«. Und, ergänzte er, sich 32 Koselleck, Lebenslauf; gemeint ist wohl die Meldung zur Wehrmacht, da der Eintritt in den RAD Pflicht war, diese Phase von Koselleck und seinem gymnasialen Jahrgang aber gewissermaßen übersprungen wurde. 33 Ders., Formen der Bürgerlichkeit, S. 51; ders., Erfahrene Geschichte, S. 18 f. 34 Ebd., S. 22; Reinhart Koselleck an Albrecht Schöne, 15.8.2005; Koselleck, Recollections of the Third Reich; Koselleck, Lebenslauf. Anfang Juli 1942 fuhr ihm ein Geschütz über beide Füße. Da er zuerst mit Massagen behandelt wurde, entstanden in Folge des nicht behandelten Bruchs des Kahnbeins an seinem linken Fuß Teilversteifungen der Fußwurzel und Beeinträchtigungen des Gelenks und anderer Teile. Operativ ließ sich das nachträglich nicht mehr beheben; Bericht aus der Orthopädischen Heilanstalt in Dresden an Arno Koselleck, 5.11.1942; NL Arno Koselleck. 35 Familienarchiv Koselleck. 36 Koselleck, Erfahrene Geschichte, S. 18.

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freiwillig zu melden, habe nicht bedeutet, »daß jemand Nazi war, sondern zunächst, daß man sich für sein Vaterland einsetzen wollte«.37 Wozu er sich selbst rechnete, zu den Helden oder Drückebergern, zu Nazis oder Vaterlandsverteidigern, sagt er nicht explizit. Zwischen den Kriegsbriefen und den späteren Erzählungen über Episoden aus dieser Zeit wird eine Spannung erkennbar, für die vermutlich mehrere Gründe verantwortlich sind: die Selbstkontrolle des Briefschreibers, die sich ändernde Deutung im diachronen Ablauf etc.38 Die Briefe setzten im Sommer 1942 ein, nach der Zerstörung des elterlichen Hauses in Saarbrücken bei einem Luftangriff, bei dem fast alle älteren Unterlagen verbrannt sind, sowie nach der Fußverletzung, sie erstrecken sich bis zum Herbst 1944. Der Inhalt kreist um Alltägliches, um Besuche, um Lektüren, die langwierige Krankengeschichte, aber wiederholt treten in der Briefkommunikation über die Frage, ob Reinhart Koselleck überhaupt noch »kriegsverwendungsfähig« sei, seine eigenen Erwartungen deutlich hervor. Mehrmals schreibt er, dass er sich in der Wehrmacht militärisch bewähren wolle. Während der ganzen Zeit im Lazarett und in der Rehabilitation hoffte er, »doch wieder in richtigen Einsatz kommen« zu können.39 Lange drehen sich die Briefe an die Eltern darum, ob er wegen seiner Verletzung schließlich als »g.v.H.« oder noch als »g.v.F.« eingestuft werde (heimat- bzw. feldgarnisonsverwendungsfähig). Wegen seines beeinträchtigten Fußes wollte er zur Luftwaffe wechseln. Der erste Versuch scheiterte jedoch nicht daran, sondern auf Grund seiner Sehschwäche. »Es ist eine Ironie des Schicksals, daß ich wegen meines Fußes wohl fliegertauglich geworden wäre, aber ich konnte es nicht werden, weil mein linkes Auge zu schwach ist!« (19.5.1943).40 Zwei Monate später gelang ihm der Wechsel dann doch, die Gründe dafür lassen sich nicht feststellen. Wie erfreut er darüber war, lässt sich den Briefen an seinen Vater entnehmen. Am 24.7.1943 schrieb er, dass er die »blauen Spiegel« erhalten habe, »denen ich früher nur mit Mitleid oder bei Freiwilligen mit Verachtung nachsah«. Nun aber stehe ihm wieder »voller Einsatz« bevor. Der Vater antwortete, »Du wirst froh sein, wieder militärische Möglichkeiten vor Dir zu sehen« (28.7.1943). Als er im Sommer 1944, nach einer dreitägigen Untersuchung in München, schließlich die lang erhoffte Fliegertauglichkeitserklärung erhielt, beginnt der Brief an die Eltern (12.7.1944) mit einem auch optisch herausgehobenenen »Wehrfliegertauglich!«. Seine Mutter gratulierte ihm daraufhin (18.7.1944): »Möchtest Du nun recht viel Freude zunächst in der Ausbildung haben und das Bewusstsein, Dich ganz einsetzen zu können, wie es Dein Wunsch ist.« Daraus wurde jedoch nichts, im Oktober 1944 schrieb er den Eltern, sein 37 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 51. 38 Um es mit Koselleck zu formulieren, »der Krieg zeitigt also Folgen, die die Bewußtseinsleistungen der Erinnerung filtern«, Koselleck, Reinhart, Erfahrungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: ders., Zeitschichten, S. 265–284, hier S. 272. 39 Brief an die Eltern vom 22.3.1943. 40 Familienarchiv Koselleck.

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»Fliegergesuch« sei aus organisatorischen Gründen abgelehnt worden. »Bei dem Spritmangel kein Wunder«41, fügte er hinzu. Die Einsatzbereitschaft hat den Sohn und die Eltern verbunden, die Hoffnung auf einen militärischen Erfolg Deutschlands zieht sich durch die Briefe hindurch. So setzten im Herbst 1944 Vater und Sohn ihre Hoffnungen auf neuartige Waffen. Am 14.8.1944 schrieb Reinhart dem Vater, ein »neuer Landsmann« habe ihm erzählt, »dass der Schlüssel für die weiteren V-Waffen bei der ›Atom-Zertrümmerung‹ liege«. Dieser wiederum meinte am 9.9.1944, dass es jetzt gelte das Heer über den Rhein zurückzuziehen und auf diese Weise zu retten. »Noch hoffe ich, dass unsere neuen Waffen rechtzeitig kommen. Man muss nur – bei sich selber – dagegen angehen, um so größere und plötzliche Wunder von ihnen zu erwarten, je schlimmer die Lage für uns wird.« Der Eindruck des entschiedenen militärischen Einsatzwillens bestätigt sich auch an einem anderen Beispiel. 1944 hatte Koselleck brieflichen Kontakt zu ­Peter Schindler, seinem früheren Latein- und Griechischlehrer am Gymnasium in Saarbrücken, aufgenommen. Dieser sei ein frommer Katholik gewesen, der seine Ablehnung des Nationalsozialismus relativ offen seinen Schülern gegenüber zum Ausdruck gebracht habe. Koselleck urteilte – später – über ihn, er habe zu den wenigen Personen gehört, »die mich im Dritten Reich gegen die braune Farbe imprägniert hätten«.42 Erhalten ist nur der Brief Schindlers, in dem er seinen christlichen Standort betont, den Koselleck ja kenne. Er versucht sodann Zweifel zu zerstreuen, die Koselleck ihm brieflich mitgeteilt habe. »Sie sind der Meinung, Sie hätten sich nicht bewährt«, schrieb Schindler an Koselleck. Das aber stimme nicht. Er werde das Zeichen seines Einsatzes – die Fußverletzung – sein ganzes Leben lang tragen. Sein Ausharren auf einem Posten, »der Ihnen nicht liegt, und die Bejahung der Tätigkeit, die er mit sich bringt«, mache Kosellecks Verdienst sogar noch größer. Das »persönliche Bewusstsein der Pflichterfüllung« bringe auch die »innere Erhebung«.43 Im Unterschied hierzu sind die retrospektiv erzählten Episoden aus dem Krieg als Erzählungen gestaltet, welche Erfahrungen zum Thema haben, »die konträr zum NS-System standen«.44 Ein Beispiel hierfür ist die Darstellung von Adolf 41 Die Eltern hatten schon früher versucht, den anscheinend über eine drohende Beendigung des militärischen Einsatzes enttäuschten Sohn zu trösten. Die Mutter schrieb ihm (11.7.1942), »dass Du nun den fabelhaften Vormarsch über den Don nicht miterlebst, ist wirklich Pech für Dich, aber wer weiß es denn, wozu es gut ist und was das Schicksal Dir noch vorenthalten hat«; der Vater zwei Tage später, »ich kann verstehen, dass es Dich wurmt, an diesem Vormarsch nicht beteiligt zu sein. Denn einmal einen richtigen Vormarsch mitgemacht zu haben, ist eine gute Erinnerung, die auch in trüberen Zeiten vorhält« (13.7.1942); Familienarchiv Koselleck. 42 Reinhart Koselleck an Albrecht Schöne, 15. August 2005, Familienarchiv Koselleck. Seine Beurteilung der politischen Haltung Schindlers deckt sich mit der Alfred Kesslers; Christina Morina, Gespräch mit Alfred Kessler, 28.5.2014, Amsterdam. 43 Peter Schindler an Reinhart Koselleck, 8.4.1944; Familienarchiv Koselleck. Koselleck traf Schindler auch nach 1945 wiederholt und wechselte Briefe mit ihm. 44 Ders., Erfahrene Geschichte, S. 19.

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Friedrich, seinem Ausbilder in der Wehrmacht von Mai bis August 1941, der ein »überzeugter AntiNS« gewesen sei. Er habe ihm bei Beginn des Ostfeldzugs gesagt, jetzt sei der Krieg verloren – was er selbst damals dachte, darüber erzählt Koselleck nichts. Später erhielt er von ihm Jeremias Gotthelfs »Schwarze Spinne« an die Ostfront geschickt, eine Gabe von »kommentarunbedürftiger Evidenz«, wie Reinhart Koselleck viele Jahre später bemerkte.45 Die Bedeutung dieses Ausbilders für Koselleck spiegelt sich auch darin, dass er während seines Studiums in Heidelberg noch mehrfach brieflichen und direkten Kontakt zu ihm hatte.46 Ein weiteres Beispiel stellt eine Episode dar, die sich im Februar 1943, nach dem Fall Stalingrads, ereignete. Er sei aus dem Krankenhaus entlassen worden und habe seine Tante in Weimar besucht, die ihn zu einer Versammlung der Dantegesellschaft mitgenommen habe. Etwa 20 Frauen hätten dabei beim Tee über die Katastrophe des Lagers von Buchenwald gesprochen, über die Grausamkeit der SS gegenüber den Häftlingen, über die bevorstehende Niederlage. Für ihn sei es eine ›Offenbarung‹ (»revelation«) gewesen, dass die Menschen zuhause ganz anders sprachen als an der Front.47 Etwas anders gelagert ist eine unveröffentlichte Schilderung eines Besuchs durch den Patenonkel, doch auch hier steht eine Kontrasterfahrung im Mittelpunkt. Als er nach seiner Fußverletzung 1942 in Deutschland im Lazarett lag, besuchte ihn Kühn, so Koselleck in einer Erinnerungsnotiz, 2004 verfasst. Dieser habe ihm drei Bücher mitgebracht, erstens Romain Rollands »Jean-Christophe«, den vor 1914 geschriebenen Roman einer deutsch-französischen Verständigung. »Er langweilte mich unendlich«, notierte Koselleck rückblickend. Das zweite Buch (das dritte wird nicht erwähnt) war Sinclair Lewis »Elmer Gantry«, »den ich sofort verschlang«. Der Roman ist eine Kritik eines religiösen Eiferers und Karrieristen, letztlich der religiösen Bewegung in den USA. Das in dem Roman Geschilderte sei deshalb auch auf die NS-Bewegung anzuwenden, so Koselleck. Er fragte sich daher, ob dieser Roman »eine geheime Botschaft Kühns war: das ist Hitler? Das ist Roosevelt? Oder so ist US-Amerika? […] Jedenfalls hat Kühn meine Karikaturen – zwei Monate später, als ich zu laufen wieder anfing – angeschaut und Seite für Seite beiseite gedreht – ohne Kommentar: die stärkste Lektion, die er mir erteilen konnte.«48

45 Koselleck, Judenvernichtung; Mappe Krieg, Familienarchiv Koselleck. 46 Adolf Friedrich war nach dem Krieg Professor für Ethnologie an der Universität Mainz. 47 Koselleck, Recollections of the Third Reich (das Interview wurde auf Englisch geführt). Über Konzentrationslager durfte in Deutschland im ›Dritten Reich‹ geredet werden, schon zur Abschreckung; dass aber so kurz nach der Niederlage von Stalingrad in einer so großen Runde offen über die zu erwartende Niederlage geredet worden sein soll, wäre sehr ungewöhnlich gewesen. 48 Mappe Krieg. Koselleck war zu dem Zeitpunkt 19 Jahre alt, das sollte man nicht vergessen. Die Zeichnungen enthalten  – vereinfacht formuliert  – eher ›humoristische‹ Skizzen von Alltagsszenen und Personenkarikierungen. Weder die Gewalt des Krieges noch die des Nationalsozialismus sind in ihnen Thema.

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In einem Gespräch mit Carsten Dutt, das relativ intensiv auf die Kriegszeit eingeht, sticht auf wenigen Seiten die sechsmalige Verwendung des »ich kann mich nicht erinnern« hervor.49 Ob die späteren Fragen zu den damaligen Wahrnehmungen in so großer Distanz standen, dass sie aneinander vorbeiliefen, ob Erlebtes verdrängt wurde, ob Erinnerungen bewusst oder unbewusst gefiltert wurden, all das konnte oder wollte er »ex post nicht mehr entscheiden«. Das gilt auch für sein Wissen über die nationalsozialistische Judenvernichtung. Anders als viele andere Kriegsteilnehmer hat Koselleck durchaus darüber gesprochen, wann er darüber etwas erfahren hat. Nach seinem Bericht habe er beim »Vormarsch« in Kiew davon gehört, dass in der Nähe 10.000 Juden in Steinbrüchen ermordet worden seien. Erst nach dem Krieg will er diese Mordaktion jedoch als das Massaker der Einsatzgruppen in Babij Jar identifiziert haben. Als er nach seiner Auskunft im Kriegsgefangenenlager in Auschwitz über den millionenfachen Massenmord an den Juden Gewissheit erlangte, will er Babij Jar »absolut verdrängt« gehabt haben, da er seitdem »rein gar nichts mehr von der Ermordung der Juden gehört« habe.50 Das Wissen über den Holocaust hätte demnach für Koselleck kaum Verbindungen zu seinem primären Erfahrungsraum als Zeitgenosse gehabt, es wurde ihm nach eigenem Bekunden erst im Nachhinein bewusst. So bleibt der Befund, dass die eigentliche ›Kriegserfahrung‹ – die Erfahrung physischer Gewalt, auch gegenüber der Zivilbevölkerung –, wenn man das verkürzend so formulieren will, trotz der Bedeutung, die Koselleck selber ihr zugeschrieben hat, von ihm nicht ausführ­ licher thematisiert worden ist. Die von ihm angeführten Beispiele für Erfahrungen eines Kontrastes zum NS-System schildern keine Ereignisse von der Front. Die Kriegsgefangenschaft schließlich, mit der symbolisch aufgeladenen Station in Auschwitz beginnend und anschließend im kasachischen Karaganda sich fortsetzend, wird von Koselleck durchweg als politischer Lernprozess erzählt. Er beschreibt in seinen Interviews die allmähliche Erkenntnis seiner ideologischen Vereinnahmung und die daraus sich ergebende zumindest innere Distanzierung von den politisch geforderten Anpassungen. Diese Dimension findet sich in seinen Berichten über die NS-Zeit nicht, letztlich schildert er stets nur Episoden, in denen andere in Distanz zum Nationalsozialismus oder zum Krieg stehen, während er selbst gewissermaßen in einer Beobachterposition bleibt.51 Man kann das mit aller Vorsicht so zusammenfassen: National und konservativ gesinnt, trat Koselleck in den Krieg ein und lange Zeit war es sein Ziel, sich im militärischen Einsatz bewähren zu wollen. Insofern legen es seine Erzählungen nahe, dass sich Koselleck im Krieg wohl eher den zukünftigen Helden hatte anschließen wollen als zu den Drückebergern gezählt zu werden. Ob er ein durchaus 49 Ders., Erfahrene Geschichte, S. 20–24; in fast wortgleichen Formulierungen; davon einmal ein »nicht mehr entscheiden«, ebd. S. 21. 50 Ders., Erfahrene Geschichte, S. 21 f. In früheren Häftlingsblocks im Stammlager in Auschwitz und im Frauenlager in Birkenau errichtete der NKWD im April 1945 Lager für deutsche Kriegsgefangene; Steinbacher, Sybille, Auschwitz, München 2004, 103 f. 51 Vgl. auch Koselleck, Reinhart, Über Krisenerfahrungen und Kritik, FAZ 13.1.2010.

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›überzeugter Nazi‹ war oder sich primär ›für sein Vaterland‹ einsetzen wollte, ist aus den Quellen nicht eindeutig zu erschließen. Einerseits bildete die Erklärung, ›nur‹ militärischen Dienst verrichtet zu haben und in Distanz zur NS-Ideologie gewesen zu sein, nach 1945 ein typisches Rechtfertigungsmuster. Andrerseits fehlen in den Briefen auch nur Andeutungen von NS-Floskeln völlig. Man kann das auch so deuten, dass die Opferrolle, die er als Kriegsgefangener eingenommen hatte, ihn stärker zum Erzählen motivierte, als seine Erfahrungen als Soldat, die stets zu Fragen nach der Verantwortung für konkretes Handeln führen mussten. Die wenigen Erinnerungen Kosellecks an eigenes Handeln stammen vielleicht auch deshalb aus der Endzeit des Krieges, weil es in ihr nicht mehr auf eine militärische Bewährung ankam, sondern es schlicht ums Überleben ging. Das kann man an einer Reflexion verdeutlichen, die er über seine Erfahrungen in der Endzeit des Krieges vornahm. Jede seiner Handlungen habe unter der Vorgabe gestanden, »wie überlebe ich?« Deshalb sei es seine Maxime gewesen, wie rette ich mein Geschütz, »um nicht nach dessen Verlust der kämpfenden vorderen Linie einverleibt zu werden?« Er habe nach dem Grundsatz gehandelt, »nur das zu tun, was Dir erlaubt, möglichst wenig mit den Russen in Nahkampf zu kommen«.52 Ein derartiges Mindestmaß an Handlungsinitiative, an Gestaltung des eigenen Schicksals durch eigene Entscheidungen, war im Kriegsgefangenenlager nicht mehr gegeben. Es dürfte zur Überlagerung der Erfahrungen des Krieges durch die der Gefangenschaft wesentlich mit beigetragen haben. Das begründete für ihn einen zentralen Unterschied zwischen den Erfahrungen als Soldat und als Gefangener im sowjetischen Lager. Koselleck verdankte sein Überleben nach seinem Bekunden seiner bildungsbürgerlichen Herkunft, die ihn – zu seinem Glück – in sowjetischer Gefangenschaft zufällig eingeholt habe. Ein ehemaliger Klassenkamerad, Alfred Kessler, der im Lager als Krankenpfleger tätig war, diagnostizierte bei Koselleck eine »tödliche Krankheit« und konnte eine sofortige Operation bewirken. Der von den Russen eingesetzte deutsche Chefarzt Dr. Wolf, der ihn operierte, erwies sich dann als ein ehemaliger Assistent seines Großvaters Marchand. Wie Koselleck häufig mündlich berichtet hat, gelang es dem Chefarzt, ihn mit der Begründung, dass er nicht mehr arbeitsfähig sei, nach Hause zu schicken. »Das heißt: Eine bildungsbürgerliche Doppelbeziehung hat mir das Leben gerettet.«53 Es besteht kein Zweifel daran, dass die eigene Erfahrung kriegerischer Gewalt Koselleck lebenslang beschäftigte, persönlich wie wissenschaftlich, bis in jahrzehntelang sich wiederholende Träume hinein.54 ›Krieg‹ und ›Terror‹ waren für 52 Mappe Krieg, Familienarchiv Koselleck. 53 Koselleck, Krisenerfahrungen. Felix Jacob Marchand, 1846–1928, 1900 bis 1921 Professor in Leipzig (pathologische Anatomie); vgl. die Selbstdarstellung: Marchand, Felix, in: Grote, L. R. (Hg.), Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen, Leipzig 1923, Bd. 1, S. 59–104. 54 Einen Niederschlag fand das in seinem Nachwort zur Neuauflage des 1966 zuerst erschienenen Buches von Beradt, Charlotte, Das Dritte Reich des Traumes, Frankfurt a. M. 1981, S. 117–32.

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ihn nicht nur eine persönliche Erfahrung, sondern auch in der familiären Erinnerung präsent. Eine schizophrene Schwester seiner Mutter fiel dem nationalsozialistischen Euthanasiemord zum Opfer, sein jüngerer Bruder kam im Juli 1942 bei einem Bombenangriff in Saarbrücken ums Leben, sein älterer Bruder überlebte die letzte Verteidigungsstellung der Wehrmacht im ostpreußischen Samland nicht und fiel im April 1945. Die Gewalterfahrungen prägten das Leben von Millionen von Menschen dieser Generation, für Koselleck wurden sie jedoch im Laufe der Zeit auch ein Gegenstand intellektueller Reflexion. Dabei war es nicht die Gewalt des Kriegs an sich, die Koselleck untersuchte, sondern die Formulierung einer Utopie als Voraussetzung für jede Form von Weltanschauungskrieg. Dabei hatte er selbst für die meiste Zeit wohl wenig Bedenken gehabt, an diesem Krieg teilzunehmen. Diese soldatische Identifikation, die Bereitschaft zum Kriegseinsatz, scheint bis zum Ende des Krieges ungebrochen gewesen zu sein. Hinzu kam wohl ein stark empfundenes patriotisches »Pflichtgefühl«.55 Dabei finden sich aber keine Indizien, dass sich das verbunden hätte mit einer Identifikation mit dem nationalsozialistischen Regime, zumindest tauchen in den Briefen keinerlei Bemerkungen oder Gesinnungsfloskeln dieser Art auf. Im Sommer 1944, nach der Landung der Alliierten in der Normandie, schreibt er z. B. lakonisch nach Hause, die Invasion sei »nun doch angelaufen, hoffen wir, daß sie die Entscheidung bringt« (10.6.1944). Ausgespart hat Koselleck in den Interviews sein in den Briefen an die Eltern lange Zeit bekundetes Bestreben, sich soldatisch im »richtigen Einsatz« bewähren zu wollen. Das blieb eine Leerstelle in seinen Erzählungen über seine Erfahrungen des Krieges. Es mag sein, dass sich die vehemente Utopiekritik späterer Zeit auch aus einem selbstkritischen Rückblick auf seine Verführbarkeit, auf seinen eigenen soldatischen Einsatzwillen, den er im Übergang vom Jugendlichen zum Erwachsenen gehegt und auch gegen äußere Hindernisse wie die Fußverletzung hartnäckig bewahrt hatte, gespeist hat. Darüber hat er allerdings nie direkt gesprochen.56 Vielleicht verweist jedoch seine Antwort auf die Frage, warum er Wissenschaftler geworden sei, auf eine Seite seiner Biographie, über die er sich sonst nicht geäußert hat: um Halt gegen die Utopie zu finden.57

55 Das betonte Alfred Kessler, Kosellecks Jugendfreund und mit ihm in Karaganda in Kriegsgefangenschaft; Christina Morina, Gespräch mit Alfred Kessler. 56 Längere Passagen zum Krieg finden sich in zwei Interviews, in: Koselleck, Erfahrene Geschichte; Koselleck, Krisenerfahrungen; zur Wahrnehmung des Nationalsozialismus und zu Erinnerung an Verbrechen auch: Recollections of the Third Reich; über diese Aspekte aber enthalten sie wenig. 57 Fragebogen Forschung & Lehre 2003, S. 464.

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IV. »Gleichsam quer durch«. Kosellecks akademische Sozialisation Im Herbst 1946 war der Kriegsheimkehrer wieder zuhause – er war als einziger von drei Söhnen der Eltern Koselleck noch am Leben. Die Erfahrung der verhängnisvollen Auswirkungen zweier politischer Ideologien des 20. Jahrhunderts führte ihn in den kommenden Jahren zur Analyse der ›Utopie‹, zur Frage nach der unvermeidlichen Zerstörungskraft, welche jeglichem utopischem Anspruch innewohne. Anregungen hierzu dürfte er im familiären Gespräch erhalten haben. Als er zurückkehrte, war in der Familie ›Utopie‹ bereits ein Thema, sowohl beim Vater wie wohl vor allem beim Patenonkel Kühn. Arno Koselleck hielt 1945 einen Vortrag, »Bausteine zu einem neuen Geschichtsbild«, in welchem er zum einen die Überholtheit des herkömmlichen Geschichtsdenkens beschrieb und fragte, wie die notwendige »Selbstbegrenzung des nationalen Egoismus« vermittelt werden könne. Hierzu verwies er auf die »Rechtsidee« – ihr Gegenspieler aber sei die Utopie, der Traum von einem »idealen Reich jenseits der Wirklichkeit«. In der Gegenwart habe die Utopie weithin die Religion abgelöst, sie habe den Glauben an eine »übersinnliche Wirklichkeit neben und außerhalb der geschichtlichen verdrängt«. Er verwies zur fatalen Rolle der Utopie explizit auf einen Vortrag Johannes Kühns von Ende 1943 über das Thema »Geschichtsphilosophie und Utopie«.58 Danach sei der Glaube an eine Gottheit durch »die zwingende Kraft der Geschichte des einmaligen Zieles der Geschichte ersetzt« worden. Es sei das Kennzeichen der Gegenwart, dass die Utopie »geschichtsmächtig« geworden sei. Als Beispiele für Utopien erwähnt Arno Koselleck ausdrücklich den Marxismus, den Nationalsozialismus, den Faschismus und den Imperialismus, womit er, wohl ohne das zu wissen, utopisches Denken mit totalitärem Denken, mit dem Glauben an Ideologien gleichsetzte, wie es in der Totalitarismusdebatte ganz ähnlich diskutiert wurde. Mit anderen Worten: Als Reinhart Koselleck aus Karaganda zurückkehrte, konnte sich seine Auseinandersetzung mit totalitären Utopien mit familieninternen Gesprächen darüber verbinden. Vor allem sein Patenonkel Kühn hatte sich bereits seit Längerem damit wissenschaftlich beschäftigt.59 Das zu betonen heißt 58 Wie sehr dieser Vortrag der Antrittsvorlesung in Heidelberg 1949/50 entsprach oder dafür verändert wurde, ist nicht zu sagen; letztere wurde nahezu unverändert gedruckt; Kühn, ­Johannes, Geschichtsphilosophie und Utopie, in: Welt als Geschichte 11 (1951), S. 1–11. Das Ms. von Arno Koselleck (17 S.) im NL Arno Koselleck, Familienarchiv Koselleck. Arno ­Koselleck hielt in den ersten Jahren wiederholt Vorträge zu dieser Thematik in der Jugendund politischen Bildung, mit leicht variierenden Titeln, umso mehr kann man schließen, dass das Thema erörtert wurde, als der Sohn zurückgekehrt war. Hierbei betonte er jeweils den Gegensatz von Utopie und »Rechtsgefühl«; vgl. Protokoll des Jugendtreffens in Marienau, 26.–30.8.1946; NL Arno Koselleck, Mappe Jugend und Staat, Familienarchiv Koselleck. 59 Kühn hatte in seiner Habilitationsschrift (1923) nicht nur begriffsgeschichtlich gearbeitet, sondern das utopische und eschatologische Potential in verschiedenen Spielarten des Protestantismus untersucht. In den 30er Jahren entstand ein längeres, unveröffentlichtes Ma-

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nicht, Kosellecks Antwort auf die Herausforderung der Utopie primär aus familiären Impulsen abzuleiten. Diese bildeten aber offensichtlich eine zeitlich vorgelagerte Schicht zu seiner danach einsetzenden akademischen Beschäftigung damit. Koselleck selbst hat darauf hingewiesen. So schrieb er 1989 Rudolf Vierhaus, dass sich seine bekannte Wendung ›vergangene Zukunft‹ bereits 1947 in einer Schrift Kühns finde, er sie nur überlesen habe.60 Seine Analyse der Utopie war jedoch theoretisch und methodisch origineller, und sie war auch scharfsichtiger, weil er Bedingungen der Möglichkeit von Utopien schon in der Aufklärung aufzeigte und nicht beim einfachen Gegensatz von Utopie und bürgerlicher Rechtsidee stehen blieb wie Arno Koselleck 1945/46. Der Student Koselleck beschäftigte sich weder direkt mit der Geschichte des ›Dritten Reiches‹ oder gar mit den Verbrechen des Nationalsozialismus (was damals in der Bundesrepublik allerdings nur wenige taten), noch mit seinen Erfah­ rungen im Krieg. Koselleck wandte sich vielmehr den philosophischen und geschichtsphilosophischen Deutungen von Geschichte zu. Sein Motiv lag darin, wie er später formulierte, den utopischen Traum zu analysieren, der darin bestehe, mehr machen zu wollen als politisch möglich sei. Daraus sei eines seiner ersten Vorhaben entstanden, »to compare the French Revolution with the Hitler ­movement«.61 Konkret versuchte er sich daran schon in seinem sechsten Semester; in einem Referat über die Jakobiner, 1949/50 bei Alfred Weber. Er verwendet hier Begriffe wie ›politische Religion‹ oder ›Totalitätsanspruch‹, um den Jakobinismus und sein politisches Handeln zu erklären.62 Es war die grundsätzliche Differenz von Moral und Politik, die Koselleck beschäftigte und ihn als Historiker zunächst in die Aufklärung des 18. Jahrhundert zurückführte, in der die Trennung von Politik und Moral aufgehoben worden war und sich das utopische, moralisch legiti­mierende Denken auf verhängnisvolle Weise in der Politik eingenistet hatte. Er war bzw. nuskript über »Die Entstehung der nationalsozialistischen Revolution«, in der er die Demokratie als »totale« Idee beschreibt. Der Text bietet eine Analyse der NS-Bewegung, durchaus mit Blick für die Gewalt der Bewegung, aber auch mit (nationalkonservativer) Sympathie für den Anspruch auf Volksgemeinschaft und nationale Größe. »Wie die Jakobiner in Frankreich schienen die Nationalsozialisten eine Nationokratie zu errichten: Nation, Volk, Volksgemeinschaft wurde zum Mythos der Revolution«, S. 5. Vgl. Kühn, Johannes, Toleranzgedanke und Offenbarung, Leipzig 1923; ders., Die Entstehung der nationalsozialistischen Revolution (51 S.), Ms, datiert mit »Anfang 1935«; NL Kühn, Universitätsbibliothek Heidelberg. Die Bedeutung Kühns für seine eigene Entwicklung hat Koselleck wiederholt betont, sie zeigt sich auch daran, dass Koselleck Exzerpte und Zettelkästen Kühns zur Utopie dauerhaft aufbewahrte (im NL im DLA Marbach), und sich noch 2006 in seinem privaten Arbeitszimmer eine mehrseitige »Utopie-Bibliographie Johannes Kühn« befand. 60 Er habe die Schrift intensiv durchgearbeitet, »ohne freilich gerade diese Wendung anzu­ streichen: D. h. ich hatte sie vor 40 Jahren überlesen, und doch muss sie in mir hängen geblieben sein und nachgewirkt haben«; Koselleck an Vierhaus, 22.9.1989, NL Koselleck, DLA Marbach. 61 Koselleck, Recollections of the Third Reich. 62 Vgl. die Arbeit Kosellecks über die Jakobiner von 1950 in diesem Band, er hielt das Referat im Januar 1950.

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wurde insofern ein Universalhistoriker  – im zeitlichen, nicht im räumlichen Sinne  –, der die Geschichte der Menschheit nicht bloß quantitativ zu erfassen suchte, sondern der sich schon früh das Ziel setzte, »die Voraussetzungen von Geschichte überhaupt« klären zu wollen.63 Wenn er rückblickend feststellte, dass Johannes Kühn ein »hochgelehrter, ein rund um gebildeter, immer neugieriger Universalhistoriker« gewesen sei, so galt das gleichermaßen auch für ihn.64 Seine Erfahrung des Krieges, der vielfältigen Formen von physischer Gewalt und totaler Zerstörung wurde relativ schnell zu einer Trennlinie gegenüber Jüngeren. So schrieb er 1955 an Carl Schmitt, über seine ersten Lehrerfahrungen mit den Studenten berichtend, »jedenfalls fehlt fast allen die Erfahrung des Krieges selber. Und darin besteht der entscheidende Abstand zwischen den Studenten und mir«.65 Doch nicht nur Erfahrungen machen den Historiker, akademische Studien sind für seine professionelle Sozialisation eine unabdingbare Voraussetzung. Nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft begann Koselleck im Sommersemester 1947 sein Studium an der Universität Heidelberg. Dank der Unterstützung seiner Eltern konnte er mit 24 Jahren ein verspätetes Studium beginnen, ohne sich über dessen Finanzierung Gedanken machen zu müssen, was in diesen Nachkriegszeiten zweifellos ein besonderes Privileg war. Er ging nach Heidelberg, schlicht weil er dort einen Studienplatz bekam. Der Andrang der Kriegsheimkehrer an die nur begrenzt wieder nutzbaren westdeutschen Universitäten war 1947 so groß, dass es lokale Zugangsbeschränkungen gab. Erneut wirkten sich jedoch bildungsbürgerliche Netzwerke für den Professorensohn Koselleck günstig aus. Seine Mutter war nach der Ausbombung der Familie in Saarbrücken bei einem früheren Kollegen ihres Vaters untergekommen, der sich in Heidelberg habilitiert hatte. Dank dessen Bemühungen erhielt Koselleck an der dortigen Universität einen Studienplatz. Kein Zufall, sondern ein heute unbegreiflicher, Koselleck aber damals peinlicher Standesvorteil war es, dass er als Sohn eines Professors keine Studiengebühren zu bezahlen hatte. Indem er aber, ganz im Sinne der calvinistischen Erziehung durch seine Mutter, alle erforderlichen Scheine freiwillig machte, versuchte er die soziale Privilegierung seiner Herkunft gewissermaßen intellektuell zu rechtfertigen.66 Der Entschluss, ein Studium der Geschichte aufzunehmen, erfolgte auf den Rat bzw. sanften Druck des Vaters hin. Koselleck trat damit, wie nach ihm nicht wenige westdeutsche Historiker der Nachkriegszeit (Hans Mommsen, Wolfgang J.  Mommsen, Hans Lemberg, Gottfried Schramm, Rudolf Schieffer, Wolfgang Schieder, Manfred Botzenhart, Eckart G.  Franz), in die Fußstapfen des Vaters. Wie sich herausstellte, war Heidelberg jedoch für seine primär neuzeitlichen Studieninteressen zunächst kein günstiger Studienort, da der damals einzige 63 Koselleck, Lebenslauf. 64 Koselleck, Reinhart, Dankrede, in: Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck (1923–2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 33–60, hier S. 50. 65 Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Frankfurt a. M. 2019, S. 112, Koselleck an Schmitt, 28.11.1955. 66 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 52 f., auch zum Folgenden.

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Lehrstuhl für Neuere Geschichte nur unregelmäßig durch wechselnde Professoren vertreten wurde. Koselleck behalf sich damit, dass er zunächst Veranstaltungen in Alter Geschichte bei Hans Schaefer und verschiedene mediävistische Übungen, vor allem bei Fritz Ernst, besuchte.67 Außerdem war er danach bei dem von ihm wenig geschätzten, außerplanmäßigen Professor Walter Peter Fuchs sowie auch bei Hans Rothfels, der seine Rückkehr nach Deutschland auch durch eine Lehrstuhlvertretung in Heidelberg einleitete, im Seminar. Am meisten scheint er in seinen ersten Studienjahren von Veranstaltungen des Professors für Vor- und Frühgeschichte Ernst Wahle profitiert zu haben. In dem ausführlichen Lebenslauf, den er bei der Anmeldung zur Promotion am 15. Oktober 1953 vorlegte, hob er ausdrücklich hervor, dass dieser ihn in die »methodischen Grenzprobleme der Geschichtswissenschaft« eingeführt habe. Dadurch habe er ihn auf die »philosophische Problematik aller Geschichtswissenschaft« und auf die Frage nach den »Voraussetzungen von Geschichte überhaupt« geführt.68 1949 fand er in dem aus Leipzig berufenen Neuhistoriker Johannes Kühn, einem engen Freund seines Vaters und seinem Patenonkel,69 einen akademischen Mentor, der seinen historischen Interessen entgegenkam und seine Studienwahl endgültig bestätigte.70 Die private Vertrautheit war auch damals ungewöhnlich, doch bewegte sich Koselleck schon in eigenen intellektuellen Bahnen. Kühn schätzte Koselleck, kannte seine Fähigkeiten, er befriedigte durch seine Veranstaltungen seine besonderen historischen Interessen. Er sprach einmal von Koselleck als dem ›Genie‹, das er sich für sich selber gewünscht hätte.711949 verflochten sich damit bei ihm ältere familiär vermittelte Beziehungen zur Geschichte 67 Koselleck, Dankrede, S. 35. Die einzige erhaltene (kurze) Vorlesungsmitschrift Kosellecks im Nachlass stammt von einer Vorlesung bei Ernst Wahle, DLA Marbach, NL Koselleck. 68 Koselleck, Lebenslauf. 69 Beide kannten sich seit ihrem gemeinsamen Studium in Leipzig. Arno Koselleck studierte seit 1910 in Leipzig, Kühn promovierte 1912 dort; beide waren Mitglied im VDS. Johannes Kühn (1887–1973) hatte 1912 über die südwestdeutsche Agrarverfassung promoviert, sich 1923 über Toleranz und Offenbarung im reformatorischen Protestantismus habilitiert, lange Jahre Reichstagsakten ediert, aber auch kunsthistorische und geschichtstheoretische Arbeiten (Die Wahrheit der Geschichte und die Gestalt der wahren Geschichte, Oberursel 1947) veröffentlicht. 70 Kühn stand in den 20er und 30er Jahren in engem Kontakt zur Familie Arno Kosellecks, so dass Reinhart Koselleck schon damals in einen intensiven Gedankenaustausch mit dem auch künstlerisch interessierten Patenonkel gekommen sein dürfte. Kühn hielt seine Antrittsvorlesung im Wintersemester 1949/50 in Heidelberg, er bezeichnete Geschichtsphilosophie und Utopie als »Geschwisterpaar«, und definierte erstere als Frage nach dem Sinn der Geschichte, letztere als »Form des Verlangens nach einem ein für alle Mal glücklich geregelten Zustand unseres Daseins«. Geschichtsphilosophie betrachte Geschichte als Ganzes, als »Totalität«, während Utopie sie in zwei Teile spalte und den falschen verwerfe. Er skizziert drei Etappen des »Riesenaufmarsches der utopischen Armee« seit dem 16. Jh. und den Übergang von religiösen zu weltlichen, den Einbruch der Utopie in die Geschichtsphilosophie; Kühn, Johannes, Geschichtsphilosophie und Utopie, in: Welt als Geschichte 11 (1951), S. 1–11, Zitat S. 1. 71 Johannes Sippel an Arno Koselleck, 25.12.1966, Familienarchiv Koselleck.

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mit aktuell universitären. Liest man Texte Arno Kosellecks und Kühns aus den frühen Nachkriegsjahren, wird ein privater Diskussionsraum vorstellbar,72 der in seiner Bedeutung für den Entwicklungsweg Reinhart Kosellecks vermutlich nicht gering zu veranschlagen, aber kaum genau zu bestimmen ist. Wie wichtig Kühn für Koselleck war und wieviel er ihm zu verdanken hat, hob Koselleck immer wieder hervor. Kühn war ein an kritischen Fragen zu Geschichtsphilosophie und der historischen Bedeutung von Utopien orientierter Historiker, der als Bearbeiter von Bänden der Deutschen Reichstagsakten zugleich aber auch auf einem klassischen Feld der deutschen Geschichtswissenschaft bewandert war. Auf jeden Fall konnte er, entgegen der Behauptung Nicolaus Sombarts, Kosellecks universalhistorisches Interesse an der Geschichte mehr befriedigen als die meisten deutschen Historiker der Zeit das gekonnt hätten.73 Koselleck schrieb bei Kühn eine Hausarbeit über Kant,74 vor allem war dieser auch bereit, seine in starkem Maße geschichtstheoretische Dissertation über »Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« zu betreuen. Es sollte, ungeachtet ihrer etwas verworrenen Entstehungsgeschichte, eine der erfolgreichsten und interdisziplinär verbreitetsten geisteswissenschaftlichen Dissertationen werden, die in Deutschland nach 1945 erschienen sind.75 Dass sich Johannes Kühn und Karl Löwith als die Gutachter der Heidelberger Philosophischen Fakultät bei der Bewertung der Dissertation nicht auf ein »summa cum laude« einigen konnten, sondern es bei einem »magna cum laude« beließen, hat der ungebrochenen Ausstrahlungskraft der Arbeit nicht geschadet.76 Es zeigte jedoch, in welchem Maße die zwischen den Fächern, zwischen Geschichtswissenschaft und Philosophie angesiedelte Arbeit seinerzeit irritierte. 72 Koselleck, Arno, Über Bildung und Verbildung unseres Geschichtsbewußtseins, Leer 1955 (mit Kritik an den neuzeitlichen Utopien und einem Verweis auf Kühns Begriff vom »Umschreiben« der Geschichte, S. 8, 24); Kühn, Geschichtsphilosophie und Utopie; ders., Wahrheit der Geschichte (S. 38: alle geistigen und politischen Umwälzungen verlangten ein »Umschreiben« der Geschichte); vgl. Reinhart Kosellecks Systematisierung dieses Gedankens in die Trias von Auf-, Fort-, Umschreiben, in: ders., Erfahrungswandel und Methodenwechsel. 73 Sombart, Nicolaus, Rendezvous mit dem Weltgeist, Heidelberger Reminiszenzen 1945–1951, Frankfurt a. M. 2000, S. 265. Sombarts Schilderung des studentischen Freundeskreises und auch manch anderer Person dürfte mehr seiner Selbststilisierung geschuldet gewesen sein als es dem Quellencharakter des Erzählten gut tut. 74 »Von der Garantie des ewigen Friedens. Kants Friedensplan« (wohl 1949); vermutlich handelt es sich um diese Arbeit, über die Carl Schmitt an Nicolaus Sombart schrieb (2.5.1950), »Koselleck-Referat ist sehr gut, erzähl ihm die Geschichte vom Ketzerrichter«, Tielke, Martin (Hg.), Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart, Berlin 2015, S. 31 f. 75 Vgl. zur Entstehungsgeschichte den Beitrag von Wolfgang Schieder. 76 Kühn schloss sein Gutachten mit dem leicht eingeschränkten Lob, dass »Niveau«, »Stoffkenntnis und zugleich -überlegenheit wohl zum höchsten gehört, das bei wissenschaftlichen Erstlingsarbeiten  – K. ist übrigens schon über 30 Jahre  – überhaupt vorkommt. Andrerseits ist doch nicht Alles vollendet, gereift, ausgewogen« und schlug die – in der Ordnung nicht vorgesehene – Note »1–2« vor. Löwith schloss sich in seinem kurzen Zweitgutachten den lobenden und kritischen Bemerkungen Kühns explizit an, hob aber hervor, dass er die

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Es entsprach freilich auch Kosellecks Neigungen, dass er, wie er das in einem Interview bezeichnete, »gleichsam quer durch«77 studierte und sein Studium nicht nach Fächern, sondern nach für ihn interessanten Themen und deren adäquater Präsentation durch Dozenten aufzog. Die Breite seiner Studieninteressen durch mehrere Fakultäten Heidelbergs hindurch war erstaunlich und auch für die dama­ lige Zeit eines lockeren Studienaufbaus ungewöhnlich. Zu diesem persön­lichen Studium Generale trug zweifellos bei, dass er mit Nicolaus Sombart, Hanno ­Kesting und Gerhard Hergt einen Freundeskreis von ähnlich engagierten Kommilitonen fand, der sich gegenseitig anregte und auf die intellektuellen Highlights in der Universität aufmerksam machte. Wie Ivan Nagel, mit dem Koselleck in seiner Heidelberger Studentenzeit ebenfalls befreundet war, feststellte, existierte in Heidelberg »um 1950« eine »erstaunliche Studentengeneration«.78 Koselleck studierte außer Geschichte noch Theologie, Kunstgeschichte sowie bei dem »Alles-Anreger« Willy Hellpach Psychologie.79 Intensiver hat er vor allem Staatsrecht bei Georg Jellinek und Ernst Forsthoff, Medizin bei Victor von Weizsäcker sowie Philosophie bei Franz Josef Brecht, Hans-Georg Gadamer und Karl Löwith studiert.80 Dass er mehr an philosophischen Seminaren teilnahm und

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»prinzipiellen Mängel dieser gehalt- und geistreichen Darstellung stärker empfinde«. Er konkretisierte das: »Hobbes’ Bedeutung ist schief gesehen, Rousseau viel zu wenig berücksichtigt, der Begriff ›Bürgertum‹ sehr unbestimmt und der Dualismus von Moral + Politik ein unangemessener + und wenig besagender Leitfaden. Die ganze Arbeit leidet, wie fast alle soziologischen Arbeiten dieser Art an einem zweifachen Mangel: es fehlt ihren stets interessanten aber oft unverbindlichen Analysen + Konstruktionen eine gründliche historische Schulung und andrerseits eine genügend durchdachte philosophische Grundlegung.« Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Philosoph die mangelnde historische Schulung kritisierte, und Koselleck eine soziologische Arbeit attestiert wurde. Trotz des »Reichtums an Kenntnissen« und dem »hohen Niveau der doch gewandten Darstellung« plädierte Löwith für ein »magna c. l.«; UA Heidelberg H-IV-757/56. Die mündlichen Prüfungen absolvierte Koselleck in Mittlerer und Neuerer Geschichte bei Kühn (summa cum laude), in Philosophie bei Gadamer (magna) und in Allgemeiner Staatslehre bei Forsthoff (magna). Eine historischkritische Ausgabe der Dissertation von Koselleck mit ihren verschiedenen Fassungen wird von Wolfgang Schieder vorbereitet. Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 52. Als »Einzel- und Querdenker in seinem Fach« wurde Koselleck auch später einmal von Vierhaus, Rudolf, Laudatio auf Reinhart Koselleck, in: HZ 251 (1990), S. 537, bezeichnet. Koselleck, Dankrede, S. 25; zur Situation in Heidelberg im studentischen Umfeld Kosellecks auch Sombart, Rendezvous; Nagel, Ivan, Der Kritiker der Krise, in: Weinfurter, Koselleck, S. 23–31. Dunkhase, Jan Eike, Weltbürgerkrieg und Freundschaft. Ivan Nagels Heidelberger Reminiszenz, in: Zs. für Ideengeschichte 12 (2018), S. 87–100. Koselleck, Dankrede, 45. Zur Beziehung zwischen Löwith und Koselleck vgl. den Beitrag von Reinhard Mehring, zu Heidegger und Koselleck den Beitrag von Steffen Kluck und Richard Pohle. Die Philosophen scheinen Koselleck früh in Heidelberg in ihren Bann gezogen haben, dafür verzichtete er anscheinend auch auf eine intensive Weiterverfolgung seiner ästhetischen Interessen. Zu Beginn des zweiten Semesters schrieb ihm der Vater (21.10.1947), »daß du die Malstunden hast aufgeben müssen, ist schade. Lohnt der B. [vermutlich Brecht] wirklich den Tausch? Schließlich kannst du ihn belegen ohne zu hören.« Familienarchiv Koselleck.

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weniger an historischen, erklärte er im Rückblick damit, dass sein Interesse an der »philosophischen Problematik von Geschichtswissenschaft« ihn auf die »Frage nach den Voraussetzungen von Geschichte überhaupt« geführt habe.81 Er suchte so etwas wie eine »Ontologie der Geschichte«. Die Themen der Hausarbeiten, die er in diesen Jahren schrieb, belegen, dass sein Weg in die Geschichtswissenschaft im Grunde von der Philosophie ausging.82 Auch schrieb er die meisten Hausarbeiten, jeweils drei, bei dem Philosophen Franz Joseph Brecht und bei dem Kultursoziologen Alfred Weber. Bei Brecht waren es Arbeiten zu einzelnen Philosophen sowie spezifisch geschichtsphilosophischen Fragen, bei Weber eher historische Themen, ebenfalls mit einem Schwerpunkt auf der Beschäftigung mit großen Denkern.83 Von besonderer Bedeutung war für Koselleck Alfred Webers, im Dachzimmer seiner Privatwohnung »privatissime et gratis« stattfindendes Kolloquium, an dem er »fast während meines ganzen Studiums teilnehmen« durfte.84 In der Mischung von Philosophie, Soziologie und Geschichtswissenschaft verdankte er Alfred Weber in methodischer Hinsicht hinsichtlich des grenzüberschreitenden historischen Denkens, das für Koselleck typisch werden sollte, zweifellos sehr viel. Es ist bezeichnend, dass von den Manuskripten, die sich von Seminararbeiten Kosellecks erhalten haben, die bemerkenswertesten aus dem Kolloquium von Weber stammen. Die am ehesten als historisch zu bezeichnende Arbeit des Studenten Koselleck trug den Titel »Der Jakobinismus und die Französische Revolution«. Es handelt sich um einen stark problembewussten Text mit einem scharfen, analyti81 Koselleck, Lebenslauf. 82 Zur Bedeutung Heideggers, aber auch den Grenzen dieses Einflusses, vgl. den Beitrag von Steffen Kluck und Richard Pohle. 83 Koselleck schrieb an Schmitt, er habe Heidegger im 3. Semester gelesen; aus dem Nachlass kann man erschließen, dass er 1949 ein Seminar bei Brecht besuchte, in dem er die Hausarbeit »Wahrheit in Sein und Zeit« schrieb. Diese trägt den wohl später von Koselleck eingefügten handschriftlichen Vermerk »RK 1949, Brecht«; vgl. Koselleck, Lebenslauf; Tortarolo, Edoardo, Interview mit Koselleck, Dez. 1988, S. 13 (deutschsprachiges Original, stark gekürzte italienische Fassung in: L’Indice 1 (1988), S. 23 f.; wir danken Christof Dipper für die Überlassung der deutschen Fassung); Koselleck / Schmitt, Briefwechsel (zu Heidegger im 3. Semester); Laube, Reinhard, Wissen und Memoria. Reinhart Kosellecks Lektüren, in: Dutt, Carsten / Laube, Reinhard (Hg.), Sprache und Geschichte, S. 95–110, hier S. 109 (Eintrag in »Sein und Zeit«: Lektüre im Jahr 1949, im Seminar von Brecht). Lässt man wenige randständige Arbeiten weg, etwa zur schwedischen Bootsaxtkultur, bleiben folgende Themen und Dozenten (die Jahresangaben nach den – wohl nachträglichen – Vermerken Kosellecks auf den Arbeiten). – Bei Alfred Weber: Der Jakobinismus und die Französische Revolution (1948/49 ?); Marxens Weg zum Kommunismus; Thomas Hobbes (1953). – Bei Franz Joseph Brecht: Jacob Burckhardts Stellung zu Hegels Geschichtsphilosophie (1948/49); Die Wahrheit in »Sein und Zeit« (1949); Die Zeit des Weltbildes (1950). – Bei Johannes Kühn: Von der Garantie des ewigen Friedens. Kants Friedenplan (1949 ?). Weiteres Ms., bei dem nicht sicher ist, ob es sich um eine Hausarbeit handelt: Ernst Jünger: Über die Linie (1950). 84 Koselleck, Lebenslauf.

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schen Blick für empirische Gegebenheiten, in dem Koselleck in seinem sechsten Semester einen eigenständigen Zugang zum Jakobinismus lieferte und in dem er zentrale Fragen einer moralisch motivierten politischen Radikalisierung formulierte, die er später in »Kritik und Krise« ausführlicher entwickeln sollte. Die studentischen Arbeiten Kosellecks bestätigen damit, dass sich das Interesse am Verhältnis von Moral und Politik, das er in der Dissertation verfolgte, aus den biographischen Erfahrungen und den akademischen Diskussionen ergab. Eine besondere Bedingung für Kosellecks wissenschaftliche Sozialisation war es, dass er in Heidelberg auch mit zwei Wissenschaftlern in Berührung kam, die wegen der Rolle, die sie im ›Dritten Reich‹ gespielt hatten, nach 1945 politisch stark umstritten waren und ihren Lehrstuhl verloren hatten, Martin Heidegger und Carl Schmitt. Doch beide wurden in vielfacher Weise zu geistigen Impulsgebern für Koselleck. Er griff ihr intellektuelles Potential ohne Scheu, eher mit Faszination auf, nutzte dieses aber durchaus selbständig und adaptierte es für seine wissenschaftlichen Problemstellungen. Bleibt man beim bereits erwähnten Bild der Gebrüder Grimm über die Verbindung von erfahren und forschen, so wiesen Heidegger wie Schmitt dem Studenten Koselleck nicht die Richtung, sie stifteten aber wesentliche Impulse, wie er auf diesem Weg besser vorankommen konnte. Beide waren für seine Zuwendung zur Begriffsanalyse und deren Rückbindung an den jeweiligen historischen Kontext von Bedeutung. Heidegger wie Schmitt hatten an der Heidelberger Universität wissenschaftliche Förderer, die ihnen den Verlust ihrer akademischen Wirkungsstätte zumindest gelegentlich ersetzten und sie in den akademischen Umkreis der Universität holten. Hans-Georg Gadamer veranstaltete für Heidegger in unregelmäßigen Abständen im Philosophischen Seminar ein Kolloquium. Dazu waren jeweils ausgewählte Teilnehmer zugelassen, zu denen Koselleck von Anfang an gehörte. Er bezeichnete es, wie auch sonst häufig seine Begegnungen, als »biographischen Zufall«, dass er Heidegger über Gadamer kennengelernt habe.85 Vor der persönlichen Begegnung mit dem Philosophen hatte er »Sein und Zeit« intensiv gelesen, und – nicht zu vergessen – mit Brecht, Gadamer und Löwith ausschließlich bei Schülern Heideggers seine philosophischen Seminare absolviert. Auch wenn Koselleck den damals in Heidelberger akademischen Kreisen zirkulierenden Spruch über »Sein und Zeit« gerne wiedergab, es handele sich um eine »Koppelschloß-Philosophie«86, machte er ebenfalls keinen Hehl daraus, dass er »viel von ihm gelernt« habe.87 Ausdrücklich betonte er, dass er sich gegenüber Heidegger genauso wenig »auf das moralische Ross gesetzt« habe wie gegenüber 85 Vielleicht kam auch der Kontakt zu Gadamer über Kühn zu Stande, da diese beide aus Leipziger Zeiten befreundet waren und Gadamer daran mitgewirkt hatte, Kühn nach Heidelberg zu berufen. 86 Tortarolo-Interview, S. 9; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, Koselleck 3.1.1977, 307. Mit dem Bild des Koppelschlosses dürfte wohl mehr die hermetische Geschlossenheit der Heideggerschen Philosophie karikiert sein, als dessen Affinität zum NS. 87 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 55.

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Schmitt.88 Er unterschied bei beiden zwischen ihrem wissenschaftlichem Denken und ihren politischen Äußerungen und Handlungen. Und er war souverän genug, Heidegger wie Schmitt in methodischer Hinsicht nutzen, von ihnen lernen und Anregungen aufnehmen zu können, ohne aber zu einem von beiden in ein intellektuelles Abhängigkeits- oder ein epigonales Schülerverhältnis zu geraten. Die bekannte Wertung Jürgen Habermas’, dass man aus »Kritik und Krise« erfahren könne, wie Carl Schmitt »die Lage heute beurteilt«, ist insofern unrichtig.89 Mit Verve hat Reinhart Koselleck sich auch im Hinblick auf Habermas’ Kritik immer wieder gegen die Erwartung einer ›politischen Korrektheit‹ gewandt, weil diese, wie er nicht ohne Berechtigung hervorhob, das Ende jeder wissenschaftlichen, weil immer kontroversen Kommunikation herbeiführe und Wissenschaft im Grunde ebenfalls unter einen Primat des politischen Werturteils stelle, wie man es umgekehrt den für ihre Rolle im Nationalsozialismus Kritisierten – politisch – zu Recht vorwerfe. Auch gegen Zumutungen einer politisch-moralischen Normierung des Urteils hat er sich immer wieder gewandt, zuletzt in scharfen Wendungen in den denkmals- und erinnerungspolitischen Debatten seit den 1990er Jahren. Wichtiger – weil nicht zuletzt näher – als Kosellecks Verhältnis zu Heidegger war das zu Carl Schmitt. Diese Beziehung war insgesamt vielschichtiger.90 Auch in Schmitts Fall beharrte er später zutreffend darauf, dass er die Begegnung mit ihm nicht gesucht habe, sondern zufällig mit ihm in Kontakt gekommen sei. Wie schon länger bekannt ist, lernte er Schmitt in Heidelberg kennen, wo Schmitt seit dem Sommer 1950 wiederholt seine todkranke Frau in der Universitätsklinik besuchte. Kosellecks Freund Nicolaus Sombart, mit Schmitt durch sein Berliner Elternhaus schon lange bekannt und per Du, gehörte zu dessen »Freundeskreis« und brachte ihn mit Schmitt zusammen.91 Daraus ergaben sich einige Male lange Kneipengespräche in der Heidelberger Altstadt, die Koselleck in verschiedenen Interviews als einzigartig bezeichnete.92 Ihm lag daran, seine Beziehung zu Schmitt in keiner Weise als politische Parteinahme zu verstehen, sondern als allein intellektuelle Verbindung, bei der er durch die sokratische Fragetechnik Schmitts intellektuell sich seiner selbst habe versichern können wie sonst mit niemandem. Wie Christof Dipper zeigen kann, beweist der Briefwechsel 88 Koselleck, Tortatolo-Interview, S. 11. 89 Habermas, Jürgen, Verrufener Fortschritt – verkanntes Jahrhundert. Zur Kritik an der Geschichtsphilosophie, in: Merkur 14 (1960), S. 468–477, hier S. 477. 90 Vgl. den Beitrag von Christof Dipper; aus der wissenschaftlichen Literatur vor allem Mehring, Reinhard, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Joas / Vogt, Begriffene Geschichte, S. 138–68; Mißfelder, Friedrich, Die Gegenkraft der Geschichte. Carl Schmitt, Reinhart Koselleck und der Bürgerkrieg, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 18 (2006), S. 310–336; für die frühe Zeit jetzt Huhnholz, Sebastian, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt, Berlin 2019. 91 Sombart, Nicolaus, Jugend in Berlin. 1933–1945, München 1984, S. 248–80, auch mit anschaulichen Schilderungen der Gesprächs- und Fragekunst von Schmitt, die auch Koselleck beeindruckte (Zitat S. 240). 92 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 54.

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Kosellecks mit Schmitt, dass er diesem rhetorisch tatsächlich durchweg mit großer Ergebenheit, aber schon in seinem ersten überlieferten Brief vom 21. Januar 1953 zugleich intellektuell mit bemerkenswerter Selbstständigkeit entgegengetreten ist. Man kann daher, Dipper folgend, zu Recht fragen, ob die ehrerbietige Haltung Kosellecks gegenüber Schmitt in mancher Hinsicht nicht bloße Attitüde gewesen ist.93 Die Schilderungen seines komplexen Verhältnisses zu Schmitt in den Interviews sind in vieler Hinsicht widersprüchlich oder ausweichend. So kam Koselleck 1994 zwar zu dem eindeutigen Urteil über Schmitt, »ab 1933 äußerte er sich in penetranter Weise antisemitisch und bis 1937 wurde diese Art geradezu unerträglich.«94 Unerklärlich ist jedoch sein Versuch in diesem Interview, Schmitts Schrift »Der Führer schützt das Recht« dadurch politisch entschärfen zu wollen, dass er sie als »tendenziell so lesbar« bezeichnete, »dass alle Urteile, die Hitler nicht persönlich ausgesprochen hat, von einem Gericht verkündet werden«.95 Der nach den Röhm-Morden vom 30. Juni 1934 von Schmitt verfasste Aufsatz wurde geschrieben, als Hindenburg noch am Leben und Hitler daher noch nicht das Amt des Reichspräsidenten usurpiert hatte, das ihn wenigstens formal zum ›Schutz des Rechts‹ legitimiert hätte.96 Erst recht war der Vorschlag Kosellecks abwegig, den Titel des Aufsatzes »auf das Wort ›Recht‹ zu verschieben«. Kein Wunder, dass Schmitt dazu nur sibyllinisch lächelte.97 Unglaubwürdig erscheint auch seine Behauptung, dass er lange Zeit nur Schmitts Schriften aus den zwanziger Jahren gekannt habe. Schmitts Schriften aus der Zeit des »Dritten Reiches«, darunter auch den »widerlichen Vortrag in Leipzig 1936« will er sogar erst Ende der achtziger Jahre gelesen haben.98 Erst zu diesem Zeitpunkt konnte er allerdings tatsächlich die »Plattitüden in seinen Tagebuchaufzeichnungen« einsehen, die Schmitts Antisemitismus einwandfrei offenlegten.99 Dass Koselleck sich von Anfang an bewusst war, welche Brisanz der Kontakt zu Schmitt enthielt, verdeutlicht ein Brief an seinen Vater. Dieser hatte zum Abschluss der Promotion betont, er habe ihn nicht zu einem Berufsstudium gedrängt, sondern ihn nach seinen Fähigkeiten und Neigungen studieren lassen. Dabei habe er sich nur gesorgt, ob der Sohn angesichts dieser Offenheit nicht der »Gefahr, in das Extreme zu geraten«, erlegen sei. In einer solchen Situation suche man leicht Bestätigung bei »Extremisten. Carl Schmitt gehörte für Dich dazu«. Er verband das mit der Frage, ob seine Dissertation, deren Manuskript der Vater gelesen hatte, nicht durch eine »radikale Konzeption« und (zu) »scharfe Linien« bestimmt sei 93 Vgl. seinen Beitrag in diesem Band. 94 Reinhardt Koselleck über Carl Schmitt. Interview von Claus Peppel (1994), in: Koselleck / ​ Schmitt, Briefwechsel, S. 373–91, hier S. 377. 95 Ders., Peppel-Interview, S. 380. 96 Der Aufsatz erschien symbolträchtig, aber zufällig, am 1. August 1934, dem Todestag Hindenburgs, in der Deutschen Juristen-Zeitung, 39 (1934), Sp. 945–950. Vgl. dazu den Brief Kosellecks an Helmut Quaritsch vom 17.1.1991, Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 370. 97 Koselleck, Peppel-Interview, S. 381. 98 Ders., Formen der Bürgerlichkeit, S. 56. 99 Ders., Peppel-Interview, S. 376.

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(7.3.1954). In der Antwort (24.3.1954) betonte Reinhart Koselleck, es sei seine Absicht gewesen, »bestimmte Strukturen des 18. Jahrhunderts aufzuzeigen, wie sie mir heute an der Zeit zu sein scheinen, dass sie gesehen werden müssen«. Über die »Einseitigkeit« seines Verfahrens sei er sich immer bewusst gewesen. Zu Carl Schmitt und dem impliziten Vorwurf des politischen Extremismus erklärte er, er habe ihn »wegen seiner überragenden Klugheit und seiner Einsichten schätzen gelernt« und müsse ihn folglich als seinen »geistigen Lehrer bezeichnen«.100 Und er fügte hinzu: »Das hat mich nie gehindert, mich mit der nötigen Kritik ihm gegenüber zu verhalten […] nur habe ich mich geniert, ihm seine politische Vergangenheit zum Vorwurf zu machen, da solch ein Vorwurf kostenlos ist. Deshalb glaube ich, politisch kein Extremist zu sein, vielmehr meiner Herkunft wie meiner Konstitution nach dazu neige, reserviert oder neutral zu sein.« Der Vorwurf des politischen Extremismus, den der Vater so eigentlich gar nicht explizit erhoben hatte, traf Reinhart Koselleck wohl deshalb besonders, weil er sich zu jener Zeit Gedanken machte, ob ihm die Beziehung zu Schmitt zum Nachteil gereichen könne. So befürchtete er Reaktionen der »Öffentlichkeit«, vor allem, ob ihm Karl Löwith »auf Grund von CS Einfluß« mehr vorwerfen werde, »als wegen meiner persönlichen Auseinandersetzung mit der Geschichte«.101 Zur Erklärung: Löwith bemängelte in seinem Gutachten zu »Kritik und Krise« eine fehlende »gründliche historische Schulung« und eine nicht »genügend durchdachte philosophische Grundlegung«. So wie Heidegger von Gadamer in Heidelberg ein akademisches Ersatzforum geboten wurde, organisierte der Heidelberger Staatsrechtler Ernst Forsthoff für Carl Schmitt einmal jährlich ein auf dessen Interessen zugeschnittenes Vortragsprogramm in Ebrach am Main. Koselleck sowie andere Heidelberger wie ErnstWolfgang Böckenförde, Christian Meier, Hanno Kesting, Nicolaus Sombart oder Reinhard Mußgnug nahmen daran mehr oder weniger regelmäßig teil. Selbstverständlich standen die Ebracher Tagungen auch auswärtigen Schmittianern wie Armin Mohler, Ernst Rudolf Huber, Helmut Quaritsch, Johannes Papalekas oder Roman Schnur sowie auf Einladung auch anderen Gästen offen.102 100 Schmitt gegenüber und auch an anderer, öffentlicher, Stelle, hat Koselleck Kühn als seinen Lehrer bezeichnet. Es handelt sich dabei wohl jeweils, wie auch im Brief an den Vater, um strategische Bekundungen. Insgesamt fällt es jedenfalls schwer, Koselleck auf einen Lehrer reduzieren zu wollen. Dass es mehrere für ihn wichtige intellektuelle Vorbilder gab (Kühn, Heidegger, Schmitt, Löwith, Gadamer, Wahle, Weber, Conze), hat er oft ausgesprochen; dass diese unterschiedliche Impulse vermittelten, ist offensichtlich. Doch Koselleck griff von Anfang souverän und eigenständig Anregungen auf und eignete sich diese kreativ an. 101 Familienarchiv Koselleck. Wie die zahlreichen Einschübe und Durchstreichungen des dadurch schwer lesbaren Briefes zeigen, handelt es sich offensichtlich um einen Entwurf; ob der Brief in einer Reinschrift an den Vater abgeschickt wurde, ist unklar. Die drei Seiten des Entwurfes befinden sich in einer Mappe mit Briefen des Vaters an den Sohn und Reinharts an den Vater, die von Reinhart Koselleck beschriftet wurde. Eine Reinschrift ist nicht aufzufinden. 102 Vgl. Meinel, Florian, Die Heidelberger Sezession. Ernst Forsthoff und die »Ebracher Ferienseminare«, in: Zs. für Ideengeschichte 5 (2011), S. 89–108.

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Durch Vermittlung seines Vaters konnte Koselleck in seiner Heidelberger Studienzeit über das Kontingent der Pädagogischen Akademie Hannover ein Semester im englischen Bristol verbringen (seit Herbst 1950), eine Vergünstigung, die damals nicht hoch genug eingeschätzt werden konnte. Koselleck brachte es überdies kurz vor dem Abschluss seiner Promotion das Angebot ein, an der dortigen Universität 1953 ein Lektorat für Deutsche Sprache für ein Jahr zu übernehmen (er blieb dann ein Jahr länger bis zum Sommer 1955). Auch wenn ihn das mangels intellektueller Herausforderungen letzten Endes nicht sehr befriedigt hat, war es immerhin doch die erste Stelle, die er überhaupt übernehmen konnte.103 Als er 1955 nach Deutschland zurückkehrte, war seine Zukunft dennoch völlig offen. Wenn er seine Zukunftssorgen ausgerechnet dem emeritierten und allenthalben umstrittenen Juristen Carl Schmitt vortrug, der keinerlei Möglichkeiten einer Unterstützung hatte, war das auch ein Zeichen dafür, dass er innerhalb der Geschichtswissenschaft im Grunde noch ein Außenseiter war, da in seiner Heidelberger Zeit kaum dauerhafte Kontakte zu etablierten Historikern erwachsen waren. Diesen Zustand beendete schließlich ein Angebot Kühns, der ihm die Stelle eines Wissenschaftlichen Assistenten im Historischen Seminar der Universität Heidelberg anbot. Das schuf die Gelegenheit, das ihm wohl als deutlich weniger attraktiv erscheinende Angebot, zu Heinrich Popitz an die Sozialforschungsstelle nach Dortmund und damit in die Soziologie zu wechseln, auszuschlagen.104 Mit dem Antritt dieser Stelle am 1. Oktober 1955 hatte er den Platz gefunden, »wo er forschen soll« – institutionell in der Geschichtswissenschaft, intellektuell weiter gefasst in der Philosophischen Fakultät.105 Da Kühn jedoch schon zum Sommersemester 1955 emeritiert wurde, war seine akademische Karriere als Historiker erst mit Werner Conze, der ihn nach seiner Berufung nach Heidelberg zum Sommersemester 1957 als Assistenten übernahm und ihm die Betreuung einer Habilitation an der Philosophischen Fakultät in Heidelberg versprach, gesichert. Mit historisch-politischer Bildungsarbeit (wie er sie schon als Student begonnen hatte), mit der akademischen Lehre sowie in der Zusammenarbeit mit Conze erfuhr Koselleck nun gewissermaßen in der Praxis eine Art von professioneller »historischer Schulung«, die ihn bisher weniger interessiert und deren Fehlen Löwith bemängelt hatte.106 Wie von Conze nachdrücklich gefordert, sah Reinhart Koselleck sich genötigt, für die Habilitation ein Thema in der Sozialgeschichte zu wählen, die ihm bisher mehr oder weniger fremd geblieben war.107 Für Koselleck 103 Als ein Ergebnis dieses Aufenthalts entstand sein Aufsatz über die Kaufmannschaft Bristols, welcher ein früh entwickelte Sensorium für sozialgeschichtliche Strukturbedingungen belegt. Vgl. Koselleck, Reinhart, Bristol, die »zweite Stadt« Englands, in: Soziale Welt 6 (1955), S. 360–372. 104 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 95, Koselleck an Schmitt, 6.7.1955 (Popitz); Arno an Reinhart Koselleck, 7.8.1955, Familienarchiv Koselleck. Die Annahme der Dortmunder Stelle hätte bedeutet, über »Rationalisierung und Arbeitsersparnis als soziologisches Problem« zu arbeiten. 105 Koselleck, Erfahrungswandel, S. 28. 106 UA Heidelberg, H-IV-757/56, vgl. Anm. 84. 107 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 144 f.

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waren Werner Conze wie auch Johannes Kühn insofern ebenso wegbereitende Professoren wie Heidegger und Schmitt. Ohne die beiden Historiker hätte er nicht seinen Weg in die Geschichtswissenschaft gefunden. Von Kühns besonderer Bedeutung war schon die Rede. Für die Verständigung Kosellecks mit Conze spielte zweifellos auch eine Rolle, dass der um zwölf Jahre Ältere auch den Krieg der Wehrmacht in der Sowjetunion mitgemacht hatte, dabei wie Koselleck schwer verwundet worden und in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, aus der er als Invalide jedoch frühzeitig entlassen worden ist.108 Auch wenn sich beide erst einige Jahre nach seiner Promotion begegneten, wirkte Kosellecks Zusammenarbeit mit Conze deshalb besonders nachhaltig auf ihn ein, weil sie ihm den Zugang zur Sozialgeschichte eröffnete. Die Assistenz bei Conze erweiterte damit sein Profil als Historiker entscheidend. Als er im Sommer 1955 aus England zurückgekehrt war, hatte er zwei mögliche Themen vorbereitet, die eher geschichtstheoretisch angelegt waren: »Prognose und Geschichtsphilosophie« (als Gegenbegriffe) und die »Rolle Amerikas im engl. 19. Jh.«. Das Dortmunder Angebot hätte eine soziologische Orientierung bedeutet.109 Erst die Heidelberger Habilitationsarbeit, auf Conzes Vorschlag gewählt, führte Koselleck jedoch über die Sozialgeschichte auch in die empirische Geschichtswissenschaft, machte ihn dadurch langfristig erst anschlussfähig für die in seinen Augen ›theoriebedürftigen‹ Historiker. Das nach seiner 1965 in Heidelberg erfolgten Habilitation zügig erscheinende Buch trug den Titel »Preußen zwischen Reform und Revolution« und behandelte die Geschichte des sich nach den Napoleonischen Kriegen neu konstituierenden Preußens.110 Es hatte einen stark rechtsgeschichtlichen Charakter und verstand die preußische Sozialgeschichte als einen durch die hohe preußische Beamtenschaft gesteuerten gesellschaftlichen Wandel. Obwohl es sich um ein außerordentlich originelles, fast ganz aus den Akten geschriebenes Buch handelte, erzielte Koselleck mit ihm nicht die Wirkung, die er mit seiner Dissertation erreicht hatte. Das lag zum einen sicherlich an der schwierigen, weitgehend auf einzelnen Rechtsfällen beruhenden Materie, mit der sich Koselleck in der Arbeit befasste, zum anderen aber auch daran, dass das Buch sich, anders als die Dissertation, nicht interdisziplinär öff108 Nach eigenen Angaben war Conze vom 11. Mai bis 3. Juni 1945 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, vgl. UAH, Rep. 101, Nr.119, Anlage zum Lebenslauf Prof. Dr. Werner Conze. Während Koselleck den Rückzug der Wehrmacht aus Frankreich mitmachte, war Conze 1940 beim Vormarsch in Frankreich dabei gewesen. Vgl. zu seiner Soldatenzeit seine bemerkenswert distanzlose Darstellung »Die Geschichte der 291. Infanterie-Division 1940–1945«, Bad Nauheim 1953. Zu Conzes Biographie: Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001; Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. 109 Koselleck an Schmitt, 6.7.1955, Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 95. 110 Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung 1791 bis 1848, Stuttgart 1967; vgl. dazu den Beitrag von Jürgen Kocka; sowie Nebelin, Marian, Das Preußenbild Reinhart Kosellecks, in: Kraus, Hans-Christof (Hg.), Das Thema »Preußen« in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945, Berlin 2013, S. 333–384.

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nete, sondern im Gegenteil im Kern ein Buch für Historiker, allenfalls noch für Rechtshistoriker, war. Noch in seinem Habilitationsgutachten würdigte Conze, dass Kosellecks »ausgeprägter philosophischer Sinn, der in der Schule Gadamers entwickelt worden ist«, der Arbeit zu Gute gekommen sei. Zwar liebe Koselleck »antithetische Wendungen in einer stark dialektisch begriffenen Konzeption«, doch werde die darin liegende Gefahr für das historische Verstehen voll aufgewogen durch »eine Kunst scharfer historischer Einzelinterpretation mit einem guten Sinn für das jeweils Konkrete«.111 Ersteres entsprach der Argumentationsweise der Dissertation, in Letzterem kann man den Einfluss Conzes erkennen, gewissermaßen als Rückbindung des philosophisch orientierten Koselleck an die empirische Geschichtswissenschaft. Seinem Fortkommen in der Geschichtswissenschaft – und im breiten Spektrum der Geisteswissenschaften generell – hat sein eher unkonventioneller Weg und sein daraus erwachsenes historisches Denken jedoch nicht geschadet. An der Universität Konstanz kam er zwar schon kurze Zeit nach seiner Habilitation nur deswegen nicht auf eine Berufungsliste, weil man ihn verdächtigte, ein Adept Carl Schmitts zu sein. Doch schon bald darauf erhielt er 1966 seinen ersten Ruf an die Ruhr-Universität Bochum, bemerkenswerterweise nicht auf einen geschichtswissenschaftlichen Lehrstuhl, sondern auf einen in Politischer Theorie – dort gerade, weil man ihn als Schmittianer ansah.112 Nach dem Wechsel Rudolf von Albertinis in die Schweiz nahm Koselleck jedoch schon 1968 als sein Nachfolger gewissermaßen einen Rückruf auf eine Professur für Frühe Neuzeit an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg an. Einen Teil der in Heidelberg besonders unruhigen Jahre der sogenannten Studentenrevolution erlebte er daher am Neckar. Er gehörte in der Philosophischen Fakultät zu der kleinen Minderheit von Professoren, die mit den rebellierenden Studenten unbedingt im Gespräch bleiben wollten. Als die Polizei einmal auf Anforderung des damaligen Rektors Kurt Baldinger den von Studenten besetzten größten Hörsaal der Universität (Nr.13) zu räumen begann, war der einzige Professor, der zusammen mit ein paar Assistenten vergeblich zu vermitteln suchte, Reinhart Koselleck.113 Seit 1965 war Koselleck auf Betreiben Werner Conzes Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat, der die Gestaltung der Historischen Fakultät an der im Aufbau befindlichen Universität Bielefeld vorbereitete. Als Conze 1968 nach seiner Wahl 111 Habilitationsgutachten Werner Conzes zu Kosellecks Preußenbuch, 11.1.1965, UA Heidelberg, NL Werner Conze, Rep. 101/127. 112 Wie Wilhelm Bleek, Im Schatten von Carl Schmitt. Die merkwürdigen Anfänge der Politikwissenschaft, in: Die Henne. Beiträge zur Geschichte der RUB 2 (2013), S. 7–50, aus den Berufungsakten nachgewiesen hat, wurde er von einer einseitig besetzten Berufungskommission dezidiert als Schmittianer berufen, wodurch seine Nichtberücksichtigung in Konstanz wegen des unterstellten Schmittianismus gewissermaßen ausgeglichen wurde. Darüber hat Koselleck jedoch nie berichtet. 113 Vgl. zur damaligen Situation in Heidelberg auch die Dokumentation: Conze, Werner, Sommer-Semester 1971 im Fach Geschichte an der Universität Heidelberg, o. O. 1971.

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zum Vorsitzenden des Verbandes deutscher Historiker aus dem Gründungsausschuss dieser Universität ausschied, wurde Koselleck zu seinem Nachfolger gewählt. Koselleck hatte entscheidenden Anteil daran, dass in Bielefeld eine Professur für »Theorie und Didaktik der Geschichte« eingerichtet wurde, wie es sie in der Bundesrepublik noch an keiner anderen Universität gab. Dies, aber auch sein besonderes Engagement beim Aufbau des Zentrums für Interdisziplinäre Forschung (ZIF), motivierte ihn dazu, Heidelberg zu verlassen und 1973 den Ruf an die Universität Bielefeld anzunehmen.114 Wie er später bekannte, hatte er allerdings auch Conze versprochen, nach Bielefeld zu gehen, wenn er dorthin einen Ruf bekommen würde. Bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1988, die er mit 65 Jahren statt wie bisher 68 Jahren sarkastisch als »Zwangsvergreisung« bezeichnete, lehrte er in Bielefeld. Seine Verbindung nach Heidelberg blieb jedoch über die Redaktion der »Geschichtlichen Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland« bestehen. Koselleck hatte das Großprojekt zusammen mit Werner Conze sowie Otto Brunner als Mitherausgeber konzipiert und zwischen 1972 und 1997 in neun Bänden (inkl. zwei Registerbänden) herausgegeben, nach dem Tod der beiden Mitherausgeber zuletzt in alleiniger Verantwortung. Koselleck hat das Lexikon der Geschichtlichen Grundbegriffe mit einer immer mehr verfeinerten theoretischen Reflexion jahrzehntelang begleitet,115 er gilt deshalb weithin – zu Unrecht – als sein hauptsächlicher Schöpfer. Dass es eine Gemeinschaftsleistung mit Werner Conze war, hat Koselleck selbst zwar immer wieder betont, jedoch ist er über das Lexikon hinaus als der eigentliche theoretische Kopf einer modernen Begriffsgeschichte international bekannt geworden.116 Zahlreiche Gastprofessuren, vor allem in den USA, einige Ehrendoktorwürden, 114 Dass Koselleck die Entscheidung für Bielefeld und somit der Weggang aus Heidelberg nicht leicht fiel, zeigt sich auch daran, dass der Ruf 1971 erfolgte und er erst 1973 zusagte und im Sommersemester in Bielefeld begann. 115 Vgl. Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006; zuletzt seinen Rückblick: ders., Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte, in: Carsten Dutt (Hg.), Herausforderungen der Begriffsgeschichte, Heidelberg 2003, S. 3–16. Bilanzen der Begriffsgeschichte und weiterführende Diskussionen gibt es inzwischen mehrere, vor allem Lehmann, Hartmut / Richter, Melvin (Hg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington 1996; Richter, Melvin, The History of Political and Social Concepts. Comparative Perspectives, Amsterdam 1998; Bödeker, Hans Erich, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002; neuerdings Steinmetz, Willibald, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte. The State of the Art, in: Kämper, Heidrun / Eichinger, Ludwig M. (Hg.), Sprache-Kognition- Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin 2008, S. 174–197; Müller, Ernst / Schmieder, Falko, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016 (mit einer Einbettung in die inzwischen breit differenzierte Theorielandschaft vor allem auch jenseits der Geschichtswissenschaft)¸ Steinmetz, Willibald u. a. (Hg.), Conceptual History in the European Space, New York 2017. 116 Vgl. den Beitrag von Wolfgang Schieder zur Bedeutung Conzes für das Lexikon. Für Brunner vgl. den Beitrag von Reinhard Blänkner. Zu einer theoretischen ›Wahlverwandtschaft‹ hinsichtlich der Thematisierung von Sprache bei Tocqueville und bei Koselleck, die aber

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die Mitgliedschaft in vier Akademien, mehrere große Historikerpreise markieren die Anerkennung, die er erfuhr.117 Das 2008 aufgelegte DFG-Programm »Reinhart Koselleck-Projekte« ist als letzte, postume, Würdigung anzusehen. Auch wenn die begriffsgeschichtliche Arbeit an dem Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe das Herzstück von Kosellecks wissenschaftlicher Produktion war, hat ihn die andauernde Redaktionstätigkeit am Ende erschöpft. Im Interview mit dem italienischen Kollegen Edoardo Tortarolo, der das Unternehmen bewunderte, ließ er seinem Überdruss freien Lauf. Die Redaktion der Bände sei für ihn zu einer »Strafarbeit« geworden. »Wenn man sich ein Vierteljahrhundert da hineingehängt hat, dann macht das keinen Spaß mehr«. Es sei nur noch langweilig. Ähnlich schätzte er wohl auch die Arbeit am Artikel »Zeit« für das Lexikon ein, an dem er damals schrieb. Der Band »Vergangene Zukunft« enthalte schon so viel »Temporalanalysen«, so Koselleck klagend, »dass mich das im Augenblick nicht mehr reizt«.118 Die Arbeit am Lexikon hatte für Koselleck schon um 1960 begonnen, spätestens als Herausgeber wurde sie für ihn auch zu einer Last, über die er schon in den siebziger Jahren oft klagte. Wahrscheinlich wandte er sich deshalb auch neuen Forschungsfeldern zu, ohne jedoch seine begriffsgeschichtliche Grundfrage, wie die Geschichte an sich zu entschlüsseln sei, aufzugeben. Das führte ihn zur Analyse des politischen Totenkultes und zu den Kriegerdenkmälern. Vielleicht schätzte er die Vertiefung in das bildliche Material im Medium der Fotografie auch als Kontrast.119 So wie er sein Studium praktiziert hatte, kann es nicht verwundern, dass Koselleck über seine Alltagstätigkeit als Universitätsprofessor an drei Universitäten (Bochum, Heidelberg, Bielefeld) hinaus nach Möglichkeiten interdisziplinärer Zusammenarbeit suchte. Wenn er sein Studium in Heidelberg als einen Weg quer durch die Philosophische Fakultät bezeichnete, so ergaben sich auch in späteren Zeiten die wissenschaftlichen Kontakte quer durch die Disziplinen. Neben zahlreichen Einladungen zu Vorträgen und Tagungen außerhalb der Geschichtswissenschaft hat er eine intensive interdisziplinäre Zusammenarbeit vor allem in zwei ungewöhnlichen Forscherkreisen der westdeutschen Geisteswissenschaften betrieben, die lange vor den heutigen Institutionalisierungen in »Forscherkollegs« und »Forschergruppen« mehr durch intellektuelle Neugier und Experimentierfreude getragen wurden als durch improvisierte Zusammenschlüsse zum Zweck der Drittmitteleinwerbung: Einerseits im »Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte« und andererseits in der Arbeitsgemeinschaft »Poetik und Hermeneuzu keinem besonderen Niederschlag in Kosellecks Werk führte, trotz der wiederholt bekundeten immensen Wertschätzung Tocquevilles, vgl. den Beitrag von Harald Bluhm. 117 Reuchlinpreis (1975); Preis des Historischen Kollegs (1989); Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa (1999); Historikerpreis der Stadt Münster (2003). 118 Stattdessen wolle er in Berlin – in seiner Zeit am Wissenschaftskolleg, 1988–1990 – seine Geschichte des politischen Totenkults schreiben, an der er seit 15 Jahren sitze; Koselleck, Tortarolo-Interview. 119 Vgl. als ersten Überblick hierzu Lochner, Hubert / Markantonatis, Adriana (Hg.), Reinhart Koselleck und die politische Ikonologie, Berlin 2013, sowie die Beiträge von Bettina Brandt / Britta Hochkirchen, Thomas Weidner und Manfred Hettling.

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tik«.120 Die eine, 1958 von Werner Conze gegründete und bis heute bestehende, interdisziplinär orientierte wissenschaftliche Gesellschaft war von Anfang an sozialwissenschaftlich ausgerichtet, die andere kulturwissenschaftlich. Es ist bezeichnend, dass Koselleck der einzige Gelehrte war, der beiden Forschergruppen angehörte und in diesen aufgrund seiner multidisziplinären Forschungsinteressen willkommen war. Koselleck war deshalb für die Bundesrepublik eine wissenschaftliche Schlüsselfigur interdisziplinärer Zusammenarbeit in den Geisteswissenschaften, auch durch seine Tätigkeit für das Bielefelder »Zentrum für interdisziplinäre Forschung«. Die von 1963 bis 1994 bestehende Forschergruppe »Poetik und Hermeneutik« verdankte ihre Entstehung im Wesentlichen dem Philosophen Hans Blumenberg. Sie wurde von diesem zusammen mit dem Germanisten Clemens Heselhaus und dem Romanisten Hans Robert Jauß in Gießen als ein informelles Forum geschaffen, um den Geisteswissenschaften mit wechselnder Besetzung einen Ort für interdisziplinäre Gespräche zu geben. Koselleck stand Blumenberg und Jauß persönlich nahe und wurde wahrscheinlich von letzterem in den Forscherkreis geholt.121 Er war nicht der einzige Historiker, der diesem angehörte. Außer Koselleck nahmen zeitweise auch Arno Borst, Christian Meier und Klaus Schreiner an den Tagungen von »Poetik und Hermeneutik« teil, die letzteren beiden, Koselleck besonders nahestehenden Historiker, zweifellos auf seine Initiative. Jedoch engagierte er sich als einziger aktiv und organisierte 1970 auf der Insel Reichenau eine Tagung zum Thema »Geschichte, Ereignis und Erzählung«.122 Inwieweit es ihm mit seinen Beiträgen gelungen ist, den in der Gruppe dominanten Sprach- und Literaturwissenschaftlern seine Theorie der Geschichtlichkeit von Sprache zu vermitteln, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist das Interesse an Begriffsgeschichte, und damit besonders an Kosellecks Theorieangeboten, in den letzten zwei Jahrzehnten in den Literaturwissenschaften vermutlich größer als das in der Geschichtswissenschaft gewesen.123 Intensiver und sehr viel nachhaltiger war Kosellecks Mitgliedschaft im ›Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte‹, in den er im Oktober 1965 hineingewählt wurde und dessen Vorsitzender er nach dem Tod von Werner Conze von 1986 bis 120 Vgl. Engelhardt, Ulrich, Ein Labor der Sozialgeschichte. Die Entwicklung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte seit 1956, Köln 2020; Amslinger, Julia, Eine neue Form von Akademie. Poetik und Hermeneutik – die Anfänge, München 2017. 121 Jauß schlug 1962 vor, dass Koselleck auf der ersten Tagung 1963 einen Vortrag über »historia magistra vitae« halten sollte; Amslinger, Form, S. 142. 122 Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.), Geschichte, Ereignis und Erzählung, München 1973 (Poetik und Hermeneutik V). Zwei weitere Aufsätze trug er zu anderen Bänden bei (ders., Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in: Jauß, Hans Robert (Hg), Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, (Poetik und Hermeneutik III), München 1968, S. 129–141; ders., Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Weinrich, Harald (Hg.), Positionen der Negativität (­Poetik und Hermeneutik VI), München 1975, S. 65–104. 123 Vgl. etwa Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte; Gumbrecht, Hans Ulrich, Dimensionen und Grenzen der Begriffsgeschichte, München 2006.

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1995 war. Im Oktober 1998 ließ er sich als Mitglied des Arbeitskreises schließlich nach über 30 Jahren inaktivieren. Welche »außerordentliche Stellung« Koselleck im ›Arbeitskreis‹ ohne Frage gehabt hat,124 lässt sich nicht nur an seinen Publikationen in der Reihe »Industrielle Welt« ablesen,125 sondern würde sich mehr noch aus einer systematischen Auswertung der ausführlich protokollierten und daher nachzuverfolgenden Diskussionen innerhalb des Arbeitskreises genau erschließen. Es war zwar Werner Conze, der das Unternehmen der Geschichtlichen Grundbegriffe im Arbeitskreis verankert hatte, aber es war Koselleck, der es in diesem Gremium nicht nur redaktionell, sondern auch inhaltlich über Jahrzehnte hinweg vertreten hat. Dass die Sozialgeschichte nicht ohne Begriffsgeschichte auskommen könne, wurde zwar im ›Arbeitskreis‹ immer wieder, besonders von Hans-Ulrich Wehler und Jürgen Kocka, aber auch etwa von Hans Mommsen, problematisiert, jedoch nie vollständig in Frage gestellt. So seltsam es klingen mag, sind die Geschichtlichen Grundbegriffe letzten Endes das wichtigste Forschungsvorhaben dieses auf Sozialgeschichte fixierten Arbeitskreises gewesen. Koselleck selbst hätte die Geschichtlichen Grundbegriffe wohl nie vollenden und seiner Theorie der Begriffsgeschichte ihr dauerhaftes organisatorisches Fundament geben können, wenn das Lexikon nicht institutionell durch den Arbeitskreis für Sozialgeschichte abgesichert gewesen wäre. Das disziplinäre »quer durch« erwies sich auch hier als eine Bedingung seines Erfolgs als Historiker, innerhalb und außerhalb der Zunft.

V. »Dazwischen«. Gibt es eine Historik Kosellecks?126 Reinhart Koselleck hat über theoretische Fragen der Geschichtswissenschaft reflektiert wie kaum ein anderer deutscher Historiker nach 1945.127 Darauf gründet im Besonderen sein hohes Ansehen, auch international. Blickt man auf sein Werk, sticht zuerst einmal hervor, dass bis zum Erscheinen der Habilitationsarbeit 124 Engelhardt, Labor, Anm. 465. 125 Koselleck, Preußen; ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, T.II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990; ders. (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977. 126 Hier wird eine inhaltliche Nähe zu Löwith sichtbar, der, von Heidegger kommend und sich von ihm distanzierend, menschliches Geschehen in seinen sozialen Beziehungen und Interaktionen und nicht im Dasein an sich zu bestimmen suchte. Vgl. Olsen, Niklas, Reinhart Koselleck, Karl Löwith und der Geschichtsbegriff, in: Dutt / Laube, Sprache und Geschichte, S. 236–55, hier S. 244; Löwith, Karl, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen. Ein Beitrag zur anthropologischen Grundlegung der ethischen Probleme, München 1928. Olsens Verweis auf die Bedeutung Löwiths ist richtig und wichtig, und bisher nicht systematisch untersucht, auch war das Verhältnis zwischen beiden trotz der Gemeinsamkeiten in bestimmten Themen und Fragestellungen sicherlich distanzierter als etwa Kosellecks Verhältnis zu Gadamer. 127 Ein Vergleich mit den theoretischen Texten etwa von Alfred Heuss, Theodor Schieder oder Thomas Nipperdey dürfte die Sonderstellung Kosellecks in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft eher hervortreten lassen als relativieren.

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(1967) neben der Dissertation (1954 abgeschlossen, 1959 veröffentlicht) kaum andere Veröffentlichungen von ihm erschienen sind. Neben 20 Rezensionen zu Büchern aus dem thematischen Umfeld der Dissertation und der Habilitation verzeichnet die Bibliographie in diesem Zeitraum nur drei Aufsätze.128 Erst seit den späten 1960er Jahren erschienen dann die Aufsätze, die inzwischen – neben den Geschichtlichen Grundbegriffen – im Zentrum der Rezeption von Kosellecks theoretischen Bemühungen und der Diskussion über diese stehen. Über gut zwei Jahrzehnte überwiegen in den Veröffentlichungen Kosellecks schließlich die Beiträge einerseits im Umfeld der Geschichtlichen Grundbegriffe,129 andererseits zu allgemeineren geschichtstheoretischen Fragen, besonders zum Problem ›historischer Zeiten‹. Seit den frühen 1990er Jahren treten andere Themen in den Vordergrund. Hierfür dürften sicherlich mehrere Faktoren wirksam geworden sein: entscheidend war zweifellos der Abschluss des Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe.130 Aber auch die öffentlichen Stellungnahmen Kosellecks in den erinnerungspoli­ tischen Debatten seit 1989, die Kontroverse um die Neue Wache und wenig später die lange Diskussion über das Holocaust-Denkmal, wirkten für ihn als Impuls für neue Arbeitsschwerpunkte.131 Texte zum Totenkult, insbesondere die Arbeiten am geplanten Reiterbuch, sowie Interviews überwogen seitdem.132 Sowohl der zeitliche Horizont als auch die thematische Bandbreite der Veröffentlichungen Kosellecks sind zweifellos ungewöhnlich. Man kann Koselleck deshalb, wie schon erwähnt, mit guten Gründen einen Universalhistoriker nennen. Doch gründet seine universale Kompetenz nicht im Raum, sondern in der Zeit. Oder, genauer gesagt, in der Darlegung von Bedingungen für eine Reflexion über Vergangenheit im Sinne einer seit dem 18. Jahrhundert entstandenen Historie als »Geschichts­wissenschaft«. Er hat die neuzeitliche Genese von »Geschichte« als Kollektivsingular problematisiert,133 und die theoretischen Grundstrukturen dieses Denkens in historischen Kategorien zu bestimmen versucht. 128 Nach Joas / Vogt, Begriffene Geschichte, S. 559–76. Es handelt sich um die genannte Studie zur frühneuzeitlichen Kaufmannschaft in Bristol, sowie um eine Zusammenfassung wesentlicher Thesen der Habilitationsarbeit (Staat und Gesellschaft in Preußen 1815–1848, in: Conze, Werner (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, Stuttgart 1962, 79–112) und um den ersten Aufsatz zu theoretischen Fragen (Geschichtliche Prognose in Lorenz von Steins Schrift zur preußischen Verfassung, in: Der Staat 4 (1965), S. 469–481). Als einzigen weiteren Titel führt die Bibliographie drei »Wortmeldungen« im ersten Band von Poetik und Hermeneutik (1964) auf. 129 Vgl. zu den drei Herausgebern des Lexikons und ihrer Bedeutung für das Lexikon und den Beziehungen zu Koselleck die Beiträge von Wolfgang Schieder und Reinhard Blänkner. 130 1992 erschien der letzte Textband, die beiden Registerbände 1997. 131 Erst in dieser späten Phase entstanden seine Texte zu Problemen der Erinnerung, diese sind oft angeregt und auch geprägt durch die hochgradig politisierten Konflikte im Feld der öffentlichen Gedenkkultur; vgl. den Beitrag von Ulrike Jureit. 132 Viele Arbeiten sind inzwischen leicht zugänglich in den Aufsatzbänden von 1979, 2000, 2006, 2010. 133 Koselleck, Reinhart / Meier, Christian / Engels, Odilo / Günther, Horst, Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (1975), S. 593–717; die Zäsur im 18. Jh., die Koselleck betont, stellt in Frage: Sawilla, Jan Marco, »Geschichte«. Ein Produkt der deutschen Auf-

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Worin aber der Kern seiner theoretischen Überlegungen bestand, das ist weni­ ger leicht zu beantworten. Man hat es in der Begriffsgeschichte, in der ›Theorie historischer Zeiten‹, oder auch im Begriff der ›Erfahrung‹ zu verorten versucht. Die Gründe für die Unterschiedlichkeit der Antworten liegen vor allem darin, dass Koselleck keinerlei Versuche unternommen hat, ein geschlossenes Theoriegebäude zu entwickeln.134 Das drückt sich bezeichnenderweise darin aus, dass seine theoretischen Texte alle in Aufsätzen – 1965 beginnend135 – veröffentlicht wurden, die oft auf Vorträge zurückgingen. Man könnte es auch so ausdrücken: Neue Ideen zu entwickeln, reizte ihn oft mehr, als Vorhandenes systematisch auszubauen oder lehrbuchhaft zu verdichten. Den Versuch einer monographischen Zusammenfassung hat er wohl nie ernsthaft verfolgt, im Unterschied zu seinem lange gehegten Plan, eine Geschichte des politischen Totenkults zu schreiben.136 Stattdessen begann er in späteren Jahren schließlich, gedruckte und ungedruckte Texte gesammelt zu veröffentlichen. Man könnte geradezu von einer essayistischen Theoriebildung sprechen, die Koselleck seit den 1960er Jahren verfolgte, und diesen Weg hat er bis zu seinem Tod nicht mehr verlassen. Die von ihm geplanten drei Aufsatzbände sollten jeweils einem Thema gewidmet sein. Der erste dieser Bände, »Zeitschichten« (2000) schloss an 1979 erschienene Aufsätze zum Thema »Geschichtlicher Zeiten« an, die sein Renommee als Theoretiker von ›Geschichtlichkeit‹ begründet hatten und mit welchem er, auch begünstigt durch die Rezeptionswilligkeit der damaligen Zeit gegenüber »Theorie«, großen publizistischen Erfolg gehabt hatte.137 Dieser Band mit Beiträgen zu den Fragen historischer Zeiten enthielt vorwiegend Beiträge aus den 1980er Jahren, danach entstanden kaum noch Texte zu diesem Forschungsfeld.138 Zu einem zweiten Band, der seine zahlreichen Essays zur Begriffsgeschichte enthalten sollte, hat Koselleck kurz vor seinem Tod noch einige Fragmente zu einer Einleitung verfasst.139 Carsten Dutt hat aus einem dieser als Typoskripte erhaltenen Stücke rekonstruieren können, welche Aufsätze

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klärung? Eine Kritik an Reinhart Kosellecks Begriff des »Kollektivsingulars«, in: Zeitschrift für Historische Forschung 31 (2004), S. 381–428. Erste Deutungsangebote liegen inzwischen vor, einen spezifischen Kern des theoretischen Denkens zu identifizieren, etwa Epple, Angelika, »Natura Magistra Vitae«. Reinhart Kosellecks transzendentale Historik, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 201–213; in anthropologischen Kategorien bei Hoffmann, Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen. Koselleck, Reinhart, Geschichtliche Prognose in Lorenz von Steins Schrift zur preußischen Verfassung, in: Der Staat 4 (1965), S. 469–481. 1988 klagte er, zum Problem historischer Zeit habe er alles in seinen 1979 in »Vergangene Zukunft« erschienenen Aufsätzen gesagt, Tortarolo-Interview, S. 13; zum geplanten Buch über den politischen Totenkult vgl. den Beitrag von Manfred Hettling. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979; vgl. auch ders. (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1978. In diesem Band versammelte Koselleck 17 Aufsätze, einen aus dem Jahr 1972, drei aus den frühen 1990er Jahren, 14 aus den 1980er Jahren. Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz

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der Band enthalten und wie er gegliedert sein sollte. Er entspricht deshalb aller Wahrscheinlichkeit nach dem Konzept, das Koselleck für den Band vorgesehen hatte. Der geplante dritte Band mit historiographischen Studien zur Geschichte als Wahrnehmung kam nicht mehr zu Stande,140 Texte zum politischen Totenkult seit den 1970er Jahren und zu Erinnerungsfragen, die zumeist seit den späten 80er Jahren entstanden, werden demnächst in einem Band erscheinen.141 Es ist verführerisch, das Werk eines Historikers, der wie kaum ein anderer die seit dem 18. Jahrhundert entstandene ›Geschichte an sich‹ beschrieben und analysiert hat, auf einen Begriff bringen zu wollen. Gibt es innerhalb der vielfältigen Arbeiten Kosellecks einen archimedischen Punkt, von dem aus sich sein wissenschaftliches Denken analysieren lässt, gibt es einen ›Koselleck an sich‹? Die Verlockung besteht darin, in dem breit gefächerten Spektrum an Fragen, zu denen Koselleck gearbeitet hat, themenübergreifende Gemeinsamkeiten zu suchen. Nicht die Frage nach dem Sinn von Geschichte – das lehnte Koselleck als geschichtsphilosophisches Denken dezidiert ab –, sondern die nach den Bedingungen des menschlichen Handelns ›in der Geschichte‹ und des Denkens und Schreibens über Geschichte kann man als den Kern seiner theoretischen Überlegungen bezeichnen. Hierauf gründete seine ›Historik‹. Wobei zugleich einschränkend zu ergänzen ist, dass Koselleck selbst diesen Anspruch nicht explizit erhoben hat. Er wollte kein eigenes System entwickeln, daher hat er z. B. auch nie Vorlesungen über Theorie der Geschichtswissenschaft gehalten. Zum Vergleich sei auf die Droysensche »Historik« verwiesen, die aus insgesamt 17 Vorlesungen in einem Zeitraum von rund 30 Jahren entstand und als umfassende und systematische Darlegung konzipiert war und als solche in einem jahrzehntelangen Prozess der Erweiterung entstand, aber gleichwohl zu Droysens Lebzeiten unveröffentlicht blieb.142 Koselleck hat demgegenüber ein einziges Mal eine Vorlesung zur Historiographie gehalten, in seiner Bielefelder Zeit (im Sommer 1984). Seine essayistische ›Historik‹ oder, wenn man es vorsichtiger formulieren will, seine Überlegungen zu Bedingungen von Geschichtsschreibung als Vergegenwärtigung vergangenen Geschehens, sind in den Aufsätzen in einer Vielfalt von einzelnen Problemanalysen entstanden. Aus ihnen lassen sich jedoch typische Muster und Figuren seines historischen Denkens erschließen. Den umfangreichen Aufsatz über »Erfahrungswandel und Methodenwechsel« kann man als eine Art Quintessenz seiner Überlegungen zur Historie als Erfahrungswissenschaft verstehen. Er analysiert in einem sowohl historiographischen wie geschichtstheoretischen Überblick die Verschränkungen zwischen gelebter Erfahrung, daraus resultiesowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2006. 140 In Umrissen erkennbar wird das, was Koselleck hier im Sinne hatte, in dem von Carsten Dutt zusammengestellten Band: Koselleck, Reinhart, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Frankfurt a. M. 2010. 141 Herausgegeben von Manfred Hettling und Hubert Locher. 142 Droysen, Johann Gustav, Historik, Historisch-kritische Ausgabe hg. v. Peter Leyh und Horst Walter Blanke, 4 Bde. In 5 Teilen, Stuttgart 1977–2019.

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render historischer Erkenntnis und deren möglicher Übertragbarkeit durch von den Erfahrungen ablösbare Methoden. Doch scheint ihn in späteren Jahren eine ausführliche Längsschnittanalyse verschiedener Formen historischen Denkens in der Historiographiegeschichte intellektuell mehr gereizt zu haben, als systematisch eine eigene Historik zu erarbeiten. Diesen in einem Interview artikulierten Gedanken, eine »Geschichte der Geschichtsschreibung« zu schreiben, hat er indes nicht mehr realisiert.143

VI. Der Utopie auf die Schliche kommen Koselleck hat wiederholt geäußert, dass die Kritik an jeglichem Versuch, der »Geschichte« (im Sinne des vergangenen Geschehens) einen immanenten Sinn zuzuschreiben, eine Art Urimpuls für seine Beschäftigung mit der Historie bilde. Dieses Motiv zieht sich durch sein Werk über alle thematischen und zeitlichen Verschiedenheiten hinweg. Von der Zeit der Dissertation an kann man Selbstäußerungen Kosellecks aneinanderreihen, in denen er seine Kritik an den Geschichtsphilosophien der Gegenwart artikulierte und die seit dem 18. Jahrhundert entstehende ›Geschichte an sich‹ und die daran gebundenen Geschichtsphilosophien kritisch analysierte. Das sei im Folgenden an fünf beispielhaften Äußerungen ausführlicher dargelegt, weil sich das gleichsam wie ein roter Faden durch seine Arbeiten zieht. Die konsequente Zurückweisung geschichtsphilosophischer Gewissheiten hinderte ihn nicht, nach Voraussetzungen für geschichtliches Handeln zu fragen. Kosellecks Antwort lag nicht in der Beschreibung von Regelmäßigkeiten, nicht in der Suche nach kausalen Erklärungen, sondern im Versuch, die Voraussetzungen für das jeweils zu analysierende Handeln in konkreten historischen Konstellationen genauer zu bestimmen. Diese ließen sich als gegebene Bedingungen durch den Historiker ex post bestimmen, ohne dabei die Offenheit der Handlungsmöglichkeiten der Zeitgenossen auszublenden. In der Vielfalt dieser zeitlichen Relationen, in den unterschiedlichen Zeitschichten der Bedingungen ist das Spezifische der Koselleckschen Historik enthalten. Das sei anschließend erläutert. Januar 1953. Die Niederschrift seiner Dissertation war im Endstadium, als Koselleck nach einem ersten Besuch bei Carl Schmitt in Plettenberg diesem einen langen Brief schrieb. In ihm stellte er sein Suchen nach einer »Geschichtsontologie« dar als ein Mittel gegen jegliche Geschichtsphilosophie. Was er unter Geschichtsontologie verstand, erläuterte Koselleck Schmitt gegenüber nicht; in späteren Jahren verschwand der Begriff Geschichtsontologie aus seinem Vokabular. Stattdessen verwendete er den ebenfalls philosophisch gesättigten Begriff »Geschichtlichkeit«. Er fragte nun nach dem Ursprung von Geschichte (an sich). Sein Interesse richtete sich, so Koselleck an Schmitt, »auf die Strukturen einer Situation, ohne die es so 143 Koselleck, Tortarolo-Interview, S. 16.

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etwas wie Geschichte gar nicht gibt«.144 Das wird in mehreren Wendungen erläutert, die an Heideggers explizit genanntes Buch »Sein und Zeit« angelehnt sind.145 »Geschichtlichkeit« war in den 1950er und 1960er Jahren ein von Koselleck häufiger verwendeter Begriff,146 der in späteren Zeiten aber auch wieder verschwindet. An seine Stelle tritt der Verweis auf das Problem ›historischer Zeiten‹ als genuinem Kern der Geschichtswissenschaft, die in seinen Augen hierüber aber kaum eine hinreichende Selbstbestimmung und theoretische Reflexion anzubieten habe. 144 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 11 f. Im Nachlass Kosellecks befindet sich ein Konvolut mit Notizen und Exzerpten zu »Geschichtlichkeit«, das wohl eher in früheren als in späteren Jahren entstand. In diesem findet sich ein knapper Definitionsversuch von »Geschichtlichkeit«, der noch durch die kategoriale Abstraktheit der Philosophie geprägt ist und dem die Konkretheit und historisch-empirische Rückbindung, und dadurch auch Anschaulichkeit, der Koselleckschen Aufsätze abgeht: »Alle menschlichen Handlungen + Taten, Gedanken + Pläne und die seelischen Haltungen, kurz die Existenz unterliegt immer bestimmten Brechungen, die erst den Menschen als Menschen konstituieren. Eine Brechung ist zB die Geschichtlichkeit, der die Generationsproblematik entspringt. Man entrinnt niemals der Unmöglichkeit, mit den Eltern, und damit auch im weiteren Sinne, den Älteren, auf gleich + gleich zu kommunizieren. Die Begriffe sind a priori verschieden. Frage: wieso? Zeit + Ort sind nicht zureichende Gründe: zur gleichen Zeit und zum gleichen Ort sind dennoch gleiche Aussagen nicht ein und dasselbe. Denn die Generationen zeigen sich dabei als ein Apriori. Lehrer und Schüler sind Derivationen eines Urphänomens. Vielleicht ist es anders in primitiven Gesellschaften, die durch die Transzendenz der Kultur + Riten persönlich dem Generationsproblem entgehen, da die Generation schon aufgehoben ist in bestimmter Kultur. Vielleicht ist Geschichte erst dort möglich, wo der Mensch so frei ist, daß er die Generationsfragen selber zu bestimmen sich anschicken muß (gar nicht nötig, von ›Anmaßung‹ zu sprechen).« DLA Marbach, NL Koselleck, Konvolut: Materialien zum Begriff Geschichtlichkeit, ohne Datum (Unterstreichungen i.O.). 145 »Die Geschichte ist dem Menschen nicht transzendent, weil sie weitergeht, wenn dieser oder jener Mensch stirbt, sondern es durchherrscht eine Endlichkeit die menschlichen Dinge, die den Geschichtsraum, der den jeweiligen Menschen zugeordnet ist, dauernd in Frage stellt«; ebd. S. 12. Bei Heidegger lautet die Formulierung: »Die Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins versucht zu zeigen, dass dieses Seiende nicht ›zeitlich‹ ist, weil es ›in der Geschichte steht‹, sondern dass es umgekehrt geschichtlich nur existiert und existieren kann, weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist«; Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 1979, S. 376. Im Kapitel »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit«, aus dem diese Passage stammt, verweigert sich Heidegger auch der falschen Alternative von individuellen Begebenheiten oder Gesetzen als Gegenstand der Historie. Stattdessen postuliert er »faktisch existent gewesene Möglichkeit(en)« als Thema der Geschichte; die Historie solle »das Mögliche zum Thema haben«; ebd., S.394 f.; vgl. weiterführend dazu den Beitrag von Steffen Kluck und Richard Pohle. 146 Dazu die Sammelbesprechung in: NPL 6 (1961), S. 577–588. Obwohl es sich um eine Rezension handelt, skizziert Koselleck darin eigenständig einige Grundfragen der Geschichtswissenschaft in einer doppelten Abgrenzung sowohl gegen den tradierten Historismus als auch den historischen Materialismus. Aufgegriffen und gelesen als theoretische Skizze hat das anscheinend nur Taubes, Jacob, Geschichtsphilosophie und Historik. Bemerkungen zu Kosellecks Programm einer neuen Historik, in: Koselleck, Reinhart / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.), Geschichte – Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 490–503.

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Knapp zwei Jahrzehnte später konstatierte Koselleck als Antwort auf die Frage »Wozu noch Historie?«, dass »Geschichtlichkeit« im Sinne einer historischen Dimension alle Wissenschaften kennzeichne, weshalb sich die Historie durch einen bloßen Verweis auf diese nicht von anderen Wissenschaften unterscheiden könne, erst recht nicht, wenn die Geschichte Methoden und Theorien von anderen Wissenschaften übernehme. Seit den 1970er Jahren betonte Koselleck dann die Notwendigkeit einer »Theorie historischer Zeiten«, um die Geschichtswissenschaft von anderen Sozialwissenschaften abgrenzen und ihr ein eigenes disziplinäres Fundament sichern zu können.147 Das jedoch blieb ein Postulat, eine Theorie historischer Zeiten hat Koselleck nicht entwickelt. Ob er sie nicht (mehr) schaffen wollte, ist unsicher, ob sie gemäß seiner Entwürfe und Annahmen vielleicht gar nicht entstehen konnte, mag man unterschiedlich beurteilen.148 Oktober 1953. Im erwähnten Lebenslauf, den der Doktorand Koselleck bei der Abgabe seiner Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Heidelberg im Herbst einreichte, erklärte er, dass ihn sein Studium auf die »philosophische Problematik aller Geschichtswissenschaft« geführt habe, nämlich »auf die Frage nach den Voraussetzungen von Geschichte überhaupt«. Dabei habe er »ständig das Thema einer Ontologie der Geschichte im Auge« gehabt. Explizit fügte er hinzu, »den utopischen Charakter der herrschenden Geschichtsphilosophien aufzudecken, war mein leitender Gedanke«.149 Obwohl er sich Mühe gab, sich als Historiker zu präsentieren, waren seine Anfänge eindeutig durch die Philosophie bestimmt. Sowohl die Lektüren als auch die Seminare, die der Student Koselleck besucht hatte, waren überwiegend philosophische.150 April 1961. Koselleck erläuterte einem engen Freund seiner Eltern in einem Brief, was von Spenglers »Untergang des Abendlandes« zu halten sei. Er wandte sich in dem Brief gegen die Idee irgendeiner inneren Logik der Geschichte. Zwar verteidigte er einerseits Spengler gegen die Mehrheit der Zunftkritiker, die seiner Meinung nach bloß faktologisch argumentierende Historiker seien. Andrerseits rechnete er sich selber jener kleinen Gruppe kritischer Stimmen zu, die über 147 Koselleck, Reinhart, Wozu noch Historie, in: HZ 212 (1971), S. 4, 13, 15. 148 Vgl. Fisch, Jörg, Reinhart Koselleck und die Theorie historischer Zeiten, in: Dutt / Laube, S. 48–64, der argumentiert, dass es eine umfassende Theorie historischer Zeiten im Sinne Kosellecks nicht geben konnte, dass Koselleck im Grunde auch mehr an Wandel, an Bedingungen des historischen Wandels interessiert gewesen sei. Unstrittig aber dürfte sein, wie grundlegend die Frage von Zeitlichkeit und heterogenen Zeitbeziehungen für Kosellecks Arbeiten auf unterschiedlichen Gebieten waren; vgl. etwa nur Dipper, Christof, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. Zur Theorie der historischen Zeiten, in: HZ 270 (2000), S. 281–308; Jordheim, Helge, Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2012), S. 151–171; Fusero, Diego, L’orizzonte in movimento. Modernità e futuro in Reinhart Koselleck, Bologna 2017. 149 Koselleck, Lebenslauf. 150 Koselleck, Tortarolo-Interview, S. 11.

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Spenglers Unkenntnis im historischen Handwerk »galant« hinwegsähen, um jedoch seine geschichtsphilosophischen Prämissen in Frage zu stellen. Dadurch könne man ihn von seinen eigenen Voraussetzungen her in Widersprüche zur »Geschichtlichkeit« verwickeln. Wirklichkeit sei immer unvollendet, Spenglers Begriff der »Gestalt« sei eine unfruchtbare Kategorie historischer Betrachtung, und der Begriff des »Werdens« werde bei ihm nicht geschichtlich verstanden, sondern biologisch. »Die Zeitlichkeit der Geschichte«, so Koselleck, »verhindert Endgültigkeiten, die zu einer Gestalt sich verdichten, selbst wenn der Historiker ex post solche Gestalten zu finden sucht.« Geschichte vollziehe sich »nicht gemäß einer inhärenten Logik, sondern in steter Auseinandersetzung mit anderen Kräften, Tendenzen, Subjekten«. Doch sei es ein Dilemma der Historiographie, dass sie »noch nie selbständig Kategorien aus der Geschichte abgeleitet hat, die dieser entsprechen. Immer hat sie Anleihen bei anderen oder bei der Philosophie gemacht.« Selten sei die Geschichtsschreibung auf die Höhe »geschichtlicher« Reflexion gelangt, so der damals 38-Jährige selbstbewusst. Drei Namen nennt er, denen das seiner Meinung nach gelungen sei. Tocqueville billigte Koselleck diese Reflexionshöhe uneingeschränkt zu, Jacob Burckhardt habe sie »z. T.« erreicht, »gelegentlich – mehr zufällig – Ranke«. Begriffe anderer Wissenschaften könnten zwar verdeutlichen, aber eben nie »geschichtliche Phänomene als solche« in den Blick bekommen.151 In dieser Argumentation zeichnete sich schon eine Differenz zu dem wenige Jahre später aufkommenden Programm ab, Geschichtswissenschaft als ›historische Sozialwissenschaft‹ zu verstehen. Kosellecks Distanz dazu ergab sich keineswegs aus der Verweigerung methodischer und theoretischer Erweiterungen, schon gar nicht gegenüber der Soziologie oder der Politikwissenschaft.152 Er insistierte vielmehr darauf, dass eine Verschiebung des Selbstverständnisses von Geschichtswissenschaft als einer Geisteswissenschaft in enger Anlehnung an die Philologien hin zu einer Umorientierung zu den Sozialwissenschaften – bis hin zu einer »Fusion zu einer historisch-kritischen Sozialwissenschaft«153 – die von ihm ins Auge gefasste und in seinen Augen absolut notwendige Reflexion über das genuin Geschichtliche der Historie und deren Theoriebedürftigkeit nicht einlösen könne. Als Beispiel sei nur verwiesen auf eine Spöttelei, mit der er in den achtziger Jahren Bielefelder Studenten gerne deren Forderung nach ›mehr Sozialgeschichte‹ und nach ›mehr Theorien‹ begegnete. Früher habe man Biographien von großen Männern 151 Reinhart Koselleck an Johannes Sippel, 25.4.1961; DLA Marbach, NL Koselleck, Konvolut Geschichtlichkeit. 152 Ganz selbstverständlich kritisierte er schon 1961, vor der Proklamation von Geschichte als »historischer Sozialwissenschaft«, dass die Selbstbeschränkung der Geschichtswissenschaft auf die philologisch-kritische Methode seit dem 19. Jh. die Absetzung von der Politologie und Soziologie und deren Methodenspektrum forciert habe, »auf Kosten aller Bereiche«; Koselleck, Reinhart, Im Vorfeld einer neuen Historik, in: Neue Politische Literatur (4) 1961, S. 578–583, hier, S. 578. 153 Wehler, Hans-Ulrich, Geschichte als Historische Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1973, S. 34.

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geschrieben, so Koselleck, jetzt schreibe man über Klassen, als ob es große Individuen, als ob es Handlungssubjekte seien; theoretisch sei das kein Unterschied. Hinzu kam eine weitere Grenzziehung zur Geschichte als historischer Sozialwissenschaft. Koselleck trennte strikt zwischen politischen Wertsetzungen und »den theoretischen Vorgaben, unter denen wir unsere Vergangenheit zu betrachten haben«, so in einem Brief an Wolfgang J. Mommsen 1988. Er teile zwar – politisch – die Normen des westlich-liberalen Verfassungsstaates, aber daraus ließen sich keine theoretischen Folgerungen ableiten. Damit könne man auch der vergleichsweise »primitive(n) Theorie möglicher Machtgeschichte« à la Treitschke und Sybel theoretisch nichts entgegensetzen.154 Ein nur politisches Entgegentreten, so implizit sein Argument, sei keine theoretische Widerlegung, sondern bleibe letztlich ebenso ideologisch wie die Position der Kritisierten. Dem entsprach, dass sich Koselleck in öffentlichen Debatten zu historisch-politischen Fragen sehr zurückhaltend verhielt, etwa im Historikerstreit Mitte der 1980er Jahre. Umso mehr sticht deshalb seine kontinuierliche Intervention in den erinnerungspolitischen Kontroversen seit den 1990er Jahren hervor.155 Juli 1978. In einem Brief an Carl Schmitt, auf ein Gespräch über die Unterschiede von Utopie und Eschatologie Bezug nehmend, erklärte Koselleck, »die rationale Anerkennung des Feindes« sei »die einzige Einstellung in der Politik, die nicht utopisch sein kann«. Und, auf die Zeit nach 1945 anspielend, ergänzte er, wohl die eigene Einstellung verallgemeinernd, »nach dem Kriege zielte die ganze Anstrengung der Heimkehrer auf eine nicht utopische Politik, deren Vorbild jenseits des Nationalsozialismus zu finden sei«. Und er fragte, den Bogen wieder zur Gegenwart spannend, »wer bietet Schutz vor den weltweiten Erlösungsversprechungen, deren Folgen vorhersehbar sind«? Koselleck gab damit wohl seine eigene Ansicht wieder, denn er ergänzte sofort, dass diese Fragen für ihn aktuell seien, seit er begonnen habe, sie im Gespräch mit ihm und »mit meinem Lehrer« Johannes Kühn zu stellen.156 Schmitt würdigte er mit dieser Wendung zwar als wichtigen Gesprächspartner, zugleich markierte er dessen begrenzten Einfluss auf ihn, indem er Kühn explizit als ›seinen‹ Lehrer bezeichnete.157

154 Reinhart Koselleck an Wolfgang J. Mommsen, 26.9.1988, in DLA Marbach, NL Koselleck, Briefe. Koselleck dankte Mommsen für die Zusendung von Schriften, die zitierte Passage bezieht sich auf Mommsen, Wolfgang J., Die Deutschen und ihre Nation. Geschichtsschreibung und politisches Bewusstsein in der Bundesrepublik (als Aufsatz 1987), wiederabgedruckt in ders., Nation und Geschichte, München 1990, S. 119–143, und spiegelt Problemstellungen des Historikerstreits der Jahre zuvor wider; vgl. dazu und zu Kosellecks Position im Historikerstreit Dunkhase, Jan Eike, Eine versteckte Stellungnahme von 1986, in: ders., Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existenzialismus, Marbach 2015, S. 9–20. 155 Vgl. dazu den Beitrag von Ulrike Jureit. 156 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 330, Koselleck an Schmitt, 25.7.1978. 157 In seinem Brief vom 24.3.1954 an seinen Vater hatte er freilich auch schon einmal Carl Schmitt als seinen »geistigen Lehrer« bezeichnet; Familienarchiv Koselleck.

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November 2004. In der Dankesrede anlässlich der Feier zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg bekundete Koselleck, »das erste, und wie schon gesagt durchgängige Motiv meiner historischen Analysen war: Der Utopie auf ihre Spur und auf ihre Schliche zu kommen […], ihre Geschichtsverlogenheit aufzudecken«.158 Dahinter habe seine ganz persönliche Erfahrung gestanden, »Politik ist machbar, Geschichte nicht«. In der zeitlich gedrängten Abfolge von vier Herrschaftssystemen (Weimar, Nationalsozialismus, Sozialismus, westliche Besatzungszone / Bundesrepublik) habe er »immer eine neue und eine andere Utopie« kennengelernt, die jeweils den Geschichtsverlauf als sichere Vollstreckung der jeweiligen Willensbildung beschrieben habe. Hinter der »aus der eigenen Erfahrung abgeleiteten Fragestellung« habe er zwar einmalige Vorgänge analysiert, aber in ihnen Strukturen von Denk- und Verhaltensweisen gesucht, die »nicht ontologisch festzuschreiben wären, aber doch Wiederholung ermöglichen«.159 Man könnte nun in einem einfachen Rückschluss seine biographischen Erfahrungen in den politischen Bruchzonen seit den 1930er Jahren zu Voraussetzungen der theoretischen und methodischen Erkenntnisse machen, und damit seinen Aufsatz über »Erfahrungswandel und Methodenwechsel« gewissermaßen als Deutungsschlüssel zur historischen Erkenntnis Kosellecks benutzen. Allein, zu den methodischen Regeln Kosellecks gehört allerdings auch, davon auszugehen, »dass immer alles anders war als gesagt« und dass »alles immer anders ist als gedacht«.160 Nimmt man diese Warnungen ernst, verbieten sich einfache Rückbindungen Kosellecks und seines theoretischen Programms an seine Lebenserfahrungen. Das Sichtbarmachen von Erfahrungen kann verdeutlichen, welche Fragen sich im Lebenslauf aufdrängten, es kann erhellen, welche intellektuellen Impulse in diesem sowohl typischen wie ungewöhnlichen Lebensweg zusammenkamen. Aber letztlich bilden die Erfahrungen bestenfalls eine Bedingung der Ermöglichung von Kosellecks Historik, sie bieten keine hinreichende Erklärung. Und, kann man hinzufügen: es wäre auch zu einfach, einen Autor wie Koselleck nur auf einen Aspekt, nur auf die Utopiekritik oder auch die Gewalterfahrung von Krieg und Gefangenschaft, ausrichten zu wollen.

VII. Bedingungen möglicher Geschichten Blickt man auf die Erkenntnisse, die Koselleck als Historiker aus seinen geschichtlichen Erfahrungen entwickelt und als Antworten auf die Herausforderungen seiner Zeit verstanden hat, lohnt die Frage nach möglichen Kontinuitäten, Geschichte zu denken. Auch wenn er keine Systematik entwickelt hat und keine eigene Schule 158 Vgl. den Beitrag von Reinhard Mehring. 159 Koselleck, Reinhart, Dankrede am 23. November 2004, in: Weinfurter, Reinhart Koselleck, S. 33–60, hier S. 58 f. 160 Über Krisenerfahrungen und Kritik. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Thomas Martin, in: FAZ 13.1.2010, N 4.

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bilden wollte, findet man in seinen Texten gewisse Konstanten hierfür. Daraus lassen sich, so unsere Annahme, Kernelemente von Kosellecks Historik ansatzweise benennen. Unsere These lautet, dass sich trotz gewisser Modifikationen seine Grundgedanken im zeitlichen Verlauf zwar erweitert, aber nicht grundsätzlich verändert haben. Seine Frage nach den Bedingungen des Handelns in der Geschichte sowie die nach der erzählenden Historie blieb bei ihm vorherrschend, und mancher Gedanke aus späteren Aufsätzen findet sich in rudimentärer Form bereits in sehr frühen Texten.161 Kosellecks Historik ist in einer doppelten Frontstellung entstanden. Zum einen richtete sie sich gegen einen reduzierten Historismus und gegen eine Selbstbescheidung historischer Erkenntnis im Gefolge der Krise des Historismus, welche jede historische Aussage unter dem Gebot ihrer unvermeidlichen Relativierung betrachtet hatte.162 Das habe zwangsläufig einen Bedeutungsverlust der Historie nach sich gezogen. Wenn alles relativiert werde, alles überholbar sei, könne Vergangenes nur antiquarisch dargestellt werden. Oder die Geschichtswissenschaft flüchtete sich in einen sozialwissenschaftlichen Methodenkanon, wie das in den bildungspolitischen Reformphasen der 1970er Jahre geschah, mit der Gefahr der Auflösung ihrer disziplinären Eigenheit. In Verteidigung der gesellschaftlichen Bedeutung von Geschichte als Wissenschaft erfuhr Koselleck eine breite Anerkennung in und außerhalb der Wissenschaft.163 Die zweite – für ihn prägendere – Frontstellung bestand in der Abgrenzung gegenüber geschichtsphilosophischen Denkmustern, die eine zentrale Grundlage jeder säkularen Utopie bildeten. Nicht die permanente Relativierung historischer Urteile, sondern die geschichtsphilosophische Konstruktion von bestimmten Richtungen des Geschehens sowie die Behauptung eines teleologischen Ordnungsanspruches im historischen Geschehen waren der Grund für seine Ablehnung. Koselleck stellte sich die Aufgabe, Analysemöglichkeiten vergangenen Geschehens zu schaffen, die sich weder auf die bloß philologischen oder auf die von den Sozialwissenschaften übernommenen Methoden beschränkten, noch ihr Heil in geschichtsphilosophischen Annahmen und ideologischen Gewissheiten suchten. Um noch einmal seinen Brief von 1961 über Spengler zu zitieren: er verwarf dessen Bemühen, Geschichte in eine bestimmte »Gestalt« zu bringen, weil das eine für

161 Als Beispiel sei erwähnt, dass die berühmte Formulierung vom Vetorecht der Quellen sich gedanklich bereits viel früher findet, und zwar in einem Kommentar zu Ahasver von Brandts »Werkzeug des Historikers«: Die Geschichtswissenschaft »stelle jene Richtigkeitsgrade im Quellenmaterial fest, die den Spielraum überhaupt möglicher Aussagen und Urteile begrenzen. Die philologisch-kritische Methode bestimmt nicht das historische Urteil, aber begrenzt es und macht es damit überprüfbar.« Koselleck, Vorfeld, S. 587. 162 Zu Kosellecks Selbstverortung in einem reflektierten Historismus vgl. den Beitrag von Peter Tietze. 163 Koselleck, Wozu noch Historie; später Frühwald, Wolfgang u. a., Geisteswissenschaften heute, Frankfurt a. M. 1991.

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die historische Betrachtung unfruchtbare Kategorie sei. Denn »die Zeitlichkeit der Geschichte verhindert Endgültigkeiten, die zu einer Gestalt sich verdichten«.164 Der Historiker konstruiere dieselben nur ex post, wenn er sie in der Geschichte suche. Und, könnte man ergänzen, er projiziert nur geschichtsphilosophisch zu gewinnende Ansichten auf das historische Material und präsentiert das Ergebnis dieser Projektionen als historische Einsichten. Koselleck entwarf stattdessen ein dynamisches Handlungsmodell: »Geschichte ist immer intersubjektiv, und selbst wenn es historische Subjekte geben sollte – seien es Persönlichkeiten oder Institutionen wie der Klerus oder der Generalstab oder das englische Parlament oder die zentralistisch gesteuerte kommunistische Partei, – selbst dann vollzieht sich Geschichte gerade nicht gemäß einer inhärent angelegen Logik, sondern in steter Auseinandersetzung mit anderen Kräften, Tendenzen, Subjekten. Das spezifisch Geschichtliche liegt sozusagen immer ›dazwischen‹.«165 Das menschliche Handeln war damit für Koselleck durch keine innere Logik, keine Kausalitäten geregelt. Ebenso blieb für ihn erzählende oder argumentierende Geschichte in den Mustern des Historismus oder der Geschichtsphilosophie gefangen, wenn sie Epochen als mehr oder weniger gefestigte Einheiten beschreibt oder Entwicklungen in Prozesskategorien fasst. Wenn aber das spezifisch Geschichtliche immer ›dazwischen‹ liegt, was genau heißt das? Kosellecks Historik unterschied sich von allen materialistischen oder sozialhistorischen Theorie­ angeboten darin, dass sie nicht auf ökonomische oder soziale Bedingungen zielte. Diese negierte Koselleck zwar nicht, wie er ja bereits früh eine enge Zusammenarbeit mit der Soziologie begrüßte, doch er fragte nach der besonderen ›Geschichtlichkeit‹, die er in relationalen Dimensionen verortete. Diese aber unterschied er nicht primär nach Teilbereichen (Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Kultur etc.), sondern hinsichtlich ihrer zeitlichen Bedingungen, Strukturen und Wirkungen. Von Heidegger zwar angeregt, was er nie verbarg, löste er sich aber zugleich von dessen existenzialontologischen Erklärungen des Problems der ›Geschichtlichkeit‹ und eröffnete der Geschichtswissenschaft die Möglichkeit, ein differenzierteres Verständnis zeitlicher Heterogenitäten und Dynamiken jenseits linearer Abfolgen und Entwicklungslogiken zu beanspruchen. Der einzige Text Kosellecks, der im engeren Sinne als Darstellung einer historischen Epoche anzusehen ist, veranschaulicht dieses Verfahren. Es handelt sich um eine Darstellung der europäischen Reaktionszeit nach 1815 in der »Fischer Weltgeschichte« (1969). Analytisch in der Argumentation und anschaulich in der Darstellung lebt der Text zugleich von Kosellecks charakteristischem Stil. Koselleck beginnt seinen Teil über die »Restauration und ihre Ereigniszusammenhänge« (1815–1830) mit dem Satz: »Mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 und mit der Rechtsgleichheit der napoleonischen Gesetzbücher war ein 164 Brief 1961 an Sippel. 165 Ebd; auch das erinnert an Heidegger, den Koselleck in der Festrede für Gadamer charakterisiert mit Hilfe des für jenen »zentralen Oppositionspaares«, »Geworfenheit« (Geburt) und »Vorlaufen zum Tode« (Sterben müssen); Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 101.

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Rahmen gespannt worden, den sozial und politisch auszufüllen eine Aufgabe der Zukunft blieb.«166 Mit der an die Interpretation des Allgemeinen Landrechts im Preußenbuch erinnernden Formulierung167 entwirft er einen Spannungsbogen, der zeitlich vor die Restaurationsära zurückgreift und zugleich über sie hinausführt, und dabei rechtliche, soziale und politische Dimensionen eröffnet. Es handelt sich sozusagen um ein mehrfaches »Dazwischen« in einem Satz. Dieses aber richtet das Augenmerk nicht auf die Unterscheidung von Recht, Politik, Wirtschaft usw., sondern auf die zeitliche Inkongruenz von Strukturen und Handlungen in Teilsegmenten der Wirklichkeit. Eine derartige Historie endet dann geradezu zwangsläufig nicht mit einer epochalen Festlegung oder einem systematischen Ergebnis, sondern mit der Darstellung eines sich verändernden Spannungsgefüges. Die Verfassungsrevisionen und -konflikte hebelten in der Restaurationsära, so Koselleck, die herkömmliche Trennung in Innen- und Außenpolitik aus, die europäische Konfliktlage wurde dadurch eingegrenzt, weil sie »weltpolitisch überholt« wurde.168 Den Grundgedanken, eine Epochendarstellung durch die Analyse unterschiedlicher Spannungen und Dynamiken aufzulösen, die sich durch Heterogenitäten in ihrer Zeitlichkeit und den daraus resultierenden, permanent verändernden Bedingungen für die Zeitgenossen ergeben, findet man später in seinem Vortrag über das 19. Jahrhundert als »Übergangszeit« systematisch entwickelt.169 Das ›Dazwischen‹ − zwischen den vielfältigen Zeitschichten ebenso wie zwischen Kräften, Tendenzen, Subjekten – umreißt somit den Rahmen, in welchem jeweils spezifische Bedingungen für Handlungen historisch angelegt sind. Bis in die 1970er Jahre hat Koselleck das unter dem Begriff ›Geschichtlichkeit‹ beschrieben und analysiert, seither dann vorwiegend unter dem Aspekt der ›Zeitlichkeit‹, mit dem Verweis auf unterschiedliche ›Temporalstrukturen‹, die für ihn zugleich den genuinen Kern der Historie als Wissenschaft bildeten. Historik in Kosellecks Verständnis ist eine Theorie der Geschichte, die nicht das empirisch zu ermittelnde Ergebnis vergangener Geschichten untersucht (wie war es? warum war es?), sondern gleichsam auf einer Metaebene nach den »Bedingungen möglicher Geschichten« fragt.170 Dabei untersuchte er in den Aufsätzen der 1970er und 1980er Jahre vor allem die Temporalstrukturen, die er einer »Theorie historischer Zeiten« zu Grunde legte. An zwei Texten, in denen Koselleck das ausführlicher und grundsätzlicher behandelt hat, an seiner Festrede auf Hans-Georg Gadamer und in seinem Beitrag 166 Bergeron, Louis / Furet, François / Koselleck, Reinhart, Das Zeitalter der europäischen Revolutionen 1780–1848, Frankfurt a. M. 1969; Koselleck verfasste den Teil zur Restauration, zur Agrarverfassung, zur Julirevolution und über Grundstrukturen der bürgerlichen Welt, S. 199–320 (Zitat S. 199). 167 Vgl. den Beitrag von Monika Wienfort über Kosellecks Analyse des Rechts am Beispiel Preußens. 168 Koselleck, Restauration, S. 229. 169 Gedruckt erst 2010: Koselleck, Reinhart, Das 19. Jh. – eine Übergangszeit, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 131–50. 170 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 99.

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zur postumen Festschrift für Werner Conze,171 sei das hier dargestellt. In den jeweiligen Adressaten werden dabei auch die prägenden Impulse zum einen durch die Philosophie und zum andern durch die Geschichtswissenschaft in seiner Zeit in Heidelberg sichtbar. In beiden Texten betont er die Unterschiede von sprachlichen und nichtsprachlichen Bedingungen von Geschichte. An Gadamer gewendet lenkt er die Aufmerksamkeit auf die vorsprachlichen Bedingungen, an Conze gewendet auf die Gemeinsamkeiten und die Analogien in den theoretischen Begründungen von Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, wobei er betont, dass sie letztlich aufeinander angewiesen seien. Grundvoraussetzung für Koselleck ist die »Differenz zwischen Handeln und Reden«.172 Gesellschaftliche Beziehungen und Konflikte wie deren sich ändernde Voraussetzungen seien nie deckungsgleich mit den sprachlichen Artikulationen, in denen sie zum Ausdruck kommen. Weder hole das sprachliche Begreifen ein, was geschehen ist, noch geschieht etwas, was sich nicht durch die sprachliche Verarbeitung bereits verändere. Deshalb stünden Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte in einer theoretisch bedingten Spannung zueinander. Sie verweisen aufeinander, und durch diese Spannung und die daraus resultierende Dynamik ändere sich Wirklichkeit permanent – und, darin gründet das, was Koselleck bis in die 60er Jahre ›Geschichtlichkeit‹ nannte. »Geschichte geht weder in der Weise ihres Begreifens auf, noch ist sie ohne dies denkbar.«173 Vielen seiner Kollegen in der Geschichtswissenschaft warf er mangelnde sprachliche Selbstreflexion über die wissenschaftlichen Grundbedingungen vor, »was zur grassierenden Naivität vor allem der sogenannten Sozialhistoriker entschieden« beitrage. In gewisser Weise könne man sogar sagen: »Denn sie wissen nicht, wovon sie sprechen«.174 Er diagnostizierte damit bei den Verfechtern einer ›kritischen Geschichtswissenschaft‹ eine mangelnde Kritikfähigkeit. Denn der Anspruch auf selbstkritische Reflexion werde nicht eingelöst, wenn man die sprachlichen Voraussetzungen des eigenen Denkens nicht reflektiere. Doch seien auch die angelsächsischen Anhänger des linguistic turn vergleichsweise naiv, »weil die sprachliche Selbstemanation historischer Konstellationen gleichsam als objektive Gegebenheit festgeschrieben wird«. Indem er die Vernachlässigung der sprachlichen Bedingungen ebenso kritisierte wie die Ausblendung nichtsprachlicher historischer Konstellationen, verwies er einmal mehr auf die Relationen und gegenseitigen Angewiesenheiten im ›Dazwischen‹. Koselleck betonte stets, es bleibe bei der Differenz zwischen der sich ereignenden Geschichte und ihrer sprachlichen Ermöglichung, auch in der nachträglich er171 Ebd., 1985 als Vortrag zu Gadamers 85. Geburtstag, 1987 gedruckt; Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in der postumen Festschrift für Werner Conze veröffentlicht. Vgl. Schieder, Wolfgang / Sellin, Volker (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. I, Göttingen 1986, S. 89–109. 172 Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, S. 107. 173 Ebd. S. 93. 174 Reinhart Koselleck an Christof Dipper, 25.4.2000; wir danken Christof Dipper für eine Kopie dieses Briefes.

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zählten Geschichte. Deshalb müsse es über die sprachlichen Bedingungen hinaus weitere Vorgaben geben, die Ereignisse ermöglichen. Für die Historie, als erzählte Geschichte, werde aber diese analytische Unterscheidung (sprachlich-vorsprachliche Voraussetzungen) zu einer anthropologischen Vorgabe; denn vergangenes Handeln werde nur noch durch Sprache, durch Rede oder Schrift, erfahrbar. Ein vergangenes Ereignis ist nur noch durch sprachliche Vermittlungsleistungen erzählbar, erkennbar, erinnerungsfähig. Dadurch erlange der anthropologische Vorrang der Sprache für die Historie als der Darstellung der geschehenen Geschichte einen erkenntnistheoretischen Status, denn »sprachlich muss entschieden werden, was in der vergangenen Geschichte sprachlich bedingt war und was nicht«.175 In der Bestimmung der Historik gegenüber Gadamers Hermeneutik hat Koselleck diese vorsprachlichen Bedingungen auf historisch eingrenzbare und damit konkretisierbare Zusammenhänge reduziert. Sie als anthropologische Voraussetzungen zu bezeichnen sei deshalb naheliegend, ergänzte er – ohne dass er eine ausführliche theoretische Begründung versuchte.176 Diese Differenz zwischen Handeln und Sprechen wird bei Koselleck erweitert um die Differenz zwischen Diachronie und Synchronie. Die Bedingungen, Vorgaben, Determinanten historischen Handelns sind für ihn immer in zeitlich vorgelagerten Zusammenhängen angelegt und reichen in die Gegenwart, in der die Handelnden, geleitet durch die jeweiligen Zukunftsentwürfe, agieren. So wie Handeln und Sprechen aufeinander verweisen, seien auch Diachronie und Synchronie verschränkt und ergäben ein weiteres ›Dazwischen‹. Was Koselleck in den beiden Texten, die an Conze und Gadamer gerichtet waren, theoretisch zu bestimmen versuchte, hat er in zahlreichen früheren und späteren Aufsätzen an Beispielen, an Teilaspekten, an konkreten Problemen, an empirisch zu überprüfenden, zu exemplifizierenden Konstellationen zu erläutern und zu veranschaulichen gesucht.177 Um Bedingungen und Manifestationen von ›Geschichtlichkeit‹ in historischen Analysen sichtbar machen und analysieren zu können, konstruierte Koselleck Unterscheidungen, kontrastierte er analytische Oppositionspaare, entdeckte er 175 Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, S. 97. 176 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 101. 177 So beschreibt er als »asymmetrische Gegenbegriffe« die Abfolge dreier Gegensatzpaare politisch-sozialer und religiöser Klassifikation von Menschen (Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Vergangene Zukunft, S. 211–259), analysiert er die sich seit der ›Sattelzeit‹ verändernde temporale Relation zwischen getätigten Erfahrungen und möglichen Erwartungen (›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: ebd., S. 349–375), untersucht er in den Totenkultaufsätzen die Verschiebung von sinnstiftenden zu sinnsuchenden Repräsentationsformen, beschreibt er historischen Wandel in der Unterscheidung unterschiedlicher Wirklichkeitsdimensionen mit verschiedenartigen Temporalbedingungen (Das 19. Jh. – eine Übergangszeit, in: Sinn und Unsinn, S. 131–150), betont er, dass sich die Ebenen verschiedener zeitlicher Erstreckung nicht gänzlich aufeinander beziehen lassen, und dieses ›Dazwischen‹ auch der Unterscheidung zwischen Struktur und Ereignis zu Grunde liegt, jedes Ereignis »mehr und zugleich weniger« zeitigt, als in seinen Vorgegebenheiten enthalten ist« (Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Vergangene Zukunft, S. 144–157, hier S. 151).

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Spannungsverhältnisse. Sie werden mal als anthropologische, mal als historische bezeichnet. Die Zahl variierte, es konnten drei sein (früher-später, innen-außen, oben-unten), oder auch mehr (Totschlagen können, Freund-Feind, Generativität, geheim-öffentlich, Herr-Knecht).178 Nicht die Zahl war für Koselleck entscheidend, sondern die darin sich artikulierenden »Bedingungen möglicher Geschichten«, sein ›Dazwischen‹.179 Im Laufe der 1970er und 1980er Jahren, als die meisten Aufsätze zu diesen Fragen erschienen, hat sich Kosellecks theoretische Gedankenführung über historische Zeiten ausdifferenziert. Das lässt sich an den Einleitungen zu den beiden Aufsatzbänden zu Zeitfragen verdeutlichen. Sowohl 1979 wie 2000 betonte Koselleck die Unterscheidung zwischen naturaler und geschichtlicher Zeit. In »Vergangene Zukunft« verblieb die Bestimmung der für den Historiker wichtigen Zeitaspekte bei der sprachlich greifbar werdenden Erfahrung von Zeitlichkeit, den von den Zeitgenossen explizit oder implizit thematisierten Relationen von Vergangenheit und Zukunft, letztlich von Erfahrungen und Erwartungen. In der Einleitung zu den »Zeitschichten« (2000) verwies Koselleck auf die Unvermeidlichkeit, metaphorisch über Zeit zu reden, und die Notwendigkeit räumlicher Metaphern, um Zeit zu thematisieren. Vor allem richtete er nun die Wiederholungsstrukturen in den Vordergrund, die zeitliche Mehrschichtigkeit werde für den Historiker analysierbar durch das Aufdecken unterschiedlicher Wiederholungsstrukturen.180 Im ersten Text zu Zeitfragen, über die geschichtliche Prognose bei Lorenz von Stein (1965), hatte Koselleck noch einfacher argumentiert, indem er von »Dauerstrukturen und Bewegungskräften« sprach, welche Stein »Bedingungsprognosen« ermöglichten und in denen die »Geschichtlichkeit« seines Denkens gründete.181 Indem sich Koselleck seit den 1960er Jahren von seiner älteren Begrifflichkeit der ›Geschichtlichkeit‹ löste, er auf das Suchen nach einer Ontologie der Geschichte verzichtete, differenzierte er seine Kategorien und seine Bestimmung historischer Zeiten. Mit der Lösung von existenzialontologischer Begrifflichkeit und einer stärkeren Zuwendung zu empirisch konkretisierbaren, d. h. zu historischen Situationen, die sich aus Strukturen und Ereignissen ergeben, gewann seine Historik an Anschaulichkeit und an empirischer Beispielhaftigkeit, welche ihre Rezeption in der Geschichtswissenschaft begünstigte. Sowohl die Dissertation als auch das Preußenbuch kann man als gelungene, empirisch gesättigte Beispiele einer derartigen Historik lesen, in denen exemplarische Darlegungen von Bedingungen möglicher Geschichten auf das ›Dazwischen‹ zielen, welches den Kern der Koselleckschen Historik bildet. Christian Meier hat in seiner Besprechung von »Kritik und Krise« auf die Sprache Kosellecks verwiesen 178 Ebd., S. 101–109. 179 Ebd. S. 99. 180 Manches erfährt im Laufe der Zeit auch einen Wechsel der Bezeichnung. So wäre der Frage nachzugehen, wie viel von dem, was in den 50er und 60er Jahren von ihm als »Geschichtsontologie« bezeichnet wurde, später als »anthropologisches Grundmuster« erscheint; ­Koselleck, Zeitschichten, S. 13. 181 Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 95.

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und gezeigt, dass nicht nach äußeren Ursachen gefragt werde, sondern Geistesvorgänge (»die Kritik«, »die Geschichtsphilosophie«) zu handelnden Subjekten würden. Koselleck bezeichne Zustände nicht als solche, sondern »faktitiv als Ergebnisse anonymer Handlungen«. Dadurch habe er eine Reihe höchst bedeutsamer »Zusammenhänge« (absolutistischer Staat und Aufklärung, Politik und Moral, etc.) sichtbar gemacht und dargelegt, wie die Aufklärung in spezifischer Weise durch den Staat »bedingt« sei.182 Und für das Preußenbuch wurde konstatiert, dass sich Koselleck, »wenn auch nicht ausschließlich, auf die Feststellung von Entsprechungen und Nicht-Entsprechungen, von Spannungen, Brechungen und Differenzen« konzentriert habe. Damit sei eine Zurückhaltung gegenüber kausalanalytischen Fragestellungen, ein Verzicht auf das Suchen nach »ökonomischen und sozialen Ursachen« verbunden. Kosellecks Methode impliziere eine »Absage an materiale Geschichtstheorien mit kausalen Erklärungsmustern wie auch an positivistische Faktenaufreihung in chronologischer Ordnung«. Zugleich bemerkte der Rezensent – Jürgen Kocka –, dass Kosellecks Verfahren an eine Grenze stoße, wenn er eine soziale Formation – hier die preußische Bürokratie – als eigenes Handlungssubjekt thematisiere und sie zum Subjekt der erzählten Geschichte werde (was »die Aufklärer« in »Kritik und Krise« gerade nicht waren, wie Christian Meier zu Recht betonte). Anders formuliert: Indem das Handeln der preußischen Bürokratie bei Koselleck zur Triebkraft, zum »Auslöser« für Entwicklungen werde, entferne er sich im Preußenbuch von seiner Vorgabe, die Bedingungen möglichen Handeln darzulegen und habe dadurch, so die Schlussfolgerung, seine eigene theoretische Vorgehensweise aufgeweicht.183 Löst man diese Beobachtung, kann man verallgemeinernd fragen: Stößt die Kosellecksche Historik, die nach Bedingungen fragt und Spannungen offen legt, in denen sich die Dynamik menschlichen Handelns und Denkens vollzieht, dann an Grenzen, wenn sie sich an die Analyse konkreter Handlungseinheiten macht? Können auf der Grundlage der theoretischen Überlegungen Kosellecks Handlungseinheiten als Kollektivsubjekte analysiert werden, können ihr Handeln wie mögliche Folgen des Handelns in der Zeit zum Gegenstand gemacht werden, ohne die beanspruchte Offenheit der ›möglichen Geschichten‹ aufgeben zu müssen?184 Diese Problematik lässt sich mit Hilfe einer Unterscheidung, die Robert Musil im »Mann ohne Eigenschaften« angeboten hat, veranschaulichen. Wenn man durch gut geöffnete Türen kommen will, so beginnt das Kapitel, in welchem Musil 182 Meier, Christian, Rezension von Kritik und Krise, in: Ruperto-Carola. Mitteilungen 13 (1961), Bd. 29, S. 258–64. 183 Kocka, Jürgen, Rez. Preußen zwischen Reform und Revolution, in: VSWG 57 (1970), S. ­121–125. Deshalb, so Kocka kritisch, habe Koselleck im Preußenbuch in diesen Teilen die Sichtweise der von ihm analysierten Subjekte reproduziert. 184 Zur Möglichkeit, Koselleck als Analytiker politischen Handelns zu lesen, vgl. den Beitrag von Sebastian Huhnholz. Frühere Versuche hierzu etwa Palonen, Kari, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004; Imbriano, Gennaro, Der Begriff der Politik. Die Moderne als Krisenzeit im Werk von Reinhart Koselleck, Frankfurt a. M. 2018.

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den »Möglichkeitssinn« skizziert, müsse man die Tatsache beachten, dass sie einen festen Rahmen haben. Der Rahmen ist eine strukturelle Bedingung der Tür, das Geöffnetsein der Tür ermöglicht das Passieren einer Person. In diesem Falle ist der Durchgang durch die Tür ein singuläres Geschehen, gebunden an bestimmte Voraussetzungen. Im Weiteren unterscheidet Musil dann einen »Sinn für die mögliche Wirklichkeit« von einem Sinn für die »wirklichen Möglichkeiten«.185 Die Historik Kosellecks als eine »Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichten«186 erweist sich dann im Sinne Musils als Lehre über die möglichen Wirklichkeiten in einer bestimmten historischen Situation mit ihrem spezifischen Gefüge an Gegebenheiten. Darin liegt der Grundgedanke von Kosellecks »Bedingungen möglicher Geschichten«, die er in der Regel als »Vorgaben« beschrieb und analysierte, ohne aber den Anspruch zu erheben, alle in einer bestimmten geschichtlichen Konstellation relevanten oder wirksam werdenden Vorgaben aufzeigen zu können. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht darin, den Blick zu öffnen, das analytische Verständnis zu schärfen für in der herkömmlichen Historiographie nicht oder nur peripher thematisierte Zusammenhänge, Beziehungen und Wirkungsmöglichkeiten. Ein besonderes Augenmerk richtete Koselleck dabei auf die unterschiedlichen temporalen Relationen, die, so sein Argument, schon aus sich heraus, aus der unvermeidlichen Widersprüchlichkeit ihrer zeitlichen Dauer und ihrer Endlichkeiten, neue Handlungskonstellationen erzwängen. Darauf konzentrierte er sich. Demgegenüber blieb er distanziert bis ablehnend gegenüber allen Versuchen, kausale Erklärungen zu liefern.187 Gerade darin unterscheidet sich die Kosellecksche Möglichkeitshistorik, trotz gewisser Gemeinsamkeiten, von theoretischen Verfahren, die mit Hilfe der Konstruktion von Möglichkeitsurteilen individuelle historische Ereignisse kausal erklären.188 Das wäre dann, um es mit Musil zu formulieren, eine Frage nach den »wirklichen Möglichkeiten« in einer konkreten historischen Situation, nach den (in dieser historischen Konstellation) wirksamen Möglichkeiten. Wer also konkrete historische Einzelphänomene kausalanalytisch erklären will, der wäre bei der Kategorie der »objektiven Möglichkeit«, wie sie Max Weber als »Wirklichkeitswissenschaft« entwickelt hat, besser aufgehoben.189 185 Musil, Robert, Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek 1978, S. 16 f. 186 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 99. 187 Koselleck brachte wiederholt seine Zurückhaltung und Skepsis, ja Ablehnung, gegenüber kausalen Erklärungen zum Ausdruck, vgl. seine Kritik an »notwendigen Bedingungen« (Prognose bei Lorenz von Stein, in: Vergangene Zukunft, S. 94), oder die generelle Absage an »alle Kausalerklärungen in der Historie«; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 309, Koselleck an Schmitt, 3.1.1977. Es dürfte daher schwerfallen, eindeutig kausale Erklärungen von historischen Ereignissen oder Geschehensabläufen in den Schriften Kosellecks zu finden. 188 Vgl. dazu auch den Beitrag von Dieter Langewiesche. 189 Weber, Max, Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der historischen Kausalbetrachtung, in: ders., Wissenschaftslehre, Tübingen 71988, S. 266–290. »Wirklichkeitswissenschaft« in ders., Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: dass., S. 146–214, hier S. 170.

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Manfred Hettling und Wolfgang Schieder

Wer nach den vielfältigen Bedingungen historischer Gegebenheiten und menschlichen Handelns fragt, wer sich imprägnieren will gegen geschichtsphilosophische Rationalisierungen und ideologische Vereinfachungen, wer sprachliche und nichtsprachliche Voraussetzungen von Geschichte besser verstehen will, der ist nach wie vor bei Reinhart Koselleck besser aufgehoben. Darin liegt das Potential seiner Theorie des historisch Möglichen, die Geschichte als Bedingungsanalyse von Möglichkeiten in Situationen versteht.

Steffen Kluck und Richard Pohle

Koselleck, Heidegger und die Strukturen geschichtlicher Situationen

I. Einleitung Als der philosophische Stern Martin Heideggers in Marburg aufging und sich die ersten Studenten um ihn sammelten, da war, so Karl Löwith in seinen Erinnerungen an die Zeit vor und nach 1933, häufig anerkennend die Rede von ihm als dem Marburger »Zeitweisen«.1 Die radikale Destruktion der philosophischen Tradition, das mit Hölderlin gesprochen »heilignüchterne« Erheben über die Niederungen des »Man« und die Geste des ursprünglichen und phänomenologisch »anfänglichen« Fragens nach Sein und Zeit zogen damals viele der besten Köpfe in ihren Bann und sorgten auch nach der Veröffentlichung von »Sein und Zeit« 1927 für mehr als ein Erweckungserlebnis – man denke nur an so unterschiedliche Intellektuelle wie Rudolf Bultmann, Carl Friedrich von Weizsäcker, Herbert Marcuse oder Max Horkheimer. Auch der junge Reinhart Koselleck hatte, eine Generation und einen Weltkrieg später, die Wirkung dieses Buches ähnlich erfahren. Mochte der persönliche Zauber Heideggers in den wenigen Begegnungen mit ihm auch nicht mehr verfangen haben, so war dessen Hauptwerk doch auch für ihn noch ein »Initiationsbuch«2 und ein wichtiger Ausgangspunkt seines eigenen Fragens nach den anthropologischen und historiographischen Dimensionen der Zeit.3 Und gerade weil man nicht ohne Übertreibung, wenn auch in etwas anderer Hinsicht, von Koselleck als von dem Bielefelder »Zeitweisen« sprechen kann, der ähnlich Heidegger zu einer definitiven Feststellung seiner »Theorie der historischen Zeiten« nicht kam oder aufgrund des flüchtigen »Gegenstandes« vielleicht auch nicht kommen konnte, so überrascht es doch, dass das intellektuelle Verhältnis beider bisher noch kaum eigens in den Blick genommen wurde.4 Dabei sollte die Sache eigentlich klar sein: In seinem Lebenslauf für die Universität Heidelberg von 1962 heißt es: »Die nachhaltigste Wirkung auf mein 1 Löwith, Karl, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht, Stuttgart 1986, S. 44. 2 Hettling, Manfred / Ulrich, Bernd, Formen der Bürgerlichkeit. Ein Gespräch mit Reinhart Koselleck, in: dies., (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 40–60, hier S. 56 – allerdings: es war nur ein »Initiationsbuch« unter mehreren, wenn auch das erste. 3 Ebd., S. 55: »Die Anregung zu einer geschichtlichen Zeittheorie verdankt sich auch meiner Lektüre von ›Sein und Zeit‹«. 4 Vgl. bisher in der Hauptsache nur Olsen, Niklas, History in the plural. An introduction to the work of Reinhart Koselleck, New York 2012.

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historisches Verständnis ging von Heideggers ›Sein und Zeit‹ aus.«5 Und auch noch 2003 verortete sich Koselleck philosophisch unumwunden »in der Folge der Heidegger-Rezeption«.6 Doch wie verhält sich dazu der Befund, dass die Spuren Heideggers im Werk Kosellecks verhältnismäßig spärlich bleiben und dass die anfänglich intensive Beschäftigung mit ihm während des Studiums zunächst anderen Themen weicht, um dann bei der späteren Suche nach den Bedingungen möglicher Geschichten zumeist nur noch als Folie kritischer Auseinandersetzung und Überwindung aufzutauchen? Wie dieser Beitrag zeigen soll, lässt sich dieser Befund verstehen, wenn man sich einmal die kritischen Motive der frühen Auseinandersetzung mit Heidegger vergegenwärtigt und die Linien verfolgt, die sich von dort bis in die spätere Bilanzierung in »Historik und Hermeneutik« ziehen lassen. Abgesehen von den veröffentlichten Schriften und Vorträgen Kosellecks sind hierzu insbesondere die in seinem Nachlass im DLA Marbach aufbewahrten studentischen Arbeiten herangezogen worden, ebenso die zahlreichen im »Zettelkasten« geordneten Notizen und Exzerpte Kosellecks. Zusammen mit den umfangreichen »Lesespuren« in den Werken Heideggers, also den Marginalien, Annotationen, Einlegeblättern und erstellten Registern, zeugen sie von der produktiven Aneignung und Verarbeitung Heideggers und können so auch ein Beispiel dafür sein, welchen Erkenntnisgewinn solch vorbildlich erschlossene »Arbeitsbibliotheken« gerade für die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts bieten.7

II. Erste Begegnungen mit dem »Zeitweisen« Koselleck hat Heidegger persönlich erst im Kolloquium Hans-Georg Gadamers erlebt und war trotz aller »Gewichtigkeit« der getroffenen Aussagen dort offensichtlich wenig beeindruckt von dessen im Gegensatz zu Gadamer doch sehr »statuarischen« und »leicht schulmeisterlichen Oberton«.8 Die Auseinandersetzung mit Heidegger spielte sich denn auch und zunächst ganz auf der Ebene der Texte 5 Zit. nach Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 15. 6 Koselleck, Reinhart / Narr, Wolf-Dieter / Palonen, Kari, Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte – Sperrige Reflexionen: Reinhart Koselleck im Gespräch mit Wolf-Dieter Narr und Kari Palonen (1999), in: Kurunmäki, Jussi / Palonen, Kari (Hg.), Zeit, Geschichte und Politik. Jyväskylä 2003, S. 9–33, hier S. 9. 7 Vgl. Laube, Reinhard, Wissen und Memoria. Reinhart Kosellecks Lektüren, in: Dutt, Carsten / ​ Laube, Reinhard (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013, S. 95–110. 8 Wie viele Treffen es mit Heidegger gab, ist nicht zu ermitteln, eines mit Gadamer und Heidegger ist zumindest für den Juli 1965 vermerkt, so jedenfalls die Notiz auf dem Typoskript der Gadamer-Vorlesung »Von Hegel bis Heidegger« von 1965, DLA Marbach NL Koselleck. Vgl. auch Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 56; Dutt, Carsten / Koselleck, Reinhart, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 40.

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ab sowie in jenen Seminaren und Vorlesungen, die Koselleck zwischen 1948 und 1950/51 in Heidelberg bei Franz Josef Brecht hörte.9 Brecht, der seit 1941 als a.o. Professor für Philosophie in Heidelberg lehrte, 1949 den Lehrstuhl Karl Jaspers’ vertrat und zum WS 1950/51 an die Wirtschaftshochschule Mannheim berufen wurde, war ursprünglich ein begeisterter Schüler Heideggers und nicht zuletzt auch auf dessen Betreiben hin von Jaspers 1932 habilitiert worden. In einem Brief an Heinrich Rickert vom 7.2.1932 urteilt Heidegger über Brecht als Philosophen zwar wenig schmeichelhaft: »In seiner Stellung zu mir überwiegt eine begeisterte Anhänglichkeit über die selbständige Urteilsbildung. Aber Brecht ist ein viel zu bescheidener Mensch, um sich an Dinge zu wagen, die über seine Kraft gehen. Diese ist allerdings da und, weil auf ihr Feld beschränkt, um so wirksamer.«10 Doch da vor dem philosophischen Selbstbewusstsein ­Heideggers ohnehin kaum jemand bestehen konnte und Brecht außerdem mit dem Dritten Humanismus Werner Jaegers, mit Stefan George und ab den 1930er Jahren auch mit Jaspers durchaus noch andere Orientierungspunkte außerhalb des heideggerschen Kosmos besaß,11 durften die Studenten von ihm eine zwar gründliche, aber eben auch keineswegs kritiklose Heidegger-Exegese erwarten.12 Koselleck jedenfalls besuchte mehrere Veranstaltungen Brechts, »bei dem«, wie er sich noch anlässlich seines Promotionsjubiläums erinnerte, »Fingerübungen mit Heideggers Kategorien erlernt werden konnten, und bei dem ich über den (zweideutigen) Wahrheitsbegriff in Sein und Zeit referiert hatte«.13 9 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 56: »Heidegger habe ich noch schärfer karikiert [scil. als Karl Jaspers], von ihm habe ich allerdings aus der direkten Auseinandersetzung mit seinen Texten mehr gelernt. Textarbeit bei Heidegger war die Arbeit des Begriffs, um mit Hegel zu sprechen.« Vgl. auch den Brief vom 03.01.1977 an Carl Schmitt: »[…] als ich Heideggers ›Sein und Zeit‹ las, in meinem dritten Semester«. Über die Jagd nach markanten Zitaten und bedeutsamen Lektüren des Heidelberger studentischen Dreierbundes Hanno Kesting, Nico­laus Sombart und eben Koselleck vgl. Sombart, Nicolaus, Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945–1951, Frankfurt a. M. 2000, S. 252–256. Dort heißt es zusammenfassend: »Die gemeinsame kommunikative Leidenschaft für den Text, die Wortverliebtheit macht mehr als alles andere das Wesen unserer Freundschaft aus.« (S. 255 f.). 10 Heidegger, Martin / Rickert, Heinrich, Briefe 1912 bis 1935 und andere Dokumente aus den Nachlässen, hg. von Denker, Alfred, Frankfurt a. M. 2002, S. 72. 11 Vgl. zu diesen Orientierungen nur Brecht, Franz Josef, Platon und der George-Kreis, Leipzig 1929; ders., Heidegger und Jaspers. Zusammenhang und Differenz von Existenzialontologie und Existenzerhellung, in: ders., Vom lebendigen Geist des Abendlandes. Aufsätze und Vorträge, Wuppertal 1949, S. 406–436. 12 Im Zettelkasten Kosellecks, dessen Einträge zum Stichwort »Heidegger« alle aus der Zeit zwischen 1948 und 1950 stammen dürften, findet sich zu einem kurzen Exzerpt von ­Jaspers, Karl, Vernunft und Existenz, Bremen 21947, S. 50 und dem dortigen Vorwurf, dass es gegenwärtig die Tendenz gebe, alles Seiende aus dem »Sein überhaupt« abzuleiten, was ein »radikaler, das Philosophieren aufhaltender Irrweg« sei, denn auch den entsprechenden Vermerk »Brecht: 48/49 Kritik an Heidegger«. DLA Marbach, NL Koselleck, Zettelkasten »Heidegger, Martin« (IVB), Mappe 14. 13 Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck (1923–2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 44. Zu den Veranstaltungen Brechts siehe unten Anm. 17.

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Von den ohnehin nur zwei schriftlichen Referaten, die er pro Semester angefertigt hatte,14 sind im Nachlass Kosellecks nun wiederum zwei erhalten, die Heidegger thematisch gewidmet sind und die neben den ebenfalls in dieser Zeit entstandenen Exzerpten und Annotationen einen guten Eindruck vermitteln von der intensiven Auseinandersetzung mit zentralen Fragen der Philosophie Heideggers. Denn obwohl Koselleck in späteren Jahren lediglich auf »Sein und Zeit« verweisen wird, hat er während des Studiums und bis zu Beginn der 1950er Jahre doch sehr viel mehr und anderes rezipiert, hat er einen Großteil dessen, was damals greifbar war, »mit Interesse und Intensität gelesen« und auf die ihn beschäftigenden Fragen von Zeit und Geschichtlichkeit, aber auch von Wahrheit und Relativismus hin untersucht.15 Diese Umstände  – intensive Beschäftigung mit Heideggers Denken um 1949/50, später jedoch keine nennenswerte Rezeption mehr – verdeutlichen den hohen heuristischen Stellenwert der Referate für eine Analyse des Verhältnisses von Kosellecks Arbeiten und Heideggers Philosophie, lassen sich erst von ihnen her die sachlichen Relationen und die gemeinsamen Fragen und Probleme gehaltvoll aufschließen. Das erste, 1949 entstandene Referat über »Die Wahrheit in Sein und Zeit« ist hierfür gleich ein gutes Beispiel.16 Ausgehend von Mitschriften aus einem Kolleg Brechts17 und gestützt auf seine umfassende Heidegger-Lektüre fragt Koselleck 14 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 53. 15 Dutt / Koselleck, Erfahrene Geschichte, S. 40. Während Olsen, History, S. 74 f. und ders., Reinhart Koselleck, Karl Löwith und der Geschichtsbegriff, in: Dutt / Laube, S. 236–55, hier S. 245, die Auseinandersetzung mit Heidegger in den Zusammenhang von »Kritik und Krise« und also »in die frühen 1950er Jahre« stellt sowie weitgehend von »Sein und Zeit« bestimmt sieht, dürfte die Beschäftigung da allerdings schon wieder abgeebbt sein. Die Lektüren fallen ausweislich seiner Besitzvermerke alle in die Zeit zwischen Heideggers »Brief über den ›Humanismus‹« (bei Koselleck in einer hektographierten Ausgabe des Philosophischen Instituts Heidelberg von 1947 erhalten und 1948 gelesen) und dem Erscheinen der »Holzwege« 1949/50 (in Kosellecks Exemplar ist das Datum des Impressums, nämlich 1950, zweimal mit »1949!« verbessert worden) bzw. dem entsprechenden Seminar bei Brecht im WS 1950/51. Außer »Sein und Zeit« (51941) waren dies noch »Vom Wesen der Wahrheit« (1943), »Was ist Metaphysik« (1943) und »Vom Wesen des Grundes« (31949). Die Hölderlin-Deutungen Heideggers dagegen (so »Hölderlins Hymne ›Wie wenn am Feiertage‹«, 1943) kamen erst durch Johannes Kühn in seinen Besitz, ohne aber Anstreichungen erfahren zu haben. Die sich zeitgleich zu seinen Lektüren vollziehende »Kehre« Heideggers hat Koselleck dann schon nicht mehr mitgemacht, sprich: nur noch am Rande und »mit ironischem Schmunzeln« wahrgenommen (Dutt / Koselleck, Erfahrene Geschichte, S. 40). Dem entspricht auch, dass die ebenfalls z. T. ausführlich exzerpierten Rezensionen sämtlich in diese Zeit fallen, nämlich: Oehme, Curt, Rez. Platons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief ›Über den ›Humanismus‹, in: Psyche 1 (1947/48), S. 593–598; Weischedel, Wilhelm, Wesen und Grenzen der Existenz-Philosophie, in: Frankfurter Hefte 3, 8+9 (1948), S. 726–735 u. S. 804–813; Lukács, Georg, Heidegger redivivus, in: Sinn und Form 1,3 (1949), S. 37–62. 16 DLA Marbach, NL Koselleck, »Die Wahrheit in ›Sein und Zeit‹« (1949), die Seitenzahlen im Text (Sigle: W) beziehen sich auf die Seiten des Manuskriptes. 17 DLA Marbach, NL Koselleck, Zettelkasten »Wahrheit: Brecht WS 49/50«. Worauf sich diese Angaben beziehen, ist aber unklar. Im WS 1949/50 bot Brecht laut Personal- und Vorlesungsverzeichnis der Universität Heidelberg (Heidelberg 1949, S. 42 u. 62) lediglich 3-stündig

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nämlich zunächst nicht, was Heidegger denn wohl unter Wahrheit verstünde und wie sich dies zum Beispiel zu den gängigen Korrespondenztheorien (adaequatio intellectus et rei) verhielte. Seine Frage ist grundsätzlicher – dem Betrachter der Geschichte ein »abgründiges Rätsel« (W 1) – und zugleich historischer, denn ihn interessiert die Verschiebung der Wahrheitsgründe selbst, die gleich den »Schwerpunkte[n] im menschlichen Empfinden, Denken, Tun + Wollen« (ebd.) einem epochalen Wandel unterlägen und gleichsam als »Gravitationsfelder« (ebd.) des menschlichen Erlebens und Verstehens Evidenz und damit Wahrheit möglich machten. Die Geschichte dieser »Garantiequellen«, besser gesagt deren »Abbruch«, wird dann von Aristoteles über Augustin und Descartes bis hin zu Kant und Nietzsche kurz entrollt, um schließlich mit dem Zusammenbruch auch noch aller »staat­ lichen Sittlichkeit« im erstem Weltkrieg und dem sich formlos anbahnenden »Zeitalter der Massen« die »faktische Situation« zu umreißen, in der Heidegger »am roten Faden eines Existenzideals das philosophische Fragen alte Möglichkeiten wiederholend in neue Bereiche vor[trieb].« (W 3) Dass Koselleck hier dann aus der ganzen Breite der vorliegenden Schriften Heideggers den ihm selbst im Rückblick noch präsenten doppelten Wahrheitsbegriff entwickelt – »primär« wahr sei nämlich ein Geschehen aus dem entschlossenen Sein zum Tode, »sekundär« eine adäquate Auslegung von diesem Sein her – und auch den Zirkel von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit kritisiert – noch zur Uneigentlichkeit kann und wird man sich zumeist »entschließen«  –, ist dabei fast schon nebensächlich. Denn die eigentliche Pointe und Antwort auf die Ausgangsfrage ist, dass auch Heideggers Existenzideal und dessen Wahrheitsbegriff bei aller radikalen »Ursprünglichkeit« selbst keineswegs zeitlos seien, sondern ihre Evidenz aus eben einer faktischen Situation bezögen. »Das entschlossene Vorlaufen«, so Koselleck die heideggersche Position konsequent historisierend, »ist eine Art moderner Askese, nämlich der ›Verzicht auf Sekurität‹ (Schmitt), wie er etwa auch von Rilke oder Spengler gepredigt worden ist. – Das ist die Haltung des Menschen, dem die Religionen unglaubwürdig geworden sind, der um das ontische Woher u[nd] Wohin nichts weiß u[nd] der sich geworfen sieht in ›das Daß seines Da‹, wie Heidegger sagt, ›als welches ihm in unerbittlicher Rätselhaftigkeit entgegenstrebt.‹ Die Haltung der Menschen im Interregnum von Mythos und Mythos.« (W 8)

»Grundlagen und Gestalten des modernen Nihilismus« sowie 2-stündig »Übungen zu Hegels ›Phänomenologie des Geistes‹« an. Im vorangegangenen SS 1949 dagegen waren dies 3-stündig »Grundweisen des menschlichen Daseins (philosophische Anthropologie)« sowie die 2-stündigen »Übungen zu den Meditationen des Descartes und zu den Méditations Cartésiennes Edmund Husserls« (Heidelberg 1949, S. 42 f.). Beide Texte, also sowohl das Referat wie die Mitschrift zur Wahrheit mit ihrem starken historischen Fokus auf Descartes, passen also eher ins SS 1949. Im selben Semester bot auch Gerhard Krüger ein Kolleg für fortgeschrittene Studenten über »Sein und Zeit« an (ebd., S. 43). Ob Koselleck daran teilgenommen haben könnte, steht nicht zu vermuten, es zeigt aber noch einmal die Präsenz Heideggers und seines Denkens an der Philosophischen Fakultät (über Löwith, Gadamer, Brecht, Krüger).

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Anders gesagt: Plausibilität oder Evidenz gewann Heideggers zum Tode vorlaufendes Existenzideal erst – und vielleicht nur, das bleibt offen – in einer spezifischen, durch den Verlust von Krieg und Mythos geprägten und aller staatlichen und religiösen Sekuritäten entratenen Gesellschaft. »Das Sein zum Tode rückte bei Heidegger – wie oben zu zeigen versucht wurde u[nd] von der historischen Evidenz der Existenzideale abzulesen  – deshalb in das Zentrum seiner Fundamentalontologie, weil das metaphysische Urwunder der Nichtung des Nichts ursprünglich nur dann erfahren werden könne, wenn das Dasein entschlossen zum Tod vorläuft.« (W 13) Vor diesem, von Koselleck sehr konkret und eben nicht allgemein skizzierten Hintergrund eines spätestens im ersten Weltkrieg beginnenden »Interregnums« habe also Heideggers Philosophie, und insbesondere dessen geschichtsphilosophische Grundierung, ihre historische Evidenz bezogen, und es stellt sich sofort die Frage, wie es für Koselleck um das Ende dieses Interregnums (und damit auch des heideggerschen Existenzideals) bestellt gewesen sein mochte. Zwei mögliche Antworten zeichnen sich ab: Die erste ließe sich gut am Text festmachen, gibt Koselleck doch an zwei Stellen einen über Heideggers »Nichten des Nichts« hinausweisenden Ausblick auf einen möglichen neuen »Mythos«, der sich entweder an Rudolf Ottos Beschreibung des Numinosen und Heiligen als eines von der Angst eröffneten Horizonts entwickeln lassen könnte18 oder aber bereits im »fruchtbaren Streitgespräch« Bultmanns und der protestantischen Theologie mit Heidegger am Entstehen sei.19 (W 13 f.) Während diese Möglichkeit am protestantischen Hintergrund Kosellecks einigen Rückhalt fände, hätte die zweite den Charme, Kosellecks »studentisches Wort« von der »Koppelschloßphilosophie« in »Sein und Zeit« einer neuen (oder überhaupt kohärenten) Deutung zuzuführen.20 Denn so plausibel es auf den ersten Blick scheinen und auch von der Erinnerung Kosellecks gestützt sein mag,21 die Heidegger-Lektüre des gerade aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Koselleck auf den Nationalsozialismus und eben die Koppelschlösser der Wehrmacht mit ihrem »Gott mit uns« zu beziehen, so anachronistisch wäre es doch wiederum mit Bezug auf die im Referat entwickelte faktische Situation Heideggers und seiner Leser. Denn die war ja zunächst eine solche noch und gerade des verlorenen, und eben nur noch negativ sinngebenden ersten Weltkriegs.22 Auch die Anmerkun18 Vgl. Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917. 19 Auf den ebenso theologischen Hinter- wie den politischen Vordergrund von »Sein und Zeit« macht Koselleck auch im Brief an Schmitt vom 03.01.1977 aufmerksam. Vgl. Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 307. 20 DLA Marbach, NL Koselleck, Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 51941, Rückseite Vorsatzblatt: »›Koppelschloßphilosophie‹ Als ich dieses ›studentische Wort‹ Löwith referierte, fragte er mich, warum ich darüber nichts geschrieben habe – später als ich bei ihm zu Gast in HD war.« 21 Hettling / Ulrich, Formen, S. 55. 22 Die Annotationen in seinen Heidegger-Exemplaren zeigen im Übrigen auch, dass Koselleck schon im Studium sehr auf den Kontext der ursprünglichen Veröffentlichung geachtet hat, sie also ebenso berücksichtigte wie die späteren Zusätze. Vgl. etwa das Nachwort zu »Was

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gen in »Sein und Zeit«, wo etwa vom »heroistischen Fatalismus« Heideggers die Rede ist,23 ließen sich eher auf den ersten Weltkrieg und das erstmals in dieser Form massenhaft als sinnlos erfahrene »Vorlaufen in den Tod« beziehen, bei dem dasselbe »Gott mit uns« auf Koppelschlössern und Lippen erstarb.24 Die Zeit des »Interregnums« jedenfalls wäre dann auch mit dem Nationalsozialismus und seinen Anstrengungen um eine »Weltanschauung« oder eben einen neuen »Mythos des 20. Jahrhunderts« (Rosenberg) beendet, zumal Heidegger in diesem Zusammenhang ja jene »Kehre« vollzog, die das Sein zum »Seyn« und das »Geschick« zum seinsgeschichtlichen Akteur werden ließ. Wie auch immer man diese Frage also entscheiden mag  – Koselleck hat die »Kehre« Heideggers nicht mehr mitgemacht, zumal schon dieses erste Referat massive Einwände hinsichtlich der existentialontologischen Ableitung der »Geschichtlichkeit« aus dem Dasein erhob. Die auch später noch wiederholten und an Löwith anschließenden Vorwürfe, nach denen Heidegger in seiner Fokussierung auf die Existenz die Faktizitäten, genauer das für Löwith gleichursprüngliche »Mitsein« aus dem Blick verloren habe,25 finden sich hier bereits formuliert: »Durch den zentralen Ansatz der Existenz rückt aus dem Blick die Zeitigung der Faktizi­ täten, die Transzendenz der Geschichte. Sowenig wie die Liebe als Modifikation des Mitseins aufgefaßt werden kann, so wenig ist das Phänomen der Geschichtlichkeit ursprünglich aus der vorlaufenden Entschlossenheit eines ›je meinigen Daseins‹ abzuleiten.« (W 14) Geschichte und Geschichtlichkeit, die mehr meinten als eine »Privatgeschichte« des jemeinigen Daseins,26 könnten, so Koselleck am Schluss des Referates, aus Heideggers fundamental-ontologischer Perspektive jedenfalls nicht gewonnen werden: »Der Wandel der Faktizität kann […] nicht als Summe individueller Transzendenzen verstanden werden. Weltgeschichte kann höchstens durch eine Ontologie der Kollektive,27 nie aber mittels der Durchsichtigkeit des Daseins, ontologisch ursprünglich gefaßt werden. Dies aber sprengt den transzendentalen Ansatz.« (ebd.) Die, wenn man so will, zweite Pointe dieses Aufsatzes neben der Historisierung Heideggers läge also darin, dass Koselleck Heidegger tatsächlich ist Metaphysik«, wo er im Text mehrfach »1943!« und »Führer befiehl« anmerkte. DLA Marbach, NL Koselleck, Martin Heidegger, Was ist Metaphysik, Frankfurt a. M. 41943, S. 25 u. 30. 23 DLA Marbach, NL Koselleck, Heidegger, Sein und Zeit, S. 348. 24 Vgl. Krumeich, Gerd: ›Gott mit uns‹? Der Erste Weltkrieg als Religionskrieg, in: ders. / Lehmann, Hartmut (Hg.), ›Gott mit uns‹. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000, S. 273–283. 25 Vgl. Löwith, Karl, Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, München 1928. 26 So die wiederholte Anmerkung Kosellecks in den Kapiteln (§ 72 ff.) »Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit«, in: DLA Marbach, NL Koselleck, Heidegger, Sein und Zeit, S. 375, 376 u. 390. 27 Hierzu ergänzt Koselleck am Rand: »der Geschichtskörper, der Klassen, der Staaten, der Kirche u. der Ableitungen«. Gemeint ist also, dass auch diesen Kollektiven ein eigenes, nicht nur abgeleitetes Sein zuerkannt wird und sie bei der Frage nach der »Transzendenz der Geschichte« als Bedingungen ihrer Möglichkeit also gleichursprünglich mit dem (sich zeitlich verstehenden) Dasein anzusetzen seien.

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beim Wort zu nehmen gewillt war und die Analyse der Faktizität nicht um ihre geschichtlichen und strukturellen Dimensionen verkürzen mochte. Ein Ontologie der Kollektive aber lässt sich, so das dann doch resignierte Fazit, mit dem Heidegger nach »Sein und Zeit« nicht mehr gewinnen, denn dort »wese« das Sein ja bereits »ohne das Seiende« (ebd.).28 Dass Koselleck vor diesem Hintergrund bald bei Hans Freyer und Carl Schmitt nach ontologisch weiterführenden Antworten suchen sollte, ist also nur folgerichtig.29 Bevor er diesen Schritt jedoch vollziehen wird bzw. genau an der Stelle der intellektuellen Umorientierung steht noch das zweite Referat, das wohl im Herbst 1950 wiederum bei Brecht gehalten wurde.30 In diesem setzt sich Koselleck mit dem Aufsatz Heideggers »Die Zeit des Weltbildes« aus den gerade erschienenen »Holzwegen« auseinander und stellt diesen angesichts des sich gegenwärtig zuspitzenden »Weltbürgerkrieges« in die große geschichtsphilosophische Auseinandersetzung um das Ende der »permanenten Revolution« der Neuzeit: »Hinter jeder Auseinandersetzung mit der Welt, die den neuzeitlichen Menschen in Anspruch nimmt, steht also die Frage: Wie kann man die Revolution beenden oder wie endet diese Revolution, die sich auf diese ganze Welt erstreckt? Von Kant über Hegel zu Marx wird mit steigender Aktualität der Geschichte die denkerische Aufgabe akuter, die Geschichte zu begreifen und damit die richtige Position im Geschichtsprozess zu gewinnen, die sich nicht gestern oder heute, sondern in der Zukunft erweist. Auch das Werk Heideggers – von der Fragestellung nach Sein und Zeit angefangen – steht unter diesem Zwang, der heute jedes wahre Denken ausrichtet.« (Z 2)

28 Vgl. auch die Notiz DLA Marbach, NL Koselleck, Zettelkasten »Heidegger«, Bl. 9 (Rückseite): »Das Sein wird zwar geschichtlich erfahren – bisher in der Schickung der Metaphysik – aber dort in einer Weise konstant angesetzt, daß es, wenn es sich selbst der Welt öffnet, die Geschichte konstanter macht als bisher. Die Revolution ist dann beendet – das steht dahinter. Die Frage der Zeitlichkeit ist nicht zufällig aus der Philosophie Heideggers verschwunden. Ein einfaches zeitloses Sein kann, wenn es die kommende Geschichte selbst in die Hand nimmt, eine dauerfähige Geschichte ›garantieren‹.« 29 Ein erstes Zeugnis dieser Neuorientierung ist die im April 1950 ursprünglich für Arno Koselleck angefertigte, aber nicht veröffentlichte Doppelrezension von Hans Freyer: »Weltgeschichte Europas« (1948) und Karl Jaspers: »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte« (1949), in: DLA Marbach, NL Koselleck, Rez. Hans Freyer: »Weltgeschichte Europas« (1948), S. 3, wo explizit der »zwischenmenschliche Modus« der Geschichtlichkeit bei dem »undogmatisch und lebendig (lebensphilosophisch!)« denkenden Freyer betont wird. Zum Verhältnis Freyer-Koselleck siehe jetzt auch Pankakoski, Timo Juhani, From Historical Structures to Temporal Layers. Hans Freyer and Conceptual History, in: History and Theory 59,1 (2020), S. 61–91. 30 DLA Marbach, NL Koselleck, »Die Zeit des Weltbildes«. Die Seitenzahlen im Text (Sigle: Z) beziehen sich auf dieses Typoskript. Dort ist später vermerkt »Referat bei Brecht 1950«. Brecht wechselte zwar zum WS 1950/51 auf eine a.o. Professur für Philosophie an die Wirtschaftshochschule Mannheim, in Heidelberg bot er im selben Semester jedoch auch noch »Übungen über Heideggers ›Holzwege‹« an (vgl. Personal- und Vorlesungsverzeichnis. Winter-Semester 1950/51, Heidelberg 1950, S. 47).

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Wie im ersten Referat skizziert Koselleck also zunächst die geschichtsphilo­ sophische Situation des Aufsatzes und attestiert dabei auch Heidegger jenen neuzeitlichen »Denkzwang«, die Geschichte begreifen und damit auch verändern zu wollen. Um dies noch schärfer zu akzentuieren, aber auch um den gemeinsamen hegelschen Boden zu betonen, vergleicht er ihn mit Marx.31 Für beide sei das Begreifen der Geschichte nämlich keine nachträgliche »Sinngebung der Geschichte, sondern für Marx wie für Heidegger ein Sich-Erfassenlassen von der Geschichte, das, wenn es seinsgerecht ist, die Zukunft der Geschichte mit einschließt.« (Z 3) Die Gegenwart sei also nicht einfach gedanklich zu negieren oder eine andere Zukunft, noch gar von und für wenige, zu postulieren, sondern sie sei zunächst und überhaupt »restlos [zu] akzeptieren«, um sie dann dialektisch (Marx) oder durch Kritik der sie begründenden Metaphysik (Hegels »Phänomenologie des Geistes« und Heidegger) zu überwinden. Eine Überwindung mithin, die für Heidegger deshalb möglich schien, weil das Sein selbst geschichtlich sei und die »Geschichte sich wesensmässig wandelt, wenn der Mensch den Grund der bisherigen Geschichte, die Verborgenheit des Seins als den ›Grundzug des Seins selbst […] erfahren« habe. (Z 4) Der bekannten »Eschatologie des Kommunismus« entspreche so, das ist Kosellecks Hauptthese in diesem Text, eine »Eschatologie des Seins«.32 Diese mochte verglichen mit Marx etwas »kontemplativer« angelegt sein, gemeinsam sei beiden aber, dass sie auf ein Ende der Revolutionen zielten und sich dazu auf eine Geschichtlichkeit beriefen, die nicht aus einer »historistisch aufgezäumten Vergangenheit« abgeleitet werde, sondern »die, sei es als ›dialektische Notwendigkeit‹ oder als ›Seinsgeschick‹, das Wesen der Geschichte bestimmt, ohne ›jenseits‹ der Geschichte angesetzt zu werden. Diese neue Art von Eschatologien, die unsere revolutionäre moderne Welt herausfordert, werden [sic] also aus den geschichtlichen Voraussetzungen dieser Revolution entfaltet und erhalten ihre innere Garantie ganz hegelisch aus der richtig begriffenen Geschichte.« (Ebd.)

Wie diese Geschichte dann für Heidegger zu begreifen sei, entfaltet Koselleck in der Folge entlang der Argumentation des Weltbild-Aufsatzes, d. h. an den dort entwickelten metaphysischen und wissenschaftsgeschichtlichen Voraussetzungen der Seinsfrage und den daraus entspringenden Möglichkeiten des »subjektivistischen« Zeitalters, sich überhaupt ein Bild von der Welt (als Konglomerat bloß noch seiender Objekte) machen zu können. Dass dieser Subjektivismus überwunden werde und der Mensch den Gegensatz zum Seienden aufgebe, damit das Sein dem Menschen seine Wahrheit (wieder) übereigne, ist dann die von Koselleck noch nicht 31 Vgl. zu diesem Vergleich auch Dunkhase, Jan Eike, Heidegger, Marx und die Wertkritik in: Zeitschrift für Ideengeschichte 11,3 (2017) S. 33–40. 32 Das Bedürfnis Heideggers nach einem »eschatologischen Mythos«, der die Aporien der formalisierten Geschichtlichkeit in »Sein und Zeit« aufhebt, betonte seit den 1950er Jahren mehrfach auch Gründer, Karlfried, Martin Heideggers Wissenschaftskritik in ihren geschichtlichen Zusammenhängen (1962), in: ders., Reflexion der Kontinuitäten. Zum Geschichtsdenken der letzten Jahrzehnte, Göttingen 1982, S. 29–47, hier S. 43.

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utopisch genannte, aber doch mit Heidegger in den »Bereich der Zukünftigkeit« gestellte Perspektive: »Kann es gelingen, die Vergegenständlichung einmal aufzuheben, dann öffnet sich die Zukunft des Seins. Marx analysierte die Ökonomie der Geschichte, und sah mit ihrer Überwindung die Revolution unserer Welt beendet. Heidegger hinterfragt die metaphysischen Voraussetzungen unserer Zeit und vermutet nach deren Überwindung den dauerfähigsten Abschnitt unserer Geschichte.« (Z 12)

Ob solches gelingen kann, bleibt im Text offen. Der Schlusssatz – »Wir wissen nicht, wie sie [scil. die Antwort des Seins] ausfällt, aber wir sind dabei beteiligt.« (Ebd.) –, lässt Kosellecks Skepsis zwar durchscheinen, eine deutliche Absage an das »verborgene Seinsgeschick« – und das allein vor sich hinwesende Sein – stellt aber auch er nicht dar. Überhaupt ist dieses Referat zwar strukturierter, durch den Fokus auf den Aufsatz Heideggers jedoch auch deskriptiver angelegt und daher weniger darum bemüht, alle ihn bewegende Kritik unterzubringen.33 Einen Punkt aber gibt es dennoch, an dem Koselleck entschieden widerspricht. Die bereits im ersten Referat aufgeworfene Frage nach Status und Relativität wissenschaftlichen, d. h. alle Phänomene in theoretischer Vor-Sicht auf ihre pure Vorhandenheit hin objektivierenden Wissens (W 9), wird hier noch einmal aufgegriffen und am Beispiel historischer Geisteswissenschaften näher erläutert. Heideggers Reduktion der Quellen auf bloße »Zeugnisse gewesener Welt«, an denen sich die Geschichte vergegenständlicht und durch die allein sie zum Objekt der Forschung werden könne, gehe nämlich nicht allein am Phänomen vorbei, sondern mehr noch: »Mit dieser Abschnürung der Historie an die blosse Vergangenheit interpretiert sie Heidegger freilich aus ihrem Selbstverständnis heraus, das sie sich im Zuge der Vergegenständlichung im 19. Jh. angeeignet hatte. Alle echte Historie vollzieht sich nur im Bewusstsein geschichtlicher Zukünftigkeit, um die die großen Historiker wie Tocqueville oder Eduard Meyer immer gewusst haben.« (Ebd.)

Obwohl gerade Heidegger es war, der die ontologischen Voraussetzungen dafür geschaffen habe, die Zukünftigkeit auch alles Vergangenen begreifen zu können, sei er also einem historistischen Quellen- und Wissenschaftsbegriff aufgesessen, den als nicht »seinsgerecht« zurückzuweisen Koselleck schon hier nicht schwerfällt: 33 Dass Koselleck, nach eigener Aussage, gar nicht auf die Idee kam, Heidegger dabei sein NSEngagement vorzuhalten oder über ihm den Stab zu brechen, nicht nur weil ohnehin die meisten in irgend einer Form »engagiert« waren, sondern vor allem weil er »so viel von ihm gelernt habe«, sei an dieser Stelle (und gegen alle Hypermoral) noch einmal in Erinnerung gerufen (vgl. Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 55). Ähnlich hat er sich auch etwa gegenüber Gadamer verhalten. Er hält fest: »Wissen ist besser als Besserwissen. Der Vorgriff einer dualistischen Typologie von Gut und Böse verhindert, die unlösbaren Konflikte zu erfassen, in die alle verstrickt wurden, die damals leben mußten.« Koselleck, Reinhart, Er konnte sich verschenken. Gedenkrede auf Hans-Georg Gadamer, in: ders., Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Cartsen Dutt, Berlin 2010, S. 349–364, hier S. 361.

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»Wenn die historischen Wissenschaften darauf abzielen sollen, ›das Beständige vorzustellen‹, dann führen sie wesensmässig über sich hinaus, denn ihr seinsgerechter Entwurf zielt ja gerade auf das Unbeständige. J. G. Hamann sagt einmal: ›Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige, und dieses das Vergangene.‹ – wenn er recht hat, dann ist die ›Vergangenheit‹ so wenig und so viel zu ›erklären‹ oder zu ›verstehen‹ wie die Zukunft.« (Z 10)

Das Thema der »vergangenen Zukunft«, welches Koselleck später theoretisch noch weiter beschäftigen sollte, klingt schon deutlich an, aber genauso auch seine Herkunft eben aus dem Denken Heideggers. Hatte dieser »Zeitweise« im ersten Referat noch kaum eine systematisch-produktive Rolle gespielt, wird sein Einfluss an dieser Stelle, wo einer seiner Grundgedanken bereits gegen sich selbst gewendet werden kann, umso deutlicher. Welche Entwicklung dieser Einfluss und die an ihm entwickelten Motive in der Folge nehmen werden, soll im Folgenden wenigstens in einigen Hinsichten skizziert werden.

III. Der Elefant im Raum: Heidegger in »Historik und Hermeneutik« Die Beschäftigung mit der Philosophie Heideggers hatte, wie gezeigt, ihren Höhepunkt sehr früh in der akademischen Sozialisation Kosellecks, ebbt dann 1950/51 ab, um spät – gleichsam in einem Rückblick – noch einmal prägnant hervorzutreten.34 Ein zum 85. Geburtstag Gadamers gehaltener Festvortrag vom 16. Februar 1985 nahm nämlich zunächst nicht diesen selbst, sondern ausführlich Heidegger in den Fokus. Es geht Koselleck in dieser Rede darum, das Verhältnis von Historik und Hermeneutik zu eruieren.35 (HuH 98) Der Vorwurf, dessen Widerlegung den Beitrag implizit leitet, ist, dass Historiker nichts anderes machten als »bloß« Geschichten zu erzählen,36 was in der Konsequenz dazu führte, die Historik nur mehr als einen »Unterfall der Hermeneutik« (HuH 99) zu behandeln. Koselleck wollte hier also gegen eine bestimmte Okkupationstendenz der Hermeneutik das Eigenrecht der Historik stark machen, insofern der Historiker auf etwas zurückgreift, das vor  – oder besser: außerhalb  – aller Sprache liegt. Das Auffällige an dem Beitrag insgesamt ist allerdings, dass Koselleck gut die Hälfte seiner Überlegungen der Auseinandersetzung mit Heidegger widmet. Sachlich ist das ver34 Die Bibliothek Kosellecks verzeichnet nach 1950 lange keine weiteren Zugänge Heideggers mehr. Außer zweier offensichtlich ungelesener Bände aus der Bibliothek Kühns (»Hölderlins Hymne ›Wie wenn am Feiertage‹« (1943) und »Vom Wesen der Wahrheit« (1943)) kam dort allein der 1989 veröffentlichte Vortrag »Was ist Zeit« (1924) hinzu, bei dem dann aber am Rand auch nur noch die Fragezeichen dominieren. 35 Im Folgenden wird auch Koselleck, Reinhart, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 97–118 mit Seitenangaben im Text (Sigle: HuH) zitiert. 36 Vgl. auch den Vorwurf abmildernd Gadamer, Hans-Georg, Historik und Sprache. Eine Antwort von Hans-Georg Gadamer, in: Koselleck, Zeitschichten, S. 119–127, hier S. 125.

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ständlich, insofern Gadamers Hermeneutik sich zu nicht unerheblichen Teilen auf Vorarbeiten Heideggers stützt,37 aber auf diese Perspektive kommt Koselleck gar nicht ausführlich zu sprechen. Vielmehr wird Heidegger vorrangig als Theoretiker der Historik gelesen, der in »Sein und Zeit« einen »fundamental-ontologischen Aufriß [bot], der u. a. darauf zielte, die Bedingung möglicher Historie sowie die Bedingung möglicher Geschichte aus der Existentialanalyse des endlichen Daseins […] abzuleiten.« (HuH 99 f.) Im Interesse seines Nachweises, dass Historik nicht in Hermeneutik aufgehe, greift Koselleck nun vor allem wieder auf »Sein und Zeit« zurück. Dabei kommen, wie im Folgenden nachgewiesen wird, wesentlich die Aspekte zum Tragen, die er bereits im Rahmen seiner früheren Beschäftigung mit dem Text prinzipiell herausgearbeitet hatte. Ganz grundsätzlich bleibt Koselleck seiner Einschätzung treu, Heideggers existentialontologische Analyse liefere einen sinnvollen theoretischen Beitrag zur Historik. Die von ihm in Interviews oder Briefen immer wieder betonte Initiationskraft dieses Denkens erweist sich vermutlich gerade darin, wohingegen dessen eigentlicher Beitrag zu genuin philosophischen Diskursen gerade nicht rezipiert wird. Koselleck erkennt jedenfalls an, dass »Heidegger den Zeitlichkeitsund Geschichtlichkeitshorizont erschlossen hat, um Geschichte überhaupt als möglich zu erweisen […].« (HuH 106) Doch der unbestrittene Beitrag Heideggers zur Historik allgemein wird von Koselleck nicht einfach übernommen, sondern als kritischer Abstoßungspunkt zur Markierung der eigenen Position genutzt. Schon in seinem Referat zur Wahrheitsproblematik bei Brecht hatte Koselleck das heideggersche Denken als zeitgebunden erklärt, insofern er Heidegger in der »faktischen Situation« der sich auflösenden staatlichen Sittlichkeit im ersten Weltkrieg und des heraufkommenden formlosen Zeitalters der Massen verortete. (W 3) Dieser Lesart bleibt er treu, wenn es 1985 heißt, in »Sein und Zeit« zeige sich das ganze »Pathos der 20er Jahre« (HuH 100) und es bedürfe in »seine[n] zeitspezifischen Valeurs« wie in seiner Kategorienbildung vielfach schon der »historischen Übersetzung« (HuH 100, 102 f.). Koselleck historisiert Heidegger also wiederum konsequent, doch nicht, um ihm richtige Einsichten zu nehmen, sondern vielmehr um zu zeigen, inwiefern dieser noch nicht radikal genug nach den transzendentalen Bedingungen von Geschichte gefragt hat. Folgt man dieser Spur, erweisen sich die von Heidegger herausgestellten Existenzialen – die Kategorien des Daseins (HuH 106) – als zu beschränkt, zu bedingt. »Denn aus Herkunft, Erbe, Treue, Geschick, Volk, Schicksal, Sorge und Angst, um nur einige wichtige Bestimmungen zu wiederholen, lassen sich die Bedingungen möglicher Geschichten nicht hinreichend begründen.« (HuH 101) Insbesondere eine Ein37 Vgl. dazu exemplarisch die Parallelen zu Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 2001, §§ 31–34 und allgemein Grondin, Jean, Heidegger und Hans-Georg Gadamer. Zur Phänomenologie des Verstehens-Geschehens, in: Thomä, Dieter (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar 2003, S. 384–390. Gadamer hat diese Abhängigkeit nicht bestritten und in der Antwort auf Koselleck auch explizit gemacht (vgl. Gadamer, Historik, S. 119). Generell dazu auch ders., Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1965, z. B. S. 240–256, 472 f.

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seitigkeit beanstandet Koselleck bei Heidegger, nämlich den primären Fokus auf das Individuum, auf das für sich stehende Dasein. Heißt es im Referat, Heidegger habe »zwar die Subjekte aufgelöst, nicht aber die Individuen«, weshalb der »private Tod […] Horizont des Selbstverständnisses« bleibe (W 14), so betont Koselleck später in ähnlicher argumentativer Stoßrichtung, dass die »Zeiten der Geschichte […] von vornherein zwischenmenschlich konstituiert« seien. (HuH 101) Die Analyse Heideggers greift demnach noch zu kurz, da sie die Bedingtheit der von ihr herausgestellten Existenzialien als transzendentaler Bedingung der Möglichkeit von Geschichte nicht reflektiert. Diesem Umstand begegnet Koselleck dadurch, dass er die heideggersche Theorie »ergänzen« und »erweitern« möchte (ebd.), ohne jedoch den Grundansatz einer transzendental orientierten Kategorialanalyse aufzugeben. Er liest schon Heideggers Aussagen in diesem Sinne, insofern er die Konzepte der »Geworfenheit« oder des »Seins zum Tode« anthropologisch versteht. Auf diese Weise vereinnahmt er »Sein und Zeit« allerdings für etwas, dem sein Autor dezidiert widersprochen hatte.38 Und doch glaubt sich Koselleck mit Heidegger in einem Boot, denn solcherlei Kategorien seien immerhin geeignet, »so etwas wie die zeitliche Grundstruktur möglicher Geschichten zu thematisieren.« (Ebd.) Er ergänzt Heideggers Kategorien vor diesem Hintergrund also um fünf polar aufgebaute Begriffspaare (wobei weitere Ergänzungen von ihm explizit für möglich und sinnvoll gehalten werden): Sterbenmüssen – Totschlagenkönnen, Freund – Feind, Innen – Außen, Generativität39, Herr – Knecht. Indem er so die Kategorien erweitert, sieht er sich weiterhin »im Gefolge Heideggers«, denn es seien »in gewisser Weise […] transzendentale Kategorien, die die Möglichkeit von Geschichten benennen, ohne deshalb schon konkrete Geschichten hinreichend beschreibbar zu machen.« (HuH 109) Ganz in diesem Sinn hatte auch Heidegger »Geschichtlichkeit« zunächst so verstanden, dass sie vor dem liege, was man Geschichte im Sinne des weltgeschichtlichen Geschehens, der res gestae zu nennen pflegt.40 Koselleck bleibt einer solchen Perspektive treu, bemerkt allerdings, dass die heideggerschen Kategorien einerseits noch zu konkret sind, insofern sie von jenem zeitbedingten »Pathos der 20er Jahre« imprägniert seien, und zum anderen zu abstrakt, als sie nämlich – in Abwehr der Gefahr des Relativismus – zu formal bleiben, um geschichtliche Pluralität abzubilden. Denn auch dies, der antirelativistische Impuls, eint beide Autoren. Während Koselleck aber gegen den nun von Seiten der Sprache drohenden Relativismus das Vetorecht der Quellen und die strukturelle 38 Vgl. dazu Heidegger, Sein und Zeit, S. 45–50 und generell zu Heideggers Anthropologie-Feindlichkeit Großheim, Michael, Heidegger und die Philosophische Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner, Arnold Gehlen). Von der Abwehr der anthropologischen Subsumtion zur Kulturkritik des Anthropozentrismus, in: Thomä, Heidegger-Handbuch, S. 333–337. 39 »Generativität« oder – im Anschluss an Hannah Arendt – »Natalität« ist freilich kein wirkliches Begriffspaar, ließe sich mit Koselleck aber als polare Handlungsoption im Sinne von Kind- und Elternschaft interpretieren; vgl. HuH 106 ff. 40 Heidegger, Sein und Zeit, S. 19 f.

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Aufklärung der jeweils zugrundeliegenden Situationen stark macht,41 »begnügte« sich Heidegger mit der formalen Kategorie der Geschichtlichkeit selbst. Diese allerdings sitzt für einen Historiker gleichsam »zu hoch«, denn sie bleibt so abstrakt, dass sie zwar für alle Menschen gilt, aber die Konkretisierung in verschiedensten zeitlich-realweltlichen Kontexten nicht mehr selbst erklären hilft. In Kosellecks Worten klingt die Kritik so: »Diese Kategorie hatte gleichsam die Relativitätserfahrung des Historismus auf eine positiv lesbare Dauer gestellt, ohne dadurch die Vielfalt wirklicher Geschichten transzendental begründen zu helfen.«42 (HuH 110) Man könnte es auch überspitzt so formulieren, dass sich der Historiker Koselleck im Angesicht pluraler geschichtlicher Wirklichkeiten gegenüber dem Phänomenologen Heidegger und dessen formal-abstrakter Analyse als der bessere, weil an den »Sachen selbst«  – dem unbestrittenen Leitmotiv der Phänomenologie seit Edmund Husserl – viel stärker orientierte Denker erwiesen hat. Ein ähnlicher Impuls, wenn auch noch nicht so stark ausgebaut, deutete sich bereits in Kosellecks erstem Referat an, wenn er im kritischen Teil darauf hinwies, dass der Mensch, solange er da ist, in ganz konkreten Umwelten stehe. (W 9) Diesen Gedanken fortspinnend kann eine Historik also durchaus nicht-relativistisch operieren, indem sie die transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von ­Geschichte(n) untersucht, zugleich aber bedenkt, dass die Realisierung der Kategorien immer nur konkret erfolgt und auch eine derartige Historie nur vom Konkreten her zu ihren Ergebnissen kommen kann.43 Die beiden vorgenannten Kritikkomplexe – Zeitgebundenheit des heideggerschen Ansatzes einerseits, Begrenztheit seiner Kategorien andererseits  – laufen zusammen in einem dritten Kritikpunkt, den man gleichsam als die ontologische Ausgangsprämisse44 von Kosellecks eigenen historischen Arbeiten verstehen kann. 41 Vgl. in diesem Sinne z. B. Koselleck, Reinhart, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt a. M. 1989, S. 144–157 und ders., Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. S. 176–207. 42 Dem korrespondiert eine Anmerkung in Kosellecks Handexemplar von »Sein und Zeit«, wo es auf der Innenseite des hinteren Buchdeckels prägnant heißt: »Geschichtlichkeit = der [als] Begriff abgezogene Relativismus der Historie«. 43 Gadamer hat diese Verortung Kosellecks – dabei Heidegger verteidigend – nicht akzeptiert. Er meinte, Kosellecks historische Kategorien blieben »Grundbegriffe einer Gegenstandswelt und ihrer Erkenntnis.« Er behauptete also, Koselleck betreibe Regionalontologie. Seine Kategorien, so Gadamer weiter, »unterscheiden sich, scheint mir, grundsätzlich von Heideggerschen Begriffen, die die Geschichtlichkeit des Daseins und nicht die Grundstrukturen der Geschichte und ihrer Erkenntnis herauszuarbeiten suchen.« (Gadamer, Historik, S. 123). Gadamer hat die Opposition ganz richtig gesehen, allerdings versucht Koselleck eben dafür zu argumentieren, dass Heideggers Begriffe zugleich zu abstrakt (weil formal-überhistorisch) und zu konkret (weil zeitspezifisch erfahrungsgeladen) seien. 44 Mit ontologischer Basis ist in diesem Kontext gemeint, dass Geschichtswissenschaft mindestens (und meist nur) implizit auch Annahmen darüber enthält, wie die Welt aufgebaut ist und welche Entitäten in ihr vorkommen. Ob und inwiefern es den hegelschen »Weltgeist«, die »sittlichen Mächte« Droysens oder die Klassen im Sinne Marx’ also tatsächlich (oder »nur« intentional, metaphorisch usw.) gibt, hängt somit von diesen Prämissen ab.

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Schon in seinen studentischen Referaten hatte er, wie gezeigt, deutlich gemacht, dass man für eine Analyse der Geschichte auf eine Entität blicken muss, die jenseits der individuellen Sphäre des Daseins liegt. Darauf zielten ja jene kollektiven »Gravitationsfelder«, die die eigentliche »Wahrheit der Geschichte« ausmachten (W 1), oder die »den einzelnen Menschen übersteigenden Voraussetzungen« der jeweiligen geschichtlichen Situation, die es zu ergründen gelte. (Z 3) Heidegger dagegen versuchte vor allem in der ersten Hälfte von »Sein und Zeit«, das Dasein allein von sich selbst her zu begreifen: »Das Dasein versteht sich selbst immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.«45 »Dasein ist nie ontologisch zu fassen als Fall und Exemplar einer Gattung von Seiendem als Vorhandenem. […] Das Ansprechen von Dasein muß gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: ›ich bin‹, ›du bist‹.«46 Erst in späteren Kapiteln kommen überindividuelle Faktoren ins Spiel, die nicht – wie das »Man« – als uneigentliche und damit defizitäre Entitäten betrachtet werden, zum Beispiel das »Erbe« oder das in späteren Jahren geschichtsphilosophisch noch weiter entwickelte »Geschick«.47 Abgesehen von den für den heutigen Leser problematischen politisch-normativen Anklängen, die Koselleck klar waren, bleiben aber auch diese Konzepte letztlich unzureichend. Koselleck schreibt in seinem Wahrheits-Referat, das »Phänomen der Geschichtlichkeit« sei nicht »aus der vorlaufenden Entschlossenheit eines ›je meinigen Daseins‹ abzuleiten« (W 14). Genau das tut Heidegger aber, wenn er noch die vermeintlich überindividuelle Kategorie des Schicksals (und damit in der Folge auch Geschick und Erbe) als ein Selbstbestimmen des Daseins versteht: »Die ergriffene Endlichkeit der Existenz reißt aus der endlosen Mannigfaltigkeit der sich anbietenden Möglichkeiten des Behagens, Leichtnehmens, Sichdrückens zurück und bringt das Dasein in die Einfachheit seines Schicksals. Damit bezeichnen wir das in der eigentlichen Entschlossenheit liegende ursprüngliche Geschehen des Daseins, in dem es sich frei für den Tod ihm selbst in einer ererbten, aber gleichwohl gewählten Möglichkeit überliefert.«48

Es sei, so Heidegger, eine Entscheidung des Daseins, ein bestimmtes Erbe zu ergreifen, das dann in Form konkreter Geschichte wirkmächtig wird. Die Geschichtlichkeit realisiert sich also durch daseinsspezifische, jemeinige Entschlossenheiten – einmal abgesehen von den nach Heidegger viel zahlreicheren Fällen passiven, uneigentlichen Lebens in Alltäglichkeiten und in Verfallenheit. Dagegen wendet Koselleck kritisch ein: »Das Dasein ist durch + durch endlich. Und das bedeutet: Die Entschlossenheit zum eigensten Sein als die Übernahme dieser Endlichkeit ist der Entschluß auch zur Uneigentlichkeit. […] [A]uch in der Unwahrheit gibt 45 46 47 48

Heidegger, Sein und Zeit, S. 12 [Hervorh. d. Verf.]. Ebd., S. 42. Vgl. dazu ebd., S. 386. Ebd., S. 384. Diese Stelle ist vielleicht eine der eindrücklichsten Anknüpfungsstellen für Kosellecks Rede von der »Koppelschloßphilosophie«.

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es Wahrheit, denn auch in der Uneigentlichkeit steht der Mensch in der Wahrheit des Seins, ist er erschlossen, transzendiert er.« (W 8) Ohne hier näher ins Detail gehen zu müssen, weist diese Anmerkung doch auf zwei Dinge hin: erstens auf die durch die Endlichkeit des Daseins bedingte Unmöglichkeit, sich der historischen Situierung je ganz entziehen zu können. Jede entschlossene Übernahme bleibt noch, da der Mensch nicht nur existentiell, sondern auch epistemisch endlich ist, gebunden an die konkreten Umwelten, die Koselleck ja betont. Zweitens aber ist auch die zumeist gelebte Uneigentlichkeit keineswegs »unwahr«, sondern zeigt den Menschen als das, was er ist, zeigt ihn als in bestimmten Kontexten stehend, in denen Uneigentlichkeit eine rekonstruierbare, verstehbare geschichtliche Möglichkeit darstellt.49 Folgt man dieser Auslegung, dann wird klar, dass der heideggersche Ansatz beim bloß individuellen Dasein dieses als historischen, sprich: in konkreten Situationen stehenden Akteur nicht nur verkürzt, sondern letztlich sogar missversteht. Koselleck hat darum eine Historik zu entwickeln versucht, die in diesem Sinne hinter die Individuen sieht, die transzendental nach den Ermöglichungsbedingungen ihrer und aller Geschichte fragt und die insofern die daseinsbezügliche transzendentale Perspektive Heideggers noch einmal fundamental erweitert. Es sind eben jene »Gravitationsfelder«, um die es ihm geht, die »Strukturen der Endlichkeit […], die durch gegenseitige Ausschließung Zeitspannungen evozieren, die sich zwischen den und innerhalb der Handlungseinheiten notwendigerweise einstellen müssen. Geschichten ereignen sich nur deshalb, weil die in ihnen angelegten Möglichkeiten weiter reichen, als sie hinterher eingelöst werden können. Dieser Überschuß von Möglichkeiten muß abgearbeitet werden, um etwas ›in der Zeit‹ verwirklichen zu können.« (HuH 110)

Während Heidegger eigentliche Realgeschichte als das entschlossene Ergreifen einer Möglichkeit durch das Dasein versteht, will Koselleck vielmehr zeigen, dass sich Geschichte aus einem Möglichkeitsraum heraus entwickelt – ein Raum mithin, der denen, die in ihm agieren, nie explizit und in all seinen Möglichkeiten offenbar ist, weshalb er gegen Gadamer und die Hermeneutik behaupten kann: »Die Geschichte einer Periode schreiben, heißt Aussagen treffen, die in dieser Periode nie gemacht werden konnten.« (HuH 116) Wie aber ist dieser Möglichkeitsraum zu fassen? Was in seinen studentischen Referaten metaphorisch angedeutet wird, aber noch sachlich vage bleibt, bekommt – wohl stark unter dem Einfluss der Lektüre Freyers – mittels Schmitts einen konkretisierenden Impuls. In einem Brief vom 21. Januar 1953 dankt Koselleck diesem dafür, ihn gemahnt zu haben, »die Begriffe im Zuge ihrer Klärung stets 49 In diesem Sinne ist eine Anmerkung Kosellecks in seinem »Sein und Zeit«-Exemplar im Kontext des Geschick-Kapitels (S. 385) lesbar, wo es heißt: »Sache der Historiker, nicht des Daseins«. Es ist nicht Sache des Daseins, sein Erbe zu ergreifen und in der Wiederholung zu überliefern, sondern eine solche Perspektive auf das eigene Verhältnis zum Erbe steht nur dem distanzierten Historiker zu.

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auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen.«50 Es sind diese Situationen, genauer: »die Strukturen einer ›Situation‹«,51 die für Koselleck der neue geschichtsontologische Bezugspunkt werden. In einem nicht datierten, im Nachlass befindlichen Konvolut zum Begriff »Geschichtlichkeit« heißt es in diesem Sinne, die »Existenz unterliegt immer bestimmten Bedingungen, die erst den Menschen als Menschen konstituieren.« Dabei zeigen sich zum Beispiel »die Generationen […] als ein Apriori«52 für den Menschen. Was hier geschieht, ist, dass der die Geschichte ermöglichende transzendentale Bedingungsraum als eine an Möglichkeiten überschießende Situation verstanden wird, die der Historiker – sich immer nur annähernd, nie erschöpfend (HuH 114)  – rekonstruiert. Diese Situationen sind die Strukturen der Faktizität, die Koselleck gegen Heidegger – oder in seinem Selbstverständnis: Heidegger erweiternd  – stark machen möchte. In »Historik und Hermeneutik« bietet Koselleck daher die schon erwähnte Aufzählung von Oppositionspaaren an, weil diese gleichsam als Kategorien die mannigfaltigen Situationen strukturieren und prägen, ohne sie allerdings konkret zu determinieren. Realisierungskausalität kann erst der Historiker feststellen. Es bedarf der Oppositionspaare als Endlichkeitsstrukturen, weil sie »jene zeitliche Endlichkeit hervortreiben, in deren Horizont sich Spannungen, Konflikte, Brüche, Inkonsistenzen auftun, die situativ immer unlösbar bleiben, aber an deren diachroner Lösung sich alle Handlungseinheiten beteiligen und betätigen müssen […].« (HuH 110) Die hintergründige Situation – »Gravitationsfeld«, »Struktur der Endlichkeit« – wird als Möglichkeitsraum der Geschichte verstanden, dessen jeweiliger Eigenart sich mittels polarer Kategorien angenähert werden kann. Heidegger hat diesen Schritt, so Kosellecks Lesart, zwar auch getan, aber dabei den Blick auf ein isoliertes Individuum und dessen »jemeinige« Entschlüsse verengt. Mit seinem Fokus auf polyvalente Situationen, die gleichsam die Rückwand des sich vollziehenden und schon vollzogen habenden Lebens auf der Bühne der Geschichte bilden,53 steht Koselleck in seiner Zeit keineswegs alleine dar. Das Konzept der »Situation« hat in der Zeit bis 1950 insbesondere mit Jakob von ­Uexküll, aber auch mit den Arbeiten Freyers, Jaspers, Nicolai Hartmanns und Erich Rothackers philosophisch eine größere Bedeutung erlangt.54 Systematisch war an diesem Konzept unter anderem relevant, dass es gestattete, die Isolation von Subjekten gegen Objekte zu überschreiten und soziale Gebilde als existentielle Faktoren zu verstehen, mithin beides Impulse, die sich in Kosellecks Auseinandersetzung mit Heidegger wiederfinden.

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Brief Reinhart Koselleck an Carl Schmitt, 21.1.1953, in: Koselleck / Schmitt, Briefwechsel S. 9. Ebd., S. 12. DLA Marbach, NL Koselleck, Konvolut zum Begriff Geschichtlichkeit. Vgl. zur Einordnung von Koselleck als Situations-Denker auch Olsen, History, S. 64. Vgl. dazu Großheim, Michael, Erkennen oder Entscheiden. Der Begriff der »Situation« zwischen theoretischer und praktischer Philosophie, in: Internationales Jahrbuch für Hermeneutik, Bd. 1 (2002), S. 279–300, v. a. 282–297.

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Deutlich geworden ist somit, wie der späte Koselleck in der Auseinandersetzung mit der Existenzialontologe auf Gedanken zurückgreifen konnte, die er schon über drei Jahrzehnte zuvor ansatzweise entwickelt hatte.55 Die Kontinuität ist auffällig, wobei die Beständigkeit sicher auch daher rührt, dass er kaum weitere Texte Heideggers zur Kenntnis genommen hat und seine eigenen Lektüren offensichtlich wenig modifizierte.56 Der von den studentischen Referaten zur Gadamer-Würdigung sich abzeichnende Bogen gestattet es jedenfalls, bestimmte Motive im Denken Kosellecks an seine Arbeit an und mit Heideggers Texten zurückzubinden. Im Folgenden soll daher noch in drei schon thematisierten Hinsichten diese Rückbindung exemplarisch nachverfolgt werden, nämlich am Situationsdenken, am Relativismusproblem sowie am Verständnis der Zeitlichkeit. Es wird dabei kein Wert auf Vollständigkeit gelegt, wohl aber sollen durch das Werk Kosellecks gleichsam ein paar rote Fäden gelegt werden, deren Anfang die Beschäftigung mit Heidegger darstellt.

55 Ein »Inspiration« Kosellecks durch Heidegger behauptet auch, wie erwähnt, Olsen, History, S. 29, allerdings bleibt bei ihm unscharf, worin diese ganz genau bestehen soll. Richtig sieht Olsen, dass Koselleck die Existenzialien erweitert (ebd., 64 f.), aber die unterstellte unterschiedliche Endlichkeits-Auffassung liegt nicht vor. Vielmehr ergänzt Koselleck diese um weitere Faktoren, die ihr nebengeordnet werden, nicht diese erweitern. Auch die Behauptung, Koselleck habe nur »Sein und Zeit« (ebd., S. 75) rezipiert, entspricht, wie gezeigt, nicht dem Befund. Der von einem Rezensenten erhobene Vorwurf, Olsen zeige zwar überzeugend den Einfluss von »Sein und Zeit« auf »Kritik und Krise«, bleibe aber in seiner Erläuterung der Erweiterung der heideggerschen Kategorien um die genannten begrifflichen Oppositionspaare »confusing« (Spencer, Matthew, Review of History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck by Niklas Olsen, in: Central European History 46/2 (2013), S. 458–460), deckt sich womöglich mit der Feststellung, dass Olsen im Detail vage operiert. Die oben getätigten Erläuterungen sollen zeigen, wie genau Koselleck Heideggers Ansatz mittels der fünf genannten Konzepte ausbaut. Er will verdeutlichen, dass noch die Endlichkeit selbst strukturiert und notwendig geprägt ist. »Eigentlichkeit« ist also keine tabula rasa, die mit beliebigen Entschlüssen geformt zu werden gestattet. In den zuspitzenden Worten Schmitts ausgedrückt: »Das ›Nichts‹«, welches bei Heidegger sprachlich ja bekanntlich als Agens auftritt, »entpuppt sich eben als ein ›gewisses Etwas‹« (Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 297). 56 So bleibt es auffällig, dass Koselleck die naheliegende Perspektive, auch »Erbe«, »Geschick«, »Volk« situationsontologisch zu interpretieren, nicht ergriffen hat. Auch die späteren, zwar sprachlich hermetischeren, aber sachlich durchaus am Situationsdenken orientierten Arbeiten Heideggers wie »Bauen, Wohnen, Denken« (1952) oder der von ihm in den »Holzwegen« durchgearbeitete Aufsatz »Der Ursprung des Kunstwerks« (1950) sind ihm in dieser Hinsicht entgangen, aber sie sind auch allesamt keine Texte mehr, die unmittelbar und zunächst geschichtsontologisch zu verstehen wären.

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IV. Koselleck und die Impulse Heideggers Theoreme und Motive Heideggers, die in der philosophischen »Situation« Heidelbergs um 1950 ein große Rolle spielten und von Löwith, Gadamer und anderen weiterverfolgt wurden, ziehen sich auch durch das Œuvre Kosellecks. Nicht nur an besonders exponierten Anfangs- und (näherungsweisen) End- oder Selbstreflexionspunkten sind diese zu entdecken, sondern auch in den Schriften der Jahre dazwischen bleibt besonders das existentialontologische Geschichtsdenken eine dauernde Herausforderung. Einige Spuren solcher Abarbeitungen sollen im Folgenden kursorisch aufgezeigt und so vielleicht Perspektiven eröffnet werden, die auch über Koselleck hinaus zu einer Rezeptionsgeschichte Heideggers in der Geschichtswissenschaft anregen können. Wie gezeigt, ging es Koselleck darum, die von Heidegger nur in einer bestimmten Hinsicht kategorial gefasste Daseinssituation weiter, umfassender zu analysieren. Die Faktizität menschlichen Daseins ist als historischer Faktor unhintergehbar57 – und vor allem: sie ist für den Historiker (wenn auch nie vollständig) bestimmbar. Wenn man im Werk Kosellecks nach dem sich hier ontologisch abzeichnenden Forschungsobjekt sucht, landet man also erstens bei dem schon vielfach erwähnten Konzept der Situation, das terminologisch auch als Struktur gefasst werden kann.58 Was ist darunter zu verstehen? »Die Endlichkeit des Daseins verweist mit Heidegger auf dessen Zeitlichkeit, diese auf die geschichtlichen Valenzen jeder Situation.«59 Zeitlichkeit als eine bestimmte Relation von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verstanden, bedingt eine je anders gelagerte Situation, in der Verschiedenes zu finden ist. Situationen sind in diesem Sinne Möglichkeitsräume, sie bestimmen, ohne allerdings teleologisch ex ante zu determinieren, was geschichtlich passieren kann. Koselleck spricht daher von »diachrone[n]« bzw. »längerfristige[n] Strukturen« oder »strukturelle[n] Vorgegebenheiten«, die den konkreten »Ereignissen in anderer Weise vorausliegen als in einem chronologischen Sinne des Zuvor.«60 Situationen sind nicht konkrete geschichtliche Vorkommnisse, Ereignisse, Akte usw., die das Nachfolgende hervorgebracht haben, sondern eben Ermöglichungsbedingungen, die wiederum selbst als solche jedoch zunächst und zumeist verborgen bleiben. Dies scheint für Koselleck das wesentliche Merkmal von Situationen zu sein, dass sie selbst nur vermittelt fassbar 57 In diesem Sinne rezipiert Koselleck – gegen Jaspers und vermeintlich Heidegger zustimmend – wohlwollend Freyers Diktum, »Faktizität der Geschichte aufzulösen oder theoretisch zu überbieten, vermag auch die Philosophie keineswegs […].« DLA Marbach, NL Koselleck, Rezension Freyer / Jaspers S.  1. 58 So vor allem in Koselleck, Darstellung, S. 144–157. Es spricht sachlich aber einiges dafür, beide Begriffe synonym zu lesen, da ihre Merkmale identisch zu sein scheinen. 59 Koselleck, Reinhart, Wozu noch Historie?, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 32–51, hier S. 35. 60 Koselleck, Darstellung, S. 146 f. Ähnlich hatte er schon in »Kritik und Krise« sich auf die Suche nach den längerfristigen Vorgängen gemacht, vgl. ders., Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973, S. IX.

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werden, sie sind »nur greifbar im Medium von Ereignissen, in denen sich Strukturen artikulieren, die durch sie hindurchscheinen.«61 Gerade die aktual in ihnen Lebenden können auf sie kaum explizit rekurrieren. »[J]ede Geschichte [ist], während sie sich ereignet und nach dem Geschehen, auch etwas anderes […], als ihre sprachliche Artikulation leisten kann«,62 und was »tatsächlich der Fall war, […] ist also immer etwas anderes als die Summe der Aktionsmodalitäten im jeweiligen Erfahrungshaushalt der ehedem Beteiligten.«63 Situationen bleiben den Beteiligten oft zu erheblichen Teilen verborgen. Der Historiker kann zwar durch Distanz und Perspektive die Situation explizit bestimmen, ihren ontologischen »Überschuss« jedoch vermag auch er nicht einzuholen, bleiben die polyvalenten Strukturen in einem rationalem Nachvollzug des konkret Geschehenen immer unterbestimmt: »Kein Ereignis läßt sich hinreichend aus synchronen Bedingungen oder aus diachronen Voraussetzungen ableiten«64, weshalb Geschichte zu einem Prozess wird, der »kausal nicht mehr hinreichend erklärbar ist.«65 Ein Möglichkeitsüberschuss resultiert daraus, dass die Situationen selbst nicht letztbestimmt werden können, ggf. vielleicht sogar grundsätzlich nicht letztbestimmbar sind. In jedem Fall liefert dieses Konzept eine Antwort auf das mit Heidegger aufgekommene Problem, wie man intersubjektive Strukturen mittels eines Ansatzes bei einer für sich stehenden Existenz, dem Dasein, verstehen können soll.66 Situationen liefern als überindividuelle Entitäten den Hintergrund, von dem her erst das Individuum und mit ihm die geschichtlichen res gestae zu verstehen sind. Was Heidegger mit dem Terminus »Faktizität« (und wohl in Teilen auch mit dem der »Geworfenheit«) abzubilden und gleichsam durch einen Entschluss zur Eigentlichkeit gleich wieder überwinden zu müssen glaubte, wird für Koselleck zum expliziten Forschungsobjekt. Was Heidegger aufgetan hat – der Blick auf spezifische Weisen des (zeitlichen, räumlichen, gestimmten usw.) In-der-Welt-Seins67 –, wird von Koselleck konkreter und ernster genommen, als Heidegger dies selbst tat.68 Die Situationen dürfen hier natürlich nicht hegelianisch als autonome Mächte im Hintergrund – gleichsam als Geist hinter der Geschichte – verstanden werden, 61 Koselleck, Darstellung, S. 149. 62 Koselleck, Reinhart: »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 300–348, hier S. 301. 63 Ders., Sinn und Unsinn der Geschichte, in: ders.: Sinn und Unsinn, S. 9–31, hier S. 18. 64 Ders., Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: ders.: Sinn und Unsinn, S. 96–114, hier S. 100. 65 Ders., Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 130–143, hier S. 143. 66 Vgl. diese Perspektive auf Heidegger auch später bei Koselleck in ders., »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«  – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 349–375, hier S. 355. 67 Vgl. z. B. Heidegger, Sein und Zeit, S. 52 ff., 104 ff., 134 ff. 68 So scheint Koselleck schon als Student das Konzept »Metaphysik« bei Heidegger im Sinne der hier vorgestellten Situations-Logik gelesen zu haben, im zweiten Referat zur »Zeit des Weltbildes« (vgl. Z 4 f.).

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sondern sie sind (mindestens für den Historiker) analytisch fassbare Räume von Faktoren, Tendenzen, Vorgegebenheit, Wünschen, Hoffnungen usw., aus denen sich das Geschehen ergibt. Dass Koselleck sich die Realisierung bzw. Konkretisierung der Situationen anhand des Begriffs »Ereignis« erschlossen hat, ist dabei zumindest bemerkenswert. Während Ereignisse für ihn »von bestimmbaren Subjekten ausgelöst oder erlitten« werden, sind »Strukturen als solche überindividuell und intersubjektiv«69 und werden, wie gesagt, nur im Medium der Ereignisse greifbar.70 Damit aber nimmt Koselleck ausgerechnet einen Begriff auf, den gerade Heidegger in der Philosophie jener Zeit wieder zu etablieren suchte. Allerdings hat Koselleck dessen spätere Arbeiten ja nur noch am Rande und sehr distanziert zur Kenntnis genommen – eine gewollte Bezugnahme erscheint daher wenig plausibel. Sachlich ist zudem offensichtlich, dass Kosellecks Verständnis von Ereignissen – als von Individuen (und Gruppen von Individuen) innerweltlich vollzogene Handlungen im weitesten Sinne, welche hintergründig bedingt sind durch Situationen  – demjenigen Heideggers diametral entgegengesetzt ist, denn dieser konzipierte das Ereignis – es muss bei ihm im Singular bleiben – als autonome Wirkmacht, die über die Menschen und das Sein hinweg agiert.71 Wenn das Vorangestellte als ein Reflex auf die Auseinandersetzung mit Heidegger verstanden werden kann, schließt sich sachlich die Frage an, was daraus dann für den Historiker allgemein und für Koselleck speziell folgt. Wie geht er mit der neuen geschichtsontologischen Fundierung im Situationsdenken um? Bereits mehrfach klang an, dass es die Aufgabe des Historikers sei, den situativen Möglichkeitsraum zu bestimmen – freilich nicht beliebig, worauf gleich zurückzukommen sein wird. Man kann ihn auch, um einen naheliegenden Terminus der Phänomenologie aufzugreifen, einen Explikator nennen,72 der die polyvalenten Strukturen ausgehend von seinem Standpunkt vereindeutigt, sie bestimmt.73 Dem Historiker ist die Möglichkeit gegeben, die hintergründigen Strukturen der Faktizität aufzuschlüsseln, wobei er, ausgehend von einem jeweiligen Standpunkt, 69 Koselleck, Darstellung, S. 147. 70 Vgl. erneut ebd., S. 149. 71 Vgl. z. B. Heidegger, Martin, Zur Sache des Denkens. Tübingen 1969, S. 24 und allgemein orientierend zu Heideggers Ereignis-Philosophie Seubold, Günter, Ereignis. Was immer schon geschehen ist, bevor wir etwas tun, in: Thomä, Heidegger-Handbuch, S. 302–306. Die Differenz zu Koselleck bringt Heidegger ungewollt, aber präzise selbst auf den Punkt, wenn er  – ausgehend von seinem Ereignis-Begriff  – meint, allein »in der unmittelbaren Überspringung des ›Historischen‹ wird Geschichte.« (Heidegger, Martin, Beiträge zur Philo­sophie (Vom Ereignis), Frankfurt a. M. 1989, S. 10.) Koselleck hätte formulieren müssen, dass nur in der geschichtswissenschaftlichen Durchdringung des Historischen, gleichsam im phänomenologischen Eindringen in dieses, sich die Geschichte rational verstehen lässt. 72 Vgl. dazu z. B. Schmitz, Hermann, Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn 1990, S. 211–215. 73 Vorläufer hierfür fand Koselleck dann in Fénélon und vor allem in Chladenius, vgl. Koselleck, Standortbindung S. 188.

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Bestimmungen derselben sichtbar macht. Gerade dies nicht beachtet zu haben, sondern Geschichte als prospektive Geschichtsphilosophie missverstanden zu haben, warf Koselleck bekanntlich der Aufklärung (und seiner eigenen Zeit) vor. Es dürfe die Geschichte eben gerade nicht ihrer Faktizität entblößt werden,74 sondern diese müsse redlich, wenn auch bedingt aufgeschlossen werden. Die Voraussetzungen der Geschichte sind so komplex, dass jeder Versuch, Geschichte teleologisch, kausal, eschatologisch usw. zu lesen, an der Natur der Strukturen vorbeigehen muss, denn diese bleiben in zweifacher Hinsicht vage – einerseits aus sich selbst heraus, andererseits durch die hermeneutisch unhintergehbare Standpunktnahme des Historikers. Der Fokus auf die Strukturen bzw. Situationen ist also ein erster Reflex Kosellecks, der sich Heideggers Impulsen verdankt – die Faktizität und die jemeinige Spezifik des In-der-Welt-Seins standen sicher Pate –, gleichwohl diesen Ansatz auch kritisch weiterentwickelt. Dies geschieht in zwei wesentlichen Hinsichten, zum einen durch eine viel differenziertere Analyse der Strukturen der Faktizität selbst, zum anderen durch ein stärker kollektiv ausgerichtete ontologische Perspektive. Allerdings kommt Koselleck damit in Fahrwasser, die schon Heidegger zu meiden versuchte, nämlich die Gefahren des Relativismus. Wenn sich die kollektiven Entitäten, die Situationen, als mannigfaltig polyvalent erweisen und der Historiker jeweils standpunktgebundene Vereindeutigungen vornimmt, was ist das dann anderes als der Weg in die subjektive Beliebigkeit historischen Erzählens im Sinne »bloßen Fabulierens«? Schon im Rahmen der studentischen Auseinandersetzung mit dem Wahrheitsverständnis Heideggers hatte Koselleck herausgestellt, dass es eine unhintergehbare zirkuläre Struktur des erkennenden Daseins gibt. »Das absurde Problem der Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft kann auf Heideggerschem Boden gar nicht aufkommen, da das Erkennen selbstverständlich die Vorwegstruktur des Daseins ausmacht.« (W 11) Die Welt ist immer schon ausgelegt, sofern Dasein ist, und Erkennen ist letztlich nichts anderes als explizite Thematisierung des immer schon geschehenen Auslegens. Insofern gibt es keine Voraussetzungslosigkeit, keine tabula rasa des Erkennens.75 Diese rück- oder vorbezügliche Struktur bietet, so jedenfalls Koselleck mit Heidegger, gegen den Relativismus-Vorwurf ausreichend Widerstand, und so kann man hier denn auch den zweiten wesentlichen Rezeptionsimpuls ausmachen. Heidegger hatte in »Sein und Zeit« eine Wahrheitskonzeption vertreten, die gerade aus dem Dasein und seiner Situiertheit die transzendentale Ermöglichungsbedingung von Wahrheit überhaupt machte. Ausgehend davon, dass ewige Wahrheiten nicht bewiesen sind, schreibt er:

74 Vgl. Koselleck, Kritik und Krise, S. 155. 75 Von diesem durch Koselleck besonders betonten Aspekt in »Sein und Zeit« (vgl. W 9 ff.) lässt sich leicht ersehen, inwiefern Gadamers Denken später unmittelbar anschlussfähig war für seine Historik.

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»Alle Wahrheit ist gemäß deren wesenhaften daseinsmäßigen Seinsart relativ auf das Sein des Daseins. Bedeutet diese Relativität soviel wie: alle Wahrheit ist ›subjektiv‹? Wenn man ›subjektiv‹ interpretiert als ›in das Belieben des Subjekts gestellt‹, dann gewiß nicht. Denn das Entdecken entzieht seinem eigensten Sinn nach das Aussagen dem ›subjektiven‹ Belieben und bringt das entdeckende Dasein vor das Seiende selbst.«76

Indem das Dasein seine Verflochtenheit mit dem Seienden entdeckt, entdeckt es dieses in seinen wesentlichen Eigenschaften, übrigens gleichzeitig mit sich und der Wahrheit in den jeweiligen Merkmalen. Darum ist aus der Daseinsrelativität keine Unmöglichkeit von Wahrheit zu folgern, vielmehr setzen »›wir‹ [Wahrheit] voraus, weil ›wir‹, seiend in der Seinsart des Daseins, ›in der Wahrheit‹ sind. […] Nicht wir setzen die ›Wahrheit‹ voraus, sondern sie ist es, die ontologisch überhaupt möglich macht, daß wir so sein können, daß wir etwas ›voraussetzen‹.«77 Diesem Impuls folgend entwickelt Koselleck seine pluralistische und zugleich nicht-relativistische Perspektive auf die Geschichte. Gegenüber Schmitt fasst er seinen Grundgedanken so: »Die Reduktion aller geistigen Äusserungen auf die Situation setzt allen weiteren Relativierungen nach vorne und hinten, nach oben und unten ein absolutes Ende. Die Endlichkeit des geschichtlichen Menschen wäre also in den Blickpunkt zu rücken, […] in Hinsicht auf den dauernden Ursprung der Geschichte: also in Hinsicht auf die Strukturen einer ›Situation‹, ohne die es soetwas wie Geschichte gar nicht gibt.«78

Liest man diese Aussage als existentialontologisch inspiriert, will sie besagen, dass man die konkreten historischen Situationen als conditio sine qua non humaner Handlungsmöglichkeiten bedenken muss, denn sie begrenzen, was überhaupt möglich ist – im Tun, im Erkennen, im Wünschen, im Fühlen usw. Diese Relativität stellt dabei sicher, dass nicht beliebige Aussagen über historische Konstellationen zu treffen sind, sondern sich eine historiographische These erst und überhaupt in der Rückbindung an die strukturierte Situation als adäquat erweise. Zudem lassen sich auch Historiker selbst in ihren epistemischen Kontext einordnen, wie gerade Koselleck Heidegger situiert hatte. Aus diesem Ansatz folgt dann, dass »perspektivische Urteilsbildung und Parteilichkeit nicht identisch seien«, womit ein »theoretische[r] Rahmen gespannt [ist], der bis heute«, so Koselleck, »nicht überschritten worden ist. Denn der Quellenbefund vergangener Geschehnisse zeigt eine Widerständigkeit und behält ein Eigengewicht, das nicht ex post durch Parteinahmen für oder gegen beliebig verschiebbar ist. Wohl aber können Quellen durch verschiedene Blicknahmen Verschiedenes zu erkennen geben.«79 Der zuletzt genannte Aspekt, dass verschiedene Blicknahmen – mit Heidegger und Gadamer gesprochen: Vorgriffe – Verschiedenes sehen lassen, zeigt zudem 76 Heidegger, Sein und Zeit, S. 227. 77 Ebd., S. 227 f. 78 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 11 f. 79 Vgl. Koselleck, Standortbindung, S. 187.

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auf, wie Koselleck Antirelativismus mit Pluralismus vereint. Für ihn gibt es den neuzeitlichen Begriff der Geschichte an sich bekanntlich nur als plurale tantum.80 Wie aber ließe sich das legitimieren? Als Schlüssel zum Verständnis bietet sich, ausgehend wieder von Heidegger, die Polyvalenz der Situationen an. Es liegt im jeweilig historisch aktuellen Möglichkeitsraum immer mehr, als den Beteiligten bewusst ist und als sich dann realisiert. Es gibt keine Instanz, die diesen »Überschuss« zu fassen vermag,81 zudem explizieren alle Zeitgenossen nicht einmal teleologisch auf ein gemeinsames Endziel hin. In Kosellecks Worten: »Was von den verschiedenen Agenten an einer Geschichte, so wie sie entsteht, für gehalten und in actu vollzogen wird, konstituiert pluralistisch die kommende Geschichte. Es handelt sich also immer um eine gegenseitige Perspektivierung aller Beteiligten […]. Während sich Ereignisse zusammenbrauen […], gibt es keine gemeinsame Wirklichkeit, die von den verschiedenen Beteiligten auf dieselbe Art wahrgenommen werden könnte. Die Wahrnehmungsgeschichte ist immer pluralistisch gebrochen.«82

Strukturierte Situationen werden von allen Beteiligten verschieden ausgelegt, ohne dass es Heideggers Kategorien der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit bräuchte. Daraus resultiert die Multiperspektivität in der Zeit und auch durch die Zeit. Gleichwohl bleiben die Situationen als das Hintergründige der Boden, auf dem sich die Perspektiven als sinnvoll, falsch, adäquat, irreführend usw. erweisen müssen. Man könnte also überspitzt sagen, dass durch diesen Blick auf die Polyvalenz der Situationen Koselleck Eigentlichkeit situativ verortet (und damit implizit pluralisiert). Ein dritter und letzter Impuls Heideggers, den Koselleck früh aufgegriffen hat und dem er auch bis zuletzt folgte, lag schließlich in dessen Versuch einer fundamental- oder transzendentalontologischen Analyse der zeitlichen Strukturen des Daseins. Wo Koselleck seit Beginn der 1970er Jahre nach den Bedingungen möglicher Geschichte fragte, wo die »historischen Zeiten« zum Thema und die formalen Strukturen von Zeit und Geschichtlichkeit mehr und mehr zum Gegenstand der Analyse gemacht wurden, ja selbst dort, wo er eine historische Anthropologie in Aussicht stellte oder forderte, da bewegte er sich implizit oder explizit in den Bahnen Heideggers.83 Auffällig ist jedoch auch hier, dass »dieser« Heidegger sich im Laufe der Jahre kaum ändert, dass Koselleck das Bild jener frühen Auseinandersetzung im We-

80 Vgl. ders., Formale Zeitstrukturen, S. 143. Übrigens hatte Koselleck gerade bezüglich des Singulars »Geschichte« die Gefahr gesehen, dass dieser beliebig ideologisch aufgeladen und gedeutet werden kann, vgl. ders., Wozu noch Historie?, S. 41. Der Plural sichert gegen Beliebigkeit – eine nur scheinbar paradoxe Konsequenz. 81 Theoretisch haben Geschichtsphilosophen eine solche Figur freilich gesucht – Hegels »welthistorische Individuen« fallen etwa in diese Kategorie. 82 Ders., Sinn und Unsinn, S. 17. 83 Koselleck selbst hat das auch schon mit Blick auf »Kritik und Krise« und das Preußenbuch betont. Vgl. Koselleck / Narr / Palonen, Zeit, S. 9 f.

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sentlichen beibehält und folglich dessen zeitphilosophische »Kehre« von der daseinsfundierten Zeitauffassung zu einer geschichts- oder zeitfundierten Auffassung des Daseins – so man sie denn überhaupt für nachvollziehbar hält – nicht mehr reflektiert.84 Die frühe Kritik an der »Privatgeschichte« des Daseins, also am fehlenden Übergang von individueller Geschichtlichkeit zu den »Zeitstrukturen der Geschichte«, taucht darum auch wiederholt auf und wird wie in der Auseinandersetzung mit Gadamer zum Sprungbrett der eigenen Versuche, den von Heidegger aufgewiesen Weg zu einer formalen Historik oder »Metahistorie« weiterzuverfolgen.85 Dabei hätte sich Koselleck an der Entwicklung Heideggers nach »Sein und Zeit« durchaus bestätigt sehen können. Dessen Suche nach einem Ausweg aus den eigenen Aporien bestimmungsloser Eigentlichkeit und hochgradig formalisierter Geschichtlichkeit, die ihn erst zur politischen Bindung, dann zum eschatologischen Seins-Mythos als dann eben doch notwendigen Instanzen für Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit führten, hätte Koselleck nämlich ohne weiteres als Beleg dafür anführen können, dass auch solch formale Kategorien, wollen sie historische bleiben, stets situativ gebunden sein müssen und somit gleichsam eine Ebene niedriger anzusetzen seien als bei Heidegger. Die Spannungen von Freund-Feind, Innen-Außen usw. bis hin zu jenen von Wiederholung und Innovation, die Koselleck in den letzten Jahren besonders beschäftigt hatten, stehen eben nicht absolut oder gar selbst als Akteure im Raum, sondern sie bedürfen stets der perspektivischen Konkretion, oder wie es schon am Schluss des zweiten studentischen Referates sinngemäß hieß: wir wissen nicht um die Antwort des Seins unserer Geschichte, »aber wir sind dabei beteiligt« (Z 12). Den geschichtsphilosophischen Ausweg Heideggers, der ihn kaum über Vorstellungen linearer Zeitlichkeit hinaus, ja vielmehr zurück in das historistische Schema von Verfall und Aufstieg geführt hatte,86 konnte Koselleck also tatsächlich getrost ignorieren, zumal sich seit den 1980er Jahren auch neue zeittheoretische Angebote abzeichneten, die Antinomien einer jeden Zeittheorie wenn nicht zu lösen, so doch in ihren Spannungen beschreiben und insofern auf die eigene Historik beziehen zu können.87 Die ›Verzwergung‹ Heideggers, die im späten Lexikon-Beitrag über die »Zeit« durchklingt, wo er dessen Analyse des zum Tod vorlaufenden Daseins »inzwischen als ›biologische Uhr‹ naturwissenschaftlich

84 Vgl. Figal, Günter, Heidegger. Phänomenologie der Freiheit, Tübingen 2013, S. 236 f. 85 So explizit in Koselleck, Reinhart, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten, S. 298–316, hier S. 299. Vgl. auch ders., Wozu noch Historie?, S. 45 f. u. ders., Erfahrungsraum, S. 355. 86 Ders., Theoriebedürftigkeit, S. 299. 87 Man denke nur im deutschsprachigen Kontext etwa an Elias, Norbert, Über die Zeit, Frankfurt a. M. 1984, Blumenberg, Hans, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt a. M. 1986, Flasch, Kurt, Was ist Zeit?, Frankfurt a. M. 1993 oder, zu Kosellecks Interesse an Wiederholungsstrukturen besonders passend, Cramer, Friedrich, Der Zeitbaum. Grundlegung einer allgemeinen Zeittheorie, Frankfurt a. M. 1993.

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objektiviert« sah,88 dürfte da – das zeigen auch die lebensgeschichtlichen Interviews des mittlerweile selbst »zeitweisen« Kosellecks – allerdings nicht das letzte Wort sein. In den jüngeren Versuchen, die Phänomene von Zeit und Zeitlichkeit zu ergründen, hat Heidegger jedenfalls seinen festen Platz.89 Ob und inwiefern dies auch für die Geschichtswissenschaft gilt, bleibt bis zu einer umfassenden Analyse der Rezeptionsgeschichte Heideggers abzuwarten.90 Das Werk Reinhart Kosellecks kann hierfür ein Ausgangspunkt sein.

88 Koselleck, Reinhart, Zeit, in: Jordan, Stefan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 331–336. 89 Vgl. zuletzt Schmitz, Hermann, Phänomenologie der Zeit. Freiburg i. Br. 2014, v. a. S. 217–237 und Rosa, Hartmut, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen der Moderne, Frankfurt a. M. 2005, z. B. S. 66, 443, 450 f. Übrigens greift Rosa zugleich (und in noch umfassenderen Maße) auf Koselleck zurück (vgl. z. B. ebd., S. 397–401), womit er in gewisser Weise die Beziehung beider zueinander implizit aufzeigt. 90 Bezeichnend ist in dieser Hinsicht, dass das einschlägige »Heidegger-Handbuch« (Thomä, Heidegger-Handbuch) zwar zahlreiche Rezeptionskontexte nachzeichnet – unter anderem etwa in der Satire –, aber im Hinblick auf die geschichtswissenschaftliche Rezeption schweigt.

Christof Dipper

Der Gelehrte als Schüler. Der Briefwechsel Reinhart Kosellecks mit Carl Schmitt In der bekannten Komödie Molières, auf die der Titel dieses Beitrags anspielt, inszeniert sich der neureiche Bürger Jourdain als Edelmann. Trotz aller Anstrengungen scheitert er bekanntlich. In dem Ende 2019 von Jan Eike Dunkhase sorgfältig herausgegebenen Briefwechsel Kosellecks mit Carl Schmitt1 inszenieren sich die beiden Briefpartner ebenfalls: Carl Schmitt als Hüter seiner wissenschaftlichen Hinterlassenschaft und Reinhart Koselleck als sein lebenslang dankbarer Schüler. In diesen Rollen scheitern sie allerdings nicht, sondern halten sie bis zu Schmitts Tod durch. Beide hätten sicherlich bestritten, sich in ihren Briefen lediglich zu inszenieren, d. h. in Wirklichkeit ein anderer zu sein, aber das gehört nun einmal zu einem solchen Spiel. Allerdings ist Schmitt im Unterschied zu Koselleck in jedem seiner Briefwechsel ein anderer, und zwar nicht nur, weil er jeweils auf den Partner eingeht, sondern aus Berechnung; er beherrschte ja laut eigener Aussage »mindestens sieben lebendige, d. h. ideologische […] Sprachen«.2 Mit seinem Schüler Ernst Forsthoff beispielsweise verkehrte er auf Augenhöhe; beide diskutierten aber nicht nur Fragen des öffentlichen Rechts, sondern beklagten den Gestaltwandel der Universität, waren häufig gekränkt, sannen auf Gegenwehr und übten Kollegenschelte.3 Insgesamt handelt es sich, mit Michael Stolleis zu sprechen, um ein Dokument des Leidens an der Bundesrepublik.4 Von alledem ist im Briefwechsel mit Koselleck nie die Rede. Aus Schmittscher Perspektive hat der Briefwechsel mit Koselleck einen vergleichsweise geringen Umfang, er umfasst ganze 119 Stücke sowie zwei an Kosellecks Frau Felicitas gerichtete. Überliefert bzw. ediert sind im Falle Ernst Forsthoffs von 1926–1974 immerhin 359 Briefe, Karten und Telegramme, bei Armin Mohler sind es von 1949–1980 nicht weniger als 391 Briefe und bei Ernst Jünger trotz längerer Lücken sogar 426 Briefe und Karten. Dunkhase hat sicher recht, 1 Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, hg. von Jan Eike Dunkhase, Der Briefwechsel 1953–1983, Frankfurt 2019. 2 Darunter verstand er, wie er im Februar 1956 im Selbstgespräch notierte, »humanistisch, liberaldemokratisch, faschistisch, marxistisch, römisch-katholisch, christlich-evangelisch, ferner: positivistisch und hegelianisch«. Schmitt, Carl, Glossarium, Aufzeichnungen aus den Jahren 1947–1958, hg. von Giesler, Gerd / Tielke, Martin, Berlin 22015, S. 341. 3 Schmitt, Carl / Forsthoff, Ernst, Briefwechsel 1926–1974, hg. von Mußgnug, Dorothee / Mußgnug, Reinhard / Reinthal, Angela, Berlin 2007. 4 So der bestimmende Eindruck Michael Stolleis’ in seiner Rezension, ders., Leiden an der Bundesrepublik, in: Rechtsgeschichte 13 (2008), S. 205–207.

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wenn er schreibt, dass »für den unermüdlichen Briefschreiber Schmitt […] diese Korrespondenz sicher kostbar, aber eine unter vielen« war5, während er schon rein quantitativ für Koselleck »eine Ausnahme«6 darstellte, da sein Briefwerk eher geringen Umfangs ist und jedenfalls in keinem Verhältnis zu seiner weltweiten wissenschaftlichen Bedeutung steht. Es ist also kaum möglich, seine Haltung in den Briefen an Carl Schmitt mit der an andere Empfänger, ob prominent oder nicht, zu vergleichen. An seiner Selbstinszenierung als Schüler kann jedoch kein Zweifel bestehen. Koselleck behielt die in seinem ersten Brief als Doktorand benutzte Anredeform dauerhaft bei und schrieb stets an den »sehr verehrten Herrn Professor«, unterzeichnete auch vielfach als »sehr ergebener«, während Schmitt sich von Anfang an jovial präsentierte (»Ihr alter Carl Schmitt«).7 Koselleck gab sich lebenslang als dankbarer und deshalb gelegentlich bis zur Beflissenheit hilfsbereiter Verehrer, der Bücher und Kopien besorgte, Kontakte herstellte und bei Interpretationen Hilfe leistet, der alle Zumutungen der Schmittschen Selbstdarstellung ignorierte und auch so gut wie alle Klagen Schmitts über sein Schicksal als die Unperson der frühen Bundesrepublik überging. Noch aus Anlass von Schmitts neunzigstem Geburtstag dankte er Schmitt »für die jahrzehntelangen Anregungen, die meinen wissenschaftlichen Lebenslauf begleitet haben« (25. Juli 1978).8 Dieser Aufsatz möchte einen Beitrag zum vieldiskutierten Verhältnis Reinhart Kosellecks zu Carl Schmitt liefern, aber er beschränkt sich dabei auf ihren Briefwechsel. Dort waren die beiden Protagonisten unter sich und mindestens der (anfangs noch) junge Koselleck dachte niemals daran, dass seine Briefe je publiziert würden. Folglich erlaubt diese Quellengattung andere, um genau zu sein, ehrlichere Einblicke in beider Beziehung, als ihre wissenschaftliche Produktion, die zwangsläufig zur Veröffentlichung bestimmt war, was gegenseitige Nebenabsichten beim Zitieren nicht nur nicht ausschloss, sondern zum festen, wenn auch meist stillschweigend gehandhabten Bestandteil machte. Im Briefwechsel ist jedoch der Blick ein wenn schon nicht unverstellter, so jedenfalls nicht aufs Publikum zielender. Die Frage wird also sein, ob das hier sich offenbarende Bild ein anderes ist als herkömmlich in der wissenschaftlichen Literatur verbreitet. 5 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 410. 6 Ebd. 7 So unterzeichnete Schmitt auch seine Briefe an Armin Mohler, der ebenfalls im Zuge seiner Dissertation schon 1948 in brieflichen und persönlichen Kontakt mit ihm gekommen war, während die Anrede immer vertraulicher wurde: Von »lieber Herr Mohler« (ab 1948) über »mein lieber Armin Mohler« (ab 1949) bis zu »mein lieber Arminius« (ab 1954). Diese Vertraulichkeit galt auch umgekehrt. Mohler wechselte wohl schon bald die (in der Edition meist unterschlagenen) Schlussformeln und grüßte später als »Arminius«, während er seine Anrede »mein lieber Herr Professor« bereits ab Februar 1949 benutzte und bis zum Ende beibehielt; aber selbst in den beiden ersten Briefen von 1948 sprach er Schmitt mit »lieber Herr Professor« an. Schmitt, Carl / Mohler, Armin, Briefwechsel mit einem seiner Schüler, hg. von Huhn, Irmgard//Tommisen, Piet, Berlin 1995. Da das Gros der Briefe Mohlers an Schmitt in dieser Ausgabe, die eine Carl Schmitt-Briefausgabe sein möchte, fehlt, ist der Vergleich trotz auffälliger Parallelen zu Kosellecks Beziehung zu Schmitt nur begrenzt möglich. 8 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 331.

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Es gibt zunächst zwei Möglichkeiten, diese 119 Briefe zu analysieren, strikt chronologisch oder thematisch gegliedert. Der Charakter vieler Briefe lässt es jedoch geraten scheinen, von einer solch rigorosen Trennung zwischen den beiden Zugriffen abzusehen, schon weil der erste überlieferte,9 Kosellecks Brief vom 21. Januar 1953, so viele Facetten enthält, dass es unklug wäre, diese zu trennen. Koselleck war eben von seinem ersten von insgesamt dreizehn Besuchen in Pletten­berg zurückgekehrt, als er in dem Brief ein Panorama entfaltete, das alles andere als ein im strikten Sinne geschichtswissenschaftliches Programm war. Welcher Historiker sprach damals von »einer Geschichtsontologie«, mit deren Hilfe man zu einer »Begriffsbildung« gelangen müsse, »die es ermöglicht, den Geschichts­ philosophien das Wasser abzugraben und somit eine Antwort auf unsere konkrete Situation darstellen kann«?10 So eindeutig zwischen den ­Disziplinen angesiedelt, war eine Promotion damals wie heute nicht ohne Risiko.11 Der geistige Horizont dieses knapp dreißigjährigen Doktoranden ist schlechterdings atemberaubend. Er zeugt von intensiver, kritischer Lektüre Kosellecks, beneidenswertem Gedächtnis für das einmal Gelesene und einem klaren Willen, die Gegenwart wirklich zu verstehen, wofür es seiner Meinung nach eine Kombination von Geschichtswissenschaft, Kultursoziologie und Philosophie brauchte. Was die letzteren beiden Disziplinen betrifft, so war er bei Alfred Weber einerseits, Franz Josef Brecht, dessen Nachfolger Karl Löwith und Hans-Georg Gadamer andererseits in Heidelberg bestens bedient. In Geschichte hat er dagegen von Johannes Kühn, seinem Patenonkel und Doktorvater, dessen er sich lebenslang dankbar erinnerte,12 9 Dass er nicht der erste Brief überhaupt sein kann, geht schon aus Kosellecks zweitem Satz hervor, in dem er von seiner »kurzfristigen Anfrage« schrieb, »ob Ihnen mein Besuch genehm sei« (21.1.1953; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 9.). Kennengelernt hatten sich die beiden bekanntlich in der zweiten Jahreshälfte 1950 in Heidelberg, nachdem Koselleck von seinem Auslandssemester in Bristol zurück war und Schmitt seine Frau im August, Oktober und November im Krankenhaus besuchte und dann dort kurz verweilte. Als diese am 3. Dezember 1950 starb, reiste der damals weitgehend mittellose Witwer kaum noch nach Heidelberg, so dass von da an der Kontakt fast nur ein schriftlicher sein konnte. Dem ersten überlieferten Brief Kosellecks vom 21. Januar 1953 kann schon deshalb kein jahrelanges Schweigen vorausgegangen sein, weil er Schmitt für »die liebenswürdige Gastfreundschaft« in Plettenberg dankte, ergänzt um das »Gefühl einer persönlichen Dankbarkeit […], das mich auf dem Felde meiner Studien bereits seit Jahren begleitet hat« (ebd.). Dass zwei Jahre Stille zwischen Heidelberg und Plettenberg herrschte, ist angesichts der engen Beziehung, auf die schon das üppige Weihnachtsgeschenk der vier Bewunderer Carl Schmitts 1950 deutet − neben Koselleck waren dies Nicolaus Sombart, Hanno Kesting und Gerhard Hergt −, ganz unwahrscheinlich. Das Geschenk war eine Hobbes-Biographie von 1681 (ebd., S. 412). 10 Ebd., S. 11. 11 »Ich persönlich war damals froh, dass meine Arbeit, die weder nur historisch, noch nur soziologisch, noch nur philosophisch eindeutig ausgewiesen war, überhaupt akzeptiert wurde«. Koselleck, Reinhart, Dankrede, in: Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck (1923–2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 50. 12 Es überrascht, dass Koselleck Kühns Hauptwerk, Toleranz und Offenbarung, die Habilitationsschrift von 1923, weder damals (»Ich selber besitze es nicht«, Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 344) noch später besaß (s. Katalog des Deutschen Literaturarchivs [DLA]

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bei seiner Suche nach einer die Herkunft der Gegenwart aufdeckenden Lesart der Vergangenheit wohl erst vergleichsweise spät Anregungen erhalten.13 In diese Lücke ist Carl Schmitt, vielleicht ohne es zu ahnen, 1950 gestoßen; der Einstieg war das gemeinsame Interesse an Hobbes, den Koselleck für seine Strukturanalyse des Absolutismus benutzte,14 und an dessen »Leviathan« Schmitt 1938 in verschlüsselter Form seine These von der Krise des Staates im 20. Jahrhundert vorgestellt hatte.15 Marbach) und dennoch häufig dessen wissenschaftliche Qualitäten rühmte, so auch 1973 in seinem Nachruf. Dabei verwies er auf dieses Buch in seiner maschinenschriftlichen Fassung der Dissertation lediglich zwei Mal, eine Rezeption war das nicht. Nachdem er es sich 1980 dann in Bielefeld per Fernleihe besorgt hatte, war sein Urteil differenzierter. »Als geistesgeschichtliche Studie kommt mir das Buch sehr fern vor, begriffsgeschichtlich ist es sehr anregend, und systematisch stecken zahlreiche Anregungen darin, von der großen ›Information‹, wie man heute sagt, ganz abgesehen« (ebd., S. 346). 13 Kühn mit seinen weit ausholenden Vorlesungen und Seminaren erscheint erst im Wintersemester 1949/50, bis dahin lehrten nur die beiden Ordinarien Hans Schaefer Alte und Fritz Ernst Mittelalterliche Geschichte. Beider gedachte Koselleck stets dankbar, zumal Schaefers damals ungewöhnliche Neigung für begriffs- und geistesgeschichtliche Fragen ihn inspiriert haben könnte. Andererseits hat man nach Durchsicht der Personal- und Vorlesungsverzeichnisse der Universität Heidelberg in der fraglichen Zeit den Eindruck, dass Koselleck für seine Interessen und damit natürlich auch für seine Dissertation von den Historikern eher wenig Anregung bekommen hat. Vielleicht kein Zufall ist darum, dass außer den drei Genannten denn auch nur noch der damalige Diätendozent Walther Peter Fuchs unter den von Koselleck karikierten bzw. porträtierten Historiker-»Lehrpersonen 1947–1953« zu finden ist, während er Vertreter anderer Disziplinen häufig gezeichnet hat. Koselleck, Reinhart, Vorbilder – Bilder, Bielefeld 1983 (Privatdruck), S. 31 ff. Nicolaus Sombart wie auch Koselleck schwärmten stets von den Abenden bei Alfred Weber. Dieser bot seit Sommersemester 1947 Veranstaltungen privatissime et gratis an, so z. B. »Sinn und Gestalt der Universalgeschichte. Soziologische Deutungen« und ab Sommersemester 1949 zusammen mit Walter Jelinek über lange Zeit die »Arbeitsgemeinschaft über politische und wirtschaftliche Gegenwartsfragen«. Ab 1950 begann auch Alexander Rüstow in Heidelberg zu lesen, u. a. »Soziologie der Geschichte und Kulturkritik«. Für den 1952 berufenen Karl Löwith arbeitete Koselleck zusammen mit seinem Freund Hanno Kesting sogleich als Übersetzer, aber Lehrveranstaltungen hörte er bei ihm wohl nicht mehr, denn er ließ sich »1952 exmatrikulieren, um an meiner Dissertation zu arbeiten«, wie er im Lebenslauf schrieb, der seiner Dissertation beigefügt ist. 14 Wie wenig zutreffend Kosellecks Vorstellung vom Absolutismus war, meint ihm Bödeker, Hans Erich, Aufklärung über Aufklärung? Reinhart Kosellecks Interpretation der Aufklärung, in: Dutt, Carsten / Laube, Reinhard (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013, bes. S. 133 f., nachweisen zu können. Bödeker unterlässt es jedoch, den damaligen, von Autoren wie Göhring, Groethuysen, Hartung und Hazard bestimmten Forschungsstand heranzuziehen, von dem Koselleck ausgehen musste. 15 Vgl. das Interview Claus Peppels mit Koselleck 1994, das erstmals in Dunkhases Edition abgedruckt wird (Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 373–391), hier bes. S. 374: »Ich übersetzte damals Hobbes, den ich für meine Dissertation benötigte, und Carl Schmitt stellte sofort Fragen, die mich dann weiter beschäftigt und den Fortgang meiner Dissertation beeinflußt haben«. Nun erst las er »die klassischen theoretischen Schriften« Schmitts (ebd., S. 382). – Eine deutlich andere, selbstgefällige und deshalb wohl oft unzuverlässige Darstellung der Begegnung mit Carl Schmitt lieferte Sombart, Nicolaus, Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945 bis 1951, Frankfurt 2000, S. 193 ff.

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Kosellecks berühmter Brief vom 21. Januar 1953 besteht im Grunde aus drei Teilen: aus einem kurzen Dank »für die strenge Mahnung […], die Begriffe im Zuge ihrer Klärung stets auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen«,16 im Hauptteil aus einer Dekonstruktion der theoretischen und methodologischen Grundlagen des Historismus, deren Meinecke-Zentriertheit ebenfalls Schmitts Einfluss erkennen lässt,17 und zuletzt aus der Skizze eines historiographischen Programms in Gestalt einer anthropologisch basierten Geschichtsschreibung, die in ihrem Kern gegenwartsbezogen sein musste. Begründet wird diese mit Versatzstücken aus der Konservativen Revolution in Schmittscher Lesart, d. h. mit dem »Weltbürgerkrieg«18 als Wesenskern der Moderne.19 Da dieser Beitrag nicht die Kosellecksche Historik zum Thema hat, sondern den Eigentümlichkeiten des Briefwechsels der beiden Protagonisten nachgeht, kann auf eine eingehende Interpretation dieses Briefes verzichtet werden.20 Auch die Einflüsse Schmitts in Kosellecks Werk sind nur insoweit von Interesse, als sie in diesem Briefwechsel anklingen. Deshalb mag die Feststellung genügen, dass zwei der drei Teile dieses Briefs bei allem Einfluss Schmitts zweifellos Kosellecks originäre Ansichten wiedergeben. Von Schmitt hatte er zwar, wie er immer wieder sagte, die Vorstellung von der Historizität der Begriffe übernommen, mit deren Hilfe dieser Begriffspolitik zu machen versucht hatte, aber anders als sein Mentor entwickelte Koselleck daraus den Gedanken einer genuinen Begriffsgeschichte.21 16 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 9. 17 Schmitt hatte schon seit den 20er Jahren, darunter auch in seiner Auseinandersetzung mit Meineckes Idee der Staatsräson, dem er Wertrelativismus, mangelhafte Vorstellung von historischer Individualität und implizite Fortschrittsidee vorwarf, seiner Auffassung vom Eigenwert jeder Epoche, der eine je spezifische Begrifflichkeit zugeordnet sei, Ausdruck verliehen, zumeist in der ihm eigenen politisch-polemischen Form. Koselleck hat Schmitts scharfe Kritik an Meinecke in seiner Dissertation übernommen und bezeichnete dessen Buch als »völlig ungeschichtlich« (Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Eine Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes im 18. Jahrhundert, maschinenschriftliche Fassung Heidelberg 1954, S. 24 samt 1 ½ Seiten Anm. 72 [im unpaginierten Anhang]). In der Druckfassung ließ er diese Passage weg. 18 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 12. 19 Der »Weltbürgerkrieg« schien mit dem im Juni 1950 ausgebrochenen Koreakrieg erneut Wirklichkeit geworden zu sein. Im vorigen Satz hatte Koselleck denn auch vom »gegenwärtigen Bürgerkrieg« als »Ausgangspunkt einer geschichtsontologischen Analyse« (ebd.) gesprochen. 20 Sie hat ausführlich vorgenommen Olsen, Niklas, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012, bes. S. 57 ff. 21 Eine sehr viel größere Nähe sieht dagegen Reinhard Mehring, wenn er abschließend schreibt: »Begriffsgeschichte ist unvermeidlich reflektierte Begriffspolitik und umgekehrt«. Mehring, Reinhart, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 168. Schmitt ist für Mehring mit Abstand wichtigster Lehrer Kosellecks, obwohl der außer von Olsen nur von ihm herangezogene, damals noch unveröffentlichte Briefwechsel der beiden das eingestandenermaßen nicht hergibt (»Kosellecks begriffsgeschichtliches Projekt steht im Briefwechsel eher am Rand«; ebd., S. 153). Mehring nahm darum Kosellecks gesamtes Werk in den Blick.

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Für einen Historiker war das naheliegend, diesen Schritt hatten vor ihm, ohne dass er das damals wusste, schon andere Historiker getan; genannt seien nur Otto Brunner und Richard Koebner,22 während Werner Conze damals, 1952/53, mit Begriffsgeschichte noch nicht in Kontakt gekommen war.23 Auch das Ziel einer anthropologisch basierten Geschichte stammte nicht von Schmitt, dessen vielseitige Interessen in ganz andere Richtungen gingen und der nach 1950 kaum noch neue Ideen entwickelte, sondern sein Werk nur noch verwaltete. Damit sind wir wieder beim Thema. Schmitts Antwort vom 2. Februar 1953 kann man nicht anders denn als banal bezeichnen. Er ermutigte ihn, »dem Geschwafel«, worunter er »historistische Zerredung« verstand, sein »einfaches, dreiteiliges, festes Bild entgegen[zusetzen]«.24 Und dann hatte Schmitt wohl sein Problem mit einer Formulierung Kosellecks, die weder juristisch noch eigentlich historisch war: »Die Endlichkeit des geschichtlichen Menschen wäre also in den Blickpunkt zu rücken […] in Hinsicht auf den dauernden Ursprung der Geschichte: also in Hinsicht auf eine ›Situation‹, ohne die es soetwas [sic] wie Geschichte gar nicht gibt«.25 Gemeint ist, dass die Geschichtswissenschaft die Einmaligkeit eines Vorgangs mit den Wiederholungsstrukturen, um mit dem späteren Koselleck zu sprechen, verbinden muss, um Orientierungswissen zu erzeugen. Schmitt hatte darauf nur die Antwort: »Die Redlichkeit in Hinsicht auf den dauernden Ursprung der Geschichte, das ist es«.26 Das war es dann tatsächlich auch, Schmitt kam auf dieses Thema nicht wieder zurück. So souverän der Doktorand in wissenschaftlichen Dingen argumentierte, so unsicher war er aus naheliegenden Gründen, was seine berufliche Zukunft anging. Schmitt gegenüber berichtete er am 14. Februar 1954 nach dem überraschend angesetzten Rigorosum von zwei Optionen: Verlängerung in Bristol, wo er inzwischen Lektor war, damit er sich in ein englisches Thema zwecks Habilitation, die nun schon in den Blick geraten war, einarbeiten könnte,27 oder Wahrnehmung eines Angebotes an der Dortmunder Sozialforschungsstelle. Die dritte Option, eine Assistentenstelle in Heidelberg, schien ihm trotz Befürwortung durch den

22 Mehr dazu bei Müller, Ernst / Schmieder, Falco, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 254 ff., sowie bei Tietze, Peter, »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«. Richard Koebners und Reinhart Kosellecks historische Semantikforschungen zwischen Historismus und Posthistoire, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5/2 (2016), S. 6–22. 23 Einzelheiten zu den unterschiedlichen Zugängen und Konzeptionen bei Wolfgang Schieders Beitrag in diesem Band. 24 Mit dem »dreiteiligen Bild« bezog er sich auf Kosellecks damaliges Vorhaben, »den Zusammenhang der Kritik, Geschichtsphilosophie und Welteinheit mit der ›Krise‹ der beginnenden Neuzeit« darzustellen (8.7.1953; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 19), das Koselleck damals aber soeben zugunsten des Duals »Kritik und Krise« aufgegeben hatte (ebd.). 25 Ebd., S. 11 f. 26 Ebd., S. 17. 27 Ebd., S 43.

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einflussreichen Mediävisten Fritz Ernst unrealistisch.28 Dass er Schmitt, der keinerlei akademische Funktion mehr hatte, ausdrücklich um seinen »guten Rat«29 bat, macht seine enge persönliche Bindung an diesen deutlich, zeigt freilich auch, dass Koselleck von seinem Doktorvater Kühn keine Protektion erwartete. In dem intensiven Briefwechsel der kommenden zwölf Monate ging Schmitt jedoch mit keinem Wort auf diese Bitte ein und es sieht auch nicht so aus, als habe er bei Kosellecks Besuch in Plettenberg im Dezember 1954 darauf geantwortet. Am 1. Mai 1955 schreibt er nämlich unvermittelt, er habe dem Lektor des Diederichs-Verlags vorgeschlagen, »daß Sie ein Buch über Schiller schreiben könnten«.30 Vor Jahresfrist hatte Koselleck gewissermaßen nebenbei eine Soziologie der deutschen Klassik skizziert (28. Mai 1954).31 Sollte das der Grund gewesen sein? Schmitt hatte aber selber Bedenken: »Oder liegt Ihnen das Thema nicht? Bleiben Sie lieber beim offen Historisch-Politischen?«.32 Elegant kleidete Koselleck seine Ablehnung in die Mitteilung, dass Benno von Wiese dabei sei, »ein grosses Schillerbuch zu verfassen« und er gegen dessen Ruf nichts ausrichten könne (6. Juli 1955).33 Sechs Wochen später hatte er das Angebot Kühns bereits angenommen, schon zum Wintersemester 1955 die Heidelberger Assistentenstelle anzutreten und auch Schmitt schien »nach unsern Gesprächen […] das doch das Richtige für Sie zu sein« (3. September 1955).34 Empathie war nicht die größte Gabe, über die Schmitt verfügte, jedenfalls im Alter. Als ihm Koselleck drei Jahre später – inzwischen war er bei Werner Conze als Nachfolger Kühns Assistent – von seinen ersten Recherchen zur Spannung zwischen Staat und Gesellschaft im preußischen Vormärz berichtete (6. Juli 1958),35 woraus bekanntlich am Ende sein Habilitationsthema hervorging, antwortete Schmitt lapidar: »Zu dem Thema Preußisches Beamtentum nach 1815 kann ich Ihnen viel erzählen« (29. Juli 1958).36 Damit war die Sache für ihn abgehakt, denn weitere drei Jahre später, 1962, als Koselleck bei der Niederschrift seiner Untersu28 »Die Assistentenstelle für neuere Geschichte in Heidelberg, in der mich Kühns Kollege für mittelalterliche Geschichte, Prof. Ernst – wie er mir sagte – gerne gesehen hätte, steht mir sicher nicht offen, da Kühn nichts davon sagte und zudem kurz vor seiner Emeritierung steht« (ebd., S. 43 f.). Das sollte sich als irrig erweisen, aber die Dinge nahmen trotzdem keinen glatten Verlauf. Für die Anstellung als Assistent musste man nämlich promoviert sein oder wenigstens das Staatsexamen absolviert haben. Letzteres hatte Koselleck nie abgelegt. Im Februar 1954, als Koselleck an Schmitt schrieb, war er formal auch nicht promoviert, da die Gutachten noch nicht vorlagen. Und als dies dann im Sommer 1954 der Fall war – »Vor einiger Zeit erhielt ich aus Heidelberg die Nachricht über meine endgültig erfolgte Promotion« (7.7.1954; ebd., S. 62) −, verzögerten andere Gründe seine Einstellung. 29 Ebd., S. 44. 30 Ebd., S. 87. 31 Ebd., S. 55 f. 32 Ebd., S. 87. 33 Ebd., S. 9. 34 Ebd., S. 103. 35 Ebd., S. 144. 36 Ebd., S. 148.

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chung war und ihm die großen Fragen, um die es ging, nahezubringen versuchte (30. April 1962),37 reagierte Schmitt überhaupt nicht. Stattdessen schickte er ihm 1965 unter Nennung ihn interessierender Textstellen und Personen aus der Litera­ tur – einen Brief schrieb er ihm zwischen 1961 und 1966 überhaupt nicht −, seine »Theorie des Partisanen«, wo er seiner Widmung die Bemerkung anfügte: »die Ehre Preussens: S. 38–52« (19. Januar 1965).38 Inhaltlich hatte diese Passage mit Kosellecks Anliegen nichts zu tun. Den Kopf schütteln kann man nur, als er 1966 auf Kosellecks Aufsatz »Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen Verfassung« mit dem Hinweis auf einen Aufsatz über »den durch astrologische Berechnungen bewirkten Ausbruch des Bauernkrieges im Frühjahr 1525« antwortete und hinzufügte, dies sei »eine der aufregendsten Darstellungen [gewesen], die mir je begegnet sind« (28. Juli 1966).39 Koselleck versuchte daraufhin in einem Brief, ihm die Themen ›Prognose‹ und ›Temporalstruktur‹ näherzubringen (8. August 1966),40 aber Schmitt reagierte auch beim zweiten Versuch lediglich mit einem Hinweis »auf die Bedeutung der Astrologie für die PeriodizitätsVorstellungen der Menschen« (10. August 1966).41 Kosellecks Themen waren offenbar Dinge, für die sich der inzwischen im achten Lebensjahrzehnt Stehende nicht mehr interessieren wollte oder konnte. Insofern markieren die frühen 1960er Jahre eine Wende im geistigen Verhältnis von Koselleck und Schmitt, auch wenn das nur indirekt aus ihrem Briefwechsel erschlossen werden kann. Das Gros des spärlich gewordenen Austauschs betrifft Sonderdrucke mit Widmungen, aber zu sagen hatte man sich, und hatte vor allem Schmitt Koselleck nichts mehr. Denn was ihn damals enorm beschäftigte, verschwieg er in diesem Briefwechsel gänzlich. Das zeigt der Blick auf den schriftlichen Austausch mit Armin Mohler, an den er im selben Zeitraum nicht weniger als siebzig Briefe richtete. Diese sind voll von politischen Ressentiments und Klagen über den in raschem Gange befindlichen Wertewandel in Soziologie, Politik- und Geschichtswissenschaft, den die beiden als Niedergang der Wissenschaft interpretierten, für beide ablesbar an den nun immer häufigeren Kritiken vieler Wissenschaftler am Plettenberger Genie.42 In Mohler, der neben und trotz seiner Tätigkeit bei 37 Ebd., S. 194 f. 38 Ebd., S. 197. Das war ein Selbstzitat aus seiner Schlussrede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig 1932. Schmitt, Carl, Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar – Genf – Versailles 1923–1939, Hamburg 1940, S. 184. 39 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 197. 40 Ebd., S. 206. 41 Ebd., S. 210. Dunkhase spricht von den »fahrigen Briefen des greisen Schmitt, [die] oft Unkenrufen gleichen, dabei erfüllt sind von einer an alten oder neuen Verletzungen laborierenden Selbstbezogenheit«, die allerdings Koselleck niemals ernsthaft gestört hätten; ebd., S. 423. 42 Zwei willkürlich herausgegriffene Beispiele: Nachdem der Tübinger Jurist Adolf Schüle Schmitts ominösen Aufsatz Der Führer schützt das Recht von 1934 dem Vergessen entrissen und damit einen Skandal entfacht hatte, sah sich Schmitt bereits 1960 einer breiten »Poliakov-Schüle-Front« ausgesetzt (19.1.1960; Schmitt / Mohler, Briefwechsel, S. 268). Léon Poliakov, seinerzeit einer der international ersten Erforscher des Holocaust, hatte 1959 das

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der Münchener Siemens-Stiftung zunehmend politischer Publizist wurde, fand Schmitt einen Bruder im Geiste, während Koselleck trotz seines pessimistischen Weltbildes für ihn offensichtlich politisch nicht zu greifen war. Bei Kernthemen wie Legalität / Legitimität oder Semantik funktionierte der Gedankenaustausch dagegen noch leidlich. Schmitt hatte 1932 das kleine Buch Legalität und Legitimität veröffentlicht, in dem er der Weimarer Republik vorwarf, sie setze »legal« und »legitim« kurzerhand gleich und zerstöre sich dadurch selbst. Koselleck besaß dieses Buch, ob bereits 1956, ist unbekannt, aber höchstwahrscheinlich hatte er es damals gelesen. In seiner Lehrveranstaltung zum Wiener Kongress hat er »am Begriff der ›Legitimität‹ […] die sogenannte ›Geistesgeschichte‹ als Fachbranche aufgehängt«, berichtete er Schmitt (10. Juli 1956)43 und fügte hinzu: »Letztlich läuft es darauf hinaus: legitim ist das, was ich für richtig halte. Mit den wechselnden Gegebenheiten wechselt die Legitimität, die Revolution wird in den Begriff mit eingebaut, und man könnte fast sagen: der Begriff steht schon an der Grenzscheide zwischen Geschichtsphilosophie und Historismus. […] Scheinbar eindeutige und allgemein gebrauchte Begriffe wie eben ›Legitimität und Revolution‹ sind austauschbare Leerformeln gewesen, die weniger klärende als pragmatisch wirksame Funktionen hatten. Nur wenige haben sie zu handhaben gewusst. Die moralisch einwandfreisten Preußen sind zwangsläufig zum Sündenbock geworden«.44 Gekonnt zeichnet Koselleck hier in knappen Strichen den Wandel der ›Legitimität‹ von einem stabilen und allseits anerkannten staatsrechtlichen Begriff in der Vormoderne zu einem bis heute vielfach nur als Mittel politischer Taktik eingesetzten Terminus und bedauert gewissermaßen den seinerzeit dem politischen Anstand geschuldeten Verzicht Preußens auf einen »funktional zu den Machtlagen« zurechtgelegten Legitimitätsbegriff à la Talleyrand, wie er später in seiner Darstellung des Wiener Kongresses schreiben wird.45 Aber das ist natürlich etwas anderes als Carl Schmitts Legitimitätskritik der Weimarer Buch Das Dritte Reich und seine Denker herausgebracht, in dem Carl Schmitt natürlich genannt wurde. − Am 22.5.1963 schreibt Schmitt an Mohler nach Frankreich »Bei uns macht sich das Würstchen Hochhuth mit irrealen Bedingungssätzen wichtig und bekommt dafür Literaturpreise. Wie traurig ist das alles! […] In diesem Lande vergeht einem die Lust am Sammeln, am Witz und an der Ironie. Vor soviel Surrealismus, Sühne-Gesuhl, KollektivScham-Konjunktur. Als Jurist in so einem Klima zu leben, ist ein Martyrium« (ebd., S. 330). Am 2.2.1963 war in Berlin Hochhuths Stellvertreter uraufgeführt worden; er hatte dafür den Berliner Kunstpreis erhalten. 43 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 120. 44 Ebd., S. 120 f. 45 »Der Legitimitätsbegriff konnte funktional zu den Machtlagen gedehnt werden. Darin lag seine Modernität beschlossen.« Das habe für die Außen- wie für die Innenpolitik gegolten, wo erst die Verfassungsgewährung den Monarchen Legitimität verschafft habe. »So wurde die Legitimität unter der Hand zu einem geschichtsphilosophischen Begriff, der sich mit den Zeiten ändern konnte. Er wurde fungibel je nach Partei und Machtlage […]«. Koselleck, Reinhart, Die Restauration und ihre Ereigniszusammenhänge 1815–1830, in: Bergeron, Louis / Furet, François / Koselleck, Reinhart, Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780–1848, Frankfurt 1969, S. 208 f.

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Republik, ganz zu schweigen von dessen Legalitätsverdrehung nach den RöhmMorden, die in diesem Briefwechsel nie angesprochen worden ist  – wohl aber in Plettenberg46 −, sondern erst in Kosellecks ausführlichen Dankschreiben an Helmut Quaritsch.47 Schmitt ging auf Kosellecks ›Verfallsgeschichte‹ von Legitimität nur kurz und ausgesprochen gönnerhaft ein, weil er einen aktuellen verfassungstheoretischen Debattenbeitrag im Auge hatte, der ihm wichtiger war: »Ihre Bemerkungen zum Thema Legitimität sind außerordentlich treffend; hier fühle ich, daß Ihnen noch weitere Erkenntnisse zukommen werden«, um dann gleich überzuleiten: »Die heutige Diskussion um Legitimität und Legalität ist für Sie wahrscheinlich zu ›görristisch‹, und Joh. Winckelmann ist starker Jurist, Praktiker und daher für Sie vielleicht zu abstrakt. Eine Kritik an Max Weber ist fällig« (12. Juli 1956).48 Dieser Satz gibt Anlass zu einem Exkurs über die Rolle Max Webers in diesem Briefwechsel. Schmitt betrachtete sich wegen seiner Teilnahme an Webers berühmtem »Dozentenseminar« in München und seiner Mitarbeit an der Erinnerungsgabe für Max Weber von 192349 als dessen zwar »gelehriger«, aber kritischer »Schüler«50 und war seit 1938 mit Johannes Winckelmann, der über Jahrzehnte in Deutschland dafür sorgte, dass Webers Texte (einigermaßen) korrekt zu lesen waren, persönlich bekannt. Dass er 1956 Koselleck auf Max Weber ansprach, hatte wohl weniger mit Winckelmanns eben erschienenem Aufsatz zu tun als mit der Ahnung, dass er als Max Weber-Adept mit diesem zusammen im Zuge der sich anbahnenden scharfen Weber-Kritik seitens der Kritischen Theorie 46 Das geht aus dem Peppel-Interview hervor, in dem Koselleck gefragt wurde, ob er je mit Schmitt über dessen Aufsatz »Der Führer schützt das Recht« gesprochen habe, und antwortete, er »habe ihm einmal vorgeschlagen, die Betonung auf das Wort ›Recht‹ zu verschieben. Damit verändert sich die Intonation und Intention des Titels. Schmitt lächelte dazu sibyllinisch, denn das Recht wurde durch Hitler zerschlagen« (Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 381). Dass Koselleck sich gleich darauf weigert, darüber ein moralisches Urteil zu fällen, ist ein spätes Echo auf seine Dissertation, in der er die Moralisierung der Politik durch die Aufklärer als Hauptgrund für die »Pathogenese« der Moderne benannte. Moral und Politik blieben für ihn offensichtlich zeitlebens getrennt. 47 »In vieler Hinsicht fühle ich mich auch schlichtweg belehrt, so z. B. bei Ihrer zutreffenden Kritik an dem Aufsatz zum Röhm-Putsch, daß der Führer gar nicht das Recht schützen konnte, solange Hindenburg noch als Reichspräsident lebte. Dieses legal zwingende Argument war mir völlig entgangen« (17.1.1991; ebd., S. 370). Quaritsch hatte ihm sein Buch (ders., Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989) geschickt. 48 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 126. Schmitt meinte den Aufsatz von Winckelmann, Johannes, Die Herrschaftskategorien der politischen Soziologie und die Legitimität der Demokratie, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 42 (1956), S. 383–401, wo Winckelmann sich allerdings mit Arnold Gehlen, nicht mit Schmitt auseinandersetzte. Was Schmitt mit der Anspielung auf Görres meinte, bleibt unklar. 49 Schmitt, Carl, Soziologie des Souveränitätsbegriffes und politische Theologie, in: Palyi, Melchior (Hg.), Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, Bd. 2, München 1923, S. 3–36. 50 Mommsen, Wolfgang J., Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 21974, S. 407.

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Schaden nehmen könne. Dass »eine Kritik an Max Weber […] fällig« sei, ist wohl nicht inhaltlich, sondern zeitlich zu verstehen: nicht berechtigt, sondern bevorstehend. Was war passiert? 1955 demonstrierte die Horkheimer-Festschrift erstmals in dieser Deutlichkeit den Anspruch der nunmehr etablierten Frankfurter Schule auf eine überlegene Gegenwartsdeutung im Zeichen des Spätkapitalismus. Schmitt, der immer schon das Gras wachsen hörte, ahnte wohl, dass die herkömmlichen Weber-Lesarten davon betroffen sein würden und damit auch er selbst, und suchte Bataillone um sich zu sammeln. Koselleck sollte dazugehören, doch erfolgte von diesem keine Reaktion. Drei Jahre später hielt Schmitt Koselleck direkt zur Lektüre einer »Stelle bei Max Weber« aus dessen Vortrag von 1916, »Deutschland unter den europäischen Weltmächten«, an (29. Mai 1959),51 wo jener den »Sinn« des Kriegs darin sah, dass Deutschland sich als Machtstaat in der Mitte Europas behauptet und dabei als Nation »in die klare harte Luft des Waltens der Weltgeschichte [emporgetragen wurde], der sie in ihr grimmiges, aber gewaltiges Antlitz schauen mußte und durfte, späten Nachfahren zu unvergänglichem Gedächtnis«.52 Das war ein Text, auf den der post-heroische Theodor Heuß zwar nicht in seinem Geleitwort zur Neuausgabe von Webers »Gesammelten Politischen Schriften« von 1958, aber in seiner Rede zum 10. Jahrestag der Erklärung der Menschenrechte mit dem Bemerken reagiert hatte, »daß die vor Jahren ›aktuelle‹ politische ›Freund-Feind‹-These […] sachlich wie seelisch dürftig und bescheiden« sei.53 Dieses Zitat bezeichnete Schmitt Koselleck gegenüber als »auffälligüberflüssig«, während er in seiner Besprechung des Sammelbandes von Schriften Webers diesen – und damit zugleich sich selbst − zum tragischen, aber moralisch überlegenen Verlierer erhoben hatte.54 1959 war für Schmitt sozusagen bibliographisch ein ereignisreiches Jahr. Im Sommer erhielt er verspätet die Festschrift zu seinem 70. Geburtstag, in der sich erstmals in dieser Deutlichkeit seine Schüler versammelten.55 Darauf reagierte der Tübinger Jurist Schüle mit der Erinnerung an Schmitts skandalösen Aufsatz von 1934.56 Nicht zuletzt erschien Wolfgang Mommsens bahnbrechende, ein ganz neues Weber-Bild entfaltende und entsprechend umstrittene Dissertation, in der Carl Schmitt als »gelehriger Schüler« Max Webers dargestellt wurde, der 51 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 156. 52 Weber, Max, Deutschland unter den europäischen Weltmächten [1916], in: ders., Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, hg. von Hübinger, Gangolf / Mommsen, Wolfgang J. (MWG I/15), Tübingen 1984, S. 194. 53 Zit. nach Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 156. 54 Man könne in diesem Satz »schon fast einen Ansatz zum Gelächter Gelimers heraushören«. Prokop berichtet über den letzten Vandalenkönig, dass dieser bei seiner Gefangennahme durch Belisar gelacht habe. Schmitt, Carl, Rez. zu: Weber, Max, Gesammelte Politische Schriften. Mit einem Geleitwort von Theodor Heuß, hg von Winkelmann, Johannes, Tübingen 1958, in: Historisch-politisches Buch 7 (1959), S. 53; zit. nach Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S.157. 55 Barion, Hans / Forsthoff, Ernst / Weber, Werner (Hg.), Festschrift für Carl Schmitt. Zum 70. Geburtstag dargebracht von Schülern und Freunden, Berlin 1959. 56 Schüle, Adolf, »Eine Festschrift«, in: Juristenzeitung 14 (1959), Heft 22, S. 729–731.

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dessen Konzeption eines politischen Führers »bis zur äußersten Grenze des Möglichen fortentwickelt« habe.57 Schmitt, der auch dieses Buch sogleich besprach,58 bemerkte rasch die Polarisierung in Wissenschaft und Öffentlichkeit, die nicht nur ihn betraf, sondern, soweit es nach der Frankfurter Schule ging, auch Max Weber, der von Horkheimer, Adorno, Habermas und Marcuse 1964 vor denkbar prominenter Kulisse zum geistigen Wegbereiter des Faschismus erklärt wurde.59 Es hätte eigentlich nahegelegen, dass Schmitt sich über all das mit Koselleck austauschte, aber der Briefwechsel der beiden war 1959/60 für mehr als zwölf Monate unterbrochen, lebte 1960 wieder auf und ging dann drastisch zurück. 1964, als Schmitt mit Winckelmann brach, weil dieser bei der im Anschluss an die Heidelberger Max-Weber-Jahrhundertfeier von ihm geleiteten Weber-Arbeitstagung »sich mit René König verbündet« hatte,60 und er seine Weber-Interpretation in Gefahr sah, wechselten die beiden keine Zeile. Koselleck wurde also, anders als Mohler, nicht Adressat von Schmitts Klagen über die Soziologen. Umso mehr von Klagen über Nicolaus Sombart, seinen Heidelberger Studienfreund. Von der bald schon spürbaren Aufwertung Webers zum Klassiker61 hoffte Schmitt in seiner Selbstbezogenheit wohl profitieren zu können. Umso verbitterter reagierte er, als sein Name in Klatschgeschichten aus dem Hause Weber fiel, und so schrieb er aus für ihn gegebenem Anlass am 24. Juni 1976 nach der Lektüre von Martin 57 Mommsen, Max Weber, S. 408. 58 Das Historisch-politische Buch (8) 1960, S. 180 f. Schmitt kritisiert Mommsen, weil dieser nicht seine »gewissenhaft überlegten« Aussagen neuesten Datums herangezogen habe, die die seinerzeitigen Texte in anderem Licht erscheinen ließen, kommt aber auch zu einer Einschätzung Max Webers als tragische Person in der Krise der Jahrhundertwende, die erst Jahrzehnte später comunis opinio werden sollte. 59 Vgl. die unterschiedlich akzentuierten Redebeiträge in: Stammer, Otto (Hg.), Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, Tübingen 1965, und die Kritik an dieser Tagung durch einen von 12 Soziologen, darunter René König, unterzeichneten Bericht in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialgeschichte 16 (1964), S. 404–424. Zum Hintergrund Gerhardt, Uta, Der Heidelberger Soziologentag 1964 als Wendepunkt der Rezeptionsgeschichte Max Webers, in: dies. (Hg.), Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft, Stuttgart 2003, S. 232–266. Wolfgang J. Mommsen hatte bereits 1959 Winckelmanns Ausführungen zu Webers Herrschaftssoziologie mit dem Argument bekämpft, wenn er recht hätte, »so müsste man Weber unter die direkten Wegbereiter des Faschismus zählen«. Mommsen, Max Weber, S. 436, Anm. 69. Winckelmann fühlte sich zu Recht missverstanden und quittierte das mit »Idiot«. Brief an Schmitt, 18.12.1959; zit. nach Mehring, Reinhard, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall, München 2009, S. 533. Beim Soziologenkongress pflichtete Mommsen Habermas’ These von der Nähe zwischen Weber und Schmitt ausdrücklich zu, vgl. Stammer, Weber und die Soziologie, S. 135. 60 Schmitt an Mohler, 13.5.1964; Schmitt / Mohler, Briefwechsel, S. 338. König war wie alle Remigranten Schmitt von vornherein verhasst. Der Heidelberger Soziologentag tat ein Übriges. Im zitierten Brief geht es weiter: »Die folgenden Berichte über die Max-Weber-Tagung Ende April sind irreführende Diffamierungen meiner Person, besonders Christ & Welt«. Schmitt war nicht in Heidelberg, jedenfalls steht er nicht in der Teilnehmerliste (Akten des 15. Deutschen Soziologentags, Bd. 2, Nachlass Otto Stammer. Bundesarchiv Koblenz, N 1487/10). 61 Vgl. dazu Gerhardt, Soziologentag.

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Greens Buch über die Richthofen-Schwestern an den inzwischen vielbeschäftigten Bielefelder Ordinarius: »Sie haben dringendere Aufgaben zu erfüllen, lieber Herr Koselleck, als sich die Reminiszenzen eines 88jährigen Mannes anzuhören, der es erlebt, dass Max Weber ›als ein Vorläufer des Nazi-Ideologen Carl Schmitt betrachtet‹ werden kann.62 Koselleck reagierte auch jetzt nicht. Als ihm Anfang Dezember Schmitt schrieb, er »stöhne unter den Folgewirkungen von Nicolaus Sombart (im Oktoberheft des ›Merkur‹)«, wo dieser »Vatermord« begangen und ihn »beleidigt« habe, »weil er verschweigt, dass Max Weber für mich der Inaugurator der Politischen Theologie bleibt« (Anfang Dezember),63 antwortete Koselleck mit einem sehr ausführlichen Brief, in dem er gar nicht auf die Sache eingeht, sondern Schmitt klarzumachen versucht, dass man Sombarts Argumentation nicht ernst nehmen müsse, denn mit Psychologie könne man ex post immer alles beweisen (3. Januar 1977).64 Dass er damit tauben Ohren predigte, versteht sich von selbst. Koselleck ging nicht nur in diesem Briefwechsel nicht auf Weber ein, er machte lebenslang einen großen Bogen um ihn. Zwar besaß er mit neun Büchern praktisch das gesamte damals zugängliche Werk Webers, zitierte ihn aber erst ab den 1980er Jahren, doch auch dann ausgesprochen spärlich; insgesamt kein Dutzend mal.65 Der Grund für diese Distanz scheint mir, dass weder der frühe noch der 62 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 297. Vgl. auch Green, Martin, Frieda und Else, die Richthofen-Schwestern, München 1976, S. 282. Koselleck, der Else (Richthofen-)Jaffé bei Alfred Weber kennengelernt hatte (vgl. seinen Brief vom 3.1.1977; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 308), kaufte sich später die Taschenbuchausgabe und hat sie zumindest kursorisch gelesen. DLA Marbach, Bestand G: Koselleck, R., Signatur: BRK8.1. 63 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 303. Es handelt sich um einen Rezensionsessay des Buches von Green: »Gruppenbild mit zwei Damen. Zum Verhältnis zwischen Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter«, in: Merkur 30 (1976), H. 10, S. 972–990, auf den Mohler in der Welt ironisch reagiert hatte (»Mini Marcuse«), was Schmitt allerdings Koselleck gegenüber verschwieg. Sombart baute den von Green und dann auch von Theweleit konstruierten angeblichen Kausalzusammenhang von pathologischer Sexualität und Antiliberalismus später zu einem Buch aus: Sombart, Nicolaus, Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München 1991. An Schmitt arbeitete er sich auch in seinen selbstgefälligen Erinnerungen (Sombart, Rendezvous) ab. Dort berichtet er, dass ihn schon damals, also 1950, »die Schmitt’sche Denkweise […] irritierte«, was mit seinen bis 1978, bei Schmitts 90. Geburtstag, nachweisbaren Besuchen in Plettenberg nicht zusammenpasst, vgl. ebd., S. 195. Diese Bücher waren natürlich alle im Besitz Kosellecks. Zur Anwesenheit Sombarts bei Schmitts 90. Geburtstag Mehring, Carl Schmitt, S. 557. Koselleck dagegen war nicht zum 90. Geburtstag nach Plettenberg gefahren (25.7.1978; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 331.). 64 Ebd., S. 308 f. 65 Troeltsch ignorierte Koselleck völlig; ich zähle ganze zwei beiläufige Nennungen im gesamten Werk. Nicht überraschend, besaß er von ihm lediglich den Separatdruck eines Aufsatzes von 1904: Troeltsch, Ernst, Das Historische in Kants Religionsphilosophie. Zugleich ein Beitrag zu den Untersuchungen über Kants Philosophie der Geschichte. In diesem Text finden sich »sehr zahlreiche« Anstreichungen und Randnotizen. DLA Marbach, Bestand G: Koselleck, R., Signatur: BRK12.1.

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späte Koselleck ein mit Weber kompatibles Verhältnis zur Moderne besaß, obwohl beide an ihr litten. Ihre Heraufkunft erklärten sie auf völlig unterschiedliche Weise. Das politmoralische Verdikt einer »Pathogenese« hätte Weber wahrscheinlich als grotesk empfunden, während der Versuch des ›späten‹ Koselleck, die Moderne durch »Erfahrungsschwund«66 und darauf reagierenden begrifflichen Wandel zu erklären, Weber wohl zu passivisch erschienen wäre. Carl Schmitt waren solche Gedankengänge völlig fremd, denn sie entdramatisierten den großen Umbruch, in dem er wie eh und je böse Absichten am Werk sah. Seine fehlende Bereitschaft, sich auf Kosellecks Art der Begriffsgeschichte einzulassen, kann man an seiner Reaktion auf die Zusendung des ersten Bandes der Geschichtlichen Grundbegriffe sehen. Schmitt, der »seit 3 Tagen« darin las und sich dabei »abwechselnd in einem Labyrinth und in einem Maelstrom« fühlte (Anfang 1973),67 bewegte nur die Frage, ob er zitiert und dabei missverstanden oder etwa gar kritisiert worden ist. Fündig wurde er in den Artikeln »Ausnahmezustand« von Hans Boldt68 und »Cäsarismus« von Dieter Groh, während er mit »Demokratie« von Werner Conze »nichts anzufangen« wusste, weil sich dort nichts von Schmitts Entgegensetzung von Demokratie und Liberalismus findet. Dass Hobbes von anderen Autoren nicht so gesehen wird wie von ihm, ärgert ihn ungemein, und noch bevor er Kosellecks Artikel »Bund« gelesen hatte, geht er schon auf den (angeblichen) »Hans-Maier-Protégé, Codalle, »69 los, der aber so wenig wie Hobbes selber in diesem Artikel überhaupt genannt wird. Aus alledem wird ein weiteres Mal deutlich, dass Schmitt die Begriffsgeschichte fremd geblieben ist70 – ausgerechnet ihm, möchte man sagen, weil Koselleck diesen fundamentalen Unterschied zwischen sich und ihm niemals angesprochen 66 Koselleck, Reinhart, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien [1976], in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 333. 67 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 242. 68 »Sehr erregt hat mich das Signalement ›an sich‹ nichts Neues, in dem Artikel ›Ausnahmezustand‹ von Boldt (Seite 372); so bagatellisiert einer das mühevolle Ergebnis erbitterter Arbeit. Le combat spirituel est plus brutal que la bataille des hommes, aber die Knaben wissen das nicht und verspotten den Alten, indem sie ihn bagatellisieren« (ebd.), schreibt er in der ihm eigenen Gespreiztheit. 69 Ebd., S. 242. Gemeint ist Klaus-Michael Kodalles Dissertation Thomas Hobbes, ders, Logik der Herrschaft und Vernunft des Friedens, München 1972, die in Maiers Reihe Münchner Studien zur Politik erschienen war. Noch ahnte Schmitt da nichts von Kodalles nächstem Buch, ders., Politik als Macht und Mythos. Carl Schmitts ›Politische Theologie‹, Stuttgart 1973. Koselleck schreibt in seiner Antwort, er habe Kodalles Hobbes-Buch »erst durchgeblättert. Er scheint zu den rechten Polit-Erlösern zu gehören, die Ideologie durch Inbrunst ersetzen« (Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 246.). Empörend fand Schmitt auch, dass neuerdings eine Zeitschrift mit dem Namen Leviathan erscheine; die ›Popularisierung‹ Hobbes‹ war gar nicht nach seinem Geschmack. Dass ihm ausgerechnet der »Stamokap«-Vertreter Eike Hennig das erste Heft zugesandt hatte, machte für ihn das Maß voll (ebd.). 70 Christian Meier attestierte Schmitt »Unsicherheiten im Verhältnis zur Begriffsgeschichte«. Van Laak, Dirk, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 22002, S. 227, Anm. 87.

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hat. Schmitt ging es weniger um Analyse als um Setzung von Begriffen, sie hatten für ihn »agonalen Charakter«.71 Diesen leitete er aus ihrer geschichtlichen Bindung ab und formte aus ihr jene Kampfbegriffe, die seine Schriften der 1920er und 1930er Jahre kennzeichnen. Streng genommen war darum Koselleck nur für kurze Zeit sein Schüler, denn dank der ihm von Schmitt 1950 vermittelten Aufmerksamkeit für die Geschichte der Begriffe72 hat Koselleck vereinzelt schon in den Fußnoten seiner Dissertation aufschlussreiche, auf Wörterbüchern basierende begriffsgeschichtliche Überlegungen angestellt.73 Sie verhalfen ihm in den nächsten Jahren zu einem genuin historistischen Verständnis der historischen Semantik, dessen tragende Säule die Sattelzeitthese werden sollte. Von ihr ist schon in seinen 1963 verfassten »Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe« als »heuristischer Vorgriff« die Rede wie auch von der »geschichtsphilosophische[n] Prämisse«, »daß die Geschichte sich in bestimmten Begriffen niederschlägt und überhaupt nur Geschichte ist, als sie jeweils begriffen wird«.74 Dank dieser Grundlagen, auf denen alsbald das Großprojekt der Geschichtlichen Grundbegriffe zu stehen kam, entwickelte sich unter Kosellecks maßgeblichem Antrieb die Begriffsgeschichte zu einer eigenen historischen Subdisziplin, die sich damit zugleich aus ihrem bislang vorherrschenden Zusammenhang mit Krisenzeiten befreit hat.75 71 Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 211. 72 »Und schließlich war Carl Schmitt, der immer auf die politischen Folgelasten juristischer Begriffe hinwies, einer der Anreger. Er forderte mich auf, Lexika zu vergleichen, und fragte stets: was bedeutet ein Terminus zu welcher Zeit, wo und was, für wen? Und diese rigorose Fragestellung hatte er ja selbst methodisch brillant in seiner Schrift über die Diktatur vorgeführt«. »Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper«, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187. Auf Schmitts Diktatur in der 2. Auflage von 1928 wies er zusammen mit dessen Begriff des Politischen von 1932 auch einem kurz zuvor aufgenommenen Interview hin. »Ohne seine Fragen und Inspirationen hätte ich wahrscheinlich anders gedacht. Sein Buch über ›Die Diktatur‹ […] hat mich in der Begriffsgeschichte inspiriert«. Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 386. 73 Zwei Beispiele mögen das verdeutlichen. Das eine betrifft »Politik«, von der er schreibt, »eine Geschichte des Begriffs der Politik wäre noch zu schreiben«, das andere »Kritik«, zu deren fataler, wie er meint, Konjunktur in Verbindung mit »Krise« er in zwei ausführlichen Anmerkungen eine Skizze liefert. Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 21969, S. 167 f., 188 ff. Beide Beispiele finden sich schon in der 1953 fertiggestellten maschinenschriftlichen Fassung. 74 Koselleck, Reinhart, Ergebnisprotokoll der Sitzung vom 1. April 1963, zugleich Anweisung für die Arbeit am Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, S. 6 f., in: Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 24. Diese Richtlinien bekamen alle Autoren des Lexikons ausgehändigt. Ohne die angefügten technischen Hinweise erschienen sie unter seinem Namen 1967 im Jahrgang 11 des Archivs für Begriffsgeschichte, S. 81–99. Vom Plan eines Historischen Wörterbuchs der sozialen Welt (1750–1850), bei dem Koselleck mitarbeiten sollte, war schon gleich nach der Berufung Werner Conzes nach Heidelberg die Rede, d. h. Conze muss die genuin begriffsgeschichtliche Kapazität seines von Kühn übernommenen Assistenten sogleich erkannt haben; hauptamtlicher Redakteur des Wörterbuchprojekts wurde er 1962. 75 Auf diesen Zusammenhang weisen Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, gelegentlich, besonders aber bei Richard Koebner hin.

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Auf Schmitts Nörgelei antwortete Koselleck am 14. Juli 1973 bescheiden, seine »Kritik am Lexikon« habe ihn »neugierig gemacht nach weiterer Kritik« und fügt hinzu: »Über die Unzulänglichkeit des Unternehmens bin ich mir völlig im Klaren, aber solche Unternehmen leben natürlich von zahlreichen Kompromissen«.76 Bleibende Früchte würden »der positivistische Ertrag der Belege« sein und die »Bestätigung der sog. Sattelzeit-Hypothese«, um dann zum Inhalt des Bundes-Artikels überzuwechseln, in dem er »die calvinistische Föderaltheologie kaum behandelt, auch die darauf zielenden Hobbes-Interpretationen nicht erwähnt« habe.77 Der beigelegte Sonderdruck »Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte«,78 in dem die Begriffsgeschichte wohl erstmals in dieser Deutlichkeit als eigenständige Disziplin mit eigener Methodik und genuinem theoretischen Anspruch einem größeren Publikum vorgestellt wurde, scheint bei Schmitt keine Aufmerksamkeit erlangt zu haben, jedenfalls ist davon im Briefwechsel nirgends die Rede. Nach allem Gesagten kann das nicht verwundern. Am 6. März 1974 übermittelte Koselleck Carl Schmitt zusammen mit einem kurzen Brief den Fahnenabzug seines bekannten Aufsatzes über die »asymmetrischen Gegenbegriffe« und verwies den Empfänger besonders auf das Ende, wo er »einige Worte über ›Freund und Feind‹ schreibe, die im Grunde die theoretische Prämisse des Aufsatzes bilden«.79 Diesen Text hat Schmitt tatsächlich durchgearbeitet, wie aus leider nicht mitgeteilten Annotationen auf den Fahnen hervorgeht,80 und vermutlich wurde beim wenig später erfolgten Besuch Kosellecks in Plettenberg auch darüber gesprochen. Eineinhalb Jahre später, am 1. Oktober 1975, sandte Koselleck dann auch einen Sonderdruck des nunmehr erschienenen Aufsatzes und wiederholte: »Ich […] brauche Ihnen nicht zu versichern, dass der letzte Ihnen gewidmete Absatz gedanklich am Anfang meiner Überlegungen gestanden hat. Die klare Symmetrie der von Ihnen entwickelten Gegenbegriffe ›Freund und Feind‹ ist meines Wissens theoretisch zuvor nie formuliert worden, die jeweils politische Verwendung der Ausdrücke nie auf ihren anthropologischen Kern hin, als Bedingung möglicher Geschichte, analysiert worden«.81 Letzteres scheint mir geschmeichelt, um nicht zu sagen, verharmlosend, denn natürlich ging es Carl Schmitt seinerzeit um die ›politische Verwendung‹, d. h. inhaltliche Auffül76 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 246. 77 Ebd. 78 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Soziologie und Sozialgeschichte. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16/1972 (1973), S. 116–131. 79 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 264. Seit wann Koselleck sich mit dieser Schmittschen Formel als Gegenstand der Begriffsgeschichte befasst, ist unbekannt. Rund fünfzehn Jahre früher erwiderte er jedenfalls auf eine ihm von Schmitt signalisierte Aussage von Theodor Heuß (vgl. oben, S. 97, Anm. 54), dass »die wahre Antwort auf die Freund-Feind-Theorie […] die christliche [bleibe], und diese setzt sie voraus. Alles andere bleibt unglaubwürdig« (18.6.1959; ebd., S. 169). Das war noch schlichte klassische Dialektik. 80 Vgl. ebd., S. 264. 81 Ebd., S. 268. Kosellecks handschriftliche Widmung lautete: »Für Carl Schmitt, den fernerwirkenden Anreger dieser Studie, R. Koselleck« (1.10.1975; ebd., S. 276).

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lung, die aus diesen doch nur in der Theorie »rein symmetrischen Gegenbegriffen« eben »asymmetrische« machte mit den entsprechenden Folgen.82 Zugleich stellte sich Koselleck hier nach längerer Pause wieder als Schüler Schmitts dar, während er in Wirklichkeit dessen begriffspolitische Überlegungen in die reine Wissenschaftssphäre hob und dort zu Ende dachte. Die friedlose Welt – und Koselleck war wie Schmitt von deren Friedlosigkeit zutiefst überzeugt – kann bzw. will auf die asymmetrischen Gegenbegriffe nicht verzichten, die in der unheilvollen Moderne in Gestalt von ›Mensch – Untermensch‹ eine letzte Steigerung erfahren haben, weil damit »eine elastische Negativfigur« gefunden war, »deren Zuordnung allein in der Verfügungsgewalt dessen lag, der die Macht hatte, den sprachlichen Leerposten oder Blindbegriff zu besetzen«. Der ›Barbar‹ konnte es möglicherweise noch zum ›Griechen‹ bringen, der ›Heide‹ in jedem Falle zum ›Christen‹, dem ›Nichtarier‹ war solches schlechterdings unmöglich. Die Zukunft verhieß nichts Gutes, denn die schon sprachlich angelegte und deshalb dauerhafte Friedlosigkeit war geradezu anthropologisch vorgezeichnet. »Solange sich die menschlichen Handlungseinheiten aus- und eingrenzen, wird es asymmetrische Gegenbegriffe und Negationstechniken geben, die in die Konflikte so lange einwirken, bis wieder neue Konflikte entstehen«.83 Schmitt hat darauf nicht reagiert.84 Er war damals vom langsamen Hinsterben des spanischen Diktators Franco dermaßen beansprucht, dass er am 22. November – da war Franco gerade zwei Tage tot – nur den postalischen Eingang bestätigte und dann gleich über den »Tod des Diktators« reflektierte, bevor er auf das Unrecht zu sprechen kam, das ihm sein einstiger »treuer Adlatus« Ernst Rudolf Huber zugefügt habe.85 Es ist hier nicht der Ort, den irritierenden Schluss dieses Aufsatzes zu diskutieren, in dem Koselleck »die wissenschaftliche Leistung von Carl Schmitt« würdigte, der mit dem von ihm geschaffenen symmetrischen Gegensatzpaar »Freund / ​ Feind« alle modernen Gegensätze »so weit zu formalisieren« getrachtet habe, dass

82 Sich selbst interpretierend, sagte Koselleck 1994: »Er [Schmitt] hat eine Interpretationsvariante des ›Begriffs des Politischen‹ in seinem letzten Aufsatz [von 1978] ausdrücklich von mir übernommen. Bis dahin war ich der erste, der seine Gegenbegriffe (Freund-Feind) nicht asymmetrisch deutete, sondern eine paritätische Lesart vorschlägt, die allerdings in seiner Theorie schon angelegt ist. Damit wird die theologische Interpretation des ›Begriffs des Politischen‹ relativiert, da sie letztendlich von asymmetrischen Gegenbegriffen ausgeht«; ebd., S. 379. 83 Alle Zitate dieses Satzes entstammen Koselleck, Reinhart, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe [1975], in: ders., Vergangene Zukunft, S. 257–259. 84 Mohler empfahl er den Aufsatz zur Lektüre und wies ihn auf »Seite 104« (Hervorhebung im Original) mit der Bemerkung hin »sehr bedeutend«. Auf dieser Seite betonte Koselleck »die wissenschaftliche Leistung von Carl Schmitt« für dieses Thema. Schmitt / Mohler, Briefwechsel, S. 411 (Hervorhebung im Original). Die Erstveröffentlichung von Kosellecks Aufsatz nahm im Sammelband Poetik und Hermeneutik, Bd. 6, die Seiten 65–104 ein. 85 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 277 f. Vom »treuen Adlatus« spricht Mehring, Carl Schmitt, S. 264.

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man auf die asymmetrischen Gegenbegriffe nicht länger zurückgreifen müsse.86 Das war ja gerade nicht der Fall, so seine These, und deshalb war diese Aussage wohl eher eine Gefälligkeit, um Schmitt in der aufgeheizten Stimmung der 1970er Jahre etwas aus der Schusslinie zu holen. Der greise Carl Schmitt ging auf Kosellecks asymmetrische Gegenbegriffe dann aber vier Jahre später doch noch ein. Wiederum am Ende eines Aufsatzes und eigentlich ohne zwingenden Grund kam er auf Kosellecks »auch für einen begriffsgewohnten Juristen sehr eindrucksvolle Begriffserklärung« zu sprechen, dass »Begriffe wie Mensch […] also die Möglichkeit der tiefsten Ungleichheit [enthalten] und […] dadurch asymmetrisch« werden. Er referierte Kosellecks bekannte drei Beispiele, doch wird deren Beitrag zum Thema »legale Weltrevolution« zur Schaffung der »politischen Einheit der Menschheit«, dem Gegenstand seines Aufsatzes, nicht recht ersichtlich, selbst wenn man sich auf Schmitts Gedanken einlässt, dass sie nur durch einen Kampf der Menschheit gegeneinander möglich würde. Denn in diesem Kampf, der ja ein politischer ist, kommt das Schmittsche Freund / Feind-Schema zur Geltung, nach Koselleck ein ›symmetrisches Gegensatzpaar‹. Der letzte Satz dieses Aufsatzes – denn der Schlussabsatz enthält nur eine der von Schmitt so geliebten Sottisen – wirkt banal: »Der gegen Menschen kämpfende Mensch sieht sich dann in seinem Selbstverständnis einem zweifellos minderwertigen Vergleichsobjekt gegenüber, von dem er sich selbst um so reiner als der wahre Mensch abhebt«.87 Koselleck seinerseits reagierte auf diesen Aufsatz, den ihm Schmitt am 3. August 1978 mit einem Dank für »die guten Wünsche zum 11. Juli«, seinem 90. Geburtstag, zusandte, nicht.88 Er hatte am 25. Juli, also verspätet, seine Gratulation als »ein Zeichen des Dankes« verstanden wissen wollen »für die jahrzehntelangen Anregungen, die meinen wissenschaftlichen Lebenslauf begleitet haben«.89 Er 86 Der irritierende Aufsatz Kosellecks wird meiner Kenntnis nach vergleichsweise selten eingehend diskutiert. Vgl. außer den Sätzen in Dunkhases Nachwort (ebd., S. 424) etwa Mehring, Begriffsgeschichte, S. 156 f. Ferner Olsen, History, S. 189 f. Zuletzt Dipper, Christof, Reinhart Kosellecks Konzept »semantischer Kämpfe«, in: Nebelin, Marian / Thiersch, Claudia (Hg.), Semantische Kämpfe zwischen Republik und Prinzipat? Kontinuität und Transformation der politischen Sprache in Rom, Göttingen 2021, S. 62–64. Übrigens hat 1993, was gerne übersehen wird, Koselleck diese stark politikhaltige These in seiner Antrittsrede vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung stillschweigend revidiert: ders., Feindbegriffe, jetzt in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zu Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt 2006, S. 274–284. 87 Schmitt, Carl, Die legale Weltrevolution. Politischer Mehrwert als Prämie auf juristische Legalität und Superlegalität, in: Der Staat 17 (1978), S. 336, 339. 88 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 332. 89 Ebd., S. 330 f. Die Verspätung hatte vielleicht ihren Grund in dem Umstand, dass Schmitt ihm bei seinem Besuch in Plettenberg Anfang Januar die Losung der Herrnhuter für diesen Tag ausgelegt und vielleicht auch mitgegeben hatte. Schmitts Auslegung war »antijüdisch konnotiert« (ebd., S. 424), indem er die alttestamentarische Utopie gegenüber der christlichen Eschatologie abwertete. Koselleck wartete wohl dieses Datum ab, um mit seinem Dank eine subtile Kritik zu verbinden: Die Ziehung »einer Grenzlinie zwischen Utopie und Eschatologie« gehöre »sicher zu den schwersten Fragen« der Geschichtswissenschaft (ebd., S. 330).

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schloss sich ausdrücklich Schmitts Selbsteinschätzung an, der sich bei Kosellecks Besuch im Januar 1978 als »letzten Theoretiker des modernen Staates […], der einer vergehenden Epoche angehört«,90 bezeichnet hatte, und richtete dann seinen Blick weit zurück: »Nach dem Kriege zielte die ganze Anstrengung der Heimkehrer auf eine nicht utopische Politik, deren Vorbild jenseits des Nationalsozialismus zu finden sei. Aber wer bietet Schutz vor weltweiten Erlösungsversprechungen, deren Folgen vorhersehbar sind? So bleiben die alten Fragen aktuell, die ich im Gespräch mit Ihnen nach dem Krieg zu stellen begonnen hatte (und auch im Gespräch mit meinem Lehrer Johannes Kühn). Ich wiederhole sie heute« als »Zeichen meines Dankes«.91 Aus diesen Zeilen spricht ein tiefer Pessimismus, für den, wenn er denn eines aktuellen Anlasses bedurfte, vermutlich die durchaus als utopisch zu bezeichnenden Absichten und daraus folgenden terroristischen Akte der Roten Armee Fraktion und Roten Brigaden und die Folgen für die Bundesrepublik den Grund abgaben.92 Aber der Pessimismus war bei Koselleck immer präsent, erst recht in diesem Briefwechsel. In einem seiner letzten Briefe an Schmitt vom 17. Juni 1981 war wieder einmal die Utopie das Thema und prompt kam er auf die »Neuzeit« zu sprechen, deren »krankes Nervensystem«93 Carl Schmitt in seiner lange zurückliegenden Satire »Die Buribunken«,94 die Koselleck als Utopie wahrnahm, freigelegt habe. Zugleich inszenierte er sich so deutlich wie seit langem nicht mehr als Schüler Schmitts, wie sich auch die Besuche in Plettenberg nochmals häuften. Vor einer Bilanz muss noch ein Vorkommnis behandelt werden, das sicherlich gegen die heutigen compliance-Regeln verstieße, aber Kosellecks berufliche Sorgen und Schmitts anfängliche Rolle als Mentor grell beleuchtet. Es geht um das skandalöse Gefälligkeitsgutachten Carl Schmitts. »Kritik und Krise« war endlich nach fünf Jahren dank Werner Conzes entschlossenem Handeln erschienen, als Schmitt ihm berichtete, die Redaktion der Zeitschrift Das Historisch-Politische Buch habe von ihm eine Besprechung erbeten. »Ich würde das gerne tun, kann aber nicht beurteilen, ob das für Sie im gegenwärtigen Augenblick situationsgerecht ist« (29. Mai 1959).95 Koselleck antwortete umgehend, dass er sich über eine Besprechung »natürlich sehr freuen« würde (3. Juni 1959), die absolut ›situationsgerecht‹ 90 Ebd. 91 Ebd. 92 In einem Interview von 2002 sprach Koselleck von »einer persönlichen, unmittelbaren Betroffenheit […] aus der Schleyer-Entführung [und] Mogadischu 1977 […]. Diese Form des Terrors, der die Bundesrepublik zerstören sollte, war bis dahin unvorstellbar«. Hettling, Manfred / Ulrich, Bernd, Formen der Bürgerlichkeit. Gespräch mit Reinhart Koselleck, Hamburg 2005, S. 60. 93 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 351. 94 Koselleck besaß eine Fotokopie der (von Ernst Bloch besessenen) Ausgabe von 1918 der Schmittschen Buribunken. Ein Datum, wann Koselleck sie erworben hat, ist nicht überliefert. DLA Marbach, Bestand G: Koselleck, R., Signatur BRK.1.5.1 Kps. Quart. 95 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 156. Das Periodikum war 1953 von Günther Franz gegründet worden und fungierte anfangs (wie die von Ernst Anrich schon 1949 ins Leben gerufene Wissenschaftliche Buchgesellschaft in Darmstadt) als Publikationsorgan vor allem für 1945 Entlassene und ihnen Nahestehende.

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sei im Blick auf den im Vorwort an ihn ausgesprochene Dank.96 Wie er schon an diesem 3. Juni 1959, nur fünf Tage nach Schmitts Brief, glauben konnte, dass die Redaktion »keinen Einwand« haben würde, bleibt sein Geheimnis.97 In jedem Falle sei ihm Schmitts »diagnostische Kraft« wichtig. Wiederum umgehend, nämlich sechs Tage später, schrieb Carl Schmitt, dass er nun dabei sei, druck- und maschinenschriftliche Fassung zu vergleichen. Den neuen Untertitel finde er besser sowie die Umarbeitung von Kapitel 1/I richtig.98 Neben manchen anderen Quisquilien, die gar nicht zum Thema gehören, sondern nur Schmitts eigene Interessen berühren, bedauerte dieser, »am Schluss nicht weiter ins 19. Jahrhundert geführt zu werden« (9. Juni 1959). Abschließend fragte er Koselleck, ob dieser für die »geplante Besprechung einen bestimmten Gesichtspunkt« habe, der ihm »wichtig« sei.99 Was diesen betrifft, so wünschte sich Koselleck am 18. Juni, er finde im Blick auf »das Leserpublikum der Hist.-Pol. Hefte«(!) einen »Hinweis auf die Methode vielleicht ganz nützlich, um den sicher erfolgenden [positivistischen] Einwänden vorzubeugen« (18. Juni 1959).100 Letzteres hielt Schmitt in seiner Antwort für vergeblich − »diese Leser sind ein vile pecus« (21. Juni 1959)101 – er übersandte ihm aber gleich zwei Versionen seiner Besprechung und überließ Koselleck die Wahl. Dieser entschied sich für den »dichter[en]« Entwurf (3. Juli 1959).102 Die von Dunkhase in den »Materialien« mitgeteilten beiden Versionen unterscheiden sich erheblich.103 Die erste ist eher feuilletonistisch, hält sich mit ausgeprägten Urteilen zurück und zieht dafür weite Linien bis ins 20. Jahrhundert; die leitende These bleibt etwas blass, Kosellecks Methode wird ex negativo vorgestellt (»weder eine Ideengeschichte im Stil von Meineckes Idee der Staatsräson noch materialistische Geschichtsdialektik in der 96 Ebd. Koselleck dankte Carl Schmitt nur in der 1. Auflage, aber weder in der maschinenschriftlichen Fassung von 1954 noch in der 2. Auflage von 1969, die wie alle folgenden überhaupt keinen Dank mehr enthält. Johannes Kühn dagegen wird in der maschinenschriftlichen wie in der ersten Druckfassung gedankt. 97 Ebd., S. 159. Ein Archivbestand des Historisch-Politischen Buchs existiert nicht. Im Nachlass Günther Franz gibt es einen schmalen Briefwechsel mit Carl Schmitt, jedoch durchweg privaten Inhalts, von der Besprechung von Reinhart Kosellecks Dissertation sei dort keine Rede. Ich danke Jürgen Elvert (Universität zu Köln) und Ulrich Fellmeth (Universität Hohenheim) für ihre Hilfe. 98 Ebd. Statt Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt war in der maschinenschriftlichen Fassung von Eine Untersuchung der politischen Funktion des dualistischen Weltbildes die Rede. Konsequenterweise hat Koselleck für die Druckfassung auch die ursprünglich ganz auf den Dualismus ausgerichtete Einleitung stark umgearbeitet. Nur ganz beiläufig sprach Schmitt davon, dass Koselleck seine »Meinecke-Besprechung S. 158 Anm. 4« erwähne (ebd., 163), obwohl ihm aufgefallen sein müsste, dass Koselleck seine scharfe Kritik an Meineckes Idee der Staatsräson von 1926 in der Druckfassung ebenso weggelassen hatte wie das Lob für Carl Schmitt. Offenbar empfand er das als ›situationsgerecht‹. 99 Ebd., S. 163 f. 100 Ebd., S. 170. 101 Ebd., S. 172. 102 Ebd., S. 178. 103 Ebd., S. 367–369.

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Art von Mehrings Lessing-Legende«). Die zweite sagt zunächst, worum es geht und mit welcher Methode Koselleck arbeitete (»hervorragende Begriffs- und wortgeschichtliche Darlegungen«), spart nicht mit lobenden Urteilen, gibt den Blick auf die Gliederung frei und deutet zum Schluss an, dass es sich letztlich um eine Aufklärung der Aufklärung handelt. Im Mittelpunkt steht eine in beiden Versionen nahezu identische Lesart des Buches, die Kosellecks zentrales Anliegen gerade verfehlt: »Es ist […] der ganz konkrete Vollzug der geschichtlichen Einsicht, daß jede Zeit in den Fragen und Antworten ihrer eigenen Situation ihren eigenen Begriff des Politischen realisiert und erst mit dessen Verständnis begriffen und bewältigt ist«. Wäre es so, hätte Koselleck nicht von der »Pathogenese unserer Moderne« gesprochen,104 verursacht von den in der Aufklärung durch Kritik geschaffenen Konfliktlagen, die nicht als konkrete politische Aufgaben erkannt wurden und deshalb zur Utopie geronnen sind – mit bis in die Gegenwart spürbaren fatalen Folgen. Es scheint, dass Carl Schmitt »Kritik und Krise« weder damals noch später105 völlig verstanden hat,106 obwohl er am Zustandekommen dieses Buches durch sein Insistieren auf der Geschichtlichkeit der Begriffe erheblichen Anteil hatte. Das führt zum letzten Punkt, nämlich welche Rolle Carl Schmitt denn nun tatsächlich erst am Zustandekommen von Kosellecks Dissertation und dann in der Folgezeit hatte. Schon der erste, lange, eingangs ausführlich zitierte Brief vom 21. Januar 1953 zeigte einen ungewöhnlich selbständigen jungen Denker, auf dessen intellektuell höchst anspruchsvolle Darlegungen Schmitt keine rechte Antwort wusste. Vielleicht könnte man sagen, dass er schon damals seine wesentliche Rolle erfüllt hatte, nämlich den »mäeutischen Part«, wie Dunkhase es nennt, d. h. eines Gesprächspartners, der durch kluges Fragen im Rahmen eines von ihm gelenkten Gesprächs bei seinem Gegenüber jene Gedanken zum Klingen bringt, die in diesem bereits schlummerten. »Diese sokratische Rolle Schmitts ist am Ende höher zu veranschlagen als der direkte Einfluss seines Werkes«.107 Als Koselleck zehn 104 Koselleck, Reinhart, Vorwort zur 2. Auflage, in: ders., Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 21969, S. VIII. 105 »Ich lese Ihre Kritik u. Krise ganz von neuem«, heißt es unvermittelt am Ende eines Briefes (18.3.1974; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 265). 106 Das gilt nicht nur für Carl Schmitt. Christian Meier sprach 2006 davon, dass Kritik und Krise »faszinierte – aber sie hat auch, gerade in weiten Teilen der Zunft, ratlos gemacht; man verstand sie nicht, hat sie daher gern rechts oder links (wie man’s nimmt) liegengelassen. Es war jedenfalls eine geniale Dissertation«, vermutlich »die literarisch erfolgreichste eines deutschen Geisteswissenschaftlers im 20. Jahrhundert«. Meier, Christian, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck [2006], in: Joas / Vogt, Begriffene Geschichte, S. 103 f. 107 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 419. Diese Rolle Schmitts blieb nicht auf Koselleck beschränkt. Armin Mohler fühlte sich bei seinem Mitte Juni 1949 abgeschlossenen Promotionsvorhaben ebenfalls intensiv von Schmitt unterstützt und sprach im Rückblick von dessen »Hebammenkunst«, die er näher erläuterte: »Ohle: Ein Ort in der Umgebung von Plettenberg. Auf einem langen Spaziergang dorthin war AM Objekt einer von C. S. meisterlich geübten Kunst: im Partner bereits vorhandene Bruchstücke von Gedanken und Gefühlen sachte zusammenzufügen – genau das Gegenteil von Indoktrination, am ehesten der Hebammenkunst vergleichbar«, Schmitt / Mohler, Briefwechsel, S. 75, A. 70, zu einem

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Monate nach seinem ersten Brief am 2. November 1953 aus Bristol, wo er eben angekommen war, Schmitt von seiner inzwischen abgeschlossenen Dissertation schrieb, fügte er hinzu, dass sie »völlig anders ausgefallen [ist], als ich es im Frühjahr noch erhoffte«. »Das Grundthema des moralischen und kritischen Prozeßes« sei ihm erst beim Schreiben »völlig klar« geworden.108 Weil der Text nun offenbar deutlich anders beschaffen war als sich beim Plettenberger Gespräch im Januar abgezeichnet hatte, versicherte Koselleck Schmitt sogleich, dass »Sie meine Frage im Grunde veranlaßt haben und diese souverän überschauen«.109 Das brachte die Dinge auf den Punkt: Schmitt lehrte Koselleck zu fragen, was er seit langem wissen wollte. Sein »Hinweis auf die Priorität des Historischen vor dem Systematischen«, den Koselleck eigenem Eingeständnis nach allerdings nicht hinreichend befolgt hatte (30. Dezember 1953),110 war im Grunde schon der letzte inhaltliche Rat Schmitts an Koselleck. Dunkhase attestiert denn auch zu Recht »wachsende Diskrepanz«,111 die Schmitt ebenfalls gespürt habe. Es war Dankbarkeit, die Koselleck später stets anderes hat schreiben und sagen lassen, obwohl er im Laufe der Zeit erst Persönlichkeitsveränderungen,112 dann nach Lektüre der Tagebücher eher unbekannte Seiten113 und nicht zuletzt erhebliche prinzipielle Schwächen in Schmitts Œuvre entdeckte. Erst Einige Jahre nach dessen Tod gestand er sie jedoch

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Brief an Schmitt vom 19.3.1950, wo es hieß: »[…] Wie bestimmend jedoch Sie für mich geworden sind, weiss ich erst, seit sich das Gespräch vom Weg nach Ohle in mir ausgewirkt hat (was einige Zeit brauchte)«. Mohler erhielt seit seinem ersten Besuch in Plettenberg im August 1948 zahlreiche Ratschläge und wurde darüber hinaus von Schmitt immer wieder zur Fertigstellung seines Manuskripts und Abgabe ermahnt. 1994 wird Koselleck sagen: »Ich setzte mich dann jedoch ganz entschieden von seiner antijüdischen Spinoza-Interpretation ab und konnte somit Probleme, die Schmitt bei Spinoza ausmachte, schon auf Hobbes vorverlegen«. (Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 374). Was damit gewonnen war, sprechen Müller und Schmieder offen aus: Die Kritik an der (vermeintlichen, wie man längst weiß) Bevorzugung des Moralischen gegenüber dem Politischen konnte aufrecht erhalten bleiben, indem Kritik und Krise zwar die Struktur von Schmitts Hobbes-Buch übernommen, aber die »Projektion von der zersetzenden Funktion des Judentums auf die Aufklärung und ihre Folgen verlagert« habe. So konnte man vermittels der ›Aufklärung über die Aufklärung‹ gleich noch die Gegenwart kritisieren, ohne antisemitischer Ressentiments verdächtigt zu werden. Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 218. Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 26. Ebd., S. 37. Ebd., S. 423. »Später wurde er sehr viel egozentrischer«; ebd., S. 375. »Er sagte nicht all das, was er hätte sagen können. Das sieht man jetzt auch nach der Edition seiner Tagebücher, wo er sehr viel ressentimentgeladener, streckenweise geradezu spießig, Positionen festnagelt – etwa im Hinblick auf seinen Antisemitismus –, die er in dieser Form mündlich nie von sich gegeben hat. Insofern war ich über die Plattitüden in seinen Tagebuchaufzeichnungen überrascht, weil er sie damals in unseren Gesprächen nicht äußerte«; ebd., 376. In seinen Briefen an Mohler ließ Schmitt seinen Antisemitismus immer wieder durchblicken, Mohler hat sich daran nicht gestört.

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gegenüber dem Schmitt-Schüler Helmut Quaritsch und wohl auch sich selber ein (17. Januar 1991).114 Koselleck sah lange Zeit keinen Anlass, sich schriftlich zu seinem Verhältnis zu Carl Schmitt zu äußern, obwohl er offenkundig dauerhaft darunter litt, »als Schmittianer abgestempelt« worden zu sein.115 Er hat auch spät und eher beiläufig jene Punkte benannt, in denen er bei »Kritik und Krise« sich bewusst von jenem unterschied  – wie eben geschildert, in seiner Hobbes-Interpretation,116 und in seiner Hypokrisie-These117 – und welche Ideengeber er sonst noch in seiner Dissertation verarbeitet hat, nämlich »Freud, Viktor v. Weizsäcker, Heidegger und Gadamer« (ebd.). Nur Johannes Kühns Interesse für Utopien hat er stets neben Schmitt als wesentlichen Anreger genannt.118 Als er dann Ende 2005 die englische Version eines bereits 2004 in dänischer Sprache veröffentlichten Aufsatzes von Niklas Olsen zu lesen bekam, in dem Koselleck der kritiklosen und vollständigen Übernahme theoretischer Annahmen und sogar politischer Grundeinstellungen Schmitts gegenüber der Bundesrepublik nachgesagt wurde,119 hat ihn das so empört, dass er beschloss, im Marbacher Literaturarchiv einen Vortrag über sein Verhältnis zu Carl Schmitt zu halten. Dazu ist es bekanntlich nicht mehr gekommen. Was er dort gesagt hätte, kann man natürlich nur vermuten. Drei Dinge jedoch geben einen Hinweis: Erstens hielt er es gewissermaßen mit Hermann Lübbe, wenn er sich 2002 erinnerte: »Ich habe mich damals in Heidelberg kaum darum gekümmert, was einer im ›Dritten Reich‹ gedacht und gewollt hat. Es hat mich einfach wenig interessiert. Denn mir war viel zu klar, daß fast alle verfilzt waren. Daraus eine moralische Aufrechnung zu machen, lag mir fern«.120 Deshalb lehnte er zweitens bis zuletzt Argumente ab, die politischer Korrektheit entsprangen. Sie widersprach zutiefst seiner »professionellen Skepsis, die das Selbstbewusstsein mit Selbstkritik verbinden kann« und von der er hoffte, wenigstens sie seinen Schülern vermittelt zu haben.121 Und drittens bemerkte er einmal scheinbar bei-

114 Ebd., 370–372. 115 Ebd., S. 375. Noch in seiner Dankrede in Heidelberg 2004 beklagte er sich: »So wurde, wer sich bei Carl Schmitt bedankt, zum Sprachrohr von Carl Schmitt abgestempelt«. Koselleck, Dankrede, S. 55. 116 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 374. 117 Ebd., S. 385. 118 Koselleck, Dankrede, »Von Kühn wurde ich angeregt […], den neuzeitlichen Utopien auf die Spur zu kommen«. Ebd., S. 51. 119 Olsen, Niklas, »Af alle mine lærere har Schmitt været den vigtigste«. Reinhart Kosellecks intellektuelle og personlige relationer til Carl Schmitt, in: Historisk Tidsskrift 104 (2004), S. 30–60. Olsen hat seine hier geäußerte These in seinem späteren Buch (Anm. 20) stillschweigend kassiert. 120 Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 56. 121 So in einem Interview 2005 Über Krisenerfahrungen und Kritik. Ein bislang unveröffentlichtes Gespräch aus dem Nachlass von Reinhart Koselleck, in: FAZ Nr. 10, 13.1.2010, S. N4. Den Tenor seiner Dissertation kann man als Kritik identitätspolitischer Argumente, d. h. der Vermischung von Politik und Moral avant la lettre lesen.

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Christof Dipper

läufig zu Otto Brunners umstrittenem Buch Land und Herrschaft, dieses »sei ein gutes Beispiel dafür, daß auch politisch bedingte Erkenntnisinteressen zu theoretisch und methodisch neuen Einsichten führen können, die ihre Ausgangslage überdauern«.122 Diese Aussage könnte Koselleck stillschweigend auch für Carl Schmitt in Anspruch genommen haben,123 und sie passt jedenfalls zu dem, was er kurz vor seinem Tod an Niklas Olsen schrieb: »Mein ausgesprochener Dank an Carl Schmitt […] führt offenbar zu dem Urteil, daß ich mich mit ihm identifiziert hätte. Das ist niemals der Fall gewesen. Man kann sich ja dankbar erweisen für das, was man lernt, ohne daß man die Lehre des Lehrers in toto übernimmt«.124 Das war keine Schutzbehauptung, sie hatte er nicht (mehr) nötig. Koselleck trennte zwischen politischer Orientierung und wissenschaftlicher Leistung, ganz gewiss jedenfalls bei jenem Schmitt, der ihm wesentliche wissenschaftliche Anregungen vermittelt hatte, dem Schmitt der 1920er und frühen 1930er Jahre und dem Gesprächspartner von 1950/52.125 Ob das hier sich offenbarende Bild ein anderes ist als die herkömmlich in der wissenschaftlichen Literatur verbreiteten Ansichten, lautete die eingangs gestellte Frage. Sie kann uneingeschränkt mit ›Ja‹ beantwortet werden, schon weil es in den Briefen zunehmend um andere Themen geht als der Blick auf die lange Publikationsliste Kosellecks vermuten lässt. Erst recht gilt das für Schmitt. Die Verschiebungen sind klar erkennbar, während man sich bislang auf Vermutungen beschränken musste. Anfangs dominierten natürlich Kosellecks Projekte, doch schon bald wurde die Begriffsgeschichte immer weniger (das Stichwort »Sattelzeit« fällt im gesamten Briefwechsel nur ein einziges Mal, und da ganz beiläufig),126 bis dann gegen Ende die Freund / Feind-Problematik und die Utopien eine erhebliche Rolle spielten. Die Masse des Ausgetauschten betraf jedoch anderes, sie deckte sich großenteils mit dem, was Koselleck auch als Hauptgegenstände ihrer Plettenberger Gespräche nannte, d. h. Literatur, Kunst − auf diesen beiden Gebieten war Koselleck zweifelsfrei kongenial mit Schmitt, ganz anders als die anderen Briefpartner, von Ernst Jünger natürlich abgesehen − und natürlich Wissenschaft.127 Der Hauptertrag der Edition besteht tatsächlich in der Asymmetrie, von der Dunkhase spricht.128 Kosellecks Briefe verbreiten sehr oft geradezu ein intellektuelles 122 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Schieder, Wolfgang / Sellin, Volker (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 1, Göttingen1986, S.109, Anm. 4. 123 In den Worten Dirk van Laaks: Schmitts Vorkriegsschriften besaßen einen »ihre polemische, auch destruierende Funktion übersteigenden theoretischen Gehalt«. Ders., Gespräche, S. 226. 124 Zit. nach Dutt, Carsten, Reinhart Koselleck und Carl Schmitt – Richtigstellungen ausgegebenem Anlass, S. 4 f. (ungedrucktes Ms.) Ich danke Willibald Steinmetz für die Überlassung des Texts. 125 Vgl. Anm. 15. 126 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 246. 127 »Wir blieben nicht an unseren wissenschaftlichen Themen kleben; das wäre unter unserem Niveau geblieben. Das Gespräch bewegte sich in einem Dreieck von Politik, Ästhetik und Wissenschaft«; ebd., S. 378. 128 Ebd., S. 419.

Der Gelehrte als Schüler

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Brillantfeuerwerk, selbst bei Gegenständen, die mit seinem Œuvre nichts zu tun haben, ignorieren Schmitts Ressentiments und zeigen ihren Schreiber von Anfang an als selbstbewussten Gesprächspartner. Anders als im Falle Mohlers, der das Stichwort sogar in den Titel seiner Edition aufgenommen hat, ist der Gestus des Schülers bei Koselleck, je länger, desto mehr, nurmehr Konvention.

Reinhard Blänkner

Otto Brunner und Reinhart Koselleck. Sprache und politisch-soziale Ordnung

Otto Brunner und Reinhart Koselleck in einem Atemzug zu nennen, war lange Zeit selbstverständlich und verband sich mit ihrer gemeinsam mit Werner Conze Ende der 1950er Jahre begonnenen Arbeit und Herausgeberschaft des Lexikons zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, dessen erster Band schließlich 1972 unter dem im Herausgeberkreis nicht unstrittigen Titel Geschichtliche Grundbegriffe erschien.1 Im Zuge des international gewachsenen Interesses an interdisziplinärer historischer Semantik, Begriffsgeschichte und intellectual history wurde mit Recht die herausragende Bedeutung Kosellecks als Geschichtstheoretiker hervorgehoben. Allerdings hat dieser Koselleck-Hype zu einer Blickverengung geführt, die nicht nur den Historiographen Koselleck aus den Augen zu verlieren drohte, sondern bisweilen auch die intellektuellen Kontexte und personalen Konstellationen vernachlässigte, in denen Kosellecks Werk stand bzw. entstand. Dies gilt nicht zuletzt für die Wahrnehmung der Geschichtlichen Grundbegriffe, die nun häufig und bis heute irreführend als »Kosellecks Wörterbuch« bezeichnet wurden. Dass dies eine inakzeptable Verzerrung gegenüber den beiden anderen Mitherausgebern des Lexikons ist, scheint unter Historikern unbestritten. Allerdings sind die jeweils individuellen intellektuellen und organisatorischen Anteile der drei Herausgeber am Zustandekommen dieses Werks, das zu den prägenden Forschungsprojekten der Geschichtswissenschaft der (alten) Bundesrepublik zählt, noch keineswegs hinreichend freigelegt worden. Dies gilt insbesondere für Otto Brunner, dessen Beitrag für die Geschichtlichen Grundbegriffe Christof Dipper lediglich eine »geradezu marginale Rolle« zubilligt, während Ernst Müller und Falko Schmieder Brunners Beitrag als »untrennbar« mit dem Lexikon veranschlagen.2 Nicht zu übersehen ist darüber hinaus das vereinzelte Interesse, Brunners Mitarbeit und Herausgeberschaft an dem Lexikon aus bis heute gepflegten politi1 Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde. und ein Registerband in zwei Teilbänden, Stuttgart 1972–1997. – Für weiterführende Hinweise und Kritik danke ich Manfred Hettling und Wolfgang Schieder. 2 Dipper, Christof, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: HZ 270 (2000), S. 281–300, insbes. S. 286; Müller, Ernst / Schmieder, Falko, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 268; ähnlich Algazi, Gadi, Otto Brunner – »Konkrete Ordnung« und Sprache der Zeit, in: Schöttler, Peter (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 166–203, hier: S. 186.

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schen Ressentiments gegenüber dem Werk dieses wegen seiner zeitweiligen Nähe zum Nationalsozialismus zweifellos schillernden Historikers herunterzuspielen, den immerhin Hans Rosenberg, der liberale Mitbegründer der (west-)deutschen Sozialgeschichte, im Jahr 1972 als »eine(n) der allerbedeutendsten Historiker unseres Jahrhunderts« bezeichnet hat.3 Ob dieses bemerkenswerte Urteil auch heute noch Bestand hat, wäre allerdings durch eine biographische Studie, die Werk und Wirkung Brunners in interdisziplinären Kontexten und den politischen Rahmenbrüchen des 20. Jahrhunderts aufzuhellen hätte, erst noch zu untersuchen.4 Eine sachliche Überprüfung dieser divergierenden Meinungen und ein differenziertes Urteil über Brunners beabsichtigte und tatsächliche Mitarbeit an den »Geschichtlichen Grundbegriffen« ermöglicht erst ein Blick in die Akten des Heidelberger Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte5 sowie in die Nachlässe der Herausgeber. Auf Brunners Mitarbeit an den »Geschichtlichen Grundbegriffen« wird in diesem Aufsatz noch zurückzukommen sein. Der Untertitel des Lexikons weist jedoch hierüber hinaus auf das generelle Problem der Begriffsgeschichte im Spannungsfeld von Sprache und politisch-sozialer Ordnung, dem im Folgenden mit Blick auf Brunner und Koselleck näher nachgegangen werden soll. Dabei wird es darum gehen, neben Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten die Unterschiede in den begriffsgeschichtlichen und geschichtstheoretischen Positionen beider vergleichend zu verdeutlichen.

3 Vgl. den Brief von Hans Rosenberg an Dietrich Gerhard v. 11.7.1972, in: NL Hans Rosenberg, BArch Koblenz, Sign.: N 1376/46. 4 S. hierzu vorbereitend Blänkner, Reinhard, Von der »Staatsbildung« zur »Volkwerdung«. Otto Brunners Perspektivenwechsel der Verfassungshistorie im Spannungsfeld zwischen völkischem und alteuropäischem Geschichtsdenken, in: Schorn-Schütte, Luise (Hg.), Alteuropa und die Frühe Moderne. Deutungsmuster für das 16. bis 18. Jahrhundert aus dem Krisenbewußtsein der Weimarer Republik in Theologie, Rechts- und Geschichtswissenschaft, Berlin 1999, S. 87–135; ders., Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer »europäischen Sozialgeschichte«, in: Hettling, Manfred (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 1993, S. 326–366; ders., Otto Brunner (1898–1982). »Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte, sondern Volk und Reich«, in: Hruza, Karel (Hg.), Österreichische Historiker. Lebensläufe und Karrieren 1900 bis 1945, Bd. 3, Wien 2019, S. 439–477. 5 S. hierzu Schulze, Winfried, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989, S. 254–263. Zu den institutionellen Hintergründen und der Organisation des Heidelberger Arbeitskreises s. Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 157–160 u. 171–176; Engelhardt, Ulrich, Ein Labor der Sozialgeschichte. Die Entwicklung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte seit 1956, Göttingen 2020, S. 13–70. Eine spezielle Auswertung der Akten zu den Geschichtlichen Grundbegriffen enthalten diese Arbeiten jedoch nicht.

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I. Koselleck und Brunner – eine asymmetrische Konstellation Auf die Frage, in welcher Tradition er sich zu Beginn seiner begriffsgeschichtlichen Studien sah, antwortete Koselleck: »Zunächst ist natürlich zu nennen Otto Brunner, der mit Werner Conze zusammen im ›Arbeitskreis‹ (sc. dem Heidelberger AK für moderne Sozialgeschichte, R. B.) die Tradition der Begriffsgeschichte als Sozialgeschichte schon gepflegt hat, und zwar mit seinem Buch über ›Land und Herrschaft‹.«6 Auf Brunners Arbeiten hat Koselleck auch nach seinen begriffsgeschichtlichen Anfängen immer wieder zurückgegriffen.7 In persönlichen Kontakt getreten sind beide miteinander 1958 im »Emser Kreis«, in der Gründungsphase des erwähnten Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte,8 und dieser blieb auch der wichtigste Ort ihrer weiteren Begegnungen. Wie die mit zahlreichen handschriftlichen Unterstreichungen und Randbemerkungen versehenen, im Deutschen Literaturarchiv Marbach überlieferten Nachlass befindlichen Exemplare von Brunners Aufsatzsammlung »Neue Wege der Sozialgeschichte« (1956), der Mainzer Akademieabhandlung »Feudalismus« (1958) und der vierten, revidierten Auflage von »Land und Herrschaft« (1959) belegen, fallen in diese Zeit auch Kosellecks erste intensive Lektüren Brunnerscher Arbeiten. Eine ähnlich intensive Lektüre der Koselleckschen Veröffentlichungen durch Brunner ist nicht dokumentiert. Mündliche Äußerungen Brunners hierzu sind nicht überliefert, und in der Brunnerschen Bibliothek, die seit 1986 in der ChuoUniversität in Tokio lagert, befinden sich zwar neben »Kritik und Krise« (1959), »Preußen zwischen Reform und Revolution« (1967) und »Vergangene Zukunft« (1979) noch weitere Sonderdrucke, die jedoch keine handschriftliche Notizen oder sonstige Lesespuren enthalten. Von frühen Bucherwerbungen der 1920er Jahre abgesehen, finden sich allerdings in den allerwenigsten Büchern der Brunnerschen Bibliothek Gebrauchsspuren, die Rückschlüsse auf Brunners Lektüreverhalten erlauben. Dass der als Vielleser gerühmte (und bisweilen gefürchtete)  Brunner die Arbeiten des jüngeren Kollegen Koselleck sehr wohl wahrgenommen hat, darf 6 Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: NPL 43 (1998), S. 187–205, hier: S. 187. S. a.: Reinhart Koselleck im Gespräch mit Wolf-Dieter Narr u. Kari Palonen (1999), in: Kurunmäki, Jussi / Palonen, Kari (Hg.), Zeit, Geschichte und Politik. Zum achtzigsten Geburtstag von Reinhart Koselleck, Jyväskylä 2003, S. 9–33, insbes. S. 10 f. 7 S. etwa Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichte, in: Quaritsch, Helmut (Hg.), Gegenstand und Begriffe der Verfassungsgeschichtsschreibung, Berlin 1983, S. 7–21; ders., Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Schieder, Wolfgang / Sellin, Volker (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 1, Göttingen 1986, S. 89–109, insbes. S 91. 8 S. hierzu Conze, Werner, Die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, in: Ortlieb, Heinz-Dieter / Molitor, Bruno / Krone, Werner (Hg.), Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik. Festgabe für Carl Jantke zum 70. Geburtstag, Tübingen 1979, S. 23–32, sowie o. Anm. 5.

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man schon wegen des dichten Diskussionszusammenhangs in den frühen Jahren des Heidelberger Arbeitskreises, insbesondere nach Kosellecks Anstellung als Redakteur des geplanten Lexikons (1960), als selbstverständlich annehmen. In der Beteiligung an dem aus diesem Diskussionszusammenhang hervorgegangenen Band »Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1915–1848« (1962) fand die Begegnung beider ersten Niederschlag. Und doch weist Kosellecks Hinweis, dass er an Brunners Begriffsgeschichte angeschlossen habe, auf eine Asymmetrie in der Beziehung beider hin, die in anfänglichen Status- und Altersunterschieden begründet liegt und die im Übrigen auch für das Verständnis der Dynamik zwischen den drei Herausgebern der Geschichtlichen Grundbegriffe wichtig ist. In der asymmetrischen Beziehung zwischen Koselleck und Brunner war dieser der akademisch bereits Arrivierte, an dem der angehende Gelehrte Koselleck sich begriffsgeschichtlich orientierte. Nicht vergessen darf man dabei, dass Koselleck bereits Jahre zuvor durch Carl Schmitt und Johannes Kühn für die Bedeutung begriffspolitischer und -geschichtlicher Analysen sensibilisiert worden war. Nicht nur, aber auch in der unterschiedlichen Generationszugehörigkeit gründet der nie ganz überwundene persönliche Abstand zwischen beiden, den zu überbrücken Brunners distanzpflegender Gelehrtenhabitus nicht zuließ und der in Helmuth Plessner und Arnold Gehlen, denen Brunner intellektuell nahestand, eine gleichsam idealtypische Verkörperung der Verhaltenslehren der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts fand.9 Ein gleichsam symbolisches Datum ihrer intellektuellen Beziehungen markiert das Jahr 1959, in welchem Brunners revidierte vierte Auflage von »Land und Herrschaft« erschien, zeitgleich mit Kosellecks »Kritik und Krise«, das Carl Schmitt in der von Brunner mitherausgegebenen Zeitschrift »Das historisch-politische Buch« rezensierte,10 und Plessners Neuauflage von »Die verspätete Nation«11 sowie Theodor W.  Adornos »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit?«. Man kann dieses Jahr, überspitzt formuliert, als erste Andeutung der Peripetie der asymmetrischen Beziehung zwischen Brunner, der in diesem Jahr zum Rektor der Hamburger Universität gewählt wurde und im Zenit seiner akademischen Karriere stand, und Koselleck sehen, der nicht nur mit seiner Dissertation Aufsehen erregte,

9 S. hierzu Lethen, Helmut, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. S. hierzu kritisch weiterführend: Fischer, Joachim, Panzer oder Maske – »Verhaltenslehre der Kälte oder Sozialtheorie der »Grenze«, in: Eßbach, Wolfgang / Fischer, Joachim / Lethen, Helmut (Hg.), Plessners »Grenzen der Gemeinschaft«. Eine Debatte, Frankfurt a. M. 2002, S. 80–102. Zu den kunstwissenschaftlichen Hintergründen der Kultur der Distanz s. Asendorf, Christoph, Entgrenzung und Allgegenwart. Die Moderne und das Problem der Distanz, München 2005, insbes. S. 71–87. 10 S. Schmitt, Carl, Rezension: Reinhart Koselleck. Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg / München 1959, in: Das Historisch-Politische Buch 7 (1959), S. 301 f. 11 Zuerst erschienen unter dem Titel: Das Schicksal des deutschen Geistes im Ausgang seiner bürgerlichen Epoche, Zürich 1935.

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sondern wenig später mit einer Sammelbesprechung auch als Geschichtstheoretiker auf sich aufmerksam machte.12 Im Zuge der Generationenablösung innerhalb der westdeutschen Professorenschaft in den 1960er Jahren kehrte sich die angedeutete Asymmetrie um, als mit Koselleck, Rudolf Vierhaus13 u. a. ein neuer, diskursiver Stil Einzug in die reformbedürftige westdeutsche Geschichtswissenschaft hielt. Interdisziplinär wurde dieser neue Stil wissenschaftlicher Kommunikation wohl durch keinen Ort evidenter repräsentiert als in dem 1964 gegründeten Arbeitskreis »Poetik und Hermeneutik«,14 zu dem Brunner, aber auch andere Gelehrte seiner Generation wie HansGeorg Gadamer, keinen Anschluss mehr fanden. Es ist vielleicht doch mehr als nur Zufall und unterschiedliches individuelles Naturell, dass Brunners Interesse an Sprache vor allem den schriftlichen Begriffen der Quellen galt, während Koselleck dieses zwar uneingeschränkt teilte, sein eigenes Interesse sich darüber hinausgehend aber auch auf das gesprochene Wort richtete. Und diese Differenz zwischen gleichsam autoritativer und diskursiver Begriffsgeschichte hat auch Folgen für die Methode und Pragmatik der Begriffsgeschichte.

II. Ausgangspunkte Das Problem der Begriffsgeschichte im Spannungsfeld von Sprache und politischsozialer Ordnung mit Blick auf Brunner und Koselleck kann sich nicht auf einen konzeptuellen Vergleich in den Arbeiten beider beschränken. Problemgeschichtlich ist zuallererst nach der jeweiligen historischen Situation zu fragen, die diese Problemstellung und damit die Relevanz der Thematik erst hervorgebracht hat. Einen theoretischen Leitfaden, um dieser Frage nachzugehen, gibt Koselleck selbst mit seinem Aufsatz »Erfahrungswandel und Methodenwechsel«15 zur Hand. Dieser Titel beschreibt präzise Brunners Situation zu Beginn seines Studiums in Wien im Wintersemester 1918/19 ausgangs des Ersten Weltkriegs, an dem er als Soldat der österreichisch-ungarischen k.u.k.-Armee an der Isonzofront teilgenommen hatte. Pierangelo Schiera hat Brunner treffend als »storico della crisi«16 bezeichnet, und dies gilt im zweifachen Sinn. Zunächst für Brunner als Zeitgenossen einer allgemein als Krise wahrgenommen Epoche der »Moderne« des ausgehenden 12 S. Koselleck, Reinhart, Im Vorfeld einer neuen Historik, in: Neue Politische Literatur 2 (1961), S. 577–588. 13 Als Ausdruck der seit den frühen 1960er Jahren engen Beziehung zwischen Koselleck und Vierhaus s. dessen Laudatio auf Koselleck anlässlich der Verleihung des Preises des Historischen Kollegs 1989, in: HZ 251 (1990), S. 529–538. 14 S. Amslinger, Julia, Eine neue Form von Akademie. Poetik und Hermeneutik – Die Anfänge, München 2017. 15 Koselleck, Reinhart, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 27–77. 16 Schiera, Pierangelo, Otto Brunner, uno storico della crisi, in: Annali dell’ Istituto storico italogermanico in Trento XIII (1987): Otto Brunner-Tagung, 19.–21. März 1987, S. 19–37.

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19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, und besonders mit Blick auf die Krise der innen- und außenpolitischen Ordnungen Österreichs nach dem Zerfall des Habsburgerreiches sowie der – nicht nur wissenschaftlichen – Wissensordnungen. Schieras Charakterisierung beschreibt Brunner darüber hinaus als Historiker, der Antworten auf diese Krise(n) zu geben versucht. Mit dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie verlor auch das bis dahin vorherrschende und über die universitäre Lehre institutionalisierte Narrativ der »Österreichischen Staats- und Reichshistorie« seine Plausibilität. Wie die Geschichte der Habsburgermonarchie umgeschrieben und eine den Bedingungen der – gegen den Willen der überwältigen Mehrheit der Österreicher durch den Vertrag von Saint-Germain erzwungenen – neu gegründeten eigenständigen »Republik Österreich« entsprechende Geschichtswissenschaft zu konzeptualisieren sei, war die zentrale Herausforderung, vor der die österreichischen Historiker nach 1918 standen. Auch Brunner wandte sich diesem Problem zu und erwarb sich mit seiner Dissertation (1922) und einschlägigen Aufsätzen bereits als junger Historiker rasch den Ruf eines Experten für »Österreichische Geschichte«, wie auch die Denomination seiner Professur 1931 lautete. Wie die große Mehrheit unter den österreichischen Historikern, richtete sich Brunners Interesse jedoch nicht auf die Konzeptualisierung einer separaten »Österreichischen Geschichte«, sondern stellte diese in den Rahmen einer großdeutschen Geschichte, wie ihn Heinrich Ritter v. Srbik in seiner »Gesamtdeutsche(n) Geschichte« und Brunner selbst insbesondere nach dem »Anschluss« Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich (1938) in der historischen Perspektive einer Geschichte von »Volk und Reich« favorisierten.17 1. Das Brunnersche Moment Wichtiger noch als die außenpolitischen Probleme der ungewollten österreichischen Nationalstaatsgründung war für Brunners Zugang zur Begriffsgeschichte das Problem der (inneren) Staatlichkeit. Unter dem Eindruck der aktuellen Verfassungskrisen, die nicht nur Österreich, sondern auch andere europäische Staaten, zumal die Weimarer Republik, politisch erschütterten, der durch paramilitärische Verbände ausgelösten Gewalterfahrungen, die in Österreich einen ersten Höhepunkt im Wiener Justizpalastbrand (1927) erreichten, und dem Problem der Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols hat Brunner die staatsrechtlichen Debatten der 1920er Jahre, insbesondere zwischen dem an der Wiener Universität lehrenden Hans Kelsen und Carl Schmitt, gemeinsam mit Eric(h) Voegelin intensiv verfolgt. Brunner hat diese Verfassungskrise jedoch nicht nur als politisch interessierten Zeitgenossen oder, wie Voegelin, aus staatswissenschaftlicher Per17 Zu den hier nur angedeuteten Problemlagen und Brunners Position in der österreichischen Geschichtswissenschaft s. ausführlich mit weiterer Literatur: Blänkner, Von der »Staatsbildung« zur »Volkwerdung«, S. 93–105; ders., Otto Brunner, S. 445–457.

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spektive, sondern vor allem als Historiker bewegt. Ausgangspunkt hierfür waren seine intensiven Recherchen in den Adelsarchiven der Grafen Karl Khuen-Belasi im mährischen Grusbach (Hrušovany nad Jevišovkou) und Rudolf Hoyos-Sprinzenstein in Horn (Niederösterreich), in denen er auf das Problem der mittelalterliche Fehden und die Absenz eines staatlichen Gewaltmonopols stieß. Aus dieser historisch-systemischen Diskrepanz und aus der Konfrontation der zeitgenössischen politisch-juridischen Begriffe wie »Staat« und »staatliches Gewaltmonopol« mit mittelalterlichen Quellen erwuchs seine Erkenntnis, dass die modernen Begriffe der Staatsrechtslehre und der Verfassungsgeschichte auf die politisch-sozialen Strukturen des Mittelalters nicht anwendbar seien und diese stattdessen durch Rückgriff auf die Sprache der Quellen beschrieben werden müssen. Aus diesem Kontext ging seine Neuinterpretation der »Fehde« als Institut legitimer Gewaltsamkeit hervor, die im Zentrum seines 1939 erschienenen Hauptwerks »Land und Herrschaft« steht. Der in der Allgemeinen Staatslehre vorherrschenden Auffassung der Trias von Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt (Georg Jellinek) setzte er für das Mittelalter die Begriffe Verband, Landvolk und Fehde entgegen.18 In der politisch-sozialen Theoriegeschichte hat man, ausgelöst durch John Pococks einflussreich gewordenes Buch »The Machiavellian Moment« (1975), wiederholt nach einem spezifischen Moment gefragt, welches eine Epoche oder das Werk eines Autors initiierend geprägt habe.19 Die Frage nach einem solchen, das wissenschaftliche Œuvre aufschließenden Moment ist auch an Brunners Werk zu richten, und die Antwort hierauf liegt in der spezifischen Erkenntnissituation der Diskrepanz zwischen moderner Begrifflichkeit und der Sprache der Quellen. In der Diskussion über Brunners Anfänge der Begriffsgeschichte hat man diese bislang in der Übernahme nationalsozialistischer Begrifflichkeit in »Land und Herrschaft« gesehen. So haben Ernst Müller und Falko Schmieder, im Anschluss an James Van Horn Melton und Gadi Algazi, noch jüngst behauptet, »dass der Anstoß für Brunners Konzept […] aus dem Rekurs auf die nationalsozialistische Staats- und Rechtstheorie, insbesondere Carl Schmitts (kam).«20Auch Koselleck hat Brunners begriffsgeschichtlichen Ausgangspunkt in »Land und Herrschaft« verortet, jedoch im Unterschied zu einer generell kritisch-polemischen Position gegen die vermeintlich ideologischen Vorbelastungen der Geschichtlichen Grundbegriffe den methodischen Fortschritt trotz ideologischer Überlagerungen betont. Brunners »Land und Herrschaft« sei, so Koselleck, »ein gutes Beispiel dafür, dass 18 S. hierzu Brunner, Otto, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Wien 1939, S. 221–229; Blänkner, Otto Brunner, S. 468–470. 19 S. etwa Rosanvallon, Pierre, Le Moment Guizot, Paris 1985; Palonen, Kari, Das ›Webersche Moment‹. Zur Kontingenz des Politischen, Opladen 1998. 20 Vgl. Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 270. So auch explizit Oexle, Otto Gerhard, »Begriffsgeschichte« – eine noch nicht begriffene Geschichte, in: Philosophisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 116 (2009), S. 381–400, insbes. S. 381–384.

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auch politisch bedingte Erkenntnisinteressen zu theoretisch und methodisch neuen Einsichten führen können, die ihre Ausgangslage überdauern.«21 Unabhängig von ihrem politischen oder wissenschaftsgeschichtlichen Standort, ist diese diskursive Zuordnung des Brunnerschen Methodenwechsels in die nationalsozialistische Zeit der 1930er Jahre jedoch unzutreffend. Tatsächlich liegt die Erkenntnissituation des Brunnerschen Moments zeitlich davor, in der Mitte der 1920er Jahre, als ihm die Divergenz zwischen moderner Begrifflichkeit und Analyse »vor«-moderner politisch-sozialer Ordnungen als Problem deutlich wurde. Sein 1927 veröffentlichter Aufsatz »Das Archiv des Landmarschalls Ulrich von Dachsberg«22 markiert den Ausgangspunkt, von dem aus Brunner die historische Semantik als grundsätzliches Problem identifizierte und forschungspraktisch in mehreren Studien und sowie kontinuierlich in Lehrveranstaltungen am Beispiel der mittelalterlichen Verfassungsgeschichte verfolgte, die schließlich in sein Hauptwerk »Land und Herrschaft« mündete. Seit Ausgang der 1920er Jahre wird hierbei der theoretische Einfluss von Hans Freyer und Carl Schmitt deutlich,23 vor allem aber seit Mitte der 1930er Jahre die Hinwendung zu völkisch-nationalsozialistischen Denkkategorien, die seine ursprüngliche Fragestellung mit totalitären Antworten ideologisch überformt hat. Nicht nur für das Verständnis von Brunners wissenschaftlichem Gesamtwerk, sondern besonders für die hier interessierende Frage nach dem Spannungsfeld von Sprache und politisch-sozialer Ordnung und den theoretischen Ausgangspunkten der Geschichtlichen Grundbegriffe, ist diese Unterscheidung zwischen ursprünglicher Problemstellung und den hierauf gegebenen Antworten zentral. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass die Erkenntnissituation des »Brunnerschen Moments« keineswegs mit der »Ideologie seiner nationalsozialistischen Gegenwart«24 ausgangs der 1930er Jahre verknüpft war und sich 1939 in »Land und Herrschaft« manifestiert hat, sondern in der Mitte der 1920er Jahre liegt, als Brunner die Diskrepanz zwischen der Sprache der Quellen und moderner Begrifflichkeit zum Problem historisch-analytischer Erkenntnis wird und von nationalsozialistischen Einflüssen noch gar keine Rede sein kann. Durch diese werkgeschichtliche Rekonstruktion erledigt sich auch die problematische Anfrage Algazis an Koselleck, wie denn die Transformationen von »politisch bedingte(n) Erkenntnissen« zu »theoretisch und methodisch neuen Einsichten führen können, die ihre Ausgangslage überdauern.«25 Koselleck selbst 21 Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, S. 109. 22 Brunner, Otto, Das Archiv des Landmarschalls Ulrich von Dachsberg, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Wien VII (1927), S. 63–90. 23 S. hierzu Freyer, Hans, Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, Leipzig 1930; Schmitt, Carl, Verfassungslehre, München 1928; ders., Der Begriff des Politischen, München 1932; ders., Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934. Auf den konkreten Niederschlag beider in Brunners Werk kann hier nicht näher eingegangen werden. 24 Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 270. 25 Vgl. Algazi, Otto Brunner, S. 166. Das Koselleck-Zitat bereits o. Anm. 21. Oexle hat sich dem Einwand Algazis mit dem befremdlichen Kommentar angeschlossen, »(d)ass diese These Kosellecks etwas schlicht daherkommt«, vgl. Oexle, »Begriffsgeschichte«, S. 383.

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hat hier allerdings einen irreführenden Zusammenhang unterstellt. Brunners prägende Jahre vor dem Nationalsozialismus sparte er aus, vermutlich weil ihm, trotz intensiver Lektüre von »Land und Herrschaft« und Brunners nach 1945 veröffentlichten Arbeiten zur Sozial- und Begriffsgeschichte, dessen frühe Arbeiten im Vorfeld von »Land und Herrschaft« nicht hinreichend bekannt waren. Brunners Motiv, sich Mitte der 20er Jahre Problemen der politisch-sozialen Sprache zuzuwenden, liegt kein besonderes Interesse an der Linguistik oder Sprachphilosophie zugrunde, sondern zum einen die historisch gewendete generelle Frage »Wie ist politisch-soziale Ordnung möglich?« Dies verbindet ihn mit soziologischen Fragestellungen bei Lorenz v. Stein, über dessen 1921 neuaufgelegte »Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage« er seine erste Rezension schrieb,26 Ferdinand Tönnies, Georg Simmel und Max Weber, dessen »Wirtschaft und Gesellschaft« (1923) er frühzeitig rezipierte und das zeitlebens ein kritischer Bezugspunkt blieb. Zum anderen, und hierin liegt der wissenschaftsgeschichtlich markante Punkt, geht er mit der Einsicht in die Historizität politischer und sozialer Begriffe über die neukantianische »Problemgeschichte«27 und die Webersche universale Kategorienlehre hinaus zur Begründung der Problemgeschichte als Begriffsgeschichte. In dieser Hinsicht ist Brunner Webers geschichtswissenschaftlicher Antipode.28 Er hat aber damit den entscheidenden Impuls zur geschichtswissenschaftlichen Begründung der Begriffsgeschichte gegeben – Kari Palonen spricht über »Land und Herrschaft« als »Urquelle der deutschsprachigen Begriffsgeschichte«29 –, die bis dahin Reservat verschiedener philosophischer Richtungen, um 1900 vor allem des Neukantianismus war.30 Das, was hier das »Brunnersche Moment« genannt wurde, definiert also nicht nur eine zentrale Erkenntnissituation in der Rekonstruktion der Werkgeschichte Brunners. Es markiert zugleich einen bislang übersehenen objektiven Moment in der Wissenschaftsgeschichte der Begriffsgeschichte. Dass Brunner seit der Mitte der 1930er Jahre zunehmend unter ideologischen Einfluss des Nationalsozialismus geriet, der den Umbau des Koordinatenfelds seiner leitenden Kategorien nach sich zog und in dessen Mittelpunkt nun politisch aufgeladene Begriffe wie »Volk« und »Reich«, »Führung« und »Volksgemeinschaft« traten, war bereits mehrfach Gegenstand kontroverser Untersuchungen31 26 S. Österreichische Rundschau 19 (1923), S. 43–44. 27 S. hierzu Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, Göttingen 2001. 28 S. hierzu auch Oexle, »Begriffsgeschichte«, insbes. S. 390–392, der allerdings Webers »Kategorien«- und »Grundbegriffs«-logiken »begriffsgeschichtlich« fehlinterpretiert. Zu Webers »Grundbegriffen« s. Lichtblau, Klaus (Hg.), Max Webers »Grundbegriffe«. Kategorien in der Kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschung, Wiesbaden 2006. 29 Palonen, Kari, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004, S. 55. 30 S. hierzu den Überblick bei Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, insbes. S. 59–85. 31 S. hierzu Schreiner, Klaus, Führertum, Rasse, Reich. Wissenschaft von der Geschichte nach der nationalsozialistischen Machtergreifung, in: Lundgreen, Peter (Hg.), Wissenschaft im

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und soll an dieser Stelle nicht erneut diskutiert werden. Aufschlussreicher für das Problem des Zusammenhangs zwischen Erfahrungswandel und Methodenwechsel ist die bislang kaum aufgeworfene und erst ansatzweise beantwortete Frage, ob und wie sich der neuerliche Rahmenbruch 1945 in Brunners Werk niedergeschlagen hat. Auf die Desillusionserfahrung einer charismatischen, auf »Führung« und »Volksgemeinschaft« beruhenden völkisch-nationalsozialistischen Utopie reagierte Brunner mit einer grundlegenden Neuorientierung im Zeichen »Alteuropas« bzw. eines alteuropäischen Konservatismus, die in seinem 1949 erschienenen Buch »Adeliges Landleben und europäischer Geist« als »locus classicus« ihren literarischen Niederschlag gefunden hat.32 Jenseits seiner früher vertretenen These einer germanischen Kontinuität von »Volk und Reich«, öffnete Brunner hiermit intellektuell einen neuen Denkraum von »Homer bis Goethe«, der mit dem Versuch verbunden war, die antike Tugendlehre (Paideia) in die individuelle Lebensführung in der modernen Massengesellschaft zu transformieren. Diese posttotalitäre Traditionsvergewisserung ging einher mit der kritisch-historisierenden Kontextualisierung seiner früheren ideologisch aufgeladenen Leitbegriffe, die, wie »Volk«, »Führung« oder »Volksgemeinschaft«, in seinen nach 1945 entstandenen Arbeiten zur Sozialgeschichte völlig beiseitegeschoben sind.33 Politisch löste Brunners Erfahrungswandel 1945 eine antitotalitäre Wende aus; für die Begriffsgeschichte bedeutete die selbstreflexive Historisierung seiner früheren Kategorien eine methodische Schärfung, jedoch keine prinzipielle Neuorientierung. Es war, ähnlich wie bei Conze,34 gleichsam ein Erfahrungswandel ohne Methodenwechsel. Diesen hatte Brunner bereits Mitte der 1920er Jahre vollzogen, und hieran konnten die Geschichtlichen Grundbegriffe anknüpfen. 2. Kosellecks Zugang zur Begriffsgeschichte Von einem Erfahrungsschub ohne Methodenwechsel lässt sich hingegen bei Koselleck im Vorfeld der Geschichtlichen Grundbegriffe sprechen. Dieser Erfahrungsimpuls stand im Zeichen der totalitären Erfahrung des Nationalsozialismus und des sowjetischen Kommunismus (in der Kriegsgefangenschaft) und der mehrmaligen Dritten Reich, Frankfurt a. M. 1985, S. 163–252, insbes. S. 208–211; van Horn Melton, James, Otto Brunner and the Ideological Origins of Begriffsgeschichte, in: Lehmann, Hartmut / Richter, Melvin (Hg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte. Occasional Papers No. 15. Deutsches Historisches Institut: Washington 1996, S. 21–35; Algazi, Otto Brunner; Oexle, »Begriffsgeschichte«; Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 268–274; Blänkner, Otto Brunner, S. 464–473. 32 Brunner, Otto, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg, 1612–1688, Salzburg 1949. Zu Brunners »Alteuropa« s. Blänkner, Von der »Staatsbildung« zur »Volkwerdung«, S. 120 u. 132 f.; ders., Nach der Volksgeschichte, S. 354 f. u. 361–363. 33 S. hierzu ebd., S. 351–363. 34 S. hierzu Koselleck, Werner Conze, S. 326.

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politischen Deutungsumbrüche zwischen der Weimarer Zeit und der noch im Aufbau befindlichen demokratischen Nachkriegsordnung, die Koselleck als angehender Gelehrter während seiner Zeit als Student, Doktorand und wissenschaftlicher Assistent in Heidelberg erlebte.35 Ein zentrales Motiv, das die Arbeit an seiner Dissertation leitete und auch darüber hinaus im Horizont seines Interesses blieb, war dabei die Auseinandersetzung mit dem Problem der Utopie und der Versuch, dieser »auf die Spur und auf die Schliche zu kommen.«36 Eine prägende Erkenntnissituation, die einen methodischen Schub zur Begriffsgeschichte ausgelöst hätte, ist hiermit zunächst jedoch nicht verbunden. Anknüpfungspunkte an »begriffsgeschichtliche Fragen« ermöglichten ihm jedoch sein Studium bei Johannes Kühn und Hans-Georg Gadamer sowie die Lektüren von und Gespräche mit Martin Heidegger und insbesondere der Kontakt zu Carl Schmitt.37 Den Zugang zur Begriffsgeschichte und ihren Bezug zur Sozialgeschichte öffnete ihm erst die Assistentenstelle bei Werner Conze, der 1957 den Heidelberger Lehrstuhl für Neuere Geschichte übernahm und zeitgleich die Gründung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte initiierte, dessen prominentestes Projekt die Geschichtlichen Grundbegriffe wurden. Die Beziehung zu Conze markiert einen folgenreichen Einschnitt in der akademischen Karriere Kosellecks, ohne diese wäre er vermutlich in den Bahnen politischer Theoriegeschichte – in Fortführung seiner Dissertation »Kritik und Krise« – und der Geschichtstheorie verblieben. Obwohl Koselleck von anderen Ausgangspunkten, der Hermeneutik und der Begriffspolitik Carl Schmitts38 herkam, ergab sich mit der Begriffsgeschichte je35 S. hierzu Koselleck, Reinhart, Dankrede am 23. November 2004, in: Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck (1923–2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 33–60, hier: S. 58; Sombart, Nicolaus, Rendezvous mit dem Weltgeist. Heidelberger Reminiszenzen 1945–1951, Frankfurt a. M. 2000. Zum Freundeskreis um Sombart, Hanno Kesting und Koselleck insbes. S. 250–267. 36 Ebd. Zu den prägenden Denkhorizonten des jungen Koselleck in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus s. Dunkhase, Jan Eike, Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existentialismus, Marbach a. N. 2015. Von einem »nicht-utopischen Erwartungshorizont«, der Kosellecks »Kritik und Krise« bestimmt habe, spricht Missfelder, Jan-Friedrich, Weltbürgerkrieg und Wiederholungsstruktur. Zum Zusammenhang von Utopiekritik und Historik bei Reinhart Koselleck, in: Dutt, Carsten / Laube, Reinhard (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013, S. 268–286, hier: S. 286. 37 S. hierzu Kosellecks Selbstauskünfte in Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 52–59; Koselleck / Dutt, Erfahrene Geschichte, S. 32–43. Zu Carl Schmitt s. den Briefwechsel: Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983 und weitere Materialien, hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019. Siehe hierzu Dipper, Christof, Der Gelehrte als Schüler. Der Briefwechsel Reinhart Kosellecks mit Carl Schmitt (in diesem Band). 38 S. hierzu Olsen, Niklas, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012, S. 74–80; ders., Carl Schmitt, Reinhart Koselleck and the foundations of history and politics, in: History of European Ideas 37 (2011), S. 197–208; Mehring, Reinhard, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 138–168, insbes. S. 150–168.

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doch eine gemeinsame Schnittmenge zwischen Koselleck, Conze und Brunner, die zur innovativen Grundlage der Geschichtlichen Grundbegriffe wurde. Eine weitere thematische Schnittmenge, die für die später sog. »Sattelzeit« zentral wurde, lag in dem Interesse an der historischen Aufhellung der neuzeitlichen Utopien. In seinem – die eigene frühere nationalsozialistische totalitäre Utopie von »Führung« und »Volksgemeinschaft« kritisch reflektierenden  – Aufsatz »Das Zeitalter der Ideologien« (1954), hatte Brunner, auch unter Rückgriff auf Karl Mannheims einschlägige Untersuchungen, die neuzeitlichen Utopien als Teil des »Durchbruch(s) der moderne(n) Welt« beschrieben.39 Dass Brunners These vom Ende des Zeitalters der Ideologien verfrüht und offenbar ein Kurzschluss mit seinem eigenen Abschied von der Utopie war, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Was Brunner hier im kritischen Rückblick konstatiert, ist für Koselleck jedoch zur gleichen Zeit der Ausgangspunkt eigenen Fragens nach den Ursprüngen der Utopie im Zeichen dessen, was er, angeregt durch Carl Schmitts »Nomos der Erde«, mit seinen Studienfreunden Nicolaus Sombart und Hanno Kesting als geschichtliche Situation des »Weltbürgerkriegs« bezeichnet.40 Den Durchbruch der modernen Welt, auf den Brunner sich skeptisch, aber wie Hans Freyer auf der Grundlage eines posttotalitären Konservatismus einstimmt, beschreibt Koselleck im Untertitel von »Kritik und Krise« als »Pathogenese der modernen Welt«.

III. Die Geschichtlichen Grundbegriffe Wenn hier beim Blick auf die Geschichtlichen Grundbegriffe der Fokus auf Brunner und Koselleck gerichtet wird, ist vorab zu betonen, dass die organisatorische Hauptverantwortung dieses Lexikons die meiste Zeit bei Werner Conze lag. Ohne ihn, den Initiator dieses Unternehmens und Leiter des Heidelberger Arbeitskreises, wäre das Lexikon nicht auf den Weg und als verpflichtendes Erbe nach seinem Tod durch Koselleck zum Abschluss gebracht worden. Dass Conze darüber hinaus auch konzeptionell zur Konstituierung der Begriffsgeschichte beigetragen hat, ist bisweilen aus dem Blick geraten, jedoch in jüngster Zeit mit Recht in Erinnerung gerufen worden.41 Es tut dieser Würdigung Conzes keinen Abbruch, wenn man dagegen den theoretischen Beitrag nicht nur Kosellecks, sondern auch Brunners höher veranschlagt. Conze selbst schrieb hierzu in seinem Brief zum 80. Geburtstag Brunners am 21. April 1978: »Als Geburtstagsgeschenk kann vielleicht 39 Vgl. Brunner, Otto, Das Zeitalter der Ideologien. Anfang und Ende, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 21968, S. 45–63, insbes. S. 61. 40 Vgl. Sombart, Rendezvous mit dem Weltgeist, S. 268–276; Missfelder, Weltbürgerkrieg und Wiederholungsstruktur. 41 S. hierzu Dunkhase: Werner Conze, S. 145–153; dazu a. die kritische Rezension von Schieder, Wolfgang, Rezension: Jan Eike Dunkhase: Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 266 (2014), S. 205–218, insbes. S. 216 f.; ders., Werner Conze und Reinhart Koselleck. Zwei begriffsgeschichtliche Konzeptionen (in diesem Band).

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die Mitteilung gelten, daß der 4. Band unseres großen Lexikons für den Druck abgeschlossen ist und im Januar 1979 erscheinen wird. […] Wir inzwischen auch älter gewordenen »Jüngeren« sind uns stets dankbar dessen bewußt, daß Sie einst in die begriffsgeschichtliche Richtung gewiesen haben, längst ehe das Lexikon in Gang gebracht wurde.«42 Auch Brunners geplante aktive Mitarbeit am Lexikon war zunächst erheblich weitgehender, als nach Abschluss der Publikation des siebenbändigen Gesamtwerks erkennbar wurde. Bei der Gründung des sozialgeschichtlichen »Emser Kreises« hatte Conze sich zunächst auf Historiker und Soziologen gestützt, die er, wie Carl Jantke, aus früheren volksgeschichtlichen Zusammenhängen der 1930er Jahre in Königsberg kannte. Hinzu trat Brunner, der als Wiener Historiker nicht zu dem Königsberger Kreis gehörte,43 aber durch seine – zeitweilig führende – Mitarbeit im Verbund der volksdeutschen Forschungsgemeinschaften die dort entstandenen Arbeiten kannte und nach Antritt seiner Professur in Hamburg (1954) mit dem ebenfalls hier lehrenden Jantke in näheren Kontakt trat. Die Wege Brunners und Conzes berührten sich erstmals im Winter 1940/41, als Conze an der Universität Wien ein Habilitationsgesuch einreichte, ihm eine venia legendi für »Geschichte, insbesondere osteuropäische Geschichte« zu verleihen. Mit der Begründung, dass Conzes Arbeit zwar soziologischen, nicht aber geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen genüge, lehnte die Kommission, der auch Brunner angehörte, die beantragte Nomination – nicht die Habilitation an sich – jedoch im Februar 1941 ab und schlug stattdessen eine venia legendi für »Volkslehre« vor.44 Hintergrund hierfür war, dass Conze sein Gesuch als gleichsam Externer unter der Ägide seines akademischen Lehrers, des Soziologen und Bevölkerungswissenschaftlers Gunther Ipsen, der seit 1939 die Professur für »Soziologie und Volkslehre« an der Universität Wien innehatte, eingereicht hatte. Persönlich begegneten sich beide vermutlich erstmals anlässlich von Vorträgen, die Brunner in Göttingen und Münster Anfang der 1950er sowie vor allem auf dem Bremer Historikertag 1953 hielt. Zudem hatte Conze Brunners Arbeiten bereits 1950 ausführlich positiv rezensiert.45 Conze und die beiden Hamburger Jantke und Brunner bildeten den intellektuellen Gründungskern des Emser Kreises, zu dem, nach Conzes Wechsel nach Heidelberg, als Mitarbeiter Koselleck (Conze)  und später Dietrich Hilger (Jantke)  und Hans Leo Reimann (Brunner) hinzutraten. Diese besondere Verbindung, die in dem Protokoll der ersten Tagung des Arbeitskreises ausdrücklich

42 Werner Conze an Otto Brunner, 20.4.1978. Privatbesitz. Kopie im Besitz des Verfassers. Siehe auch Werner Conze, Otto Brunner (1898–1982), in: VSWG 69 (1982), S. 452 f. 43 So aber irrtümlich Engelhardt, Ein Labor der Sozialgeschichte, S. 19, Anm. 14. 44 Vgl. Universitätsarchiv Wien, PH PA 1444. Conze, Werner. S. hierzu auch Dunkhase, Werner Conze, S. 56 f. 45 S. Conze, Werner, Writings on Social and Economic History in Germany (1939–1949), in: Economic History Review 3 (1950), S. 126–132. Über Conzes Kontakt zu Brunner und die Rezeption von dessen Arbeiten s. a., allerdings ergänzungsbedürftig, Dunkhase, Werner Conze, S. 134 f.

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festgehalten ist,46 schlug sich auch in den Planungen eines »historisch deutschen Wörterbuchs der politisch-sozialen Welt« nieder, wobei der Schwerpunkt, zumal seit Kosellecks Anstellung als Redakteur und späterer Konzipient des geplanten Lexikons (1960–1964), in Heidelberg lag. Nach ersten Vorüberlegungen wurden auf den beiden Tagungen des Arbeitskreises i. J. 1963 das maßgebliche, vier Jahre später veröffentlichte Konzept47 und ein erster Arbeitsplan vereinbart, der auch ein Stichwort- und Mitarbeiter- bzw. Verfasserverzeichnis enthielt. Von den 108 Artikeln übernahmen laut Protokoll Brunner und sein Mitarbeiter Reimann ebenso wie Koselleck jeweils 13, Conze fünf Artikel. Ferner erklärten sich wiederum Brunner und Koselleck zur Beteiligung an vier von neun weiteren Artikel-Stichworten bereit, die vorläufig noch ohne Bearbeiter waren. Brunner / Reimann und Koselleck waren damit vor Manfred Riedel (zwölf Artikel) und Wolfgang Schieder (zehn Artikel) die Spitzenreiter unter den Autoren.48 Ein neuer erweiterter Gesamtplan im September 1964 war auf ein dreibändiges Lexikon angelegt, das 148 Artikel enthalten sollte. Hiervon fielen auf Koselleck 22, auf Brunner / Reimann 17 und auf Conze sieben Artikel. Erneut lagen auch hier Koselleck und Brunner / Reimann mit Abstand an der Spitze aller Beiträger. Auf die weitere Planung und den sich im Laufe der Jahre verschiebenden Stand der Bearbeitungen ist hier nicht im Einzelnen einzugehen. Beim Blick auf den Planungsstand i. J. 1975, also drei Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes, ist jedoch auffällig, dass von den insgesamt 119 Artikeln Brunner nur noch mit zwei eigenen, Reimann mit drei und beide als gemeinsame Autoren mit vier, zusammen also mit neun Beiträgen aufgeführt werden. In der Publikation des Gesamtlexikons ist Brunner letztlich nur mit einem Artikel (»Feudalismus, feudal«) und Reimann mit einem kurzen, vierseitigen Abschnitt im Artikel »Demokratie« zur »Überlieferung und Rezeption im Mittelalter« vertreten. Gemessen an den ehrgeizigen Planungen ist die Summe dieser Beiträge nicht anders als dürftig zu bezeichnen, und dies wirft die Frage nach den Gründen für diesen bemerkenswerten Schwund auf. Die Akten des Arbeitskreises geben hierauf keine Antwort, mehr als plausible Vermutungen sind daher nicht möglich. Möglicherweise überstieg das Pensum, das Brunner sich und seinem Mitarbeiter Reimann auferlegt hatte, von Beginn an beider Arbeitskapazitäten. Jedenfalls verfügte Brunner nach seiner 1966/67 erfolgten Emeritierung über keine personellen Ressourcen mehr, Mitarbeiter und studentische Hilfskräfte also, die ihm zuarbei46 S. hierzu Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, S. 151. 47 S. Koselleck, Reinhart, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81–99. 48 Vgl. AK für moderne Sozialgeschichte, Ergebnisprotokoll der Sitzung v. 1. April 1963, zugleich Arbeitsanweisung für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: DLA Marbach, Nl Reinhart Koselleck, Sign.: A: Koselleck / Geschichtliche Grundbegriffe; Protokoll der Wörterbuch-Tagung v. 31.10.1963, in: ebd.; AK für moderne Sozialgeschichte, Ergebnisprotokoll der Sitzung v. 1. April 1963 zugleich Anweisung für die Arbeit am Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Nl Otto Brunner, StA Hamburg, Sign: 622–2/9. 51

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ten konnten. Hinzu kam, dass Reimann, der 1962 bei Brunner promoviert worden war und anschließend als sein vom Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte finanzierter Hamburger Mitarbeiter im Rahmen des geplanten Lexikons sich ausgangs der 1960er Jahre akademisch neuorientierte und sich von der Mitarbeit an dem Lexikon schleichend zurückzog. In einem Brief an Koselleck äußerte Brunner hierüber seine tiefe Enttäuschung. Dieser Verlust konnte auch durch die kurzfristig und vorübergehend eingesprungene angehende Archivarin Dagmar Unverhau, Brunners letzter Doktorandin, nicht kompensiert werden.49 Weniger gewichtig dürfte demgegenüber Brunners i. J. 1965 erwünschter Wechsel in den Status eines »inaktiven« Mitglieds des Arbeitskreises gewesen sein, den Conze in einem Rundschreiben an die älteren Gründungsmitglieder generell angeregt hatte, um Platz zur Aufnahme jüngerer Mitglieder zu machen.50 Während dieser Vorstoß vor allem bei Jantke Irritation und Unmut auslöste, führte der Statuswechsel bei Brunner dennoch nicht zu dessen Rückzug von dem Lexikonprojekt. Auf Brunners Renommee als herausragenden Repräsentanten der Sozialund Begriffsgeschichte wollten Conze und Koselleck bei der Herausgeberschaft des Lexikons jedenfalls nicht verzichten. Eine zentrale thematische Schnittmenge zwischen Brunners und Kosellecks Arbeiten liegt, wie bereits angedeutet, in dem gemeinsamen Interesse an der begriffsgeschichtlichen Aufhellung des Durchbruchs der modernen Welt, der in einem »heuristischen Vorgriff« zeitlich zwischen 1750 und 1850 verortet und – mit der terminologischen Neuschöpfung Kosellecks  – als »Sattelzeit« umschrieben wurde. Auf der begriffsgeschichtlichen Untersuchung dieser sattelzeitlichen Überlappung zwischen der Auflösung der alten und der Entstehung der modernen Welt liegt der Schwerpunkt der Geschichtlichen Grundbegriffe. Während Brunners Interesse dabei vor allem der Auflösung der alteuropäischen politisch-sozialen Begriffswelt galt,51 richtete sich Kosellecks (ebenso wie Conzes) Blick vor allem auf das Aufkommen und die Etablierung der ins 19. Jahrhundert und in die Gegenwart reichenden Begriffe. Diese Nuance, zusammen mit dem Umstand, dass der Terminus »Sattelzeit« eine Wortschöpfung Kosellecks war, hat in der Rezeption zur einseitigen Fokussierung auf Koselleck geführt und gibt Anlass zu einigen kritischen Hinweisen. Dabei ist vorab zu bemerken, dass der Terminus selbst lediglich ein spontan geprägter »Kunstbegriff« war, um, wie Koselleck gestand, »Geld zu bekommen« für die Organisierung des Lexikons. In dieser Hinsicht ist »Sattelzeit« ein Synonym 49 Vgl. Otto Brunner an Reinhart Koselleck v. 15. Dezember 1969, in: DLA Marbach, Nl Reinhart Koselleck, Sign.: A: Koselleck / Geschichtliche Grundbegriffe. 50 Vgl. Otto Brunner an Werner Conze v. 4. Oktober 1965, in: StA Hamburg, Sign.: 361–6. IV 3078, Brief Nr. 126. Zu Conzes ausgelöstem Verjüngungsprozess s. Engelhardt, Labor der Sozialgeschichte, S. 107–122. 51 S. hierzu v. a. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist; ders., Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 103–127 (zuerst 1950). Zu Brunners »Alteuropa« s. o. Anm. 32.

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für jenen historischen Umbruch, der von Conze, aber ebenso von Hans Freyer, Arnold Gehlen und Brunner als »Schwellenzeit« zwischen der agrarischen und der industriellen Zivilisation sowie der damit verbundenen politisch-sozialen Transformation bezeichnet wurde.52 Die Schwellenzeit um 1800 als »Sattelzeit« auszuzeichnen, war gleichwohl unter den Herausgebern des Lexikons nicht unumstritten. Brunner etwa monierte, dass es ja nicht nur »die, sondern mehrere Sattelzeiten gebe.«53 Und wegen missverständlicher Deutungen und der Tendenz, die »Sattelzeit« zur Epochenbezeichnung zu reifizieren, hat Koselleck sich später hiervon ausdrücklich distanziert: »This concept has come to obscure rather than to advance the project. Perhaps Schwellenzeit […] would have been a less ambigious metaphor.«54 Hiermit die »Sattelzeit« zu verabschieden, wäre allerdings vorschnell, denn Kosellecks semantischer Rückzug hat dazu geführt, dass in der einschlägigen Diskussion zentrale Aspekte der »Sattelzeit« ausgeblendet wurden. Dies trifft zunächst auf das konzeptuell hervorgehobene »Janusgesicht« der politisch-sozialen Sprache der Sattelzeit zu, die ohne Berücksichtigung der alteuropäischen Begriffe unverständlich bleibt. Es gehört zum einseitigen Blick auf Koselleck, dass sich etwa in dem Kosellecks Œuvre bilanzierenden Band »Begriffene Geschichte«, der sich auf die Begriffsgeschichte und die Sattelzeit konzentriert, acht Beiträge »Prüfungen der Sattelzeitthese« widmen, davon aber kein einziger die alteuropäische Semantik anspricht.55 Ohne Brunners »Alteuropa« ist die »Sattelzeit« jedoch nicht denkbar. 52 Vgl. Koselleck, Reinhart, A response to comments on the »Geschichtliche Grundbegriffe«, in: Lehmann, Hartmut / Richter, Melvin (Hg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington D. C. 1996, S. 59–70, hier: S. 69; Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte, S. 195. 53 Vgl. Bericht über die Mitarbeitertagung des »Begriffsgeschichtlichen Lexikons« v. 7./8 10.1970 in Weinheim, in: DLA Marbach, Nl Reinhart Koselleck, Sign.: A: Koselleck / Geschichtliche Grundbegriffe. 54 Koselleck, Reinhart, A response to comments on the the »Geschichtliche Grundbegriffe«, S. 69; s. hierzu a. Bödeker, Hans Erich, Reflexionen über Begriffsgeschichte als Methode, in: ders. (Hg.), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, Göttingen 2002, S. 73–121, insbes. S. 80. 55 S. Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011. S. aber die Studien zur alteuropäischen Semantik von Luhmann, Niklas, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt  a M. 1997, Bd. 2, S. 893–958. Eine Leerstelle ist »Alteuropa« auch bei Jordan, Stefan, Die Sattelzeit. Transformation des Denkens oder revolutionärer Paradigmemwechsel, in: Landwehr, Achim (Hg.), Frühe Neue Zeiten. Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution, Bielefeld 2012, S. 373–388, u. Décultot, Elisabeth / Fulda, Daniel (Hg.), Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, Berlin 2016. In dem einleitenden Aufsatz (Sattelzeit. Karriere und Problematik eines kulturwissenschaftlichen Zentralbegriffs, S. 1–16) benennt Daniel Fulda zwar mehrfach den Kontrast »Alteuropa« und »Moderne«, geht aber auf »Alteuropa« nicht näher ein. Aus geschichtswissenschaftlicher Sicht dagegen informativ: Schwerhoff, Gerd, Alteuropa – Ein unverzichtbarer Anachronismus, in: Jaser, Christian / Lotz-Heumann, Ute / Pohlig, Matthias (Hg.), Alt­ europa – Vormoderne – Neue Zeit. Epochen und Dynamiken der europäischen Geschichte (1200–1800), Berlin 2012, S. 27–46.

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Vor allem aber geht die »Sattelzeit« über die allgemeine metaphorische Rede von der »Schwellenzeit« durch ihre Konzeptualisierung hinaus, die die Entstehung der modernen Welt anhand der vier Kriterien Demokratisierung, Politisierung, Ideologisierbarkeit, und Verzeitlichung der Begriffe untersucht.56 Diese Theoreme sind keine eigenen Entdeckungen Kosellecks. Daher ist zu fragen, woher Koselleck sie bezieht. Erstaunlicherweise ist auch diese Frage in den bisherigen Diskussionen über die »Sattelzeit« nie gestellt worden. Sie auf Carl Schmitt zu lenken57, ist nicht nur einseitig, sondern übersieht auch die weiteren intellektuellen Kontexte, in denen Koselleck sich bewegt. Antworten hierauf können hier nur kurz angedeutet werden: die »Demokratisierung« schließt an Karl Mannheims These der »Fundamentaldemokratisierung« an; die »Politisierung« an Carl Schmitts »Begriff des Politischen«, die »Ideologisierbarkeit« an Brunners »Zeitalter der Ideologien«, und die »Verzeitlichung« an Heideggers Existenzial der »Geschichtlichkeit«. Koselleck hat diese Theoreme jedoch nicht lediglich additiv aneinandergereiht, sondern sie in brillanter Weise als Kriterienkatalog synthetisch zum einem Konzept zusammengeführt, das, unabhängig von der strittigen Sattelzeitmetapher, die Entstehung der modernen Welt begriffsgeschichtlich aufzuschließen vermag.58 Diese Konzeptualisierung der »Sattelzeit«, die erst im unmittelbaren Vorfeld der Herausgabe des ersten Bandes der Geschichtlichen Grundbegriffe (1972) erfolgte,59 ist eine genuine Leistung Kosellecks und demonstriert seine besondere, sein Gesamtwerk charakterisierende Fähigkeit, originäre Ideen anderer Denker aufzunehmen und in origineller Weise weiterzuführen. Dies belegen nicht nur die hier genannten vier Kriterien der Sattelzeit, sondern ebenso seine metahistorisch-anthropologischen Kategorienbildungen – vor allem seine an Karl Mannheim angelehnte Unterscheidung zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«60  – oder seine von Heideggers »Sein und Zeit« angeregte »Theorie historischer Zeiten«, die, über die Geschichtlichen Grundbegriffe hinausweisend, Kernstück und Ziel Kosellecks eigener Historik war.61 56 Vgl. Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, S. XIII–XXVII, hier: S. XV–XIX. 57 So aber Mehring, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, S. 167 f. 58 S. hierzu weiterführend Escudier, Alexandre, Von Kosellecks Anthropologie zu einer vergleichenden Topik der politischen Moderne, in: Dutt / Laube, Zwischen Sprache und Geschichte, S. 196–235, insbes. S. 222–224. 59 S. hierzu: Bericht über die Mitarbeitertagung des »Begriffsgeschichtlichen Lexikons« v. 7./8. 10.1970, S. 2. Im ersten Entwurf von 1963, den i. J. 1967 veröffentlichten »Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit« (s. o. Anm. 47), werden diese Kriterien noch nicht genannt. 60 S. hierzu Laube, Reinhard, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2004, S. 59, Anm. 142 u. S. 290. 61 Zu Kosellecks Heideggerbezug s. insbesondere seinen eigenen Hinweis in: Koselleck, Formen der Bürgerlichkeit, S. 55, sowie Kluck, Steffen / Pohle, Richard, Koselleck, Heidegger und die Strukturen geschichtlicher Situationen (in diesem Band). Auf den zentralen Ort einer »Theorie historischer Zeiten« in Kosellecks Werk weist zurecht Christof Dipper hin, vgl. ders., Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«, S. 298–304.

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Der geringe quantitativ zählbare Beitrag Brunners  – lediglich ein einziger Artikel in den »Geschichtlichen Grundbegriffen«, ergänzt um den kurzen Abschnitt seines Mitarbeiters Hans Leo Reimann – hat die Spuren seines tatsächlichen Anteils am Zustandekommen des Lexikons verdeckt. Um wenigstens seine Beteiligung als Mitherausgeber sichtbar zu machen, wurde verschiedentlich auf die Verwendung des Terminus »Grundbegriffe« hingewiesen, der auf Brunners Forderung nach einer »Revision der Grundbegriffe« in seinem wortradikalen Vortrag auf dem Erfurter Historikertag 1937 zurückgreife.62 »(G)anz offensichtlich«, so Ernst Müller und Falko Schmieder, habe das Lexikon den »Terminus ›Grundbegriffe‹ […] von Brunner übernommen«, und nach Meinung von Christof Dipper »spricht alles für die Annahme, daß sich das Schmittsche bzw. Brunnersche Erbe tatsächlich auf die Titelgebung des Lexikons beschränkt.«63 Auf die jeweiligen Motive dieser Behauptungen, die mehr oder weniger explizit auf die These nationalsozialistischer Wurzeln der Geschichtlichen Grundbegriffe und Brunners »politische Kontinuität«64 von den 1930er Jahren in die Nachkriegszeit hinauslaufen, soll hier nicht eingegangen werden. Die These selbst ist jedenfalls unhaltbar und beruht auf bloßen Vermutungen. Die Durchsicht der Vorlesungs- und Vortragsmanuskripte sowie der Skizzen von Buchentwürfen in Brunners Nachlass belegt dagegen, dass der Terminus »Grundbegriffe« seit Brunners akademischen Anfängen zum zentralen Arsenal seines Wortschatzes gehört. Nicht nur zählte dieser Terminus seit Ausgang des 19. Jahrhunderts selbst gleichsam zu den »Grundbegriffen« der Wissenschaftssprache. Auch Brunner wurde mit ihm etwa in Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915), die er in seinem Studium der Kunstgeschichte las, vor allem aber durch die frühzeitige und prägende Lektüre von Max Webers »Wirtschaft und Gesellschaft« (1923), dessen erster Teil – »Soziologische Kategorienlehre« – bekanntlich mit dem Kapitel »Soziologische Grundbegriffe« eröffnet wird, intellektuell sozialisiert. Die Forderung nach einer Revision der historischen und staatsrechtlichen Grundbegriffe zur Analyse »vor«-moderner politisch-sozialer Ordnungen war Folge der beschriebenen Erkenntnissituation des Brunnerschen Moments Mitte der 1920er Jahre, längst bevor Brunner sie im völkisch-nationalsozialistischen Sinn ideologisch überformte. Daher führte die Abkehr von totalitär-utopischen Begriffen wie »Führung« und »Volksgemeinschaft«, »Volk« und Reich« nach 1945 nicht zur Aufgabe dieser Forderung. Vielmehr verschärfte auch hier der Erfahrungswandel ohne Methodenwechsel dieses Postulat, das sich nun nicht mehr nur auf »vor«-moderne, sondern ebenso auf die totalitären Ordnungen der jüngsten Vergangenheit, vor allem auf die von ihm selbst zuvor vertretenen »politischen

62 Vgl. Brunner, Otto, Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters, in: Vergangenheit und Gegenwart 27 (1937), S. 404–422, hier: S. 422. 63 Vgl. Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 172; Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«, S. 287. 64 Vgl. Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 174.

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Grundbegriffe des Dritten Reiches«65, und der Gegenwart bezogen. In diesem Sinn erneuerte Brunner nach 1945 seine Forderung nach einer Revision der Grundbegriffe ausdrücklich.66 Das wichtigste Argument gegen die Behauptung, die Geschichtlichen Grundbegriffe verdankten ihren Titel dem Brunnerschen Erbe, findet sich jedoch bei Brunner selbst. Bei den Vorüberlegungen zur Titelgebung des Lexikons war gerade er es, der diesem Titel ablehnend gegenüberstand. »Ein Obertitel ›Geschichtliche Grundbegriffe‹«, schrieb er Koselleck im Januar 1972, »wäre doch recht irreführend.«67 Trotz dieses Einwands ebenso wie gegenüber dem Terminus »Sattelzeit«, gab es bei der Gesamtkonzeption des Lexikons keine Unstimmigkeiten zwischen den drei Herausgebern. Als Koselleck den Entwurf der von ihm verfassten Einleitung zu dem Großprojekt an die beiden Mitherausgeber mit der Bitte um Stellungnahme sandte, antwortete Brunner: »Sehr verehrter Herr Kollege! Ich finde Ihren Text ausgezeichnet und sehe keinen Grund, irgendetwas zu ändern.«68 Überschaut man Brunners und Kosellecks jeweiligen Beitrag an der Planung und Realisierung des Lexikonprojekts, zeigt sich erneut die erwähnte asymmetrische Konstellation beider zueinander, die sich im Fortgang und bei der praktischen Durchführung auf Kosellecks Seite hin verschob. Er selbst hat Brunners Anteil an dem Gesamtprojekt im Vorwort des 1982 erschienenen dritten Bandes der Geschichtlichen Grundbegriffe, auch im Namen Conzes, treffend beschrieben: »Während der Schlussredaktion erreicht uns die Nachricht vom Tode Otto Brunners. Unser Lexikon ist ohne sein wissenschaftliches Lebenswerk nicht denkbar. Denn er hat die Wege erschlossen, auf denen sich die Begriffsgeschichte und die Sozialgeschichte dauernd ergänzen müssen, um kritisch kontrollierbare Ergebnisse erzielen zu können. Durch seinen nüchternen und klugen Rat hat Brunner das Gemeinschaftsunternehmen initiieren helfen, wofür wir ihm zu tiefem Dank verpflichtet bleiben.«69

IV. Vergleiche Überblickt man die bis hierher lediglich ausschnitthaft skizzierten Beziehungen zwischen Koselleck und Brunner, so wird man zunächst die von diesem ausgehenden Anregungen in der begriffsgeschichtlichen Formierungsphase Kosellecks in der Frühzeit des Heidelberger Arbeitskreises festhalten. Kosellecks eigene, 65 Brunner, Land und Herrschaft, S. 512. 66 S. etwa Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, S. 10; ders., Das Zeitalter der Ideologien. 67 Vgl. Brunner an Koselleck v. 3.1.1972, in: DLA Marbach, Nl Reinhart Koselleck, Sign.: A: Koselleck / Geschichtliche Grundbegriffe HS.2008.0095. 68 Brunner an Koselleck v. 6.4.1972, in: DLA Marbach, Nl Reinhart Koselleck, Sign.: A: Koselleck / Geschichtliche Grundbegriffe HS.2008.0095. 69 Koselleck, Reinhart, Vorwort, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, 1982.

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die Begriffsgeschichte im Rahmen der Geschichtlichen Grundbegriffe theoretisch weiter fundierenden Arbeiten, die sich in den »Richtlinien« (1963/1967) und der »Einleitung« (1972) niederschlugen, hat Brunner, ebenso wie Conze, mitgetragen, ohne jedoch erkennbaren Einfluss auf die Arbeiten in seinem Spätwerk hinterlassen zu haben. Einen weitergehenden, auf eine geschichtstheoretisch fundierte Begriffsgeschichte zielenden Arbeitszusammenhang zwischen beiden hat es nicht gegeben. Dem stand vermutlich nicht nur Brunners habituelle Distanz und seine hierin begründete Position als Solitär in der geschichtswissenschaftlichen Zunft entgegen, sondern ebenso Kosellecks Absicht, diese Themen anderenorts und mit jungen Gelehrten seiner eigenen Generation, vor allem im Arbeitskreis »Poetik und Hermeneutik«, zu verfolgen. Der Blick auf Brunner und Koselleck wird sich darum im Folgenden auf den systematischen Vergleich einiger zentraler Aspekte der begriffsgeschichtlichen Methodologie und Geschichtstheorie konzentrieren. 1. Epistemologie: Sprache der Quellen – Sprache der Zeit Die methodischen Konsequenzen der oben beschriebenen begriffsgeschichtlich konstituierenden Erkenntnissituation in der Mitte der 1920er Jahre fasste Brunner i. J. 1936 in einer eindringlichen Auseinandersetzung mit jüngst erschienenen Arbeiten zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zusammen. »(D)ie »Unzulänglichkeit der Übertragung der soziologischen Begriffswelt der Gegenwart auf das Mittelalter« so Brunner, sei »ganz offenkundig und zwingt uns dazu, erst überhaupt einmal die grundlegenden Begriffe zu klären.«70 Hieran schließt die wenig später erwähnte Forderung einer »Revision der Grundbegriffe« an, die Brunner in »Land und Herrschaft« (1939) methodisch präzisiert. Die Aufgabe, vor der die mittelalterliche Verfassungshistorie stehe, sei die »Darstellung des inneren Baus der politischen Verbände«, die sich bewusst sei, »daß wesentliche Begriffsmerkmale des neuzeitlichen Staates den mittelalterlichen Verbänden fehlen.« Hierzu seien »zwei Dinge gefordert«: zum einen, »daß die so beschriebenen Verbände in ihrem tatsächlichen Handeln begriffen werden können«; sodann, »daß die Terminologie, die sie verwendet, den Quellen selbst entnommen sei, so daß der Sinn dieser Quellen mit Hilfe dieser Begriffe richtig gedeutet werden kann.«71 Das Postulat des Rückgriffs auf die Sprache der Quellen hat Brunner den Vorwurf des »Begriffspurismus« bzw. des »Terminologiehistorismus«72 eingetragen und man hat ihm die Auffassung unterschoben, durch Rückgriff auf die Sprache der Quellen die mittelalterliche Welt unmittelbar, unverstellt durch moderne Begriffe, erschließen zu können. Jedoch hat Brunner dieses nie behauptet. Verwunderlich ist eher die epistemologische Naivität, die ihm hiermit unterstellt wird. 70 Brunner, Otto, Zum Problem der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 7 (1936), S. 671–685, hier: S. 685. 71 Brunner, Land und Herrschaft, S. 193. 72 Mager, Wolfgang, Diskussionsbeitrag, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Theorien in der Praxis des Historikers, Göttingen 1977, S. 76.

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Dass die leitenden Fragestellungen historischer Untersuchungen in der Gegenwart gründen und »Geschichte« daher keine antiquarische, sondern eine Gegenwartswissenschaft ist, hat Brunner wiederholt und nachdrücklich betont. »Nichts aber wäre falscher«, so Brunner auch in »Land und Herrschaft« (1939), »als zu glauben, dass historische Arbeit die modernen Begriffe entbehren könne. Nur müssen sie selbst in ihrer geschichtlichen Bedingtheit erkannt werden.«73 Und später hebt er hervor, die »Schwierigkeit« einer Arbeit liege darin, »daß sie von der Begriffssprache der Gegenwart ausgehen und letztlich auch wieder zu ihr zurückführen muß.«74 Die Forderung einer »sach- und quellenmäßigen Begriffssprache«75 steht dem nicht entgegen, sondern verweist bereits auf den Aspekt der Selbst-Thematisierung als Teil der Analyse sozialer Ordnungen, wie ihn später Niklas Luhmann in seiner Gesellschaftstheorie betont hat.76 Zweifellos birgt Brunners Forderung, bei der Analyse vergangener politischsozialer Ordnungen auf die Sprache der Quellen zurückzugreifen, die Gefahr, diese Ordnung aus der Sicht der »Herrschenden« und der literaten Schichten, aus deren Hand die schriftlichen Quellen überliefert sind, zu beschreiben und so zur postumen geschichtswissenschaftlichen Apologie dieser Ordnungen beizutragen. Hierauf ist mit Recht kritisch aufmerksam gemacht worden.77 Unabhängig davon, ob dieser hier nicht zu diskutierende Vorwurf gegen Brunner in der Sache plausibel begründet ist, liegt hier ein grundsätzliches Problem des Umgangs mit den historischen Quellen. Gegen die objektivistische Auffassung, Quellen durch immanente Exegese verstehen zu können, hat Koselleck eindringlich auf die grundsätzliche Perspektivität historischer Erkenntnis aufmerksam gemacht. Die an sich stummen Quellen sprechen erst, wenn sie befragt werden. Damit wird die Methode der Quellenkritik nicht obsolet, sie »behält ihre unverrückbare Funktion.« Gegen offenkundig falsche oder nicht zulässige Deutungen betont Koselleck das Vetorecht der Quellen.78 73 Brunner, Land und Herrschaft, S. 193. 74 Vgl. Brunner, Otto, Rez. Karl-Georg Cram: Iudicium belli. Zum Rechtscharakter des Krieges im deutschen Mittelalter, Münster 1955, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 42 (1956), S. 441–442, hier: S. 442. 75 Brunner, Land und Herrschaft, S. 506. Unter den zahlreichen weiteren gleichlautenden Formulierungen s. zuletzt ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Vorwort, S. 8. 76 S. Luhmann, Niklas, Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems. Über die Kategorie der Reflexion aus der Sicht der Systemtheorie, in: ders., Soziologische Aufklärung. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1975, S. 75–102. 77 S. Medick, Hans, Naturzustand und Naturgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Die Ursprünge der bürgerlichen Sozialtheorie als Geschichtsphilosophie und Sozialwissenschaft bei Samuel Pufendorf, John Locke und Adam Smith, Göttingen 1973, S. 16–18; Kuchenbuch, Ludolf, Der Feudalismusbegriff der Fachwissenschaften als Gegenstand historiographischer Kritik. Vorbemerkung, in: ders. / Michael, Bernd (Hg.), Feudalismus – Materialen zur Theorie und Geschichte, Frankfurt a. M. 1977, S. 145–151, insbes. S. 150. 78 Vgl. Koselleck, Reinhart, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 176–207, hier: S. 206 (zuerst 1977).

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Kosellecks erkenntnistheoretischer Perspektivismus, den er in der Aufklärungshistorie bei Johann Martin Chladenius aufspürt und der in der Wissenssoziologie vor allem Karl Mannheim thematisiert wurde,79 stimmt mit Brunners Auffassung über die Spannung zwischen der »geschichtlichen Bedingtheit« der Sprache der Quellen und den analytischen Begriffen der Gegenwart grundsätzlich überein. Dieser Perspektivismus ist kein Methodenwechsel, wohl aber ein geschichtstheoretisch präzisierender Reflexionsschub im Rahmen der von Brunner initiierten Begriffsgeschichte. Nicht um einen naiven Rückgriff auf die Sprache der Quellen geht es Brunner (und Koselleck), sondern um sprachliche Übersetzungsleistungen80 zwischen den Epochen und Kulturen. Ein Problem, das aufgrund der gegenwärtigen transnationalen und globalen Verflechtungen aktueller ist denn je. Mit Recht hat jüngst Doris Bachmann-Medick, eine der profiliertesten Protagonistinnen auf dem Feld der kulturwissenschaftlichen translational studies, auf die in diesem Zusammenhang bislang übersehene Bedeutung Brunners hingewiesen.81 Neben das methodische Problem der kulturellen Übersetzbarkeit der Quellen tritt für Brunner als weiteres Problem das Verhältnis zwischen Wissenschaftssprache und vorwissenschaftlicher, gebildeter Umgangssprache hinzu. Nicht zu übersehen sei dabei, so Brunner, die Gefährdung des wissenschaftlichen Denkens durch das Operieren mit scheinwissenschaftlichen Begriffen, mit denen vor allem »Ideologien« arbeiteten. Jedoch sei »auch die Terminologie der historischen Wissenschaften […] an die vorwissenschaftliche Sprache der Historiker gebunden, die sie formen. Auch die Erfassung zeitlich und räumlich sehr ferner Strukturen«, so Brunner, sei »im ersten Durchgang nur mit den uns gegebenen Kategorien möglich«, um in einem weiteren Schritt den Versuch zu unternehmen, »in einer immer eindringenderen Interpretation der Quellen darüber hinaus zu kommen und zu einer sachgemäßen Erfassung älterer Verhältnisse vorzudringen.« Eine ältere wissenschaftliche Terminologie, die in einer »ganz andersartigen Welt gebildet wurde«, sinke wieder in die »vorwissenschaftliche Sprache der Gebildeten« ab und erwecke leicht den »Eindruck des Allgemeingültigen und Gesicherten«, Wenn es gelungen sei, diesen »Zauberkreis zu durchbrechen«, entstehe sogleich die Frage, »wie diese zumeist recht schwierigen Dinge einem weiteren Kreis von

79 S. hierzu Laube, Karl Mannheim und die Krise des Historismus, S. 361–499. 80 Neben den oben angeführten Zitaten von Brunner s. explizit a. Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, S. 13 f. S. hierzu auch Palonen, Kari, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004, S. 241–244 u. 330–332; Chignola, Sandro, Sulla critica delle fonti della storia costituzionale. Ancora su Otto Brunner, Reinhart Koselleck, la Begriffsgeschichte, in: Scienza & Politica XXVIII (2016), S. 105–120, insbes. S. 117. Chignola hebt die »Übersetzung« der Begriffe als besondere Leistung Kosellecks hervor. Allerdings ist dieses Argument keineswegs, wie Chignola irrtümlich meint, gegen Brunner gerichtet, sondern in völliger Übereinstimmung mit diesem formuliert. 81 S. Bachmann-Medick, Doris, Übersetzung zwischen den Zeiten. Ein travelling concept?, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 67 (2017), S. 21–43, hier: S. 24.

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nicht […] fachwissenschaftlich Gebildeten […] so dargestellt werden können, dass sie sachgemäß bleiben oder doch verstanden werden können«. Im Rückgriff auf die hierüber im Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg geführte Diskussion einer »Kritik der historischen Vernunft« hebt Brunner hervor, dass eine solche Kritik nicht »eine für allemal zu erledigende Aufgabe« sei, »sondern dauernd, immer aufs Neue, durchgeführt werden« müsse. »Denn nichts wäre gefährlicher als die Annahme«, so resümiert Brunner, »mit der Kritik an der Begriffssprache einer älteren Generation sei das Problem erledigt und man könne über die Gebundenheit an die Alltagssprache unserer Zeit hinweggehen.« Dies werde jedem Historiker deutlich, so Brunner in Anspielung auf die revidierte Neuauflage seines Buches »Land und Herrschaft« (1959), »der älter geworden ist und etwa vor der Aufgabe steht, eine neue Auflage eines vor Jahrzehnten geschriebenen Buches zu veranstalten.«82 Das von Brunner aufgeworfene Problem der »Transformationsmechanismen, […] die politische Schlagwörter in wissenschaftliche Begriffe zu verwandeln vermögen«, hat Gadi Algazi für Brunners »Land und Herrschaft« kritisch und mit teilweise zutreffenden subtilen Beobachtungen aufzuzeigen versucht, die letztlich aber unzureichend bleiben, weil sie offenbar ohne Kenntnis von dessen eigenen einschlägigen methodischen Reflexionen geschrieben wurden.83 Auf die zahlreichen Missverständnisse und Verzerrungen in der Auseinandersetzung mit Brunners Werk hat bereits Otto Gerhard Oexle ausführlich hingewiesen.84 Hierauf sowie auf weitere in jüngerer Zeit vorgetragene Polemiken ist hier nicht erneut einzugehen, zumal sie zumeist den Blick auf die tatsächlichen sachlichen Probleme der Brunnerschen Begriffsgeschichte, die zu diskutieren wären, verstellen. Denn auch für Brunners Werk gilt sein in der Rezension von Edith Ennens »Frühgeschichte der europäischen Stadt« formuliertes Argument, »(w)ie jede echte wissenschaftliche Leistung«, werfe »es ebenso viele Fragen auf wie es beantwortet.«85 So wäre vor allem danach zu fragen, woher Brunner seine eigenen leitenden Begriffe, wie etwa die Formel »Volk und Reich« oder später »Alteuropa«, bezieht, das sich durchaus nicht »aus ›der Geschichte‹ selbst« (ergibt)«,86 sondern ein an Jacob Burckhardt angelehntes Konstrukt posttotalitärer Traditionsvergewisserung ist. Gleichermaßen wäre nach seinen Begriffen »Ganzes Haus« oder »Land« 82 Brunner, Otto, Bemerkungen zu den Begriffen »Herrschaft« und »Legitimität«, in: ders, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 64–79, hier: 64 f. 83 S. Algazi, Otto Brunner, S. 167; ders., Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter, Herrschaft, Gegenseitigkeit und Sprachgebrauch, Frankfurt a. M., 1996, S. 97–127. 84 S. Oexle, Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte, S. 321–327. S.  a. Schulze, Winfried, Theoretische Probleme bei der Untersuchung vorrevolutionärer Gesellschaften, in: Kocka, Theorien in der Praxis des Historikers, S. 55–74, insbes. S. 57 f. 85 Brunner, Otto, Rezension: Edith Ennen, Frühgeschichte der europäischen Stadt, Bonn 1953, in: Hansische Geschichtsblätter 72 (1954), S. 108–111, hier: S. 110. 86 So zutreffend Dipper, Christof, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento XIII (1987), S. 73–97, hier: S. 95. Zu Brunners Alteuropa s. o. Anm. 32.

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zu fragen, die keineswegs den alteuropäischen Quellen entnommen, sondern in eigenen lebensweltlichen Erfahrungen gründen sowie der vorwissenschaftlichen Umgangssprache und der Romanliteratur entlehnt sind. Eine detaillierte Studie würde anhand dieser Beispiele die wechselseitigen Beziehungen zwischen außerwissenschaftlicher Literatur und Geschichtswissenschaft sowie zwischen gebildeter Umgangssprache und Wissenschaftssprache aufzeigen können. Zurecht hat Hans Boldt betont, dass Brunner seine Kritik an modern-anachronistischen Begriffen, die vor-moderne Strukturen nicht angemessen zu beschreiben vermögen, teilweise durch »noch modernere« Begriffe austauscht.87 Die Notwendigkeit einer Aufhellung der wechselseitigen Beziehungen zwischen den verschiedenen Sprachebenen und Literaturgattungen gilt insbesondere für die »Grundbegriffe« in Brunners Werk. Sein begriffsgeschichtlicher Ansatz zeigt, dass diese Grundbegriffe gerade keinen »überhistorischen Charakter«88 haben, sondern »im Laufe der Zeit einem Bedeutungswandel« unterliegen. Daher könne aus der »Identität des Wortes« nicht »auf eine Identität des Sachverhaltes« geschlossen werden.89 Fast gleichlautend hat dies auch Koselleck mit seiner zunächst auf Unverständnis gestoßenen Unterscheidung zwischen »Wort« und Begriff«90 betont und zugleich, wie Brunner, hervorgehoben, »daß Grundbegriffe nicht auf überzeitliche Ideen oder Probleme festgelegt werden dürfen.«91In die ähnliche Richtung wie Brunners Darlegungen über die verschiedenen Sprachebenen und Literaturgattungen gehen auch Kosellecks einschlägige Überlegungen, die allerdings theoretisch weiter ausgreifen und damit die Beziehung zwischen Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte fundieren.92 Die von Brunner als »Zauberkreis« beschriebene begriffsgeschichtliche Operation ist also, entgegen der Auffassung von Ernst Müller und Falko Schmieder, keineswegs ein »Trick, […] mit der Kontinuität oder Wiederkehr der Wörter auch die der Begriffe zu unterstellen«, sondern die epistemologisch unhintergehbare Bedingung der Gegenstandskonstitution im Rahmen eines »reflektierten Historismus« (R. Koselleck). Hierin liegt eine wichtige Übereinstimmung zwischen Brunner und Koselleck, die sich einerseits vom älteren Historismus Rankes und den anthropologisch-epistemologischen Vorannahmen der Diltheyschen Herme87 Vgl. Boldt, Hans, Otto Brunner. Zur Theorie der Verfassungsgeschichte, in: Annali dell’ Istituto storico italo-germanico in Trento XIII (1987), S. 39–61, hier: S. 47; ders., Otto Brunner und die deutsche Verfassungsgeschichte, in: Lönne, Karl-Egon (Hg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Tübingen 2003, S. 193–206, insbes. S. 197–201. 88 Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 272, in Anlehnung an Algazi, Otto Brunner, S. 175. 89 Vgl. Brunner, Bemerkungen zu den Begriffen »Herrschaft« und »Legitimität«, S. 64. 90 S. hierzu Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichte, S. 14, 34 u. insbesondere die über die Unterscheidung zwischen »Wort« und »Begriff« geführte Diskussion S. 34 f. 91 Koselleck, Reinhart, Stichwort: Begriffsgeschichte, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 99–102, hier: S. 100. 92 Vgl. Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte.

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neutik, und andererseits von der Historischen Sozialwissenschaften unterscheidet, dererseits gegenüber dem Brunner-Koselleckschen (und Conzeschen) Postulat eines Rückgriffs auf die Sprache der Quellen der irreführende Vorwurf des »NeoHistorismus« (H.-U. Wehler) erhoben wurde. Diese Kritik ist umso fragwürdiger, als die führenden Vertreter der »Gesellschaftsgeschichte« die Historizität weder des Gesellschaftsbegriffs noch ihrer leitenden Analysekategorien wie »Herrschaft, Wirtschaft und Kultur« kaum hinreichend reflektiert und sie stattdessen zu apriorischen Universalien hypostasiert haben.93 2. Standortbildung und Zeitlichkeit Zu den gravierendsten Brunner-Kritiken gehört der Einwand, er habe die scharfsinnige Methode der Historisierung der Begriffe »nicht auch gegen sich selbst gekehrt […]«94 Auch dieses Urteil ist unzutreffend und beruht auf weitgehender Unkenntnis der Brunnerschen Schriften. Bereits der völkisch-nationalsozialistische Umbau seiner Begriffe in der Mitte der 1930er Jahre geschah im vollen Bewusstsein über den Zusammenhang zwischen Gegenwartsinteresse und den die historische Forschung leitenden Begriffen.95 Mögen Brunners Auslassungen hierzu für heutige Leser »peinigend« sein und wegen seiner ideologischen Verstrickung in den Nationalsozialismus mehr als nur ein »Gefühl der Betretenheit« auslösen, so wird man der Meinung, »daß Brunner 1939 offensichtlich nicht in der Lage war, die von ihm als so grundstürzend erlebten Ereignisse […] geschichtlich einzuordnen«, darum nicht zustimmen können.96 Dass seine totalitäre Utopie einer die Trennung von »Staat« und »Gesellschaft« überwindenden Einheit von »Führung« und »Volksgemeinschaft« ein »Irrweg« war, hat Brunner in seiner Hamburger Antrittsrede öffentlich eingestanden.97 Und dass dies mehr war als ein zugestandenes Lippenbekenntnis, belegen zahl93 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich, Einleitung, in: ders. (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1976, S. 11–31, hier: S. 11; ders., Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, München 1987, S. 6 f. S. a. Berding, Helmut, Selbstreflexion und Theoriengebrauch in der Geschichtswissenschaft, in: Kocka, Theorien in der Praxis des Historikers, S. 205–225; s. a. Berdings kritische Auseinandersetzung mit Begriffsgeschichte anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes der »Geschichtliche(n) Grundbegriffe«: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: HZ 223 (1976), S. 98–110. 94 Mommsen, Wolfgang J., Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Düsseldorf 1971, S. 23. S. a. Dipper, Otto Brunner aus der Sicht der frühneuzeitlichen Historiographie, Otto Gerhard Oexle zitierend: S. 95. Zu Oexle s. u. Anm. 96; Dunkhase, Werner Conze, S. 146. 95 Neben »Land und Herrschaft« s. hierzu insbesondere Brunner, Otto, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: MIÖG, Erg.-Bd. XIV, Innsbruck 1939, S. 513–528, hier: S. 528. 96 Oexle, Otto Gerhard, Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: VSWG 71 (1984), S. 305–341, Zitate S. 317 u. S. 321. 97 Brunner, Otto, Abendländisches Geschichtsdenken, in: ders., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, S. 26–44, hier: S. 43 f.

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reiche seiner nach 1945 veröffentlichten Schriften, die sich (selbst-)kritisch mit dem »Zeitalter der Ideologien« auseinandersetzen. Dabei hat Brunner den begriffsgeschichtlich zentralen methodischen Aspekt der Standortgebundenheit seiner eigenen Forschungen besonders hervorgehoben. In seinem  – bis heute lesenswerten – Aufsatz »Zum Begriffs des Bürgertums« (1966), den er zum Auftakt einer Tagung auf der Reichenau hielt, regt er die aus verschiedenen Ländern und Wissenschaftskulturen herkommenden Teilnehmer zur Besinnung über die je »eigenen Betrachtungsweisen« an, und »dies gilt«, so fügt Brunner ausdrücklich hinzu, »selbstverständlich auch für mich selbst. Denn nichts wäre ja naiver als die Annahme, man stehe selbst über den Dingen und nur die anderen seien standortbedingt.«98 Vergleicht man Brunners hier ausführlich, zeitlich das Gesamtwerk berücksichtigende und nicht nur auf die in den ersten drei Auflagen von »Land und Herrschaft« (1939–1943) gerichtete, und darum verkürzte, Positionen zur erkenntnistheoretischen Frage der Standortgebundenheit historischer Forschung sowie zum Problem historischer Kategorienbildung im Spannungsfeld zeitgenössischer Begrifflichkeit und Quellensprache, so ist eine grundsätzliche Übereinstimmung mit den Positionen Kosellecks festzustellen. Allerdings hat Koselleck die Methodik der Begriffsgeschichte mit seinen Reflexionen zur historisch-anthropologischen und metahistorischen Kategorienbildung (v. a. Erfahrungsraum und Erwartungshorizont; Erfahrungswechsel und Methodenwandel) sowie zur Pragmatik der Begriffsgeschichte präzisiert und erweitert. Mit Blick auf die genannten Aspekte handelt es sich nicht um eine methodische (Neu-)Begründung der Begriffsgeschichte, sondern um eine Methodenvertiefung und Erweiterung jener »Wege«, die Brunner, nach Kosellecks eigener Hervorhebung, »erschlossen (hat)«. Erst im Vergleich zu Brunners Verknüpfung zwischen Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte einerseits sowie zu Gadamers Hermeneutik andererseits wird Kosellecks begriffsgeschichtliche Methodenvertiefung, die schließlich in seiner »Historik« in eine Methodenerweiterung mündet, deutlich.99 Bevor abschließend auf beide Aspekte im Koselleckschen Werk, Methodenvertiefung und Methodenerweiterung, näher eingegangen wird, soll zunächst ein kritischer Blick auf »Verfassung« als einem problematischen »Grundbegriff« bei Brunner und Koselleck geworfen werden.

98 Brunner, Otto, Zum Begriff des Bürgertums, in: Mayer, Theodor (Hg.), Untersuchungen zur gesellschaftlichen Struktur der mittelalterlichen Städte in Europa. Reichenau-Vorträge 1963–1964, Stuttgart 1966, S. 13–23, hier: S. 23. 99 S. hierzu Koselleck, Reinhart, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten, S. 97–118, sowie: Gadmer, Hans-Georg, Historik und Sprache. Eine Antwort, in: ebd., S. 119–127 (zuerst 1985). S. hierzu a. Kaegi, Dominic, Historik und Hermeneutik. Koselleck und Gadamer, in: Dutt / Laube, Zwischen Sprache und Geschichte, S. 256–267.

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3. Verfassung und Konstitution – Vexierspiel der Wörter und Aporie der Kategorienbildung Unter den geschichtlichen Grundbegriffen nimmt »Verfassung« einen prominenten Ort ein. Dies gilt für Koselleck ebenso wie für Brunner, der sich mit seinem Hauptwerk »Land und Herrschaft« ausweislich des Untertitels »Territoriale Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter« (in der 4. Auflage »Österreichs«) in die Tradition der germanistischen deutschen verfassungsgeschichtlichen Forschung stellt, die, im Unterschied zu der an Preußen orientierten »Verwaltungsgeschichte« der Neuzeit, im Kern mittelalterliche Rechts- und Staatsgeschichte war.100 Brunners oben beschriebene Erkenntnissituation Mitte der 1920er Jahre löste jedoch seine prinzipielle Abkehr vom Etatismus der Verfassungsgeschichte aus, die sich mit Carl Schmitts Historisierung des Staates als eine »zeitgebundene, geschichtlich bedingte, konkrete und spezifische Organisationsform der politischen Einheit«101 der Neuzeit zwischen dem 17. und der Mitte des 20. Jahrhunderts traf. Form nimmt der Staat durch die »Verfassung« als ein durch Souveränität hergestellter »Gesamtzustand politischer Einheit und sozialer Ordnung«102 an. Diese Definition wirft jedoch das Problem der Anwendbarkeit des Verfassungsbegriffs auf vor-staatliche Ordnungen auf und lässt die Frage offen, wie vor-neuzeitliche politisch-soziale Ordnungen beschrieben werden können und welches das vor-neuzeitliche funktionale Äquivalent des durch das Gewaltmonopol des Souveräns definierten »Staates« sei. Die durch Schmitt auf den Staat bezogene Verfassungsdefinition und die offen gelassene Frage griff Brunner als Problem auf. Dabei übernimmt er den absoluten Verfassungsbegriff für die Analyse der mittelalterlichen politisch-sozialen Ordnung, löst ihn aber, gegen Schmitt, von seinem Bezug auf den Staat. Hatte Schmitt den »absoluten« vom »relativen« Verfassungsbegriff des modernen Konstitutionalismus des »bürgerlichen Rechtsstaats« unterschieden, so nimmt Brunner diese Unterscheidung terminologisch auf, wendet sie aber zur typologischen Abgrenzung zwischen der »modernen« Verfassung des »bürgerlich-liberalen Rechtsstaats« und mittelalterlicher Verfassung, deren Grundbegriffe nicht »Staat« und sein »Monopol legitimer Gewaltanwendung« sind, sondern »Land« und »Fehde« als rechtmäßige Gewalt.103 Um die Differenz zwischen der neuzeitlichen, auf den »Staat« bezogenen, und der mittelalterlichen, 100 S. hierzu Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Die deutsche verfassungsgeschichtliche Forschung im 19. Jahrhundert. Zeitgebundene Fragestellungen und Leitbilder, Berlin 21995. 101 Schmitt, Carl, Staatliche Souveränität und freies Meer. Über den Gegensatz von Land und Meer im Völkerrecht der Neuzeit, in: Mayer, Theodor / Platzhoff, Walter (Hg.), Das Reich und Europa, Leipzig 1941, S. 91–117, hier: S. 92. S. hierzu die textkritische und mit Anmerkungen des Herausgebers versehene Version in: Schmitt, Carl, Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 401–430. 102 Schmitt, Carl, Verfassungslehre, München 1928, S. 4. 103 S. Brunner, Land und Herrschaft, S. 29–55, sowie die Neufassung in der 4. Auflage des Buches (Wien 1959), S. 17–41.

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auf das »Land« bezogenen Verfassungsordnung auch terminologisch kenntlich zu machen, unterscheidet Brunner zwischen neuzeitlicher »Konstitution« und mittelalterlicher »Verfassung«.104 Weder auf Brunners Ent-Staatlichung und De-Konstitutionalisierung be­ ruhende Neukonzeptualisierung der Verfassungsgeschichtsschreibung noch auf seine wechselvolle intellektuelle Beziehung zu Schmitt ist an dieser Stelle näher einzugehen. Hier soll zunächst lediglich auf die Ambivalenz von Brunners Begriffsoperation sowie darauf aufmerksam gemacht werden, dass es sich bei seinem auf das Mittelalter bezogenen Verfassungsbegriff im Unterschied zu dem der modernen »Konstitution« keineswegs um einen Quellenbegriff handelt. Zudem führt die Unterscheidung zwischen »Verfassung« und »Konstitution« in ein semantisches Dilemma, da nur die deutsche Sprache diese Unterscheidung erlaubt. Im Englischen und in den romanischen Sprachen ist sie nicht möglich, und schon darum war (und ist) die deutsch(-sprachige) verfassungsgeschichtliche Forschung international nur bedingt anschlussfähig. Brunner selbst hat in seinem Spätwerk zunehmend Unbehagen an einer am überhistorischen Verfassungsbegriff orientierten Verfassungsgeschichtsschreibung empfunden und sich ausdrücklich gegen den Vorschlag des Mediävisten Walter Schlesinger gewandt, »von ›Verfassungsgeschichte‹ im allgemeinen Sinn«105 zu sprechen. Im Unterschied zur Mediävistik, in der in jüngerer Zeit anstelle der »Verfassung« von »Ordnungskonfigurationen« gesprochen wird,106 ist in der Verfassungshistorie dieses Bedenken nicht aufgenommen worden, und auch darum ist sie über den Problemhorizont dieses begrifflich-konzeptuellen Dilemmas bis heute nicht hinausgekommen. Tatsächlich führt diese zweischichtige Semantik in ein Vexierspiel, in dem nicht klar ist, was und wann »Verfassung« im politischen Sinn und als »politisch-soziale Bauform der Zeit« gemeint ist.107 104 Vgl. Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, sowie die entnazifizierte Neufassung in: Kämpf, Hellmut (Hg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter, Darmstadt 1956, S. 1–19. 105 Brunner, Zum Begriff des Bürgertums, S. 15. S. a. ders., Der Historiker und die Geschichte von Verfassung und Recht, in: HZ 209 (1969), S. 1–16, insbes. S. 12–15. 106 S. Schneidmüller, Bernd / Weinfurter, Stefan (Hg.), Ordnungskonfigurationen im hohen Mittelalter, Ostfildern 2006; Schneidmüller, Bernd, Von der deutschen Verfassungsgeschichte zur Geschichte politischer Ordnungen und Identitäten im europäischen Mittelalter, in: ZfG 53 (2005), S. 485–506. 107 Es wäre daher an der Zeit, um Brunners inkriminiertes Diktum aufzunehmen, diesen »Grundbegriff« zu »revidieren«, um zu einer anderen, auf höherer Abstraktionsebene angesiedelten Begrifflichkeit »institutioneller Ordnungsarrangements« zu finden; S. hierzu Rehberg, Karl-Siegbert, Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen, in: Vorländer, Hans / Rehberg, Karl-Siegbert (Hg.), Symbolische Ordnungen. Beiträge zu einer soziologischen Theorie der Institutionen., Baden-Baden 2014, S. 43–83; ders., Die stabilisierende »Fiktionalität« von Präsenz und Dauer. Institutionelle Analyse und historische Forschung, in: ebd., S. 147–173. Mit Blick auf »Verfassung« als institutionelles Ordnungsarrangement s. Blänkner, Reinhard »Verfassungskultur«. Überlegungen aus historisch-kulturwissenschaftlicher Sicht, in: Lehnert, Detlef (Hg.), Konstitutionalismus in Europa. Entwicklung und Interpretation, Köln 2014, S. 199–222., insbes. S. 204–210.

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In der deutschen Verfassungshistorie hat Brunners Neuansatz dennoch einen »innovativen Anstoß«108 ausgelöst, der, über die Mediävistik hinausreichend, für mehr als eine Generation paradigmatische Geltung besaß und bis heute nachwirkt.109 Prominent lässt sich dies bei Ernst-Wolfgang Böckenförde zeigen, dessen gleichsam totaler Verfassungsbegriff als »politisch-soziale Bauform der Zeit«110 bis heute in der juristischen, politikwissenschaftlichen und (kultur-)geschichtlichen Verfassungsforschung vorherrscht.111 Dieser umfassende, an Schmitt angelehnte Verfassungsbegriff liegt auch zahlreichen Arbeiten zugrunde, die aus dem Heidel­ berger Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte hervorgegangen sind. Die Begriffe »Strukturgeschichte«, »inneres Gefüge« oder »Ordnung« wurden hier zumeist synonym mit dem umfassenden Begriff der »Verfassung« verwendet.112 Dies trifft auch auf Koselleck zu. Sein Buch »Preußen zwischen Reform und Revolution« (1967) sowie seine hierzu fünf Jahre zuvor erschienene Vorstudie sind »Verfassungsgeschichten« in dem genannten umfassenden Verständnis.113 In seinem Aufsatz »Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung«, in dem er auch Brunners Verfassungskonzept diskutiert, greift Koselleck dieses Problem grundsätzlich auf. Bemerkenswert an diesem Text ist nicht nur, dass er, im Vorgriff auf eine damals noch zu schreibende Begriffsgeschichte 108 Dilcher, Gerhard, Von der geschichtlichen Rechtswissenschaft zur Geschichte des Rechts. Leitende Fragestellungen und Paradigmenwechsel zwischen 19. und 20. Jahrhundert, in: Caroni, Pio / Dilcher, Gerhard (Hg.), Norm und Tradition. Welche Geschichtlichkeit für die Rechtsgeschichte?, Köln 1998, S. 109–143, hier: S. 133–135, Zitat S. 134; Liebrecht, Johannes, Fritz Kern und das gute alte Recht. Geistesgeschichte als neuer Zugang für die Mediävistik, Frankfurt a. M. 2016, S. 107–110; ders., Die junge Rechtsgeschichte. Kategorienwandel in der rechtshistorischen Germanistik der Zwischenkriegszeit, Tübingen 2018, S. 206–210; Grothe, Ewald, Zwischen Recht und Geschichte. Die deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900–1970, München 2005, S. 297–305. 109 S. hierzu etwa Weltin, Max, Der Begriff des Landes bei Otto Brunner und seine Rezeption durch die verfassungsgeschichtliche Forschung, in: Weltin, Max, Das Land und sein Recht. Ausgewählte Beträge zur Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter, hg. von Stelzer, Winfried / Reichert, Folker, Wien 2006, S. 384–409; Dendorfer, Jürgen, Land und Herrschaft. Die »Neue Verfassungsgeschichte« und ihre Wirkung auf die Landesgeschichte im Süden Deutschlands, in: Adel und Verfassung im hoch- und spätmittelalterlichen Reich. Die Vorträge der Tagung im Gedenken an Maximilian Weltin 23. u. 24. Februar 2017, Mitteilungen des Niederösterreichischen Landesarchivs 18 (2018), S. 30–55. 110 Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Vorwort, in: ders. (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815–1914), Königstein / Ts. 21981, S. 9. 111 S. hierzu Blänkner »Verfassungskultur«, S. 199–222. 112 S. hierzu Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, S. 262. Als erstes einschlägiges Dokument des Heidelberger Arbeitskreises s. hierzu: Conze, Werner (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848. Mit Beiträgen von Theodor Schieder u. a., Stuttgart 1962. 113 Vgl. Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967; ders., Staat und Gesellschaft in Preußen 1815 bis 1848, in: Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848. S. hierzu a. Palonen, Die Entzauberung der Begriffe, S. 189–194.

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der »Verfassung«,114 die Entstehung dieses normativen Begriffs in Deutschland um 1800 belegt, ohne allerdings einen Ausweg aus dem semantischen Vexierspiel zwischen »Verfassung« und »Konstitution« aufzeigen zu können und stattdessen in ihm gefangen bleibt. Das Hauptproblem dieses entgrenzten Verfassungsbegriffs liegt jedoch darin, dass hier ein juristischer und politisch-sozialer, ideologisch umstrittener Leitbegriff aus seinen historischen Kontexten isoliert und zur universalen Kategorie hypostasiert wird. Es sei, so Koselleck mit Blick auf den Verfassungsbegriff, »offensichtlich nötig, einige Begriffe kategorial zu verwenden, um andere – historische – Begriffe zu erklären. Sie sind die stillschweigenden oder eben zu definierenden axiomatischen Voraussetzungen, die selber nicht historisiert werden dürfen, wenn man Verständigung erzielen will.«115 Hiermit ist das generelle Problem historischer und sozialtheoretischer Kategorienbildung angesprochen. Dass historisch und typologisch übergreifende Forschung metahistorischer Verständigungskategorien bedarf, ist unbestritten. Allerdings führt die Hypostasierung eines »Bewegungsbegriffs« wie »Verfassung«, der als Antwort auf eine konkrete historische Problemlage situativ gebunden ist, zur allgemeinen Kategorie politisch-sozialer Ordnung in eine semantische Sackgasse, aus der nur die Kategorienbildung auf höherer Abstraktionsebene herausführen kann. Die Neutralisierung vormaliger politisch-ideologischer Kampfbegriffe als Voraussetzung gesellschaftlicher Verständigung ist hierfür jedoch ungeeignet. Die Doppelverwendung des Verfassungsbegriffs weist daher auf eine Aporie in der Konzeptualisierung der »Geschichtlichen Grundbegriffe« hin. Kosellecks Postulat, »daß Grundbegriffe nicht auf überzeitliche Ideen oder Probleme festgelegt werden dürfen«, wird durch die Hypostasierung der »Verfassung« zu einem überhistorischen, allgemeinen Grundbegriff unterlaufen.116 4. Grundbegriffe und Wiederholungsstrukturen Dass das von Brunner, Conze und Koselleck geplante Wörterbuch politisch-sozialer Leitbegriffe schließlich als Lexikon unter dem Titel Geschichtliche Grundbegriffe erschien, war, wie erwähnt, eine späte Entscheidung, die der Drucklegung des ersten Bandes (1972) unmittelbar vorausging. Über die Leitbegriffe, die das Lexikon enthalten sollte, hatte man sich in der mehr als eine Dekade vorausgehenden Pla114 S. hierzu: Verfassung. Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart. Zwei Studien von Heinz Mohnhaupt u. Dieter Grimm, Berlin 1995 (erw. Versionen der zuerst ersch. Artikel in: Brunner / Conze / Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 6 (1990), S. 831–862 u. 863–890). 115 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichte, S. 16. 116 Mit Recht weist Sandro Chignola auf diese Aporie bei Brunner hin, übersieht dabei aber, daß dieses Argument ebenso auf Koselleck zutrifft. Der Versuch, an dieser Stelle Kosellecks »Wiederholungsstrukturen« gegen Brunners Grundbegriff »Verfassung« auszuspielen, geht daher fehl, vgl. Chignola, Sulla critica delle fonti della storia costituzionale, S. 116 f.

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nung verständigt. Was unter einem »geschichtlichen Grundbegriff« zu verstehen sei, war hingegen nie Gegenstand von Diskussionen gewesen und blieb vage. In der Einleitung zum ersten Band des Lexikons werden »geschichtliche Grundbegriffe« als »Leitbegriffe der geschichtlichen Bewegung« definiert, »die, in der Folge der Zeiten, den Gegenstand der historischen Forschung ausmacht.«117 Die Aporien, in die die Synonymbildung der Adjektive »geschichtlich« und »historisch« führen, blieben hierbei ebenso unerörtert wie die Frage, was eine »geschichtliche« von einer »historischen« Bewegung unterscheidet. Die von Koselleck verfasste Einleitung erfolgte, wie schon zuvor die »Richtlinien« für das Lexikon, nach gemeinsamer Diskussion und ausdrücklicher Zustimmung von Conze und Brunner.118 Insofern wäre es verfehlt, an dieser Stelle prinzipielle Differenzen zwischen Koselleck und Brunner zu unterstellen. Blickt man auf die – ganz überwiegend außerhalb des Lexikons erschienenen – Arbeiten beider zur Praxis der begriffsgeschichtlichen Methode, werden gleichwohl wichtige Unterschiede deutlich, die zugleich erkennen lassen, dass der Titel Geschicht­ liche Grundbegriffe ein gleichsam plakativer semantischer Formelkompromiss unter den Herausgebern zur besseren Vermarktung des Lexikons war. Diese Unterschiede können hier nicht detailliert anhand der besonderen, von Brunner und Koselleck selbst untersuchten Grundbegriffe dargelegt werden. Stattdessen soll es darum gehen, die Differenz der begriffsgeschichtlichen Methoden aufzuhellen. Bei Brunner führt dies erneut zu seiner Erkenntnissituation in der Mitte der 1920er Jahre zurück, als ihm die Unanwendbarkeit moderner Begriffe wie »Staat«, Gesellschaft« oder »Wirtschaft« für die Analyse der politisch-sozialen Ordnung des Mittelalters deutlich wurde. Sein begriffsgeschichtliches Problem bestand daher vor allem in der diachronen Kontrastierung moderner und mittelalterlicher bzw. nicht-moderner analytischer Kategorien. Die Ersetzung anachronistischer Begriffe durch eine an die Quellen angelehnte, (vermeintlich) sachgemäße Begrifflichkeit vollzog sich sukzessive im zehnjährigen Prozess der Arbeit an »Land und Herrschaft«. Neben die frühzeitig zu Grundbegriffen deklarierten Kategorien »Fehde«, »Land« und »Herrschaft« traten im Zuge der völkisch-nationalsozialistischen Überlagerung des Buches »Volk« und »Reich« sowie »Führung« und »Volkgemeinschaft« als leitende Begriffe, die später, nach Brunners alteuropäisch-antitotalitärer Wende, ergänzt oder vertieft wurden wie etwa »ganzes Haus«, »Repräsentation« oder »Souveränität«.119 117 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe), Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII, hier: S. XIII. 118 S. oben, Anm. 68. Conze erteilte Kosellecks Entwurf das Prädikat »optime! Der Kenner spürt, daß es sich hier nicht um ein Neunmonatskind, sondern um ein Neunjahreskind handelt. Ausgereift und m. E. vollständig.«, vgl. Werner Conze an Reinhart Koselleck, 31.3.1972, in: DLA Marbach, Nl Reinhart Koselleck, Sign.: A: Koselleck / Geschichtliche Grundbegriffe HS.2008.0095. 119 S. hierzu Brunner, Das »ganze Haus« und die alteuropäische »Ökonomik«; ders., Herrschaft, Souveränität, Repräsentation. Grundbegriffe der europäischen Verfassungsgeschichte (Auszug aus einem Vortrag), in: Veröffentlichungen des Verbandes Österreichischer Geschichts-

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Brunners diachrone Methode der Begriffsgeschichte hat den Eindruck einer statischen Gegenüberstellung der Begriffe entstehen lassen, wie ihn auch der Titel der Brunner gewidmeten Festschrift »Alteuropa und die moderne Gesellschaft« (1963) nahelegt. Wenngleich Brunner selbst diese dichotomische Konfrontation sowohl mit seinem leitenden Begriffspaar »Volk und Reich« als auch später u. a. mit dem Versuch, die alteuropäische »Tugend« (Paideia) als Form individueller Lebensführung an die moderne Massengesellschaft anzuschließen, unterläuft, bleibt der statische Zug in seiner Begriffsgeschichte unübersehbar. Dies liegt maßgeblich im Verständnis seiner Grundbegriffe als »Konkrete Ordnungsbegriffe« begründet, die er von Carl Schmitts institutionellem Rechtdenken übernimmt.120 Hinter die Zentrierung auf konkrete Ordnungen tritt der Blick auf die diskursiven Praktiken semantischen Ordnens zurück. Ausgeblendet bleibt – nicht nur bei Brunner, sondern ebenso in den bereits erwähnten »Richtlinien« für das Lexikon – der praxeologische Aspekt politischsozialen Ordnens auch im konzeptuellen Einsatzpunkt der Begriffsgeschichte, die von der Identität eines Begriffs im Moment seines Aufkommens ausgeht, um nachfolgend den Begriffswandel zu verfolgen. Diese aprioristische Setzung übersieht jedoch, dass ein gegebener Begriff als Antwort auf eine bestimmte historische Situation bereits im Moment seines Ausgangspunkts umstritten ist.121 Brunners begriffsgeschichtliche Methode der diachronen Kontrastierung von Grundbegriffen bleibt daher, zusammenfassend, reduziert auf die Indikatorfunktion von Begriffen für die Sozialgeschichte. In der Einleitung zu den »Geschichtlichen Grundbegriffen« hat Koselleck die Indikatorfunktion um den Aspekt von Begriffen als »Faktor« »geschichtlicher Bewegung« ergänzt.122 Allerdings ist dies nicht nur gegenüber dem Brunnerschen Ansatz eine Erweiterung. Sie dokumentiert vor allem den, von Koselleck ausgehenden, Theorieschub innerhalb des Herausgeberkreises des Lexikons, denn in den ebenfalls von Koselleck formulierten »Richtlinien« (1963/67) ist von diesen beiden Funktionen der Begriffsgeschichte noch keine Rede. Brunner, ebenso wie Conze, hat sich dieser wichtigen Erweiterung mit seiner emphatischen Zustimmung zu der von Koselleck verfassten »Einleitung« angeschlossen, sie für seine vereine. 14. Bericht über den sechsten österreichischen Historikertag in Salzburg, veranstaltet vom Verband Österreichischer Geschichtsvereine in der Zeit vom 20. – 23. September 1960. Hrsg. vom Verband Österreichischer Geschichtsvereine, o. O., 1961, S. 60–66; ders., Souveränitätsproblem und Sozialstruktur in den deutschen Reichsstädten der Frühen Neuzeit, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 294–321. 120 S. Brunner, Land und Herrschaft, S. 11; ders., Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Wien 21942, S. XIII. S. dazu Böckenförde, Ernst-Wolfgang, »Ordnungsdenken, konkretes«, in: Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 6, Stuttgart 1984, Sp. 1312 f. 121 s. hierzu Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, S. 174–176. 122 Vgl. Koselleck, Einleitung, S. XIV. S. a. ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 107–129, hier: S. 220.

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eigenen Arbeiten jedoch nicht mehr genutzt. Gegenüber der diachronen Kon­ trastierung von Ordnungsbegriffen öffnet die Faktorfunktion von Begriffen den Blick auf die synchronen »semantischen Kämpfe«123, die über »asymmetrische Gegenbegriffe«124 ebenso wie über das Deutungsmonopol von Leitbegriffen als »Leitdifferenzen«125 ausgetragen werden. Diese methodische Erweiterung zielt daher auf eine, wenngleich auf die politisch-soziale Sprache fokussierte und in den Artikeln der Geschichtlichen Grundbegriffe nur vereinzelt gelungene, Diskursanalyse der »Sattelzeit«. In den bisherigen Ausführungen wurden die verschiedenen Projektphasen des Lexikons, von ersten Vorüberlegungen ausgangs der 1950er Jahre über die »Richtlinien«-Phase bis zur endgültigen Form als Geschichtliche Grundbegriffe angedeutet. Die Unterscheidung dieser Phasen ermöglicht auch einen genaueren Blick auf die Arbeit Brunners und Kosellecks an dem Lexikon. Während Brunners konzeptueller Einfluss vor allem in der ersten Phase und in der zweiten Phase als Bearbeiter geplanter Lemmata lag, erfolgten mit Kosellecks Eintritt als Redakteur des Vorhabens konzeptuelle Präzisierungen und theoretische Erweiterungen, die schließlich in die vier Kriterien der Sattelzeit – Demokratisierung, Politisierung, Ideologisierbarkeit, und Verzeitlichung der Begriffe – mündeten. Die vor allem von Koselleck ausgehenden innovativen Impulse seit der zweiten Phase der Lexikonplanung gingen einher mit einem Theorieschub, der zu einer Veränderung Kosellecks eigener Forschungsinteressen und über die »theoretischen Prämissen« der begriffsgeschichtlichen Arbeiten an den »Geschichtlichen Grundbegriffen«, der letzten Phase des Lexikonvorhabens, hinausführte.126 Hierbei knüpfte er an seine früheren Überlegungen zu einer »neuen Historik« und das von Heidegger angeregte Interesse an dem »zentrale(n) Begriff der Geschichtlichkeit«127 an, von dem er sich jedoch schrittweise löste und sich stattdessen einer »Theorie historischer Zeiten« zuwandte.128 Das Postulat einer solchen Theorie bzw. das im selben Reflexionskontext formulierte Konzept der »Verzeitlichung«

123 S. hierzu, auch mit Blick auf Kosellecks werkgeschichtlich zu differenzierende Perioden erhellend: Dipper, Christof, Reinhart Kosellecks Konzept »semantischer Kämpfe«, in: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5 (2016), H. 2, S. 32–41. 124 Vgl. Koselleck, Reinhart, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 211–277. 125 Zu »Leitideen« als »Leitdifferenzen« s. aus kultursoziologischer Sicht: Rehberg, Institutionen als symbolische Ordnungen, S. 65–70. 126 Vgl. Koselleck, Reinhart, Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels, in: Bödeker, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte, S. 29– 47, hier: S. 31; Olsen, History in the Plural, S. 229–231. 127 Koselleck, Im Vorfeld einer neuen Historik, S. 588. 128 S. hierzu Koselleck, Reinhart, Wozu noch Historie?, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S. 32–51. Dazu Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«, S. 298–304; ders., Reinhart Kosellecks Konzept »semantischer Kämpfe«, S. 38–39. S. a. die Einleitung von Manfred Hettling und Wolfgang Schieder im vorliegenden Band.

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von Begriffen nimmt dabei im Vergleich zu den übrigen Kriterien der Sattelzeit eine besondere Stelle ein.129 Es markiert den Kern der Koselleckschen Historik, die sich von der am historischen Geschehen uninteressierten existentialontologischen »Geschichtlichkeit« Heideggers130, von der Begriffssoziologie und Begriffspolitik Carl Schmitts131 und schließlich von Brunners diachroner Begriffsgeschichte unterscheidet. Der Vergleich mit Brunner ist hierbei von besonderer Bedeutung. Denn anders als Heidegger und Schmitt, hat er den Weg zur Begriffsgeschichte geöffnet, zudem gemeinsam mit Koselleck und Conze an der Konzeption des Lexikons gearbeitet, und schließlich, wie Koselleck, im Rahmen der Geschichtswissenschaft das Problem des Historismus bzw. einer Historik aufgeworfen. Vor allem im Vergleich mit Brunner wird daher Kosellecks »genuine Leistung der Verbindung von Begriffsgeschichte und Geschichtstheorie«132 erkennbar. In der Frühneuzeitforschung ist das Konzept der »Verzeitlichung« verschiedentlich auf Kritik gestoßen, der hier nicht näher nachzugehen ist. Gegen missverständliche Deutungen ist lediglich anzumerken, dass Koselleck hiermit zunächst vor allem den erkenntnistheoretisch fundamentalen, Mitte des 18. Jahrhunderts ausgelösten Vorgang der »Temporalisierung der Perspektive« als Wissensform ansprach, die bis dahin ausschließlich raumbezogen gedacht wurde, sowie die in der frühen Neuzeit durch Technik und Industrie ausgelöste Beschleunigung der »globalen Interdependenz«.133 Mit der »Theorie historischer Zeiten« fügt Koselleck dem Verzeitlichungstheorem seit Anfang der 1970er Jahre einen weiterführenden Aspekt hinzu, in dessen Mittelpunkt die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels stehen.134 Hiermit wird der Blick auf die tiefenhistorischen »Zeitschichten« freigelegt, der die Begriffsgeschichte nicht auf die kontrastive diachrone Indikatorfunktion und die synchrone Faktorfunktion beschränkt, sondern die Bedingungen begriffsgeschichtlichen Wandels erst eigentlich ermöglicht.

129 Dies wird zurecht hervorgehoben von Mehring, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, S.159. 130 S. Koselleck, Reinhart, Historik und Hermeneutik, S. 99–104. 131 S. hierzu Mehring, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt; ders., Begriffssoziologie, Begriffspolitik, Begriffsgeschichte. Zur Form der Ideengeschichtsschreibung nach Carl Schmitt und Reinhart Koselleck, in: Bluhm, Harald / Gebhardt, Jürgen (Hg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert, Baden-Baden 2006, S. 31–50; Egner, David, Begriffsgeschichte und Begriffssoziologie. Zur Methodik und Historik Carl Schmitts und Reinhart Kosellecks, in: Busen, Andreas / Weiß, Alexander (Hg.), Ansätze und Methoden zur Erforschung politischen Denkens, Baden-Baden 2013, S. 81–102; Olsen, History in the Plural, S. 186–190. 132 Mehring, ebd., S. 32. Mehring bezieht diesen Vergleich auf Carl Schmitt, verkennt damit aber den für die Begriffsgeschichte wichtigeren Bezug Kosellecks auf Brunner. 133 Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit, S. 192; ders., »Neuzeit«. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 300–348, insbes. S. 321–339, Zitat S. 333 (zuerst 1977). 134 S. hierzu und den folgenden Darlegungen Koselleck, Reinhart, Wozu noch Historie?), S. 48–50; ders., Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels (wie Anm. 126); ders., Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten, in: ders., Zeitschichten, S. 317–335.

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Wesentlich für Kosellecks Verständnis der Zeitschichten ist, dass diese nicht unverbunden einander überlagern, sondern durch »Wiederholungsstrukturen« miteinander verknüpft sind. Mit dem Konzept der temporalen Binnenstrukturen geht Koselleck einen entscheidenden Schritt über Brunners (und der bis dahin in den »Geschichtlichen Grundbegriffen«) praktizierte Methode der Begriffsgeschichte hinaus. Hier, nicht aber im historisch-kritischen Umgang mit den Quellen oder der epistemologischen These der Standortgebundenheit historischer Erkenntnis, liegt die entscheidende Differenz zwischen der Brunnerschen und Koselleckschen Begriffsgeschichte.135 Kosellecks Blick auf die temporalen Binnenstrukturen markiert jedoch nicht nur einen innovativen Einschnitt in der Begriffsgeschichte. Die hiermit verbundene, gegen das lineare Zeitmodell des traditionellen Historismus gerichtete These der Wiederholungsstrukturen als »Bedingung möglicher Geschichten«136 hat auch Folgen für die bislang vorherrschende These der Einheit der »Geschichte«. Hierauf ausführlich einzugehen, ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich. Lediglich Konturen der Folgeprobleme für »Geschichten im Plural«137 sollen daher abschließend skizziert werden. Die Historizität der »Geschichte« als Wissensform, die erst seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als Kollektivsingular die Komplexitätssteigerung frühneuzeitlicher Geschehenszusammenhänge begrifflich erfasst und damit die alteuropäische Denkfigur der Historie als magistra vitae ablöst, hat Koselleck in mehreren Studien eindringlich dargelegt.138 Dabei war der Grundgedanke nicht neu. Zuvor hatten ihn bereits u. a. Brunner und Hannah Arendt, deren beider Schriften Koselleck seit Mitte der 1950er Jahre intensiv rezipierte, formuliert.139 Vor allem Brunner hatte darauf aufmerksam gemacht, dass im Zuge der Entstehung der modernen Wissenschaften »ein absoluter Begriff der Geschichte« wirksam geworden sei, diese »Verabsolutierung der Geschichte« aber im Zuge der jüngeren Kritik am Szientismus »als fragwürdig angesehen« werden müsse.140 Es ist dieser »absolute Begriff der Geschichte« – Hans Blumenberg wird später von »absoluter Metapher« 135 S. hierzu a. Chignola, Sulla critica delle fonti della storia costituzionale. Abwegig allerdings die Kritik an Brunners vermeintlichem Objektivismus (S. 119). 136 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 99; ders., Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, insbes. S. 107 f. 137 Ders., Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 130–157, hier: S. 131 (zuerst 1973); ders., Wozu noch Historie?, S. 50. 138 Koselleck, Reinhart, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 38–66 (zuerst 1967); ders. / Meier, Christian / Engels, Odilo / Günther, Horst, Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (1975), S. 593–717. 139 Vgl. Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken; ders., Das Fach »Geschichte« und die historischen Wissenschaften, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, S. 9–25, insbes. S. 13; Arendt, Hannah, Tradition und die Neuzeit, dies., Natur und Geschichte, in: dies., Fragwürdige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frankfurt a. M. 1957, S. 9–45 u. 47–79. 140 Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, S. 28 f.

Otto Brunner und Reinhart Koselleck

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sprechen –, den Koselleck als Kollektivsingular und »Grundbegriff der sozialen und politischen Sprache« detailliert freilegt und auf die Antinomie des Geschichtsbegriffs in seiner Doppelbedeutung als Geschehen selbst und Erzählung des Geschehens hinweist. Ähnlich wie der enthistorisierte Begriff der »Verfassung« wird hier, allerdings bereits in ihrer Konstitutionsphase, »Geschichte« zu einer Metakategorie hypostasiert, die sich von anderen Grundbegriffen jedoch darin unterscheidet, dass »Geschichte« »zu einer letzten Instanz«141 aufrückt. Erneut und nun verschärft, tritt hier das Problem historischer und sozialtheoretischer Kategorienbildung hervor. Metakategorien besitzen keine temporale Binnenstruktur. Zu Metakategorien hypostasierte politisch-soziale Bewegungsbegriffe geraten daher unweigerlich in ein Vexierspiel, in dem, wie hier »Geschichte«, nicht mehr erkennbar ist, ob »Geschichte« als überhistorisches, allgemeines »Geschehen«, oder als historisch spezifische Wissensform und Erzählung des »Geschehens« gemeint ist. Nur letztere besitzt eine temporale Binnenstruktur. Als allgemeiner Geschehensbegriff entzieht sie sich dagegen der geschichtstheoretisch begründeten Pragmatik von Wiederholungsstrukturen. Ein praktikabler Ausweg aus der aporetischen Doppelbegrifflichkeit der »Geschichte« als res gestae und historia rerum gestarum schien Koselleck zunächst nicht in Sicht. »(T)rotz und wegen seiner Vieldeutigkeit« werde »nirgendwo ernsthaft auf den Begriff verzichtet.«142 Allerdings greift er das von Brunner aufgeworfene Problem der Fragwürdigkeit des absoluten Begriffs der Geschichte ausdrücklich auf. Zwar würden wir, so Koselleck, »diese Antinomie nicht lösen, und ob sie lösbar ist, bleibe unentschieden. Aber eines scheint mir sicher: Wir müssen uns dieser Antinomie stellen. Das aber setzt voraus, daß wir die Fragwürdigkeit unserer Wissenschaft theoretisch klären.«143 Seine eigene Antwort hierauf war die Forderung nach einer »Theorie historischer Zeiten« bzw. die auf dem Konzept temporaler Wiederholungsstrukturen aufbauende Theorie der »Geschichten im Plural«. Hiermit hat Koselleck selbst, der seine  – Brunner miteinbeziehende  – theoretische Position als »reflektierten Historismus« beschrieb,144 den Weg zu einer Historik jenseits der »Einheit der Geschichte« geöffnet. Mochte Kosellecks Mitte der 1970er Jahre getroffene Feststellung, dass »nirgendwo ernsthaft auf den Begriff verzichtet« werde, noch zutreffend sein, so ist diese inzwischen keineswegs mehr selbstverständlich. Neue, kritisch gegen lineares Prozess- und Kontinuitätsdenken gerichtete und stattdessen an Simultaneität orientierte Narrative145 ebenso wie postkoloniale 141 142 143 144 145

Koselleck u. a., Geschichte, Historie, S. 650. Ebd., S. 716. Koselleck, Wozu noch Historie?, S. 46. Vgl. Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte, S. 188. S. etwa Schlögel, Karl, Terror und Traum, Moskau 1937, München 2008; ders., Chronotop – Überlegungen zur Räumlichkeit von Geschichte nach dem »spatial turn«, in: Graf, Friedrich Wilhelm / Hanke, Edith / Picht, Barbara (Hg.), Geschichte intellektuell. Theoriegeschicht­ liche Perspektiven, Tübingen 2015, S. 19–37.

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Kritiken am linearen Zeitmodell des Historismus146 haben die Plausibilität der »Geschichte« als »Grundbegriff aller Grundbegriffe«147 und die These der »Einheit der Geschichte« erschüttert.148 Und ob die komplexen Strukturen und Ereignisströme der heutigen Welt mit dem Begriff der »Geschichte« noch hinreichend beschrieben werden können, ist trotz – oder gerade wegen einer geschichtstheoretisch uninteressierten – »Globalgeschichte« zweifelhaft.149 Kosellecks Konzept der »Geschichten im Plural« könnte dagegen für Ansätze der »entangled histories« fruchtbar sein, wenn diese sich stärker auf das von Brunner erkannte, von Koselleck methodisch vertiefte und in jüngerer Zeit kulturwissenschaftlich reflektierte Problem der kulturellen Übersetzung150 öffnete. Umgekehrt wäre die Diskussion über temporale Wiederholungsstrukturen und die aus der postkolonialen Kritik hervorgegangene These der »disjunktiven Zeit« erst noch zu eröffnen. Koselleck selbst konnte sich hierzu nicht mehr äußern. »Es ist aber«, wie Heinz Dieter Kittsteiner in seinem Nachruf auf Koselleck schrieb, »das Vermächtnis grosser Historiker, dass sie offene Fragen hinterlassen.«151

146 S. etwa Glissant, Edouard, Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen, Heidelberg 1986; Bhabha, Homi K., Die Verortung der Kultur. Mit einem Vorwort von Elisabeth Bronfen, Tübingen 2000; Hall, Stuart, Was war der »Postkolonialismus«? Denken an der Grenze, in: Bronfen, Elisabeth / Marius, Benjamin / Steffen, Theres (Hg.), Hybride Kulturen. Beiträge zur anglo-amerikanischen Multikulturalismusdebatte, Tübingen 1997, S. 219–246. 147 Escudier, Von Kosellecks Anthropologie zu einer vergleichenden Topik der politischen Moderne, S. 223, Anm. 53. 148 S. hierzu Hölscher, Lucian, Semantik der Leere. Grenzfragen der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009; Blänkner, Reinhard, Historische Kulturwissenschaften im Zeichen der Globalisierung, in: Historische Anthropologie 16 (2008), S. 341–372; ders., Geschichte und Geschehen. Zur Historizität der »Geschichte« als Wissensform, in: Graf / Hanke / Picht, Geschichte intellektuell, S. 38–55; Lorenz, Chris / Bevernage, Berber (Hg.), Breaking up Time. Negotiating the Borders between Present, Past and Future, Göttingen 2013; Landwehr, Achim, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit, Frankfurt a. M. 2016, S. 281–316. 149 S. hierzu Blänkner, Historische Kulturwissenschaften im Zeichen der Globalisierung, S. 366–372. 150 S. hierzu Bachmann-Medick, Doris (Hg.), The Trans / National Study of Culture. A Translational Perspective, Berlin / Boston 2014; s. dies. Übersetzung zwischen den Zeiten. 151 Kittsteiner, Heinz Dieter, Begriffsgeschichten und Geschichtsbegriffe. Das Vermächtnis des Historikers Reinhart Koselleck, in: NZZ, 2. Oktober 2006.

Wolfgang Schieder

Werner Conze und Reinhart Koselleck. Zwei begriffsgeschichtliche Konzeptionen in den Geschichtlichen Grundbegriffen I. Die historische Begriffsgeschichte ist in Deutschland in erster Linie mit dem achtbändigen Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland verbunden. Es erschien zwischen 1972 und 1997 in sieben umfangreichen, teilweise über tausend Seiten umfassenden Bänden und dazu einem umfangreichen Registerband in zwei Teilen.1 Das Lexikon wird im wissenschaftlichen Diskurs konzeptionell und organisatorisch fast ausschließlich Reinhart Koselleck zugeschrieben, obwohl es außer von Koselleck auch von Werner Conze und von Otto Brunner herausgegeben worden ist. Da nur Koselleck das Lexikon mit einer dezidierten begriffsgeschichtlichen Theoriebildung begleitet hat, ist diese Zuschreibung in gewisser Hinsicht auch berechtigt. Es besteht jedoch kein Zweifel, dass das Lexikon nicht, wie das weitgehend als selbstverständlich angenommen wird, allein den geschichtstheoretischen Bemühungen von Reinhart Koselleck entsprungen ist, sondern dass auch Otto Brunner und vor allem Werner Conze einen wichtigen, in mancher Hinsicht entscheidenden Anteil an der Entstehung der Geschichtlichen Grundbegriffe hatten. Man kann sogar sagen, dass das Lexikon in der vorliegenden Form niemals ohne die Mitwirkung zumindest Conzes entstanden wäre. Und ohne die methodische Wegbereitung Brunners hätten Conze und Koselleck nicht zusammengefunden und sich für die Geschichtlichen Grundbegriffe auf ein gemeinsames begriffsgeschichtliches Konzept geeinigt. Es ist deshalb an der Zeit, die intellektuellen und methodischen Anteile der drei Herausgeber bei der Planung und Realisierung der Geschichtlichen Grundbegriffe einmal etwas genauer zu bestimmen. Brunner hat sich kaum an der Redaktion des Lexikons und der Abfassung sowie Bearbeitung von Artikeln beteiligt. Außer einem gerade einmal 13 Seiten umfassenden Artikel über »Feudalismus« hat er erkennbar nichts zu dem Lexikon beigetragen,2 Koselleck und vor allem Conze mussten ihn vielmehr ständig über den 1 Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde. und 1 Registerband in zwei Teilbänden, Stuttgart 1972–1997. 2 Brunner hatte ursprünglich neben ›Feudalismus‹ zahlreiche weitere Artikel übernommen, nämlich u. a. »Staat«, »Obrigkeit«, »Monarchie« »Legitimität« »Regierung«, »Reich« und »Demokratie«. Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 24, Kurzprotokoll über

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Wolfgang Schieder

Fortschritt der Arbeiten am Lexikon informieren.3 Er war jedoch aus zwei Gründen für die Entstehung des Lexikons wichtig: Zum einen hat er mit seinem 1939 erstmals erschienenen Buch »Land und Herrschaft« am Beispiel spätmittelalterlicher Herrschaftsverhältnisse, unabhängig von seinem völkischen Vorurteil, erstmals auf die Bedeutung begriffsgeschichtlicher Analysen für die Sozialgeschichte aufmerksam gemacht.4 Zum anderen hat er mit seiner These von der Entstehung der Moderne um 1800 einen zwar von ihm theoretisch wenig ausdifferenzierten, aber suggestiven Erklärungsansatz einer »Europäischen Sozialgeschichte« geliefert, der sowohl für Conze als auch für Koselleck richtungweisend gewesen ist.5 Nach Brunner hat sich die europäische Gesellschaftsstruktur, ungeachtet aller politischen Umbrüche, vom späten Mittelalter bis 1800 kaum geändert. Sie sei erst mit den Revolutionen des 18. Jahrhunderts in Bewegung geraten, was sich, und das war seine aufsehenerregende These, an der Veränderung der politischen Sprache zeigen ließe. Er lieferte damit das Geschichtsmodell, das den »Geschichtlichen Grundbegriffen« zugrunde liegt und auf das sich Conze und Koselleck, ungeachtet ihres unterschiedlichen Zugangs zur Begriffsgeschichte, miteinander verständigen konnten. Conze ist allem Anschein nach auf dem Bremer Historikertag von 1953 auf die Geschichtstheorie von Brunner aufmerksam geworden.6 Auch er vertrat jedenfalls seitdem die These, dass der Beginn der Neuzeit in Europa um 1800 anzusetzen sei. Das passte gut zu dem grundlegenden Aufsatz, an dem er zu diesem Zeitpunkt die Tagung der Forschungsgruppe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte für die Vorbereitung eines historischen deutschen Wörterbuches der politisch-sozialen Welt in Heidelberg am 31. Oktober 1963, S. 2–8. Er hat sich damit jedoch offensichtlich übernommen, wenn er denn überhaupt je vorhatte, diese Artikel alle zu schreiben. Möglicherweise hat er es völlig falsch eingeschätzt, welchen Umfang die einzelnen Artikel der Geschichtlichen Grundbegriffe einnehmen sollten. Schon frühzeitig zog er jedenfalls mit Hans-Leo Reimann einen Mitarbeiter heran, der für ihn die Arbeit machen sollte. Der gänzlich unerfahrene Reimann ist jedoch mit seinen Studien für das Lexikon gescheitert. Von ihm stammt gerade einmal der vier Seiten umfassende Abschnitt II des Artikels »Demokratie«, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, Stuttgart 1972, S. 835–839. Vgl. dazu Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 15, Otto Brunner an Werner Conze, 4.1.1962; Werner Conze an Otto Brunner, 2.12.1966. 3 Brunner, Otto, Feudalismus, feudal, in: ders. / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 337–350. Vgl. Die Briefe Conzes an Brunner vom 28.12.1960, 28.9.1961, 8.7.1964, 8.12.1964, 16.6.1966, 2.12.1966, sowie Kosellecks an Brunner vom 5.1.1964 und Brunner an Conze vom 4.1.1962 im Universitätsarchiv Heidelberg, Acc, 9/05, Bd. 15. 4 Brunner, Otto, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Baden bei Wien 1939; 5., stark veränderte Auflage unter dem Titel: Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs [!] im Mittelalter, Wien 1965. 5 Brunner, Otto, Das Problem einer europäischen Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, in: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 7–32. 6 Vgl. Dunkhase, Jan Eike, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 134.

Werner Conze und Reinhart Koselleck

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arbeitete. Er wurde von Conze 1954 unter dem Titel »Vom Pöbel zum Proletariat. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland« in der »Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte« veröffentlicht.7 Der Aufsatz leitete einen Paradigmenwechsel in der deutschen Geschichtswissenschaft ein, weg von der rein politischen Geschichtsschreibung hin zur Sozialgeschichte. Conzes These war, dass zu keiner Zeit vorher die Unterschichten in Deutschland derartig in Bewegung geraten seien wie in den Jahren vor 1848/49. Um das zu beweisen, ging er in seinem Aufsatz »in einem doppelten Sinne« vor: »a. soziographisch, um einen objektiven Befund der sozialökonomischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu gewinnen, und b. bewusstseinssoziologisch, um die Haltung der Zeitgenossen verstehen zu lernen.«8 Das erinnert noch deutlich an völkisch kontaminierte Begriffe, mit denen Conze im ›Dritten Reich‹ akademisch sozialisiert worden war. Lässt man diesen politischen Kontext jedoch beiseite und übersetzt man sie in die moderne Wissenschaftssprache, so kündigte Conze an, dass er einerseits ›sozialgeschichtlich‹ und andererseits ›begriffsgeschichtlich‹ vorgehen wolle. Beides gehörte für ihn untrennbar zusammen. Conzes Weg zur Sozialgeschichte war gleichzeitig ein Weg zur Begriffsgeschichte. Und umgekehrt interessierte er sich für die Begriffsgeschichte, weil sie seinen sozialgeschichtlichen Ansatz ergänzte. In seinem Aufsatz kommt er mit Hilfe der preußischen Gewerbestatistik zu dem Ergebnis, dass während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, dem sogenannten Vormärz, in Deutschland ein dramatischer Anstieg der ländlichen Unterschichten stattgefunden habe. Er erkannte in dieser »überwuchernden Unterschicht« die wesentliche sozialgeschichtliche Ursache für die von den Zeitgenossen als »Paupe­rismus« bezeichnete Massenarmut.9 Diesem sozialgeschichtlichen Befund entsprach nach Conze ein begriffsgeschichtlicher. Für den »aus seinen Grenzen heraustretenden Pöbel«, wie die Unterschichten traditionell bezeichnet worden seien, »wurde seit den dreißiger Jahren das Wort ›Proletariat‹ üblich«.10 Es sei in Deutschland zum sozialen Begriff geworden, weil es die Entfesselung der Unterschichten besser erfasst habe als der alte Terminus des ›Pöbels‹. Der Begriff sei aus dem zeitgenössischen England übernommen worden. Anders als dort habe man nach Conzes Erkenntnis in Deutschland unter ›Proletariern‹ jedoch nicht die verelendeten Industriearbeiter verstanden, die es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ja hier auch noch kaum gegeben habe, sondern die verarmten Massen, die durch den Rückstand der Industrialisierung im ländlichen Raum entstanden seien. Die Bedeutung des Begriffs »Proletariat« sei insofern dem sozialen Ent7 Conze, Werner, Vom »Pöbel« zum »Proletariat«. Sozialgeschichtliche Voraussetzungen für den Sozialismus in Deutschland, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 41 (1954), S. 333–364. Zitate nach dem Wiederabdruck in: Engelhardt, Ulrich / Koselleck, Reinhart / Schieder, Wolfgang (Hg.), Werner Conze. Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1992, S. 220–246. 8 Conze, Pöbel, S. 230. 9 Ebd., S. 233. 10 Ebd., S. 226.

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wicklungsstand in Deutschland angepasst worden, da es hier vor 1848 noch keine ›Arbeitermassen‹ gegeben habe. Für Conze stand damit fest, dass sich an einem Begriffswandel gesellschaftliche Veränderungsprozesse ablesen ließen. Begriffe waren für ihn Indikatoren sozialen Wandels, ein begriffsgeschichtlicher Zugriff war für ihn für sozialgeschichtliche Forschungen deshalb unabdingbar. Als auch Koselleck davon sprach, dass die »Begriffshistorie auf die Ergebnisse der Sozialhistorie« angewiesen sei, so wie »die Sozialhistorie auf die Geschichte der Begriffe«, war das für ihn eine neue Erkenntnis.11 Die Begriffsgeschichte hatte für Koselleck in wissenschaftlicher Hinsicht ursprünglich einen elementaren, wenn man so will geradezu existenziellen Charakter. Sie war für ihn die Methode, mit der die Geschichte allein verstanden werden könne.12 Geschichte war für ihn insofern immer begriffene Geschichte. Begriffe waren für ihn Faktoren kollektiver Bewusstseinsveränderung, nur über sich verändernde Begriffe ließ sich daher für Koselleck der Geschichtsprozess nachvollziehen. In einem der ersten Arbeitspapiere Kosellecks für die Mitarbeiter der Geschichtlichen Grundbegriffe heißt es: »Dass die Geschichte sich in bestimmten Begriffen niederschlägt und überhaupt nur Geschichte ist, als sie jeweils begriffen wird – auf welche Art, ist eben unsere Thematik, das ist die geschichtsphilosophische Prämisse unserer Methode.«13 Koselleck sprach sogar von einer »Konvergenz von Begriff und Geschichte«, womit er zwar keine »Identität von Begriff und Geschichte« postulieren wollte, der Begriffsgeschichte jedoch ein erkenntnistheoretisches Monopol zusprach.14 Während für Conze Begriffe sozialen Wandel anzeigten, ging Koselleck ursprünglich davon aus, dass Begriffe die Geschichte bewirkten, die Geschichte sich daher überhaupt nur über Begriffe verstehen lasse. Auf den ersten Blick scheint das schon sein Buch über »Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« zu beweisen.15 In der ursprünglichen Dissertationsfassung fand sich darin jedoch kaum eine begriffsgeschichtliche Spur. Es ging Koselleck, auch wenn er das immer dementiert hat, vielmehr um eine geschichtsphilosophische Dekonstruktion der Aufklärung. Er wollte beweisen, dass die ›philosophes‹ durch ihre ›Kritik‹ am Ancien Régime die Revolution 11 Koselleck, Reinhart, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Schieder, Wolfgang / Sellin, Volker (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. I, Göttingen 1986, S. 90 f. Vgl. ähnlich auch schon ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Ludz, Peter Christian (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme, Opladen 1972, S. 116–131, 12 Vgl. z. B. Koselleck, Reinhart, Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 56–77. 13 Koselleck, Reinhart, Ergebnisprotokoll der Sitzung vom 1.April 1963, zugleich Anweisung für die Arbeit am Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, S. 6 f. (Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 24). Von Koselleck wörtlich in seine Einleitung zum ersten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe, S. XXIII übernommen. 14 Koselleck, Ergebnisprotokoll, 1.4.1963, S. 7. 15 Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959.

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herbeigeschrieben hätten.16 Erst in den Anmerkungen der gedruckten Fassung seiner Dissertation befand sich Koselleck auf dem Weg zur Begriffsgeschichte. Wie er selbst immer wieder betont hat, waren es neben der philosophischen Begriffsgeschichte, wie sie in Heidelberg Hans Georg Gadamer vertrat, besonders sein Lehrer Johannes Kühn und Carl Schmitt, den er 1950 in Heidelberg persönlich kennengelernt hatte, die ihm dahin den Weg gewiesen haben.17 Auch wenn man sicher sein kann, dass Koselleck nicht den normativen Ansatz von Schmitts Begriffsdenken geteilt hat,18 hat er doch zweifellos dessen dialektische Struktur übernommen.19 In einem ersten Entwurf zur Einleitung des ersten Bandes der ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹ sprach er von gegenseitigen »Feindbenennungen«, die es begriffsgeschichtlich zu untersuchen gelte.20 Zuvor hatte er diese auch als »Kontrastbegriffe« bezeichnet.21 Im mündlichen Diskurs mit den ersten Autoren des Lexikons hatte er in Heidelberg sogar von »Freund-Feind-­ Begriffen« gesprochen. Dass aus diesen schließlich »Gegenbegriffe« wurden, war ein terminologischer Kompromiss, welcher der Zusammenarbeit mit Conze und den ersten Autoren geschuldet war, der aber immer noch erkennen ließ, dass die Begriffsgeschichte für Koselleck aus dem dialektischen Geist Carl Schmitts geboren worden ist.22

16 Auch wenn das Koselleck immer bestritten hat, lief seine Dissertation letzten Endes auf eine antiaufklärerische Position hinaus. Vgl. z. B. Koselleck, Kritik und Krise, S. 5–9, 146 f., oder S. 156: »Die Aufklärung, zur politischen Camouflage gezwungen, erlag ihrer eigenen Mystifikation.« 17 Vgl. z. B. Dipper, Christof, Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187. 18 Die Bedeutung Carl Schmitts für das historische Denken Kosellecks ist bis heute umstritten. Das wird sich nach der soeben erfolgten Veröffentlichung ihres Briefwechsels (Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Frankfurt a. M. 2019) wohl ändern. Vgl. dazu Christof Dipper in diesem Band. Olsen, Niklas, History in the Plural. An introduction to the work of Reinhart Koselleck, New York 2012, hat schon mit Recht darauf hingewiesen, dass Koselleck den politischen ›Dezisionismus‹ Schmitts nie geteilt hat. Das bedeutet nicht, dass man der Behauptung Kosellecks unbedingt Glauben schenken muss, er habe »Schmitt nie als einen Professor wahrgenommen, der sich im Dritten Reich kompromittiert hatte – und zweifellos hatte er sich kompromittiert – sondern ich habe ihn wahrgenommen als einen der geistreichsten Anreger, denen ich in meinem Leben begegnet bin.« Vgl. Koselleck, Reinhart / Dutt, Carsten, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 41. Vgl. dazu Schmitt, Carl, Positionen und Begriffe im Kampf gegen Weimar-Genf-Versailles 1923–1939, Berlin 1940. 19 So Mehring, Reinhard, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 138–168. 20 Koselleck, Ergebnisprotokoll, 1.4.1963, S. 16. Vgl. auch noch ders., Feindbegriffe, in: Koselleck, Begriffsgeschichten, S. 274–286. 21 Koselleck, Ergebnisprotokoll, 1.4.1963, S. 10. 22 In den ersten Autorenbesprechungen kam es 1962/63 in Heidelberg nach der Erinnerung des Verfassers wegen der »Freund-Feind-Begriffe« zu heftigen Disputen mit Koselleck, an deren Ende er die allzu deutlich von Carl Schmitt kommende Formulierung zurückzog.

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Es ist keine Frage, dass Conze und Koselleck damit der Begriffsgeschichte unabhängig voneinander einen hohen Stellenwert einräumten, dies aber aus unterschiedlichen Gründen. Wenn für Conze politisch-soziale Begriffe Indikatoren politisch-sozialen Wandels waren, der sich sozialgeschichtlich beweisen ließ, waren sie für Koselleck ausschließlich Faktoren desselben. Die Geschichtlichen Grundbegriffe hatten deshalb ursprünglich kein konvergentes theoretisches Konzept. Dies ergab sich erst daraus, dass Koselleck sich in entscheidenden Punkten Conzes Überlegungen anpasste und dadurch zu einem konzeptionellen Kompromiss beitrug. Im Wesentlichen waren es zwei theoretische Ansätze, die Koselleck von Conze übernahm: Zum ersten beharrte er nicht mehr darauf, dass die Geschichte sich nur als begriffene Geschichte verstehen lasse, der wissenschaftliche Zugriff auf die Geschichte also nur über die Begriffsgeschichte erfolgen könne. Er räumte ein, dass politisch-soziale Begriffe nicht nur Faktoren, sondern auch Indikatoren historischer Prozesse sein könnten. Im Gespräch mit Christof Dipper bestätigte er 1998, dass er bei der Planung der Geschichtlichen Grundbegriffe die Begriffe nicht mehr nur als »Faktor der Bewusstseinsveränderung« verstanden habe, sondern auch in ihrer »Indikatorenfunktion«.23 Ganz offensichtlich hatte er sich damit Conzes begriffsgeschichtliches Konzept, ohne das expressis verbis einzuräumen, angeeignet, dem er freilich sein eigenes hinzufügte. Daraus ergab sich das Gesamtkonzept der Geschichtlichen Grundbegriffe, »die Begriffe als Indikatoren und als Faktoren der sozialen und politischen Sprache ernst zu nehmen«.24 Die Begriffsgeschichte wurde damit auch von Koselleck in Relation zur Sozialgeschichte gestellt. Sie konnte auch für ihn nicht mehr ohne sozialgeschichtliche Fundierung betrieben werden, sie bedurfte auch für ihn des ständigen sozialgeschichtlichen Regulativs. Anders als für Conze ergab sich für Koselleck daraus allerdings ein permanentes Spannungsverhältnis zwischen den beiden methodischen Zugriffen, das er im Zweifelsfall begriffsgeschichtlich auflöste. Zweitens ließ sich Koselleck von Conze von der Idee abbringen, eine universale Begriffsgeschichte schreiben zu wollen. Angeregt durch Otto Brunner, verständigte er sich mit ihm darüber, ein Forschungsprojekt zu planen, welches die »Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt in der Geschichte ihrer begrifflichen Erfassung« zum Thema haben sollte.25 Dies ist ein ganz entscheidendes Merkmal zum Verständnis der Geschichtlichen Grundbegriffe, das meistens übersehen wird. Das Lexikon sollte kein sprachliches Universallexikon sein, in dem die politisch-soziale Semantik im Übergang von der Alten Welt zur Moderne vollständig dokumentiert wurde. Vielmehr sollte es ein Speziallexikon

23 Vgl. Dipper, Begriffsgeschichte, S. 188. 24 Ebd. 25 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, S. XIV.

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sein, das »die Auflösung der alten und die Entstehung der modernen Welt« nur an ausgewählten Begriffen demonstrierte.26 Auch wenn manche Begriffe als zentraler angesehen wurden als andere, war es im Prinzip gleichgültig, welche und wie viele Lemmata das Lexikon enthielt, wenn diese den hypostasierten politischgesellschaftlichen Wandel nur hinreichend belegten. Es handelte sich also um ein begrenztes Forschungsprojekt mit einer spezifischen Fragestellung, nicht um ein universales Nachschlagewerk mit dem Anspruch, die politisch-soziale Sprache um 1800 vollständig zu erfassen. Nicht umsonst wurde die umfassende Bezeichnung »Wörterbuch« von den Herausgebern noch vor dem Erscheinen des ersten Bandes durch die speziellere eines »Lexikons« ersetzt. Nicht alle ›Wörter‹ sollten erfasst werden, sondern nur die mit einer besonderen Wertigkeit im Hinblick auf den gesellschaftlichen und politischen Wandel in Deutschland um 1800. Nach der von Otto Brunner übernommenen Hypothese, dass die politisch-­ soziale Sprache in Europa um 1800 in Bewegung geraten sei, sprach Koselleck von einem semantischen Beschleunigungsprozess, den er in immer neuen Wendungen als »Verzeitlichung« oder auch als »kollektive Singularisierung« der Begriffe beschrieben hat. Unter »Verzeitlichung« verstand er die Beobachtung, dass beim Übergang von der alten in die moderne Welt mit reinen Zukunftserwartungen aufgeladene »Bewegungsbegriffe« wie z. B. »Liberalismus«, »Kommunismus« oder auch »Nationalismus« entstanden, welche keine soziale Realitäten in der Gegenwart beschrieben, sondern Zukunftsvisionen formulierten.27 Zu »Kollektiv­ singularen« stiegen nach seiner These aus dem Plural in den Singular übergehende Begriffe auf, wie z. B. »Geschichte« aus »Geschichten« (sein Paradebeispiel) oder »Freiheit« aus »Freiheiten«.28 Mit dieser theoretischen Aufladung der Begriffsgeschichte ging Koselleck deutlich über Conze hinaus, mit dem er jedoch darin einig blieb, dass es sich um einen semantischen Beschleunigungsprozess handelte, der für die Übergangszeit der Vormoderne in die Moderne charakteristisch war.

II. Für Conzes Interesse an der Begriffsgeschichte ist charakteristisch, dass er 1958, nachdem er 1957 in Heidelberg ein Ordinariat als Professor für Neuere Geschichte erhalten hatte, den Plan eines »Deutschen Wörterbuchs der politisch-sozialen Welt im Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert« entwickelte, das die Defizite des Grimmschen Wörterbuchs im Bereich der politisch-sozialen Begriffssprache aus26 Ebd., S. XIV. Die Konzentration auf den Übergang von der alten zur modernen Welt wird hier von Koselleck ausdrücklich als »leitende Fragestellung« der ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹ bezeichnet. 27 Vgl. Koselleck, Reinhart, Die Verzeitlichung der Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten, S. 77–85. 28 Vgl. Koselleck, Reinhart, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 130–143.

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gleichen sollte.29 Nach einem ersten Antrag bei der Deutschen Forschungsgemein­ schaft wurde ihm dafür ein Wissenschaftlicher Mitarbeiter genehmigt, der am 1. Oktober 1960 seine Arbeit aufnahm. Als organisatorischen Rückhalt für das Vorhaben nutzte Conze den von ihm nach seiner Berufung nach Heidelberg gegründeten, noch heute bestehenden Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte, was für ihn nur logisch war, da die Begriffsgeschichte die Sozialgeschichte ergänzen sollte. Die Geschichtlichen Grundbegriffe waren von Anfang an ein wissenschaftliches Projekt des von Conze geleiteten Arbeitskreises. Die Redaktion war bis zuletzt in dem ebenfalls von Conze ins Leben gerufenen Heidelberger Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte angesiedelt. Ohne Conzes organisatorisches Geschick und die institutionellen Ressourcen, die ihm zur Verfügung standen, wären die Geschichtlichen Grundbegriffe wohl niemals realisiert worden. Ursprünglich erhoffte sich Conze eine Zusammenarbeit mit dem romanistischen Sprachwissenschaftler Kurt Baldinger, einem Heidelberger Kollegen, und dem germanistischen Sprachwissenschaftler Werner Betz in Bonn.30 Das erwies sich allerdings als ein Irrweg, da die Sprachwissenschaftler an reiner Wort­ geschichte interessiert waren und ihnen überdies das Verständnis für das politisch-soziale Umfeld von Sprache fehlte. Nach dem sogenannten linguistic turn sollte sich auch die sprachwissenschaftliche Diskurstheorie mit der deutschen Begriffsgeschichte schwertun. Conze und vor allem Koselleck wurden von den englischen Linguisten John Pocock und Quentin Skinner massiv wegen ihrer vermeintlichen Wortgläubigkeit und der fehlenden linguistischen Kontextualisierung ihrer Begriffsanalysen kritisiert.31 Auch die Protagonisten der Cambridge School übersahen jedoch, dass es in der historischen Begriffsgeschichte nicht um Sprache an sich ging, sondern um das Spannungsverhältnis von Sprachwandel und politischer und gesellschaftlicher Veränderung. Reinhart Koselleck war zwar von Conze 1957 im Historischen Seminar der Universität Heidelberg als Wissenschaftlicher Assistent von seinem Vorgänger Johannes Kühn übernommen worden, er war jedoch an den ersten Planungen für das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe allem Anschein nach nicht sofort beteiligt. Zwar hatte er, als er von Conze nach dessen Übersiedlung nach Heidelberg nach seinen wissenschaftlichen Plänen befragt wurde, von einem Lexikon für die »Geschichte der zentralen Begriffe« gesprochen. Das war jedoch sehr allgemein und hatte nicht den begrenzten Projektcharakter, von dem Conze von Anfang an aus29 Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 54/02, Bd. 20, Bericht über die Tätigkeit im Institut für Sozialgeschichte der Gegenwart im Rechnungsjahr 1957, 20.6.1958, S. 187. 30 Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Acc. 9/05, Bd. 15, Werner Betz an Werner Conze, 29.11.1958; Werner Conze an Werner Betz, 13.11.1958; 31 Vgl. dazu vermittelnd Richter, Melvin, Conceptualizing the Contestable. »Begriffsgeschichte« and Political Concepts, in: Scholtz, Gunter (Hg.), Die Interdisziplinarität der Begriffsgeschichte, Hamburg 2000, S. 135–144; Palonen, Kari, Politics and Conceptual Histories. Rhetorical and temporal perspectives, Baden-Baden 2014.

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ging.32 Im Gespräch hat Koselleck 1960 auch gegenüber dem Verfasser davon gesprochen, ein solches Lexikon zu planen, das er selbst verfassen wollte.33 Dass Conze die Geschichtlichen Grundbegriffe zunächst ohne seinen kompetenten Assistenten Koselleck plante, hatte wohl auch etwas mit dem Forschungsstil der damaligen Ordinarienuniversität zu tun. Nur er konnte bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft überhaupt einen Antrag stellen, nicht aber sein Assistent. Umso bemerkenswerter ist es, dass Conze nach der gescheiterten Zusammenarbeit mit den Sprachwissenschaftlern den frisch habilitierten Koselleck als gleich­berechtigten Mitherausgeber des Lexikons heranzog und ihm sogar im Wesentlichen die intellektuelle Projektleitung überließ, während er sich theoretisch zurückhielt. Nachzuweisen ist, dass Koselleck erstmals bei einer »Besprechung über die Vorarbeiten zu einem Deutschen Wörterbuch der politisch-sozialen Welt im Wandel vom 18. Zum 19. Jahrhundert« in der Wohnung von Conze in Heidelberg-Ziegelhausen am 29. Oktober 1960 dabei gewesen ist.34 Da er aber am 1. Oktober 1960 ein Habilitationsstipendium der DFG angetreten hatte und sich deshalb wohl schon ganz auf sein Buch über Preußen im Vormärz konzentrierte, bestimmte Conze bei diesem ersten Planungsgespräch allein die Richtung. Koselleck taucht in dem Ergebnisprotokoll mit keinem einzigen eigenen Beitrag auf. Es war Conze, der die Geschichtlichen Grundbegriffe auf den Weg brachte. Erst bei der ersten großen Mitarbeiterbesprechung des Lexikons, die am 1.April 1963 in Heidelberg stattfand, war Koselleck voll präsent. Er verfasste das 24 Seiten umfassende Ergebnisprotokoll der Sitzung und formulierte für die Autoren Anweisungen für die Abfassung der Artikel. Es kann kein Zweifel bestehen, dass Conze dem programmatischen Text Kosellecks zugestimmt hat. Ja es scheint so, dass er die weitere theoretische Reflexion über das begriffsgeschichtliche Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe jetzt, aber auch erst jetzt, Koselleck überlassen habe. Das heißt nicht, dass er sich damit, ähnlich wie Brunner, als Herausgeber zurückgezogen hätte. Er blieb für die Redaktion, schon weil diese ohne Unterbrechung in Heidelberg angesiedelt war, die treibende Kraft des wissenschaftlichen Großprojektes. Als Vorsitzender des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte war er bis zu seinem Tod auch weiterhin für die im Laufe der Jahre immer schwieriger werdende Finanzierung des Unter-

32 Vgl. Dipper, Begriffsgeschichte, S. 187 f. 33 Anlass des Gesprächs war der verblüffende Befund, dass Koselleck zahlreiche Bücher in seiner Bibliothek begriffsgeschichtlich aufgearbeitet hatte. Er hatte in ihnen jeweils auf der hinteren Innenseite handschriftlich vermerkt, auf welcher Seite zentrale Begriffe wie beispielsweise »Revolution« oder »Fortschritt« zu finden waren. Mehrere tausend dieser Bücher, die solche Marginalien enthalten, sind vom Deutschen Literaturarchiv Marbach mit dem schriftlichen Nachlass Kosellecks übernommen worden, so dass diese begriffsgeschicht­ lichen Vorarbeiten Kosellecks systematisch untersucht werden können. 34 Universitätsarchiv Heidelberg, Acc. 9/05, Bd. 15, Ergebnisprotokoll der Besprechung über die Vorarbeiten zu einem »Deutschen Wörterbuch der politisch-sozialen Welt im Wandel vom 18. Zum 19. Jahrhundert«, 29.10.1960.

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nehmens verantwortlich. Nachdem er mit Koselleck als Herausgeber abwechselnd für jeden Band die Federführung übernommen hatte, trieb er die Autoren seiner Bände so stark an, dass er mit einem von ihm verantworteten Band sogar einmal einen von Koselleck betreuten redaktionell überholte, d. h. früher fertigstellte, was zu ernsthaften Spannungen zwischen den beiden Herausgebern führte.35 Dass Conze gegenüber säumigen Autoren immer mehr aufs Tempo drückte, hatte seinen Grund darin, dass ihm das Lexikon, dessen Entstehung er bewirkt hatte, im Laufe der Jahre immer stärker zur Last wurde. Er hatte das Gefühl, dass ihn die Herausgeberschaft der Geschichtlichen Grundbegriffe von anderen, ihm wichtigen wissenschaftlichen Arbeiten abhielt und sich seine sozialgeschichtliche Pionierarbeit auf die Begriffsgeschichte zu reduzieren drohte. Anders als Koselleck, für den die Geschichtlichen Grundbegriffe das Herzstück seiner wissenschaftlichen Arbeit bildeten, in die er deshalb einen großen Teil seiner Lebensarbeit investierte, war das Werk für Conze schließlich doch nur teilweise im Fokus seiner Forschungsinteressen. Um das zu veranschaulichen, erlaube ich mir, aus der Korrespondenz der beiden Herausgeber zu zitieren, die ich als säumiger Autor mit beiden geführt habe. Während Koselleck seine Mahnungen stets mit ironischen Wendungen verband und immer am wissenschaftlichen Diskurs interessiert blieb, auch wenn er mich rügen musste, weil ich wieder einmal einen Termin nicht eingehalten hatte, trieb mich Conze humorlos an und verlangte unerbittlich endgültige Zusagen für die Ablieferung eines Manuskriptes. Das klang dann bei Conze so: »Herr Dr. Kerlen vom Klett-Verlag teilt mir mit, dass Sie den seit Jahren fälligen Artikel ›Sozialismus‹ auch jetzt nicht fertigmachen könnten. Diese Nachricht trifft mich sehr hart. Ich muss Ihnen auch ganz klar sagen, dass es hierfür keine Entschuldigung gibt. Es ist überflüssig, dass ich Ihnen aus den Akten die Daten der Mahnbriefe und Beteuerungen aufzähle« (17.12.1982). Oder: »Dass ich Sie jetzt ›plötzlich unter Druck setze‹, ist eine Behauptung, die Sie wohl kaum aufrechterhalten können, da ich dies seit 1977 immer wieder getan habe.« (12.1.1983).36 Ganz anders Koselleck: »Im Namen zugleich der obersten Instanz [Conze!] darf ich Sie schließlich von unserer großen und dringenden Hoffnung informieren, dass sie uns brüderlich den Artikel über Brüderlichkeit nach den kommenden Weihnachtsferien überreichen? So unserer Terminplan« (10.11.1965). Oder: »So bleibt mir nichts übrig, als Sie so dringend wie inständig und herzlich zu bitten, nunmehr in den Sommerferien wirklich Ihren Artikel abzuschließen. Ich erspare

35 Der von Werner Conze redaktionell betreute Band IV erschien 1978, der von Reinhart Koselleck verantwortete, mit 1128 Seiten allerdings umfangreichste Band III des Lexikons erschien 1982. Zu den deswegen zwischen Koselleck und Conze entstandenen Spannungen vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Acc. 9/05, Bd.1, Koselleck an Conze, 25.2.1976. Koselleck möchte darin »entschieden protestieren«, dass der vierte vor dem dritten Band erscheint. »Ich kann mir keinen Grund vorstellen, der vorerst das vernünftige Redaktionsprinzip, einen Band nach dem anderen zu edieren, aus den Angeln heben sollte.« 36 Werner an Conze an Wolfgang Schieder, 17.12.1982, 12.1.1983, (Privatarchiv Wolfgang Schieder).

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mir weitere Kommentare und vertraue jetzt auf Ihre Autorenehre – sofern so etwas im 20. Jahrhundert noch so zu benennen erlaubt ist« (21.8.1978).37 In Abwägung aller Umstände, unter denen die ›Geschichtlichen Grundbegriffe‹ entstanden sind, wird man zusammenfassend daher sagen können, dass das Lexikon ohne Conze nie zustande gekommen, ohne Koselleck jedoch nie auf dem hohen theoretischen Niveau realisiert worden wäre, das für das Unternehmen charakteristisch ist. Nur gemeinsam ist Conze und Koselleck mit den »Geschichtlichen Grundbegriffen« die Durchführung eines wissenschaftlichen Projektes gelungen, welches ohne Frage zu den originellsten und interdisziplinär am weitesten ausstrahlenden Forschungsvorhaben der deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945 gehört. Dass es 25 Jahre, von 1972 bis 1997, dauerte, bis die Geschichtlichen Grundbegriffe abgeschlossen werden konnten und dass nach dem Tod von Brunner und Conze nur noch Koselleck als Herausgeber übrig bleiben sollte war selbstverständlich nicht vorauszusehen, es hatte aber auch etwas mit der ständigen Erweiterung des begrifflichen Korpus zu tun. Conze ging 1960 in seinem ersten Antrag bei der DFG von zwei Bänden aus, aus denen bei der ersten Mitarbeiterbesprechung 1963 in Heidelberg dann drei wurden.38 Voller Optimismus schrieb Conze noch am 7. Juli 1964 an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Lexikons,: »Mehr sollen es keinesfalls werden.«39 Über vier, fünf und sechs Bände (1974/76) sind es dann schließlich 1997 sieben Bände und zwei umfangreiche Registerbände mit allein 2116 Seiten geworden.40 Wie blauäugig, ja eigentlich erstaunlich unprofessionell die Herausgeber im Grunde in lexikonographischer Hinsicht an das wissenschaftliche Langzeitunternehmen herangegangen sind, zeigte sich daran, dass sie trotz der inhaltlich diffizilen, zitatgesättigten und vielsprachigen Artikel glaubten ohne redaktionelle Kontrolle der Manuskripte, vor allem der zahlreichen Zitate auskommen zu können. Erst am 14.7.1969 stellten sie einigermaßen entrüstet in einem Brief an die ersten Autoren der Geschichtlichen Grundbegriffe fest: »Anregungen der letzten Mitarbeitertagung im März 1968 folgend, ist die Redaktion inzwischen zu einer umfassenden Überprüfung der Zitate übergegangen, die erstaunliche Ergebnisse zutage förderte. Nach den bisherigen Erfahrungen muss – trotz aller Sorgfalt der Autoren – mit einer durchschnittlichen Fehler- und Ungenauigkeitsquote von 30 % pro Artikel gerechnet werden. Bei nachlässiger Arbeitsweise liegt die Quote natürlich noch höher.«41

37 Reinhart Koselleck an Wolfgang Schieder, 10.11.1965, 21.8.1978, (Privatarchiv Wolfgang Schieder). 38 Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 24, Reinhart Koselleck, Ergebnisprotoll der Sitzung vom 1.April 1963. 39 Universitätsarchiv Heidelberg, Acc. 9/05, Bd. 24, Conze an die Heidelberger Mitarbeiter des Wörterbuchs, 7.7.1964. 40 Vgl. Anm. 1. 41 Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 24, Werner Conze, Reinhart Koselleck, An die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Geschichtlichen Grundbegriffe, 14.7.1969.

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III. Wie der Titel ausweist, sollte das Lexikon politisch-soziale »Grundbegriffe« enthalten. Wie diese neben anderen weniger grundlegenden Begriffen zu definieren seien, wird in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« jedoch eigentlich nicht erklärt. Es stand nur fest, dass lediglich solche Begriffe in das Lexikon aufgenommen werden sollten, welche zur Erkenntnis des Übergangs von der Vormoderne zur Moderne in Deutschland beitrugen. Das führte dazu, dass es bei der Planung des Lexikons zu Anfang lange Debatten darüber gab, welche Begriffe dieser Fragestellung entsprachen und welche ausgeschlossen werden sollten, ein Problem, das sich letzten Endes methodisch nicht einwandfrei lösen ließ. Man darf deshalb nicht annehmen, dass ein Korpus von Artikeln feststand, bevor von den Autoren mit der begriffsgeschichtlichen Quellenarbeit begonnen wurde. Es wurde keineswegs vorab, sondern im permanenten Diskurs der Herausgeber und der Autoren festgelegt, welche Begriffe in das Wörterbuch kommen sollten und welche nicht. Es entstanden ständig neue Listen von Begriffen, die in das Lexikon aufgenommen werden sollten, ohne jedoch verbindlich zu werden. Eine Reihe von Artikeln sind zwar vergeben, aber nie fertiggestellt worden, sie fehlen deshalb in dem Lexikon. Gar nicht selten kam es vor, dass einzelne Autoren außerstande waren, einen Artikel vollständig allein zu schreiben, so dass dieser am Ende gestückelt, d. h. von mehreren Autoren gemeinsam verfasst werden musste. Beide Herausgeber mussten bei diesen Reparaturarbeiten häufig selbst einspringen, sie sind deshalb in dem Lexikon viel häufiger präsent, als nur in den von ihnen jeweils allein geschriebenen Artikeln. Es war durchaus verständlich, dass Koselleck, aber auch Conze, manchmal darüber klagte, dass es für sie leichter gewesen wäre, einen Artikel von vorneherein ganz zu übernehmen anstatt ihn nachträglich mit hohem Arbeitsaufwand überarbeiten zu müssen. Im Laufe der Jahre ging man dann dazu über, für einzelne Artikel nach Autoren zu suchen, die für diese schon begriffsgeschichtlich ausgewiesen waren. Die Auswahl der Lemmata wurde also davon abhängig gemacht, ob es für diese schon einen einschlägig ausgewiesenen Autor gab. So wurde etwa Otto Dann als Autor von »Gleichheit« gewonnen, nachdem er sich über diesen Begriff in Köln als Historiker habilitiert hatte.42 Fast bis zum Schluss wurde die Liste der Lemmata auf diese Weise nicht abgeschlossen. Da die Herausgeber sich nur einmal vage auf »rund 130 geschichtliche Grundbegriffe« festgelegt hatten, glaubten sie flexibel genug zu sein, um die Palette der Artikel ständig verändern zu können.43 Es kamen immer noch Begriffe dazu, wenn sich dafür ein Autor anbot. Koselleck 42 Dann, Otto, Gleichheit und Gleichberechtigung. Das Gleichheitspostulat in der alteuropäischen Tradition und in Deutschland bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert, Berlin 1980. 43 Der Terminus »Grundbegriffe« war in der der geistes- und sozialwissenschaftlichen Wissenschaftssprache seit Heinrich Wölfflins »Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen« von 1915 jedoch durchaus geläufig.

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räumte in seiner Einleitung zu dem Lexikon nicht ohne Grund ein, »dass die Auswahl von einer gewissen Willkür geleitet wurde«.44 Positiv gewendet kann man die Geschichtlichen Grundbegriffe insofern als ein permanentes work in progress bezeichnen, was dem Projektcharakter des präzedenzlosen Unternehmens durchaus entsprechen würde. Im Prinzip war es eigentlich gleichgültig, an welchen und an wie vielen Begriffen der Charakter der Übergangszeit von der Alten Welt in die Moderne erwiesen wurde, wenn es nur gelang, diesen plausibel zu machen. Allerdings war den Herausgebern klar, dass nicht alle Begriffe die gleiche historische Wertigkeit hatten. In den vorbereitenden Treffen mit den ersten Autoren bemühte man sich deshalb Kategorien zu erarbeiten, in welche die einzelnen Begriffe eingeordnet werden konnten. Dabei entstand zunächst eine Liste von Begriffstypen, die von Koselleck in drei Kategorien eingeteilt wurden: in Rahmenartikel, Haupt- und Schwerpunktartikel sowie Kurzartikel.45 Später hat er diese grobe Einteilung weiter ausdifferenziert und insgesamt siebzehn Definitionen von Begriffen vorgeschlagen, die gebraucht werden könnten, aber nicht müssten.46 Es zeigte sich jedoch, dass diese Einteilung ziemlich willkürlich war, dass es mehr Überlappungen als Unterschiede gab. In der Einleitung Kosellecks zum ersten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe, die aus diesen Diskussionen hervorging, ist daher von diesem Begriffssystem auch keine Rede mehr. Es wird nunmehr einleuchtender nur noch zwischen aus der vorrevolutionären Zeit überkommenden »Leitbegriffen«, postrevolutionären »Neologismen« und sich im Übergang zur Moderne wandelnden Begriffen unterschieden.47 Als »Leitbegriffe« betrachtete Koselleck institutionelle Begriffe wie »Staat«, »Kirche« oder »Gesellschaft«, die es schon im Alten Europa gegeben habe, die aber ihre Bedeutung in der Moderne gewandelt hätten. Als Neologismen wurden z. B. »Sozialismus« oder »Antisemitis­mus« bezeichnet. Zu modernen Begriffen rückten für ihn »Klasse« oder »Geschichte« auf, deren »Bedeutungsschichten« sich in der Moderne verändert hätten.48 Es ist offensichtlich, dass auch mit diesen inhaltlich begründeten Einteilungen nicht viel 44 Ebd., S. XIII f. 45 Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 15, Ergebnis-Protokoll der Besprechung über die Vorarbeiten zu einem Deutschen Wörterbuch der politisch-sozialen Welt im Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert in Ziegelhausen bei Heidelberg, 29.10.1960. 46 Vgl. Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd. 24, Conze an die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Lexikons, 22.7.1968. Conze übersendet die von Koselleck stammenden »Ergänzungen zu den Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit«, die auf S. 4 siebzehn Definitionen von Begriffen enthalten. Interessanterweise fehlen in der Liste noch die später für Koselleck so zentralen »Erfahrungsbegriffe« und »Erwartungsbegriffe«. Erst 1972 sprach Koselleck in der Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegriffen, Bd. I, XVI zur Begründung seiner These der »Verzeitlichung« vom Zusammenhang von »auf ihren Begriff gebrachten neuen Erfahrungen« mit »Erwartungsmomenten, die ihnen früher nicht innewohnten«, ohne das jedoch schon theoretisch näher zu erläutern. Als Beispiel führte er den »systematischen Oberbegriff« der »Republik« an, aus dem ein »geschichtlicher Zielbegriff, ein Erwartungsbegriff« geworden sei. 47 Koselleck, Einleitung, S. XIV. 48 Ebd.

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gewonnen war. Sinnvoller war es, nur noch zwischen Begriffen, die in der Vormoderne institutionell gebunden gewesen waren und solchen Begriffen, die in der Moderne als »Zukunftsbegriffe« reine Erwartungen formulierten (z. B. »Kommunismus«), zu unterscheiden. An die von ihnen selbst ursprünglich formulierte Vorgabe, nur solche Begriffe in das Lexikon aufzunehmen, die den sozialen Wandel zwischen 1700 und 1900 anzeigen, haben sich die Herausgeber am Ende nicht gehalten. Aus welchen Gründen auch immer wurde neben »Caesarismus« und »Imperialismus« der Begriff »Faschismus« aufgenommen und von Ernst Nolte in seiner geschichtsphilosophischen Art nicht gerade begriffsgeschichtlich bearbeitet.49 Nolte hatte sich als Autor eines Buches über »Faschismus« angeboten, es handelte sich jedoch um einen Begriff, der eindeutig nur dem 20. Jahrhundert zuzuordnen ist.50 Wenn die »Geschichtlichen Grundbegriffen« andererseits kritisiert wurden, dass etwa »Feminismus«, »Leninismus« oder »Kolonialismus« nicht darin enthalten seien, so geht dieser Vorwurf fehl. Als im späten 19. oder im 20. Jahrhundert entstandene Begriffe haben sie mit dem begriffsgeschichtlichen Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe nichts zu tun. Berechtigt ist jedoch die Kritik an einigen Artikeln, in denen die eigentliche Begriffsgeschichte unvollständig abgehandelt wird, so z. B. an dem Artikel »Kapital, Kapitalismus«, der einseitig ökonomisch interpretiert wird.51 Besonders problematisch ist, dass eine Reihe von Artikeln von Philosophen geschrieben wurden, die eigentlich kein Verständnis für politisch-soziale Probleme in der Geschichte hatten. Sie betreiben in ihren Artikeln eine reine ›Gipfelwanderung‹ von Kant über Hegel zu Marx und Max Weber, wodurch ihre Artikel meist einen stark normativen Charakter erhalten. Beides sollte die Geschichtlichen Grundbegriffe eigentlich vom »Historischen Wörterbuch der Philosophie« unterscheiden, das von dem Münsteraner Philosophen Joachim Ritter gegründet worden und parallel zu den »Geschichtlichen Grundbegriffen« erschienen ist.52 Ein Beispiel dafür ist etwa der Artikel »Bürger, Staatsbürger, Bürgertum« von Manfred Riedel, in dem das Auseinandertreten von »Staat« und »Gesellschaft« im 19. Jahrhundert allein von Hegel hergeleitet wird, es aber keinerlei sozialgeschichtliche Vertiefung im Sinne von Conze gibt.53 Die Artikel des Lexikons sollten nach der Vorstellung der Herausgeber formal einheitlich gestaltet werden, eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die zu realisieren sich jedoch als schwierig herausstellte. Der Akzent sollte selbstverständlich in 49 Nolte, Ernst, Faschismus, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. II, Stuttgart 1975, S. 329–336. 50 Nolte, Ernst, Der Faschismus in seiner Epoche, München 1963. 51 Hilger, Marie-Elisabeth, Kapitalist, Kapitalismus, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. III, Stuttgart 1982, S. 399–454. 52 Ritter, Joachim / Gründer, Karlfried / Gabriel, Gottfried (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd.1–13, Basel 1971–2007. 53 Riedel, Manfred, Bürger, Staatsbürger, Bürgertum, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, Stuttgart 1972, S. 672–725.

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einem »Hauptteil« auf dem Begriffswandel zwischen 1700 und 1900 liegen. Vor diesem zentralen Abschnitt sollte es jedoch bei jedem Artikel einen »Vorspann« und nach jedem einen »Ausblick« geben. So einleuchtend dies zu sein schien, konnte über den Inhalt und den Umfang dieser Abschnitte jedoch keine Einigkeit erzielt werden. Vor allem über den »Vorspann« wurde in den ersten Mitarbeiterbesprechungen intensiv diskutiert, ohne dass jedoch ein klares Ergebnis erzielt werden konnte. Das lag nicht zufällig vor allem daran, dass hier die theoretische Grundannahme, es hätte vor 1700 seit Jahrhunderten keinen Begriffswandel gegeben, in Frage stand. Jedoch spielte auch eine Rolle, dass Begriffe, die im Lexikon als Allgemeinbegriffe verstanden werden, eine andere Vorgeschichte hatten als viele Spezialbegriffe, vor allem Neologismen. Am Ende wurde es daher jedem Autor überlassen, den »Vorspann« nach seinen Vorstellungen zu gestalten und zeitlich soweit zurückzugehen wie er das für notwendig hielt. Mit dem »Ausblick« tat man sich ebenfalls nicht leicht, jedoch war man sich hier immerhin einig, dass die Begriffsentwicklung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dargestellt und nur in Ausnahmefällen in das 20. Jahrhundert hinein verfolgt werden sollte, eine Vorgabe, die allerdings keineswegs in allen Artikeln eingehalten werden sollte.54 Um diese Problematik etwas zu erläutern, soll auf zwei Begriffe zurückgegriffen werden, die vom Verfasser für die Geschichtlichen Grundbegriffe geschrieben worden sind. Der Artikel »Brüderlichkeit« wurde von mir übernommen, weil mir aufgrund meiner Forschungen zu den Anfängen der deutschen Arbeiterbewegung vor 1848 das Motto »Alle Menschen werden Brüder« und natürlich auch der Schlachtruf der Französischen Revolution »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« geläufig war.55 Ich glaubte daher bei der Abfassung des Artikels mit diesen Parolen starten zu können. Wie sich herausstellte, hatte der Begriff jedoch eine vorrevolutionäre Vorgeschichte. Ich sah mich deshalb gezwungen, in meinem »Vorspann« bis in das frühe Mittelalter, ja sogar in die Antike zurückzugehen, um mich darüber zu informieren, wie sich geistliche und weltliche »Bruderschaften« (fraternitates) von modernen Auffasungen von »Brüderlichkeit« unterschieden. Die vormodernen Bruderschaften waren durchweg ständisch eingebunden. Es handelte sich um organisierte Vereinigungen zur Ausübung meist sozialer Zwecke. Der Begriff der ›fraternitas‹ bzw. ›Bruderschaft‹ diente somit zur Bezeichnung bestimmter Institutionen. Erst in der Zeit der Französischen Revolution wurde die ständische Anbindung des Brüderlichkeitsbegriffs aufgelöst und stattdessen die »Brüderlichkeit« aller Menschen unabhängig von ihrem Stand verkündet. Der Begriff wandelte sich damit von einem institutionellen zu einem reinen Gesinnungsbegriff, dessen Verwendung in eine imaginäre Zukunft verwies. Der moderne Begriff der »Brüderlichkeit« ist nicht an zweckgerichtete Vereinigungen gebunden, sondern er gilt der Intention nach für alle Menschen. Als solche hat sich die Idee der »Brüderlichkeit«, auch unter den Parallelbegriffen der »Solidarität« oder der 54 Koselleck, Einleitung, Bd. I, S. XXVI. 55 Schieder, Wolfgang, Brüderlichkeit, Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. 552–581.

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»Genossenschaft«, in der Gewerkschaftsbewegung, der Frauenbewegung, der Friedensbewegung oder der ökumenischen Weltkirchenbewegung teilweise bis heute erhalten. Der »Vorspann« des Artikels hat deshalb eine besondere Bedeutung, weil er im Kontrast den fundamentalen Begriffswandel von »Brüderlichkeit« hin zu einem reinen Gesinnungsbegriff erkennen lässt. Anders der Begriff »Sozialismus«.56 Er wird vom Verfasser in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« auf 73 großformatigen Seiten abgehandelt, die hier natürlich nur sehr verkürzt wiedergegeben werden können. Ähnlich wie bei »Brüderlichkeit« gibt es zwar auch bei dem Begriff »Sozialismus« eine begriffliche Vorgeschichte, die jedoch im Wesentlichen auf einen eher marginalen Wortgebrauch in der naturrechtlichen Gelehrtensprache vom 17. zum 18. Jahrhundert beschränkt ist. Der moderne Begriff des »Sozialismus« wurde erst im 19. Jahrhundert als zukunftsorientierter Begriff gebildet, der sich von Anfang an auf keine soziale Realität bezog. Es handelte sich um einen reinen Bewegungsbegriff. ›Sozialisten‹ sind bis zum heutigen Tage immer nur diejenigen, die ihre Zukunft noch vor sich haben. Für die Gegenwart wurde in der verflossenen DDR bezeichnenderweise die Behauptung aufgestellt, dass man (wenigstens schon) im »realexistierenden Sozialismus« lebe, aber eben noch nicht im eigentlichen Sozialismus. Es war jedoch eine wichtige historische Erkenntnis, dass die Entstehung des Sozialismus an die Entstehung der Arbeiterklasse gebunden war. Sie geht im Wesentlichen auf das Buch des konservativen Sozialwissenschaftlers Lorenz Stein zurück, der 1842 das Buch »Der Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs« veröffentlicht hat.57 Stein war auch der erste, der dem Begriff des »Sozialismus« den des »Kommunismus« gegenüberstellte, mit dem er ursprünglich überhaupt nichts zu tun hatte. Er behauptete, dass der »Sozialismus« eine »neue Gesellschaft bilden«, während der Kommunismus »nur die bestehende umstürzen« wolle.58 Karl Marx übernahm diese dichotomische Interpretation, drehte sie nur um, indem er die Zukunft im »Kommunismus« sah und nicht im »Sozialismus«.59 Das wurde später von Lenin aufgenommen, welcher der Bewegung der Sozialdemokratie damit ihre marxistische Legitimation nehmen wollte. Seit der bolschewistischen Oktoberrevolution war »Kommunismus« ein sowjetischer Kampfbegriff, mit dem der »Sozialismus« in seiner sozialdemokratischen Form bekämpft wurde. Es gehörte demgegenüber zur sozialdemokratischen Abwehrstrategie, dem Begriff des »Kommunismus« eine terroristische Diktaturpraxis zu unterlegen und den des »Sozialismus« ideologisch aufzuwerten. Es lässt sich jedoch begriffsgeschichtlich beweisen, dass der Begriff des »Sozialismus«, anders 56 Schieder, Wolfgang, Sozialismus, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbe­ griffe, Bd. V, Stuttgart 1984, S. 923–996. 57 Stein, Lorenz, Socialismus und Communismus des heutigen Frankreichs. Ein Beitrag zur Zeitgeschichte, Leipzig 1842. 58 Ebd., S. 131 59 (Marx, Karl / Engels, Friedrich), Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx Engels Werke, Bd. 4, S. 475.

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als der Gegenbegriff des »Kommunismus«, nie normativ festgelegt war.60 Im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstanden mit jeweiliger Selbstbezeichnung ein »Kathedersozialismus«, ein »Staatssozialismus«, ein »Religiöser Sozialismus«, ein »Christlicher Sozialismus«, ein »Agrarsozialismus« und schließlich ein »Nationalsozialismus«.61 Daran zeigte sich, dass der Begriff »Sozialismus« für verschiedene Ausdeutungen und zur Bezeichnung höchst unterschiedlicher politischer und sozialer Bewegungen offen war. War der Begriff der »Bruderschaft« ein alteuropäischer Rechtsbegriff, der mit der Auflösung der ständischen Rechtssysteme seine Bedeutung verlor und sich zu einem reinen Zukunftsbegriff verwandelte, wurde der Begriff des »Sozialismus« in der Moderne schon als solcher geboren. Zum begriffsgeschichtlichen Verständnis von »Brüderlichkeit« war deshalb in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« ein »Vorspann« notwendig, der weit in die Vormoderne zurückreicht. Um den Begriff des »Sozialismus« darzustellen, bedurfte es dagegen kaum eines »Vorspanns«, da er ein Neologismus des 19. Jahrhunderts war. Um den allzu schulmäßigen Terminus des ›Hauptteils‹ zu vermeiden, schlug Koselleck dafür eher beiläufig den Terminus »Sattelzeit« vor. Bezeichnenderweise sprach er am 1. April 1963, als er den Terminus zum ersten Mal schriftlich verwendete, von »sozusagen einer Sattel-Zeit«, wobei er den Begriff nicht nur in Anführungszeichen setzte, sondern auch noch »Sattel« und »Zeit« durch einen Trennungsstrich verband.62 Gemäß dem Kurzprotokoll der Arbeitsgruppe für die Vorbereitung der Geschichtlichen Grundbegriffe am 31.10.1963 wurde »Sattelzeit« von einem Protokollanten erstmals zusammengeschrieben, aber immer noch in Anführungszeichen gesetzt.63 Koselleck selbst hat, wie aus dem Ergebnisprotokoll hervorgeht, mit dem er die Richtlinien für die Autoren der Geschichtlichen Grundbegriffe am 22.7.1968 ergänzte, den Terminus »Sattelzeit« schließlich ebenfalls verwendet.64 Aber noch in seiner Einleitung zu den Geschichtlichen Grundbegriffe benutzte er ihn nur zurückhaltend, wenn er formulierte, dass im 60 Vgl. Schieder, Sozialismus, S. 992–996. 61 Ebd., S. 982–985, 990–996. 62 Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd.24, Koselleck, Ergebnisprotokoll, 1.4.1963, S. 2: »der heuristische Vorgriff führt sozusagen eine ›Sattel-Zeit‹ ein«; 14: »Dieser Vorgriff führt eine ›Sattel-Zeit‹ zwischen 1750 und 1850 ein […]«; S. 19: Der Vorspann, »der die Begriffs­ geschichte aufnimmt und an den Hauptteil heranführt, der die ›Sattel-Zeit‹ behandelt […]«. 63 Universitätsarchiv Heidelberg, ACC., 9/05, Bd. 24, Kurzprotokoll der Tagung der Forschungs­ gruppe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte für die Vorbereitung eines deutschen Wörterbuches der politisch-sozialen Welt in Heidelberg am 31.10.1963. Das Protokoll ist mit einer Kopfadresse des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte versehen. Das spricht dafür, dass es, wie auch der andersartige Stil anzeigt, nicht von Koselleck, sondern von Conzes damaligem Mitarbeiter Horst Stuke stammt, der die Geschäfte des Arbeitskreises führte. 64 Universitätsarchiv Heidelberg, Acc., 9/05, Bd.24, Ergänzungen zu den Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit. Das nicht gezeichnete Dokument wurde unzweifelhaft von Koselleck verfasst und von Conze am 22.7.1968 an die Autoren der Geschichtlichen Grundbegriffe versandt.

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»heuristischen Vorgriff« auf die Geschichtlichen Grundbegriffe »sozusagen eine Sattelzeit« eingeführt worden sei.65 In einem Im Gespräch mit Christof Dipper hat er viel später eingestanden, dass der Terminus »Sattelzeit« »ein spontaner Begriff« gewesen sei, »um die Schwelle um 1800 klarzumachen«.66 Er hat sogar eingeräumt, dass es ein »Kunstbegriff« gewesen sei, »den ich benutzt habe, um Geld zu bekommen.«67 Stärker hätte der theoriebewusste Koselleck seine Autorschaft an dem Terminus kaum abwerten können. Nichts hat die Geschichtlichen Grundbegriffe jedoch so bekannt gemacht wie die Annahme einer »Sattelzeit«, – dies allerdings vorwiegend außerhalb der Geschichtswissenschaft. Der Terminus hat im Laufe der Jahre ein Eigenleben entfaltet, in dem der Zusammenhang mit der Begriffsgeschichte kaum noch zu erkennen ist.68 Mehr oder weniger hat er den Charakter einer Epochenbezeichnung angenommen. Dabei hat Koselleck den Terminus nie systematisch erklärt, auch nie erklären wollen.69 Eine eher geographische Definition hat er gelegentlich mit einem Hinweis gegeben, dass es sich um eine Metapher handele, die einen Bergsattel umschreibe. Solch ein Sattel habe ein Janusgesicht, da man von ihm aus zurück, aber auch nach vorne blicken könne. »Entsprechende Begriffe tragen ein Janusgesicht: rückwärtsgewandt meinen sie soziale und politische Sachverhalte, die uns ohne kritischen Kommentar nicht mehr verständlich sind, vorwärts und uns zugewandt haben sie Bedeutungen gewonnen, die zwar erläutert werden können, die aber auch unmittelbar verständlich zu sein scheinen. Begrifflichkeit und Begreifbarkeit fallen seitdem für uns zusammen.«70 In einem seiner letzten Interviews, das er am 5. April 2005 in Madrid zwei spanischen Linguisten gegeben hat, offenbarte er aber schließlich, dass er den Terminus »Sattelzeit« nicht besonders möge, weil er zu »ambiguous« sei und sich sowohl auf Hügel als auch auf Pferde beziehen lasse,71 Vor allem hielt er ihn für problematisch, weil er nicht in spezifischer Weise »to the acceleration of time« verweise: »Therefore, from a theoretical point of view, Sattelzeit is a very deficient term.«72 Da es Koselleck begriffsgeschichtlich gerade darum ging, den Übergang von der Alten Welt in die Moderne nicht als einmaligen Bruch, sondern als allmäh65 Koselleck, Einleitung, S. XV. 66 Dipper, Christof, Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187–205, hier S. 195. 67 Ebd. 68 Vgl. z. B. Décultoz, Elisabeth / Fulda, Daniel (Hg.), Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, Berlin 2016. 69 Im Gespräch mit Dipper erklärte er apodiktisch: »Ich hatte nie die Absicht, einen theoretischen Anspruch daran zu knüpfen.« Vgl. Dipper, Begriffsgeschichte, S. 195. 70 Koselleck, Einleitung, S. XV. 71 Der Verweis auf Pferde lässt erkennen, dass Koselleck der Terminus möglicherweise spontan eingefallen ist, weil er es im Krieg als Artillerist mit Pferden zu tun hatte, die täglich zu einer bestimmten »Sattelzeit« bewegt werden mussten. 72 Sebastián, Javiér Fernanández / Fuentes, Juan Francisco, Conceptional History, Memory and Identity, an Interview with Reinhart Koselleck, in Contributions to the History of Concepts 2 (2006), S. 99–27, hier S. 22.

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lichen Prozess zu erfassen, leuchtet es tatsächlich wenig ein, gewissermaßen einen archimedischen Punkt zwischen Vormoderne und Moderne anzunehmen. Es wäre sinnvoller, von einer sich länger hinziehenden »Schwellenzeit« oder wie Karl ­Jaspers von einer entsprechend anzunehmenden »Achsenzeit« zu sprechen.73 Immerhin hat Koselleck den Terminus einer »Schwellenzeit« auch durchaus benutzt, während er den der »Achsenzeit« abgelehnt hat.74 Aber nun ist die vorgebliche Sattelzeit einmal in der wissenschaftlichen Welt verbreitet, und man wird sie nicht mehr aus dieser vertreiben können. Es sollte jedoch strenger darauf geachtet werden, dass es sich um einen für eine bestimmte Fragestellung gültigen Terminus handelt und nicht um einen universalhistorischen Ausdruck, der multivalent zu verwenden ist. Und er sollte nicht als chronologisch definierter Begriff verwendet werden, sondern als historischer Prozessbegriff, der in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« strikt auf den Übergang von der Vormoderne auf die Moderne bezogen wird. Mit der Fixierung auf die »Sattelzeit« verzichtete Koselleck de facto darauf, eine zeitlose Theorie der Begriffsgeschichte zu entwerfen, ein Vorhaben, das er zwar nie aufgab, dessen Realisierung er jedoch in immer weitere Ferne rückte. Am Ende hat er drei Sammelbände scharfsinniger Aufsätze, aber keine konsistente historische Theorie der Begriffsgeschichte hinterlassen.75 Und in den »Geschichtlichen Grundbegriffen« fehlte nach dem Abschluss des Werks ausgerechnet der Begriff, um den sein historisches Denken in erster Linie kreiste, nämlich der der »Zeit«. Es ist selbstverständlich unmöglich, in diesem Beitrag einen systematischen Überblick über sämtliche Artikel des Lexikons zu geben. Jedoch ist ein Verweis auf die von Koselleck und von Conze selbst übernommenen Artikel wichtig. Beide sind ja nicht nur als Herausgeber der Geschichtlichen Grundbegriffe hervorgetreten, sondern beide haben auch jeweils mehrere Artikel selbst verfasst.76 Welche große Bedeutung Conze auch als Autor für das Lexikon hatte, zeigt sich daran, dass er acht Artikel alleine verfasst hat, während von Koselleck nur vier Artikel stammen, darunter allerdings, abgesehen von der Einleitung, die besonders umfangreichen Artikel »Bund« und »Revolution«.77 Beide Herausgeber haben sich außerdem 73 Jaspers, Karl, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949. In dem Gespräch mit Christof Dipper hat Koselleck glaubhaft dementiert, dass die Erfindung der »Sattelzeit« etwas mit der »Achsenzeit von Jaspers« zu tun habe. Vgl. Dipper, Begriffsgeschichte, S. 195. 74 Ebd. 75 Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979; ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000; ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006. 76 Vgl. dazu schon Dipper, Christof, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 231–308. 77 Von Conze stammen in Bd. I die Artikel Arbeit, Arbeiter, Bauer, Beruf, in Bd. II der Artikel Fanatismus, in Bd. IV der Artikel Mittelstand, in Bd. V die Artikel Sicherheit, Schutz und Proletariat. Koselleck hat in Bd. I den Artikel Bund, Bündnis in Bd. II den Artikel Eman-

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an weiteren Artikeln beteiligt, sei es, weil sie keinen Autor gefunden hatten, der einen ganzen Artikel beisteuern konnte oder weil sie das Manuskript eines Artikels nur teilweise überzeugte. Nicht weniger als zehn Artikel sind auf diese Weise von Conze und acht von Koselleck vervollständigt worden, an den besonders problematischen Artikeln »Staat, Souveränität« und »Demokratie« haben sogar beide an der Reparatur mitgewirkt.78 Da es sich dabei weitgehend um redaktionelle Überarbeitungen handelte, unterscheiden sich die von Conze und Koselleck ergänzten Artikel konzeptionell nicht wesentlich. Es fällt jedoch auf, dass sie in eigner Regie besonders solche Lemmata bearbeitet haben, die jeweils ihrem ursprünglichen Konzept von Begriffsgeschichte entsprachen. Conze hat vor allem solche Artikel übernommen, die zur Kennzeichnung sozialer Veränderungsprozesse dienten bzw. diese anzeigten. So stammen etwa die Artikel »Mittelstand«, »Proletariat«, »Adel« »Arbeiter« und »Bauer« von ihm. Koselleck hat demgegenüber weniger sozialgeschichtliche als vielmehr sozialphilosophische Begriffe wie »Emanzipation« oder »Krise« übernommen, also zukunftsorientierte Begriffe ohne direkten sozialgeschichtlichen Hintergrund. Beide hielten insofern als Autoren an ihren ursprünglichen begriffsgeschichtlichen Konzepten fest, die sie vor ihrer methodischen Verständigung vertreten hatten. Eine Ausnahme stellt Kosellecks Artikel »Bund« dar, der nicht nur fast den Umfang eines kleinen Buches hat, sondern durch seine sowohl geschichtsphilosophische als auch sozialgeschichtliche Perspektive hervorsticht. In gewissem Sinn repräsentiert er auf geradezu paradigmatische Weise das theoretische Konzept, auf das sich Conze und Koselleck bei der Planung der Geschichtlichen Grundbegriffe geeinigt hatten.79 Er zeigt einerseits historische Soziierungsprozesse an und beweist andererseits, wie diese auch durch den Begriff des »Bundes« herbeigeführt. Es würde zu weit führen, sämtliche Lemmata der Geschichtlichen Grundbegriffe zu klassifizieren. Eine Analyse aller nicht von Conze und Koselleck geschriebenen Artikel würde jedoch mit ziemlicher Sicherheit ergeben, dass nur die wenigsten dem zwischen den beiden Herausgebern vereinbarten begriffsgeschichtlichen Kompromiss entsprechen. Das gilt in besonderem Maße für die unter mehrere zipation, in Bd. III den Artikel Krise und in Bd. V den Artikel Revolution (mit einem Abschnitt über die Antike von Christian Meier) geschrieben. Beteiligt war Conze in Bd. I an den Artikeln Adel und Demokratie, in Bd. II dem Artikel Freiheit, in Bd. IV den Artikeln Militarismus und Monarchie, in Bd. V den Artikeln Rasse und Reich sowie Säkularisation, Säkularisierung, Bd. VI den Artikeln Stand, Klasse und Staat, Souveränität. Koselleck war in Bd. I an dem Artikel Demokratie, in Bd. II an den Artikeln Fortschritt und Geschichte, in Bd. III den Artikeln Herrschaft und Interesse, in Bd. VI dem Artikel Staat, Souveränität sowie in Bd. VII den Artikeln Verwaltung und Volk, Nation beteiligt. 78 Vgl. Koselleck, Reinhart, Demokratie IV.1; Conze, Werner, Demokratie VI–VII, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I und Conze, Werner, Staat, Souveränität I–II; Koselleck, Reinhart, Staat, Souveränität III, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VI, Stuttgart 1990. 79 Koselleck, Reinhart, Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. I, S. 583–671

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­Autoren verteilten Artikel wie den über »Volk, Nation«, die von Conze oder Koselleck repariert wurden.80 Sie wurden von den beiden Herausgebern in aller Regel nur chronologisch ergänzt, nicht aber systematisch verändert. Für die Mehrzahl der nur von einem von ihnen stammenden Artikel gilt in der Regel, dass sie entweder mehr Conzes Indikationsmodell oder mehr Kosellecks geschichtsphilosophischem Konzept entsprechen. Im ersten Fall liefern sie eine Fülle von Belegen für den sozialgeschichtlichen Wandel der Gesellschaft um 1800, es fehlt ihnen jedoch häufig an einer geschichtstheoretischen Vertiefung. Im zweiten Fall vollführen sie einen geschichtsphilosophischen Höhenflug, es fehlt ihnen jedoch häufig an einer rezeptionsgeschichtlichen Dimension, die erst eine sozialgeschichtliche Urteilsbildung zuließe. Ungeachtet dieser unverkennbaren Unterschiede bleibt es das Verdienst von Conze und Koselleck mit den »Geschichtlichen Grundbegriffen« in intensiver Zusammenarbeit gemeinsam ein Standardwerk geschaffen zu haben, das für die Begriffsgeschichte Maßstäbe gesetzt hat. Wissenschaftsgeschichtlich ist daran vor allem zweierlei von Bedeutung. Erstens ist das Lexikon ein Gemeinschaftswerk von Conze und Koselleck sowie in geringerem Maße auch von Otto Brunner. Beide haben zur Konzeption und Entstehung sowie durch eigene Beiträge auf ihre Weise beigetragen. Auch wenn beide an ihrer jeweiligen begriffsgeschichtlichen Ausgangsposition bei der Abfassung von Artikeln des Lexikons weitgehend festgehalten haben, beruhte ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit auf dem zukunftsträchtigen methodischen Kompromiss, dass Begriffe gesellschaftlichen und politischen Wandel zugleich bewirken und anzeigen können. Zum zweiten waren sich Conze und Koselleck darin einig, kein universales Wörterbuch schaffen zu wollen, sondern ein Lexikon, in dem nur Begriffe aufgenommen werden, welche den politischen und gesellschaftlichen Wandel in Deutschland um 1800 anzeigen. Die Geschichtlichen Grundbegriffe erhielten dadurch einen ausgesprochenen Projektcharakter. Das Lexikon kann darüber hinaus durchaus als exemplarisch angesehen werden. Es regt dazu an, mit einer entsprechenden Fragestellung den gesellschaftspolitischen Begriffswandel anderer Sprachen, anderer Epochen und anderer Gesellschaften auch außerhalb Deutschlands zu untersuchen. Der begriffsgeschichtliche Zugriff macht es möglich, scheinbar feststehende, ideologisch festgelegte politische und gesellschaftliche Begriffe kritisch zu hinterfragen und ihres dogmatischen Charakters zu entkleiden. Wenn es in der Politik darum geht, Begriffe zu besetzen und damit zu ideologisieren, sollte es in der Wissenschaft darum gehen, Entstehung und Bedeutung von Begriffen freizulegen und ihre Benutzung nicht den terribles simplificateurs zu überlassen. Erst recht sollte die Wissenschaft Alarm schlagen, wenn gezielt falsche Begriffe verbreitet werden. Es handelt sich dabei um

80 Der Artikel »Volk, Nation, Nationalismus, Masse«, der längste aller Artikel des Lexikons, wurde unter der Ägide von Koselleck von vier Autoren verfasst. Vgl. Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VII, Stuttgart 1992, S. 141–432.

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eine besondere Form von fake news; denn auch Begriffe können die Geschichte verfälschen, aber auch deren Verfälschung anzeigen. Und schließlich sollte die Wissenschaft dazu beitragen, ihrerseits den Begriffswandel nicht nur zu regis­ trieren, sondern zu diesem selbst beizutragen. Es ist dies eine Form der kritischen Sprachpflege, welche nur die Begriffsgeschichte leisten kann.

Harald Bluhm

Alexis de Tocqueville und Reinhart Koselleck. Der Wandel der modernen politischen Sprache1

Reinhart Koselleck hat die Entstehung der modernen, politisch-sozialen Sprache in Deutschland zu seinem Gegenstand gemacht. Das ab Mitte der 1960er Jahre forcierte Großprojekt Geschichtliche Grundbegriffe, das ihn mit Blick auf die Gegenwart interessierte, wurde bekanntlich 1997 abgeschlossen. Mit seiner Konzep­tion von Begriffsgeschichte wurde er geradezu berühmt und sogar fälschlich mit ihr identifiziert. Inzwischen wird Koselleck jedoch weitreichender verstanden, historisiert und seine Quellen werden erkundet. Eine Quelle, womöglich sogar ein entscheidender Vorläufer der Analyse der modernen politischen Sprache und Begriffe, nämlich Alexis de Tocqueville, stand bisher nicht im Fokus. So enthält das Kompendium »Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium« von Ernst Müller und Falko Schmieder nur einen einzigen sekundären Verweis auf Tocqueville.2 Die quellengesättigte Darstellung von Kosellecks intellektueller Biographie durch Niklas Olsen »History in the Plural«3 sieht keine Beziehungen zu Tocqueville, und auch Kari Palonen weist am Ende seiner Studie zu Skinner und Koselleck nur einmal auf Tocqueville hin.4 Meine Überlegungen resultieren aus dem wiederholten Eindruck, dass in einigen Punkten eine erhebliche Nähe zwischen Koselleck und Tocqueville besteht. Ich vermute eine Rezeption des Franzosen durch Koselleck, und zwar mit Blick auf die Besonderheiten der modernen politischen Sprache, deren Entstehung in der »Sattelzeit«5 zwischen 1750 bis 1850 von beiden, dem einen als Zeitgenossen, der zugleich sozialwissenschaftlicher Analytiker und Historiker war, sowie dem anderen als Historiker, der ein Jahrhundert später wirkt, beobachtet wird. Sollte

1 Ich danke Jan Eike Dunkhase, Karsten Fischer, Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann und Mike Rottmann für hilfreiche Hinweise und Kritiken. 2 Müller, Ernst / Schmieder, Falko, Begriffsgeschichte und Historische Semantik. Ein Kritisches Kompendium, Berlin 2016. 3 Olsen, Niklas, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012. 4 Vgl. Palonen, Kari, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2004, S. 337. 5 Ich nutze den von Koselleck geprägten Ansatz ohne auf die Differenz einzugehen, die Rolf Reichardt (vgl. ders. / u. a. (Hg.), Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, München 1985 ff.) für den französischen im Unterschied zum deutschen Fall herausgearbeitet hat.

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sich dies zeigen lassen, würde Kosellecks Begriffsgeschichte per se stärker in einen internationalen, statt bloß deutschen Rahmen rücken. Systematisch halten Tocqueville und Koselleck den Zugang zu Gesellschaft und Geschichte über Sprache für wichtig, weil für sie Sozialbeziehungen und Institutionen an artikulierte Wahrnehmung und Selbstdeutung gebunden sind. Sprache ermöglicht Handeln und Erfahrungen ebenso, wie sie sich in ihnen sedimentiert. Beide Wissenschaftler legen das Augenmerk auf den gravierenden Wandel der modernen politischen Sprache, die abstrakter und erfahrungsärmer werde. Freilich kommen divergierende theoretische Mittel zur Begriffs- und Sprachanalyse zum Einsatz. Koselleck ist analytisch viel schärfer, Tocqueville arbeitet mit den sozialwissenschaftlichen Mitteln seiner Zeit und den von ihm verehrten philosophischen Autoren, weshalb Begriffe von Leidenschaft, Geist u. a. m. wesentlich sind. Aber Tocqueville beobachtet sehr genau, temporalisiert Begriffe und akzentuiert Ambivalenzen. Er würde sicher Kosellecks Aussage zustimmen: »Keine Erfahrung ohne Begriffe und keine Begriffe ohne Erfahrungen.«.6 Es sind neue Erfahrungen der modernen Demokratie, die deren französischer Analytiker mit neuen, alten und seinerzeit gängigen Konzeptionen auf den Begriff bringt. Ich möchte vor diesem Hintergrund im Folgenden dreierlei zeigen: Zuerst werde ich skizzieren, dass Tocqueville ein herausragender Analytiker des Wandels der politischen Sprache in der »Sattelzeit« war (I.). Anschließend (II.) möchte ich erkunden, ob und wieweit Koselleck auf Tocqueville bei der Entwicklung seiner Konzeption des Wandels der politischen Sprache zurückgegriffen hat. Dabei wird sich herausstellen, dass Koselleck wiederholt seine Wertschätzung für Tocqueville zum Ausdruck gebracht hat und es eine anhaltende Wahrnehmung von dessen Schriften gab, diese aber begrenzt blieb. Abschließend (III.) erörtere ich im Kontext der Gemeinsamkeiten beider Autoren mögliche Gründe, warum der französischen Klassiker für den deutschen Begriffshistoriker am Ende doch nur eine Nebenfigur blieb.

I. Tocquevilles Analysen der modernen politischen Sprache 1. Mehrstufiger Ansatz. Ich deute Tocqueville als einen erfahrungswissenschaftlichen Autor, der eine neue Wissenschaft der Politik entwirft, um die entstehende Welt der Demokratie, deren Ausbreitung in Europa, den USA und ihren weiteren Siegeszug zu begreifen.7 Er ist ein philosophisch inspirierter Analytiker und Zeithistoriker, der stets die Ambivalenzen der Demokratie als moderner Form von 6 Koselleck, Reinhart, Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt 2006, S. 56–76, hier 59. 7 Vgl. Bluhm, Harald, Tocqueville der klassische Analytiker der modernen Demokratie, in: ders. (Hg.), Alexis de Tocqueville: Kleine politische Schriften, Berlin, 2006, S. 11–47 sowie Bluhm, Harald / Krause, Skadi, Tocqueville – Analytiker der modernen Demokratie, in: dies. (Hg.), Alexis de Tocqueville. Analytiker der Demokratie, Paderborn 2016, S. 11–30.

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Gesellschaft, Politik und des Lebens erkundet. Erstaunlicherweise gibt es trotz der üppigen Sekundärliteratur über Tocqueville kaum Arbeiten zu seiner Auffassung der modernen politischen Sprache.8 Für wie wichtig der große Franzose die Sprache und deren Wandel hält, lässt sich mit einigen wenigen Aussagen aufzeigen, die sich vor allem in den beiden Bänden »Über die Demokratie in Amerika« (im Folgenden ÜDA)9 finden lassen. Die Sprache gilt Tocqueville prinzipiell als entscheidendes »soziales Band«10. Das ist eine zentrale Aussage, denn »soziales Band« fungiert als Leitmetapher des französischen Integrationsdenkers. Systematisch bedeutet dies, dass Sitten und Institutionen immer sprachlich vermittelt wahrgenommen werden und dass Sprache nicht nur das Medium der Verständigung bildet, sondern auch dass politische Ideen und Werte für die Wahrnehmung und das Handeln konstitutiv sind. Über diese elementare Ebene hinaus betont Tocqueville vielfach das Neue der politischen Sprache in der modernen Demokratie, die sich von jener der vorausgegangen Gesellschaften unterscheidet. Sie wird von den antiken Begriffen abgehoben, etwa wenn er darauf hinweist, dass der in in der Antike in die politische Welt eingeführte Begriff der Tugend in der Moderne zum Gedanken des Rechts wird.11 Auch differenziert er zwischen modernem Despotismus bzw. moderner Tyrannei und deren klassischen Formen, weil erstere strukturell sei. Grund­legende Bedeutung hat das Kapitel zum Wandel der politischen Sprache durch die Demokratie im zweiten, dem 1840er Band über die amerikanische Demokratie.12 Dort spezifiziert Tocqueville, dass in Demokratien generell die Bewegung und das heißt auch die Veränderung der politischen Sprache um ihrer selbst willen geliebt wird.13 Demokratische Völker würden leidenschaftlich Gattungsbezeichnungen und abstrakte Wörter nutzen.14 Dabei gilt: »Ein abstraktes Wort ist wie eine Schachtel mit doppeltem Boden: man legt die gewünschten Gedanken hinein, und zieht sie wieder heraus, ohne daß jemand es sieht«.15 Es sind solche pointierten Beobachtungen, die Koselleck später zu Prägungen wie »Bewegungsbegriffe« und »Kollektivsingulare« verdichten wird. Die von Tocqueville seinerzeit kritisch beschriebene emotive Aufladung politischer Begriffe führt er auf ihre inhaltliche Entleerung und Abkopplung von Er8 Einen Überblick, der allerdings nicht in die Tiefe geht, bietet Gordon, Daniel, Tocqueville and Linguistic Innovation, in: ders. (Hg.), The Anthem Companion to Alexis de Tocqueville, London 2019, S. 65–87. 9 Die ÜDA Verweise beziehen sich auf die deutsche Ausgabe von De Tocqueville, Alexis, Über die Demokratie in Amerika, 2 Bd., Zürich 1987. 10 Vgl. De Tocqueville, Demokratie, Bd. I, S. 48. 11 Vgl. ebd., S. 355. 12 Vgl. De Tocqueville, Demokratie, Bd. II, S. 95 ff. 13 Ebd., S. 933. 14 Ebd., S. 102. Das Abstraktionsproblem spielte im 18. Jhd. eine große Rolle (vgl. Paxman, David B., Language and Difference: The Problem of Abstraction in Eighteenth-Century Language, in: Journal for the History of Ideas 54 (1993), S. 19–36), wurde aber selten auf die politische Sprache und deren Wandel bezogen. 15 De Tocqueville, Demokratie, Bd. II, S. 104.

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fahrungen zurück. So setzt die moderne Leidenschaft für die Gleichheit einen abstrakten Begriff der Gleichheit voraus, der durch den Einsatz im Kampf um mehr Gleichheit als ein materieller und komparativer Wert vermittels permanentem Vergleichen mit anderen immer weiter abstraktifiziert wird. Aber auch die Freiheit ist affektiv besetzt und wird zu einem relativ leeren Begriff. Freiheit meint in der Moderne keine bestimmte Freiheit, wie etwa Presse oder Koalitionsfreiheit, sondern Freiheit schlechthin, abgelöst von bestimmten Praktiken. Tocqueville macht einen kategorialen Unterschied zwischen der Gleichheit – als materiellem Wert, der zu wirtschaftlicher Dynamik führt, aber via Vergleich auch Neid sozialer Desintegration bzw. Forderungen nach staatlicher Unterstützung hervorruft – und der Freiheit, die er als einen Selbstwert begreift. Freiheit und Gleichheit stehen nach Tocqueville in einem Spannungsfeld, das hier nicht näher zu charakterisieren ist. Die äußerst knapp resümierten allgemeinen Überlegungen von Tocqueville markieren nur Ausgangspunkte seiner Analyse der Spezifik der modernen politischen Sprache, die um die Frage kreist, inwieweit Erfahrungen in sie eingekapselt sind. Es muss hervorgehoben werden, dass er dabei keine einheitliche politische Sprache in der Demokratie unterstellt, sondern sektorale Spezifikationen vornimmt. So hat die Presse eine eigene Sprache, womit vornehmlich deren Direktheit und Skandalisierung angesprochen werden.16 Noch wichtiger aber ist die Juridifizierung der politischen Sprache in der Demokratie. In einer berühmten Erläuterung des amerikanischen Rechtswesens zeigt Tocqueville, dass dies einesteils die Sprache einer Elite ist, die er für wichtig hält. Anderenteils stellt er dar, dass die Institution des Geschworenengerichts, die er hinsichtlich der Sachkompetenz für problematisch hält, den positiven politischen Effekt hat, die Bürger mit dieser Sprache vertraut zu machen. Tocqueville beschreibt den großen Wandel der Sprache also in mehrfacher Hinsicht. Insofern kann er als erster Analytiker der von Koselleck trefflich getauften »Sattelzeit« in einem internationalen Rahmen bezeichnet werden, wobei in der Schrift über die amerikanische Demokratie der Schwerpunkt auf den 1830er Jahren und dem Vergleich der USA mit Frankreich liegt. Aber Tocqueville ist contre cœur zugleich ein Protagonist dieses Wandels, der zur abstrakteren politischen Sprache führt, was sich unter anderem an seiner ubiquitären Verwendung des Terminus Demokratie zeigt. Der Tocqueville-Kenner James Schleifer hat mehr als zehn Bedeutungen dieses Begriffs in »Über die Demokratie in Amerika« identifiziert, die von demokratischer Politik, Gesellschaft bis zu demokratischer Lebensform reichen.17 Bei seinen Analysen der politischen Sprache geht Tocqueville auf einige wichtige Begriffe besonders ein, aber weniger auf den Wandel der politischen Sprache als Ganzes. Auch wenn bei ihm in keiner Weise von einem »die Sprache spricht« à la Heidegger und Gadamer die Rede ist, begreift er den Wandel zum Abstrakten 16 Vgl. De Tocqueville, Demokratie, Bd. I, S. 269. 17 Vgl. Schleifer, James T., The Making of Tocqueville’s ›Democracy in America‹, Indianapolis, 2 2000, S. 325–339.

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und die Abnahme der Erfahrungssättigung als einen nicht intendierten Effekt. Tocqueville hält die politische Sprache nämlich für ein komplexes Medium, das man nicht, wie der utilitaristische Rationalist Bentham18 glaubte, reinigen und vereindeutigen oder – wie Marx unterstellt – verwissenschaftlichen kann. Sie bildet ein dynamisches Geflecht aus allgemeiner Sprache, Presse-, Rechts- und Verwaltungs- und Parlamentssprache, wobei es Übergänge zwischen den Bereichen gibt. Die Kompositionen der heterogenen Elemente unterscheiden sich zudem nach Ländern, deren Institutionen und Entwicklungspfaden. 2. Vergleichende Analysen. In der Forschung ist in den letzten Jahrzehnten immer stärker das komparative Vorgehen von Tocqueville herausgearbeitet worden, wobei die seit einiger Zeit zugänglichen Reisenotizen und Nachlassmaterialien den Horizont erweitert haben.19 Das ist auch für seine Analyse der modernen politischen Sprache relevant, die erst durch die Einbeziehung der Vergleichsdimension abgerundet werden kann. Tocqueville verbindet bei seinen Analysen nämlich die strukturelle Entwicklung in Amerika, Frankreich und England mit der jeweiligen politischen Kultur.20 In diesem Kontext treten unterschiedliche Gehalte tragender moderner Begriffe hervor – so wird Volkssouveränität in Frankreich etatistisch und in den USA nicht-etatistisch verstanden. Deshalb muss man genau hinsehen und die Semantiken auf die divergierenden nationalen Sitten und Institutionen, das heißt auf die politische Kultur, beziehen. Meine auf drei Ländern fokussierte knappe Skizze soll verdeutlichen, wieweit Tocqueville, wenn man der jüngeren Forschung folgt, dabei gekommen ist, um klären zu können, was Koselleck bei dem französischen Autor für eine über den deutschen Kontext hinausgehende Begriffsgeschichte hätte finden können. Frankreichs Weg in die Demokratie ist für Tocqueville durch den absolutistischen Zentralisierungsprozess der Regierung und die gleichzeitige Zentralisierung der Verwaltung geprägt, die nicht nur zum Verlust aristokratischer Freiheit und damit politischer Erfahrung von aristokratischer Selbstverwaltung führen, sondern auch zur Genesis einer neuen Schicht praxisferner politischer Schriftsteller, 18 Vgl. Bentham, Jeremy, The Book of Fallacies, London 1824. Aber Bentham geht zumeist rationalistisch vor. Nur was das Parlament und die Sprache in ihm betrifft, stellt er eine Verbindung zu Institutionen her. Hier wird auch, aber abwehrend das Thema der Emotionen gestreift, Parlamente sollen Gasttribünen haben und »Fenster« nach draußen, damit die Abgeordneten unter den Augen der Öffentlichkeit agieren. Aber Frauen sind als Besucher auf den Emporen nicht vorgesehen, da die (männlichen) Parlamentarier, dann statt zu argumentieren zum »Posing« übergehen würden. Vgl. Weiß, Alexander, Theorie der Parlamentsöffentlichkeit. Elemente einer Diskursgeschichte und deliberatives Modell, Baden-Baden 2010, S. 40 f. 19 Vgl. u. a. Dunn Henderson, Christine (Hg.), Tocquevilles Voyages, Indianapolis 2014 sowie die wegweisende Arbeit von Drescher, Seymour, Tocqueville and England, Cambridge (Mass.) 1964. 20 Ich klammere aus, dass dabei eine teleologische Sicht zum Tragen kommt. Tocqueville misst den historischen Ausgangspunkten (point de départe)  wegweisende Bedeutung zu. Vgl. ders., Demokratie, Bd. I, S. 45 ff.

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die später Intellektuelle genannt werden. Diese Schicht wird die Gleichheit als den Leitwert propagieren, ihn in der politischen Selbstauslegung der Gesellschaft verankern und dadurch den Pfad zu zentralistischen Strukturen befestigen. Die praxisfernen Intellektuellen tragen zur abstrakten politischen Sprache maßgeblich bei, aber nur wenn man auch die Entstehung einer zentralisierten Verwaltungsbürokratie einbezieht, wird klar, warum nun zentralistische Planungsideen Raum greifen können. Diese beiden abstrakten Vorstellungswelten leisten nach Tocqueville in ihrer Vermischung radikal-egalitären Ideen Vorschub und führen schließlich zum zukunftsorientierten Utopismus der Sozialisten, die die ganze Gesellschaft umgestalten wollen. In den USA hingegen haben wir es mit einer Demokratie zu tun, deren Leitwert die Freiheit bildet. Diese ist zwar durch demokratieinterne Dynamiken bedroht, bleibt aber im subsidiären System auf der Ebene der Kommunen, der Counties, der Staaten und des Bundesstaates verankert. Die Sprache der Volkssouveränität und der Freiheit stellt auf Selbsttätigkeit ab, die auf den höheren Ebenen allerdings nur eingeschränkt realisiert werden kann. Die politische Kultur ist durch die Zentralisierung von Regierung, die zudem in ihren Befugnissen limitiert ist, und nicht durch eine Verwaltungszentralisierung auf den verschiedenen Stufen des föderativen Systems gekennzeichnet. Darüber hinaus sind die in meinem ersten Punkt skizzierten Expertensprachen (im Recht und Verwaltung) und deren partielles Einsickern in die allgemeine politische Sprache in Rechnung zu stellen. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Tocqueville, der in seinem Reisetagebuch für die amerikanische Einwanderungsgesellschaft und deren divergierende Sprachen 1831 noch gefragt hat, was diese überhaupt zusammenhält, und das Selbstinteresse dafür identifiziert21, später in »Über die Demokratie in Amerika« betont, dass die Institutionen und Erfahrungen in der kommunalen Selbstverwaltung Urquelle und Jungbrunnen für die gemeinsame politische Sprache bilden. In England – einer aristokratisch geprägten Gesellschaft, der, so Tocqueville 1835, die eigentliche demokratische Revolution in Richtung von mehr Gleichheit noch bevorsteht – liege der Schlüssel zum Verständnis in der Zentralisierung der Legislative, ohne gleichzeitige Zentralisierung der Administration. Hinzu kommt eine Aristokratie, die mit den öffentlichen Dingen verbunden bleibt, in die Welt einbezogen wird und auf Reichtum statt auf Geblüt setzt.22 Darüber hinaus kennzeichne die englische Gesellschaft eine paradoxe Verbindung des Geistes von Vereinigungen bei gleichzeitiger Exklusivität23, die zwar begrenzte Flexibilität ermöglicht, sich aber deutlich von der Offenheit der amerikanischen Vereinigungen unterscheidet. Diese spezifisch englische Welt sieht Tocqueville als gefährdet an, erkennt aber, weil die Elite weniger abgeschlossen und politisch integrierter sei 21 Vgl. Zunz, Olivier (Hg.), Alexis de Tocqueville and Gustave de Beaumont in America. Their Friendship ad Their Travels, Charlottesville 2010, S. 38. 22 Vgl. De Tocqueville, Alexis, Journeys to England and Ireland, hg. von Mayer, J. P., New Haven 1958, S. 59. 23 Vgl. ebd., S. 88.

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als die französische, Reformmöglichkeiten. Der Adel sei ohnehin verbürgerlicht und die Mittelklasse orientiere sich zumindest partiell an ihm. Aus den knapp benannten Gründen erwachsen eine politische Kultur und Sprache, in der die politischen Auseinandersetzungen öffentlich und pragmatisch geführt werden. Aber der Pragmatismus ist aristokratisch imprägniert und unterscheidet sich von der amerikanisch-hemdsärmeligen Variante, er prägt aber nach Tocqueville die gesamte englische politische Kultur. Wie wichtig für Tocqueville die Differenzen in der politischen Kultur sind, verdeutlicht ein Resümee über die Intellektuellen in Frankreich und England. Er notiert am 29. Mai 1835 auf einer Reise durch England: »In brief, at present I think that an enlightened man, of good sense and good will would be a Radical in England. I have never met those three qualities together in a French Radical.«24 Französische Radikale gelten – wie es wenige Zeilen vorher heißt – als praxisfern, abstrakt, sie kritisieren das Eigentum prinzipiell und wollen den Staat nutzen, um die Lage der Menschen zu verbessern. Tocqueville bettet die Sprache in politische Kulturen ein, wobei ihre Analyse den Zugang zu politischen Ideen und deren Verankerung in Sitten, Praktiken und Leidenschaften sozialer Akteure eröffnet. Das heißt erst wenn man die politische Kultur begreift, dann hat man nach Tocqueville den Schlüssel zum Verständnis wie die jeweiligen Institutionen funktionieren.25 Die meisten Belege, die ich bisher angeführt habe, entstammen dem Werk »Über die Demokratie in Amerika«, also der Zeit zwischen 1830 und 1840. Aber auch in seinem Spätwerk »Der alte Staat und die Revolution« finden sich viele wichtige Überlegungen, die zeigen, dass Tocqueville diesen Gedankenstrang auch am französischen Beginn der »Sattelzeit« verfolgt. Dort analysiert er nämlich die Sprache der Aufklärung vor 1789 und stellt darauf ab, dass die meisten französischen Aufklärer kaum politischen Erfahrungen hatten, aber wirkmächtig waren: »Sogar die Sprache der Politik nahm damals etwas von derjenigen der Schriftsteller an; sie wimmelte von allgemeinen Ausdrücken, abstrakten Bezeichnungen, gesuchten Worten, literarischen Wendungen.«26 Der Einzug der Intellektuellen in die Politik und die Verbreitung ihrer Sprache in vielen sozialen Schichten, ihre Verankerung in den Leidenschaften gelten als Voraussetzung für die Radikalität von 1789, werden doch damit überzogene Projekte genährt.27 Seine Kritik an den Intellektuellen setzt Tocqueville in einer Attacke auf die Physiokraten fort. Er wirft ihnen nicht nur eine problematische Verwissenschaft24 Ebd., S. 87. 25 Kosellecks Aufsatz »Drei bürgerliche Welten« mutet wie eine von tocquevillianischem Geist inspirierte Begriffsgeschichte auf breiten Fundus an, enthält aber nur eine einzige Referenz auf Tocqueville und die bezieht sich auf ein Bündnisproblem in der 1848er Revolution vgl. Koselleck, Reinhart, Drei bürgerliche Welten, in: ders. Begriffsgeschichten, S. 402–461, hier 451. 26 De Tocqueville, Alexis, Der alte Staat und die Revolution, München 1978, S. 149 f. 27 In den Materialen zur Fortsetzung des Buches über das Ancien Regime, die Geschichte sollte bis zu Napoleon I. reichen, finden sich viele weitere Hinweise zum Wandel der Sprache vor und in der Revolution.

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lichung der Sprache vor, sondern dass sie die ganze Gesellschaft verändern wollen. Tocqueville enträtselt die auf Sozialwissenschaft gestützte zentralistische Planung als Akt der Selbstermächtigung, der auf eine Entpolitisierung von großen Teilen der Gesellschaft hinausläuft. Die Physiokraten, die den Staat zu ordnen und seinen Finanzen zu sanieren suchen, werden hier zu Vorläufern eines demokratischen Despotismus, einer mechanistisch-zentralistischen Ordnung. In ihrer abstrakten Sprache, die alle Erfahrungen komplexer gesellschaftlicher Gebilde wegwischt, erkennt Tocqueville die Vorläufer des Sozialismus, den er 1848 am Werk gesehen hat.28 Zu den Stärken von Tocqueville gehört, dass er sich für Übergangsformen interessiert. In der Schrift über die Demokratie betont er, dass der moderne, neuartige Individualismus als selbstbezügliche Gefühlsdisposition darin besteht, sich abzusondern, eine kleine Gesellschaft zu schaffen und die große Gesellschaft sich selbst zu überlassen. Die Konsequenz war, dass die Selbstsucht alle Tugenden ausdörrt, dass der Individualismus »vorerst nur den Quell der öffentlichen Tugenden trocknet; mit der Zeit aber greift er alle andern an und zerstört sie und versinkt schließlich in Selbstsucht.«29 Das Buch über das Ancien Regime enthält vertiefte Erkenntnisse über den demokratischen Individualismus, der sich von der Selbstsucht, dem puren Egoismus, den es immer gab, unterscheidet. Bei der Dekomposition der Klassenstruktur der französischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert beobachtet Tocqueville, wie die Kohäsion der Klassen und der Zusammenhang von Klassen sich wandelt. Es ist eine wichtige Passage, die nahezu komplett zitiert werden muss, weil sie die soziale Genauigkeit seiner Beobachtung offenbart: »Unsere Väter hatten das Wort ›Individualismus‹ nicht, […], weil es zu ihrer Zeit allerdings kein Individuum gab, das nicht zu einer Gruppe gehörte und sich als ganz alleinstehend hätte betrachten können; aber jede der tausend kleinen Gruppen, aus denen die französische Gesellschaft bestand, dachte nur an sich. Es war dies, wenn ich mich so ausdrücken darf, eine Art kollektiver Individualismus, der die Gemüter auf den uns bekannten eigentlichen Individualismus vorbereitete.«30 Die Aussagen und Beispiele, die den Wandel der politischen Sprache betreffen, ließen sich leicht vermehren. Aber schon die wenigen ausgewählten Stellungnahmen zeigen, wie facettenreich Tocqueville dabei vorgeht. Wenn er Grundtendenzen im Wandel der modernen politischen Sprache untersucht, erfolgt dies im Kontext von Strukturen und Erfahrungen. Ihn interessiert, wie Begriffe, Ideen und Deutungen Erfahrungen ermöglichen bzw. verunmöglichen. Um den Blick für das Neue zu eröffnen entwirft er und Bedrohungsszenarien der Freiheit, nach denen aus der Demokratie eine neue strukturelle Tyrannei, ein vormundschaftlicher Staat bzw. eine industrielle Despotie erwachsen könne.31 Solche Prognosen

28 29 30 31

De Tocqueville, Staat, S. 163 f. De Tocqueville, Demokratie, Bd. II, S. 147. De Tocqueville, Staat, S. 103. De Tocqueville, Demokratie, Bd. II, S. 463.

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dienen der Bildung von realistischen Erwartungen, die konstitutiv für die Bewahrung von Freiheit sind. Mit seinen mehrstufigen Analysen (generelle Merkmale der modernen politischen Begriffe, deren Einbettung in politische Kulturen, die sektorale Differenzierung der politischen Sprache)  hat Tocqueville den Blick auf den markanten Wandel der politischen Sprache im internationalen Kontext gelenkt und bietet, vom Konzept der Untersuchung der Geschichtlichen Grundbegriffe in Deutschland her gesehen, viele Andockstellen für Koselleck. Die Verknüpfung von politischer Sprache und Erfahrung eröffnet den Weg zum Verständnis der Spezifik moderner Begriff, aber auch zur Erkenntnis von divergierenden historischen Varianten.

II. Kosellecks Tocqueville – Eine Spurensuche Es gibt eine Serie von Hinweisen, die für eine anhaltende Wertschätzung und Auseinandersetzung von Koselleck mit Tocqueville sprechen. Erste Stellungnahmen rühren aus dem Studium her, dazu kommen Denkanstöße von Gelehrten, eine bisher kaum bekannte Vertiefung in Bristol (1954–56). Danach werden die Spuren zwar dünner, aber es finden sich doch immer wieder Erwähnungen. Wenngleich inhaltliche Fragen, wie das Thema der Revolution oder der Anti-Utopismus, dominieren, werden auch methodische Anregungen zum Wandel der politischen Sprache sichtbar. Kosellecks Interesse an Tocqueville bleibt bis in das Spätwerk hinein erhalten, wofür nicht nur seine eigenen Verweise sprechen. Er sammelt zudem Zeitungsartikel und Hinweise auf den großen Franzosen und platziert viele davon als Einlagen in seinen Tocqueville Bänden – in der in Marbach aufbewahrten Bibliothek sind es sechs Bände.32 Eine sehr wichtige Passage von Koselleck über Tocqueville findet sich im Aufsatz »Erfahrungswandel und Methodenwechsel«, auf die ich noch mehrfach zurückkommen werde. Sie lautet: »Die gesamte französische Historie nach 1789 läßt sich, langsam abnehmend, danach gliedern, wer sich jeweils welcher Revolutionsphase zuordnete und so zu den Besiegten gehörte oder zu den phasenverschobenen Zwischensiegern. Die herausragende Figur ist freilich – an diesen temporalen Brechungen gemessen – Tocqueville, der als Aristokrat den Untergang seines Gesellschaftsstandes grundsätzlich akzeptiert hatte. Er blieb ein Besiegter. Von ihm stammt die erste langfristige Deutung der Revolution, deren Gründe durch die revolutionären Ereignisse nur verstärkt wurden, im Zuge wachsender administrativer Erfassung einer proportional dazu gleicher werdenden Gesellschaft. Die Revolution wurde zum Beschleuniger anhaltender Trends, was die Zwischensieger als ihren Erfolg, die Besiegten als ›Geschichte‹ erfuhren. Gleich-

32 Das sind eine französische (1942) und eine deutsche (1954) Ausgabe der Souvenirs; L’ancien régime et la révolution (1952); Der alte Staat und die Revolution (1959); Democracy in America (1946) und Über die Demokratie in Amerika (1976). Alle enthalten Lesespuren.

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sam seitenverkehrt läßt sich Marx lesen.«33 Hier sind drei Motive versammelt, die Koselleck besonders interessieren und die im Folgenden näher betrachtet werden: die Perspektive des Besiegten, das Revolutionsverständnis und der Gegensatz von Tocqueville und Marx. 1. Rezeptionsspuren34 und Lektürepfad. Fragt man in werkgeschichtlicher Perspektive nach Denkanstößen, die zur Auseinandersetzung mit Tocqueville geführt haben, so kommen in den frühen 1950er Jahren vor allem zwei Autoren in den Blick, welche zu jenen fünf Gelehrten zählen, die nach Olsen eine »extraordinary impression on Koselleck« gemacht haben.35 An erster Stelle steht Karl Löwith, mit dem Koselleck während seines Studiums in Heidelberg bis zu seiner Promotion in mehrfacher Hinsicht verbunden war. Bekanntlich übersetzt er einen Teil von dessen Buch »Meaning in History« ins Deutsche. Man kann davon ausgehen, dass Koselleck auch andere Bücher von ­Löwith kannte, wozu dessen »Von Hegel zu Nietzsche« mit einem wichtigen TocquevilleKapitel zählt. Dort wird thematisiert, wie aus der bürgerlichen Demokratie die demokratische Despotie entsteht. Gerade diese Verwandlung dürfte nach dem Nationalsozialismus auf neue Weise Aufmerksamkeit gefunden haben, genau wie das Verständnis von Freiheit als Gegengewicht zur Gleichheit.36 Zweitens sind Anregungen von Carl Schmitt zu nennen. Schmitt hat Tocqueville Ende der 1940er Jahre in einem seiner Vexierspiele zum größten Historiker des 19. Jahrhundert erhoben und schreibt ihm den Blick des Unterlegenen, des Besiegten zu.37 Das ist eine Stellungnahme, die Koselleck mehrfach zitiert, die auch in Gesprächen von Schmitt und Koselleck Anfang der 1950er Jahre Thema gewesen dürfte.38 Begibt man sich im Marbacher Literaturarchiv auf eine Spurensuche zum frühen Koselleck, so ist vor allem ein Manuskript wichtig sowie eine Reihe von 33 Koselleck, Reinhart, Erfahrungswandel und Methodenwechsel, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2003, S. 27–77, hier 75 f. 34 Ich danke dem Literaturarchiv in Marbach für die Unterstützung beim Auffinden der Spuren.  – Vgl. auch Reinhard Laube, Zur Bibliothek Reinhart Kosellecks, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2009), S. 97–112. 35 Olsen, History, S. 19. 36 Auch Otto Vossler, der Gastprofessor in der Studienzeit von K. in Heidelberg war, könnte ihn zu Tocqueville-Lektüre angeregt haben, vgl. Dutt, Carsten / Koselleck, Reinhart, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 34. 37 Schmitt, Carl, Historia in Nuce, in, ders., Ex captivitate salus, Köln 1950, 25–33, hier S. 27. Die Neuausgabe des Glossariums von Schmitt (Schmitt, Carl, Glossarium, Aufzeichnungen aus den Jahren 1947–1958, hg. von Giesler, Gerd / Tielke, Martin, Berlin 22015) verzeichnet acht Nennungen von Tocqueville in den Aufzeichnungen zwischen 1947 und 1958. Zum Verhältnis von Carl Schmitt und Alexis de Tocqueville vgl. Cotesta, Vittorio, Global Society and Human Rights, Leiden / Boston 2012, S. 101–123 und Camus, Anaïs / Storme, Tristan, Schmitt and Tocqueville on the Future of the Political in Democratic Times, in: The Review of Politics (74) 2012, S. 659–684. 38 Vgl. Olsen, History; Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, hg. von Jan Eike Dunkhase, Der Briefwechsel 1953–1983, Berlin 2019, S. 252.

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Marginalien in Bänden seiner Bibliothek. Schon im 1949er Vortrag im Seminar von Alfred Weber wird Tocqueville explizit als »großer französischer Historiker« erwähnt.39 Das Interesse liegt hier auf der Französischen Revolution als »Diesseitsrevolution«. In »Kritik und Krise« finden sich keine Verweise auf Tocqueville.40 In den frühen 1950er Jahren, als Koselleck von 1954 bis 1956 in Bristol weilt, lassen sich allerdings verschiedene Lektürespuren entdecken. Selbstverständlich ist die Schrift über das Ancien Regime dabei, aber Koselleck liest auch in einer gekürzten englischen Ausgabe von »De la démocratie en Amérique«, die er erworben hat.41 In seinem Demokratieband findet sich eine ganze Reihe von Anstreichungen, die die Problematik des Wandels der Sprache berühren. Neben der bereits zitierten Passage zur Schachtel mit doppeltem Boden und weiteren zum »abstrakt-Werden« der Sprache, wird die Vorliebe für Substantivierungen kritisch vermerkt. Dabei entgeht Koselleck etwas die prinzipielle Dimension, die der Wandel der politischen Sprache bei Tocqueville in dieser Schrift hat. Seine Markierungen und Anmerkungen zeigen zwar ein breites Interesse an dem französischen Autor; ausdrückliche Bezüge auf Tocquevilles begriffsgeschichtliche Einsichten, die wichtigen Punkte zum Wandel der politischen Sprache enthalten, finden sich indes fast nur in den Lesenotizen von dessen Werken. Wenn Koselleck einmal pointiert, er sei im Studium noch kein Begriffshistoriker gewesen, so begibt er sich mit seiner Promotion über »Kritik und Krise« (1954) und bei deren Überarbeitung zur Publikation (sie erscheint 1959) auf diesen Pfad.42 Setzt man den ersten Überblick zur Tocqueville-Rezeption von Koselleck chronologisch noch etwas fort, ist zu konstatieren, dass im Buch »Preußen zwischen Reform und Revolution« (1967) mehrfach auf das Thema der Verwal39 Vgl. »Der Jakobinismus und die Französische Revolution«, die Erwähnung findet sich auf der ersten Seite, auf der folgenden wird die Referenz wiederholt, vgl. den Abdruck des Vortrags im vorliegenden Band. 40 Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959. 41 Es handelt sich um de Tocqueville, Alexis, Democracy in America, hg. von Steele, Henry, übers. v. Henry Reeves, London 1946. 42 Nach der Bristoler Zeit und der Rückkehr nach Heidelberg könnten es 1956 auch Impulse von Hannah Arendt gewesen sein, die erneut die Aufmerksamkeit auf Tocqueville lenkten. Jedenfalls hat Arendt Tocquevilles Beschwörung, die sich am Ende des Demokratie-Bandes findet, prominent gemacht hat. Dort heißt es: »Da die Vergangenheit die Zukunft nicht mehr erhellt, tappt der Geist im Dunkeln.« (De Tocqueville, Demokratie, Bd. II, S. 482; Arendt, Hannah, Zwischen Vergangenheit und Zukunft, München 1994, S. 11) – diesen Satz wird Koselleck ab 1967 mehrfach zitieren wird, um auf den Erfahrungsverlust in der Moderne und die geringe Möglichkeit des Lernens aus der Geschichte zu verweisen. Koselleck hat Arendt 1956 kennengelernt, wann er auf ihre Schriften gestoßen ist, bleibt etwas unklar (vgl. Huhnholz, Sebastian, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungskontexte und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks »Kritik und Krise«, Berlin 2019, S. 21–24). Zu einem konzeptionellen Vergleich von Arendts und Kosellecks historischpolitischem Denken vgl. Hoffmann, Stefan-Ludwig, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 171–204.

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tungszentralisation angespielt wird.43 In einer Reihe von weiteren Texten, finden sich immer wieder mal Verweise auf Tocqueville. Sie stehen oft im Kontext des Revolutionsthemas, des Theorems, wonach Besiegte bzw. Verlierer besser Geschichte schreiben, aber auch im Zusammenhang der Verwaltungszentralisation. Zumindest am Rande sei erwähnt, dass der Mediävist Otto Brunner, aber auch Werner Conze bei dem dies nahegelegen hätte, nicht von Tocqueville beeinflusst sind und Koselleck bei der Entwicklung seiner Konzeption der »Geschichtlichen Grundbegriffen« demzufolge auch nicht auf ihn aufmerksam gemacht haben.44 Gegen eine starke Tocqueville-Rezeption spricht auch, dass die Geschichtlichen Grundbegriffe, wenn man dem gründlichen Personenregister folgt, nur 18 Verweise auf Tocqueville enthalten. Selbst im Revolutionsartikel findet sich keine Referenz von Koselleck auf Tocqueville.45 Dem muss man die 1979er Passage in »Liberales Geschichtsdenken« entgegenhalten, die geradezu eine Laudatio auf Tocqueville bietet, der zwar der niedergehenden Aristokratie entstamme, aber mit den Liberalen, die Akzentuierung der Freiheit teile, und aufgrund dieser besonderen Position »weiter […] sehen konnte«.46 Aber Tocqueville könnte, wenn man die knapp aufgelisteten Belege betrachtet, für Koselleck durchaus ein Bezugsautor gewesen sein.47 Wie wichtig er tatsächlich war, kann nach dem ersten Überblick noch abschließend nicht beurteilt werden. Kosellecks Tocqueville-Rezeption erfolgt primär anhand der Schrift »Der alte Staat und die Revolution«, was seinem mehrfach bekundeten Interesse daran entspricht, wie Utopismus entsteht und zu apolitischem Handeln führt. Als attraktiv erwies sich dabei, neben dem historischen Sinn, der Gegenwartsbezug. Koselleck unterstreicht in seiner Ausgabe von »Der Alte Staat und die Revolution« (1959) 43 Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution, Allgemeines Landrecht, Verwaltung und Soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967. Wie sehr Koselleck von Tocqueville inspiriert war, kann an einem Vorläufer seines Preußen-Buches abgelesen werden. Dort spielt der Franzose für die Diagnose der Französischen Revolution und auch der Allgemeinen Landrechtes eine Schlüsselrolle. Vgl. Koselleck, Reinhart, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815–1848, in: Conze, Werner (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, Stuttgart 1962, S. 79–112, v. a. 79–81. 44 Zu Conze vgl. Jan Eike Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010. In Conzes wichtigem Aufsatz »Vom ›Pöbel‹ zum ›Proletariat‹« [1954] wird Tocqueville nicht erwähnt, wiewohl er zwei berühmte Memoires zum Pauperismus verfasst hat. Zu Brunner vgl. Blänkner in diesem Band. 45 Nur Christian Meier hat in seinem Abschnitt des Lemmas Revolution in den Geschichtlichen Grundbegriffen einen Verweis auf Tocqueville (Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 5, S. 661). 46 Koselleck, Reinhart, Liberales Geschichtsdenken, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, S. 198–227, hier S. 221. 47 Auch Kosellecks Wertschätzung für den Skeptizismus von Jacob Burckhardt – mit dem er sich bekanntlich früh in einem Seminarvortrag auseinandergesetzt hat – weist in die gleiche Richtung.

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eine Passage aus einem Brief von Tocqueville (vom 10. Jan. 1851 an Sorrent), die sich in der Bandeinleitung von Luc Monnier findet. Dort heißt es mit Blick auf das Projekt einer »Vorgeschichte« der 1789er Revolution: »Es muss für mich ein Gegenstand der Gegenwart sein, der mir die Möglichkeit gibt, die Tatsachen mit den Ideen zu mischen.«48 2. Geschichtsschreibung und Besiegtenperspektive. Carl Schmitt hat bekanntlich die Besiegtenperspektive als erkenntnisfördernd privilegiert, für sich reklamiert und sich damit auch apologetisch aus seiner aktiven Verstrickung in Nationalsozialismus zu lösen versucht. Koselleck nimmt den Impuls, diese Perspektive auszuloten auf, und transformiert sie. Das Thema war ihm angesichts der historischen Situation in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg offensichtlich sehr wichtig. Er zitiert Schmitt nicht nur öfter in diesem Kontext, sondern macht deutlich, dass diese Perspektive für ihn in genereller Hinsicht wesentlich ist. Was er damit meint, hat in jüngerer Zeit einige Aufmerksamkeit gefunden, wobei Christian Meier in einem Interview betont hat, dass Koselleck erst später die Perspektive der Opfer thematisiert.49 Für Kosellecks Inanspruchnahme der Besiegtenperspektive spielen Bezüge auf Tocqueville eine bisher wenig ausgeleuchtete Rolle.50 In Bristol liest Koselleck Maxime Leroys Buch über Geschichte der sozialen Ideen in Frankreich und streicht einen Satz an, den er offensichtlich als Bestätigung empfunden hat: »Un jour, Guizot dit avec dédain à Tocqueville: Vous êtes un aristocrate vaincu qui accepte sa defait«.51 Außerdem ziert diese Stelle am Rand noch ein »sic!«. Im Zitat wird Tocqueville vom konservativ gewordenen Guizot in einem nach der 1848er Revolution geführten Gespräch zur Quelle für die Besiegtenperspektive. Weiter geht es dann »C’est cette acceptation de l’inévitable qui donne sa qualité à l’intelligence de Tocqueville.« Auch das ist für Koselleck offensichtlich eine Bestätigung, hat doch der Besiegte größere Erklärungsaufgaben vor sich.52 Die Passage von Leroy bleibt, wie weitere nahezu identische Verweise zeigen, im Denken von Koselleck präsent. Mit Blick auf das frühere Werk von Tocqueville, also die Schriften vor 1849, ist es aber problematisch von einer Besiegten48 Monnier, Luc, Einleitung, in: De Tocqueville, Alexis, Der Alte Staat und die Revolution, Bremen 1959, S. 9. 49 Vgl. Meier, Christian, Vom Nutzen der Niederlage für den Historiker. Ein Gespräch, in: Zeit­ schrift für Ideengeschichte 1 (2012), S. 17–31, hier S. 22. 50 Eine Ausnahme bildet Weichlein, Siegfried, Die Verlierer der Geschichte. Zu einem Theorem Carl Schmitts, in: Giordano, Christian / Patry, Jean-Luc / Rüegg, François (Hg.), Trugschlüsse und Umdeutungen. Multidisziplinäre Betrachtungen unbehaglicher Praktiken, Münster 2009, S. 147–165, der die Rolle von Tocqueville dabei erkennt und die Differenzen von Schmitt und Koselleck herausstellt, aber den Quellenbezug nicht näher ausleuchtet. 51 Leroy, Maxime, Histoire des idées sociales en France, Bd. 2, Paris 1962, S. 521. 52 Es könnte gut sein, dass auch Carl Schmitt diese Einschätzung kannte, war er doch mit dem Werk von Guizot gut vertraut. Schmitt liest 1951 Leroys Histoire des idées sociales en France (Auskunft von Gerd Giesler mit Bezug auf einen Brief von Schmitt an Roman Schnur 1951).

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perspektive zu sprechen. Tocqueville bevorzugt für sich eine Situierung auf der Epochenschwelle, eine Lagerung zwischen der Aristokratie und der Ausbreitung der Demokratie. Von diesem Standpunkt aus entwickelt der Franzose seine tiefen Einsichten in die Ambivalenzen und Selbstgefährdungen der Demokratie,53 wobei er erst ab 1849 immer pessimistischer wird. Wenn Koselleck ihm die Besiegtenperspektive zuschreibt, dann ist er in diesem Punkt mehr von Schmitt beeinflusst als von Löwith. Letzterer hatte in »Von Hegel zu Nietzsche« betont, Tocqueville sei »persönlich gegenüber dem Zeitgeschehen in einem vollkommenen Gleichgewicht.«54 Wenig später heißt es: »In Deutschland hat J. Burckhardt Tocquevilles Gedanken über die Demokratie im selben Sinne weitergeführt und die Linien noch um einiges schärfer gezogen, um seine Zeitgenossen zu veranlassen, wenigstens ihre Subordination noch kritisch zu durchdenken‹.«55 Weil Koselleck bei seiner Einschätzung bleibt, zeigt dies nicht nur, wie wichtig für ihn die Situation war, in der er selbst nach dem Zweiten Weltkrieg Geschichte schreiben wollte und die Möglichkeiten dafür erkundet hat, sondern auch, dass er an seiner TocquevilleDeutung festhält, die von dessen Spätwerk ausgeht. Wegen der vielen Diskussionen um die Beziehung Schmitt-Koselleck sei in diesem Zusammenhang auch eine Passage zur Sprache des Parlaments angeführt, die Koselleck bei seiner Bristoler Lektüre der gekürzten Fassung von »Democracy in America« nicht übersehen hat. Denn anders als der Parlamentarismus-Kritiker Carl Schmitt mit seinem strikten Antiuniversalismus, fragt Tocqueville wie Universalismus politisch-kulturell produziert wird. In aristokratischen Gesellschaften würden politische Angelegenheiten immer durch Bezug auf Besonderheiten erörtert werden. In modernen Demokratien sei dies anders. Als Ursache für die generelle Adressierung in der Demokratie gilt, dass deren Anliegen durch Rekurs auf allgemeine Wahrheiten gestützt werden müssen. Erst das mache die Aussagen attraktiv. Die Art der universalistischen Adressierung wird freilich differenziert, denn in den angelsächsischen Ländern sei sie gemäßigt, in Frankreich dagegen falle sie exzessiv aus. Mit resignativem Ton konstatiert Tocqueville dort die Vorherrschaft eines abstrakten Universalismus: »Unsere Redner sprechen oft zu allen Menschen, selbst wenn sie sich nur an ihre Mitbürger wenden.«56 Solche Gedanken zum Sprachgebrauch, welche die Genese von Abstraktheit und deren politisch-kultureller Variation betreffen, finden in der Lektüre des werdenden Begriffshistorikers Resonanz und verdeutlichen Distanz zu Schmitt. Koselleck erstellt im Laufe der Zeit eine ganze Galerie großer Historiker, die alle Geschichte aus der Perspektive der Besiegten schreiben: von antiken Auto53 Wenn Schmitt 1950 ihm den Blick des Verlierers zuschreibt, so trifft er damit nur partiell. Vgl. auch Kahane, Alan, Aristocratic Liberalism. The Social and Political Thought of Jacob Burckhardt, John Stuart Mill, and Alexis de Tocqueville, Oxford 1992, 22017. 54 Vgl. Löwith, Karl, Von Hegel zu Nietzsche, in: ders., Sämtliche Schriften, Stuttgart 1988, Bd. 4, S. 321. 55 Ebd., S. 324. 56 De Tocqueville, Demokratie, Bd. 1, S. 137.

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ren wie Thukydides, Tacitus und Polybios bis in die jüngere Zeit.57 Was er als Vorteil der Besiegtenperspektive auch bei Tocqueville ansieht, blitzt beim späten Koselleck immer mal auf. Auch Tocqueville Referenzen lassen sich finden, deren Zusammenhang aber nicht theoretisch entwickelt wird. So heißt es, Tocqueville verlasse ein einfaches Interessenparadigma58, dass die Besiegtenperspektive erkenntnistheoretisch und systematisch Vorteile erbringe, da sie per se komplexere Erklärungsprobleme stellt, die nicht monokausal angepackt werden können59. Zudem destruiere sie Wunschdenken.60 Tocqueville habe darüber hinaus die Erfahrung gemacht, wie die Moderne aus einer früheren Zeit hervorbricht61 und schaue daher auf Umbrüche und Überlagerungen. Geschichtsschreibung aus der Besiegtenperspektive legt mithin mögliche Geschichten nahe. Der späte Koselleck hat den Besiegten- und Siegerstatus temporalisiert  – wie in dem längeren Zitat am Anfang dieses Abschnittes deutlich wurde. Er spricht nun von Zwischensiegern, zeitweilig Besiegten. Das zeigt, wie der Ansatz dynamisiert und flexibilisiert wurde. Noch deutlicher wird so die Frage: Was hätte anders kommen können, anders sein sollen? Welche Erfahrungen sind verunmöglicht worden? Welche wurden möglich, aber nicht genutzt? Hier hätte Koselleck beim jungen Tocqueville noch viele weitere Anregungen entdecken können, erfindet der Autor in »Über die Demokratie in Amerika« doch das, was man später Szenarien genannt hat, um mögliche Geschichten und Erfahrungen auszuleuchten. Aber dies steht weniger im Zentrum von Kosellecks Rezeption und wird nur unter dem Titel von klugen Prognosen gelegentlich gestreift.62 Vielmehr interessiert sich der Bielefelder Begriffshistoriker für das Thema der Französischen Revolution, in dem sich der strukturelle und sprachliche Wandel in konzentrierter Form findet. 3. Revolution – ein besonderer Kollektivsingular. Das politische Denken nicht nur in Frankreich, sondern insgesamt im Westen stand lange im Bann der Französischen Revolution von 1789, was sich auch daran zeigt, dass François Furet noch 1978 erhebliche Resonanz erzeugte, als er diese Revolution für beendet erklärte.63 Koselleck hat sich seit dem Studium mit dem Thema und Begriff der Revolution 57 Vgl. zudem Koselleck, Reinhart, Arbeit am Besiegten, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2012), S. 5–10; sowie dazu Meier, Nutzen der Niederlage. Koselleck erweitert das BesiegtenTheorem hier zu einer generellen strukturellen Lagerung. 58 Vgl. Koselleck, Sinn und Unsinn, S. 223 f. 59 Vgl. Koselleck, Reinhart, Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt 2000, S. 68. 60 Vgl. Koselleck, Sinn und Unsinn, S. 223 f. 61 Vgl. Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, S. 47. 62 Vgl. u. a. ebd. S. 87, 156. 63 Vgl. Furet, François, 1789 – Jenseits des Mythos, Hamburg 1989 (Original: ders., Penser la Révolution Française, Paris 1978). Vgl. kritisch dazu Habermas, Jürgen, Volkssouveränität als Verfahren, in ders., Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, S. 600–631, v. a. 600 f. Furet hat bekanntlich die 1789er Revolution zuvor mit Richet schon in eine Serie von Umwälzungen zerlegt. Später stellt er sie in eine von 1770–1870 reichende Epoche.

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befasst und mehrfach Aufsätze dazu publiziert64, inklusive des großen Artikels in den »Geschichtlichen Grundbegriffen«.65 Er interessierte sich für das Revolutionsthema, weil es ihm nach dem Nationalsozialismus und im Angesicht des sowjetischen Kommunismus, der beansprucht Erbe der Jakobiner zu sein, um eine Eingrenzung des Politischen geht. In diesem inhaltlichen Punkt ist er sich mit Tocqueville einig, aber auch begriffsgeschichtlich gibt es Nähen, repräsentiert der Ausdruck »Revolution« doch geradezu ein Musterbeispiel für das, was Koselleck einen Kollektivsingular genannt hat. Schon Tocqueville spricht von der einen Revolution, die seit 1789 in Frankreich im Gange sei und immer wieder in einzelnen Ereignisketten hervorkäme. Diese Redeweise nutzt er über einen größeren Zeitraum in Erwartung eines möglichen demokratischen Abschlusses der Revolution. Eine ganze Epoche wird von ihm und vielen Zeitgenossen mit dem Singular »la révolution« erfasst. Nach 1848 sieht Tocqueville jedoch kaum noch Chancen für einen erfolgreichen Abschluss der Revolution. Das Interessante in diesem Kontext ist, dass er als Skeptiker gegenüber den Allgemeinbegriffen, den erfahrungsfernen Abstraktionen selbst von diesen Begriffen und deren Verwendung nicht loskommt. Der Beobachter der »Sattelzeit« kann zwar durch Rekonkretionen mit Blick auf die vielen Revolutionen (1789, 1830, 1848) den Kollektivsingular Revolution partiell auflösen, bleibt aber an ihn gebunden. Das betrifft auch den 1848 konstatierten Übergang zum Begriff »soziale« Revolution, für den Koselleck Tocqueville als Zeitzeugen namhaft macht.66 Über Tocqueville hinaus differenziert Koselleck den »flexiblen Allgemeinbegriff« Revolution, indem er das Moment von Erfahrungsregistratur, von der Erfahrungsstiftung und dem Erwartungsbegriff dabei voneinander abhebt.67 Mit solchen feinsinnigen Distinktionen lassen sich die Momente der Erfahrung beschleunigten Wandels, dessen weitere Ermöglichung und die verstetigte Erwartung weiterer Dynamik auseinanderlegen.

64 Dazu zählt auch Koselleck, Reinhart, Rezension zu Burke, Edmund Reflections on the Revolution in France, New York 1955, Skalweit, Stephan, Burke und Frankreich, Köln 1956 u. Parkin, Charles: The Moral Basis of Edmund Burkes Thought. An Essay, London 1956, in: Neue Politische Literatur 2 (1959), Sp. 135–140. Dort heißt es: »Solange die Debatte über die Französische Revolution noch eine unmittelbare politische Bedeutung hat, werden die Werke von Edmund Burke gelesen werden. […] Das zeitgebundene Pathos seiner Schriften wirkt noch heute überzeugend, wo es aus Einsichten gespeist ist, die über ihre Ausgangssituation hinausweisen, und diese Einsichten sind nicht wenige.« (Sp. 135) Am Schluss hält er fest, Burke fehle aufgrund seines »Harmonismus« der Sinn für tragische Möglichkeiten (Sp. 140). Den Hinweis auf die Rezension verdanke ich Jan Eike Dunkhase. 65 Das Verständnis von Revolution thematisiert Koselleck seit dem Studium in einer Reihe von Aufsätzen bis hin zum Eintrag »Revolution, Rebellion, Aufruhr, Bürgerkrieg«, in: Brunner / Conze / Koselleck, Grundbegriffe Bd.  5, S.  653–788 und ders., Revolution als Begriff und als Metapher. Zur Semantik eines einst emphatischen Worts, in: ders., Begriffsgeschichten. 66 Vgl. Koselleck, Reinhart, Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 67–86, hier S. 79. 67 Vgl. Koselleck, Reinhart, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Zeitschichten, S. 337 f.

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Hinzu kommt die Suche nach den Gegenbegriffen (Reform, Bürgerkrieg u.am.) als eine weitere Spezifikation.68 Bei der eingangs zitierten Passage des Aufsatzes »Erfahrungswandel und Methodenwechsel« läuft die Pointe der Rollenbeschreibung von Tocqueville auf einen Vergleich hinaus: »Die Revolution wurde zum Beschleuniger anhaltender Trends, was die Zwischensieger als ihren Erfolg, die Besiegten als ›Geschichte‹ erfuhren. Gleichsam seitenverkehrt läßt sich Marx lesen.«69 Der Gesichtspunkt der Beschleunigung und der Bezug zu Marx sind hier besonders interessant. Vom komplexen Verhältnis von langfristig-strukturellem Wandel und Ereignisketten soll hier nur die Dimension der Sprache berührt werden. Tocqueville sucht – um daran zu erinnern – in seinen Studien zur Vorgeschichte von 1789 danach, wo sich in der Sprache Möglichkeiten der späteren Radikalisierung eröffnen, während Koselleck stärker auf die Vielfalt und Variationen eingeht.70 Aber Tocqueville und Koselleck sind sich in dem Punkt einig, dass der Wandel der Sprache nicht nur eine Bedingung der Möglichkeit neue Erfahrungen zu machen und zu artikulieren ist, sondern dass dieser Wandel langsam erfolgt. Koselleck hat dies deutlich herausgestellt und er siedelt, wiewohl es auch ereignishafte Momente dabei geben kann, den Wandel der Sprache systematisch auf die Ebene struktureller Analysen an.71 Die These eines seitenverkehrten Revolutionsverständnisses von Tocqueville und Marx hat Koselleck nicht ausbuchstabiert, aber die Konturen dieses polemischen Kontextes verdienen es, verdeutlicht zu werden. Auch Marx denkt im Schlagschatten von 1789, aber seine Perspektive ist die Radikalisierung des revolutionären Prozesses mit neuen Akteuren. Er meint, und das ist der deutlichste Unterschied zu Tocqueville, Geschichte aus der Perspektive einer in der Zukunft siegreichen Klasse schreiben zu können. Die Zwischensieger werden große Verlierer sein. Die markante Differenz zwischen der als bürgerlich verstandenen Revolution von 1789 und der kommenden Revolution, deren Vorspiel das Aufbrechen des sozialen Klassenkonfliktes 1848 war, bestehe in der Form. Die Revolutionen des Bürgertums müssen sich über ihren Inhalt täuschen, inszenieren große Schauspiele und enden meist mit Enttäuschungen. Die proletarische Revolution werde nicht von »heroischen Illusionen« getragen, in ihr dominiere der Inhalt, der nicht

68 Vgl. ebd.; sowie ders., Vergangene Zukunft – die Verdichtung zum Kollektivsingular sei 1789 erfolgt, als Aspekte des flexiblen Allgemeinbegriffes gelten politische, geschichtsphilosophische Fragen, aber auch der Übergang von politischer zur Bezeichnung soziale Revolution, wie das bewusste Revolutionieren (S. 76, 79, 83). 69 Koselleck, Erfahrungswandel, S. 75 f. 70 Über die in Punkt I dargelegten Gedanken wird das in den Materialien zur Fortsetzung des Ancien Regimes sichtbar, vgl. etwa die Passage zu Sieyes, in: de Tocqueville, Alexis, Œuvres, Bd. III, Paris 2004, S. 537 bzw. ders., Old Regime and the Revolution, Bd. II, Chicago 2001, S. 98 f. 71 Koselleck, Reinhart, Sprachwandel und Ereignisgeschichte, in: ders., Begriffsgeschichten S. 36–55, hier 46.

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durch die Form verdeckt werden müsse.72 Die Verluste und Niederlagen des sich erst formierenden Proletariats werden alle durch eine lichte Zukunft überwölbt, die erst eine kommende Generation erreichen werde. Damit situiert sich Marx als Progressist und bewertet auch die sozialen Kämpfe qualitativ anders als Tocqueville. Aber er bleibt, trotz des Fortschrittsglaubens zweifellos ein »Besiegter«, wie Koselleck in einer Vortragsfassung des Methodenwechsel-Aufsatzes mit Blick auf Marxens »Klassenkämpfe in Frankreich« (1848/49), »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte« (1852) und auch den »Bürgerkrieg in Frankreich« (1871) sagt.73 Denn die frühen sozialistischen Hoffnungen in der 1848er Revolution und die Jahrzehnte später mit der Pariser Kommune aufflackernden Erwartungen sind rasch verflogen. Wenn etwas seitenverkehrt sein soll, dann muss es etwas geben, was sich ähnelt. Diese Gemeinsamkeit liegt nicht in den sowieso divergierenden geschichtsphilosophischen Annahmen.74 So sehr beide Autoren die kollektiven Akteure (Klassen) betonen, Revolutionen als Ereignisfolgen beobachtet haben, sind jeweils strukturelle Ansätze entscheidend, die Koselleck auf die Besiegtenperspektive gründet, die zu tiefgründiger Suche nach historischen Ursachen führt. Tocqueville betont dabei, verkürzt gesagt, die Verwaltungszentralisation im Ancien Regime und die zunehmende Gleichheit in den Bedingungen. Marx nimmt bekanntlich eine strukturelle Priorität der von den Produktivkräften getriebene Eigentumsentwicklung an. Beide strukturellen Ansätze nutzen einen Kollektivsingular von Revolution, mit dem eine ganze Epoche von Veränderungen bezeichnet wird und grenzen dies deutlich von einzelnen Revolutionen oder gar Serien von Revolutionen ab, allerdings bleiben die beiden auf verschiedene Zeiträume bezogenen Revolutionsbegriffe aufeinander verwiesen.75 Es fällt auf, dass Koselleck es in der 1988er Publikationsfassung des »Methodenwechsel-Aufsatzes« vorzieht, näher und prinzipiell auf Tocqueville und nicht auf Marx einzugehen. Das spricht zum einen dafür, dass er eher Bedarf sieht, auf den französischen Klassiker hinzuweisen. Zum anderen setzt er Marx aber als systematischen Konterpunkt und Bezugsautor, womit er sich nicht bloß von politisch-polemischer Entgegensetzung fernhält. Tocqueville wird nämlich als liberaler Historiker gelesen, der ohne Fortschrittsidee auskommt und multifaktoriell vorgeht, weshalb er als vorbildlich gilt.76 Die Besiegtenperspektive und skeptische Zukunftserwartungen lassen ihn demnach per se Probleme des Liberalismus und der Demokratie erkennen, die eine komplexe Sicht der Geschichte erlauben. Koselleck deutet Tocqueville im »Methodenwechsel-Aufsatz« weiterhin von der Schrift über das Ancien Regime aus, von seiner unvollendeten Geschichte der 72 Vgl. Marx, Karl, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx Engels Werke, Bd. 8, Berlin 1975, S. 115–207, hier S. 117 f. 73 Koselleck, Arbeit am Besiegten, S. 9. 74 Aus dem Interesse an strukturellem Wandel erwächst auch die Wertschätzung für Lorenz von Stein. 75 Vgl. dazu ders., Revolution als Begriff und als Metapher, S. 241 f. 76 Vgl. ders., Liberales Geschichtsdenken, S. 198–227, hier S. 221 f.

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Französischen Revolution, welche die Wiederkehr des Bonapartismus 1851 erklären soll. Das impliziert, dass das Demokratie-Buch nicht im Zentrum der Anregungen zum Wandel der politischen Sprache steht. Jedoch sind, ohne dass man dies im Detail nachverfolgen kann, die frühen Notizen womöglich auf fruchtbaren Boden gefallen. Tocqueville von der Schrift über das Ancien Regime her zu lesen, hat Konsequenzen; es bedeutet nämlich dreierlei: politisch beim pessimistisch gewordenen Autor ansetzen, der in Frankreich kaum Chancen für eine freiheitliche Demokratie sieht; theoretisch bedeutet es die Dominanz langfristigen strukturellen Wandels gegenüber revolutionären Ereignissen hervorzukehren, und schließlich rückt damit die scharfe Kritik des Utopismus, des falschen Universalismus der Franzosen, denen es an Konkretheit und Pragmatismus mangelt, ins Zentrum Wenn Alfred Schmidt behauptet, Kosellecks These zunehmender Verbreitung von Kollektivsingularen (die Revolution, die Geschichte etc. pp.) in der Moderne gehe auf Karl Löwith zurück, dann hat der damit zwar einen Einfluss markiert, jedoch die Spuren führen weiter zurück.77 Es war Tocqueville, den Löwith – wie bereits erwähnt – sehr schätzte, der diese These im Rahmen seiner Überlegungen zum Wandel der politischen Sprache in der Demokratie schon entwickelt hat. Namentlich für die Begriffe Gleichheit, Freiheit, Demokratie und Revolution arbeitet er – wie gezeigt – deren Abstraktifizierung und Verselbständigung zu emotiv besetzen politischen Ideen heraus.

III. Tocqueville eine Haupt-, Rand- oder Nebenfigur im Denken von Koselleck? Im 1953er Brief an Schmitt hat Koselleck insistiert, dass die Historisierung und Situierung des Historikers, seine Reflexion der Lage, in der er schreibt, wesentlich ist.78 Er verortet sich in den 1950er Jahren deutlich in der Situation des Kalten Krieges und nimmt von dort die Geschichte der Gegenwart wahr.79 Ebenso wie ihn Hannah Arendt interessiert hat, interessiert ihn Tocqueville. Letzterer dient Koselleck mehrfach als Beispiel dafür, dass eine genaue historische Verortung ermöglicht, prognostisch zu argumentieren.80 Das ist eine besondere Umgangsweise mit Tocqueville, die erst im Kontext hervortritt. Mitte der 1930er Jahre 77 Schmidt, Alfred, Die Geburt des Historischen aus dem Geiste der Politik, Basel 2016, S. 455. 78 Brief von Reinhart Koselleck an Carl Schmitt vom 21. Januar 1953, in: Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 9–13. Später hat Koselleck die Geschichte der Standortbindung des Historikers in Deutschland näher untersucht, vgl. Koselleck, Reinhart, Standortbindung und Zeitlichkeit, in, ders., Vergangene Zukunft, S. 176–207. 79 So unterstreicht er, in dem in der Bristoler Zeit erworbenen Exemplar der Souvenirs in Luc Monniers Einleitung (1942, S. 8–17), zu Tocquevilles Einsicht in die Komplexität der Arbeiterfrage, »combattre énergiquement le socialisme« S.11. 80 Es gibt eine ganze Reihe an Verweisen von Koselleck auf Tocqueville als Prognostiker, öfter in einem Atemzug mit Lorenz v. Stein, Karl Marx und Donoso Cortez.

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beginnend und nach 1945 wird Tocqueville nämlich zunehmend als Gegenfigur zu Marx und als genereller Kritiker von Etatismus ins Spiel gebracht. In den USA erfährt Tocqueville im politischen Denken der 1940er Jahre durch George Pierson, Max Lerner und deutsche Exilanten ein Revival. Er wird dort zum totalitarismustheoretischen Gegenspieler von Marx gemacht, wodurch seine demokratischrepublikanischen Züge meist in den Hintergrund rücken, da Liberalismus und Totalitarismus als polemische Gegenbegriffe fungieren. Die Durchschlagskraft dieser Entgegensetzung ist in USA viel größer als in Frankreich oder Deutschland, da Tocqueville dort zum Selbstauslegungsmedium der Demokratie avanciert. Eine Rückkehr von Tocqueville nach Frankreich erfolgt nach dem zweiten Weltkrieg langsam: Raymond Aron bereitet sie in den 1950er Jahren vor und in den 1960er Jahren wird Tocqueville wichtig. Aber verglichen mit der heutigen Wertschätzung ist es bemerkenswert, dass in Ermangelung eines kompetenten französischen Kandidaten mit Jacob Peter Mayer ein deutscher Sozialwissenschaftler, der schon die Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte ediert hat, die Herausgeberschaft der Œuvres complétes von Tocqueville für Gallimard (18 Bd., 1951 ff.) übernimmt. In Deutschland wird Tocqueville erst ab den 1970er Jahren zum anerkannten Klassiker, verweilt aber als Solitär recht einsam im akademischen Raum, was man an der überschaubaren Anzahl von Publikationen zu ihm ablesen kann.81 Die früh einsetzende und anhaltende Wertschätzung von Tocqueville durch Koselleck ist im Kontext dieser Rezeptionslinie eigensinnig und spannt Tocqueville  – wie gezeigt  – nicht in ein totalitarismustheoretisches Korsett mit einem schlichten Gegensatz von Tocqueville und Marx ein. Dass aus der Rezeption nicht mehr wurde, ist gewiss auch dadurch bedingt, dass Koselleck im Verlauf seiner akademischen Karriere in Deutschland immer wieder auf Marx verwiesen wurde, durch den Sowjetkommunismus, die DDR und später die Studentenbewegung. Auch die Profilierungszwänge der akademischen Geschichtswissenschaft in Deutschland, die stark auf die Kritik der eigenen Tradition verwiesen war, sind nicht zu unterschätzen. Insofern rückte der französische Autor, dessen Klassikerstatus für Koselleck früh feststand, zwar in den Hintergrund, konnte aber, wie die erwähnte Laudatio von 1979 zeigt, rasch aktualisiert werden. Koselleck nimmt, soweit es sich erkennen lässt, Motive und Anregungen von Tocqueville auf, aber er verfolgt die Tocqueville-Forschung nicht näher. Weder der frühe noch der späte Koselleck geht auf dessen komparativen Analysen zur politischen Kultur und die Varianten moderner Sprache in den USA, Frankreich 81 Vgl. Mélonio, Françoise, Tocqueville et les Français, Paris 1993, Kap. 6. Zur deutschen Rezeption vgl. Eschenburg, Theodor, Tocquevilles Wirkung in Deutschland, in: De Tocqueville, DemokratieBd. II, S. 489–562, v. a. 560 ff. zur Bundesrepublik. Wegweisend waren hier Mayer, Jacob Peter, Alexis de Tocqueville. Analytiker des Massenzeitalters, München 1954, 31972; Salomon, Albert, Das Zeitalter der Gleichheit, Stuttgart 1954, 21967 und Landshut, Siegfried, Alexis de Tocqueville. Das Zeitalter der Gleichheit, Leinen 1954, 21967. Die Erhebung zum Klassiker in der Soziologie, Politikwissenschaft und Historiographie erfolgte sukzessive. Weder die Auswahl von Salomon noch die von Landshut oder der Band von Mayer finden sich in Kosellecks Bibliothek.

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und England ein, wiewohl gerade auf diesem Feld das Anregungspotential besonders hoch veranschlagt werden muss. Tocqueville bleibt für Koselleck, insgesamt gesehen, eine wichtige Nebenfigur, die es sachlich und systematisch wert gewesen wäre, eine Hauptfigur zu sein. Das ist genau genommen überraschend, weil Koselleck Frankreich von Beginn an im Blick hatte. Er soll sogar mit dem Gedanken gespielt haben, die Geschichtlichen Grundbegriffe zugleich auf Französisch erscheinen zu lassen82, auch hat er mit François Furet und Louis Bergeron zusammen den Band »Das Zeitalter der europäischen Revolutionen 1780–1848 (Fischer Weltgeschichte Bd. 26, 1969) verfasst. Tocqueville stand also für Koselleck bereit, eine Hauptfigur anregender Bezugnahmen werden zu können, wie es bei Furet der Fall war.83 Zudem kam Koselleck im Zuge seines Engagements für den amerikanischen Historiker Hayden White, den er Mitte der 1980er Jahre in Deutschland bekannt gemacht hat, gewiss erneut mit Tocqueville in Berührung, denn Whites Hauptwerk enthält ein wichtiges Kapitel über Tocqueville.84 Auch wenn man hier nur spekulieren kann, weil es keine Bezugnahmen gibt, ist Whites große Darstellung der sprachlich-rhetorischen Form von Geschichtsschreibung und was sie an Erfahrungen und Annahmen transportiert, etwas was Koselleck interessiert hat. Insgesamt gesehen blieb für den Begriffshistoriker am Ende die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte und Theoretikern wie Heidegger, Schmitt und Gadamer wichtiger, weshalb der französische Klassiker weniger sichtbar ist und dessen Spuren verstreut sind. Trotzdem war Tocqueville für Koselleck weilt mehr als eine Randfigur. Tocqueville und Koselleck mit Blick auf die Sattelzeit aufeinander zu beziehen heißt, einen Zeitgenossen des Wandels der modernen politischen Sprache, der selbst Teil dieses Wandels ist, und einen späteren Begriffshistoriker ins Verhältnis zu setzen. Dass beide auf unterschiedliche Quellen verwiesen sind, versteht sich; im Falle von Tocqueville sind das neben Texten und historischen Quellen viele Interviews und eigenen Beobachtungen, bei Koselleck sind es historische Quellentexte. Beide zielen in ihren Analysen auf den Gebrauch politischer Vokabeln und betten die Sprache in historische Kontexte ein. Sie stehen purer philosophischer Begriffsanalyse und reiner Ideenanalyse jeweils fern. Tocqueville nutzt freilich noch das Vokabular der Ideen- und Geistsemantik, die Koselleck hinter sich gelassen hat. Das von Tocqueville aufgeworfene Problem nationaler Besonderheiten

82 Vgl. Müller, Ernst, Verspätete Wirkung. Reinhart Kosellecks Begriffsgeschichte international, in: Trajekte 23 (2011), S. 22–25, hier 24. 83 Das hat Koselleck beobachtet. Vgl. die Laudatio auf Furet, die seine Vertrautheit mit dessen Werk zeigt, ohne näher auf Tocqueville als zentrale Bezugsfigur von Furet einzugehen. Vgl. auch Bluhm, Harald, Totalitarismus und antibürgerlicher Affekt. Furets politische Geschichte der kommunistischen Idee, in: Bluhm, Harald / Gebhardt, Jürgen (Hg.), Politische Ideengeschichte im 20. Jahrhundert. Konzepte und Kritik, Baden-Baden 2006, S. 199–222. 84 Vgl. Koselleck / Dutt, Erfahrene Geschichte, S. 61. 1986 erscheint White, Hayden, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, Stuttgart, mit einer Einführung von Koselleck, S. 1–6), Whites Metahistory [1973] erscheint 1991 auf Deutsch.

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der politischen Sprache und deren Verhältnis zu sektoralen Spezifika (z. B. Parlament, Rechtswesen) hat Koselleck wohl gesehen, aber sachlich nicht aufgegriffen. Kosellecks Rekurs auf Tocqueville hätte durchaus stärker ausfallen können, wie die gezeigten Gemeinsamkeiten der beiden auf Sprache und Erfahrungen setzenden Autoren nahelegen, die im Vergleich von Semantiken und institutionellen Strukturen den Schlüssel zum Verständnis divergierender Geschichten bzw. Wege in der Moderne sehen. Sie fragen dabei nach dem Gebrauch und der Auffüllung von Begriffen, die oft ähnlich scheinen, sich bei genauerem Hinsehen aber als unterschiedlich erweisen. Was den mehrstufigen und auf struktureller Ebene angesiedelten Wandel der politischen Sprache, die Begriffsgeschichte und deren Verbindung mit Institutionen sowie der komparativen Analyse von Wegen in der Moderne betrifft, bestehen mehrere Verbindungslinien zwischen Tocqueville und Koselleck. Systematisch gesehen stoßen beide Ansätze in den Bereich vor, der auf die Analyse unterschiedlicher Wahrnehmungsweisen von Politik zielt. Sie öffnen – prinzipiell gefasst – das Feld, für die kulturgeschichtlicher Untersuchung von Politik, die in der politischen Theorie von Ernst Vollrath treffend als Analyse von »Apperzeptionsweisen von Politik«, die selbst Moment des Politischen sind bezeichnet wurden.85 Damit wird das Verständnis des Politischen im Unterschied zur faktisch ablaufenden Politik wesentlich erweitert und in diesem Sinn hat Tocqueville in den USA nicht nur sein französisch-etatistisches Wahrnehmungsmuster von Politik überwunden, sondern die Differenz der Wahrnehmung von Politik reflektiert. Er bleibt aber insgesamt gesehen auf das Thema der globalen demokratischen Umwälzung und die Problematik der französischen Revolution fixiert und entfaltet seinen komplexen Zugang am Material. Nur gelegentlich streut er methodische Überlegungen ein, während Koselleck prinzipieller vorgeht und systematisch anthropologische Überlegungen und eine Historik anzielt. In meinen Augen ist Kosellecks Begriffsgeschichte angesichts der demonstrierten Verbindungen zu Tocqueville, weniger auf Deutschland fixiert als oft unterstellt. Die späten Vergleiche mit Frankreich und England etwa was den Bürgerbegriff betrifft, sind kein Neuansatz, sondern eher ein Ausziehen von Linien.86 Der 1991er Aufsatz, der einen Vergleich von »drei bürgerlichen Welten« – Frankreich, England und Deutschland – bietet, erinnert an den von mir unter Punkt 1.2 geschilderten Vergleich politischer Kulturen und deren Geist, den Tocqueville mit Blick auf Frankreich, die USA und England vorgenommen hat. Hier gibt es freilich 85 Vollrath unterscheidet eine real-, ideal- und zivilpolitische Apperzeption des Politischen. Erstere ist auf Macht, Herrschaft und den Staat ausgerichtet, die zweite setzt dem Faktischen meist Gemeinschaftsvorstellungen entgegen und die dritte ist bürgerschaftlich assoziativ. Tocqueville vereint Momente der dritten und der ersten Form miteinander. Vgl. Vollrath, Ernst, Die Kultur des Politischen. Konzepte politischer Wahrnehmung in Deutschland, in: Gerhard, Volker (Hg.), Der Begriff der Politik. Bedingungen und Gründe politischen Handelns, Stuttgart 1990, S. 268–290. 86 Auch in Koselleck, Reinhart, Formen der Bürgerlichkeit. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Manfred Hettling und Bernd Ulrich in: dies. (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 40–60 findet sich keine Tocqueville-Referenz.

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weder Spuren noch Referenzen. In der Sache jedoch hat Koselleck als Begriffshistoriker Tocquevilles Faden aufgenommen und methodisch enorm verfeinert, wie das Programm für den Vergleich der »drei bürgerlichen Welten« zeigt. Dort heißt es: »Jede umschreibende Übersetzung verliert den Erfahrungsgehalt konkreter Begriffe. Eine vergleichende Analyse der Sachverhalte, auf die sich die Begriffe beziehen, kann also methodisch nur überprüfbar werden, wenn die sprachlich nicht einholbaren Differenzen mitreflektiert werden. Es bedürfe also eigentlich neben einer sozialhistorischen Metatheorie, die länderübergreifende Vergleiche ermöglicht, auch einer Metasprache, die die Unterschiede vermittelt. Eine solche Metasprache aber gibt es nicht. – Die Gesellschaft der Bürger im 19. Jahrhundert war nicht nur eine Übergangsgesellschaft; sie kann auch nur analysiert und erkannt werden, wenn sie zwischensprachlich und diachron übersetzt wird.«87 Koselleck ist in den 1990er Jahren nach mehr als einem Vierteljahrhundert Begriffsgeschichte, die er am Ende als »straitjacket«88 empfunden hat, primär auf anderen Themenfeldern (Historik, Zeitschichten, bildwissenschaftliche Untersuchungen) unterwegs und weniger auf die internationale Ausweitung der Begriffsgeschichte erpicht, die gerade einsetzte. Bei der erfolgreichen Ausbreitung gerät allerdings der erfahrungsgeschichtliche Bezug oft zu Gunsten reiner Begriffs­ verwendungsanalysen aus dem Blick. Insofern könnte ein Rekurs auf die Beziehung von Tocqueville und Koselleck der Forschung durchaus neue Anstöße geben, steht doch seit einiger Zeit die Frage im Raum, ob und inwieweit die in der Regel überaus weit verstandene Demokratie noch ein erfahrungsnaher Begriff ist.

87 Koselleck, Drei bürgerliche Welten, in: Begriffsgeschichten, S. 413. 88 So Koselleck 1994, zit. nach Hoffmann, Stefan-Ludwig / Franzel, Sean, Introduction. Translating Koselleck, in: dies. (Hg.), Reinhart Koselleck. Sediments of Time. On possible Histories, Stanford (Cal.) 2018, S. IX–XXXI, hier S. XXIII.

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Reinhart Koselleck als Sozialhistoriker Preußens I. Als er 1980 als neues Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung eingeführt wurde, kam Reinhart Koselleck auf seine Herkunft zu sprechen: Sein Vater sei »der erste Akademiker auf der üblichen Aufstiegsleiter dreier einander folgender Generationen« einer ursprünglich aus der Lausitz stammenden Familie gewesen; seine Mutter entstamme einer hugenottischen Familie, sodass »im Ergebnis« für ihn gelte: »Ich bin, wie die Namen sagen und wie die Herkunft zeigt, ein Preuße.« Und er fuhr fort: »Über Preußen wird heute viel geredet. Jedenfalls kann man sich sowenig wie seine Eltern seine Herkunft aussuchen. Aber man muß sich zu ihr verhalten. Ich habe das sozialhistorisch zu tun versucht, in dem Buch über ›Preußen zwischen Reform und Revolution‹.«1 In der Tat: Will man darstellen, was Koselleck als Sozialhistoriker Preußens geleistet hat, muss man sich auf dieses magnum opus konzentrieren, mit dem sich Koselleck 1965 nach mehrjährigen Forschungen in Heidelberg habilitierte, und das zuerst 1967 erschien.2 In Kosellecks aufklärungskritischer Dissertation »Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt«, veröffentlicht 1959,3 kamen zwar Friedrich der Große und Immanuel Kant vor, viel häufiger aber Schiller, Hobbes, Voltaire, Turgot und andere Autoren der Aufklärung bzw. Staatsmänner des von ihr in Frage gestellten Absolutismus von außerhalb Preußens. Nach seiner Dissertation hatte Koselleck andere Forschungspläne gehabt und erwogen, »ein englisches Thema zu behandeln«.4 Erst seitdem er 1956 in Heidelberg bei dem Sozialhistoriker Werner Conze als Assistent angefangen hatte,5 drängte ihn dieser, im Hinblick auf die geplante Habilitation, zu einer gründlichen 1 In: Jahrbuch der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung 1981, Lfg. 1, 89. Damit beginnt auch der vorzügliche Aufsatz von Nebelin, Marian, Das Preußenbild Reinhart Kosellecks, in: Kraus, Hans-Christof (Hg.), Das Thema »Preußen« in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik vor und nach 1945, Berlin 2013, S. 333–384. 2 Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1967. 3 Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959; Taschenbuchausg. Frankfurt a. M. 1973, 112010. 4 Siehe seinen Brief an Carl Schmitt vom 14.2.1954, in: Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Frankfurt 2019, S. 43. 5 Genauer dazu Dunkhase, Jan Eike, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 145 f.

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empirisch-historischen Arbeit mit klassischen gedruckten und ungedruckten Quellen, und zwar über Preußen. Unter dem Einfluss Conzes  – bald auch in dem von Conze gegründeten »Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte« – ging es in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren um die Verbindung von Verfassungs-, Sozial- und Begriffsgeschichte und besonders um die Ausdifferenzierung von »Staat und Gesellschaft« beim beschleunigten Übergang von »Alteuropa« in die Moderne im späten 18. und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Schon 1962 erschien der Sammelband »Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848«, als Band 1 der neu gegründeten Reihe »Industrielle Welt«. Herausgeber war Werner Conze, der auch den konzeptionell entscheidenden Hauptaufsatz verfasste, während Koselleck, in diesem Rahmen, einen Beitrag über Preußen beisteuerte, der bereits die wichtigsten Thesen des fünf Jahre später erscheinenden Preußen-Buchs vorwegnahm.6 Koselleck hat zur sich damals entwickelnden Konzeption des dann seit 1972 erscheinenden Historischen Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe zweifellos entscheidend beigetragen, das den Brückenschlag zwischen Sozial- und Begriffsgeschichte intendierte, wenn auch nicht in allen Beiträgen erreichte.7 Aber umgekehrt hat der dreizehn Jahre ältere Conze Kosellecks temporäre Hinwendung zur Sozialgeschichte und seine Preußen-Konzeption erheblich geprägt. Nach seinem Preußen-Buch ist Koselleck auf die Sozialgeschichte Preußens ausführlich nur noch selten zurück gekommen: einmal in Band 26 der FischerWeltgeschichte, den er unter dem Titel »Zeitalter der Europäischen Revolutionen 1780–1848« zusammen mit Louis Bergeron und Francois Furet 1969 veröffentlichte, und in dem er die Kapitel 7 bis 10 selber schrieb. In dieser Darstellung der europäischen Geschichte räumte Koselleck Preußen eine zentrale Stellung ein.8 Zum andern ging er 1984 in einem Aufsatz auf die preußische Geschichte in breiteren Zusammenhängen ein, wobei die sozialgeschichtliche Perspektive nicht fehlte, aber auch nicht dominierte.9 Daneben kam er in einzelnen Aufsätzen bisweilen auf Preußen zu sprechen, und zwar fast immer auf Preußen vom späten 18. bis 6 Vgl. Conze, Werner (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815–1848, Stuttgart 3 1978; darin S. 79–112: Koselleck, Reinhart, Staat und Gesellschaft in Preußen 1815–1848 (mit Nachtrag S. 271 f.). Dazu auch Dunkhase, Werner Conze, S.142–148. Zum Vormärz-Thema als erstem Schwerpunkt des 1957 von Conze gegründeten Arbeitskreises, dessen Mitarbeiter, dann (seit 1965) Mitglied Koselleck war und dessen Vorsitzender er 1986 wurde, jetzt ausführlich: Engelhardt, Ulrich, Ein Labor der Sozialgeschichte: Die Entwicklung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte seit 1956, Wien 2020, bes. S. 36–70. 7 Siehe zur Gewichtung der Beiträge von Conze und Koselleck zum Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe Wolfgang Schieders Beitrag im vorliegenden Band. 8 Bergeron, Louis / Furet, Francois / Koselleck, Reinhart, Das Zeitalter der europäischen Revolution 1780–1848. Fischer Weltgeschichte, Bd. 26, Frankfurt a. M. 1969, S. 199–319, bes. 296–319 (»Aufstieg und Strukturen der bürgerlichen Welt«). 9 Koselleck, Reinhart, Lernen aus der Geschichte Preußens?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 35 (1984), S. 822–838, hier zit. nach dem Wiederabdruck in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2010, S. 151–174.

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zum mittleren 19. Jahrhundert, so in den Aufsätzen »Die Auflösung des Hauses als ständischer Herrschaftseinheit« (1981) und »Zur Rezeption der preußischen Reformen in der Historiographie« (1982).10 Insgesamt ließ das Interesse Kosellecks an der Geschichte Preußens wie an der Sozialgeschichte überhaupt spätestens seit den achtziger Jahren deutlich nach. Aber zentrale Pfeiler von Kosellecks Gesamtwerk bauen meines Erachtens auf Erfahrungen auf, die der Autor in seiner Preußen-Forschung machte, so insbesondere Kosellecks Denkfigur der von ihm später so genannten »Sattelzeit«,11 seine Hochschätzung der Begriffsgeschichte sowie sein origineller Umgang mit unterschiedlichen Zeitstrukturen in der Geschichte. Jedenfalls finden sich diese Themen und Zugriffe im Preußen-Buch, dagegen noch nicht in der Dissertation »Kritik und Krise«.

II. Kosellecks Preußen-Buch ist in Rezensionen, Überblicken über preußengeschichtliche Literatur und Würdigungen des Autors fast durchweg gelobt und immer wieder als brillant und wirkungsreich bezeichnet worden.12 Die Schrift13 untersucht zentrale Aspekte des Übergangs von der zerbröckelnden und absolutistisch bereits ausgehöhlten altständischen Gesellschaft der Vor-Revolutionszeit des 18. Jahrhunderts zur noch ständisch durchsetzten bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, mit besonderem Interesse an der Rolle der Bürokratie in diesem Prozess der tendenziellen Trennung von Staat und Gesellschaft in Preußen. Der erste Teil vergleicht, vor allem für die Zeit bis zur Reformgesetzgebung der Jahre seit 1806, die ansatzweise schon an Ideen staatsbürgerlicher Gleichheit und Unmittelbarkeit orientierten Rechtsverhältnisse in Preußen mit dem Allgemeinen Landrecht von 1794, das Koselleck als Kompromiss zukunftweisender mit allständischen Momenten deutet. Er vergleicht also die Umbruch signalisierenden sozialen Implikationen des Allgemeinen Landrechts, dieses Werks von Reformern und Juristen, mit der durch noch heftigeren Zerfall geburtsständischer Strukturen gekennzeichneten sozialen Wirklichkeit. Der zweite Teil untersucht den »Behördenausbau von 1815 bis 1825 als verfassungspolitische Vorleistung«. Er behandelt die Reformziele und Reformerfolge der Beamten um Stein und Hardenberg in ihren Ähnlichkeiten und Unterschieden, 10 Wd. in: Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 465–485; sowie in ders., Sinn und Unsinn, S. 175–197. 11 Vgl. dazu den Aufsatz von Christoph Dipper in diesem Band. 12 Übersichten über Rezensionen von Kosellecks Preußen-Buch bei Nebelin, Preußenbild, S. 333–335. 13 Die folgende Inhaltszusammenfassung angelehnt an meine Rezension von Kosellecks Preußen-Buch in: VSWG 57 (1970), S.121–125.

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das Selbstverständnis der Beamten, ihre durch Bildung und Besitz beeinflusste Rekrutierung und ihre damit zusammenhängende Neigung, als relativ autonome, dynamische, »sich selbst stabilisierende Handlungseinheit« aufzutreten. Er untersucht auch den Machtgewinn der Verwaltung gegenüber Gerichten und Hof. Die Reformer zielten auf eine liberale Wirtschaftsgesellschaft und eine nach-ständische Staatsbürgergesellschaft in einem starken, international wettbewerbsfähigen Staat. Überzeugend zeigt Koselleck, dass die meist beamteten Reformer angesichts des Mangels an Reform fordernden und reformbereiten sozialen Kräften, angesichts der wirtschaftlich-reaktionären Forderungen der über den Verlust altständischer Rechte verärgerten Adligen und angesichts der Zunft- und Zollschutzwünsche vieler Stadtbürger die von progressiven Kräften geforderte »Nationalrepräsentation mit entscheidender legislativer Gewalt« nur um den Preis des Scheiterns ihrer ökonomischen und sozialen Reformen hätten zugestehen können. Seine bis dahin aus Sicht Kosellecks den »Interessen der Allgemeinheit« dienende Rolle »verspielte« das Beamtentum, so argumentiert der dritte Teil der Schrift, nach 1820 durch Zugeständnisse an Großgrundbesitz und Adel sowie durch politische Diskriminierung des Bürgertums, während innerbürokratische Veränderungen zu mehr zentralen Kontrollen führten und den adligen Einfluss stärkten, und während Wandlungen im Bildungswesen und in den Rekrutierungsmechanismen zur Sprengung der ehemals weitgehenden Identität von Beamten- und Bildungsbürgertum beitrugen. Eindringlich und mit vielen konkreten Details zeigt Koselleck die gleichzeitige Konsolidierung der adligen Macht auf der Kreis- und Gutsebene unter der Einwirkung proadliger Gesetzgebung und anderer Auswirkungen der Reformen. Unter diesen Auswirkungen der Reformen hebt Koselleck die Assimilation von Güter erwerbenden Bürgern in den Rittergutsbesitzerstand hervor, der dadurch gestärkt wurde und sich, wie vorher schon Hans Rosenberg analysiert hatte, in eine gutsherrschaftlich abgesicherte landwirtschaftliche Unternehmerklasse wandelte. Ebenfalls als Konsequenz der Reformen analysiert Koselleck schließlich zwei Frontstellungen, denen sich die Bürokratie zunehmend gegenüber sah und denen sie in der Revolution von 1848/49 zum Teil erliegen sollte: (1) Die Stadtbürger (vor allem Handwerker, Kaufleute, Gastwirte, Lehrer, Journalisten und andere Freiberufler), denen der Beamtenstaat die Städteordnung und die liberale Gewerbereform einst aufgezwungen und danach lange eine gewerbefreundliche Wirtschaftspolitik gewährt hatte, entwickelten auf eben dieser Basis ökonomische Erfolge und politisches Selbstbewusstsein. Sie stellten verfassungs- und wirtschaftspolitische Forderungen, die die Beamten aber verweigerten, auch weil sie ihre, der Beamten, Macht reduziert hätten. Bürokratiekritik einerseits und die Zunahme von Zensurmaßnahmen andererseits reflektierten die wachsende Spannung zwischen Bürokratie und entstehender Öffentlichkeit, die allmählich und vergeblich danach strebte, zur öffentlichen Gewalt zu werden und das Herrschaftsmonopol der Bürokratie zu brechen. (2) Mit der Industrialisierung, deren Grundlage nach Koselleck ebenfalls der Staat gelegt hatte, entstand die Fabrikarbeiterschaft, die zusammen mit dem Landproletariat bald den Kern der »sozialen Frage« ausmachte. An der

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Lösung dieser sozialen Frage habe die Verwaltung in den »hungrigen«, krisenhaften 1840er Jahren versagt, indem sie am Wirtschaftsliberalismus festhielt und insofern Partei für die Unternehmer nahm. Fazit: Bürgerliche Forderungen einerseits und soziale Krise andererseits, Konsequenzen jener Reformen, die die Verwaltung initiiert und gegen Widerstand zum Erfolg geführt hatte, trieben zur Revolution, die selber nicht mehr Gegenstand des Buches ist. »Der Verwaltungsstaat erlag gleichsam seiner eigenen Schöpfung«.

III. Das ist ein eindrucksvolles Gesamtbild. Wie lässt sich die Variante von Sozialgeschichte charakterisieren, die Koselleck hier wie an anderen Stellen praktizierte? Noch bevor seine Dissertation als Buch erschien, veröffentlichte der gerade in Heidelberg bei Johannes Kühn promovierte Reinhart Koselleck in der Zeitschrift »Soziale Welt« 1955 eine eindrucksvolle sozialhistorische Fingerübung, zu der er offensichtlich während seiner Zeit als Lektor an der Universität Bristol ab 1954 angeregt worden war. Der kurze, substantielle und sehr gut lesbare Aufsatz »Bristol, die zweite Stadt Englands« umreißt die frühneuzeitliche Geschichte der reichen und mächtigen Kaufmannschaft dieser dynamischen Hafen- und Handelsstadt am südwestlichen Ende Englands – mit scharfem Blick für große ökonomische, soziale und politische Zusammenhänge und mit Bezügen zur damaligen Gegenwart.14 Koselleck hat in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre im Beirat der im Aufbau befindlichen Universität Bielefeld, dann im Gründungsausschuss dieser Universität und schließlich als Vorsitzender der Fachbereichskommission Geschichtswissenschaft entscheidend zum primär sozialhistorischen Profil der Bielefelder Geschichtswissenschaft beigetragen, auch schon bevor er dort 1973 den Lehrstuhl für Theorie (und Didaktik) der Geschichte übernahm. Es ist also nicht falsch, den Koselleck jener Jahre als Sozialhistoriker zu bezeichnen. Es widerspricht auch nicht seinem damaligen Selbstverständnis. Als »Sozialhistoriker und als Theoretiker der Geschichtswissenschaft« bezeichnete er sich noch 1975, als er, auf Empfehlung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, den Reuchling-Preis der Stadt Pforzheim entgegennahm.15 Dies waren die Jahre, in denen die Sozialgeschichte einen vorzüglichen Ruf hatte, einen immensen Aufschwung erfuhr und der Begriff mit unterschiedlichen Bedeutungen sehr großzügig gebraucht wurde. Nicht ohne Ironie schrieb Hans Rosenberg 1968, dass »in den letzten Jahren die sogenannte Sozialgeschichte für viele ein nebuloser Sammelname für alles (geworden ist), was

14 Koselleck, Reinhart, Bristol, die zweite Stadt Englands, in: Soziale Welt 6 (1955), S. 360–372. 15 Koselleck, Reinhart, Föderale Strukturen in der deutschen Geschichte, Pforzheim 1975, S. 5. Siehe auch ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Lutz, Peter C. (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte, Opladen 1972, S. 116–131; wd. in Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 107–129.

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in der Geschichtswissenschaft der Bundesrepublik als wünschenswert und fortschrittlich angesehen wird«.16 Aber in späteren Jahren beobachtete Koselleck die enorme Ausweitung des Gegenstandsbereichs der historischen Forschung, die unter der Überschrift »Sozial­geschichte« stattfand, mit ausgeprägter Distanz. Es gäbe fast nichts mehr, so schrieb er 1980, was unter dieser Etikette nicht historisch bearbeitet werden könnte. Diese Ausweitung mache die theoretische Durchdringung umso wichtiger, die »Theoriebedürftigkeit« der Geschichte umso aktueller. Die »Konzepte der Sozial­geschichte sind häufig beschrieben worden, von Braudel, Hobsbawm oder von Kocka, so dass ich mir eine detaillierte Auflistung ersparen kann. Jedenfalls sind die Grenzbestimmungen gleitend: Sie reichen von der sogenannten unpolitischen Geschichte zwischenmenschlicher Beziehungen, von Gruppen, Gemeinschaften oder speziellen Gesellschaften bis hin zur Geschichte der politisch organisieren Gesellschaften mit dem tendenziellen Anspruch, in der ›Gesellschaftsgeschichte‹ auch die Totalität von Geschichte überhaupt in den Griff zu bekommen. Sozialgeschichte kann also Geschichte einzelner Klassen oder einzelner Bereiche meinen wie ebenso gut die Geschichte der gesamten Menschheit.« Und er fügte hinzu: »Damit ist natürlich nichts gewonnen.« Kritisch – und zutreffend – führte er aus, dass auch jeder Versuch einer sozialgeschichtlich orientierten Totalgeschichte selektiv, von vorgängigen theoretischen Annahmen abhängig, perspektivisch und damit notwendig bestreitbar sei. Er betonte, dass jeder Begriff von »Sozialgeschichte« jene Ausdifferenzierung von Gesellschaft, Staat, Wirtschaft und Kultur voraussetze, die sich erst mit der Moderne entwickelt habe – was aber nicht ausschließe, von einer Sozialgeschichte der Vormoderne zu sprechen, sofern man sich des darin liegenden Anachronismus bewusst sei und ihm irgendwie Rechnung trage. Schließlich fügte er theoretische Überlegungen zur Unterscheidung von Struktur und Ereignis im Hinblick auf die ihnen eigenen Zeitdimensionen an und überdies Vorschläge zu der Frage, »wie man im Bereich der politischen und sozialen Semantik so etwas wie theoretische Zeit thematisieren kann«. Auf den Befund der enormen Ausweitung, Unordnung und Widersprüchlichkeit der sozialgeschichtlichen Forschungspraxis antwortete Koselleck also mit Schritten partieller Theoretisierung statt mit dem Versuch einer eigenen Definition von Sozialgeschichte. »Je vielfältiger und zahlreicher die Zugriffe sind, desto diffuser die eingebrachten Ergebnisse. Kein Wunder, wenn hier die Theoretiker auf den Plan treten […]«.17 Und so kreiste Kosellecks Denken und Schreiben spätestens seit den 1980er Jahren immer eindeutiger um fundamentale Grundfragen 16 Rosenberg, Hans, Probleme der deutschen Sozialgeschichte, Frankfurt a. M. 1969, S. 147; siehe auch Hobsbawm, Eric J., From Social History to the History of Society, in: Historical Studies Today (= Daedalus 100 (1971), No.1, S. 20–45; dt. in: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Geschichte und Soziologie, Köln 1972, S. 331–353; Kocka, Jürgen, Sozialgeschichte – Strukturgeschichte – Gesellschaftsgeschichte, in: Archiv für Sozialgeschichte 15 (1975), S. 1–42; in erw. Form wd. in: ders., Sozialgeschichte, Göttingen 1977, S. 48–111. 17 Koselleck, Reinhart, Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 317–335, Zitate S. 318, 319, 321.

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des historischen Denkens und der Geschichtswissenschaft, statt um Aufgaben und Probleme empirischer sozialhistorischer Forschung Aber was verstand er in seinem sozialgeschichtlichsten Buch, seinem PreußenBuch, diesem Produkt der frühen 1960er Jahre, unter Sozialgeschichte – und was nicht? Das wird deutlicher, wenn man seine Quellengrundlage in Augenschein nimmt. Er benutzte vor allem die Überlieferung verwaltungsinterner Kommunikationsvorgänge (vornehmlich in den Archiven der preußischen Provinzen) sowie Gesetze, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen, Reskripte, Kabinettsordres und dergleichen. Er benutzte, wenn auch sehr vorsichtig, zeitgenössische Statistiken, zum Beispiel von Leopold Krug und von C. F.W.  Dieterici. Intensiv wertete er einschlägige zeitgenössische Diskurse aus, Rechtskommentare und publizistische, wissenschaftliche und philosophische Veröffentlichungen. Dagegen blieb die Verwendung von Autobiographien, alltagsgeschichtlichen Quellen und mikrohistorischen Beschreibungen ganz am Rande. Daraus entstand eine Sozialgeschichte, die sehr stark auf Strukturen und Prozesse zielte, in der dagegen Ereignisse, einzelne Handlungen, aber auch Erfahrungen und Lebenswelt wie auch die Geschichte einzelner Personen eher randständig blieben. Entsprechend dominierten breitflächige analytische Begriffe wie »Stand« und »ständisch«, »Klasse« und »Staatsbürgerschaft«, Bezeichnungen von Institutionen, ihren Zwecken und Funktionen. Interessen wurden eher thematisiert als Erfahrungen. Kultur im Sinne von Volks- oder Alltagskultur blieb völlig im Hintergrund, die Aufnahme des Ökonomischen geschah nur äußerst selektiv. Dagegen war die Frage nach Zugehörigkeiten und ihren Abgrenzungen, nach Inklusion und Exklusion zentral (ohne Gebrauch dieser Worte). Immer ging es um den Wandel verschiedener Wirklichkeitsdimensionen mit unterschiedlichen Wandlungsgeschwindigkeiten und die aus dieser Unterschiedlichkeit resultierenden Ungleichzeitigkeiten, Diskrepanzen und Spannungen zwischen ihnen. Sozialgeschichte war für Koselleck nicht scharf von Politik- und Staatengeschichte abgesetzt, sondern aufs Engste mit Verwaltungsgeschichte und Verfassungsgeschichte verbunden.18 Begriffsgeschichte und insofern eine bestimmte Variante von Diskursgeschichte war Teil davon, programmatisch gewollt und tatsächlich praktiziert. Diese diskursgeschichtliche Anreicherung der Sozialgeschichte wurde von den späteren semantischen, diskursiven und konstruktivistischen turns der Geschichtswissenschaft19 mit Interesse aufgenommen. Dagegen entfernte sich die spätere, oft kulturgeschichtlich und mikrohistorisch gepolte Sozialgeschichte von dem stark analytischen, primär struktur- und prozessgeschichtlichen Ansatz, den Koselleck – wie andere Sozialhistoriker der 60er und 70er Jahre auch – im

18 Zur Beeinflussung Kosellecks durch Carl Schmitts und Otto Brunners weit gefasste Verfassungsbegriffe: Nebelin, Preußenbild, S. 345–349. 19 Vgl. Bachmann-Medick, Doris, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg 62018.

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Preußen-Buch praktizierte, und der bald von den Alltagshistorikern angegriffen werden sollte.20 So sehr es Koselleck wie den meisten Historikern um Wandel in der Zeit, um Kategorien des Vorher und Nachher und natürlich immer um Kontexte ging, so wenig sollte man das, was er vorlegte, als Erzählung bezeichnen. Vielmehr präsentierte er Argumentationen mit expliziter theoretischer Verarbeitung der Empirie, mit Fragen, Hypothesen, Zweifeln und Reflexionen auf das eigene Vorgehen und mögliche Alternativen dazu. Das wurde von einzelnen Historikern auch schon damals kritisiert, andere fanden und finden es faszinierend. Quantifizierende Aussagen blieben bei Koselleck dagegen ganz und gar randständig. Vor allem aber sei auf das hingewiesen, was man die »korrelative Methode« Kosellecks nennen kann. Koselleck konzentrierte sich, wenn auch nicht ausschließlich, auf die Feststellung von Entsprechungen und Nicht-Entsprechungen, von Spannungen, Brechungen und Differenzen zwischen historischen Teilprozessen unterschiedlicher Dimension und unterschiedlicher Zeitqualität, die er nur in dieser Weise, selten aber mit Hilfe kausalanalytischer Kategorien verknüpfte. Diese Methode implizierte die Absage einerseits an materiale Geschichtstheorien mit kausalen Erklärungsmustern, andererseits aber auch die Absage an positivistische Faktenaufreihung in chronologischer Ordnung. (Koselleck liebte es, etwas abfällig vom »chronologischen Bandwurm« zu sprechen, den es besser zu vermeiden gelte.) Diese »korrelative Methode« erlaubte die flexible Strukturierung von Daten aus sehr heterogenen Bereichen in plausibler Form. Aber sie verzichtete meist auf kausale Fragen und Antworten. Auf diesen Einwurf ging Koselleck in der zweiten Auflage des Preußen-Buchs ausdrücklich ein: »In der Tat habe ich, soweit möglich, auf kausale Hypothesen und daraus folgernde Bewußtseinsanalysen verzichtet. Auf der Ebene historischer Erzählung läßt sich dieser Vorsatz nicht durchhalten, denn jede Erzählung impliziert, allein von der Sprache her, Begründungszusammenhänge. Deshalb kommen zwischen den von mir untersuchten drei Bereichen, der Rechtsverfassung, der Verwaltung und den sozialen Schichten, Wechselwirkungen oder einseitige Abhängigkeiten zu Wort, die nicht anders als ›kausal‹ bezeichnet werden können. Gleichwohl konstituiert der theoretische Vorgriff einen ›Gegenstandsbereich‹ meiner Untersuchungen, der sich zunächst kausalen Auslegungen entzieht. Die theoretische Leitfrage zielt immer wieder auf zeitliche Verlaufsweisen und auf zeitliche Differenzen, die sich aus den wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen Handlungseinheiten und Sachverhalte ergeben.«21

20 Vgl. Kocka, Jürgen, Sozialgeschichte zwischen Strukturgeschichte und Erfahrungsgeschichte, in: Schieder, Wolfgang / Sellin, Volker (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland. Entwicklungen und Perspektiven im internationalen Zusammenhang, Bd. 1, Göttingen 1986, S. 67–88 zum Übergang von der stärker struktur- und prozessgeschichtlichen zur stärker erfahrungsgeschichtlich orientierten Sozialgeschichte. Koselleck gehörte  – wie Conze, Wehler und andere – zum älteren Muster. 21 Im Vorwort zu Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, München 21975.

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IV. Mack Walker hat Kosellecks Preußen-Buch 1969 rezensiert und herausgestellt, dass es nicht nur Grundprobleme der preußischen Geschichte in neues Licht tauche, sondern auch zur Geschichte der »Reformen von oben« wie auch generell zur Geschichte der Beziehungen zwischen Herrschaft und Wandel Neues zu sagen habe. »It is a masterful historical study and a timely one. It will remain timely.«22 Aus der zeitlichen Distanz von mehr als einem halben Jahrhundert werden die Eigenarten und Stärken der Schrift nur noch deutlicher. Das Werk besitzt eine imponierende Architektur, eine ganz eigene, originelle Signatur, es wird durch eine teils ironische, teils skeptische, vielleicht auch ein wenig tragische Argumentationsfigur geprägt: das zentrale Handlungssubjekt, der preußische Beamtenstaat, setzt mit bewunderswerter Energie von ihm nicht intendierte, schließlich gegen ihn sich wendende Wirkungen in Gang. Er unterliegt seiner Schöpfung. Auch wenn man dem Argument inhaltlich nicht völlig folgt, besticht seine Eleganz. Koselleck gehörte Anfang der 1970er Jahre in der Bundesrepublik zu den wichtigsten Begründern der Wünschbarkeit, ja Notwendigkeit theoretisch durchdrungener historischer Forschung und Darstellung.23 Dieses minderheitliche, gegen den mainstream des Faches vertretene Plädoyer für Theorie und seine sonstigen Leistungen als  – wie er sich selbst bezeichnete  – »Theoretiker der Geschichtswissenschaft« standen und stehen im Zentrum von Kosellecks heutiger, weiter wachsender Wirkung auf Teile der Disziplin der Historiker und auf das historische Denken der Gegenwart. Damit prägte er schon die Ausrichtung der Bielefelder Fakultät für Geschichtswissenschaft, der ich angehörte. Aber: Kosellecks These von der Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft hat auch deshalb so viel Überzeugungskraft entfaltet, weil sie nicht nur philosophisch-theoretische Reflexion und programmatische Forderung blieb. Vielmehr war er auch als empirisch arbeitender Historiker eindrucksvoll ausgewiesen, was seinen theoretischen und metatheoretischen Ausführungen jedenfalls unter Historikern zusätzliche Legitimation verschaffte. Dies war ihm im Preußen-Buch gelungen. Hier hatte er sehr konkret gezeigt, was Theorieorientierung in der historisch-empirischen Forschung und Darstellung leisten kann. Diese rationale Leidenschaft für Theorie in Verbindung mit dichtester empirischer Primärforschung hebt Kosellecks Preußen-Buch bis heute aus dem größten Teil der sonstigen Preußen-Forschung hervor. Es belegt, dass man produktiver Fachhistoriker und überfachlich wirkender Intellektueller zugleich sein kann. 22 Walker, Mack, Rezension zu Preußen zwischen Reform und Revolution, in: Journal of Social History 3 (1969–1970), No. 2, S. 183–187, hier 187. 23 Vor allem in den Aufsätzen: Koselleck, Reinhart, Wozu noch Historie?, in: HZ 112 (1971), S. 1–18; und ders., Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: Conze, Werner (Hg.), Theorie der Geschichtswissenschaft und Praxis des Geschichtsunterrichts, Stuttgart 1972, S. 10–28; wd. in Koselleck, Zeitschichten, S. 298–316.

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Aus der zeitlichen Distanz mehrerer Jahrzehnte werden auch die Schwächen und Grenzen des Buches sehr deutlich. Zu seinen Schwächen zähle ich weiterhin seine moderat etatistische Schlagseite. Sie zeigte sich als entschiedener »Blick von oben« schon in der Auswahl der Quellen. Sie zeigte sich erst recht in der für das Buch zentralen Interpretation der staatlichen Bürokratie, des Beamtentums, das als Auslöser und Triebkraft sozialer und sozialökonomischer Wandlungen – einschließlich der Industrialisierung in Preußen – in einer Weise überschätzt wird, die schon dem Forschungsstand der sechziger Jahre, erst recht aber dem heutigen Stand der wirtschafts- und sozialhistorischen Forschung nicht entspricht. So unbestritten es ist, dass die preußische Wirtschaftspolitik im Vormärz zumeist (nicht immer!) die Liberalisierung der Märkte, den Ausbau der Infrastruktur und die beginnende Industrialisierung förderte, so wenig lassen sich diese, der Aufstieg des Wirtschaftsbürgertums und die sich verschärfenden sozialen Spannungen vornehmlich als Ergebnisse staatlicher Politik deuten. Vielmehr resultierte auch in Preußen die wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik der Zeit größtenteils aus gesellschaftlichen Basisprozessen in ausgeprägter regionaler Differenzierung, wenn auch im staatlich gesetzten Rahmen.24 Letztlich reflektierte Kosellecks Perspektive das Selbstverständnis der preußischen Beamtenschaft als eines herausgehobenen historischen Handlungssubjekts, eines »allgemeinen Standes« (im Sinn der Hegelschen Rechtsphilosophie) und als eines Promotors des Allgemeinwohls, ohne dieses Selbstverständnis kritisch zu hinterfragen und sozialhistorisch zu erklären – und das bis hinein in die Enttäuschung über das Versagen dieser Elite in den dreißiger und vierziger Jahren des Jahrhunderts. Etwas mehr Ideologiekritik hätte nicht geschadet.25 Zu den Grenzen des Buchs wird man außerdem zählen, dass in ihm die preußische Entwicklung nicht oder kaum mit anderen deutschen oder europäischen Ländern verglichen wurde. Ihre Besonderheit wurde damit so wenig herausgearbeitet wie die Art ihrer Teilhabe an einer gesamteuropäischen Entwicklung. Dies hat Koselleck später an zwei Stellen in sehr unterschiedlicher, ja gegensätzlicher Weise nachgeholt. In seinem bereits erwähnten Beitrag zur Fischer-Weltgeschichte von 1969 rückte er die preußische Entwicklung 1780–1848 in einen europäischen Vergleichsrahmen, in dem die Geschichte von Emanzipation, Freiheit und Recht als zentrales Entwicklungskriterium fungierte. Darauf bezogen, unterschied er in Europa drei Zonen: eine mit bereits weitgehend erreichter (rechtlicher) Eman­ zipation, darin Großbritannien, Frankreich und die Regionen unter dem Code 24 Siehe zum Wissensstand der 1960er Jahre beispielweise Fischer, Wolfram, Das Verhältnis von Staat und Wirtschaft in Deutschland am Beginn der Industrialisierung (1961) und ders., ›Stadien und Typen‹ der Industrialisierung in Deutschland (1970), in: ders., Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972, S. 60–74, 464–473; zuletzt: Spenkuch, Hartwin, Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947, Göttingen 2019, S. 59 ff., 193–202 sowie Kap IV. 25 Diese Kritik ausführlicher in meiner o.g. Rezension von Kosellecks Preußen-Buch in VSWG 57 (1970). Kosellecks Antwort auf diese und andere Kritiker: ders., Vorwort zur zweiten Auflage, in: Preußen zwischen Reform und Revolution.

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Napoléon; eine Zone der relativen Stagnation mit stecken gebliebenen Reformen, darin Russland und die iberische Halbinsel; und eine mittlere Zone mit legal vorangetriebener Emanzipation und stattfindender Auflösung traditionaler Strukturen. Zu dieser rechnete er Preußen. Damit näherte sich Koselleck der Vorstellung eines West-Ost-Fortschrittsgefälles an, von dem er sich später dezidiert distanzierte, als er sich ausdrücklich gegen Vergleiche wandte, welche andere Staaten als Modelle zur Deutung der deutschen (implizit auch: der preußischen) Geschichte in Form von Verspätungsthesen oder Sonderwegstheoremen heranziehen.26 Gleichwohl spielten je später desto deutlicher implizite und explizite Vergleiche mit anderen europäischen Staaten eine Rolle, wenn Koselleck Eigenarten Preußens identifizierte: als »Staat ohne Staatsvolk«, als »Symbiose zwischen Staat und Geist« ohne »eine gemeinsame Tradition, die sich auf Land und Leute gründete«, als bildungs- und wirtschaftspolitisch erfolgreicher »Armee- und Verwaltungsstaat« in der »Zwischenlage zwischen West- und Ost-Europa, die seine innere Struktur entscheidend mitbedingt habe.27

V. Schließlich sei eine dritte – problematische – Eigenart von Kosellecks Befassung mit preußischer Geschichte angesprochen:28 Im Vorwort zur ersten Auflage des Preußen-Buchs heißt es, die Arbeit wende sich »jenem Zeitabschnitt der preußischen Geschichte zu, in dem die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Weichen gestellt wurden für einen Aufstieg, der schließlich den Staat zum Verschwinden brachte«. Tatsächlich endet das Buch, wie Koselleck im Vorwort zur zweiten Auflage einräumte, mit der Anerkennung einer Aporie, in die die preußische Geschichte in der ersten Jahrhunderthälfte auch aufgrund versäumter Verfassungsstiftung geführt habe. Aber was das für die längerfristige Entwicklung Preußens und Deutschlands bedeutete, bleibt dunkel.29 Schon die Revolution von 1848/49 dürfte im Kategoriensystem von Kosellecks Buch nicht analysierbar ge26 Vgl. oben Anm. 8 sowie die treffende Analyse bei Nebelin, Das Preußenbild, S. 376–380 mit dem Verweis auf Koselleck, Deutschland – eine verspätete Nation? (1998), in: ders., Zeitschichten, S. 359–379. 27 So in Koselleck, Lernen aus der Geschichte Preußens?, S. 154, 155, 162, 163. 28 Dazu auch Nebelin, Das Preußenbild, S. 380–84. 29 Koselleck stellte sich – im Vorwort zur 2. Auflage des Preußenbuchs, siehe Anm. 21 u. 25, – dem Problem folgendermaßen: »Temporal gesprochen führt die Historie Preußens in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in eine Aporie. Es wird ex post deutlich, dass der rechte Zeitpunkt für eine Verfassungsstiftung, nachdem er im Jahrzehnt aktiver Reform gar nicht auftauchte, immer schon verpasst war. Vielleicht liegt darin ein langfristiges Merkmal der preußischen Geschichte. Das wäre eine Antwort auf die aufregende Frage Mack Walkers, ob nicht meine Darstellung auch in Problemkreise einführe, die vielleicht vor 1789 oder nach 1848 vordringlicher waren als gerade im Zeitraum meiner Untersuchung. Es gibt eben Ereignisse, in denen sich durchhaltende Strukturen deutlicher werden als in anderen.« Der Bezug ist auf die Rezension des Preußen-Buchs durch Mack Walker, siehe Anm. 22.

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wesen sein, denn sie war ein europäisches Phänomen, das mit der Begrenzung des Blicks auf die Entwicklung in einem Staat nicht zu fassen war. Mit der preußischen Geschichte zwischen der 48er Revolution und dem Nationalsozialismus hat sich Koselleck, soweit ich sehe, nie ausführlich beschäftigt. Der Langfristbedeutung der von ihm analysierten Entwicklungen ist er nicht systematisch nachgegangen. Zwar verteidigte er später den preußischen Weg – mit klugen Argumenten – gegen seine Verkennung als primär obrigkeitsstaatlich, militaristisch, repressiv und illiberal, und dies im Vergleich mit Befunden nicht nur aus der russischen, sondern auch der französischen und englischen Entwicklung. So wie er die affirmative Teleologie eines Heinrich von Treitschke zurückwies, der die »preußische Berufung« zur Herstellung der deutschen Einheit bis zur Reichsgründung von 1870/71 konstruiert und gefeiert hatte, so sehr wandte sich Koselleck auch dagegen, »das Verfahren von Treitschke […] mit umgekehrtem Vorzeichen auf die darauffolgenden sechs Dezennien anzuwenden, die zwischen 1870 und 1933 liegen. Preußen, was immer auch dieses Gebilde war, kausal für den Nationalsozialismus verantwortlich zu machen, heißt nichts anderes, als einen Antitreitschke zu schreiben, mit gleicher Ehrlichkeit ohne Erkenntnisgewinn. Weder eine unterstellte Notwendigkeit noch eine der Vergangenheit abgeluchste Wünschbarkeit reichen hin, der Vielschichtigkeit vergangener Geschichten mit ihrer inzwischen vergangenen Möglichkeitsskala gerecht zu werden.«30 Aber diese These hat er nie mit empirischer Substanz abgestützt. Auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit der antiparlamentarischen Weichenstellung preußisch-deutscher Verfassungspolitik durch den Heeres- und Verfassungskonflikts und mit seinem Scheitelpunkt 1862, mit der mächtigen Rolle Preußens bei der Nationalstaatsgründung und im Kaiserreich31 oder mit dem komplizierten Zusammenhang zwischen dem nach dem Ersten Weltkrieg schrumpfenden Einfluss Preußens und – einerseits – der Verteidigung und – andererseits – der Zerstörung der Weimarer Republik hat sich Koselleck nicht eingelassen. Sein Augen­merk blieb auf Preußen im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts konzentriert. Er analysierte Preußen in den Phasen des Aufstiegs, nicht aber im Prozess des Niedergangs. Was er über diesen Prozess – bis hin zum Preußenschlag von 1932 und zur Auflösung durch die Siegermächte 1947 – dachte und fühlte, macht aber eine bitter-sarkastische Bemerkung deutlich, mit der er seine vornehmlich skeptischen Gedanken darüber einleitete, was man aus der preußischen Geschichte möglicherweise lernen kann. Ein französischer Autor hatte Mitte des 18. Jahrhunderts das Verhältnis der europäischen Staaten zueinander in der Sprache einer Tierfabel karikiert. Dabei hatte er Preußen als Tiger eingeführt. Daran 30 Koselleck, Lernen aus der Geschichte Preußens?, S. 162–170, Zitat S. 167 f. 31 Doch finden sich immer wieder stichwortartige Bemerkungen, die die Richtung von Kosellecks Urteilsbildung anzeigen, aber nicht ausgeführt werden. Siehe beispielsweise ebd., S. 164: »Und nach der Bismarckschen Reichsgründung lässt sich füglich fragen, ob der konservative und technizistische Kern der preußischen Militärführung die imperialistischen Ambitionen der bürgerlichen Welt mehr gefördert oder mehr gezügelt hat […]. Das Wilhelminische Deutschland und Preußen sind keine runde Gleichung mehr.«

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schloss Koselleck an: »Die Fabelfigur ließe sich ausspinnen: Der Tiger wurde geschwächt durch die Geburt Kleindeutschlands, er wurde durch die Revolution von 1918 um seine königliche Rolle gebracht, er ist kastriert worden durch den vorletzten Kanzler der Weimarer Republik, in den politischen Zoo aussterbender Tiere transferiert worden durch den Führer des großdeutschen Reiches und schließlich, nur noch als Papiertiger, in den Abfallkorb der Weltgeschichte geworfen worden durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 aus dem Jahre 1947.«32 Koselleck gehörte zweifellos nie zu den Verächtern oder Anklägern Preußens. Er ließ seine hohe Wertschätzung für »dieses Gebilde« deutlich durchblicken, wenn er vormärzliche Zeitgenossen mit den Bemerkungen zu Wort kommen ließ, dass Preußen nicht gewachsen, sondern gemacht worden sei, dass es nicht auf Geschichte, sondern auf Vernunft gründe, und dass seine Einheit nicht auf gemeinsamen gesellschaftlich-kulturell-religiösen Traditionen beruhe, sondern auf seiner Staatlichkeit, auf Politik, Verwaltung und Armee. »Darin lag«, so Koselleck, »seine Schwäche, aber auch seine Überlegenheit.«33 Aber Koselleck war andererseits kein unkritischer Bewunderer Preußens. Er relativierte dieses auf Selbstbeschreibung der Eliten fußende, von ihm teilweise übernommene Bild von Preußen als Vernunftstaat durch sozialhistorische Unterfütterung, indem er die eng begrenzte soziale Reichweite der Geltung dieses Bildes auch schon im Vormärz aufdeckte; indem er zeigte, wie häufig die Wirklichkeit hinter diesem Bild zurückblieb; und indem er andeutete, wie sehr diese preußische Identität unter dem Druck und dem Einfluss gewichtiger Nachbarstaaten zustande gekommen war und sich änderte.34 Kosellecks Sprache bleibt nüchtern, skeptisch und manchmal sarkastisch. Er wusste, dass die staatliche Integrationskraft abnahm, die die beträchtliche Heterogenität von Land, Gesellschaft und Kultur Peußens einigermaßen zusammenhielt. Kosellecks Preußen-Bild hätte noch viel kritischer werden müssen, wenn er sich der preußischen Geschichte auch in ihrem späteren Verlauf – bis zu ihrem bitteren Ende – gestellt hätte. Das aber tat er nicht. Vor allem in seiner Habilitationsschrift legte Koselleck eine Deutung preußischer Geschichte vor, die mit ihrer Verbindung von Hochschätzung und Kritik, ihrer Verknüpfung von Fortschritt und Aporie tiefe Ambivalenzen nuanciert herausarbeitete und sehr eigenständig war. Seine intensiven Quellenstudien, sein sozialgeschichtlicher Zugriff und seine anspruchsvolle Theorieorientierung verhalfen ihm dazu. Kosellecks Zugriff stand quer zu den damals üblichen, auch später nicht völlig abflauenden und gegenwärtig vielleicht wieder auflebenden Kontroversen zwischen den dezidierten Kritikern Preußens einerseits, seinen Verteidigern und Bewunderern andererseits.35 Koselleck fand einen Weg, sich dieser 32 Ebd., S. 151. 33 Ebd., S. 154. 34 Ebd., S. 155–166. 35 Siehe zuletzt die sozialgeschichtlich geprägte, kritische Preußen-Interpretation Hartwin Spenkuchs von 2019 (siehe Anm. 24), in deutlicher Absetzung von der viel milderen, versöhnlicheren Deutung der preußischen Geschichte bei: Clark, Christopher, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1946, München 2006.

Reinhart Koselleck als Sozialhistoriker Preußens

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Auseinandersetzung zu entziehen: gewiss ein Verzicht und vielleicht auch ein Ausweichen, aber auch ein Zeichen seiner Originalität und seines Realismus. Dass ihm dies eher in seiner gründlichen Untersuchung des vormärzlichen Preußen als in seinen eher kursorischen Bemerkungen über dessen weitere Entwicklung gelang, sollte im letzten Abschnitt des vorliegenden Aufsatzes gezeigt werden.

Monika Wienfort

Reinhart Koselleck, Preußen und das Recht Das fachliche Ansehen und der öffentliche Ruhm Reinhart Kosellecks beruhen in der Gegenwart vor allem auf seinen Arbeiten zur Begriffsgeschichte, die mit dem Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe verbunden sind. Die Begriffsgeschichte wird wiederum hauptsächlich als Teil eines geschichtstheoretischen Arbeitsprogramms zu Erfahrung, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit wahrgenommen. Historisch betrachtet gestaltete sich die Wahrnehmung des Bielefelder Historikers aber zunächst durchaus anders, und in dieser Rezeption spielte die Habilitationsschrift »Preußen zwischen Reform und Revolution« aus dem Jahr 1967 eine bedeutende Rolle. Das »Preußen-Buch« bietet eine Verfassungs-, Verwaltungs- und Sozialgeschichte Preußens in der »Sattelzeit« zwischen ca. 1770 und Revolution von 1848/49. Es beschäftigt sich vor allem mit dem Recht als einem Gesellschaftsbereich, der die Rahmenbedingungen des Lebens von Gruppen und Individuen in der Vergangenheit wie in der Gegenwart in besonderer Weise bestimmt. Dabei geht es weniger um das Strafrecht als um die »bürgerlichen« Beziehungen von Bürgern und Einwohnern untereinander (z. B. im Vertrags- oder Erbrecht) sowie die Beziehung des Einzelnen zum Staat (im Staatsangehörigkeitsrecht, Wahlrecht etc.). Das Recht definiert das Verhältnis von Staat und Gesellschaft im Übergang von der ständischen Welt zur Klassen- oder bürgerlicher Eigentümergesellschaft in besonderer Weise.1 Das Allgemeine Landrecht von 1794 als erstes geschriebenes preußisches Gesetzbuch bildet im Preußen-Buch gleichermaßen einen Gegenstand der Begriffs- wie der Sozialgeschichte. Die Untersuchung des gesellschaftlichen Wandels in der Inkubationsphase der Industrialisierung in seiner sozialgeschichtlichen Dimension wird ebenso in einer Analyse »begriffsstummer Daten« verfolgt wie in der Bestimmung der »sprachlichen Eigenbewegung«, in der sich geschichtliche Erfahrungen sammeln. Insofern konnte Koselleck beanspruchen, dass die angewandte Methode »sozialgeschichtlich« sei, und die Begriffsgeschichte eine »Variante der Sozialgeschichte«.2 Koselleck behandelt den Bedeutungswandel rechtlicher Begriffe und die Zeitlichkeit von ständischen Kategorien einerseits, die neue Staatsbürgerlichkeit der Einwohner andererseits: »Begriffe, die vergangene Tatbestände, Zusammenhänge und Prozesse umgreifen, werden für den Sozialhistoriker, der sich ihrer 1 Koselleck, Reinhart, Preußen zwischen Reform und Revolution: Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1987. Vgl. zur aktuellen Rezeption, in der das Preußen-Buch nur selten Erwähnung findet Dutt, Carsten / Laube, Reinhard (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013. 2 Ebd., S. 17.

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im Erkenntnisgang bedient, zu Formalkategorien, die als Bedingungen möglicher Geschichte gesetzt werden.« Mit dem Recht stellt Koselleck im Preußen-Buch ein umfassendes System von Begriffen in den Mittelpunkt, in dem sowohl »vergangene Tatbestände« im Sinn des nun kodifizierten Gewohnheitsrechts auftauchen als auch zukunftsorientierte Setzungen, meist als »Reform« charakterisiert.3 Die Entscheidung für Preußen als Untersuchungsraum war in einer Phase, in der die Historiographie zum 19. und 20. Jahrhundert sich mehrheitlich für eine »deutsche« Geschichte als leitendem Paradigma entschieden hatte und in der Preußen dann höchstens das empirische Material zur Verfügung stellte, zumindest nicht von vornherein selbstverständlich. Erst in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, als Sebastian Haffners »Preußen ohne Legende« erschien und die Preußenausstellung 1981 in Berlin mit einer Aufwertung des »preußischen Erbes« in der DDR zusammentraf, gewann das Thema Preußen erneut ein lebhafteres öffentliches Interesse. Dass in dieser Debatte eine neue Sicht auf Friedrich II. in der DDR die Wiederaufstellung des Denkmals Unter den Linden möglich machte, war – angesichts von Kosellecks später so deutlich hervortretendem Interesse an Denkmälern und Erinnerung – aber wohl doch ein Zufall.4 Eine der größten Leistungen des Preußen-Buches liegt in einer historiographischen Kontextualisierung von Recht, die über eine »landesgeschichtliche« Spezialisierung weit hinausgeht. Die intensive Beschäftigung mit zahllosen Verwaltungsdokumenten Preußens als Ereignisgeschichte im Kontext des parallel entwickelten Konzepts der »Sattelzeit« zwischen 1750 und 1850 stellte nämlich empirisch die Verbindung zu den in der Begriffsgeschichte zum Bedeutungswandel der Sprache entwickelten Kriterien von Politisierung, Demokratisierung, Verzeitlichung und Ideologisierbarkeit dar. Das Preußen-Buch behandelt in diesen Perspektiven z. B. die Adelspolitik im Preußen der Reformzeit im Zusammenhang eines entstehenden Begriffs von Staatsbürgerschaft, der auch den privilegierten Stand des Adels einschließen sollte. Die – zunehmend unpraktikablen – Regeln für »unstandesgemäße« Ehen verteidigten einen ständischen Begriff von Adel, der die ökonomischen Verhältnisse eben nicht mehr widerspiegelte. Die Ausein­ andersetzung um die Ausdehnung der Staatsunmittelbarkeit der Einwohner als 3 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 107–129, als ein Beitrag, in dem es vor allem um die Legitimierung der Begriffsgeschichte als Voraussetzung für die Sozialgeschichte geht; Koselleck, Reinhart, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: ders., Begriffsgeschichten, Frankfurt a. M. 2006, S. 9–31; Koselleck, Reinhart / Dipper, Christof, Begriffsgeschichte, Sozialgeschichte, begriffene Geschichte, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187–205. 4 Keil, André, The Preußenrenaissance Revisited: German-German Entanglements, the Media and the Politics of History in the late German Democratic Republic, in: German History 34 (2016), S. 258–78; zeitgenössische Zusammenfassung: Droz, Jacques, In Search for Prussia, in: Journal of Modern History 55 (1983), S. 71–77. Als Quellen u. a.: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.), Preußen ist wieder chic, Frankfurt a. M. 1983 und die Katalogbände zur Ausstellung »Preußen. Versuch einer Bilanz«, Berlin 1981.

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Ausdruck von Demokratisierung wird am Konzept und dem endgültigen Scheitern des Gendarmerieedikts von 1812 untersucht. »Die Wende zur Zukunft« steht schließlich als Teilüberschrift im Kapitel zum Verwaltungsstaat. Die Behandlung von Zukunftsvorstellungen, Verheißung und Erfüllung, »Vorgriffen«, »Überhängen« und »schleichendem Wandel« begleitet die ausführliche Analyse einer »Verwaltungswirklichkeit« in Preußen. Schließlich geht es um die Ideologisierbarkeit von Verwaltungsideen und -praktiken, zumindest im Kontext des Beamtentums als idealem »Staatsstand«.5 Mit der Entscheidung, die Kernphase der »Sattelzeit« im Medium des Rechts, entlang der Verwaltungswirklichkeit und in dem veränderlichen Verhältnis zwischen Recht und Verwaltung zu untersuchen, schloss Koselleck bewusst auch an eine Geschichtsschreibung an, die Preußens Bestimmung für die Erlangung eines deutschen Nationalstaates nicht bloß in den militärischen Siegen des 18. Jahrhunderts, sondern in den modernisierenden Wirkungen der Reformzeit gesehen hatte. Bei der Suche nach den strukturellen Faktoren der Entwicklung Preußens gab sich Koselleck nicht mit einer konventionellen Ideengeschichte der Reformgesetze zufrieden, sondern griff im Gegenstand und in der Chronologie weiter zurück. Wie in kaum einem allgemeinhistorischen Werk vor oder nach ihm stellt Koselleck die politische und soziale Ordnung einer Gesellschaft als Recht (und nicht bloß im Recht) in den Mittelpunkt, als unablässige Folge von Gesetz und Verordnung, Reskript und Kabinettsorder, als Denkschrift, als Beitrag zur Auslegung in einer Fachzeitschrift, als Brief des Juristen an einen Kollegen. Wie die Sprache in der Begriffsgeschichte meint das Recht im Preußen-Buch Indikator und Faktor zugleich, es zeigt Stabilität und Wandel an, während es gleichzeitig selbst als Kodifizierung des existierenden Gewohnheitsrechts Stillstand bedeutet und dennoch Bewegung produziert. Koselleck interessierte die Geschichte der Kodifikation des preußischen Landrechts vor allem als Voraussetzung für die Reformgesetzgebung seit 1806. Damit nahm er wiederum Anregungen der juristischen Rechts- und Verfassungsgeschichte auf, die das europäische »Zeitalter der Kodifikationen« international vergleichend untersuchte.6 Das »Preußen-Buch« ist ein Werk, dessen quellengesättigte Empirie auch heute noch überwältigt: Wie um es denjenigen zu zeigen, die im jungen Koselleck seit der Dissertation zu »Kritik und Krise« primär einen Geschichtsphilosophen der Moderne sehen. Mit dem prononcierten Interesse an Recht und Verwaltung sowie

5 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII. 6 Koselleck, Reinhart, Das 19. Jahrhundert – eine Übergangszeit, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, Berlin 2010, S. 131–150. Brandt, Peter / Kirsch, Martin / Schlegelmilch,. Arthur (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert Bd. 1: Um 1800, Bonn 2006. Aus juristischer Perspektive vgl. Mertens, Bernd, Gesetzgebungskunst im Zeitalter der Kodifikationen. Theorie und Praxis der Gesetzgebungstechnik aus historischvergleichender Sicht, Tübingen 2004.

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der Annahme, dass sich sozialer Wandel unter Rückgriff auf solche Strukturen analysieren lässt, stellt das Preußen-Buch in seinen Akteuren, den Beamten, dem Adel, dem Wirtschaftsbürgertum und den Unterschichten eine klassische Sozialgeschichte dar. Die theoretischen Annahmen über den sozialen Wandel stehen wiederum der Begriffsgeschichte als Methode nahe. Es ging Koselleck im PreußenBuch um Darstellung und Analyse des sozialen Wandels am Vorabend der Industrialisierung an sich und nicht bloß um sozialen Wandel, der letztlich politischen Wandel (sei es in der Revolution von 1848/49 oder genereller) hervorruft. Seine Interpretation einer Geschichte der Temporalstruktur des preußischen Rechts in sozialgeschichtlicher Perspektive beeindruckt durch ihre Komplexität, da sämtliche Elemente des koselleckschen Gesamtwerkes zusammengebracht werden. In der Empirie ging es dabei nicht um einen abstrakten Rechtsbegriff, sondern ganz konkret um die Normen eines Gesetzbuches: des Allgemeinen Landrechts Preußens von 1794.7

I. Das Allgemeine Landrecht als Wiederholungsstruktur In einem Vortrag über »Geschichte, Recht und Gerechtigkeit«, den Koselleck in den späten 1980er Jahren auf dem Rechtshistorikertag in Frankfurt gehalten hat, bemühte er sich um einen theoretischen Begriff von Recht. Recht sei »die institutionalisierte Handhabung und Verwaltung von jeweils zu bestimmender Gerechtigkeit«. Diese mit »jeweils zu bestimmend« für Koselleck so charakteristische Definition, die auf eine primär formale, nicht materielle und moralische Vorstellung von »Gerechtigkeit« verweist, gibt auf den ersten Blick denjenigen Recht, die Koselleck immer schon und vor allem als Geschichtstheoretiker verstanden haben und immer noch verstehen. Offensichtlich handelt es sich bei dem Zusammenhang von »institutionalisierter Verwaltung« und der »jeweils zu bestimmenden Gerechtigkeit« um ein zeitliches Verhältnis, eine Wiederholungsstruktur. Erst verhältnismäßig spät, in einem Vortrag von 2003, hat Koselleck diese Vorstellung von der Wiederholungsstruktur des Rechts explizit gemacht: »Gerechtigkeit und Recht können nur verwirklicht werden, wenn das einmal in Geltung gebrachte Recht wieder angewendet wird. […] Das minimal nötige Vertrauen in das Recht lebt von dessen wiederholter und deshalb erwartbarer Wiederanwendung.« In der Anwendung von Recht treffen sich die Dauerstruktur (z. B. als Paragraph eines Gesetzbuches) und die Einmaligkeit des Einzelfalls (eines bestimmten Kaufvertrages, Gerichtsurteils etc.). Aus der Spannung zwischen beiden Polen ergeben 7 Ob diese Sichtweisen auf die Kant- und Hegel-Lektüre Kosellecks zurückgehen, kann hier nicht weiter untersucht werden. Vgl. Kocka, Jürgen, Sozialgeschichte. Begriff, Entwicklung, Probleme, Göttingen 1986. Zur aktuellen Preußen-Geschichtsschreibung vgl. Clark, Christopher, Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947, München 2007; Spenkuch, Hartwin, Preußen – eine besondere Geschichte. Staat, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur 1648–1947, Göttingen 2019.

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sich »Verschiebungen«, Innovationen, letztlich Veränderungen von Recht. In der Sprache Kosellecks: »Es sind die Wiederholungsstrukturen, die immer zugleich entweder mehr oder weniger enthalten, als in den Begebenheiten zutage tritt.« Das jeweilige Verhältnis von Recht und Gerechtigkeit konkretisiert sich damit in den sozialen Verhältnissen von »Handhabung und Verwaltung«, weniger in der politischen Ereignisgeschichte, und daher stehen die sozialen (gesellschaftlichen) Auswirkungen des Rechts in den Praktiken von Justiz und Verwaltung im Mittelpunkt einer so verstandenen Sozialgeschichte.8 Die Wahrnehmung der Bedeutung des Rechts, der Verwaltung und der Justiz als Akteure wie Medien des sozialen Wandels geht dabei auch auf die preußische Forschungstradition von Gustav Schmoller und Otto Hintze zurück. In der Quellenedition der »Acta Borussica« wurden vor allem die Aktivitäten der staatlichen Behörden des 18. Jahrhunderts detailliert verfolgt. Im Preußen-Buch erscheint das kasuistisch angelegte preußische Landrecht (mit 20.000 Paragraphen) zentral, weil es gleichermaßen eine feste »Dauerstruktur« des Auftakts darstellte wie durch seine Elastizität den sozialen Wandel der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts moderierte. Auf der ersten Seite des ersten Kapitels wird das Landrecht als ein Erbe König Friedrichs II. folgendermaßen beschrieben: »Das preußische Landrecht, das kaum erlassen, überholt zu sein schien, das die weitgehende Verachtung der folgenden Generation auf sich zog, das in der Rechtslehre nur ein Schattendasein führte,  – dieses Recht währte als Grundlage der preußischen Sozialverfassung mindestens bis zum Jahre 1900 und überdauerte in einigen staats- und landesrechtlichen Teilen sogar die Abdankung des Hauses Hohenzollern.« Damit erscheint das Landrecht zu Beginn von Kosellecks Darstellung als triumphierende Dauerstruktur, die sowohl den säkularen sozialen Wandel, die Kritik der Rechtswissenschaft (damit ist vor allem die historische Rechtsschule und Friedrich Carl von Savigny gemeint) und schließlich sogar die politische Zäsur der Revolution von 1918/19 und das Ende der Monarchie überlebte.9 Im Preußen-Buch geht es allerdings nicht primär um das Verhältnis von Recht und jeweils zu bestimmender Gerechtigkeit, sondern um das Verhältnis unterschiedlicher Rechtsbestände, die Koselleck – wiederum sehr typisch – zunächst temporär unterscheidet: »Deshalb steht im 1. Kapitel (des Buches, M. W.) das Verhältnis zwischen überkommenem und neuem Recht im Vordergrund. Zuerst sollen deren Relationen bestimmt werden, bevor sie kausal bestimmten Interes8 Koselleck, Reinhart, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Zeitschichten, S. 336–58, hier S. 337; ders., Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: Saeculum 57 (2006), S. 1–15, hier S. 8. Vgl. auch ders., Dankrede am 23. November 2004, in: Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck (1923–2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 33–60. In der Rezeption ist die »Wiederholungsstruktur« dann als allgemeines Motiv der Historik thematisiert worden, vgl. Missfelder, Jan-Friedrich, Weltbürgerkrieg und Wiederholungsstruktur. Zum Zusammenhang von Utopiekritik und Historik bei Reinhart Koselleck, in: Dutt / Laube, Sprache, S. 268–86. 9 Koselleck, Preußen, S. 23. Zu Friedrich Carl von Savigny vgl. immer noch gewinnbringend Wieacker, Franz, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Göttingen 21967, S. 381–99.

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sentengruppen zugeordnet werden können. Zwischen beiden Rechtsschichten wurde eine Spannung legalisiert, die geschichtliche Bewegung freisetzt, oder besser gesagt, die selber schon geschichtliche Bewegung ist, weil sie über sich hinausdrängt.« Die Temporalstruktur der Rechtsbestände aus bloßer Sammlung von Gewohnheitsrecht einerseits und naturrechtlichem Ordnungsvorstellungen andererseits wird mithin gegenüber einer ideologiekritischen Betrachtung der Akteure priorisiert. Damit lässt sich die Formulierung eines »neuen Rechts« verstehen, das sich eben nicht kausal auf die Interessen von traditionalen bzw. reformorientierten Akteuren (Adel versus Bürgertum bzw. Reformbürgertum versus »traditionellem« Stadtbürgertum) zurückführen lässt bzw. darin aufgeht, in Kosellecks Diktion: »über sich hinausdrängt«.10 Die Erklärung für diesen erstaunlichen Erfolg eines Gesetzbuches aus dem 18. Jahrhundert, das auch noch im Industriestaat des beginnenden 20. Jahrhundert Geltung hatte, liegt dann doch in seiner Heterogenität: In Kosellecks Worten bildet das ALR einerseits ein »Relikt«, weil es inhaltlich aus überkommenem Gewohnheitsrecht besteht, d. h. »nur« eine Sammlung bereits lange geltender Rechtssätze darstellt. Ergänzt wird dieses traditionelle – und wiederum sehr heterogene – Recht durch naturrechtliche Theoreme und »rechtsstaatliche« Sicherungen: die Autoren des Landrechts haben »für die ständisch, regional und lokal je verschiedenen Rechtsbestände allgemeine Formeln herausdestilliert, die, wenn auch nicht in den einzelnen Bestimmungen, so doch in ihrer rechtspolitischen Funktion einem neuen Recht gleichkamen.« Mit anderen Worten: Nicht die jeweilige Einzelbestimmung, sondern die Zusammenstellung durch den »Gesetzgeber« im Gesetzbuch bedeutete einen Rechtswandel. »Potentielles Recht« wurde in Soll- und Kann-Bestimmungen (also als Erwartungshorizont) gefasst, in Absichten und in der Festlegung von Richtungen, in die sich das Recht entwickeln sollte. So gesehen, sind viele der Reskripte, Verordnungen und Reformgesetze der folgenden Jahrzehnte als Umsetzung dieser im Gesetzbuch selbst angelegten Potentiale zu sehen und widerlegen eine einseitige Rezeption einer vergleichsweise schlichten und doch niemals ausreichenden und daher systematisch unbefriedigenden Kasuistik.11 Der Wandel, der sich im und mit dem ALR vollzieht, lässt sich an zahlreichen Beispielen betrachten. Koselleck sieht eine neue »Staatsunmittelbarkeit der Armut«, die eine »Selbstverpflichtung des Staates« enthält, allen Bürgern und berechtigten Einwohnern eine Mindestversorgung zu sichern. Damit liegen die Wurzeln des modernen Wohlfahrtsstaates nicht bloß in den gemeindlichen Armenversorgungssystemen der Frühen Neuzeit und der freiwilligen Wohltätigkeit, sondern vor allem in der Absichtserklärung des preußischen Gesetzbuches. Der Staat machte sich selbst und nicht mehr bloß die Gemeinden für die Versorgung der Armen verantwortlich. Die Innovationsfähigkeit des Landrechts zeigte sich nicht zuletzt in dem, was es nicht regelte. Koselleck nennt die »Manufakturarbei10 Koselleck, Preußen, Vorwort zur zweiten Auflage. 11 Koselleck, Preußen, S. 42, 44; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 332, über die »zuweilen aber auch fast erheiternd ängstliche Kasuistik«.

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terschicht im weitesten Sinn«, die im Gesetzbuch nur geringfügig berücksichtigt wurde: »In der herkömmlichen Standesordnung war für sie kein Platz.« Entsprechend wurden die rechtlichen Verhältnisse der entstehenden Fabrikarbeiterschaft durch die Verwaltung geregelt und damit in den stetigen Innovationsstrom der Verordnungen der Bürokratie eingebunden. Ähnliches galt für die »Fabrikanten«, unter denen das Landrecht nicht bloß die Unternehmer, sondern auch noch Fabrikarbeiter verstehen konnte.12

II. Die »Janusköpfigkeit« des Landrechts und der Übergang vom Stand zur Klasse In der Rezeption der Darstellung des ALR bei Koselleck und in der Diskussion der 1990er Jahre, die sich anlässlich des 200jährigen Jubiläums der preußischen Kodifikation entwickelte, war viel von der »Janusköpfigkeit« des Landrechts die Rede. Der Ausdruck selbst findet sich schon bei Heinrich von Treitschke: »Erst nach seinem (Friedrichs II., M. W.) Tode kam das Allgemeine Landrecht zustande, das deutlich, wie kein anderes Werk der Epoche, den Januskopf der fridericianischen Staatsansicht erkennen läßt. Das Gesetzbuch wahrt einerseits die überlieferten socialen Unterschiede so sorgsam, dass das gesamte Rechtssystem sich der ständischen Gliederung einfügen muß, […] und führt andererseits den Gedanken der Souveränität des Staates mit solcher Kühnheit bis in seine letzten Folgerungen durch, dass mancher Satz schon die Ideen der Französischen Revolution vorausnimmt.« Auch in der Rezeption des Preußen-Buches blieb die Doppelgesichtigkeit als Metapher für die preußischen Verhältnisse sehr präsent. Pierre Ayçoberry hatte in seiner Rezension für die »Annales« die »ambiguité fondamentale« hervorgehoben, die Koselleck dem Landrecht zugeschrieben hatte: »dans le détail de la vie sociale, le Code préserve la tradition, alors que pars ses clauses générales il annonce une société nouvelle.«13 Das Landrecht als erdachter und niedergeschriebener Zentraltext des PreußenBuches erscheint schließlich selbst als dynamisch und von stetiger Veränderung geprägt. Koselleck nimmt die Rede der Rechtshistoriker von der »Janusköpfigkeit« des Gesetzbuches auf und verortet diese in der Übergangsdynamik der »Sattelzeit«. 12 Koselleck, Preußen, S. 129, 117. 13 Von Treitschke, Heinrich, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden, Düsseldorf 1981, S. 77. Ayçoberry, Pierre, Rezension zu Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, in: Annales. Economies, sociétés, civilisations 25 (1970), S. 1608–1614, hier S. 1609. Übrigens nutzt der Autor seine Rezension für umfassende vergleichende Perspektiven auf Preußen und Frankreich, auch über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus, und votiert für eine Einbeziehung der Religion im Kontext der politischen Romantik. Man vermisst aber den an sich naheliegenden Vergleich mit dem Code Civil von 1805, einem doch mindestens ebenso einflussreichen Gesetzbuch. Kocka, Jürgen, Rezension von Preußen zwischen Reform und Revolution, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 57 (1970), S. 121–125.

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Damit verkörpert das preußische Gesetzbuch die Charakteristiken einer säkularen Zeit des Umbruchs. Dieser Zusammenhang bestand in Kosellecks Werk also bereits, bevor er in der berühmten Einleitung zum Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe ausbuchstabiert wurde.14 Die soziale Transformation der Stände- zur Klassengesellschaft, in der aus Adel, Klerus und Stadtbürgern des 18. Jahrhunderts eine Gesellschaft aus Besitzern von Kapital bzw. Arbeit entstand, vollzog sich für Koselleck primär im Recht, weniger in der Ökonomie, und das preußische Gesetzbuch zeigte – hier wiederum parallel zu den Annahmen für die Sprache in der Begriffsgeschichte – gleichzeitig Stabilität und Wandel an. Als bestes Beispiel kann die Patrimonialgerichtsbarkeit, also die Gerichtsbarkeit der (meist ritterschaftlichen) Grundherren gelten, der das Preußen-Buch große Aufmerksamkeit entgegenbringt. »Der Schritt vom Stand zur Klasse war tatsächlich nur über die niedergelegte Hürde der Patrimonialgerichtsbarkeit möglich.« Deutlicher kann die enorme Bedeutung von Recht in Kosellecks Vorstellung sozialen Wandels kaum ausgedrückt werden. Vom »Übergang vom Stand zur Klasse« ist in der Geschichtswissenschaft der 1960er Jahre für das mitteleuropäische 19. Jahrhundert zwar häufig die Rede gewesen. Mehrheitlich verstand man darunter aber allgemeiner einen längerfristigen Prozess der Ablösung politisch-gesellschaftlicher Privilegien und die Entstehung einer bürgerlichen Eigentümergesellschaft. Eine besondere Hervorhebung der Patrimonialgerichtsbarkeit erfolgte nicht.15 In Kosellecks Sicht stellt die Patrimonialgerichtsbarkeit in Preußen die historische Begründung einer ländlichen Feudalgesellschaft für den Status der Eximierten dar, also derjenigen Bürger, die nicht vor den Gerichten erster Instanz Recht nehmen mussten. Es handelte sich dabei in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht bloß um adlige (und zunehmend bürgerliche) Rittergutsbesitzer, sondern auch um die höheren Beamten, die »Intelligenz«, um Richter und Verwaltungsbeamte, Ärzte und Anwälte. Historisch entstanden als Gerichtsstand für die Inhaber eigener Gerichtsrechte, profitierten auch die Beamten von dieser Regelung, da der Staat es ihnen erlaubte, den Gerichtsstand der Eximierten zu teilen. Der Gerichtsstand als zentrales Unterscheidungsmerkmal von »Staatsbürgern« und »Stadtbürgern« bedeutete gleichzeitig, dass der Übergang vom Stand zur Klasse in Preußen genau auf die Revolution 1848/49, also auf die Abschaffung der Patrimonialgerichtsbarkeit, fiel. Koselleck machte damit eine säkulare Entwicklung wie den Übergang vom Stand zur Klasse nicht an ökonomischen Entwicklungen oder der Ausbildung eines bürgerlichen Gruppen-Selbstbewusstseins fest, sondern an der Existenz eines separierenden Gerichtsstandes, der das »Volk« (auch die Stadtbürger) einerseits von den grundbesitzenden adligen Eliten und den Staatsständen 14 Koselleck, Einleitung. 15 Koselleck, Preußen, S. 547, vgl. ähnlich: »Praktisch war der Fortbestand der exemten Foren an die Existenz der Patrimonialgerichte gebunden, deren Inhaber zwangsläufig einer anderen Instanz unterworfen sein mußten als ihre eigenen Untertanen.« (ebd., S. 92); Wienfort, Monika, Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht, Göttingen 2001.

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andererseits schied. Gleichzeitig übersah er keineswegs die sozial verankerte Fortdauer von Herrschaftsungleichheit, indem er hervorhob, dass bedeutsamer als die Patrimonialgerichtsbarkeit die »gutsherrliche Polizeiherrschaft« war – und letztere 1853 wieder eingeführt wurde.16

III. Die Akteure: Juristen und Beamte Es kann kaum überraschen, dass die Beamten als Autoren des Landrechts und der Reformgesetze, aber auch als Praktiker der Verwaltung (weniger die Juristen in der Rechtsprechung) in der Rezeption des Preußen-Buches eine große Rolle gespielt haben. Die Frage nach den Interessen dieser Gruppe im »bürokratischen Absolutismus« und die Vorstellung einer »Selbstermächtigung«, also einer besonderen »agency«, hat in einer personalisierenden Geschichtsbetrachtung »großer Männer« stets Aufmerksamkeit gefunden. Während sich die Rechtswissenschaft dabei durchaus für die Landrechtsautoren interessierte, haben in der geschichtswissenschaftlichen Debatte die Reformbeamten im Mittelpunkt gestanden. Wenn man so will, fügt sich für die juristische Verfassungsgeschichte das Landrecht in die Geschichte der Kodifikationen ein, während sich die Geschichtswissenschaft wesentlich mehr für die Reformgesetzgebung nach 1806 als substanziellem Bestandteil der Politik interessiert hat.17 Die naturrechtlichen Theoreme als Signum des Aufklärungszeitalters, z. B. die Festlegung von Gemeinwohl und »natürlicher Freiheit« als Ziele staatlicher Gesetzgebung, werden auch in Kosellecks Darstellung im Wesentlichen durch die Autoren des Landrechts hinzugefügt, also vor allem durch Carl Gottlieb Svarez und Ernst Ferdinand Klein. Im Preußen-Buch kommen wie in den klassischen verfassungsgeschichtlichen Darstellungen der Juristen die Autoren des Landrechts durchaus vor, allerdings scheint die Interpretation weniger personalisiert als bei den rechtswissenschaftlichen Darstellungen. Zwar sind die Namen der Landrechtsautoren, aber auch von wichtigen Reformbeamten heute in der Öffentlichkeit eher in Vergessenheit geraten (z. B. Johann August Sack, Karl Friedrich von Beyme oder Christian Friedrich Scharnweber). Dagegen blieben die Namen Stein und Hardenberg, von Wilhelm von Humboldt zu schweigen, im historischen Gedächtnis präsent. Diese Männer bestimmen nicht bloß traditionell die Historiographie zu den preußischen Reformen, sondern verkörpern ein – positives – Bild von der preußischen Geschichte des 19. Jahrhunderts generell, und dabei ist es letztlich unerheblich, ob eine hagiographische Würdigung oder eine kritische Absicht verfolgt werden.18 16 Koselleck, Preußen, S. 547. 17 Der Historiker Eckhart Hellmuth hat den »bürokratischen Wertehorizont« beschrieben, vgl. ders., Naturrechtsphilosophie und bürokratischer Werthorizont. Studien zur preußischen Geistes- und Sozialgeschichte des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1985. 18 Hattenhauer, Hans, Einführung in die Geschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, in: ders. (Hg.), Allgemeines Landrecht, Textausgabe f. d. Preuß. Staaten, 1970, S. 11–39,

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Das Landrecht gilt Koselleck als die entscheidende Struktur, die die frühmoderne Beamtenschaft in Preußen als Staatsstand in das 19. Jahrhundert transportierte. In seiner Hochschätzung der Beamten in einem nur im ständischen Sinn und ansonsten nur gering partizipatorischen Staatswesen folgt Koselleck Hegel, und ist dafür vielfach kritisiert worden. Hier scheint es aber weniger wichtig, wie Hegel und mit ihm Koselleck die Beamten als allgemeinen Stand und erste Staatsbürger beschreiben, als hervorzuheben, dass die Kodifikation für ­Koselleck im hegelianischen Sinn Fortschritt bedeutet, auch wenn die Substanz aus bloß gewohnheitsrecht­lichen Regeln bestand. Koselleck selbst hat übrigens auf die Kritik an seinem »Beamtenbild« Mitte der 1970er Jahre reagiert: »Dennoch möchte ich an dem Entwurf einer sich selbst stabilisierenden Handlungseinheit festhalten, wie ich die preußische Bürokratie gedeutet habe. Sie war im staatsrechtlichen Sinne nie souverän, aber innerhalb der sich auflösenden Ständegesellschaft soweit und solange autonom, als sie diesen Vorgang vorantreiben konnte«. Zusätzlich machte er nochmals die Stoßrichtung seiner Argumente deutlich: »Ihre (der Beamtenschaft, M. W.) Allgemeinheit ist konkreter als Deutungskategorien oder Schlagworte sein können wie ›Bourgeoisie‹, ›Junkerklasse‹, ›Liberalismus‹ oder ›Kapitalismus‹.« Die Handlungsmacht der Beamten sollte also nach Koselleck nicht ausschließlich auf die Klassenlage in einem nicht-parlamentarischen politischen System zurückgeführt werden. Aus heutiger Sicht bleibt allerdings fraglich, ob die von Koselleck behauptete Bindung der Beamtenschaft an ein – wie immer definiertes – Allgemeinwohl letztlich nicht doch eine Idealisierung bedeutet.19 Koselleck konstatiert für die führenden preußischen Juristen, dass sie einerseits von der Historischen Rechtsschule (also von Friedrich Carl von Savigny und anderen Vertretern des römisch-rechtlich grundierten Gewohnheitsrechts) beeinflusst wurden. Aber auch Hegel und die Hegelianer, die den Staat als solchen persona­ lisierten und »dessen« Handeln in den Mittelpunkt stellten, übten prägenden Einfluss aus. Die individuelle Wertorientierung, weniger die konkrete Ausbildung der Juristen an der Universität verlief also parallel zur Doppelstruktur des Landrechts selbst. Koselleck macht in diesem Zusammenhang gleich auf der ersten Seite des 1994; Vgl. Kleinheyer, Gerd, Klein, Ernst Ferdinand, in: NDB 11 (1977) (digital); Schwen­ nicke, Andreas, Die Entstehung der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, Frankfurt a. M. 1993. 19 Koselleck, Preußen, S. 116: »Indem der Beamtenstand von einer Nebenklasse, wie ihn Svarez noch stilisierte, zum eigentlichen Stand des Staates aufrückte, wurde der sozialständische Abstand vom gehobenen Bürger zum Adel gleichsam dienstlich mediatisiert.« Vgl. immer noch die Zusammenstellung der Reformbeamten und ihrer Gegner bei Huber, Ernst Rudolf, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 1, Stuttgart 1960, S. 127–35. Koselleck, Preußen, Vorwort zur zweiten Auflage; Kocka, Rezension. Vgl. Willoweit, Dietmar, Die bürgerlichen Rechte und das gemeine Wohl. Das rechtspolitische Profil des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten von 1794, in: Ebel, Friedrich (Hg.), Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft  – Rechtsstaat, Berlin 1995, S. 1–15; am Beispiel der Sozialgesetzgebung, z. B. dem Fabrikenregulativ und der Armengesetzgebung, die von konservativen Beamten beeinflusst wurden: Beck, Hermann, The Social Policies of Prussian Officials: The Bureaucracy in a New Light, in: Journal of Modern History 64 (1992), S. 263–298. 2

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ersten Kapitels des Preußen-Buches darauf aufmerksam, dass Savigny erst 1819 an der Berliner Universität mit einer Vorlesung zum Landrecht begann.20 Im Unterschied zur rechtshistorischen Debatte um das ALR in den 1960er bis 1990er Jahren interessierte sich Koselleck nicht primär für die Entstehung des Landrechts, sondern für die Handlungsspielräume der Verwaltung. Damit verzichtet das Preußen-Buch zwar nicht völlig auf klassische ideengeschichtliche Motive wie »das Naturrecht«, Kant, Hegel oder Montesquieu, stellt aber die Maßnahmen der Regierung in nicht publizierten Denkschriften, Memoranden und allgemeinem Schriftverkehr der Behörden wie in Gesetzen und Verordnungen in den Mittelpunkt. Zeitlich reicht die Untersuchung regelmäßig über das Inkrafttreten eines Gesetzes hinaus, um die gesellschaftliche Wirkung zu erkunden. In dieser Hinsicht erfüllt das Preußen-Buch also eine Forderung, die erst später explizit erhoben worden ist, sich nämlich für die Implementierung von Gesetzen zu interessieren und nicht bloß für die Geschichte ihrer Konzeption.21 Allerdings hat Kosellecks Implementierungsforschung auch Grenzen: Im Preußen-Buch geht es nicht um »soziale Wirklichkeit«, wie sie sich in Gerichtsprozessen der ersten Instanz oder in der Verwaltungspraxis der Landräte oder Magistrate zeigte. Koselleck interessiert sich für die Erfahrungen der Praxis erst von einer gewissen Stufe an, weil er letztlich nicht fragt, wie es dem einzelnen Untertanen oder bestimmten Gruppen in den Begegnungen mit Recht und Staat erging, sondern wie sich Staat und Gesellschaft in der Verwaltungs- und Justizpraxis veränderten: »Der Versuch, auf das Landrecht zurückzugreifen und die staatliche Verwaltung bis in ihre gesellschaftlichen Auswirkungen hinein zu verfolgen, dient vor allem, die Dauerstrukturen in der schleichenden Wende zur Industrialisierung herauszufinden.«22

IV. Preußen als Rechtsstaat Kosellecks Preußen-Buch ist ein konsequent »ziviles« Werk, d. h. es beschäftigt sich nicht (jedenfalls nicht explizit) mit dem Topos von Preußen als Militärstaat. Während sich die sozialgeschichtliche Perspektive der historischen Preußen-Forschung allgemeiner auf den Übergang von der Stände- zur Klassengesellschaft 20 Koselleck, Preußen, S. 23, Anm.1; zum Inhalt: von Savigny, Friedrich Carl, Landrechtsvorlesung 1824, Teil 1, Drei Nachschriften, hg. von Christian Wollschläger, Frankfurt a. M. 1994. 21 Klassisch Conrad, Hermann, Die geistigen Grundlagen des Allgemeinen Landrechts für die preußischen Staaten, Köln 1958. Als Beispiel für eine Verwaltungsgeschichte Preußens, die auch an der Wirkung für die Bevölkerung interessiert ist vgl. Cancik, Pascale, Verwaltung und Öffentlichkeit in Preußen. Kommunikation durch Publikation und Beteiligungsverfahren im Recht der Reformzeit, Tübingen 2007. 22 Koselleck, Preußen, S. 15. Beispiele einer auf »agency« blickenden Verwaltungsgeschichte: Eibach, Joachim, Der Staat vor Ort. Amtmänner und Bürger im 19. Jahrhundert am Beispiel Badens, Frankfurt a. M. 1994; Schaper, Ulrike, Koloniale Verhandlungen. Gerichtsbarkeit, Verwaltung und Herrschaft in Kamerun 1884–1916, Frankfurt a. M. 2012.

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richtete, konzentrierte sich die Wahrnehmung des Landrechts bis zum Erscheinen des Preußen-Buches meist auf die Folgen der Kodifikation für den Staat. Bereits Otto Hintze hatte in seiner Rezension des Werkes von Edgar Löning über die Gerichte und Verwaltungsbehörden (1914) hervorgehoben, dass sich die Auseinandersetzungen der preußischen Behörden untereinander seit dem späten 17. Jahrhundert als »Entwicklung zum Rechtsstaat« interpretieren lassen. In dieser Sichtweise erhielt die gegenseitige Absicherung der Behördenkompetenzen eine rechtssichernde Funktion für Untertanen und Gesellschaft, die dann mit dem ALR schriftlich fixiert wurden.23 Ernst Rudolf Huber setzte diese Tendenz der Definition eines » im Fortschritt wachsenden« Rechtsstaats fort und urteilte in seiner Verfassungsgeschichte über den Übergangscharakter des Landrechts: »Aber wie die großen Kodifikationen in der Regel nicht nur ein Spiegel überkommener Rechtskultur sind, sondern auch der Rechtserneuerung dienen, so gab auch das ALR nicht nur die großen Grundsätze des zu Ende gehenden Zeitalters der Aufklärung wieder; es schuf auch die Grundlagen des kommenden preußischen Rechtsstaats. Gewiss war Preußen in der Zeit seiner großen Kodifikation von einem voll entwickelten Rechtsstaat noch weit entfernt; es galt weder der Grundsatz der Gewaltenteilung, noch gab es verfassungsmäßig verbürgte Grundrechte, noch bestand ein unmittelbarer Gerichtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt.« In Kosellecks Analyse macht sich die Überzeugung der Juristen, die Kodifikation an sich stelle eine Weiterentwicklung dar, deutlich bemerkbar. Es macht in dieser Perspektive einen Unterschied, ob die sog. »rechtsstaatlichen Sicherungen«, das Rückwirkungsverbot, der Schutz der Person und des Eigentums sowie die »Rechte des Menschen«, bloß gewohnheitsrechtlich eingeführt oder in entsprechenden Paragraphen eines Gesetzbuches für das Publikum jederzeit nachzulesen sind.24 Anlässlich des 200jährigen Jubiläums des Landrechts Mitte der 1990er Jahre würdigten führende deutsche Rechtshistoriker das Landrecht positiv. Wie schon der Aufklärer Ernst Ferdinand Klein sah man die Gewährleistung des Eigentums als »Substrat persönlicher Freiheit« und nicht bloß als Ansammlung ständischer oder persönlicher Privilegien. Der Rechtswissenschaftler Detlef Merten meinte: 23 Hintze, Otto, Preußens Entwicklung zum Rechtsstaat, in: Hintze, Otto, Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich, Göttingen 1967, S. 97–163. Hintze dehnt in diesem Text den Beobachtungszeitraum der Acta Borussica mit Blick auf die Trennung von Verwaltung und Justiz sowie auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit auf das 19. Jahrhundert bis zu Rudolf Gneist aus. Vgl. Neugebauer, Wolfgang, Otto Hintze. Denkräume und Sozialwelten eines Historikers in der Globalisierung, 1861–1940, Paderborn 2015. Zum Wissenstand um 1900 Löning, Edgar, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, Halle 1914; Stölzel, Adolf, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung dargestellt im Wirken seiner Landesfürsten und obersten Justizbeamten, 2 Bde., Berlin 1888. 24 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 106. Zu den Rechtsquellen vgl. Koselleck, Preußen, S. 143; zu Svarez vgl. Kuhli, Milan, Carl Gottlieb Svarez und das Verhältnis von Herrschaft und Recht im aufgeklärten Absolutismus, Frankfurt a. M. 2012.

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»Es ist töricht, Verzierungen heutiger Rechtsstaatlichkeit zum Richtstab für die Geschichte zu küren« und erkannte besonders die Bemühungen der friderizianischen Juristen um eine Beschleunigung der Prozesse als wichtiges Ziel der Justizreformen insgesamt an, die schließlich auch die Allgemeine Gerichtsordnung von 1793 zur Folge hatten. In Mertens’ etatistischer Sichtweise gewährleistet die »Rechtsstaatsidee« den Fortschritt vor allem in der Form einer »Gesetzesherrschaft« als Gegenbegriff zum »Machtspruch« des Herrschers, der in der preußischen Justizgeschichte des 18. Jahrhunderts untrennbar mit dem »Müller-ArnoldFall« verbunden ist (und in der publizierten Fassung des ALR explizit nicht mehr enthalten war). Die formelle »Rechtsgleichheit« des Landrechts als Gleichheit vor dem Gesetz stellte zwar sämtliche Einwohner hinsichtlich der Pflicht zur Gesetzestreue gleich, bedeutete im 18. Jahrhundert aber keineswegs »gleiches Recht für alle.« Das Verbot für Bürgerliche, Rittergüter zu kaufen, die Erbuntertänigkeit zahlreicher Gutseinwohner, die Abhängigkeit zwar erwachsener aber unselbständiger Kinder vom Vater und Hausherrn, die privatrechtliche Benachteiligung von Ehefrauen und nichtehelichen Kindern oder das Verbot für adlige Männer, »unstandesgemäße« Ehen mit Frauen des »niederen Bürgerstandes« unter Androhung des Adelsverlusts zu verbieten, blieben vom Landrecht (zunächst) unberührt.25 Für Koselleck besteht jedenfalls der »Möglichkeitsraum« des gesellschaftlichen Wandels im und durch das Gesetzbuch selbst, nicht bloß in seiner Praxis durch das Richterrecht oder in seiner dauernden Abänderung im Prinzip vom Inkrafttreten an. Diese These ließe sich sogar empirisch erhärten, wenn die Rechtspraxis solche »Innovationen« im Gehäuse des traditionellen Rechts zeigen würde. Die dauernde Abänderung zahlreicher Landrechtsparagrafen bereits von Inkrafttreten an erschweren allerdings eine empirische Untersuchung. Die Änderungen betrafen übrigens die unterschiedlichsten Gesellschaftsbereiche vom Obligationen- und Sachenrecht, Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht, Vormundschaftswesen, Erläuterungen zum Adels- und Bürgerstand, den Vorschriften für Universitäten und Studenten über die Verhütung von Hehlerei. Eine größere Strafrechtsreform scheiterte freilich. Es blieb hier wie in den Reformgesetzen seit 1806 bei einzelnen Gesetzen.

25 Bei Koselleck, Preußen, S. 31, ist von »rechtsstaatlichen Absichten« die Rede. Merten, Detlef, Die Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht, in: Ebel, Gemeinwohl, S. 109–38, S. 112: Rechtsstaatliche Anfänge; Schmidt, Eberhard, Beiträge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates. Zur Ehegesetzgebung für den Adel (für adlige Frauen bestand insofern kein rechtliches Problem, als sie den Adel durch Eheschließung mit einem bürgerlichen Mann selbstverständlich verloren) vgl. Jelowik, Lieselotte, Die standesungleiche Ehe in Preußen im 19. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 17 (1995), S. 177–200.

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V. Das Landrecht als Verfassungsvorgriff Aus rechtswissenschaftlicher Sicht hat man bereits die Entsakralisierung des göttlich legitimierten Herrschers zum »Oberhaupt des Staates« im Landrecht als »konstitutionelles Programm« geadelt. Damit gerät in den Hintergrund, dass die Einzelbestimmungen des Gesetzbuches nur subsidiarisch galten und praktisch lokales und regionales Recht in Geltung blieb. Diese Rechtszersplitterung hatte mit der Weitergeltung des »Rheinischen Rechts« im Rheinland (einer Adaptation des französischen Code civil) auch über 1815 hinaus Bestand, obwohl das Landrecht in der Rechtswirklichkeit der alten Provinzen auf längere Sicht integrative Wirkung entfaltete.26 Bekanntlich gelang es im langen Reformjahrzehnt zwischen 1806 und 1820 nicht, Preußen eine geschriebene Verfassung und eine zentrale parlamentarische Vertretung zu geben. Über den Vorrang der Verwaltungsreform und der wirtschaftlichen Liberalisierung gegenüber einer repräsentativen »Verfassung« (Konstitution) in den preußischen Reformen ist viel geschrieben worden. Die Einzelheiten des Scheiterns von der interimistischen Nationalrepräsentation über die Provinzialstände bis zum Vereinigten Landtag 1847 lassen sich nicht bloß in Kosellecks Werk detailliert nachvollziehen. Dabei geht es meist um den Widerstand eines von eigenen wirtschaftlichen Interessen geleiteten Adels gegen eine allgemeine Repräsentativverfassung. Zusätzlich muss die Rolle der Monarchen, aber auch einer neuen Generation konservativer Beamter, die die liberalen Reformkräfte der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts zunehmend beiseitedrängte, berücksichtigt werden. Jedenfalls konnten im Gegensatz zu den süd- und mitteldeutschen Staaten Monarch und Staatseliten in Preußen bis zur Revolution von 1848/49 durchaus ohne Konstitution auskommen.27 Politische Partizipation jenseits der Beamten wird im Preußen-Buch erst im Kapitel über die Provinzialstände der 1820er Jahre zum Thema. In Kosellecks Sicht konnte aber der Primat der Beamten damit nicht überwunden werden: »Die verkündete provinzialständische Verfassung war zwar alles andere als ›liberal‹, aber sie war liberal in all dem, was sie nicht war. Jedenfalls ließ sich der Liberalismus der Behörden, soweit diese ihm selbst anhingen, von den Provinzialständen aus nicht in Frage stellen.« Wie auch immer man die Defizite und Leistungen der Provinzialstände bewertet, die immerhin ein öffentliches Forum für politische Debatten, nicht zuletzt für die Forderung nach einer Gesamtrepräsentation Preußens, boten: Am Übergewicht der Bürokratie und »des Staates« insgesamt, selbst einer 26 Merten, Rechtsstaatsidee, S. 135. 27 Birtsch, Günter, Zum konstitutionellen Charakter des preußischen Allgemeinen Landrechts v. 1794, in: Politische Ideologien und nationalstaatliche Ordnung, Festschrift f. Theodor Schieder z. 60. Geburtstag, 1968, S. 97–115; Wienfort, Monika, Preußen, in: Daum, ­Werner (Hg.), Handbuch der europäischen Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, Bd. 2: ­1815–1847, Bonn 2012, S. 959–992.

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zunehmend konservativer werdenden Bürokratie, änderte sich erst spät etwas, in der wachsenden politischen Öffentlichkeit seit den 1830er Jahren.28 In den Anfangskapiteln des Preußen-Buches und in einem Exkurs zur Begrifflichkeit von Einwohnern, Untertanen und Staatsbürgern findet sich Kosellecks Beitrag zum »Konstitutionalismus« des Landrechts. Koselleck lässt zunächst den Autor des Landrechts, Svarez, auf eine »Art Ersatzverfassung« hoffen. Aber letztlich ist die Bilanz negativ: »Trotz der grundrechtlichen Ansätze ging die Kodifikation kaum über die Praxis des Alten Fritz hinaus. Der Souverän blieb absolut, der Bürger nur innerlich frei«. So sehr Koselleck die rechtsstaatlichen Grund­legungen des Landrechts, vor allem auch in der häufigen Verwendung des inklusiven Begriffs »Einwohner«, hervorhebt: Gegenüber einer Interpretation, die aus der Kodifikation gleichsam »organisch« die Konstitution hervorwachsen sieht, bleibt er skeptisch.29

VI. Das Preußen-Buch heute oder »Post-Mortem on Prussia«30 In beinahe jeder Darstellung zur Geschichte des 19. Jahrhunderts in den deutschen Staaten findet sich eine Anmerkung mit Kosellecks Preußen-Buch. Damit scheint die generelle Würdigung bis auf weiteres gesichert. Trotz dieser Bestätigung kann von einer intensiven Auseinandersetzung mit Preußen und seinem Recht in der deutschsprachigen Historiographie kaum noch die Rede sein. Dafür lassen sich zumindest drei Gründe nennen: Erstens, das Buch wird als ein Buch über Preußen und nicht als ein Buch über Recht wahrgenommen. In einer vornehmlich rechtsgeschichtlichen Rezeption könnten die Thesen Kosellecks weit mehr als bislang erfolgt anhand der »Rechtswirklichkeit«, d. h. an den tatsächlich in Preußen privatrechtlich geschlossenen Verträgen, den Gerichtsurteilen im Zivil- und Strafrecht, anhand von Ehescheidungsprozessen oder den Auseinandersetzungen zwischen Bürgern und der Verwaltung überprüft werden. Durch eine zunehmende »Verfrühneuzeitlichung« der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erscheinen Landrecht und Reformzeit gleichermaßen weit entfernt von der Gegenwart. Das Preußen-Buch bedient wegen seiner komplexen Sprache, vor allem aber wegen der fehlenden Essentialisierung Preußens als entweder homogen konservative Wertegemeinschaft und Tugendhort oder als perhorresziertes Privilegiengebilde auch nicht die – freilich kaum noch aktuellen – Bedürfnisse der Preußenverehrung einerseits oder des Preußen-Hasses andererseits.31 28 Koselleck, Preußen, S. 337. Vgl. Frie, Ewald, Friedrich August Ludwig von der Marwitz. 1777–1837, Biographien eines Preußen, Paderborn 2001. 29 Koselleck, Preußen, S. 30 f.; ebd., Exkurs II: Zu den Begriffen des Einwohners, Mitglieds, Untertans und Staatsbürgers im ALR, S. 660–62. 30 Dorpalen, Andreasm, Post-Mortem on Prussia: The East German Position, in: Central European History 4 (1971), S. 332–45. 31 Vgl. zur Würdigung des Gesamtwerkes Steinmetz, Willibald, Nachruf Reinhart Koselleck, in: GG 32 (2006), S. 412–32.

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Zweitens: Koselleck, der Rechts- und Sozialhistoriker, macht sich als Koselleck, der Geschichtstheoretiker, selbst die größte Konkurrenz. Während für das Recht die Juristen als Experten existieren, stellt die Geschichtstheorie einen für andere Disziplinen schwer erklimmbaren intellektuellen Olymp dar – das erklärt möglicherweise die fächerübergreifende Faszination für die Begriffsgeschichte, für Erfahrungswandel, Erwartungshorizonte und die Rätsel der Zeitlichkeit. Drittens: Aus der Perspektive der Geschichtswissenschaft, soweit sie die Moderne bearbeitet, spielt das Recht gegenüber Kultur und Ökonomie generell eine erstaunlich geringe Rolle. Bereits in den 1980er Jahren interessierten sich die (neuen) Leser des Preußen-Buches eher für die Rolle der Bürokratie in der Entwicklung von Wirtschaft, ländlicher Eigentümergesellschaft und Kapitalismus und machten damit wiederum primär die (Wirtschafts-)Politik zum Gegenstand der Rezeption. In der kulturgeschichtlichen Wende sind Rechts- und Sozialgeschichte insgesamt in den Hintergrund gerückt. Wenn einmal das Recht im Mittelpunkt historischer Betrachtung steht, geht es wie beim Thema Nationalsozialismus oder in der Kolonialgeschichte primär um Unrechtsstrukturen.32 »Es ging(e) nicht mehr um Wiederherstellung zerfallender Ordnung, sondern um Neuschöpfung«: Kosellecks Interpretation des Landrechts als gedachte und im Vollzug gelingende Innovation ist in der Forschung einzigartig geblieben. Für den Code civil lässt sich einzig Elisabeth Fehrenbachs Werk über die Rheinbundstaaten nennen, das in vorbildlicher Weise die administrativen Vorbereitungen und politischen Debatten über die Einführung des französischen Gesetzbuches in Deutschland analysiert. Neuere Untersuchungen zur Rechtsgeschichte des Vormärz fügen sich dagegen eher in die Trends der Kriminalitäts- und Zensurgeschichte ein. Zwar wurde die Rechtsvereinheitlichung durch die Reichsjustizgesetze im Kaiserreich grundsätzlich gewürdigt, aber eine Erfahrungsgeschichte ihrer Umsetzung als Verbindung von Rechts- und Sozialgeschichte steht noch aus.33 Eine kritische Lektüre des Preußen-Buches liefert weiterhin zahlreiche Anregungen, das Recht grundsätzlich und potenziell jede Kodifikation als temporal strukturiert zu begreifen und überhaupt als zentrales Element gesellschaftlicher Wirklichkeit, nicht bloß für die Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik, stärker zu berücksichtigen. Freilich stellt Kosellecks Werk keine Erfahrungsgeschichte »von unten« dar, sondern eher eine Erfahrungsgeschichte aus staatlicher Perspek32 Vgl. hier nur Steinmetz, Willibald, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art, in: Kämper, Heidrun / Eichinger, Ludwig (Hg.), Sprache – Kognition – Kultur, Berlin 2008, S. 174–97; Hoffmann, Stefan-Ludwig / Franzel, Sean (Hg.), Reinhart Koselleck, Sediments of Time. On Possible Histories, Stanford 2018. 33 Koselleck, Preußen, S. 36. Sperber, Jonathan, State and Civil Society in Prussia: Thoughts on a New Edition of Reinhart Koselleck’s Preußen zwischen Reform und Revolution, in: The Journal of Modern History 57 (1985), S. 278–96. Fehrenbach, Elisabeth, Traditionelle Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoleon in den Rheinbundstaaten, Göttingen 1974; Holtz, Bärbel, Der preußische »Zensurdrache« im Veto der Quellen, in: Neugebauer, Wolfgang (Hg.), Oppenheim-Vorlesungen zur Geschichte Preußens, Berlin 2014, S. 185–212.

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tive, personifiziert meist in den dienstlichen Handlungen der Regierungsbeamten, methodisch erschlossen im Begriffswandel. Die Verschränkung von strukturanalytischen Fragestellungen mit Themen individueller Erfahrung von Krieg und Tod, mit denen sich Koselleck in seinen späteren Lebensjahren beschäftigt hat, spiegelt im Grunde den gleichen Zugriff. Insofern erscheint das Preußen-Buch als ein korrespondierendes Gegenbild zu den Trauma-Themen von Tod und Erinnerung, mit den analogen Polen aber unterschiedlichen Akzentsetzungen. Erst zusammen gesehen ergibt sich ein vollständiges Bild von Kosellecks historischem Denken. »Preußen zwischen Reform und Revolution« stellt so gesehen keine zu vernachlässigende Vorgeschichte der koselleckschen Begriffsgeschichte oder der Historik dar, sondern ist als ein elementarer Bestandteil von beidem zu interpretieren.

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»Identitätsstiftung« eines »Überlebenden«? Reinhart Kosellecks Strukturanalysen des politischen Totenkults I. Vielfältige Anfänge Der Zeitpunkt, wann Forschungsideen entstanden sind, lässt sich selten genau bestimmen. Reinhart Kosellecks Beschäftigung mit dem »politischen Totenkult«, wofür er den Begriff geprägt, grundlegende Studien vorgelegt und einflussreiche methodische Vorgaben geliefert hat, begann in den 1970er Jahren. Koselleck gestaltete damals selbst eine diskursive Konstellation, in der er in einer allmählichen Verfertigung der Ideen im interdisziplinären Gespräch Grundlinien eines neuen Forschungsfeldes entwickelte. Die Frage nach Repräsentationsformen des gewaltsamen Todes stand dabei am Beginn. Sie wurde von ihm gestellt nach der Habilitation (1965 in Heidelberg, 1967 mit der Veröffentlichung des Preußenbuches abgeschlossen), nach einer intensiven Beschäftigung mit Sozialgeschichte, im Preußenbuch wie im Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte (seit 1965), und nach dem allgemeinen, öffentlichen Politisierungsschub im Gefolge der Protestbewegung von »1968«.1 In den Jahren zwischen 1972 und 1979 verfolgte Koselleck das neue Thema in mehreren Strängen, die 1979 in einem Aufsatz verflochten wurden. Den identifizierbaren äußerlichen Beginn bildeten zwei interdisziplinäre Seminare zum Thema »Politische Ikonographie« 1972 in Heidelberg, die Koselleck zusammen mit dem Kunsthistoriker Anselm Riedl abhielt2. 1975 machte er eine Erkundungsfahrt zu Schlachtfeldern, Friedhöfen und Denkmalen in Belgien und Flandern,3 im November 1976 begann eine Folge von vier Tagun1 In Gesprächen erzählte Koselleck, die Studenten hätten »68« eine Beschäftigung mit dem Krieg und dem Nationalsozialismus gefordert, daraufhin habe er vorgeschlagen, ein Seminar zu den Denkmälern der Kriege zu machen. 2 Als Ziel des Seminars benannten die beiden Veranstalter, »den Wandel sozialer und politischer Erfahrung am Wandel der Bildwelt vom Spätmittelalter bis zum 20. Jh. durch diachrone Vergleiche sichtbar zu machen«, hierfür war eine Beschränkung auf »die Themenkreise Töten und Sterben vorgesehen«. Die »Veränderung der Erfahrung« sollte mittels »bildimmanenter Kriterien« aufgehellt werden; NL Koselleck, Marburg, K 14, M 74; Koselleck, Antrag an VWStiftung, 31.8.1976, Marburg K 9, M 50 (der Hauptteil des Nachlasses von Koselleck liegt im DLA in Marbach; in Marburg finden sich die Teile, die seine Beschäftigung mit den Kriegerdenkmälern und dem politischen Totenkult betreffen). 3 Die Reise dauerte etwa zwei Wochen; Teilnehmer waren Gerhard Dohrn-van Rossum und Franz-Josef Keuck, Doktorand bzw. Student bei Koselleck. Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, hg. von Jan Eike Dunkhase, Der Briefwechsel 1953–1983, Frankfurt 2019. (Koselleck an

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gen in ­Bielefeld und Bad Homburg (die letzte fand 1980 statt). Erste Vorträge zum Thema hielt Koselleck 1976, im September auf dem Treffen der Gruppe »Poetik und Hermeneutik« sowie auf einer von Michel Vovelle geleiteten Tagung in Aix-en-Provence.4 1977 bis 1979 finanzierte die VW-Stiftung ein vergleichendes Projekt über »Kriegerdenkmäler« in Deutschland und Frankreich, Antragsteller waren Koselleck und Riedl (Heidelberg), Partner in Frankreich war Michel Vovelle (Aix-en-Provence), doch intellektuell federführend und organisatorisch leitend war Koselleck in Bielefeld. Die erste Phase der Beschäftigung mit dem, was Koselleck später dann »politischer Totenkult« nennt, fand ihren sichtbarsten Niederschlag im 1979 erschienenen Aufsatz »Kriegerdenkmale als Identitätsstiftung der Überlebenden«, die Vorträge 1976 in Deutschland und Frankreich waren Kurzfassungen dieses Textes.5 Damit sind die äußeren, die öffentlich sichtbaren Etappen der Zuwendung zum Thema ästhetische Repräsentationen des gewaltsamen politischen Todes in den 1970er Jahren genannt, zugleich erfolgte in diesen Jahren die Konzentration auf die »Kriegerdenkmale« als empirische Grundlage. Das Interesse Kosellecks zielte dabei von Anfang an auf unterschiedliche Fragen. Mindestens vier Problemkomplexe sind dabei zu unterscheiden. Erstens steht bereits am Beginn eine genuin ästhetische Frage. Diese richtete sich auf das Problem der Darstellbarkeit des menschlichen Todes. Die Fragen nach der politischen Bedingtheit wie auch der politischen Lesbarkeit von Kunst sollten an einem Sujet erörtert werden, das zugleich eine genuin ästhetische Heraus­ forderung enthält, jenseits aller politischen Voraussetzungen: wie ist etwas darstellbar, das sich der Nutzung und Verarbeitung eigener menschlicher Erfahrbarkeit entzieht? M. a. W., am Anfang ging es noch nicht per se oder ausschließlich um Kriegerdenkmäler, sondern auch um Darstellungen des menschlichen Sterbens, des Todes allgemein (ein klassisches Sujet von Kunsthistorikern hierfür waren Herrschergräber), aber auch um den gewaltsamen Tod (Formen und Praktiken des Hinrichtens) und seine Darstellbarkeit (Goya). Das Interesse Kosellecks zielte besonders im Gespräch mit Kunsthistorikern vor allem auf die Geschichte der Todeserfahrung und ihrer bildlichen Darstellung, er fragte nach den »Grenzen der Darstellbarkeit des gewaltsamen Todes im bildlichen Medium«.6 Es ging um das Schmitt, 1.10.1975, mit einer längeren Schilderung seiner Eindrücke) sowie mündliche Mitteilung Gerhard Dohrn-van Rossum (7.2.2020). 4 Koselleck, Reinhart, Die Herausforderung der Mahnmale. Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: FAZ 13.11.1976, B 1 f., die Tagung in Bad Homburg fand vom 5.–11.9.1976 statt; ders., Les monuments aux morts. Contribution à l’étude d’une marque visuelle des temps modernes, in: Centre méridional d’histoire sociale des mentalités et des cultures (Hg.), Iconographie et histoire des mentalités, Paris 1979, S. 113–123. 5 Koselleck, Reinhart, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276. 6 Koselleck an Imdahl, Riedl, Palm, Schmoll, Schubert, 19.9.1980 (alle hatten an den Tagungen teilgenommen), mit der brieflich geäußerten Absicht, aus den Beiträgen einen Band zu machen; Marburg, KK 1, M 3, Xi.

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auch bildliche »aussprechen, was eigentlich unsagbar ist«.7 Also um die Grenzen der Erfahrung und der Erfahrungsvermittlung des Todes. Zweitens wurde ein theoretisches Problem erörtert, die politische Bedingtheit von ästhetischen Zeugnissen. Die Neugier auf das Verhältnis zwischen diesen beiden Sphären lässt sich weit zurückverfolgen. Sicherlich wurde diese Neugier auch befördert durch sein Interesse an Kunst, durch seine Neigung zum eigenen künstlerischen Ausdruck (1947 wollte er bekanntermaßen eigentlich ein Kunststudium beginnen8). In die Richtung einer politischen Deutbarkeit ästhetischer Zeugnisse verweist auch eine frühe Beschäftigung mit »politischer Ikonologie«, so der Titel einer einseitigen kurzen Skizze von 1963, zum Verhältnis von Denken, Bildlichkeit und Sprache.9 Nicht zuletzt lag die Frage nach der politischen Sozialgeschichte von Kunst, nach den politischen Bedingungen für ästhetische Darstellungen, 1972 mehr im Trend als 1963. Drittens zielten die Fragen auf das politische Deutungspotential ästhetischer Ausdrucksformen, besonders von Denkmalen. Es ging also um die Frage, welche politischen Deutungen, welche Identitätsangebote präsentieren künstlerische Darstellungen den zeitgenössischen Betrachtern, für die sie errichtet wurden? Denn neben der Erinnerung an die »Getöteten«, um die es sich immer handelt, steht die Frage nach der Legitimation dieses Todes gewissermaßen hinter jedem Denkmal. Deshalb muss eine historische Interpretation des Denkmals auch den Rechtfertigungen dieses Tötens und Getötet Werdens nachgehen, die im Denkmal ihren Ausdruck finden, wenn sie nach der Funktion von Denkmälern fragt. Denkmäler bewahren nicht nur ein Andenken an Personen, sie übermitteln immer auch politische Wertungen und Deutungen. Erinnern heißt zeigen, könnte man sagen, in Anlehnung an die von Koselleck geprägte Formulierung, »zeigen heißt verschweigen«.10 In diesen Spannungen ist der unvermeidbare politische Sinn von »Kriegerdenkmälern« und »Opferdenkmälern« angesiedelt, der die Stifter zur Errichtung motivierte und der durch das Denkmal vermittelt werden sollte. Viertens berührte die Frage der Darstellbarkeit des gewaltsamen Todes auch biographische Erfahrungen, darin lag der persönliche Bezug begründet. Das konnte bei der Beschäftigung mit den Überrest- und Traditionsquellen des Ersten Weltkriegs die Geschichte des eigenen Vaters sein, der über vier Jahre Soldat gewesen war. Nach der Denkmalstour durch Frankreich erläuterte Koselleck in 7 Koselleck an Anselm Riedl, 5.3.1984; Marburg, KK 2, M 7, Xr. 8 Koselleck, Reinhart, Formen der Bürgerlichkeit. Interview mit Manfred Hettling u. Bernd Ulrich, in: Hettling, Manfred / Ulrich, Bernd (Hg.), Bürgertum nach 1945, Hamburg 2005, S. 40–60, hier S. 52. 9 Abgedruckt in: Locher, Hubert / Markantonatos, Adriana (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, München 2013, S. 295. 10 Koselleck, Reinhart, Die Transformation der politischen Totenmale im 20. Jh., in: Transit 22 (2002), S. 59–86, hier S. 69, Koselleck verwendete die Formulierung bereits vorher in seiner Dankesrede für die Verleihung des Sigmund Freud-Preises, Koselleck, Reinhart, Vorgriff auf Unvollkommenheit, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 1999, S. 146–149.

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einem Brief an Carl Schmitt, »während der Fahrt las ich die Regimentsgeschichte, die mein Vater geschrieben hat und die mich von Tag zu Tag durch Flandern, über die Somme und den Chemin des Dames nach Verdun führte. Die Phantasie reicht nicht aus, um für möglich zu halten, was damals geschehen ist.«11 Doch Koselleck war vor allem auch selbst Kriegsteilnehmer gewesen, seine Erfahrungen machte er als Soldat und Kriegsgefangener zwischen 1941 und 1947, besonders prägend in Russland (1941/42, 1945/46). Als Beleg hierfür soll nur darauf verwiesen werden, dass während der ersten Tagungen in den späten 1970er Jahren, als es um die Bildlichkeit der Todesdarstelllungen ging und vor allem Kunsthistoriker eingeladen waren, Koselleck seine Interpretation einer Textquelle vorstellte, einer knappen Briefedition von deutschen Soldaten aus Stalingrad (die sich später als eine Fälschung der 1950er Jahre erwies).12 Die Hypothese liegt nahe, dass der Weltkriegsteilnehmer Koselleck, der auf dem Weg nach Stalingrad 1942 verwundet worden war, nach einer Möglichkeit suchte, sich der Erfahrung des nahenden Todes über eine Analyse der Briefe aus Stalingrad zu nähern. Für diese Annahme spricht auch eine kurze Schilderung, eigentlich nur ein Wahrnehmungsspot, den Koselleck oft erzählt hat. Auf dem Weg nach Stalingrad habe er ein Pferd auf sich zu und an sich vorbeilaufen gesehen, dem der halbe Kopf gefehlt habe. Dieses Bild, die Impression eines apokalyptischen Reittiers, aus der Richtung Stalingrad kommend und an ihm vorbeiziehend, dem eigenen Tod entgegengaloppierend, habe für ihn eine Visualisierung des gewaltsamen Todes in ikonischer Verdichtung dargestellt. So seine Interpretation dieses Erlebnisses, das für ihn die Bedeutung einer Primärerfahrung erlangte, wie er es später nannte. Die »Primärerfahrung« mit dem gewaltsamen Tod anderer im Krieg wurde von Koselleck am Beginn seiner Beschäftigung mit dem »politischen Totenkult« in die theoretische Reflexion über die Unmöglichkeit verwandelt, über die Erfahrung des eigenen Todes zu sprechen. Denn die Todeserfahrung, über die Menschen sprechen, ist eine vermittelte Sekundärerfahrung. Sie setzt sich zusammen aus dem Wissen über den zukünftigen eigenen Tod und der Wahrnehmung des Todes der anderen. Indem der gewaltsame Tod zum Thema wird, das »Getötet Werden« und das »Töten der anderen«, wird der gesehene Tod der anderen auch zum Vor11 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 271. 12 Es handelt sich um: Letzte Briefe aus Stalingrad, Frankfurt 1950 (ohne Herausgebernamen erschienen); die Gründe, weshalb von einer Fälschung auszugehen ist, bei Ebert, Jens, Zwischen Mythos und Wirklichkeit. Die Schlacht um Stalingrad in deutschsprachigen authentischen und literarischen Texten, Berlin 1989, S. 31–35. Es sind keine Originalbriefe erhalten; die Briefe sollen angeblich Mitte Januar mit der letzten Maschine aus Stalingrad ausgeflogen worden sein, sind aber sehr unterschiedlich datiert; sprachlich weichen sie gravierend ab von den überlieferten authentischen Briefen aus Stalingrad, stilistisch von der Ausdrucksweise in privater Kommunikation (als ein Beispiel: »Du bist Seelsorger, Vater«; Letzte Briefe, S. 34). Vgl. Daniel, Ute / Golovchansky, Anatoly / Osipov, Valentin / Prokopenko, Anatoly / Reulecke, Jürgen (Hg.), »Ich will raus aus diesem Wahnsinn«. Deutsche Briefe von der Ostfront ­1941–1945, Wuppertal 1991, S. 312 f.; Ebert, Jens (Hg.), Feldpostbriefe aus Stalingrad. November 1942 bis Januar 1943, Göttingen 2003.

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stellungsraum über den eigenen Tod. Die Kriegerdenkmale, als Darstellungen und Deutungen des Kriegstodes, ermöglichen dem Historiker deshalb eine Analyse der politischen Sinngebungen (Koselleck spricht von Identifikationsangeboten) und der ästhetischen Aussagemöglichkeiten. Kosellecks Interesse galt dabei beidem, aber eben auch der ästhetischen Herausforderung einer Darstellung des nicht unmittelbar Erfahrbaren.13 Der »Identitätsstiftungsaufsatz« von 1979 endet mit dem Verweis, dass die Ästhetik die politische Funktion überdauern kann, indem sie auf kulturell verankerte »Todessymbole« zurückgreife. Zugleich könnten die ästhetischen Signale den konkreten Einzelfall überdauern – denn jeder Betrachter dieser Darstellungen des erinnerten Todes sei auf diese Aussagemöglichkeiten angewiesen, da der eigene Einzelfall noch bevorstehe.14 Bezieht man das zurück auf die theoretischen Deutungskategorien Kosellecks, heißt das: beim Themenfeld politische Ikonographie, »Kriegerdenkmale«, politischer Totenkult dachte er von Anfang an in der Relation von Einzelfall und strukturellen Voraussetzungen, in zeitlichen Perspektiven von Erfahrung und Erwartung, von politischer Heteronomie in ihrer Spannung zu subjektiven »Primärerfahrungen«. Deshalb sind Kosellecks Arbeiten zur Analyse des »politischen Totenkults« auch als eines der empirischen Arbeitsfelder zu verstehen, in denen er seine theoretischen und methodischen Überlegungen, die er seit den 1960er Jahren in Aufsätzen veröffentlicht hat, in der Praxis angewandt hat. Oder, anders gewendet, seine theoretischen Überlegungen sind auch entstanden aus den praktischen Erfahrungen des Historikers, der sich intensiv mit empirischer Detailarbeit und sozialgeschichtlichen Fragen beschäftigte. Das soll im Folgenden gezeigt werden.

II. Gescheiterte Forschungsprojekte und wegweisende Texte. Der Begriff »politischer Totenkult« entstand erst im Lauf der Zeit. In den 70er Jahren findet er sich weder in den Projektanträgen noch in Briefen oder in den Publikationen Kosellecks; 1985 aber firmiert das von Koselleck beantragte Teilprojekt im Bielefelder SFB unter dem Titel »Der politische Totenkult. Eine vergleichende Studie zur Geschichte der Krieger- und Bürgerkriegsdenkmäler«.15 Der Begriff fasst genauer, was Koselleck interessierte, zugleich hat sich der Schwerpunkt seiner Fragestellung damit verschoben. Nicht mehr die zuvor im interdisziplinären Dialog mit den Kunsthistorikern akzentuierte Frage nach politischen Bedingungen ästhetischer Darstellungen stand im Mittelpunkt, sondern die Analyse von politischen 13 Vgl. seinen Hinweis, Tote seien auch – und letztlich nur – mit sich selbst identisch; Koselleck, Identitätsstiftungen, S. 257. 14 Ebd., S. 275. 15 Antragsband Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums: Deutschland im internationalen Vergleich, Ms. Bielefeld 1985, S. 497–522; der Begriff findet sich ebenfalls im Bericht einer Tagung am Wissenschaftskolleg 1989; Koselleck, Reinhart, Geschichte des politischen Totenkults der Neuzeit, Jahrbuch des Wissenschaftskollegs 1988/99, S. 134–137 (Koselleck war 1988 bis 1990 Fellow am Berliner Kolleg).

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Deutungen des gewaltsamen Todes im Medium ästhetischer Repräsentationen. Das Forschungsinteresse verschob sich damit hin zu politischen und ideologischen Deutungen des gewaltsamen Todes. Damit rückte auch eine doppelte Differenz immer mehr in den Vordergrund. Einerseits die zwischen den Toten und den Überlebenden, welche nachträglich dem Handeln und dem Sterben der Toten Sinn zuschreiben. Zugespitzt wird die nachträgliche Sinndeutung des Kriegshandelns jeweils durch die Stellungnahmen der Veteranen, welche die Erfahrung des Krieges mit den Getöteten mehr oder weniger teilen. Andrerseits durch eine zeitliche Differenz zwischen der vergangenen Erfahrung des Krieges, des Bürgerkriegs, der Gewaltsituationen und den zeitlich späteren Erinnerungen und Erzählungen, die immer auch Vermittlungsangebote oder Deutungszumutungen an die Nachlebenden bedeuten. In den späten, auch mit autobiographischen Erinnerungsepisoden arbeitenden Texten bezeichnete Koselleck diese Erfahrung der Mitlebenden der Gewalt als »Primärerfahrung«, welche in Differenz stehe zu den gesellschaftlichen und politischen Sekundärerinnerungen, die durch Institutionen ermöglicht, verfestigt und vermittelt würden. Viele Texte Kosellecks zum Totenkult machen auf diese Differenz aufmerksam. Die ideologiekritische Leistung des Historikers, die Koselleck in seinen Arbeiten zum politischen Totenkult paradigmatisch leistete, hat er 2004 in einer Rede provozierend zugespitzt und geradezu normativ zur Verpflichtung erhoben: »Der Historiker hat die Aufgabe nicht Identität zu stiften, sondern sie zu vernichten, um dann neue Wege frei zu legen, die dann kommunikativ entstehen.«16 Man geht nicht fehl, hierin eine Forderung zu sehen, dass die Historie sich jeder politischen oder moralischen Sinnstiftung enthalten solle. Als Wissenschaft kann sie nur vergangene Deutungen analysieren, oder in der Gegenwart darlegen, welche politischen Deutungen von Vergangenheit sich nicht in Widerspruch zu geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen befinden. Insofern kann die Historie vielleicht ein ›Vetorecht‹ reklamieren, welche historischen Identitätsstiftungen nicht wissenschaftlich begründbar sind, aber sie kann selber keine Vorgaben für diese machen. Nach dem Aufsatz von 1979 erschienen erst seit den frühen 1990er Jahren neue, und dann zahlreiche Veröffentlichungen zum »Totenkult«.17 Auslöser waren die denkmalspolitischen Kontroversen der sich nach 1989/90 auch symbolpolitisch neu gestaltenden Bundesrepublik, vor 1993 der Streit um die Neugestaltung der »Neuen Wache«, später die Debatte um das Berliner Holocaustdenkmal. In den Jahren zwischen 1993 und 2006 erschienen die meisten Texte Kosellecks zum Totenkult und zu Denkmalsfragen, aber auch zu erinnerungstheoretischen Problemen und autobiographischen Rückblicken  – gewissermaßen auf der festen 16 Koselleck, Reinhart, Gibt es ein kollektives Gedächtnis? in: Divinatio 19 2004, S. 22–28, hier S. 28. 17 Im Zeitraum dazwischen erschien nur »Daumier und der Tod« als Beitrag zu einem Ausstellungskatalog (Stoll, André (Hg.), Die Rückkehr der Barbaren. Europäer und »Wilde« in der Karikatur Honoré Daumiers, Hamburg 1985, S. 53–62), der noch das Anfangsinteresse an Todesdarstellungen spiegelt, aber nicht auf Kriegerdenkmale bezogen ist.

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Grundlage der seit den 70er Jahren entwickelten Beschäftigung mit den Fragen der ästhetischen Repräsentation des gewaltsamen Todes und den politischen Inanspruchnahmen dieser.18 Die seit 1976 geplante Monographie wurde nie geschrieben. Beide Forschungsprojekte, das von der VW-Stiftung 1976–1979 finanzierte und das SFB-Projekt (1986–88) blieben ohne das erstrebte monographische Ergebnis. Kosellecks Plan für die Studie, die er selbst schreiben wollte, gegebenenfalls mit ergänzenden Teilen durch Mitarbeiter, ist in den Projektanträgen zu erkennen. An den damals entwickelten Leitfragen hat er im Grunde festgehalten, in den danach erschienenen Texten finden sich bestimmte Grundfragen, Kategorien, Vergleichsanordnungen, Problemskizzen wieder, die in den Projektanträgen enthalten sind. Der Antrag von 1976 intendierte eine »Edition ausgewählter Kriegerdenkmäler«, machte also im Kern eine Sichtbarmachung dieses Gegenstands zum Forschungsthema. Basis der historischen Analyse sollten, in einem deutsch-französischen Vergleich, serielle, sozialgeschichtliche Studien sein – in der Erforschung der Kriegerdenkmäler ging es zu einem großen Teil um eine sozialgeschichtliche Analyse der Erscheinungen und Entstehungsbedingungen. Der Fokus richtete sich auf den Entstehungskontext (Finanzierung, Stifterkreise), die Formen (Inschriften, Orte), die Rezeption (Feste), zeitlich ausgerichtet auf den Zeitraum seit der französischen Revolution. Der Antrag betonte, dass sich seit der Revolutionsära um 1800 der »soziale und politische Funktionszusammenhang« deutlich unterscheide von früheren Zeiten.19 Zu Grunde lag dieser Konzeption damit die Hypothese, seither durch viele empirische Studien belegt, dass sich in der »Sattelzeit« ein tiefgreifender Formund Funktionswandel der Darstellung des gewaltsamen Todes vollzogen habe. Gefragt werden sollte im Projekt, konzentriert immer auf die Epoche seit der Sattelzeit, nach »schichtenspezifischen Bewusstseinsbildungen und Verhaltensformen in den modernen Staatsvölkern« (Antrag), die Kriegerdenkmäler fungierten als »Faktor und Indikator« hierfür (eine Unterscheidung, die sich ebenso findet Jahre zuvor in der Einleitung der Geschichtlichen Grundbegriffe20). Ästhetische und sozialgeschichtliche Zugriffe könnten, so wird es vorsichtig formuliert, eine mögliche »gemeinsame Grundeinstellung« zum gewaltsamen Tod sichtbar machen, die »anthropologisch« gedeutet werden könne (Antrag). Methodisch ging es darum, aus den in historischer Detailarbeit erst zu sammelnden und diachron zu ordnenden Denkmälern typische Muster zu erschließen. Das stellt exakt jenes Verfahren dar, das Koselleck wenige Jahre später im Aufsatz über »Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte« beschrieben hat. Dort legte er dar, dass sich sowohl die Sozial- wie die Begriffsgeschichte mit Einzelfällen beschäftigten, ihr Interesse die18 Es handelt sich um 26 Texte (Aufsätze, Zeitungsartikel, Interviews), vgl. Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 559–76 (Bibliographie Koselleck). 19 Antrag an VW-Stiftung, 31.8.1976, Marburg K 9, M 50. 20 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXVII, hier S. XIV.

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sen aber nicht an sich gelte. Vielmehr ziele ihr Interesse darauf, »die langfristigen, die diachron wirkenden Bedingungen, die den jeweiligen Einzelfall ermöglicht haben«, zu ermitteln. Und, sie fragten nach den »langfristigen Vorgängen«, die sich aus der Vielzahl der Einzelfälle erschließen ließen. Im Zentrum der Forschung stünden einerseits damit »Strukturen«21, auch in ihrem Wandel, und andrerseits die sprachlichen Vorgaben, unter denen solche Strukturen in das gesellschaftliche Bewusstsein eingegangen seien. Koselleck beschreibt hier am Beispiel von Sozialund Begriffsgeschichte Unterschiede wie Gemeinsamkeiten. Die gesellschaftlichen und sprachlichen Gegebenheiten als Bedingungen sind unterschiedlich verfasst, sie sind zugleich wechselseitig aufeinander angewiesen; gemeinsam ist ihnen, dass sich jeder Einzelfall nur aus den langfristig gewachsenen Strukturvorgaben erklären lässt. Bei der Erforschung des politischen Totenkults ging Koselleck von einer analogen Fragestellung aus. Wenn die Begriffsgeschichte das Ziel hat, die sprachlichen Vorgaben zu analysieren, unter denen Strukturen in das gesellschaftliche Bewusstsein eingehen können, so zielt die Analyse der Erscheinungen des Totenkults auf die Sichtbarmachung der ästhetischen Formen, der politischen Setzungen und der moralischen Kategorien, mit denen der gewaltsame Tod dargestellt wird und als sinnhaft bzw. sinnlos gedeutet werden kann. Immer wieder versuchte Koselleck, die beiden Mitarbeiter des Projektes auf einheitliche Fragen und die Bestimmung dieser nur diachron zu bestimmenden Strukturen zu verpflichten. Denn für das Ziel einer diachronen Strukturgeschichte war er auf die empirische Detailarbeit, auf die geplanten seriell auswertbaren Materialgrundlagen angewiesen. Meinhold Lurz, Mitarbeiter für die deutsche Denkmalslandschaft, wurde dafür im Allensbacher Meinungsforschungsinstitut ausführlich über die »statistischen Prämissen für die Herstellung langer Reihen« beraten;22 erarbeitet wurde ein Katalog zur Denkmalsaufnahme, es wurden eine Fotothek und ein Lochkartensystem zur Auswertung angelegt. Geplant war eine Verbindung diachroner Themen mit Deutschland und Frankreich vergleichenden Fallstudien. In den diachronen Studien sollten Formen und Inhalte der Denkmäler, Inschriften, Standorte, typische Stifterkonstellationen, aber auch Denkmalsstürze, Gegenprojekte etc. erforscht werden. Das zielte auf die empirische Grundlage der ›harten‹ Tatsachen jenseits der ästhetischen Gestaltung. »Hauptarbeitsziel« sei es, so Koselleck, die »diachronen Reihen« zu untersuchen, wie sie »differieren und 21 Koselleck, Reinhart, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Schieder, Wolfgang / Sellin, Volker (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. I, Göttingen 1986, S. 89–109, hier S. 102; ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt 1979, S. 107–30. Im früheren Aufsatz konzentriert sich Koselleck mehr auf die Möglichkeit, durch die Begriffsanalyse auch sozialgeschichtliche Zusammenhänge erkennen zu können, sowie auf Fragen von Kontinuität und Wandel in Begriffs- und Sozialgeschichte. Das Problem von Einzelfall und ermöglichenden Bedingungen als Gemeinsamkeit von Sozial- und Begriffsgeschichte wird erst im späteren Aufsatz ausführlicher thematisiert. Vielleicht – das kann nur als Hypothese formuliert werden – spiegelt das eine Erfahrung wider aus den Bemühungen, eine Sozialgeschichte des politischen Totenkults zu schreiben. 22 Zwischenbericht an VW Stiftung, 21.10.1977, Marburg K 9, M 50.

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konvergieren«, wie Typen der Denkmäler, Inschriften und »politisch-gesellschaftliche Umstände« aufeinander zuzuordnen seien. Mit diesem Anspruch, eine sozialgeschichtliche Analyse vorzulegen, ist Koselleck gescheitert. Das umfassende sozialgeschichtliche Vorhaben (geprägt vielleicht auch vom Bielefelder Umfeld und einer in den 1970er Jahren verbreiteten Hoffnung auf die Möglichkeiten der Quantifizierung) lief ins Leere, scheiterte auch an der Vielzahl und Vielfalt der Objekte. Nicht zuletzt machte sich auch bemerkbar, dass staatlich-administrative Vorgaben für Denkmalserrichtungen auch in der Ära des modernen Nationalstaats seit dem 19. Jh. nur in sehr rudimentärer Weise bestehen. Das ermöglichte einen großen Spielraum im Lokalen für die Gestaltung der Denkmäler, dieser besteht seit der Umbruchszeit um 1800 bis heute. Die politisch-rechtlichen Rahmensetzungen für die Errichtung von Denkmälern haben den Gestaltungsraum der lokalen Ebene in den letzten zwei Jahrhunderten kaum durch bürokratische oder gesetzliche Vorgaben verengt. Das stellt eine nicht zu vernachlässigende innere Bedingung der Vielfalt der Denkmalslandschaft dar.23 Die von Koselleck implizit versuchte Übertragung des methodischen Verfahrens der Begriffsgeschichte auf die Analyse des Totenkults stieß damit an Grenzen. Bei der historischen Analyse von Begriffen gibt es die Möglichkeit, sich an Struktursetzungen zu orientieren, die durch rechtliche Normierungen (nicht zuletzt die Sprache der Gesetzestexte selbst), durch bürokratische Ordnungen, durch die Praxis verwaltungsmäßigen Handelns greifbar wird. Nicht vergessen darf man auch, dass die Lexika einen bereits aggregierten Zugriff auf die diachrone Analyse des Sprachwandels bieten. Im Unterschied hierzu fehlen analoge Zugriffsmöglichkeiten bei einer Analyse der Denkmäler, greifbar sind nur die vielfältigen Einzelereignisse. Diese stellen – bleibt man beim Vergleich mit der Begriffsgeschichte – die konkreten individuellen Sprechakte dar. Schon schwieriger aber erweist sich die historische Erfassung und Analyse der jeweiligen ›Sprechsituation‹, der Entstehungsgeschichte des Denkmals mit den Stifterintentionen und -aktivitäten, dem Finanzierungsproblem, den politischen und sozialen Interessenlagen der Beteiligten. Insbesondere jedoch fehlen fast vollständig normierende Vorgaben, staatlich-exekutive Vorgaben, enzyklopädische Bilanzen. Wenn begriffsgeschichtlichen Arbeiten oft vorgeworfen wurde, zu sehr Höhenkammanalysen zu liefern und konkretes Sprachhandeln zu wenig zu berücksichtigen, so mag diese Kritik übertrieben gewesen sein. Sie verdeutlicht aber den Unterschied zum Untersuchungsfeld des politischen Totenkults. Bei den Denkmälern liegen gewissermaßen die konkreten Einzelfälle, die Denkmalsakte, in Fülle vor  – hingegen kann der Historiker nicht auf analoge Aggregierungen (wie sie etwa Lexika für die Begriffsgeschichte enthalten) zurückgreifen. Dieses systematische Problem wurde in den Koselleckschen Forschungsvorhaben zum politischen Totenkult immer wieder 23 Vgl. die ausführliche Darlegung der kommunalen Zuständigkeiten für Denkmalsgenehmigungen bei Watermann, Daniel, Ein ziemlich freies Feld: Denkmäler als politisches Ausdrucksmittel der Bürgergesellschaft (1800 bis heute), in: Hettling, Manfred (Hg.), Politische Denkmale in der Stadt, Halle 2016, S. 95–119.

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sichtbar. Dennoch war Koselleck erfolgreich  – mit einer Strukturgeschichte des politischen Totenkults. Auch wenn die ursprünglich intendierte Erstellung langer Reihen, damit die geplante empirisch-quantitative Fundierung, nicht zu Stande kam, benannte er zentrale Grundmuster und Rahmenbedingungen für die Gestaltung von Kriegerdenkmälern und skizzierte diachrone Entwicklungslinien des politischen Totenkults in der Neuzeit. Im Antrag von 1985 ist eine knappe und präzise Definition von »politischem Totenkult« enthalten. In diachroner Perspektive wird der politische Totenkult als Spezifikum der westlichen Neuzeit verortet. »In bewußter Opposition zum dynastischen Totenkult des absolutistischen Zeitalters« sei in der französischen Revolution damit begonnen worden, »für jeden gefallenen Bürger – im Krieg und im Bürgerkrieg  – eine schriftliche Erinnerung auf den Denkmalen zu sichern und durch feste Riten ständig zu memorieren. Parallel zu diesem Vorgang läßt sich seit der Aufklärung eine Transposition christlicher Jenseitsvorstellungen in die politische Zukunft der Staatsnation aufzeigen«. In der Fürstenwelt der Frühen Neuzeit seien Kriege mit erbrechtlichen Ansprüchen legitimiert worden. Damit brachen die Revolutionen des 18. Jh., erst mit dem republikanischen Totenkult wurde der gewaltsame Tod als solcher zu einem politischen Legitimationstitel, wurde das allgemeine Sterben des einzelnen im Krieg an einen innerweltlichen Zweck gebunden und damit aufgewertet.24 Der gewaltsame Tod trat damit in einen politischen Funktionszusammenhang, in dem das Legitimationspotential angelegt ist, auf das die Denkmäler rekurrieren. Diese zeigen, symbolisieren, beschwören systemübergreifend ein »wofür« des Sterbens, während das »warum« oder das »wie« des Sterbens in aller Regel ausgeblendet werden.25 Indem das Sterben an die politischen Handlungseinheiten gebunden wird, rückt die Zugehörigkeit zu dieser Handlungseinheit in den Vordergrund, die Gleichheit der Zugehörigkeit und die (neue) Gleichheit des Sterbens verweisen fortan aufeinander. Diese »Demokratisierung«26 ist nicht im Sinne einer politischen Demokratisierung zu verstehen, sondern als Tendenz, jeden Gefallenen – im 20. Jh. dann jedes zivile Opfer – als Einzelperson sichtbar zu machen durch eine Namensnennung und besondere Darstellungsweise. Insofern ist darin vor allem eine Individualisierung und Egalisierung enthalten, die im 20. Jh. nach 1918 ihren Ausdruck in den Denkmalen des »unbekannten Soldaten« gefunden hat. Koselleck hat außerdem das in der unterstellten Gleichheit der Zugehörigkeit zur Handlungseinheit enthaltene Ideologisierungspotential betont, durch das den Toten durch die Überlebenden oder den Überlebenden durch die Nachgeborenen jeweils identitätsstiftende Deutungen zugeschrieben werden. Diese Ideologisierung ist gleichsam zwangsläufig,

24 Koselleck, Reinhart, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998, S. 13. 25 Das »wie« wird erst in den sinnsuchenden Denkmalen für die »Opfer von« nach 1945 zu einem Thema; Koselleck, Transformation der Totenmale. 26 Koselleck, Identitätsstiftungen, S. 259 f.

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weil das gewaltsame Sterben einerseits eine Sinnzuschreibung erfordert, und sich andrerseits die Sinnbezüge permanent historisch ändern.27 Kosellecks Analysen des politischen Totenkults haben diese Spannungen als Bedingungen für konkrete Ausgestaltungen von Denkmälern immer wieder skizziert. Methodisch bieten seine Arbeiten Unterscheidungen an, um diese Verschränkungen und Bedingtheiten analytisch erfassen zu können. So hat er etwa darauf insistiert, systematisch zu trennen zwischen den Intentionen der Stifter von Denkmälern, der ästhetischen Eigensprache der Objekte, und den Rezeptionsvorgängen im diachronen Wandel – und alle jeweils von den Deutungen, welche die Toten selber ihrem Handeln oder Schicksal vor ihrem Ende gegeben haben mögen. Gerade etwa in seinen Stellungnahmen zur Umgestaltung der Neuen Wache oder zum Holocaustdenkmal hat er sich sehr scharf und kritisch gegen naive und vereinfachende Interpretationen der ästhetischen Lesbarkeiten der neuen Monumente gewandt.28 Ebenso hat er unter Verweis auf das begrenzte Formenarsenal und die Ikonographie der Denkmäler auf die Wiederholbarkeit ästhetischer Elemente hingewiesen. Mit diesem begrenzten Repertoire konnten aber je unterschiedliche nationale Besonderheiten dargestellt und verkörpert werden. Die Ästhetik der Denkmäler lässt sich demnach nicht auf die jeweiligen politisch-sozialen Bedingtheiten zurückführen – wie sich aber auch allein aus den ästhetischen Erscheinungen die Bedeutung nicht hinreichend erschließen lässt. Man kann es so zusammenfassen: die Unterscheidungen, die Koselleck vorgenommen hat; die diachronen Verlaufsbeschreibungen, die er skizziert hat; die Ideologisierungsmöglichkeiten, die er exemplarisch offengelegt hat, sind vielfach aufgegriffen worden. Zahlreiche Studien zu Einzeldenkmälern oder zu lokalen Ensembles oder zu einzelnen Denkmalstypen, die seit den späten 1970er Jahren entstanden, sind im Grunde ohne Kosellecks Arbeiten nicht denkbar. Zugleich aber ist festzustellen, dass bis heute keine umfassenden seriellen Arbeiten entstanden sind, die den diachronen und seriellen Ansprüchen der Projektentwürfe von damals auch nur annähernd genügen würden.

III. Ein Ausweg? Das geplante »Reiterbuch« Spätestens seit den 1990er Jahren arbeitete Koselleck schließlich an einem »Reiterbuch«. wie er es nannte. Der Plan zu einer derartigen Studie, konzentriert auf Reiterstandbilder, trat an die Stelle der fast zwei Jahrzehnte verfolgte Idee einer 27 Insofern ist das ein Beispiel für die Unvermeidlichkeit von »Geschichtlichkeit«, wie Koselleck das wiederholt erläutert hat. Die Heterogenität zwischen strukturellen Bedingungen führt zu einer Spannung, aus der heraus geschichtliche Dynamik erwächst. 28 Erinnert sei nur an seine Kritik der Kollwitzschen Pietà als einem christlich geprägten Symbol, welches Nichtchristen und Nichtmänner tendenziell ausschließe, zumindest aber nachrangig repräsentiere.

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diachron vergleichenden Studie der Kriegerdenkmäler am deutsch-französischen Beispiel. Die Beschränkung auf dieses rein quantitativ deutlich kleinere Genre von Denkmälern bedeutete auch eine Fokussierung auf repräsentative politische Denkmale; damit trat die Frage nach der politischen Bedingtheit ästhetischer Zeugnisse wieder mehr hervor. Denn im klassischen Herrscherdenkmal, das die Reiterstatuen in der Regel bis ins 19. Jh. hinein waren, wurden mehrheitlich dynastische Fürsten als Herrscher und in dieser Funktion als Feldherren dargestellt. Doch vollzog sich seit der Frühen Neuzeit schleichend eine Erweiterung des Kreises der Denkmalsfähigen. Seit dem 19. Jh. und der Demokratisierung des Totenkultes wurden die Reiterdenkmale gegen den Trend des Rückgangs der Monarchien und des Verlustes der Herrschaftsfunktion der überlebenden Häuser zahlreicher. Auf den öffentlichen Plätzen tummelten sich somit gerade in der Moderne die »kaum überschaubaren Herden der postrevolutionären Reiter«.29 Die Konzentration auf die Reiterdenkmäler bot dabei einerseits die Chance, sich auf – in der Regel – besonders aufwendig und komplex gestaltete Objekte konzentrieren zu können, die politische Herrschaft symbolisierten. Und andrerseits hatte das den Vorteil, dass Koselleck als Einzelperson den Anspruch der empirischen Vollständigkeit einlösen konnte – jedenfalls glaubte er, dies zu können. Eine Einladung nach Bremen, im Sommer 2005, nahm Koselleck »gern« an, wie er wissen ließ, weil er dadurch auch das dortige Reiterdenkmal in natura besichtigen könne. Die Reiterstatue Friedrichs III. von Louis Tuaillon in Bremen (1905) sei »eines der wenigen Reitermale in Deutschland, von dem ich noch kein eigenes Foto gemacht habe«.30 Darin spiegelt sich auch, das kann man annehmen, die Erfahrung der gescheiterten früheren Projekte. Aber, Koselleck war kein positivistischer »Reiterbeinzähler«. Auch in seinem Bremer Vortrag wollte er, wie er an Tassilo Schmitt schrieb, »diachron und synchron vergleichend vorgehen«. Der Anspruch, den Koselleck verfolgte, lässt sich aus diesen späten Textbruchstücken erschließen. Man kann daraus gewissermaßen seine Methodik der Denkmalsanalyse skizzenhaft destillieren. Grundlagen für das Folgende sind eine Skizze von wenigen Seiten »Zur Geschichte der Reiterdenkmale« mit dem Untertitel »struktur-analysen«; sowie einzelne Textfragmente in der Vorbereitung auf das Reiterbuch. Sein methodisches Verfahren bestand, das soll im Folgenden ausführlicher erläutert werden, in der Bestimmung und Darlegung von Bedingungen für die Gestaltungen und objekthaften Erscheinungsformen des politischen Totenkults. Koselleck hat dabei unterschieden zwischen zwei Arten von »Bedingungen«, die sich in ihrer theoretischen Konstruktion und in ihrem Abstraktionsgrad auf sehr unterschiedlichen Ebenen befinden. Zum einen hat er jeweils auf ein Bedingungsgefüge konkreter politisch-sozialer und kultureller Voraussetzungen für die 29 Hunecke, Volker, Reitermonumente, in: Den Boer, Pim u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2, München 2012, S. 177–188, hier S. 179. 30 Reinhart Koselleck an Tassilo Schmitt, 5.1.2005, Marburg, M 173. Die große Zahl der Reiterstandbilder spricht für den Eifer und den Aufwand, mit dem Koselleck die eigenhändige Materialsichtung betrieb; Hunecke, Reitermonumente, S. 179.

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Errichtung der Denkmäler verwiesen. Diese lassen sich differenzieren nach zeitlichen, nationalen, religiösen etc. Kriterien, es handelt sich hier um strukturelle Gegebenheiten, die sich zu individuellen Konstellationen verdichten – etwa im vormodernen dynastischen Totenkult der ständischen Welt oder im egalitär verfassten der modernen Nationalstaaten. Zum andern versuchte Koselleck abstrakte Kriterien und formale Unterscheidungskategorien zu identifizieren, die er auch als anthropologische bezeichnet hat, wie z. B. oben-unten-, innen-außen-Relationen. Diese stellen Differenzkriterien zur Verfügung, völlig unabhängig von den konkreten politisch-sozialen oder kulturellen Gegebenheiten in einer bestimmten Zeit oder einer konkreten Region. a) Politisch-soziale »Vorgegebenheiten«31. Koselleck differenzierte in seinen Aufsätzen und Texten diachrone Entwicklungsverläufe und strukturelle Bedingungen für je mögliche Denkmäler. Diese »struktur-analysen«, wie er sie in einer selbst getippten Notiz bezeichnete, bilden den Kern seines Vorgehens. Es handelt sich hier um ein typisierendes Verfahren, insofern er das jeweils Mögliche (im Sinne des in einer Zeit und einer politischen Umgebung Üblichen) an Beispielen erläuterte und illustrierte. Das eröffnete die Chance, sowohl nach sich verändernden Bedingungen zu fragen, als auch einzelne Denkmäler besonders zu analysieren, wenn sie gewissermaßen aus dem vorgegebenen Darstellungshorizont herausragten, ausbrachen – oder auch an ihnen neue Ausdrucksformen sichtbar wurden. Das Argumentationsverfahren entspricht der Koselleckschen Unterscheidung von Struktur und Ereignis. Denkmäler werden verstanden als Konkretisierungen innerhalb eines durch die strukturellen Bedingungen vorgegebenen Rahmens. Er skizziert in seinen Arbeiten zum Totenkult im Grunde jeweils die national und zeitlich vorgegebenen Bedingungen für die Errichtung von Denkmalen und analysiert damit die politischen, ästhetischen, sozialen Voraussetzungen für die Denkmäler. Das sind jeweils notwendige, nicht aber hinreichende Bedingungen für die Erklärung des jeweiligen Einzelfalls. Im Wesentlichen versuchte Koselleck, hierbei sowohl auf ästhetische Bedingungen (ikonographische Formtraditionen, Bildlichkeit, etc.) einzugehen, als auch auf soziale und politische. Da er im Grunde jeweils Überblicksdarstellungen publiziert hat,32 bieten die Texte diachrone Entwicklungen und breiten ein Spektrum von Bedingungen aus. Dieser Rahmen bildet den eigentlichen Gegenstand der Koselleckschen Denkmalsanalysen. In den Texten und den wenigen unveröffentlichten Skizzen zum Reiterbuch tritt das methodische Verfahren Kosellecks immer wieder deutlich hervor. Wohl für die Einleitung geplant, entwickelt er in einer knappen Skizze grundsätzliche 31 Die oft zitierte Stelle lautet: »Jedes Ereignis zeitigt mehr und zugleich weniger, als in seinen Vorgegebenheiten enthalten ist«, Koselleck, Reinhart, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 144–157, hier S. 151. 32 Auch seine Vorträge waren in der Regel thematisch und zeitlich weit gefasste Erläuterungen der Entwicklung des politischen Totenkults, mit mehr oder weniger zahlreichen und ausführlichen Verweisen auf Einzelfälle.

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Überlegungen zum Reiterdenkmal. Dieses stelle einen »Ausnahmefall« in den Hochkulturen dar. Pferde seien in allen Hochkulturen (mit Ausnahme des vor­ kolumbianischen Amerika) verbreitet gewesen, aber nur in der griechisch-römischen Antike und im christlichen Europa habe sich der Typus des überlebensgroßen Reiterdenkmals entwickelt.33 Eine Erklärungshypothese, so Koselleck, sei, dass nur im Abendland die Relation reitender und nicht-reitender Bevölkerungsgruppen ein »spezifisch herrschaftliches Spannungsverhältnis« zu den Untertanen hervorgebracht habe. Ergänzend fügt er hinzu, »wo Herrscher in Sänften getragen werden, und nicht selber reiten, kommt es zu keinem Reiterdenkmal«. Nur wenn die Distanz zwischen dem berittenen Führer und den nicht Berittenen politisch festgeschrieben war, konnten Reiterstandbilder »freigesetzt werden«. Da in Asien die siegreichen Völker, die aus Norden oder Osten kommend andere Gebiete eroberten, alle beritten gewesen seien, hätte »keine berittene Spannung zu Unberittenen« bestanden. Handschriftlich ergänzte er im Manuskript, »wenn alle reiten – kein Reiterdenkmal!« (Hervorhebung RK). Koselleck verweist auf eine politische bzw. herrschaftliche Differenz als Bedingung, ohne diese näher zu bestimmen, d. h. ohne auf Strukturen der politischen Verfasstheit näher einzugehen. Stattdessen wird ein ästhetischer Befund (Reiterdenkmale) in Beziehung gesetzt zu soziologischen Gegebenheiten. Das ermöglicht die Hypothese, dass darin politische Unterscheidungen enthalten sind, ohne diese jedoch konkretisieren zu müssen. Ästhetische Ausdrucksformen werden von ihm damit an Voraussetzungen nichtästhetischer Bedingungen zurückgebunden, ohne sie daraus ableiten zu wollen. Das reicht in den Skizzen des Reiterbuches bis hin zum Verweis, dass auch Gleichberechtigungsfragen von Mann und Frau in den Reiterdenkmälern ihren Widerhall finden (Hengst und Stute seien in Göteborg in einem Denkmal bewusst nebeneinander monumentalisiert worden). Kosellecks Argumentation ist empiriegesättigt, obwohl die zu Anfang geplanten seriellen Übersichten nie vollendet wurden.34 Stattdessen argumentiert Koselleck mit Einzelbeispielen und mit Verallgemeinerungen (wie am Beispiel der Reiterdenkmäler). Sein Empirismus zeigt sich auch darin, dass er Fragen von den Objekten her formuliert, etwa »wer darf auf das Denkmalspferd?« Auf letztere Frage skizziert er die Antwort in drei Schritten. Zuerst seien es Könige und Heilige gewesen; dann Condottieri, Söldnergenerale, Generale; spät erst der einfache Soldat – in Deutschland erstmals 1890 in Quedlinburg, auf dem Denkmal des dortigen Kürassierregiments für die Einigungskriege, mit sehr hohen Verlusten bei Marsla-Tour (16.8.1870).35 Damit stehen hier wiederum verallgemeinernde Aussagen 33 Außerhalb Europas gab es lebensgroße Reiter in der Vormoderne nur in chinesischen Kaisergrabanlagen, zur Totenfolge im Jenseits, jedoch unterirdisch und jeder öffentlichen Sichtbarkeit entzogen; Koselleck, Reinhart, Das Reiterdenkmal als Ausnahmefall der Hochkulturen, NL Koselleck, Marburg, K 31, M 167. 34 Wie derartige quantitativen Übersichten in den meisten Studien zu Kriegerdenkmälern fehlen. 35 Zumindest für die Antike wäre das zu modifizieren, da der Kreis derjenigen, die »aufs Pferd durften«, deutlich größer war als nur die Kaiser; Hunecke, Reiterdenkmäler.

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neben dem Einzelbeispiel. Noch zwei weitere Beispiele zur Verdeutlichung seines Vorgehens: »Wer darf mit seinem Pferd auf dem Denkmal sterben, fallen, für die patria?«, so seine heuristische Frage. Auch hier bleibt die Antwort typologisch – Könige nie; später werden auch tote Pferde denkmalsfähig. Die Frage, »wo stehen die Denkmäler?«, wird ebenfalls in großen Linien, typenbildend, beantwortet. Es vollziehe sich ein Weg von innen nach außen, aus der Kirche heraus auf die öffentlichen Plätze. Das sei nicht identisch mit »Säkularisierung«, sondern induziere eine »weltliche politische Religion«.36 In einer ersten Phase im Kirchenraum seien die Reitermale als Teil von Grabanlagen entstanden, später seien sie nach außen auf den Friedhof gewandert, im Italien des 14./15. Jh. schließlich auf den öffentlichen Plätzen angekommen. Zuerst seien die Reitermale von einem sakralen Raum eingefasst worden, dann sei durch diese selber ein politisch-sakraler Raum gestiftet worden; in diesem räumlich sichtbaren Vorgang habe sich die Transformation vom Grabmal zum Denkmal vollzogen. Ergänzend verweist Koselleck dabei auf Besonderheiten, auf Unterschiede, je nach Religion oder politisch-staatlichem Rahmen. In einem Vortrag im Hamburger Warburghaus nannte Koselleck selbst ein Problem, das in diesem Verfahren angelegt sei. Unter Verweis auf die Reiterstandbilder und die in ihnen präsente monarchisch-dynastische Tradition entwickelte er die These einer »bildhaften Kontinuität, die von der Monarchie zur modernen Demokratie hinüberführt«.37 Der grundlegende Transfer der politischen Legitimationsmuster um 1800 war jedoch in den ästhetischen Formen weit weniger eindeutig. Der monarchische Totenkult hatte den Herrscher lebend gezeigt und die Legitimität der dynastischen Erbfolge beansprucht, der neue Totenkult inszenierte die Gleichheit der Gefallenen, er war auf die Nation gerichtet. Koselleck beschreibt sodann am Beispiel Londons, dass veränderte politische Hierarchien zwischen beiden Legitimationsformen sich auch räumlich in den Denkmalsensembles wiederspiegelten. Luytens Kenotaph für den unbekannten Soldaten, 1919 entworfen, steht auf einem 12 Meter hohen Sockel; während das wenige Jahre später in der Nähe errichtete Reiterdenkmal des Oberbefehlshabers der Westfront im Weltkrieg, General Haig, auf einem nicht einmal halb so hohen Sockel steht.38 Sein Argument lautet, dass im Höhenunterschied eine politische Hierarchisierung ihren symbolischen Ausdruck gefunden habe, Soldat und Monarch hätten ihren Rang getauscht, deshalb musste das Reiterstandbild für Haig niedriger stehen als der Kenotaph für den einfachen, allgemeinen Soldaten. Aber »auch der Gegenbeweis lässt sich erbringen«, fährt Koselleck fort. Wiederum in London wurde am Hyde Park Corner nach dem Ersten Weltkrieg ein Denkmal für die britische Artillerie errichtet, mit einem bronzenen Gefallenen. Diese Denkmalsfigur ist umgeben von zwei anderen Denkmälern, mit Pferden – die jeweils deutlich höher stehen als der Gefallene des 36 Koselleck, Reinhart, Zur Geschichte der Reiterdenkmale – struktur-analysen, in: NL Koselleck, Foto Marburg, K 32, M 173. 37 Koselleck, Reinhart, Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale, in: Vorträge aus dem Warburghaus 7. 2003, S. 137–166, hier S. 143. 38 Ebd., S. 149.

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Artilleriedenkmals. In diesem Ensemble am Hyde Park Corner bleibt die traditionelle oben-unten-Relation auch im 20. Jh. gewahrt.39 An diesen Beispielen wird das methodische Verfahren Kosellecks ersichtlich, zugleich treten die immanenten Grenzen dieses Zugriffs hervor. Koselleck gelingt es, in einer Art phänomenologischen Beschreibung Strukturmuster zu isolieren und zu abstrahieren, die in einen diachronen Zusammenhang eingeordnet werden. Er fragt, wann neue Muster auftreten, wann sich Veränderungen vollziehen, welche quantitativen Verdichtungen sichtbar werden, etc. Zugleich ist seine Herangehensweise dabei offen, d. h. er argumentiert nicht monokausal, sondern bietet ein Set von Unterscheidungen und Relationen, von strukturellen Faktoren, an. Dadurch entwickelt er ein komplexes Bedingungsgefüge, das Kategorien anbietet, ohne welche eine Denkmalsanalyse unzureichend wäre und entweder bloße Einzelfallbeschreibung bliebe, oder Einzelaspekten einen vermutlich nicht einlösbaren, monokausalen Erklärungsanspruch aufbürden müsste. Die Grenzen von Kosellecks Analyseverfahren indessen liegen darin, dass er damit nicht erklären kann, warum im jeweiligen Einzelfall diese Variante entstanden ist, oder nicht. Kausale Erklärungen eines Einzelfalles sind damit nicht möglich. Um bei dem Beispiel aus London zu bleiben: wenn die unterschiedliche Höhe von Denkmalsfiguren symbolisch bedeutsam ist und eine politische Hierarchie zum Ausdruck bringt, warum kann der (monarchisch-traditionell interpretierbare) Reiter dann im einen Fall über der Figur des gemeinen (demokratischen) Soldaten stehen, während es im anderen Fall genau umgekehrt ist? Zumal bei Ensembles, die alle in den Jahren nach 1918 entstanden sind, also in der gleichen politischen Ära. Wenn man nicht annehmen will, dass die von Koselleck sichtbar gemachte oben-unten-Relation bedeutungslos ist, bleibt als Antwort eigentlich nur, dass darin eine mögliche Bedeutungsdimension angelegt ist, die von Stiftern, Künstlern und Rezipienten intendiert, gesehen, verstanden und umgesetzt werden kann, oder auch nicht. Was aber den Ausschlag für die konkrete ästhetische Gestaltung, auch bei einem zeitlich gewachsenen Ensemble, jeweils gab, das erforderte andere Verfahren, indem die Entstehungsgeschichte und die Motive und Intentionen der Stifter und Bildhauer zu erforschen wären, und indem für unterschiedliche Zeiten Rezeptionsanalysen vorzunehmen wären. Das hat Koselleck selber nicht gemacht. Die zu Anfang geplante Studie zum deutsch-französischen Vergleich hätte dazu herausgefordert, das Typische herauszuarbeiten, das jeweils Sagbare und Darstellbare zu bestimmen und zu erklären, aber auch die Ausnahmen und abweichenden Erscheinungsformen in ihren Bedingungsgefügen zu begründen.40 Auch bei den zeitlichen Periodisierungen bleibt es letztlich offen, wie sehr die konstatierten Veränderungen ausschließliche sind. Koselleck bündelt einzelne Strukturmuster zu unterscheidbaren Phasen bzw. Umbruchsperioden. Dazu gehören, als zeitliche Zäsuren, erstens der Umbruch um 1800, d. h. die Transformation 39 Ebd., S. 149. 40 Grundlinien dessen, was ihm dabei wohl vorschwebte, in komprimierter und abstrahierter Form, bietet Koselleck, Zur politischen Ikonologie.

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des dynastischen in einen nationalen (und / oder revolutionären) Totenkult, sowie zweitens die Erweiterung der sinnstiftenden Darstellungen in Richtung von sinnsuchenden und sinnverweigernden Ausdrucksformen im 20. Jh., vor allem nach 1945. Formal sind die Demokratisierung zu nennen, d. h. das Zurücktreten ständisch-rangmäßiger Hierarchisierungen als Grundbedingung für den Formwandel der Denkmäler, sowie – besonders für die Reiterdenkmale bedeutsam – die Technisierung des Kriegsgeschehens. Ein Beispiel, an dem er diese Transformationen verfolgt, sind die St. Georgsdenkmale, die aus ihrem religiösen Kontext in einen politischen einrücken und dann auch ›demokratisch‹ gefüllt werden können.41 Auch diese zeitlichen Phasenbestimmungen sind nicht als ausschließlich zu verstehen. In der Ära des modernen politischen Totenkults im Zeitalter der Demokratisierung entstanden weiterhin traditionelle Formen (wie das Reiterstandbild), sie expandierten quantitativ geradezu; und seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Darstellung der Sinnsuche, ja Sinnverweigerung, für die globale Denkmalslandschaft zu einem prägenden Bestandteil. Aber auch nach 1945 entstanden in vielen Ländern ›herkömmliche‹ Denkmäler mit traditionellen Angeboten der Sinnstiftung. Nur die Bundesrepublik dürfte hier eine Ausnahme darstellen, in der in den 1950er und 60er Jahren wenige, und danach praktisch keine dieser Denkmäler mehr errichtet wurden. Diese klassischen Kriegerdenkmäler der Zeit seit 1945, ästhetisch oft äußerst konventionell, wurden von Koselleck kaum berücksichtigt. Umfassende serielle Analysen hätten diesen herkömmlichen Typus in seiner – international – ungebrochenen Verbreitung sichtbarer gemacht. Kosellecks Interesse aber richtete sich mehr auf die neuartigen Monumente mit veränderten ästhetischen Ausdrucksformen, welche sich der Herausforderung stellten, den gewaltsamen Tod von Zivilisten zu zeigen und die Zerstörung menschlicher Körper ganz anders als zuvor sichtbar zu machen. Man hat den Eindruck, im Vergleich dazu verlor er das Interesse an den international weiterhin errichteten konventionellen Kriegerdenkmälern für militärische Gefallene. b) »Transzendentale Minimalbedingungen«. Es fällt auf, dass Koselleck in späten Texten zum Totenkult, gerade auch jenen, die nur als Skizze, als Rohfassung vorliegen, deutlich mehr mit den von ihm so genannten anthropologischen Unterscheidungen argumentiert. In der Skizze zum Reiterbuch greift er mehrfach darauf zurück. Ein Beispiel sei erwähnt: das Pferd habe in der Moderne sein Potential zur Denkmalsfähigkeit verloren in dem Maße, wie es durch technische Entwicklungen aus dem Kriegsgeschehen verdrängt wurde, »sodass die oben-unten relation sowie die früher / später relation nicht mehr durch das pferd gewahrt wird«.42 Der funktionale Zusammenhang (der Reiter auf dem Pferd kann von oben mehr Gewalt ausüben) verbindet sich, in Kosellecks Blick, mit der Ästhetik: Visualisierungen 41 Koselleck, Reinhart, Zum Wandel der St. Georgsmotive auf Reiterstandbildern, in: NL Koselleck, Marburg, K 31, M 167. 42 Koselleck, Reinhart, Das Ende des Pferdezeitalters als Beginn der Moderne, Marburg, K 31, M 167.

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des oben-unten verweisen auch auf Hierarchien, verwende man dieses Mittel, so sei das eine »ästhetische Grundentscheidung«. Den Verlust an Ausdrucksfähigkeit des Pferdes im Denkmal führt Koselleck damit nicht auf den politischen Wandel vom dynastischen Herrscherdenkmal zum egalitären nationalen Gefallenenkult zurück (das Reiterdenkmal blieb nach dem politisch-sozialen Epochenbruch um 1800 populär), sondern auf die technisch-industrielle Veränderung des Kriegsgeschehens. Erst diese nichtpolitische Bedingung ließ die politische Deutungsfähigkeit des Reiterdenkmals nach dem Ersten Weltkrieg verblassen. Die oben-unten-Relation, die sich im Reiterdenkmal auf besondere Weise symbolisieren lässt, war also nicht primär an die alte politische Hierarchie der feudal-ständischen, dynastischen Welt vor 1800 gebunden, sondern an die Erfahrungswelt des Pferdezeitalters.43 Letzteres hatte den politischen Bruch der Revolutionsära überdauert, darauf basierte die fortdauernde Denkmalsfähigkeit des Pferds. Mit dem Reiter auf dem Pferd ließ sich ein hierarchisches Gefälle in eine ästhetische Darstellungsform bringen, welche sich in der Vormoderne mit bestimmten politisch-sozialen Konstellationen verbunden hatte. Die oben-untenRelation, die sich im Reiterdenkmal verkörpert, war aber verständlich, und deshalb ästhetisch nutzbar, auch nach dem Ende der ständisch-dynastischen Herrschaftsordnung, weil sie sich stützte auf die Erfahrbarkeit des oben-unten-Gefälles, das jeder vergegenwärtigt, der einen Reiter auf einem Pferd gegenübersteht. Das aber ist, mit Koselleck gesprochen, eine »vorsprachliche« Bedingung. In seinen späten Texten hat Koselleck, wie schon erwähnt, diese vorsprach­ lichen Bedingungen ausführlicher thematisiert. In »Vergangene Zukunft«, Aufsätze bis 1979 enthaltend, findet sich das Wort »vorsprachlich« an zwei Stellen. Verwiesen wird auf erzählte Traumepisoden aus dem Dritten Reich, welche »vorsprachliche Geschichten« darböten, als »leiblich manifest gewordene Erscheinungsweisen des Terrors«, sowie auf »vorsprachliche Handlungsgefüge« neben sprachlicher Kommunikation, kraft derer sich Ereignisse darstellten.44 Das verweist auf einen Begriff von Strukturen als politisch-sozialen Bedingungen, als »Vorgegebenheiten«. Koselleck hat sie in seiner Unterscheidung von Strukturen und Ereignissen pointiert formuliert. Strukturen werden von ihm als »Bedingungen möglicher Ereignisse« verstanden, als Beispiele gibt er z. B. Verfassungsbauformen, Herrschaftsweisen, Produktionsverhältnisse, geographische Vorgegebenheiten an,45 aber auch Freund-Feind-Konstellationen oder Generationenabfolgen. Unter vorsprachlichen Bedingungen werden vor allem politische, soziale, geogra43 Koselleck, Reinhart, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Tillmann, Berthold (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster, Münster 2005, S. 159–74; vgl. zum Ende des Pferdezeitalters allgemein Raulff, Ulrich, Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 2015. 44 Koselleck, Reinhart, Terror und Traum, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 286 (Vortrag 1971, Aufsatz 1976), ders., Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, S. 300–48, hier S. 300 (Aufsatz 1977). 45 Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, S. 151, 149, 147.

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phische, generationelle Gegebenheiten verstanden, rein formale Klassifikationen wie Freund-Feind-Beziehungen werden nur am Rande erwähnt. In den Texten seit den 1980er Jahren werden die Hinweise auf vorsprachliche Bedingungen zahlreicher.46 Besonders thematisiert, ja systematisiert, hat Koselleck das in der Festrede für Hans-Georg Gadamer (1987). Während die empirische Historie die »Geschichten selbst« zum Gegenstand habe, sei die Historik die »Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichten«. Sie frage nach den nur theoretisch zu erbringenden Vorgaben, die es begreiflich machen sollen, warum und wie Geschichten sich vollziehen.47 In der Erläuterung dieser Vorgaben verweist Koselleck auf Heideggers »Sein und Zeit« und dessen Fundamental-Ontologie, stellt aber zugleich in Frage, dass dessen Kategorien für eine Historik ausreichten und entwickelt für diese eine Erweiterung in fünf Dimensionen. Diese, so Koselleck abschließend, stellten existenziale Bestimmungen dar, »die die Möglichkeit von Geschichte benennen, ohne deshalb schon konkrete Geschichten hinreichend beschreibbar zu machen«.48 Immer müssten Zusatzbedingungen hinzukommen, um einer Geschichte ihren wie auch immer konstruierten Realitätscharakter verleihen zu können. In Erläuterung dieses Satzes verweist er dann auf die religiösen, kulturellen, ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen usw. Sphären, die der Historiker benötige, um eine Geschichte »darstellbar« zu machen. Es handelt sich damit um nichts anderes als – auch – um jene politisch-sozialen Bedingungen, die Koselleck in seinen Analysen des Totenkults aufgreift. Welchen Zweck aber erfüllen diese »transzendentalen Minimalbedingungen«?49 Nach Koselleck zeigen sie als Oppositionspaare zeitlich begrenzte, d. h. jeweils konkrete historisch-individuelle, Konstellationen auf. »Strukturen der Endlichkeit« nennt Koselleck das in Abgrenzung zu jeglicher Geschichtsphilosophie. Daraus entstehen zwangsläufig »Zeitspannungen« zwischen und in den Handlungseinheiten. »Geschichten ereignen sich nur deshalb, weil die in ihnen angelegten Möglichkeiten weiter reichen, als sie hinterher eingelöst werden können«. Aus diesem Überschuss an Möglichkeiten erwachse das historisch sich jeweils Realisierende. Dieses Verständnis von »Geschichtlichkeit«, mit der dezidierten Wendung gegen jede Geschichtsphilosophie, findet sich bei Koselleck bereits in den frühen 50er Jahren, es zieht sich durch sein gesamtes Werk. In einem Brief an Carl Schmitt 46 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichten, Frankfurt 2006 (die Formulierung findet sich in den ersten drei Beiträgen in diesem Band: Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte (1986), Sprachwandel und Ereignisgeschichte (1989), Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte (2003)); ders., Historik und Hermeneutik (1987), in: ders., Zeitschichten, Frankfurt 2000. Besonders betont dann in einem der letzten Texte Kosellecks, Was sich wiederholt, in: FAZ 21.7.2005, Nr. 167, S. 6; gekürzte Fassung von ders., Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: Saeculum 57 (2006), S. 1–15. 47 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 99. 48 Fünf Unterscheidungen führt Koselleck auf: Totschlagenkönnen, Freund-Feind-Opposition, Innen-Außen-Gegensatz, Generativität, die Opposition von Herr und Knecht; Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 101–109, Zitat S. 109. 49 Ebd., S. 110.

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im Januar 1953 skizziert er bereits seine Vorstellung einer Geschichtsontologie, in Abgrenzung zum Historismus, zu irgendwelchen Geschichtsphilosophien, und formuliert als Ziel, um diese Geschichtsontologie einzulösen, die »Reduktion aller geistigen Äußerungen auf die Situation«.50 Hierbei handelte es sich um Kosellecks genuin eigene Idee, keineswegs um einen Impuls von Schmitt.51 Koselleck hat aber nie explizit ausgeführt, was er sich unter »Geschichtsontologie« vorstellte. In seiner Heidelberger Frühzeit war Koselleck sicherlich noch mehr durch philosophische Begrifflichkeiten geprägt als durch genuin geschichtswissenschaftliche. Als Ontologie verstand er Vorgegebenheiten durch äußere Umstände oder naturale Bedingungen, als Grundlage jedes möglichen Geschehens und seine Wandels. Denn in den Voraussetzungen des Geschehens sind immer auch zugleich Bedingungen für historische Veränderungen, für die »Geschichtlichkeit« menschlichen Lebens enthalten. In späteren Jahren hat er das unter dem Begriff der »Historik« reflektiert.52 Die »struktur-analysen« Kosellecks zum politischen Totenkult rekurrieren sowohl auf die »Vorgegebenheiten«, wie auf die »Minimalbedingungen«. Erstere sind für unterschiedliche Situationen zu unterscheiden, sie werden als politisch-soziale, kulturelle, ökonomische Strukturbedingungen verstanden, die für die jeweilige historische Untersuchungszeit zu bestimmen sind. Sie können sich unterscheiden, ja die Kenntnis der jeweilig gegebenen Ausprägung und Zusammensetzung dieser Faktoren ist unverzichtbar für das Verstehen des Einzelfalls – des konkreten Denkmals, der typischen Denkmalslandschaft. Im Unterschied hierzu stellen die »transzendentalen Minimalbedingungen« ein begrenztes Set an Oppositionspaaren dar, die abstrakt gehalten sind und sich historisch unterschiedlich realisieren können. Damit sind zwei verschiedene Arten von Bedingungen möglicher Geschichten bestimmt, mit denen Koselleck in seinen »Historien«, d. h. den empirischen geschichtswissenschaftlichen Darstellungen, gearbeitet hat. Dafür sei nur zum Vergleich auf das Preußenbuch verwiesen, 1967 erschienen. In einer Rezension hat Jürgen Kocka den strukturgeschichtlichen Zugriff gewürdigt und die – von ihm so genannte – »korrelative« Ausrichtung der Arbeit problematisiert. Koselleck habe sich in der Studie vielfach auf »Feststellung von Entsprechungen und Nicht-Entsprechungen, von Spannungen« konzentriert, Gegebenheiten oft nur in »formaler Weise« behandelt; diese Methodik impliziere eine Absage an materiale Geschichtstheorien mit kausalen Erklärungsmustern und an positivistische Faktenaufreihungen in chronologischer Ordnung.53 Darauf kann aus heutiger 50 Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 11 (RK 21.1.1953). 51 Vergleiche zur von Anfang an gegebenen intellektuellen Eigenständigkeit Kosellecks im Dialog mit Schmitt den Beitrag von Christof Dipper in diesem Band. 52 Vgl. vor allem: Koselleck, Historik und Hermeneutik. Wenn er 1987, knapp 40 Jahre nach dem hier zitierten Brief an Schmitt, in der Festrede auf Gadamer im Dialog mit dem Philosophen eine eigene, genuin historische Sichtweise mit einer sich von der Philosophie gelösten Begrifflichkeit entwickelt, kann man das als Bestätigung lesen, wie sehr Koselleck Historiker war – trotz seiner weit reichenden interdisziplinären Grenzüberschreitungen. 53 Kocka, Jürgen, Rez. zu »Preußen zwischen Reform und Revolution«, in: VSWG 57 (1970), S. 121–125, hier S. 123.

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Rückschau in zweifacher Weise erwidert werden: erstens stimmt das, und wenn die Projekte zum Totenkult in der geplanten Weise zu Stande gekommen wären, hätte sich vermutlich eine Kritik an Detailerhebungen in diachroner Abfolge erübrigt. Zweitens aber tritt inzwischen, nach 50 Jahren und einer Vielzahl theoretischer Arbeiten von Koselleck, in denen er seine Historik erläutert hat, der spezifische Charakter der Koselleckschen ›Historien‹ expliziter hervor. Auch diese, die empirischen Arbeiten wie die Studien zum Totenkult, sind mindestens so sehr Darstellungen und Erläuterungen möglicher Geschichten, wie Erzählungen individueller Ereignisse und Geschehnisse. In den Arbeiten zum politischen Totenkult tritt die Kosellecksche Historik – wenn man sein Verfahren als solche bezeichnen will – auch deutlicher hervor als im Preußenbuch, weil es bei diesem Thema keine Handlungssubjekt wie die preußische Beamtenschaft gibt.

IV. Schluss 1. Die als umfangreiche empirische Studie geplante Sozialgeschichte des politischen Totenkults entstand nicht – aber die »struktur-analysen« der neuzeitlichen Denkmalslandschaft sind bis heute weder widerlegt noch überholt. Sie bieten in knappen, skizzenhaften Komprimierungen auch einen Einblick in seine Methodik, ohne eine eigentliche methodische Handreichung an sich darzustellen. Kosellecks Verfahren lässt sich beschreiben als ein aggregierendes Interpretieren von Einzelfällen, aus denen Bedingungen abgeleitet, abstrahiert und benannt werden für die jeweils möglichen Erscheinungsformen von Kriegerdenkmälern und Erscheinungen des politischen Totenkults. Im Lauf der Zeit hat er dann zwei Arten von Bedingungen unterschieden. Einmal Vorgegebenheiten politisch, sozialer, kultureller Art, diese können im Sinne einer herkömmlichen Sozialgeschichte verstanden werden als politisch-soziale Strukturen. Und zum andern die von ihm manchmal als anthropologisch bezeichneten vorsprachlichen »Minimalbedingungen« (innen-außen-, oben-unten-Relationen, Freund-Feind-Konstellationen, etc.), die jede historische Erscheinungsform menschlichen Lebens durchdringen und Spannungen evozieren. In dem darin angelegten »Überschuß an Möglichkeiten«54 liegen Konstitutionsfaktoren an sich für Geschichten – und eben auch für Denkmäler. Diese Bedingungen möglicher Denkmäler und das Spektrum der in unterschiedlichen Konstellationen realisierten Denkmäler bilden den Kern von Kosellecks Arbeiten zum Totenkult. 2. Am Anfang, in den 1970er Jahren, ging es vor allem um die politischen Bedingtheiten ästhetischer Ausdrucksformen am Beispiel von Todesdarstellungen. Die Frage nach der politischen Bedingtheit und der politischen Funktion blieb im Mittelpunkt der Beschäftigung mit Kriegerdenkmälern und später auch der Reiterstandbilder. Die ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten, um den zerstörten 54 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 110.

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Körper als Symbol des gewaltsamen Tod darzustellen, analysierte Koselleck in späteren Arbeiten vor allem am Beispiel von sinnverweigernden Monumenten, die im 20. Jh. immer mehr Verbreitung erfuhren. Koselleck hat das auch als eine diachron sich durchsetzende Tendenz beschrieben. Ein Punkt scheint mir dabei besonders bemerkenswert: Koselleck hat dem Überdauern der traditionellen sinnzuschreibenden Ausdrucksformen (der klassischen politischen Identitätsstiftung), die nach 1945  – außerhalb Deutschlands  – ungebrochen fortbestehen, relativ wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Sein Blick konzentrierte sich für die Zeit nach 1945 mehr auf Repräsentationen der massenhaften Vernichtung von Zivilisten im Krieg und durch Staatsverbrechen, mit anderen Worten auf die Sichtbarmachung der Opfer von Gewalt. Diese Schwerpunktsetzung enthielt auch eine selbst gesetzte Begrenzung – erinnert sei an sein Diktum ›zeigen heißt verschweigen‹. Die Gründe dafür zu bestimmen ist schwierig. Man könnte darin eine spezifisch deutsche Bedingtheit des Blicks vermuten, was angesichts seiner breiten Kenntnis der internationalen Denkmalslandschaft nicht überzeugend erscheint. Plausibler dürfte es sein, den Reiz der ästhetischen Neuheit hervorzuheben, die sich in den Denkmalen zur Repräsentation des Massenmords findet. Vereinfacht gesagt, diese neuartigen Darstellungsformen erschienen Koselleck ohne Zweifel ästhetisch weit interessanter als die übergroße Zahl der herkömmlichen Kriegerdenkmäler. Vielleicht aber, so meine Hypothese, spielte noch ein weiterer Faktor eine Rolle. Denn die herkömmlichen Kriegerdenkmale ermöglichen es dem Historiker, vor allem Fragen nach der politischen Bedingtheit zu beantworten – während sie hinsichtlich der direkten Darstellung des menschlichen Todes in den allermeisten Fällen zurückhaltend bis stumm bleiben. Das »wie« des Sterbens findet auf ihnen keinen Ausdruck, und wenn, dann in den allermeisten Fällen nur einen stilisierten und idealisierten. Umgekehrt verkörpern die sinnsuchenden und sinnverweigernden Denkmale für die zivilen Toten hinsichtlich der »politischen Bedingtheit« nur einen begrenzten Teil der monumentalen Identifikationsangebote. Da gerade diese aber neue Ausdrucksformen der Darstellung des gewaltsamen Todes aufweisen, mag sich der Blick Kosellecks als eines »Überlebenden« des Zweiten Weltkriegs, der im Krieg andere Formen von Gewalt erlebt und überlebt hat, dennoch besonders auf sie gerichtet haben. In diesen ästhetischen Darstellungen des gewaltsamen menschlichen Todes könnte Koselleck, der Überlebende von Krieg und Gefangenschaft, Visualisierungen eigener Erfahrungsdimensionen erblickt haben. 3. Aber, es griffe zu kurz, Kosellecks Beschäftigung mit dem politischen Totenkult vorwiegend als geschichtswissenschaftliche Verarbeitung seiner eigenen »Primärerfahrungen« als Kriegsteilnehmer seit 1941 zu deuten. Erfahrungen des »Überlebens« des Krieges und der Kriegsgefangenschaft mögen die Wahl des Themas »Kriegerdenkmale« erklären, wohl auch die Energie, über mehr als drei Jahrzehnte dieses Thema verfolgt zu haben, sie erklären aber nicht hinreichend die Texte, die daraus entstanden sind. Diese Koselleckschen Primärerfahrungen kriegsbedingter Gewalt stellen, mit anderen Worten, nur eine Bedingung dar für sein historisches Werk. Denn der »Erfahrungsraum« des »Überlebenden«, der 1946 nach Deutsch-

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land zurückkehrte, umfasste mehr als die vielfältigen Gewaltdimensionen des Krieges. Zwar antwortete er in einem Fragebogen, den er 2003 für »Forschung & Lehre«, die Zeitschrift des Hochschulverbandes, ausfüllte, auf die Frage, was ihn wissenschaftlich am nachhaltigsten geprägt habe, lakonisch, »Krieg und russische Gefangenschaft = Erfahrungswissenschaft«. Doch auf die Frage, warum er Wissenschaftler geworden sei, entgegnete er: »Um Halt gegen Utopie zu finden«.55 Die Erfahrung von Ideologien, Utopien und politischen Religionen war für Koselleck – mindestens – genauso präsent und prägend wie die Erfahrung des Krieges. So wie die in diesem Band abgedruckte Hausarbeit über den »Jakobinismus und die Französische Revolution« von 1950 auch eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus darstellt, so wie die Dissertation »Kritik und Krise« von Koselleck als »Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt« einen Versuch darstellt, die lang zurückreichenden Bedingungen des ideologischen ›Weltbürgerkriegs‹ seiner Gegenwart zu verstehen – so stehen in der Beschäftigung mit dem politischen Totenkult für Koselleck auch die Offenlegung und Analyse der Ideologisierungsmöglichkeiten im Mittelpunkt seines Forschungsinteresses. In seinem Lebenslauf, den er 1953 an der Universität Heidelberg im Rahmen des Promotionsverfahrens einreichte, vermerkte er, »den utopischen Charakter der herrschenden Geschichtsphilosophien aufzudecken, war mein leitender Gedanke«. Ihm sei es darum gegangen, die »indirekt politische Rolle« der bürgerlichen Elite aufzuzeigen.56 Dieses Interesse Kosellecks lässt sich ebenso auf Primärerfahrungen beziehen, die er im Nationalsozialismus wie im sowjetischen Kommunismus gemacht hat. Was als historische Wahrheit gesucht werde, hängt eben von Erfahrungen und von Methoden ab, mit denen Fragen beantwortbar werden.57 Insofern bezeichnet der Titel des Aufsatzes von 1979 mindestens zwei Erfahrungsschichten, das Überleben einerseits, aber wohl mehr noch die ideologisierte Sinnzuschreibung ex post andrerseits. Letztere umfasst weit mehr als die grausamen Wirklichkeiten des Krieges, ebenso seine Strukturanalysen als Bedingungen möglicher Geschichten. Man kann das so zusamemfassen: Aus Kosellecks »Primärerfahrungen« des Krieges lassen sich seine historischen Analysen des politischen Totenkults nur begrenzt erklären. Mindestens ebenso relevant waren seine gleichfalls primären Erfahrungen politischer Ideologien.

55 Forschung & Lehre 2003, S. 464. 56 Koselleck, Reinhart, Mein Lebenslauf (15.10.1953), UA Heidelberg, H-IV-757/56. 57 Koselleck, Reinhart, Erfahrungswandel und Methodenwechsel, in: Meier, Christian / Rüsen, Jörn (Hg.), Historische Methode, München 1988, S. 13–61, hier S. 13.

Bettina Brandt und Britta Hochkirchen

Bilder als Denk- und Erfahrungsraum möglicher Geschichten im Werk Reinhart Kosellecks

In der Vielfalt des Denkens Reinhart Kosellecks nehmen Bilder keineswegs einen marginalen Platz ein. Diese Einsicht wurde vor allem im Zuge der Erschließung des Bildnachlasses Reinhart Kosellecks durch das Deutsche Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg seit dem Jahr 2008 gefördert.1 Zwar sind Kosellecks aus Projekten und Lehrveranstaltungen schon der 1970er Jahre hervorgegangene Veröffentlichungen über Kriegerdenkmäler der Moderne zu Klassikern der an Fragen der politisch-sozialen Sinnstiftung und Erinnerung interessierten Kulturgeschichte geworden.2 Dass sich Koselleck aber bereits seit den 1960er Jahren und bis in die 2000er Jahre hinein, up to date mit dem ›pictorial turn‹, mit Bildtheorie befasste, und dass sein Bildarchiv schließlich auf über 30.000 Objekte mit tausenden eigener Fotografien angewachsen war, verweist auf ein langjähriges systematisches Bildinteresse.3

1 Über den Bildnachlass Reinhart Kosellecks informiert die Webseite des Deutschen Dokumentationszentrums für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg: https://www.uni-marburg. de/de/fotomarburg/nachlass-reinhart-koselleck (letzter Zugriff 18.02.2020). 2 Zu nennen ist insbesondere Koselleck, Reinhart, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276; die Publikation war aus einer Arbeitsgruppe und einer Tagung am Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung im Jahre 1976 hervorgegangen und bereitete ein Forschungsprojekt zu den europäischen Kriegerdenkmälern vor. Beteiligt war auch der Heidelberger Kunsthistoriker Peter Anselm Riedl, mit dem Koselleck 1972 ein Seminar zur politischen Ikonographie des Tötens und Sterbens am Heidelberger kunsthistorischen Seminar veranstaltet hatte; vgl. Riedl, Peter Anselm / Koselleck, Reinhart, Interdisziplinäres Seminar zur politischen Ikonographie [Typoskript], Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 74, Mappe 74. Weitere ›Klassiker‹ sind Koselleck, Reinhart / Jeismann, Michael (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994; Koselleck, Reinhart, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998. 3 Die aus dem Erschließungsprojekt hervorgegangenen Publikationen Hubert Lochers und Adriana Markantonatos’ haben den Stellenwert der Auseinandersetzung Kosellecks mit dem Thema Bild verdeutlicht, der weit über ein ›Nebenprodukt‹ oder Spätwerk hinausgeht. Vgl. Locher, Hubert, »Politische Ikonologie« und »politische Sinnlichkeit«. Bild-Diskurs und historische Erfahrung nach Reinhart Koselleck, in: ders. / Markantonatos, Adriana (Hg.), Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, Berlin 2013, S. 14–31; ders., Denken in Bildern. Reinhart Kosellecks Programm Zur politischen Ikonologie, in: ders. / Markantonatos, Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, S. 294–303; Markantonatos, Adriana, Er-fahrungen.

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Das Projekt zum europäischen Totenkult, das sich am sichtbarsten auf visuelle Artefakte bezieht, mag als ein zeitlich versetztes Nebenprojekt zu dem erscheinen, womit Koselleck unmittelbar verbunden wird: der Begriffsgeschichte. Tatsächlich aber waren Kosellecks Auseinandersetzungen mit Begriffen und Bildern stets aufeinander bezogen. Diese Verklammerung besaß – wie wir zeigen möchten – einen grundlegenden erkenntnistheoretischen Wert für Kosellecks Theorie historischer Zeiten.4 Die sinnlichen Qualitäten der Bilder und der gemeinhin der Sprache zugeschriebene Logos stehen in Kosellecks Denken nicht als binärer Gegensatz in Frontstellung zueinander, sondern eröffnen eine produktive, dynamische Spannung. Diese Überlegung entwickeln wir im Folgenden in drei Schritten: in der Beobachtung der konzeptionellen Verschränkungen von Begriff und Bild in Kosellecks Schriften (I.), im Blick auf Kosellecks Fotografien als visuelle Denkräume historischer Zeiten (II.) und in der Analyse des Bildes als Erfahrungsraum der Kritik gegenüber dem Politischen (III.). Das Bild, so die These, gab Koselleck die Möglichkeit, Geschichte in ihrer zeitlich komplexen, perspektivisch vielschichtigen und sinnlichen Bedingtheit kritisch zu denken.

I. Das Bild als Modell für die Komplexität geschichtlicher Zeiten Eine theoretische Grundüberlegung Kosellecks bestand darin, dass Zeit nicht anschaulich ist. 1972 stellte er in seinem Aufsatz »Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft« die Raumbezogenheit der Begriffe, mit denen Zeit zur Sprache gebracht wird, heraus. Aus diesem »Zwang zur Metaphorik«, dem auch die Begriffe der Geschichtswissenschaft unterlägen, leitete Koselleck die Notwendigkeit »ständiger methodischer Rückversicherungen« ab, die eine zu erarbeitende

Eine Sichtung von Reinhart Kosellecks Bildnachlass aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Locher / Markantonatos, Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, S. 32–53; dies., Eine Fotohexerei. Einblicke in Reinhart Kosellecks Bildarchiv, in: Heike Gfrereis / Ellen Strittmatter (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach am Neckar 2013, S. 69–73; dies., Absatteln der ›Sattelzeit‹? Über Reinhart Koselleck, Werner Hofmann und eine kleine kunstgeschichtliche Geschichte der Geschichtlichen Grundbegriffe, in: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte 7 (2018), H. 1, S. 79–84. Eine ausführliche Verankerung des Geschichtsdenkens Kosellecks in Kunst- und Kulturgeschichte bietet dies., Geschichtsdenken zwischen Bild und Text: Reinhart Kosellecks »Suche nach dem […] Unsichtbaren«, Marburg 2018 (elektronische Hochschulschrift). 4 Diese These haben die Autorinnen auch in Form einer Ausstellung dargelegt, die unter dem Titel »Reinhart Koselleck und das Bild« vom 18. April bis zum 20. Juli 2018 an drei Orten an der Universität Bielefeld, dem Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) und dem Kunstverein Bielefeld gezeigt worden ist. Vgl. dazu die Ausstellungswebseite: https://www. uni-bielefeld.de/fakultaeten/geschichtswissenschaft/forschung/zthf/reinhart-koselleck-bild/ (18.12.2020). Vgl. dazu die Publikation: Brandt, Bettina / Hochkirchen, Britta (Hg.), Reinhart Koselleck und das Bild, Bielefeld 2021.

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»Theorie der geschichtlichen Zeiten« gewährleisten sollte.5 Einleitend zu dem im Jahre 2000 veröffentlichten Band »Zeitschichten«, in dem Koselleck seine »Studien zur Historik« versammelte, formulierte er die Rückbindung historischer Kategorien an Raum und Bewegung so: »Wer über Zeit spricht, ist auf Metaphern angewiesen. Denn Zeit ist nur über Bewegung in bestimmten Raumeinheiten anschaulich zu machen.«6 Als Beispiele dienten ihm die Begriffe des »Fortschritts« und der auf das Verb »geschehen, eilen« zurückgehenden »Geschichte«. Die für Koselleck typischen, bildhaften analytischen Begriffe sind folgerichtig ›verräumlichend‹ angelegt: »Zeitschichten«, »Erfahrungsraum«, »Erwartungshorizont«, »Sattelzeit«, »Bruchlinien«, »Erinnerungsschleusen«. Es sind heuristische Kategorien, die in ihrer bildhaften Anschaulichkeit gedankliche Spielräume eröffnen und an die Herkunft schwer greifbarer Abstrakta wie »Zeit« oder »Erfahrung« aus der räumlichen und sinnlich wahrnehmbaren Welt erinnern.7 Wenn Zeiterfahrung und -deutung an sinnliche, räumliche Wahrnehmung gebunden ist, so Kosellecks »anthropologische Prämisse«,8 dann ist sie auch an Standort und Perspektive gebunden. Mit der seit dem 18. Jahrhundert von der Naturzeit unterscheidbaren Geschichte – als einer »spezifisch von Menschen produzierte[n] Zeit« – wird Zeit zu einem komplexen pluralen, politisch-sozial 5 Koselleck, Reinhart, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 298–316, hier S. 305. 6 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: ders., Zeitschichten, S. 9–16, S. 9. 7 Metaphern und Metaphorik thematisierte Koselleck auf der Ebene geschichtswissenschaftlicher Theoriereflexion und Kategorienbildung. Als Untersuchungsgegenstand hätten sie, so Koselleck, das Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe überfordert (Koselleck, Reinhart, Vorwort, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde. und 1 Registerband in zwei Teilbänden, Stuttgart 1972–1997, hier Bd. 7, Stuttgart 1992, V–VIII, hier VIII). Kosellecks Auffassung von der Bildhaftigkeit der auf historische Zeit bezogenen heuristischen Begriffe ist dem Gedanken eines lebensweltlichen »Motivierungsrückhalt[s] aller Theorie« bei Hans Blumenberg sehr ähnlich. Vgl. Blumenberg, Hans, Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften. Auswahl und Nachwort von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, S. 193–209, hier S. 193. Wie bei Blumenberg Metaphern ein in das »Unausdrückliche« reichendes »Vorfeld des Begriffs« darstellen, so verstand Koselleck Bildlichkeit als einen Anschauungs- und Denkraum, der auch Vor- und Nicht-Sprachliches beinhaltet. Das Bild (der visuell-sinnlichen Anschauung) reflektierte Koselleck als eine dem Denken und der Sprache immanente, ›ursprüngliche‹ Schicht in seinem Typoskript »Zur pol. Ikonologie« (1963), abgedruckt in Locher, Denken in Bildern, S. 295. Zu Blumenbergs Metaphorologie vgl. Blumenberg, Hans, Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, S. 139–176, S. 139. Anthropologisch argumentierte Koselleck in seinem Aufsatz zur »Politischen Sinnlichkeit«: Sprache sei zwar der »Hermeneut« der Sinne, doch bleibe sie an die »natural[e] Vorgegebenheit« der sinnlichen Wahrnehmung im Raum rückgebunden; vgl. Koselleck, Reinhart, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Arnold, Sabine R. / Fuhrmeister, Christian / Schiller, Dietmar (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 25–34, hier S. 31. 8 Koselleck, Theoriebedürftigkeit, S. 305.

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umkämpften und zunehmend dynamischen Phänomen.9 Auf der Folie dieses von Koselleck untersuchten neuen Zeitverständnisses leuchtet ein, dass sich »[…] geschichtliche Zusammenhänge nicht mit der Uhr messen lassen«10 – aber, so soll im Folgenden für die Bildhaftigkeit des Koselleck’schen Denkens gezeigt werden, sie lassen sich im Bild – als Modell der semantischen Kategorie Begriff ebenso wie als visuelles Artefakt – veranschaulichen und analysieren. Begriff und Bild stehen in Kosellecks Werk nicht für zwei säuberlich getrennte Projekte. Zwar lässt das Langzeitprojekt der zwischen 1972 und 1992 publizierten Geschichtlichen Grundbegriffe dies vermuten; Koselleck selbst räumte 1992 im Vorwort zum abschließenden Band des Lexikons ein, die Metaphorik der politisch-sozialen Sprache sei nicht systematisch einbezogen worden.11 Kosellecks Aufmerksamkeit für die Bildhaftigkeit der Sprache lag auf der Ebene einer theoretischen Reflexion geschichtswissenschaftlicher Begriffs- und Kategorienbildung. Hier fällt auf, dass Kosellecks heuristische Konzeption des (politisch-sozialen Grund-)Begriffs Analogien zu Eigenschaften des Bildes aufweist. Mit den Grundbegriffen des politisch-sozialen Vokabulars ging es dem Lexikon um die Analyse des Wandels der Erfahrungsdeutungen auf der ›Schwelle‹ der Neuzeit.12 Begriffsgeschichte spielt sich auf der semantischen Ebene ab, und insofern rückte Koselleck den Begriff von den syntaktischen Eigenschaften der Sprache (Linearität, distinkte Zeichen) ab und formulierte ihn als einen semantischen Komplex – im Modell des Bildes.13 Die Verbindungen zwischen Begriff, der Theorie geschichtlicher Zeiten und dem Bild bei Koselleck sind kaum bemerkt worden, sie sind aber auch nicht unbemerkt geblieben. So ist es für Faustino Oncina Coves das »prius« der Historik, das Begriffsgeschichte und Ikonologie bei Koselleck verklammere.14 Im Unterschied dazu soll im Folgenden mit dem Bild als dem gemeinsamen Denkrahmen zwischen Begriff und der Theorie geschichtlicher Zeiten argumentiert werden. Kosellecks schon für die frühen 1960er Jahre dokumentierte theoretische Auseinandersetzung mit dem Bild lag nicht nur der Konzeption des semantischen Komplexes ›Begriff‹ zugrunde, sondern begleitete auch die Formulierung 9 Koselleck, Reinhart, Zeitverkürzung und Beschleunigung. Eine Studie zur Säkularisation, in: ders., Zeitschichten, S. 177–202, S. 183. 10 Koselleck, Theoriebedürftigkeit, S. 304. 11 Koselleck, Reinhart, Vorwort, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. VIII. 12 Koselleck, Reinhart, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81–99, S. 81. 13 Auch aus dezidiert zeichentheoretischer Perspektive wird das Bild als von Sprache unterschieden definiert: Sprachliche Zeichen sind syntaktisch disjunkt, einem begrenzten Zeichenrepertoire zugehörig und nach festen Regeln zu kombinieren. Bilder sind wie Sprache semantisch mehrdeutig, doch sind sie auch syntaktisch ›dicht‹, nicht-disjunkt und lassen sich keinem begrenzten Repertoire mit festen Ausführungsregeln zuordnen. Vgl. Nöth, Winfried, Handbuch der Semiotik, Stuttgart 22000, S. 471–486. 14 Coves Oncina, Faustino, Memory, Iconology and Modernity: A Challenge for Conceptual History, in: Sebastián, Javier Fernández (Hg.), Political Concepts and Time. New Approaches to Conceptual History, Santander 2011, S. 305–344, S. 309 und 316.

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der Historik, wie sie als Metatheorie aus dem Projekt der Begriffsgeschichte hervorging.15 Mit den in den 1980er Jahren entstandenen Studien, die Koselleck im Jahre 2000 unter dem Titel »Zeitschichten. Studien zur Historik« veröffentlichte, waren Kosellecks anwachsende Bildsammlung und seine Praxis des Fotografierens verknüpft, die sich in den 1990er Jahren mit dem näher rückenden Abschluss des Lexikons gleichwohl intensivierte. Beide, Bildsammlung und Fotopraxis, lassen sich als ein Experimentierfeld verstehen, mit dem Koselleck seine Theorie geschichtlicher Zeiten praktisch erprobte. Im wiederholbaren Wortkörper des Begriffs akkumulierten, verschoben und widersprachen sich in Kosellecks Konzeption eine Fülle von Bedeutungen unterschiedlicher zeitlicher Herkunft. Von den konzeptionell grundlegenden »Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit« (1967) bis zum Vorwort zum letzten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe (1992) charakterisierte Koselleck Begriffe heuristisch als eine Bündelung synchron und diachron unterschiedlicher Erfahrungsdeutungen. Begriffe in ihrer semantischen »Mehrschichtigkeit« folgten nicht einer linearen chronologischen Logik, sondern verkörperten die Gleichzeitigkeit temporaler und perspektivischer Pluralität und Heterogenität.16 Koselleck fasste Begriffe als vieldeutige und daher interpretationsbedürftige Komplexe auf, die »perspektivisch verschieden ausgelegt« werden.17 Ihre Wiederholbarkeit verleiht ihnen, so lässt sich folgern, einen dem Bild ähnlichen Präsenzeffekt, wobei sich die drei Zeitebenen der »sprachlichen Vorgaben«, der situativen Anwendung und der »Vorgriffe, die die Zukunft erschließen sollen«, spannungsreich überlagern.18 Dieses heuristische Begriffsmodell entspricht dem Bild als einem »simultanen Wahrnehmungsangebot« (Gottfried Boehm),19 in dem nicht-distinkte, nichtlineare Differenzen gleichzeitig präsent sind und kontrastierend interagieren. Das von sprachlicher Linearität unterscheidbare Vermögen der Bilder, zeitliche Sukzession auf einmal im Bildraum sichtbar zu machen, hatte der Bochumer Kunsthistoriker Max Imdahl – mit dem Gottfried Boehm zeitweise an der Ruhr-Universität zusammengearbeitet hatte – mit seinem Ansatz der Ikonik betont, die Koselleck, den mit Imdahl auch eine langjährige Freundschaft verband, ausführlich rezipiert hatte, wie die Annotationen in seinem Exemplar von Imdahls Aufsatz »Giotto.

15 Vgl. Kosellecks Typoskript »Zur pol. Ikonologie«, in dem er bildspezifische Eigenschaften in Unterscheidung zur Sprache festhielt, wie die leichte und schnelle Einprägsamkeit des Bildes in der visuellen Wahrnehmung sowie die Überzeugungskraft der Präsenz. 16 Vgl. Koselleck, Richtlinien, S. 86 f.; ders., Einleitung, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, S. XIII–XXVII, S. XXI und S. XXIII; Koselleck, Vorwort, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. VIf. 17 Koselleck, Vorwort, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. VII. 18 Ebd., S. VI. 19 Boehm, Gottfried, Die Sichtbarkeit der Zeit und die Logik des Bildes, in: ders., Die Sichtbarkeit der Zeit, Paderborn 2017, S. 273–288, S. 276.

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Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur« zeigen.20 Anhand der »Ereignisbilder« Giottos in der Arena-Kapelle in Padua, die biblische Erzählungen aus den Leben Mariae und Jesu thematisieren, formulierte Imdahl im Hinblick auf den im Bild zu szenischer Komplexität zusammengefassten Ereignisverlauf die These, dass Bilder, über eine bloße Repräsentationsfunktion hinausreichend, eine »komplexe Anschauungseinheit« darstellten und durch formale Relationen eine »Seherfahrung« ermöglichten, die das alltägliche Sehen wie auch die sukzessive Sprache an »Sinnkomplexität« überbiete.21 Kosellecks Analyse von Albrecht Altdorfers 1528/29 entstandenem Historiengemälde auf die antike Schlacht bei Issos (333 v. Chr.), die »Alexanderschlacht«, die den Aufsatz »Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit« (1968) einrahmt, ist ein Beispiel für sein Verständnis des Bildes als einer Wahrnehmungseinheit, in der diachrone Differenzen sichtbar werden. Koselleck hatten es die Anachronismen angetan, die das Bild versammelte: So ist auf den Bannern der Kämpfenden die Zahl der Gefallenen verzeichnet – tragen die Akteure des Geschehens schon ihr Ende mit sich, sind Ereignis und Zukunft auf einen Blick zu sehen – und treten die Krieger Alexanders wie auch die Perser in Kostümen aus der Zeit der Entstehung des Gemäldes um 1500 auf.22 Dass Koselleck selbst von einem Anachronismus sprechen konnte, ergab sich jedoch erst mit einer geschichtlichen Wahrnehmung, die er mit Friedrich Schlegel teilte, der den historischen Kontext von Altdorfers Gemälde von der eigenen Zeit um 1800 ebenso unterschied wie von der Zeit des Geschehens 333 v. Chr. Während, so Kosellecks Interpretation, aus der Perspektive von 1528/29 die antike Schlacht noch in »einem gemeinsamen geschichtlichen Horizont« wahrgenommen wurde, der es erlaubte, sie bruchlos in die Gegenwart zu übersetzen, war um 1800 ein Geschichtsverständnis am Werk, das die Vergangenheit als abgeschlossen und von der Gegenwart und der Zukunft als getrennt betrachtete.23 Interessant war Imdahls immanent, mit der bildspezifischen Temporalität und Sinnerzeugung argumentierende Ikonik für Koselleck jedoch auch in einer weiteren Hinsicht: in Bezug auf die Einsicht in die Grenzen der Sprache. Für ihn stellten Begriffe Annäherungen an Sachverhalte dar, sie bedeuteten stets mehr oder weniger als das, worauf sie sich bezogen.24 Mit der Idee einer diskontinuier20 Imdahl, Max, Giotto. Zur Frage der ikonischen Sinnstruktur, München 1979, S. 7–43, weiter enthalten: ders., »Corollarium: Ikonik oder Strukturanalyse?«, S. 44–53. Der Druck findet sich unter der Signatur BRK5.1 in der kunstgeschichtlichen Teilbibliothek Reinhart Kosellecks im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg. Der Aufsatz ist wieder abgedruckt in Imdahl, Max, Gesammelte Schriften, hg. von Gottfried Boehm, Bd. 3, Reflexion – Theorie – Methode, Frankfurt a. M. 1996, S. 424–463. 21 Ebd., S. 15 und S. 20. 22 Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 31995, S. 17–37, hier S. 18 f. 23 Ebd., S. 18 f. 24 Koselleck, Vorwort, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, S. VII. Ähnlich schon ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Koselleck, Vergangene Zukunft, S. 107–129, S. 125 f.

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lichen Übersetzung zwischen Geschehen, Erfahrung und Artikulation verbunden ist auch Kosellecks anthropologisch grundierte Überzeugung, es gebe »geschichtliche Vorgänge, die sich jeder sprachlichen Kompensation oder Ausdeutung entziehen.«25 In seiner Auseinandersetzung mit der Erfahrung und Erinnerung von Krieg und Kriegstod, die stark durch Kosellecks Er- und Überleben des Zweiten Weltkriegs motiviert war, beharrte er auf der Unterscheidung zwischen einer individuellen »Primärerfahrung«, die man »schlagartig« mache und die unübertragbar sei, und der notwendigen Diskontinuität kollektiver kultureller Erinnerungsräume.26 Bilder versprachen vor diesem Hintergrund einen erweiterten Zugang zur Erfahrungsgeschichte, der auch nicht-sprachlich artikulierte oder artikulierbare Erfahrungen einbezog, einen »Bereich des Unaussprechbaren« wie die Erfahrung des Grauens der NS-Konzentrationslager, der Koselleck am Beispiel überlieferter Traumbilder von Inhaftierten nachgegangen war.27 Dabei verstand Koselleck Bilder keineswegs als den ›authentischeren‹ Zugang zu einem vor- oder nicht-sprachlichen Erfahrungsraum. Auch die Möglichkeit des politisch manipulativen Umgangs mit Bildern war ihm sehr bewusst. Vielmehr nahm er bildspezifische Verfahren der Sinnerzeugung an, die aus einem an die Bedingungen des Sehsinns gekoppelten Modus resultierten, zeitliche Differenzen simultan wahrnehmbar zu machen. Eine Voraussetzung dafür ist die Präsenz der Bildzeichen. Der Philosoph Martin Seel bringt die bildspezifische Kopplung von Ästhetik und Semiotik auf den Punkt: »Das Bildzeichen tritt nicht zurück hinter dem, worauf es sich bezieht.«28 Anders als bei der Sprache, deren ästhetische Erscheinung als Schrift (oder Klang) im Vorgang der Bezeichnung schnell übersprungen werden kann, bleibt die sinnliche Präsenz der Bildzeichen die Bedingung für visuelle Sinnerzeugung und Repräsentation. Genau darin sah Koselleck die besondere Voraussetzung, mit Bildern zu »betrügen«: »Die Verdoppelung des Bildes: vergangen und wieder präsent zu sein«, reflektierte er in seinem auf das Jahr 1963 datierten Typoskript »Zur pol. Ikonologie«,29 war leicht nutzbar, um die semantischen Verschiebungen und Differenzen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einzuebnen und eine solche Botschaft der Identität und Homogenität mit der Evidenz des Sehens als einer individuellen sinnlichen Aktivität zu beglaubigen: »Das Bild überzeugt, bevor man sich dazu stellt.«30

25 Koselleck, Reinhart, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten, S. 97–118, hier S. 117. 26 Koselleck, Reinhart, Die Diskontinuität der Erinnerung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47 (1999) H. 2, S. 213–222, hier S. 214. Zu Kosellecks Erinnerungs-Arbeit vgl. Morina, Christina, Reinhart Koselleck und das Überleben in Trauer nach den Umbrüchen von 1945 und 1989, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 63 (2015), S. 435–450. 27 Koselleck, Reinhart, Terror und Traum. Methodologische Anmerkungen zu Zeiterfahrungen im Dritten Reich, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 278–299, S. 289. 28 Seel, Martin, Ästhetik des Erscheinens, Frankfurt a. M. 2003, S. 280. 29 Koselleck, Zur pol. Ikonologie, S. 295. 30 Ebd.

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An diesem Beispiel früher bildtheoretischer Überlegungen zeigt sich, dass Koselleck keinen einfachen, repräsentationalen Bildbegriff vertrat, wie dies in der Geschichtswissenschaft, wenn sie sich überhaupt Bildern als »Quellen« zuwandte, vor (und durchaus auch nach) dem ›Visual Turn‹ der Fall war.31 Der Eigenschaft der Präsenz räumte er im Gegenteil einen besonderen Stellenwert gerade für den Gebrauch von Bildern zum Zweck der politischen Repräsentation ein. Zugleich besaß er aber auch keinen essentialistischen Bildbegriff, der die besonderen Regelhaftigkeiten der Bilder enthistorisiert hätte. Auf originelle Weise und mit kritischer Absicht brachte Koselleck in seinen Überlegungen zur politischen Bildlichkeit systematische und historische Aspekte zusammen. Im Typoskript »Zur pol. Ikonologie« begründete er seine Hypothese zunehmend manipulativer Einsatzmöglichkeiten von Bildern historisch mit einer sich in der Moderne ereignenden »Emanzipation des Bildes vom Wort«.32 Angelehnt an Arnold Gehlens These von der Kommentarbedürftigkeit der abstrakten Kunst,33 entwickelte Koselleck mit der Figur einer Autonomisierung der Bilder eine eigene Argumentation zum Wandel der politischen Bildwelt. Während die auf konventionalisierten Text-BildRelationen beruhenden Allegorien der Frühen Neuzeit auf Lesbarkeit hin angelegt gewesen seien, falle diese Interpretations- und Kontrollfunktion des Wortes in dem Maße weg, wie sich die Bilder gegenüber der Sprache verselbstständigten. Hier lag für Koselleck die »Einbruchstelle für die moderne politische Ikonenwelt«: Der Präsenzeffekt der Bilder lasse sich, von der Intervention der Sprache freigesetzt, umso wirkungsvoller nutzen, um »wortlos zu betrügen«.34 In einem späteren Typoskript zum Thema »Bild und Begriff« und in seinem Aufsatz über Honoré Daumiers Karikaturen konkretisierte Koselleck diesen historischen Vorgang einer Entkopplung von Bild und Wort, indem er ihn mit der Verzeitlichungs-Logik der Moderne verband. Habe die frühneuzeitliche Allegorie auf einem Denken in wiederholbaren, exemplarischen Geschichten beruht, so stelle das moderne Zeit- und Geschichtsverständnis Bilder unter das Gebot der Nähe zum und der Konvergenz mit dem einmaligen, historisch individualisierten Ereignis.35 Damit ordneten Bilder, analog zu Schlagworten, die Welt funktional zu den Deutungen politischer Interessengruppen; sie verwandelten sich in ideologisierte Symbole konkurrierender politischer Gruppen.36

31 Vgl. dazu Paul, Gerhard, Visual History, 2014, abrufbar unter http://docupedia.de/zg/paul_ visual_history_v3_de_2014 (letzter Zugriff 14.03.2020). 32 Koselleck, Zur pol. Ikonologie, S. 295. 33 Gehlen, Arnold, Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a. M. 1960. 34 Koselleck, Zur pol. Ikonologie, S. 295. 35 Koselleck, Reinhart, Bild und Begriff [undatiertes Typoskript], Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte  – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 40, Mappe 246; ders., Daumier und der Tod, in: Boehm / Stierle / Winter, Modernität und Tradition, München 1985, S. 163–178. 36 Koselleck, Bild und Begriff.

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Zur Kritik einer ideologischen Verselbstständigung der Bilder wählte Koselleck die Methode, Zeigen und Sagen an ihren Grenzen aufeinander zu beziehen, sodass beide sich gegenseitig in ihren Blindstellen und Auslassungen beleuchten: »Das, was nicht sagbar ist, ist vielleicht zeigbar, und das, was nicht zeigbar ist, ist vielleicht sagbar. Diese Relation zeigt meine Fragestellung.«37 Denkmäler waren der ideale Gegenstand, an dem sich die Beziehung zwischen visueller und sprachlicher Erfahrungsdeutung und die Wechselwirkungen zwischen ästhetischer Präsenz und politischer Repräsentation in einem anschaulichen Rahmen beobachten ließen. Die Studien zu den Denkmälern des modernen politischen Totenkultes lassen sich insofern als eine Versuchsanordnung verstehen, dem Erfahrungswandel um 1800 in visuellen Ausdrucksformen näherzukommen und dabei ›optische‹ und begriffliche Formen in ihrem Zusammenspiel und ihren Abgrenzungen zu befragen. So ermittelte Koselleck anhand der Kriegerdenkmäler, die seit der Französischen Revolution den monarchisch-dynastischen Totenkult ablösten und den Soldatentod in den Dienst der ›Nation‹ stellten, eine »optisch[e] Signatur der Neuzeit«,38 mit der begriffsgeschichtliche Beobachtungen historischen Wandels wie etwa die einer »Demokratisierung« auch visuell in Erscheinung traten. Die ständische Differenzierung der Denkmalsfähigkeit, einst dem Adel vorbehalten, wurde abgelöst durch die soziale Egalisierung der Erinnerung an alle gefallenen Bürgersoldaten, was sich im 19. und 20. Jahrhundert mit der Nennung der Namen und der Anzahl der Gefallenen, in Bildern von Genien und idealen Kriegerfiguren und schließlich in Kriegsgräberstätten sichtbar niederschlug.39 Krieger- und Nationaldenkmäler interessierten Koselleck als ein spezifisch neuzeitliches Phänomen mit der Funktion, eine überzeitliche Identität des politischen Kollektivs (der ›Nation‹, des Staates) zu behaupten, indem sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf einen gemeinsamen politischen Sinn des Kriegstodes ausrichteten: »Die Toten sollen für dieselbe Sache eingestanden sein, wofür die überlebenden Denkmalsstifter einstehen wollen […]«, und worauf auch die künftige Erinnerung festgelegt werden sollte.40 Gerade aber in der dauerhaften visuellen Präsenz des Denkmals, die doch die politische Sinnfixierung auch für die Zukunft gewährleisten sollte, beobachtete Koselleck eine Paradoxie, die sich dysfunktional auswirke: »Denkmäler, auf Dauer eingestellt, bezeugen mehr als alles andere Vergänglichkeit.«41 Die ikonographische Form des Denkmals, die politische Botschaft und auch die sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungsmuster im politischen Raum wandelten sich Koselleck zufolge in unterschiedlichen Zeitrhythmen. Ohne eine bewusste Institutionalisie37 Koselleck, Reinhart / Narr, Wolf-Dieter / Palonen, Kari, Zeit, Zeitlichkeit und Geschichte  – Sperrige Reflexionen. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Wolf-Dieter Narr und Kari Palonen, in: Kurunmäki, Jussi / Palonen, Kari (Hg.), Zeit, Geschichte und Politik. Time, History and Politics: Zum achtzigsten Geburtstag von Reinhart Koselleck, Jyväskylä 2003, S. 9–33, Zit. S. 30. 38 Koselleck, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, S. 274. 39 Ebd., S. 258 und S. 267–274. 40 Ebd., S. 257. 41 Ebd.

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rung des politischen Gedenkens könne die visuelle Gestalt des Denkmals über die Generation der Stifter hinaus die einst intendierte politische Botschaft für spätere Betrachter nicht vermitteln. Aus dieser Ungleichzeitigkeit von Form, Wahrnehmung und Deutung resultierte für Koselleck ein ästhetischer Überschuss, der sich gegen die politisch-ideologische Sinnfestlegung mit der Zeit sperrte: »Denkmäler haben, wie alle Kunstwerke, ein Überschußpotential, das sich dem Stiftungszweck entzieht.«42 Die Ikonographie der Denkmäler, die häufig auf das antike und christliche Formenarsenal und damit auf historisch weit zurückreichende Bedeutungsschichten rekurrierte, öffnete sich neuen (wie älteren) Wahrnehmungs- und Deutungsmöglichkeiten. Dem manipulativen Gebrauch der Bildpräsenz stellte Koselleck im Ergebnis seiner Denkmalstudien somit nicht nur die Grenzen der politischen Verfügbarkeit der Bilder zur Seite, sondern auch deren kritisches Vermögen, komplexe zeitliche Relationen sichtbar zu machen, mit denen teleologische Erzählungen von Kontinuität und Identität (von Fortschritt, der Nation) hinterfragbar werden.

II. Fotografie als Experimentierfeld der Zeitschichten Das heuristische Potenzial der Bilder, temporale Differenzen freizulegen und teleologische Identitätsnarrative zu stören, interessierte Koselleck nicht nur an bildlich-visuellen Gegenständen im historischen Prozess, wie dem Denkmal, sondern er nutzte es auch für seine eigene Praxis des Fotografierens. Im Unterschied zu seinen bildtheoretischen Überlegungen hat Koselleck offenbar keine theoretische Reflexion seiner Fotopraxis hinterlassen. Als ein grundlegender Theorierahmen für Kosellecks Bildproduktion lässt sich jedoch Max Imdahls Ikonik verstehen. In einem Vortragsmanuskript mit dem Titel »Ikonik und Historik« aus dem Jahre 1996 jedenfalls beschrieb Koselleck die Ikonik, die nach der bildimmanenten Sinnkonstituierung fragt, als eine zwar erst durch die gegenstandslose Kunst aufgeworfene und somit historisch in der Moderne verortete analytische Perspektive. Koselleck erkannte darin aber zugleich eine Methode, die sich auf Bilder jeglicher Art und Zeiten anwenden ließ: »Sie [die Ikonik, B. B.] zeigt, wie eine Vielfalt und Heterogenität in dem Bild – aber auch in einer Skulptur – zugleich aufscheint […]«, sodass eine »nur bildlich vermittelbare komplexe Zusammenschau« sichtbar wird.43 Die Emphase der doppelten Unterstreichung, die das spezifische Erkenntnispotenzial der Bilder hervorhebt, lässt sich auf ein Verständnis des Fotografierens als eines methodischen Instruments beziehen, das die Bedingungen historischer Erkenntnis erweitert. Kosellecks Fotografien lassen 42 Ebd., S. 274. 43 Koselleck, Reinhart, Ikonik und Historik [unveröffentlichtes Manuskript, 9 Seiten], 1996, Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Nachlass Koselleck, Kasten 47, Mappe 322, S. 6 (Hervorhebungen im Original).

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sich selbst als eine Reflexion »geschichtlicher Zeitschichten« verstehen.44 Wie er dieses Instrument in der Praxis einsetzte, in welcher Weise er seine Gegenstände in den Blick nahm und welche Aufschlüsse die Fotografie als simultaner Anschauungsrahmen zeitlicher Heterogenität ermöglicht, sei im Folgenden an einigen Bildbeispielen genauer betrachtet. Kosellecks seit den 1960er Jahren anwachsendes Bildarchiv umfasst Fotografien, die er, die Kamera stets dabei, auf zahlreichen Reisen in Europa und den USA, auf Exkursionen mit Studierenden und auf privaten Fahrten in verschiedenen Regionen und Städten Deutschlands aufnahm. Den Schwerpunkt bilden Fotografien von Monumenten des politischen Totenkultes, Reiterdenkmälern, Kriegerdenkmälern und von Gedenkstätten des Holocaust, die auch der wissenschaftlichen Präsentation und Dokumentation in seinen Denkmalstudien dienten.45 Zu den bevorzugten Motiven gehören zudem Uhren und Fahrzeuge als Indikatoren historisch variabler Zeitregime und Geschwindigkeiten, die im öffentlichen Raum von der alltäglichen Wahrnehmung meist unbemerkt koexistieren. Hier besaß Koselleck einen treffsicheren Blick für die temporalen Kreuz- und Querverweise sowie Paradoxien, die erst in der Einheit des Bildes erkennbar werden und das Nachdenken dynamisieren. Ein Beispiel hierfür gibt die Aufnahme einer Standuhr in Berlin Mitte aus dem Jahre 2003 (Abb. 1). Das Objekt muss Kosellecks Aufmerksamkeit auf sich gezogen haben, weil es mit einer auf einen Denkmalsockel gestellten Uhr zwei Zeitverständnisse der Moderne, die Koselleck interessierten, ineinander blendete: Die unumkehrbare, nicht wiederholbare Zeit des ›Fortschritts‹ einerseits und die als überzeitlich reklamierte Geltung kollektiver Glaubenssätze wie der ›Nation‹, die der Denkmalskult des 19. Jahrhunderts monumental zu verewigen suchte, andererseits.46 Dauer und Einmaligkeit bilden ein scheinbares Paradox, das jedoch das Gesetz des Fortschritts in der Moderne auf den Punkt bringt. Ein gelb gespraytes »DU« auf der Vorderseite des Uhrendenkmals fungiert als Allegorese, die ein Betrachter oder eine Betrachterin vielleicht im Sinne eines »tua res agitur« nachgetragen hat. Weitere Relationen lassen sich im Bild erkennen, die Koselleck im Blick gehabt haben mochte, die aber auch ohne jede Intention erst in der Anschauungseinheit des Bildes sichtbar, insbesondere aber bewusst werden. Denn die fortschreitende Zeit wird durch ein Ziffernblatt angezeigt, auf dem die Zeiger wiederholt dieselben Kreise ziehen. Einmaligkeit wird im Modus der Wiederholung erkennbar, diese These lag Kosellecks Theorie »unterschiedliche[r] Wiederholungsstrukturen, die sich mit verschiedenen Veränderungsgeschwindigkeiten« 44 Koselleck, Reinhart, Vorwort, in: ders., Zeitschichten, S. 7. Den Stellenwert des Fotografierens für Koselleck als eine »empirische Forschungsmethode«, der auch eine »erkenntnisleitende Funktion« zukam, betont auch Markantonatos, Er-fahrungen, S. 47. 45 So in Koselleck, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. 46 »Fortschritt« als zentralen Begriff modernen Geschichtsdenkens thematisierte Koselleck an vielen Stellen seiner Aufsätze; vgl. grundlegend ders. / Meier, Christian, Fortschritt, in: Brunner / Conze / Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 351–423.

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gleichzeitig wandeln, zugrunde:47 »In ihrer Wiederholbarkeit liegt die Voraussetzung aller Einzelfälle beschlossen.«48 Die mechanische Uhr, in ihrer kreisrunden Gestaltung noch an das Bild der Sonnenscheibe erinnernd, bleibt mit älteren, mit der Natur interagierenden Zeitmessern verbunden und wird mit dem Schlagschatten ihres Sockels gar zur Sonnenuhr. Durch formalästhetische Relationen entsteht eine Diagonale zwischen einem abgestellten Fahrrad links unten im Bild, dem Ziffernblatt in der Mitte und dem Firmenlogo eines Autoherstellers auf der Werbetafel rechts oben. Mit den drei Rädern wiederholt sich eine Bewegung, aber die Räder stehen für verschiedene Geschwindigkeiten und Antriebsarten. Durch Muskelkraft betriebene Mechanik und durch Brennstoffe beschleunigte Mobilität koexistieren. Der Name der neuen Autoserie »Highline« wiederum konnotiert innovative Steigerung und befindet sich interessanterweise auf dem Höhepunkt der von links unten nach rechts oben aufsteigenden Diagonalen, die an stetiges Wachstum denken lässt. Während der Name »Highline« dem Rad des Firmenlogos die Assoziation pfeilgerader Beschleunigung hinzufügen mag, hat die neue Serie das Rad nicht erfunden, so ließe sich eine mit dem Bild denkbare Kritik am linearen Fortschrittsmythos formulieren. Das Zusammenspiel von natürlich und technisch bemessener Zeit ist ein wiederkehrendes Thema in Kosellecks Fotografien. Der »fragwürdige[n] Opposition zwischen Natur und Geschichte« als einer modernen Trennung, die »uns heute noch umtreibt, unter der Herausforderung ökologischer Fragen heute vielleicht mehr als früher […]«, begegnete Koselleck mit fotografisch eingefangenen Situationen, in denen die Vegetation kulturelle Formen der Zeitmessung und -deutung überlagert.49 In zwei Aufnahmen vom September 2002 hielt Koselleck eine Sonnenuhr an der Pfarrkirche St. Vitus in Heidelberg-Handschuhsheim fest (Abb. 2 a–b). Während die vertikale Aufnahme den romanischen Kirchturm zeigt, versammelt die querformatige Aufnahme verschiedene Zeit-Indikatoren: Die Sonnenuhr stellt einen seit der Antike mit natürlichen Bedingungen arbeitenden Zeitmesser dar, während der sie überlagernde Efeu wie auch der Strauch rechts unten im Bild selbst ein Indikator für die Jahreszeit ist, darüber hinaus aber auch als kulturelles Symbol für die Ewigkeit steht. Zwei an die Kirchenwand gelehnte  – und somit versetzte  – Epitaphe vertreten die Kultur des Totengedenkens. Der überwachsende Efeu macht Kosellecks heuristische Begriffe des sich Überlagerns und der Schichtung im realen Raum ansichtig. Zugleich scheint ein zufälliges Detail die historische Leistung der Sonnenuhr, »die Naturzeit gleichsam zu objektivieren«, zu bestätigen, denn der Wuchs des Efeus nimmt die Rundung des Ziffernblattes auch auf.50 47 Ders., Einleitung, in: ders., Zeitschichten, S. 14. 48 Ebd., S. 13. 49 Ders., Raum und Geschichte, in: ders., Zeitschichten, S. 78–96, Zit. S. 79. 50 Ders., Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: ders., Zeitschichten, S. 150–176, hier S. 156.

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Wie viele andere Fotografien Kosellecks zeugt auch diese davon, dass es ihm weder um eine ideale Ansicht noch um eine historisch geschlossene Darstellung des Objekts wie hier einer mittelalterlichen Kirche ging. Vielmehr wird die Intention des aus leicht diagonaler Perspektive aufgenommenen Bildes deutlich, das Miteinander des Ungleichzeitigen einzufangen und dabei gerade nicht das Stromkabel neben dem Fallrohr am linken Bildrand als Störung auszublenden. In der schiefen Ansicht gibt sich ein Beobachter zu erkennen, der nicht im perfekten Ausschnitt die Illusion einer objektiven Repräsentation von Ordnung zu erzeugen sucht, sondern der den individuellen, veränderlichen Standort des fotografischen Seh-Experiments betont und darauf setzt, dass gerade in der Momentaufnahme, die Zufälligkeit einschließt, übersehene Objekte und Relationen erkennbar werden können.51 Die Serialität der Aufnahmen Kosellecks vervielfacht das Erkenntnispotenzial, das mit wechselnden Blickrichtungen eines beweglichen Betrachters verbunden ist.52 Die Begegnung unterschiedlicher Geschwindigkeiten setzte Koselleck in mehreren Fotoserien ins Bild, die er zwischen den siebziger Jahren und 2001 von den Reiterdenkmälern der preußischen Könige und Kaiser an den Brückenköpfen der Kölner Hohenzollernbrücke aufgenommen hatte. Aus dem Zug fotografierend, erfasste Koselleck wiederholt die Begegnung der Reiterdenkmäler mit vorbeifahrenden Zügen, in der technologisch vorangetriebene Beschleunigung mit dem Stillstand des monarchischen Denkmals zusammentraf. So auch in einer am 20. Dezember 1997 aufgenommenen Serie, bei der vermittels der Digitalanzeige die Aktivität des Fotografen datiert und in das Bild eingetragen ist (Abb. 3 a–c). Zwischen die reitenden Monarchen und ihre Apotheose hat sich ein moderner Himmel der Stromkabel und der eisernen Brückenkonstruktion geschoben. Die Verewigung monarchischer Herrschaft erscheint mediatisiert und die Hierarchie einfordernde Vertikale verkleinert durch die technische Infrastruktur, die sich im Raum horizontal ausbreitet. In dem Moment, in dem der Denkmalsockel des Reiters (Wilhelm I., geschaffen von Friedrich Drake, 1867) durch den überholenden ICE verdeckt wird (Abb. 3 b), geraten auch Reiter und Pferd in Bewegung. Das Pferd wird aus seiner politischen Symbolfunktion herausgelöst und wieder in seine Funktion als Fortbewegungsmittel zurückversetzt. Die Fotografie macht eine Relation ansichtig, die sich als ein Sog der technischen Moderne, der das hierarchische politische System des Kaiserreichs mit- und einreißt, erzählen ließe. Der heuristische Wert der Wahrnehmungseinheit Bild zeigt sich in Kosellecks Fotografien häufig in der Verschiebung der Standorte und Vervielfältigung der Perspektiven. Aufnahmen aus einer Fotoserie vom Nationaldenkmal für Georgios 51 Zur Konzeption der Fotografie als ein das intentionale menschliche Sehen überschreitendes Archiv bei Siegfried Kracauer vgl. Geimer, Peter, Photography as a »Space of Experience«: On the Retrospective Legibility of Historic Photographs«, in: The Getty Research Journal 7 (2015), S. 97–108, S. 104. 52 Vgl. zur beweglichen Perspektive Kosellecks, mit der er eine Fülle von Details einfing, auch Markantonatos, Er-fahrungen, S. 40 ff.

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Karaiskakis, der 1827 im griechischen Unabhängigkeitskrieg gegen die Türken gefallen war (Abb. 4 a–f), verdeutlichen, wie Koselleck Denkmäler mit der Kamera umkreiste und deren Macht einfordernde Monumentalität dezentrierte und dekonstruierte (Abb. 4 a–f). Die Aufnahmen sequenzieren und pluralisieren das Denkmal. Sie lösen seine Einheit, die es als Skulptur besitzt, auf. Mal vermittelt die nahe Untersicht, aus der der Denkmalsockel nicht zu sehen ist, einen illusionistischen Blick auf den gleichsam im Sprung befindlichen Reiter (Abb. 4 a), mal erweitert die größere Entfernung zum Objekt den Raum des Sichtbaren, in dem nun der Sockel und eine Fahnenstange als erinnerungskulturelles Zubehör die Illu­sion, Augenzeuge des erinnerten Geschehens zu sein, unterbrechen (Abb. 4 b), dann wieder wechselt der Blick auf die Dokumentation der Sockelinschriften und lässt den Reiter zurücktreten oder ganz aus dem Bild verschwinden (Abb. 4 c und e). Eine Sicht auf den Rücken des Reiters aus weiter Distanz wiederum lässt nicht nur die Absprung-Pose der Vorderansicht wie ein Sitzen erscheinen, sondern bettet das Denkmal auch in die Umwelt einer modernen Großstadt ein, vor deren Hochhäusern das Pferd sich niedergelassen zu haben scheint, ähnlich dem schlafenden Hund, der am linken unteren Bildrand zu sehen ist (Abb. 4 f). Schließlich ergänzt eine eigenhändige Skizze Kosellecks die Dokumentation und überführt sie in Form von Hinweispfeilen und schriftlichen Notizen in die Praxis der Analyse (Abb. 4 d). Die Pluralisierung von Sichtweisen und das Zeigen der eigenen Situativität und Medialität kennzeichnen die Fotografien Kosellecks. Sie thematisieren sich selbst als Bilder, die so oder anders aufgenommen werden konnten und damit eine individuelle Wahrnehmung und Erfahrung sichtbar machen, die ihrerseits der Zeitlichkeit unterliegt. Siegfried Kracauer sprach von der Fotografie als einem »Generalinventar«, das die aus ihren ursprünglich gemeinten Zusammenhängen herausgelösten Elemente einer »abgeglittenen Realität« versammelte, und sah in der »Unordnung« dieses fotografischen Archivs die Möglichkeit zu erkennen, dass die »gültige Organisation unbekannt ist«, nach der das Generalinventar immer wieder neu geordnet wird.53 Auch Kosellecks Fotografien traten im Zuge ihrer Betrachtung, des Ein- und Umsortierens aus der Chronologie ihrer Aufnahme heraus und eröffneten stets aufs Neue einen Erfahrungsraum, der Reflexion und Kritik gegenüber dem Dargestellten ermöglichte.

53 Kracauer, Siegfried, Die Photographie, in: ders., Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a. M. 132017, S. 21–39, hier S. 37–39 (Hervorhebung im Original). Vgl. auch Geimer, Photography, S. 103 f.

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III. Das Bild als Erfahrungsraum der Kritik gegenüber dem Politischen Das Bild als Erfahrungsraum war für Koselleck sowohl politisches Verführungsinstrument als auch kritisches Reflexionsmedium. In seinem Aufsatz »Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste« (1998) widmete er sich deshalb dezidiert dem Wechselverhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und politischer Erfahrungswelt.54 Seine These zielte darauf, dass der politische Denk- und Erfahrungsraum über die fünf Sinne produziert, ja konstituiert wird: »Durch die politische Sinnlichkeit wird ein Erfahrungsraum eingegrenzt und abgesteckt, der ein Minimum an Gemeinsamkeit sichert, um handlungsfähig zu werden und zu bleiben.«55 Koselleck beschrieb den politischen Erfahrungsraum, und damit auch dessen Visualität, als ein »Schottensystem«, dass die Wahrnehmung – und die Erkenntnis – immer schon begrenzt: »Jedes Zeigen ist Verschweigen. Unversehens kann sich dann das kanalisierende Schleusensystem der sinnlichen Wahrnehmungen als ein Schottensystem erweisen, das von der restlichen Außenwelt abschließt.«56 Vor dem Hintergrund dieses Bewusstseins für die ideologisierende Macht des Bildes bzw. des visuellen Erfahrungsraums ging es Koselleck jedoch um die Frage nach den Bedingungen von politischem Wandel und damit auch die Abkehr von vorherrschenden politischen Ideologien. Dem Sehsinn und damit zusammenhängend dem Bild sprach Koselleck dabei im Vergleich zu den anderen Sinnen eine besondere Rolle zu, da beide auf die Distanz angewiesen seien und kritische Reflexion einforderten.57 In diesem Sinne betonte er, dass die Historizität des politischen Erfahrungs- und auch Handlungsraums auf einer historischen Veränderbarkeit des Wechselverhältnisses zwischen sinnlicher Erfahrung und dem Erfahrungsangebot kultureller Artefakte, die als Erkenntnis- und Deutungsmedien dienen, beruhe. So könnten sich sowohl die kulturellen Artefakte verändern als auch die sinnliche Wahrnehmung selbst: »[N]icht nur die künstlerischen Produkte, sinnenfällig wie sie sind, [haben] ihre Geschichte […], sondern […] auch die Sinnlichkeit selber, aktiv oder rezeptiv, [artikuliert sich] nur geschichtlich, und das heißt nur als veränderlich und veränderbar.«58 Entsprechend seines Konzepts der Historik fragte er auch in Hinblick auf die sinnliche Erfahrung und die sinnliche Erfahrungswelt nach den »Bedingungen möglicher Geschichten«.59 Kosellecks Interesse an dem Wechselverhältnis zwischen sinnlicher Erfahrung und ihren Objekten steht in enger Verbindung mit seinem grundsätzlichen Inte54 Vgl. grundlegend zu Kosellecks Aufsatz »Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste«: Locher, »Politische Ikonologie« und »politische Sinnlichkeit«; sowie Markantonatos, Geschichtsdenken zwischen Bild und Text, S. 239–257. 55 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, S. 32. 56 Ebd., S. 33. 57 Ebd., S. 26. 58 Ebd., S. 32. 59 Koselleck, Historik und Hermeneutik, hier S. 99.

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resse an schriftlichen und bildlichen Darstellungsformen von Geschichte. So sah er auch die Historik auf »die Doppelseitigkeit jeder Geschichte« fokussiert, indem sowohl »Ereigniszusammenhänge wie deren Darstellung« Beachtung finden sollten.60 Koselleck ist maßgeblich für seine Beschäftigung mit Begriffen und deren Geschichte bekannt. Auch in diesem Zusammenhang hat er diese »Doppelseitigkeit« betont: Sprache ziele auf äußere Sachverhalte, dennoch gehorche sie auch eigenen linguistischen Regeln.61 In dieser »Doppelseitigkeit« von Sprache als Darstellungssystem, die etwas repräsentiert, aber gleichzeitig immer auch an ihre eigenen Präsentationsgesetze gebunden bleibt, sah Koselleck auch die Begründung für historischen Wandel: »Beide Aspekte verweisen aufeinander, bedingen streckenweise einander, konvergieren aber niemals zur Gänze.«62 Carsten Dutt hat in seinem Nachwort zu Kosellecks Textkompendium »Vom Sinn und Unsinn der Geschichte« (2010) das Anliegen dahingehend zusammengefasst: Koselleck sei es um eine »Kritik der Denkfiguren und Darstellungsstrategien politischer und philosophischer Geschichtssinnverwaltung« gegangen, die in eine Publikation zur politischen Ikonologie hätte münden sollen, an der dieser in seinen letzten Lebensjahren arbeitete.63 Die »Kritik der Denkfiguren und Darstellungsstrategien« zielte neben der Sprache eben auch auf die Bilder. Der Sehsinn bildete dabei den Ausgangspunkt, diese Form der Kritik überhaupt erst zu ermöglichen. Kosellecks Fokus auf politische Sinnlichkeit, die er sowohl auf der Wahrnehmungs- als auch auf der Objektseite untersuchte, blieb dabei aber nicht allein auf offensichtliche politische Symbole bezogen. Vielmehr ging es Koselleck um ein Verständnis des politischen Erfahrungsraums, der den gesamten Lebensbereich umfasst, also auch die Sphäre der Freizeit oder den vermeintlichen ›Privatraum‹ mit einbezieht. Kosellecks eigenhändig aufgenommene Fotografien in seiner Bildsammlung zeugen von diesem breit gefassten Begriff des Politischen: Hier finden sich sowohl Aufnahmen von politischen Symbolen der Macht – wie es beispielsweise die vielen fotografierten Reiterstandbilder zeigen – als auch Fotografien von Werbung oder Gegenständen des Freizeitbereichs. So fotografierte Koselleck im Mai 2002 gleich zwei Mal das Heck eines roten Ferraris (Abb. 5 a–b). Während er in einem Foto das Heck des Autos mitsamt gepflastertem Straßenboden, Ferrari-Logo und Schweizer Nummernschild ins Bild setzt, ist der Bildausschnitt in der anderen Fotografie radikal reduziert. Das Auto als das eigentliche Bewegungsmittel ist in dieser Fotografie nicht mehr als solches erkennbar, nur noch das steigende Pferd, das einst das Monopol der schnellen Fortbewegung innehatte, hebt sich vom glänzenden Rot der Lackierung ab. Der Wechsel des Bildausschnitts, den Koselleck hier vornimmt, lässt Rückschlüsse ziehen auf sein Interesse an dem Wandel des einstigen Machtsymbols Pferd, das im »Nachpfer60 Ebd. 61 Koselleck, Reinhart, Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2014, S. 96–114, hier S. 111. 62 Ebd. 63 Dutt, Carsten, Nachwort, in: Koselleck, Sinn und Unsinn, S. 365–372, S. 365 (Zitat) und S. 367.

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dezeitalter« zwar nicht mehr ein kriegerisches oder ökonomisches Monopol verspricht, aber dennoch als Symbol von Reichtum – in enger Verbindung mit Geschwindigkeit und Beschleunigung – in der Moderne im Freizeitbereich weiterlebt und dort seine politische Sinnlichkeit entfaltet.64 Koselleck hat das politische Sinnesangebot mit Blick auf verschiedene Bildgattungen und Medien interessiert. Einen besonderen Stellenwert nahmen dabei die Karikaturen Honoré Daumiers ein, deren Darstellungsstrategie Koselleck in dem Aufsatz »Daumier und der Tod« untersuchte. Dieser Aufsatz erschien nicht zufällig 1985 in der Festschrift »Modernität und Tradition«, die Max Imdahl zum 60. Geburtstag gewidmet war. In der Argumentation des Aufsatzes wird deutlich, inwiefern Koselleck einen Bildbegriff vertrat, der vom Bild als einer Einheit ausgeht, die in sich selbst aber Differenzen aufweist. Dieses Bildverständnis kommt demjenigen sehr nahe, das Imdahl vehement auch gegenüber ikonologischen und sozialhistorischen Ansätzen der Kunstgeschichte vertrat.65 Mit Blick auf Giottos Arenafresken in Padua hatte der Bochumer Kunsthistoriker im Sinne seines kunsthistorischen Zugangs der »Ikonik« das Bild als »Totalität« beschrieben, die in sich gerade konträre Strukturen und Elemente beinhaltet: »Dieses Bildganze macht sich in jeder Relationierung von Verschiedenem oder gar Widersprüchlichem bemerkbar, insofern es das je Verschiedene oder Widersprüchliche als dialektisch vermittelte Einheit aufweist und damit in jedweder Relation die simultane und spannungsvolle Bildtotalität anschaubar werden läßt.«66 Auf diesen Grundannahmen aufbauend fragte Imdahl danach, wie durch die konträren Elemente innerhalb der Bildtotalität eine spezifische Temporalität des Bildes generiert werde, die nicht derjenigen der Erzählung im Medium der Sprache entspreche.67 Auch Kosellecks Ausführungen zu Daumiers Karikaturen, die sich mit den politischen Umbrüchen in Frankreich in der Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftigen, lassen ein Bildverständnis erkennen, dass sich gegen die Vorstellung von einer homogenen Einheitlichkeit des Bildraums wendet. Es ging Koselleck folglich nicht darum, Daumiers Karikaturen allein ikonographisch auf ihre politische ›Botschaft‹ hin zu lesen. Vielmehr spürte er den bildimmanenten Kontrasten zwischen ikonographischen Zeichen und Darstellungsmodi nach. Wie weiter oben bereits ausgeführt, lassen nach Koselleck diese Kontraste – oder Differenzen – eine spezifische Relationierung verschiedener historischer Zeiten erkennbar werden.68 Gerade die 64 Vgl. Koselleck, Reinhart, Der Aufbruch in die Moderne oder das Ende des Pferdezeitalters, in: Tillmann, Berthold (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster. Die Preisträger und Laudatoren von 1981 bis 2003, Münster 2005, S. 159–172, hier S. 161. 65 Vgl. dazu auch Markantonatos, Absatteln der ›Sattelzeit‹?, bes. S. 79 f. 66 Imdahl, Max, Giotto. Arenafresken. Ikonographie. Ikonologie. Ikonik, München 1980, S. 108. Vgl. dazu Markantonatos, Geschichtsdenken zwischen Bild und Text, S. 227–233. 67 Vgl. hierfür ebd., S. 7 f. Vgl. dazu auch Imdahl, Max, Die Zeitstruktur in Poussins »Mannalese«. Fiktion und Referenz, in: Fehr, Michael / Grohé, Stefan (Hg.), Geschichte – Bild – Museum. Zur Darstellung von Geschichte im Museum, Köln 1989, S. 167–181. 68 Vgl. für diese Ausführungen auch Hochkirchen, Britta, Bildzeiten des Ereignisses. Reinhart Koselleck und das fotografische Bild, in: Rundbrief Fotografie 26 (2019), Nr. 3 [N. F. 103], S. 25–35.

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bildimmanenten Differenzen beförderten auch den kritischen Abstand zum Gesehenen. Dabei waren es vor allem die Zeitdimensionen von Wiederholung und Veränderung, die er durch die Kontraste in Daumiers Karikaturen hervorgehoben sah. Die erste Karikatur, die Koselleck in seinem Aufsatz anhand einer Abbildung bespricht, zeigt den Bürgerkönig Louis-Philippe I. als Rückenfigur mit hängenden Schultern auf einem weißen Pferd durch eine kahle Landschaft reitend, ohne die toten, nackten Menschenleiber links und rechts des Wegerands wahrzunehmen (Abb. 6). Das Gesicht des Königs ist nicht zu erkennen, seine Uniform und seine Statur machen ihn jedoch als individuelle, historische Person identifizierbar. Koselleck geht es in seiner Erläuterung dieser Karikatur, die den Untertitel »Voyage à travers les populations empressées« trägt und am 14. August 1834 in der Zeitschrift »La Caricature« abgedruckt war, weniger darum, anhand des Bildes die politische Ereignisgeschichte der sogenannten Julimonarchie zu entziffern. Er weist zwar mit Blick auf die dargestellten Leichen auf die Todesopfer der »niedergeschlagenen Arbeiteraufstände in Lyon und Paris« hin und kontextualisiert die Darstellung Louis-Philippes damit, dass dieser immer wieder durch die Bevölkerung ritt.69 Koselleck betont in seiner Analyse jedoch nicht allein die Referenzialität des Bildes auf die außerbildliche Ereignisgeschichte, seine Untersuchung ist eben nicht durch ein repräsentationales Bildverständnis geprägt. Das eigentliche Augenmerk Kosellecks galt den bildimmanenten Kontrasten, die unterschiedliche Zeitdimensionen innerhalb der Karikatur nebeneinanderstehen lassen. Der auffälligste Kontrast bestand für ihn zwischen der Wiedererkennbarkeit der individuellen Erscheinung des »empirischen König[s]« Louis-Philippe und den entindividualisierten, quasi überzeitlichen Todessymbolen der »nackten Leichname«.70 Letztere seien gerade nicht ereignisgeschichtlich »als Barrikadenkämpfer« oder ähnliches gekennzeichnet, sondern erschienen in der wiederholten, überzeitlichen Todessymbolik des »nackten Leichnams«:71 »Ohne Stilbruch werden die Zeichen der Wirklichkeit mit denen der Todessymbolik ineinandergeblendet.«72 Wiederholung und Wandel treten im engen Bildraum in Relation zueinander und lassen die unterschiedlichen zeitlichen Dimensionen erfahrbar werden: »Gerade in der Differenzbestimmung zwischen den Zeichen von dauerhaftem Anspruch und der Unüberbietbarkeit einmaliger Handlungen und Leiden, die gezeigt werden, kommt die Karikatur zu ihrer Wirkung.«73 Koselleck hob diese bildimmanente Differenz als Eigenart des Bildes hervor, auf diese Weise unterschiedliche Temporalitätsstrukturen in ihrer Relationierung sichtbar und reflexiv bewusst zu machen. Daher bleibt als These festzuhalten, dass für Koselleck die markierte Differenz in Daumiers Karikaturen die Möglichkeit einerseits des reflektierenden Abstands der Kritik und andererseits – damit zusammenhängend – des 69 Koselleck, Daumier und der Tod, S. 166. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd.

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historischen Wandels eröffnete: und zwar im Wechselverhältnis von sinnlichem Angebot des Bildes und Sehsinn. Es sind diese von Koselleck betonten bildimmanenten Differenzen, die die Distanz des Betrachters zum bildlich Dargestellten – oder mehr noch: zum Sinnesangebot – verantworten. Die Distanz zwischen Bildraum und Erfahrungsraum eröffnet das Potenzial zur Reflexion und Kritik am Gesehenen und ermöglicht damit auch eine Positionierung zum Politischen. Statt eines Denkens in Bildern, ist es das Denken mit dem Bild – im Sinne eines externalisierten Instrumentariums –, das Koselleck in Theorie und Praxis befürwortete. Das Denkmodell Bild ist damit für Koselleck nicht allein ein Instrument der Erfahrung und Erkenntnis, sondern auch der Kritik. In seinem Aufsatz »Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste« wies er darauf hin, dass die fünf Sinne die »naturale Minimalbedingung für jede Art von Erfahrung« sind, und zwar eben auch der politischen.74 Die Sinne bieten nach Koselleck die anthropologische Basis für das soziale Zusammenleben, sie stecken im Wechselverhältnis mit dem sinnlichen Angebot den Erfahrungsraum ab, machen handlungsfähig, und doch bergen sie auch die Gefahr der unmittelbaren körperlichen Internalisierung der Erfahrungswelt und damit auch politischer Ideologien.75 Dem Sehsinn sprach er jedoch eine besondere Qualität zu, da das Auge Distanz zum Objekt seiner Wahrnehmung halten müsse: »Das Auge muss Distanz wahren, um etwas sehen zu können. […] Deshalb bleibt Distanz, eine Differenz zwischen Subjekt und Objekt, die Voraussetzung« des Sehsinns.76 Der Abstand zwischen dem wahrnehmenden Subjekt und dem sinnlichen Angebot ermöglicht die reflexive Kritik gegenüber dem Gesehenen. Diese kritische Distanz unterscheide den Sehsinn von den anderen Sinnen, die laut Koselleck die politische Sinneswelt unmittelbar verinnerlichen und damit auch körperlich ›umsetzen‹, während das Auge ein »deutende[s] Hinschauen« realisiere, »das primär wahrnimmt und nicht ›wahrmacht‹«.77 Die Distanz zum Gesehenen ist es auch, die es dem Wahrnehmenden ermöglicht, wenn nicht gar dazu herausfordert, unterschiedliche Positionen und Perspektiven auf das zu Sehende einzunehmen: »Die Erfahrung dieser Bildwelt ist nicht direkt integrierbar in den Körper, sie erschließt sich nur durch Bewegung, durch Inblicknahme, durch Einstellung auf nah und fern, durch umherschauen, herumgehen und überschauen«.78 Eine solche Praxis der Seherfahrung lässt sich anhand der zahlreichen fotografischen Serien in Kosellecks Bildnachlass nachvollziehen. Sie zeigen, wie Koselleck immer wieder die Position und die Perspektive auf das Wahrnehmungsobjekt wechselte. Dabei halfen ihm die fotografischen ›Einstellungen‹ sowie die doppelte Distanz durch den fotografischen Apparat, wechselnde Kontexte und Bedeutungshorizonte in die Fotografien aufzunehmen. 74 75 76 77 78

Koselleck, Politische Sinnlichkeit, S. 25. Vgl. ebd., S. 32. Ebd., S. 26. Ebd., S. 27. Ebd., S. 26.

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Auf diese Weise hat Koselleck unter anderem viele Reiterstandbilder fotografisch festgehalten. Ein Blick auf die Fotografien, die Koselleck vom Reiterstandbild Ferdinand Foch im März 2000 aufnahm, lässt die verschiedenen Einstellungen auf die politische Erfahrungswelt im Vergleich der Aufnahmen deutlich werden (Abb. 7 a–m). Koselleck fotografierte das Reiterstandbild aus dem Jahr 1951, das den französischen Militär und Oberbefehlshaber des Ersten Weltkriegs zeigt, von verschiedenen Seiten, wodurch auch jeweils unterschiedliche städtische Kontexte – wie Häuser oder der Eiffelturm – mit ins Bild gelangen. Entsprechend seiner These der »Standortbedingtheit und Zeitlichkeit« jeder historischen Erkenntnis versucht Koselleck in seinen Fotografien nicht, seine eigene ›wahrnehmende‹ und ›deutende‹ Position zu verbergen, sondern kehrt sie vielmehr hervor.79 Auch der ›Fokus‹ der Fotografien wechselt: Mal ist das Reiterstandbild mitsamt Sockel und Inschrift, mal nur die Inschrift, mal nur Teile des Sockels, dann wieder vor allem das Reiterstandbild festgehalten. In ähnlicher Weise wechseln die Kontexte, die das Reiterstandbild im Bild umgeben: Koselleck fotografierte das Standbild bei Tag wie bei Nacht, immer wieder geraten Pferd und Reiter im fotografischen Bild mit modernen Transportmitteln wie Auto und Bus in Kontrast. Das Pferd wird förmlich in Kosellecks Fotografien in Relation zu neuen Formen der Fortbewegung gesetzt. Sieht man seine Fotografien im Bildnachlass durch, fällt auf, dass er die fotografische Praxis weniger dafür nutzte, ein auf Wiedererkennbarkeit angelegtes Bild zu schaffen, das ›bruchlos‹ den Erfahrungsraum wiedergibt.80 Vielmehr war Koselleck bemüht, gerade seinen eigenen Standort im Bild sichtbar werden zu lassen sowie Differenzen und Relationierungen des Erfahrungsraums im fotografischen Bild durch markierte Differenzen hervorzukehren. Im Vergleich der verschiedenen Aufnahmen von diesem Reiterstandbild zeigt sich die Wandelbarkeit der Wahrnehmung eines sinnlichen Objekts und dessen politischer Botschaft. Koselleck hob in seinem Aufsatz zur politischen Sinnlichkeit hervor, dass sich die Wahrnehmung verändere, also selbst historisch wandelbar sei, und somit auch die Haltung gegenüber den sinnlich vermittelten politischen Ideologien: »Wenn sich ein Wandel in der Wahrnehmung und Einschätzung bildlicher Gegenstände vollzieht […], dann ist das primär ein Vorgang der Rezeption. Der Blick ändert sich, und damit ändert sich auch die okulare Sinnlichkeit. Sie stimmt sich selber um, sie richtet sich anders ein.«81 Die dem Sehsinn zugrunde liegende körperliche Distanz – die durch den fotografischen Apparat verdoppelt 79 Vgl. Koselleck, Reinhart, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders. / Mommsen, Wolfgang J. / Rüsen, Jörn (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977, S. 17–46. 80 Vgl. dazu auch Probst, Jörg, Ikonologie und Prognose. Unschärfe in der Bildsammlung Reinhart Kosellecks, in: Locher / Markantonatos, Reinhart Koselleck und die Politische Ikonologie, S. 70–83. 81 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, S. 27. Als Beispiele für einen solchen Wandel in der Rezeption – der durchaus auch generationsspezifisch ausfallen kann – nennt Koselleck im Verlauf

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wird – ermöglicht die verschiedenen Blicke auf das sinnliche Objekt und kann demnach auch als Katalysator für historischen Wandel verstanden werden. Politischer Erfahrungsraum und Sehsinn fallen nach Koselleck nicht zusammen, sondern stehen in einem spannungsvollen und damit Veränderung motivierenden Wechselverhältnis der kritischen Distanz. Koselleck möchte – so macht er in seinem Aufsatz zur politischen Sinnlichkeit deutlich  – »geschichtliche […] Veränderungen auf ihre sinnlichen Voraussetzungen hin […] untersuchen«.82 Das Bild – stets im Wechselverhältnis mit dem Sehsinn  – bietet ihm dabei ein externalisiertes Instrumentarium, um über die Relationierung unterschiedlicher Zeiten und politische Ideologisierung zu reflektieren. So wie das Pferd als visuelles Zeichen – ob als Ferrari-Logo, in Daumiers Karikatur oder als Reiterstandbild – seine politische Botschaft zwar in sich trägt, diese aber durch unterschiedliche bildimmanente Relationierungen verschieden wahrnehmbar, deutbar und damit historisch wandelbar wird, so trägt für Koselleck jedes Bild das Potenzial, sowohl politisches Instrument der Verführung als auch kritisches Erkenntnisinstrument zu sein.

IV. Resümee Kosellecks Auseinandersetzung mit Bildern lässt sich kaum lediglich als ein weiteres Forschungsfeld innerhalb seines vielfältigen wissenschaftlichen Werkes verstehen. Gewiss ging es ihm auch um Bilder als historische Gegenstände und ihre Rolle als Indikatoren und Faktoren im historischen Prozess der Moderne. Darüber hinaus jedoch galt Kosellecks Interesse dem Bild als einer Möglichkeit, Geschichte in ihrer zeitlichen und sinnlichen Bedingtheit zu erfahren, zu denken und kritisch zu reflektieren. Zur Begriffsgeschichte, der Theorie geschichtlicher Zeiten und einer Geschichte der politischen Sinnlichkeit stand das Bild in grundlegender Beziehung als ein heuristisches Modell für das Denken der Gleichzeitigkeit zeitlicher Differenz, der vielfachen Perspektivität und der Wahrnehmungsgebundenheit möglicher Geschichten. Sprache, Bilder, sinnliche Wahrnehmung und Erfahrung, Denken und Handeln stehen in Kosellecks bildtheoretischen Überlegungen und in seinen Denkmalstudien in produktiven Wechselbeziehungen. Sie stoßen sich gegenseitig an und formen sich, sie sind jedoch nie gänzlich im anderen abbildbar. Überschneidungen, Differenzen und Verschiebungen erzeugen Dynamik und mithin historischen Wandel. Für das Denken solcher Bedingungen möglicher Geschichten, die mehr als sprachliche Geschichten sind, gab das Bild mit der Synchronie von Relation und Kontrast, Struktur und Überraschung ein Modell, das Koselleck in seiner

seines Aufsatzes die Reaktion auf die Reden Hitlers und ein Konzert der Rolling Stones (vgl. S. 31 f.). 82 Koselleck, Politische Sinnlichkeit, S. 33.

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fotografischen Bildpraxis erprobte.83 Die Fotografien  – unfertig, unverhohlen situativ, seriell, Paradoxien und unerwartete Relationen offenbarend – erweisen sich als Stör-Felder teleologischer Erzählungen von Kontinuität und Identität. Sie bieten Seherfahrungen an, die kritische Distanz ermöglichen und zur Formulierung anderer Erzählungen einladen.

83 Den Begriff der »Überraschung« verwendete Koselleck selbst, um die Erfahrung des Neuen zu charakterisieren, die er als eine zutiefst sinnliche, körperliche Erfahrung verstand: »Es ist dieses zeitliche Minimum von unumkehrbarem Vorher und Nachher, das die Überraschungen in unseren Leib hineintreibt. Deshalb versuchen wir immer wieder, sie zu deuten.« Koselleck, Zeitschichten, in: ders., Zeitschichten, S. 19–26, S. 23.

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Abbildungen

Abb. 1: Standuhr im öffentlichen Raum im Bezirk Mitte, Februar 2003, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszen­trum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

Abb. 2 a–b: Sonnenuhr an der Pfarrkirche St. Vitus in Heidelberg-Handschuhsheim, September 2002, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

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Abb. 3 a–c: Reiterdenkmäler für Friedrich Wilhelm IV., Wilhelm I., Friedrich III. und Wilhelm II. an der Hohenzollernbrücke, Köln, 20. Dezember 1997, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

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Abb. 4 a–f: Reiterdenkmal für Georgios Karaiskakis (Loukia Georgantes, ca. 1966), Athen, undatiert, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

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Abb. 5 a–b: Steigendes Pferd (Ferrari-Logo), Düsseldorf, April 2002, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

Abb. 6: Honoré Daumier, »Voyage à travers les popu­lations empressées«, in: La Caricature, 14. August 1834, Lithographie.

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Abb. 7 a–m: Reiterdenkmal Ferdinand Foch (Robert Wlérick und Raymond Martin, 1951), Place du Trocadéro, Paris, März 2000, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

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Abbildungsnachweis Abb. 1; 2 a–b; 3 a–c; 4 a–f; 5 a–b; 7 a–m: © Bildarchiv Foto Marburg / Foto: Reinhart Koselleck. Mit freundlicher Genehmigung der Erbengemeinschaft Reinhart Koselleck. Abb. 6: Koselleck, Reinhart, Daumier und der Tod, in: Gottfried Boehm / Karlheinz Stierle / Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985, S. 163–178, S. 167.

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Wie kommt ein Historiker dazu, einen Nachlass mit rund 30.000 Bildern »im weitesten Sinn«1 zu hinterlassen? Mit einem Großteil eigenhändig angefertigter Fotografien? Dass der vielfältige Denker Koselleck sehr an Bildlichkeit interessiert war, ist bekannt. Er arbeitete nicht nur zur politischen Ikonologie und Erinnerungskultur, sondern stellte auch bildtheoretische Reflexionen an.2 In den letzten Jahren wurde der ›visuelle Koselleck‹ intensiv ›entdeckt‹ und auf unterschiedliche Weise zur Geltung gebracht. Mehrere Wissenschaftlerinnen arbeiteten mit den Fotografien – zu seinem Fotonachlass und zu seinen Bildern als »Denk- und Erfahrungsraum möglicher Geschichten«.3 Die eigentümliche Ästhetik der Koselleckschen Fotografie wurde aber nicht nur erforscht, sondern auch öffentlich präsentiert: Es gab eine beeindruckende Ausstellung in Bielefeld – einige seiner Bilder schmücken dort nun die Wände der Fakultät, der er lange angehörte.4 Die ›Hochkonjunktur‹, für die diese Aktivitäten stehen, hat viel damit zu tun, dass der Bildnachlass systematisch erschlossen und digital aufbereitet wurde. Weite Teile des Foto-Œuvres Kosellecks sind nun unkompliziert vom heimischen Schreibtisch aus einsehbar.5 Die in Marburg auch in physischer Form zugängliche Bildsammlung lagerte ursprünglich im Keller von Kosellecks Bielefelder Privathaus und war insbesondere

1 Markantonatos, Adriana, Eine Fotohexerei. Einblicke in Reinhart Kosellecks Bildarchiv, in: Gfrereis, Heike / Strittmatter, Ellen (Hg.), Zettelkästen. Maschinen der Phantasie, Marbach 2013, S. 69–73, S. 69. Zum Umfang der Sammlung auch Hochkirchen, Britta, Bildzeiten des Ereignisses. Reinhart Koselleck und das fotografische Bild, in: Rundbrief Fotografie 26 (2019), Nr. 3 [N. F. 103], S. 25–35, S. 25. 2 Locher, Hubert / Markantonatos, Adriana (Hg.), Reinhart Koselleck und die politische Ikonologie, Berlin 2013. 3 Siehe Brandt, Bettina / Hochkirchen, Britta (Hg.), Reinhart Koselleck und das Bild, Bielefeld 2021 und neben dem Aufsatz der Herausgeberinnen im vorliegenden Band besonders die anregenden kulturwissenschaftlichen Arbeiten Adriana Markantonatos, bes. dies., Er-fahrungen. Eine Sichtung von Reinhart Kosellecks Bildnachlass aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: ebd., S. 32–53. 4 Ausführliche Dokumentationen der Bielefelder Ausstellung »Reinhart Koselleck und das Bild« findet man unter https://www.uni-bielefeld.de / geschichte / zthf / koselleck-und-das-bild. html. 5 Eine Übersicht zum digitalisierten Nachlass, Informationen und weiterführende Links bietet: https://www.uni-marburg.de / de / fotomarburg / nachlass-reinhart-koselleck / uebersicht.

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im Zuge seiner Studien zum politischen Totenkult, zur politischen Ikonografie und der Geschichte der Reiterdenkmäler entstanden. Die Sammlung reicht bis in 1960er Jahre zurück. Für die Aufnahmen war Kosellck weltweit unterwegs. Manche Orte suchte er immer wieder auf und fotografierte sie mehrfach. Das Fotomaterial in seinem Privatarchiv hat er mit unterschiedlichen Texten und Bildern ergänzt, die Familienmitglieder, Kollegen und Freunde ihm zukommen ließen. Mitunter vergab er professionelle Fotoaufträge. Man findet darüber hinaus Bildpostkarten, Broschüren, Werbeflyer, Briefmarken, Zeitungsausschnitte, Reisedokumente, Tagungsprogramme und ganze Korrespondenzen. Dazu kommen viele Tausend Zettel mit Skizzen und Stichworten, die er unterwegs anfertigte. Die Notizen wurden dann beim Einsortieren in die Bildsammlung überarbeitet und ergänzt. Das Ganze war in einem Zettelkastensystem organisiert, das z. T. auf größerformatige Ordner mit weiterführenden Materialien verwies.6 Auf die komplexen Verweisstrukturen des Koselleckschen Universums von Fotografien, Notizen und Karteikarten, kann und muss7 hier nicht empirisch eingegangen werden. Um den Veranlassungen von Kosellecks umfassender fotografischer Praxis auf die Spur zu kommen, erfolgt eine bewusste methodische Einschränkung auf die Fotografien selbst: Es soll darum gehen, wiederkehrende Muster in den Bildern und der fotografischen Praxis zu erkennen. Um der Massen an Fotos auch nur in exemplarischer Annäherung Herr zu werden, wurde dafür ausschließlich die Marburger Datenbank genutzt, die in quellenkritischer Hinsicht allerdings auch Tücken aufweist und der Analyse von Kosellecks visueller Praxis damit gewisse Grenzen setzt. Darauf ist an gegebener Stelle zu verweisen. Was an dem Bildkorpus ungeachtet dessen fasziniert, ist eine Möglichkeit, die man in der Historiographiegeschichte sonst selten hat: Es ist möglich, einem prominenten Fachvertreter bei der Annäherung an die Gegenstände seiner Interessen zuzusehen. Man kann ihm nicht nur über die Schulter schauen, sondern in mancherlei Hinsicht sogar seinem Blick folgen. Ob der Fotograf Koselleck in seinen Bildern allerdings wirklich ausschließlich als Historiker erkennbar wird, ist zunächst einmal zu hinterfragen. Die Ausführungen zu seiner fotografischen Praxis teilen sich deshalb in zwei Schritte auf. Im ersten Teil des Aufsatzes erprobe ich die Hypothese, dass es sich bei dem Bildnachlass gar nicht nur um den Arbeitsnachweis eines Geschichtswissenschaftlers handelt. Im zweiten Teil will ich dann, ausgehend von den vorhandenen Forschungen zu Kosellecks Fotografie, ergründen, an welchen Stellen und in welcher Form dieser vielschichtige Fotograf wiederum als Historiker und Geschichtsdenker erkennbar wird. Was, so ist dort zu fragen, hatte sein Sehstil mit seinem Denkstil zu tun? In Anlehnung an Fleck lassen sich beide Facetten als Teil von Kosellecks »gerichtete[m] Wahrnehmen« fassen. Wie griffen beide im »gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahr­

6 Siehe die Informationen unter ebd. und bei Markantonatos, Fotohexerei. 7 Sie stehen im Fokus der benannten Texte von Markantonatos und ihrer noch nicht publizierten Dissertation.

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genommenen«8 bei Koselleck ineinander? Warum spielte gerade die Fotografie vor dem Hintergrund seiner Arbeits- und Denkweise eine so große Rolle? Nach dem Verhältnis von Fotografie und Historiographie zu fragen, bedeutet, die visuelle Dimension geschichtswissenschaftlicher Arbeit insgesamt ernster zu nehmen als Geschichtstheorie und Historiographiegeschichte das bislang tun.9 Deshalb müssen in diesem Abschnitt die Befunde zu Kosellecks Bildpraxis exkursartig in einige allgemeinere Überlegungen zu visuellen Praktiken in der Geschichtswissenschaft eingebettet werden. Im ersten Schritt soll das Wissen, dass es sich beim Urheber der zahlreichen Fotografien um einen Historiker handelte, nun aber ausgeklammert bleiben. Die Frage lautet ganz unabhängig von Kosellecks Profession: Welche Sichtweisen, Interessen und Perspektiven – welche Blicke – werden in seinen Fotografien erkennbar?

I. Koselleck als Fotograf: Tourist, Sammler – Künstler? Aber wie lassen sich Blicke methodisch eigentlich fassen? Koselleck selbst nutzte im Kontext seiner Arbeit zur politischen Sinnlichkeit den Begriff des Blickes. Bei ihm verwies er ganz allgemein auf Modi der »Wahrnehmung und Einschätzung bildlicher Gegenstände«: Mit dem Wandel des Blickes, so seine Annahme, ändere sich die »okulare Sinnlichkeit«.10 Damit war er einem aktuellen Konzept der Visual History erstaunlich nah. Einer ihrer populären Gegenstände ist der sogenannte »Tourist Gaze«. Dabei handelt es sich um Leitbilder, an denen sich Touristen auf Reisen orientieren.11 In ähnlicher Weise ist mitunter die Rede vom »Western«, 8 Die vollständige Anwendung des Denkstilbegriffs auf die Geisteswissenschaften ist nicht unkompliziert. Die grundlegende Annahme, dass es sich dabei um »gerichtetes Wahrnehmen, mit entsprechendem gedanklichen und sachlichen Verarbeiten des Wahrgenommenen« handelt, lässt sich allerdings gut übertragen. Schäfer, Lothar / Schnelle, Thomas (Hg.) / Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt a. M. 1980, S. 130. Zur Übertragung des Konzepts auf die Fotografie anregend: Zierenberg, Malte, Die Ordnung der Agenturen. Zur Verfertigung massenmedialer Sichtbarkeit im Pressewesen, 1900–1940, in: ders. / Ramsbrock, Annelie / Vowinckel, Annette (Hg.), Fotografien im 20. Jahrhundert. Aufnahmen und Agenten, Göttingen 2013, S. 44–65, bes. S. 47. 9 Siehe als gängige Charakterisierung von Historikern als »Männer[n] des Wortes« z. B. Wehler, Hans-Ulrich, Nationalsozialismus und Historiker, in: Wissenschaftskolleg zu Berlin – Jahrbuch 1998/99, S. 294–312, Zit. S. 312. 10 Koselleck, Reinhart, Politische Sinnlichkeit und mancherlei Künste, in: Arnold, Sabine R. / Fuhrmeister, Christian / Schiller, Dietmar (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 25–34. Zit. auch bei Hochkirchen, Bildzeiten, S. 33. 11 In der deutschen Forschung wurde das Konzept, das sich an Foucaults ›klinischem Blick‹ orientiert einflussreich von Pagenstecher verbreitet: Pagenstecher, Cord, Reisekataloge und Urlaubsalben. Zur Visual History des touristischen Blicks, in: Paul, Gerhard (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 169–187, bes. S. 169–171.

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»Male«12, »Colonial« oder »Scientific Gaze«. Die Bezeichnungen stehen jeweils für einen spezifischen »point of view«, für musterhaft wiederkehrende Perspektiven, die bestimmte Akteursgruppen gegenüber Welt einnehmen, die sie umgibt.13 Allgemein gefasst, geht es bei solchen Blicken um sozial vorgeprägte Praktiken des Sehens, die sich quellenmäßig am besten über Bildzeugnisse rekonstruieren lassen. Entscheidend ist die Annahme, dass Blicke nicht universal sind, sondern kulturell vorgeprägt und historisch variabel. Umgekehrt heißt das: Man ist beim Sehen niemals allein. Jeder ›Gaze‹ ist eng auf bestimmte Sozialfiguren verwiesen. Überlagerungen unterschiedlicher Varianten sind dabei nicht nur denkbar, sondern wahrscheinlich. Aufschlüsseln kann man sie aber über wiederkehrende Motive und charakteristische Perspektiven bzw. Gestaltungsprinzipien. Zur Identifikation unterschiedlicher Blicke, die in Kosellecks Fotonachlass erkennbar werden, wurden zunächst nach dem Zufallsprinzip verschiedene Sammlungen in der Marburger Datenbank durchgeschaut, um dann exemplarisch zu verfolgen, wie der Fotograf sich an ausgewählten Orten bewegt hat: Was zog seine Aufmerksamkeit auf sich, wann drückte er den Auslöser, wie komponierte er seine Bilder? Neben Großstädten wie London, Paris, Berlin und Wien, wurden Göttingen, Goslar, Münster und der langjährige Bielefelder Wohnort Kosellecks ausgewählt. Nicht diese Städte, sondern die unterschiedlichen erkennbaren Blicke strukturieren aber das folgende Argument. Fünf besonders augenfällige und häufig wiederkehrende Varianten lassen sich unterscheiden, obwohl sie sich in der fotografischen Praxis überlagerten: Einen touristischen Blick, der zugleich ein ausgeprägt bildungsbürgerlicher war, den Blick eines obsessiven Sammlers und einen künstlerischen Blick. Dass der Fotograf sich dabei häufig als forschender Historiker und Geschichtsdenker zu erkennen gab, steht außer Zweifel. Diese Facette ist dem zweiten Teil des Aufsatzes vorbehalten. Dass sich bei der Durchsicht ein touristischer Blick aufdrängt, ist zunächst wenig überraschend, da die meisten Fotos auf Reisen entstanden. Die einschlägige Langzeitthese zum Tourist Gaze läuft darauf hinaus, dass sich dieser Blick im Laufe der Zeit verschoben habe: Von der älteren Variante eines Reisenden, der »romantischen Leitbildern unberührter Natur und Geschichte« folgte hin zu einem sogenannten »collective gaze«, der auf körperliche Erholung und Geselligkeit ziele.14 Auch wenn kaum jemand Koselleck und seinen Exkursionen die Tendenz zur Geselligkeit absprechen wird, sieht man davon wenig. Außer seiner eigenen Spiegelung15 begegnet man im digitalisierten Nachlass nur wenigen Per12 Klassisch: Mulvey, Laura, Visual pleasure and narrative cinema, in: Screen 16 (3) 1975, S. 6–18. 13 Burke, Peter, Eyewitnessing: the uses of images as historical evidence, London 2001, S. 124. Mitchell, W. J. T., Showing Seeing: A Critique of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 1/2 2002, S. 165–181. 14 Siehe mit Bezug auf die Pionierarbeiten von John Urry: Pagenstecher, Reisekataloge, S. 171. 15 Siehe dazu das weiter unten behandelte Bild aus einer Serie zu Kölner Reiterstandbildern, die er aus dem fahrenden Zug durch die Scheibe aufnahm. Es ist auch das Titelbild von Locher / Markantonatos, Ikonologie.

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sonen. Dieses Phänomen ist allerdings der Logik der Marburger Bilderdatenbank geschuldet: Aus rechtlichen Gründen wurden durchaus vorhandene Fotografien mit deutlich erkennbaren Menschen, nicht veröffentlicht. Die Fotografien sind in den digitalen Sammlungen verzeichnet, aber nicht einsehbar. Der Aspekt der Geselligkeit ist mit Hilfe der Datenbank also kaum nachzuweisen. Der Anteil solcher Fotos scheint dabei aber recht gering zu sein.16 Der ältere touristische Blick ist im Fotonachlass dagegen umfangreich repräsentiert. Koselleck erscheint in auffällig vielen Bildern als der klassische ›Symbolsammler‹, den die Visual History als überkommene Form herausgearbeitet hat. Idealtypisch gesprochen geht es dieser Figur des Reisenden um das Sammeln hochgradig symbolisch aufgeladener Artefakte. Im Zentrum stehen Gebäude und Denkmäler, also dezidiert historische Architekturen, aber auch die bereits von Enzensberger in seiner klassischen Tourismuskritik betonten touristischen Leitbilder romantischer Naturbetrachtung.17 Ansichten, die diese visuellen Traditionslinien widerspiegeln, findet man in Kosellecks Konvoluten immer wieder. Ihre Charakteristika seien hier an einer Sammlung von Bildern zur Klause Kastel, der Grabkammer Johanns von Böhmen, exemplarisch aufgezeigt.18 Die Sammlung enthält neben Außenaufnahmen der Klause und Fotos der Grabstätte u. a. auch Ausblicke über das Saartal. Neben einem in auffallend steiler Aufsicht festgehaltenen Ausflugsschiff auf der Saar19 sticht eine besonders sorgfältig komponierte Aufnahme der Kulturlandschaft rund um die geschwungene Saar ins Auge (Abb. 1). Das Foto ist sehr genau ausbalanciert: Der Horizont erscheint gerade, die Schleifen der Saar schlängeln sich in mustergültigen S-Kurven (ein klassisches Gestaltungsprinzip der Landschaftsfotografie und -malerei) aus der unteren rechten Ecke durch die Bildmitte, um dann zwischen den malerischen Hügeln unter blauem Himmel am Horizont zu verschwinden. Eine naheliegende Assoziation erweist sich in diesem Fall als sehr zutreffend: Es ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Postkartenmotiv. Dass Postkarten, die das Kosellecksche Motivs enthalten, faktisch existieren,20 ist 16 In den hier betrachteten Sammlungen zu einzelnen Denkmälern oder Orten, die oft ein Dutzend oder mehr Bilder umfassen, ist selten mehr als ein Bild aus rechtlichen Gründen ausgespart. 17 Der bürgerliche Tourismus habe sich »eine imaginierte Welt aus Geschichte und idealisierter Natur« geschaffen. Lippmann, Hans-Christian, Sommerfrische als Symbol- und Erlebnisraum bürgerlichen Lebensstils. Zur gesellschaftlichen Konstruktion touristischer ländlicher Räume, Berlin 2015, S. 23. Der ›klassische‹ Text von Enzensberger: Enzensberger, Hans Magnus, Eine Theorie des Tourismus, in: ders.: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt a. M. 1962, S. 179–205. 18 Das Konvolut mit der Inventarnummer 001–03–0062 ist einsehbar unter: https://www. bildindex.de/document/que20170177 [Zugriff 28.12.2019]. An Stelle langer URLs werden im Folgenden die Inventarnummer der Konvolute oder direkt die Bilddateinummern angegeben, die über die Suchfunktion der Datenbank leicht eine Anzeige der Bilder ermöglichen. 19 Bilddateinummer: fmk01-ho-0621a. 20 Über eine Suche nach der Saarschleife und dem Kastel in einschlägigen Datenbanken zum Handel mit historischen Postkarten wird man rasch fündig: Es existierten in der Tat Postkarten, die neben zwei Ansichten der Klause das Motiv eine Lithographie der Saarschleifen

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dabei nicht einmal der entscheidende Befund. Das Bild zeigt allerdings, dass Koselleck in seiner fotografischen Praxis Grundmuster der romantisch inspirierten, touristischen Ikonographie reproduzierte. Das gilt im Falle der betrachteten Sammlung nicht nur für die Aussicht auf die Saarschleifen, sondern auch für Kosellecks Aufnahmen der Klause, die über die Grabkammer auch einen direkten Bezug zum Totenkult-Thema aufwiesen. Kosellecks Aufnahmen der Klause, die zwischen dichter Vegetation erhaben über der Saarschleife thront, waren ebenfalls sorgfältig komponiert und erschienen in ähnlicher Form auf der benannten Postkarte.21 Die Kombination aus Fluss und burgartigem Gebäude an schroffem Fels entspricht ebenfalls Stereotypen der romantischen Landschaftsmalerei, die sich nicht zuletzt in der touristisch bereits im 19. Jahrhundert ausführlich instrumentalisierten Rheinromantik vielfach manifestierten.22 Die Bildsammlung zur Klause ist für die Fototouren Kosellecks charakteristisch: Die Themen Totenkult, Gedenk- und Erinnerungsorte standen naheliegender Weise im Zentrum der Ausflüge. Aber es fallen immer wieder Motive ins Auge, die erkennbar unabhängig von diesem Interesse entstanden. Oft handelt es sich um klassische Postkartenmotive, die in der Nähe z. B. von Gedenkorten lagen. Ein weiteres Beispiel für diese Praxis sind Aufnahmen des Bodensees, wiederum mit einem Touristenschiff, die sich in einer Sammlung zur Deutschen Kriegsgräberstätte Meersburg-Lerchenberg finden.23 Ähnliche gelagert, allerdings ohne die landschaftliche Komponente, ist ein Foto der Kathedrale Notre Dame in Paris, das einem Konvolut zum Mémorial des Martyrs de la Déportation entstammt, das sich in direkter Nähe befindet. Das und weitere Aufnahmen von den Kais der Seine sind Fotos, die man in Touristenalben und auf Postkarten tausendfach findet.24 Der streckenweise touristische Charakter der Itinerarien Kosellecks an den besuchten Orten, die sich über die vorhandenen Aufnahmen rekonstruieren lassen, ist noch in einer weiteren Hinsicht aufzuzeigen: Der Fokus auf historische Architekturen und Denkmäler kann den Eindruck erwecken, als habe Koselleck den Baedeker oder einen vergleichbaren Reiseführer geradezu abgearbeitet. Ob er sich faktisch an solcher Gebrauchsliteratur orientierte, oder einfach ähnliche Schwerpunkte setzte, ist schwer abschließend zu klären. Für die Interpretation des Grundmusters fotografischer Praxis ist es aber auch nicht entscheidend: Beispielsweise die Sammlungen von Bildern aus Goslar enthalten erwartungsgemäß auch

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mit nur leicht anderer Wahl des Ausschnitts enthielten. Siehe die Bildnummer 8562005 unter https://www.ansichtskartenversand.com/. Siehe besonders Bilddatei-Nr. fmk01-ho-0616a. Zur »Rheinromantik«, ihren Motiven und Aporien sowie ihrer Verknüpfung mit dem Tourismus siehe z. B. Tümmers, Horst-Johannes, Der Rhein. Ein europäischer Fluß und seine Geschichte, München 1999, bes. S. 240–269. Bilddatei-Nr. fmk14-kk-0174a. Ein weiterer Ausblick über hügelige Uferlandschaft und den Bodensee: Bilddatei-Nr. fmk14-kk-0177a. Inventar-Nr. der Sammlung: 059-01-0002-001-(001-016). Bilddatei-Nr. fmk02-10-ka-0005a.

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Weltkriegerdenkmäler wie den 1926 von Kurt Elster entworfenen (und nach 1945 ergänzten) »Goslarer Jäger«25 oder Henry Moores 1975 nahe der Kaiserpfalz aufgestellten »Goslarer Krieger«.26 Besonders empfohlen wurde im Baedeker schon im 19. Jh. (wie auch in aktuellen Harz-Reiseführern) die figürliche Ausstattung des 1484 errichteten Gildehauses Kaiserworth am Marktplatz in Goslar.27 Genau die wurde dann ebenfalls abgelichtet.28 Natürlich handelt es sich dabei um Denkmäler und Koselleck hat erwartungsgemäß ebenfalls die Reiterdenkmäler vor der Kaiserpfalz abgelichtet29  – aber all das steht so auch in handelsüblichen Reiseführern.30 Dass viele der Koselleckschen Motive so gut in Reiseführer passen würden, ist auch in sozialstruktureller Hinsicht kein Zufall: Der überkommene touristische Blick, den beispielsweise der Baedeker repräsentiert, ist in ausgeprägter Weise ein bildungsbürgerlicher Blick.31 Die entsprechende Praxis des Reisens zielte auf Bildung. Die Obsession vieler bürgerlicher Reisender des 19. Jahrhunderts, ein kano­ nisches Repertoire geschichtlich bedeutender und symbolisch aufgeladener Orte zu ›sammeln‹, ist vielfach aufgezeigt worden.32 Der Fotonachlass Kosellecks, dessen Familie auch dem Bildungsbürgertum zuzuordnen ist,33 lässt sich als ein Beleg einer solchen Sammelpraxis lesen: Die Grundmuster bildungsbürgerlichen Reisens fügen sich in die Bewegungsmuster, die sich an der Motivwahl ablesen lassen. Er war, und das zeigt schon die schiere Masse an Bildern, aber nicht nur ein Sammler symbolisch aufgeladener, historischer Motive. Eine auffallend präsente Motivgruppe, die im Nachlass mitunter unverbunden neben den wissenschaftlichen Themen Kosellecks steht, sind Fotografien von Pferden. Die Fotografien sind ein beeindruckender Beleg für Kosellecks inzwischen auch wissenschaftlich verhandelte Begeisterung für Pferde,34 die unter anderem auf seine Zeit bei der Kavallerie während des Zweiten Weltkrieges zurückzuführen ist. Es finden sich aber nicht nur Reproduktionen von Bildern, unterschiedlichsten Kunstwerken, 25 Inventar-Nr. der Sammlung: 009-05-0050-001-(001-005). 26 Inventar-Nr. der Sammlung: 009-05-0051-001-(001-013). 27 Baedeker, Karl, Deutschland und Österreich: Handbuch für Reisende, Coblenz 141869, S. 177. In aktuellen Reiseführern ist der Eintrag ebenfalls vorhanden. Siehe z. B. Krell, Detlef, Reise Know-How Harz, 22017, S. 112. Auf Henry Moores »Goslarer Krieger« wird ebenfalls verwiesen (S. 111, 116) 28 Siehe die Bilder folgender Sammlung: Inventar-Nr. 001-01-0013-001-(001-007). 29 Inventar-Nr. der Sammlung: 043-05-0125-001-(001-022). 30 Baedeker, Deutschland, S. 177 f. 31 Zum »romantisch-bildungsbürgerlichen« Charakter des älteren, später von der am »geselligen Vergnügungs- und Erlebnis-Leitbild« orientierten Variante abgelösten touristischen Blickes siehe auch siehe, Paul, Gerhard, Von der Historischen Bildkunde zur Visual History. Eine Einführung, in: ders. (Hg.), Visual History. Ein Studienbuch, Göttingen 2006, S. 7–36, S. 23. 32 Einführend zum Charakter des (bildungs-)bürgerlichen Tourismus siehe Hachtmann, Rüdiger, Tourismus-Geschichte, Göttingen 2007, S. 48–65. 33 Siehe dazu z. B. Olsen, Niklas, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, Oxford 2014, S. 9 ff. 34 Raulff, Ulrich, Das letzte Jahrhundert der Pferde. Historische Hippologie nach Koselleck, in: Locher / Markantonatos, Ikonologie, S.  96–109.

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Denkmälern, oder beispielsweise vom Skelett von Napoleons »Lieblingspferd«.35 Immer wieder machte er auch Fotos lebendiger Pferde: Z. B. auf Weiden am Wegesrand in der Nähe seines ostwestfälischen Wohnortes, oder – fernab jeglicher Erinnerungsorte oder Stätten des Totenkultes – im Münsteraner Zoo.36 Das Gros der Fotografien im Nachlass waren aber Abbildungen von Denkmälern, Plastiken, oder medialen Repräsentationen: Neben Fotos von Miniatur­ reiterstandbildern oder Gemälden aus seinem Privatbesitz gibt es sogar Fotografien von Video-Standbildern von Pferden.37 An vielen Orten, die er besuchte, lichtete er – offenbar en passant – immer wieder Pferdedarstellungen ohne direkten Bezug zu seinen wissenschaftlichen Themen ab. In Göttingen fotografierte er so neben zahlreichen Gedenktafeln und Weltkriegsdenkmälern beispielsweise auch die Einfahrt zum Hof eines ehemaligen Fuhrunternehmens, das heute Garagen vermietet. Erkennbar ist der Name eines früheren Firmeninhabers in goldenen Lettern auf einem Schild, das die Einfahrt überbrückt. Über dem Schild war die Nachbildung eines Pferdes in gleicher Farbe angebracht.38 Sein Interesse galt auch zeitgenössischen künstlerischen Umsetzungen aller Art. So fotografierte er z. B. eine Lichtinstallation mit zwei Pferden, die der Künstler Stephan Huber 2002 in Münster umgesetzt hatte.39 Das Kunstwerk fotografierte Koselleck aus unterschiedlichen Blickwinkeln und Richtungen. Er erstellte dabei eine extreme Nahaufnahme, fokussierte jedoch auf den Bildhintergrund, so dass die diffizilen Windungen eines in türkis-blauem Neon leuchtenden Pferdekopfes sich in Unschärfe und abstrakte Muster auflösen.40 An diesem Beispiel wird bereits eine weitere Dimension des Koselleckschen Bild-Œuvres erkennbar, die quer zu den bisher benannten Aspekten liegt: Deutlich werden verschiedene Gestaltungsprinzipien, die sich als Versatzstück eines künstlerischen Blickes lesen lassen. Die dezidierte und bewusste künstlerische Ambition ist wiederum schwer nachzuweisen, hat vor dem Hintergrund von Kosellecks Biographie aber eine ausgeprägte Plausibilität: Besonders seine Mutter war künstlerisch interessiert, er selbst wollte ursprünglich sogar Kunst studieren und war ein spitzfedriger Karikaturist.41 Es liegt also nahe, seine Begeisterung für die Fotografie mit seiner künstlerischen ›Ader‹ in Verbindung zu setzen. 35 Bilddatei-Nr. fmk40-ho-0107a. 36 Dort hielt er Przewalski-Urwildpferde vor und während der Paarung mit der Kamera fest. Siehe z. B. die Bilddatei-Nr. fmk47-ho-0066a. 37 Zu Kosellecks Ablichtungen von Video- oder TV-Bildern siehe als Beispiel das Konvolut mit der Inventar-Nr. 047-11-0142-001-(001-004), das nicht nur abfotografierte Standbilder einer Fernsehaufnahme eines Reiterdenkmal für Friedrich Wilhelm III enthielt, sondern auch von lebendigen Pferden. 38 Bilddatei-Nr. fmk47-ho-0771a. 39 Mischkonvolut Inventar-Nr. 047-07-0083-001-(001-020). 40 Bilddatei-Nr. fmk47-ho-0426a. 41 Siehe zu den Karikaturen und dem Kunst-Interesse zusammenfassend auch den Eintrag zu Reinhart Kosellecks Bildpraxis uns sein[em] Bildprogramm, abrufbar unter https://www. uni-marburg.de/de/fotomarburg/nachlass-reinhart-koselleck/bildsammlung/reinhartkosellecks-bildpraxis-und-sein-bildprogramm [Zugriff am 31.08.20].

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Was genau ein Bild zur Kunst macht, ist allerdings seit Erfindung der Fotografie eine überaus kontrovers diskutierte Frage, auf die kaum eine universale Antwort zu finden ist.42 Die möglichen Antworten sind abhängig von diachron und synchron überaus variablen Kunstbegriffen und Wahrnehmungsweisen. Es ist jedoch kaum von der Hand zu weisen, dass beispielsweise die Fotos Kosellecks, die für die Bielefelder Ausstellung (s. o.) ausgewählt wurden – obwohl ästhetische Wirkung nach Bekunden der Kuratorinnen kein bewusstes Auswahlkriterium war – im Rahmen gängiger Wahrnehmungsmuster kunstvoll wirken. Aber worin genau liegt diese Wirkung begründet? Das Titelbild des einschlägigen Sammelbandes zur politischen Ikonologie Kosellecks, das von den Herausgebern auch noch effektvoll beschnitten wurde, ist ein plakatives Beispiel, an dem sich dieser Frage nachgehen lässt. Es handelt sich um ein Foto, das Koselleck 1999 aus dem fahrenden Zug auf der Kölner Hohenzollernbrücke von einem Reiterstandbild Friedrichs III (Louis Touaillon,  1911) aufnahm.43 Zwei Eigenschaften der Fotografie sollen hier betont werden. Die erste ist eine spezifische Art technischer Imperfektion. Fotografische Bewegungen wie die »Lomografie«, die auf der Verwendung besonders preiswerter, optisch mängelbehafteter Kunststoffkameras basieren, haben Unschärfen, Vignettierungen, Farbverschiebungen und die kaum kontrollierbaren Lichtreflexionen der Linsen erfolgreich zur Kunstform erhoben. An die »Schnappschussästhetik« bei gleichzeitiger Liberalisierung der Motivwahl, für die die Lomografie steht, fühlt man sich bei Koselleck häufig erinnert.44 Die sanft farbgesättigte, heute ›Retro-Charme‹ verbreitende Farbpalette der analogen Fotografie leistet dazu ebenfalls einen Beitrag. Das Verhältnis von Zufall und mangelnder technischer Sorgfalt zur künstlerischen Intention bzw. Ambition bleibt ex post im Einzelfall aber kaum zu bestimmen. Es liegt nämlich nahe, die unterschiedlichen ›Mängel‹ zahlreicher Bilder auch auf die Bauart der von Koselleck gerne verwendeten Klein(st)kameras und (nicht selten) auf Bedienungsfehlern zurückzuführen.45 Der zweite Punkt, der sich am Kölner Bild aufzeigen lässt, ist Kosellecks Interesse am kompositorischen Formenspiel: Die Spiegelungen des Fotografen in der Zugscheibe, die daraus resultierende Kontrastierungen von Bildgegenständen, die klaren geometrischen Grundformen von Kameraobjektiv und Denkmalsockel 42 Paul Strand konstatierte 1922 treffend, die »Diskussion über die Frage, ob die Fotografie eine Kunst sei oder nicht« – eine Debatte die bereits vor dem Ersten Weltkrieg intensiv geführt wurde – habe in erster Linie dazu geführt »daß glücklicherweise niemand genau weiß, was Kunst ist«. Zit. nach Kemp, Geschichte, S. 39. 43 Bilddatei-Nr. fmk43-ho-0383a 44 Siehe dazu die knappe aktuelle Einführung für angehende ›Lomografen‹, abrufbar unter https://www.pixolum.com/blog/fotografie/lomografie-einfuehrung-und-tipps [Zugriff 31.08.20]. 45 Der Nachlass enthält beispielsweise auch Abzüge von offenkundig beschädigten Filmen. ›Light leaks‹ tauchten dann die Bilder wohl unfreiwillig in surreal anmutendes Orange. Ein Londoner Beispiel: Bilddatei-Nr. fmk29-ho-0111a.

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Abb. 1: Ausblick von der Klause Kastel auf die Saarschleife (bei allen Bildern handelt es sich im Original um Farbfotografien)

Abb. 2: Reiterstandbild Friedrichs III auf der Kölner Hohenzollernbrücke

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(Kreis und Viereck) verbinden sich zu einer vielschichtigen Komposition. Die parallelen Linien der Oberleitungen wirken ebenfalls als starke grafische Elemente. Im Fall eines einzelnen Bildes mag auch all dies zufällig zusammen bzw. zustande gekommen sein. In einer übergreifenden Perspektive auf die Bildmassen des Nachlasses kann man aber einige wiederkehrende Gestaltungsprinzipien aufschlüsseln, die sich als Versatzstücke eines »artistic gaze« interpretieren lassen. Letzterer ist für die Frage nach Kosellecks ›Blicken‹ auch insofern ein aufschlussreiches Konzept, weil die einschlägige Forschung ihn als Bruch mit stereotypen touristischen Foto-Klischees stark macht.46 Die Vorgehensweise, so Kaspar Thormod, sei einerseits geprägt von fotografischen Manipulationen, die den Gegenstand nahezu unkenntlich machten. Als zentrales Element wird außerdem der »zoom« auf Details vertrauter touristischer Bildgegenstände betont, der gegenüber touristischen visuellen Klischees der vertrauten Motive repetitive Muster und abstrakte Formen in den Vordergrund rücke.47 Diese Facetten des »artistic gaze« sollen hier auch als ein Kernelement der Koselleckschen visuellen Praxis betont werden: Die fotografische Rekonfiguration von ebenso klassischen wie prominenten Bildgegenständen, die Betonung ihrer Geometrie, ihre Verfremdung durch radikale Perspektiven und die Auflösung in Details oder Formenspiel. Belege für solche »artistic reconfigurations« lassen sich in Kosellecks Fotoœuvre immer wieder und dabei in Konvoluten zu ganz unterschiedlichen Orten finden. Die Suche nach geometrischen Formen und wiederkehrenden abstrakten Mustern hat dabei fotografiegeschichtlich einen recht klar zu bestimmenden Ort: Sie ist charakteristisch für unterschiedliche fotografische Strömungen, seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, die kunstgeschichtlich in der Regel dem Modernismus48 zugeordnet werden. Nun handelt es sich bei Koselleck um einen Theoretiker und Historiker, der einen Großteil seiner intellektuellen Kapazität auf die Geschichte der Moderne verwendete. Ohne die Analogieschlüsse hier überspitzen zu wollen, fällt auf, dass einige Schwerpunkte des fotografischen Modernismus den wissenschaftlichen Interessen Kosellecks durchaus verwandt waren: Auch die einschlägigen Fotografen zielten darauf, die Charakteristik ›der Moderne‹ zu erfassen und bestanden darauf, dass die Fotografie dazu besonders geeignet sei.49 Das damit verbundene Interesse an elementaren Strukturen von Bauwerken aller 46 Kaspar Thormod hat exemplarisch aufgezeigt, wie der Blick unterschiedlicher zeitgenössischer Künstler, die sich die Stadt Rom zum Gegenstand visueller Praxis gewählt haben, als Teil einer »modernist strategy« gerade auf eine »defamiliarisation« gegenüber touristischen Blickregimen zielte; Thormod, Kaspar, Artistic reconfigurations of Rome. An alternative guide to the Eternal City. 1989–2014, Leiden 2018, bes. S. 76–78. 47 Ebd. 48 Zur schwierigen Eingrenzung des Begriffs – auch unabhängig von der Fotografie – siehe Latham, Sean / Rogers, Gayle, Modernism. Evolution of an Idea, London 2015. 49 Zur Annahme, dass die Fotografie in besonderer Weise die Moderne erfassen könne – u. a. zum ›Neuen Sehen‹ als besonderer »Sicht auf die modernen Verhältnisse« – siehe mit Bezug auf Moholy-Nagy z. B. Kemp, Geschichte, S. 45.

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Art, wie es in charakteristischer Weise die berühmte Aufnahme »Wall Street« des zentralen Wegbereiters der fotografischen Moderne, Paul Strand, von 1916 prägte, findet man auch immer wieder in fotografischen Denkmalstudien Kosellecks. Gleiches gilt für die Aufschlüsselung moderner Gebäude in geometrisch strenge Formen, wie sie beispielsweise die Arbeiten von Lucia Moholy und Lászlo Moholy-Nagy zeigten.50 Ein aufschlussreiches Beispiel, das verschiedene Blicke und Interessen Kosellecks verbindet, ist die Aufnahme einer Pferde-Nachbildung, die Teil eines altmodisch anmutenden Karussells war, das in weiteren Bildern detailliert festgehalten wurde. Im Hintergrund erkennt man ein Hochhaus  – ein klassischer Bildgegenstand der fotografischen Moderne – aus der Skyline von La Défense in Paris (Abb. 3).51 Die auffallend ›aufgeräumte‹ Fotografie ist von den repetitiven Mustern der Fenster und der klaren Linienführung des Gebäudes geprägt. Beides kontrastiert mit den verspielten Verzierungen am Dach des Karussells. Solche minimalistischen Kompositionen, die einfache Formen betonen und von ausgeprägter Flächigkeit leben, findet man im Fotonachlass vielfach. Wie im Fall des Karussells, in dem das vertraute Pferdethema offensichtlich im Fokus stand, waren die Formenspiele kaum Hauptzweck der fotografischen Unternehmungen. Sie sind aber vielfach Teil des Repertoires unterschiedlicher Aufnahmen von einzelnen Objekten. Ein weiteres Pariser Konvolut zum Mémorial des Martyrs de la Déportation52 enthält beispielsweise gleich mehrere Bilder, die das Interesse verdeutlichen. Mehrfach versuchte Koselleck, die Symmetrie der steilen Treppen innerhalb der teils unterirdischen, bunkerartigen Betonkonstruktion einzufangen. Die technisch anspruchsvolle, gerade und verzeichnungsfreie Ausrichtung der Kamera gelang ihm nicht vollständig. Das Bemühen ist aber deutlich erkennbar. Neben den Symmetrien betonte er die Flächen der weißen Betonwände, die sich am Tag der Aufnahme von einem stahlblauen, wolkenlosen Himmel absetzten.53 Alle Bilder werden Teil des Versuches gewesen sein, die Wirkung der Architektur der Gedenkstätte einzufangen, weisen ästhetisch aber auch darüber hinaus. Ein weiteres Bild (Abb. 4), bei dem es sich offenbar um den Schattenwurf von Besuchern der Gedenkstätte auf deren Wänden handelt, macht dies besonders deutlich. Die minimalistische Komposition beschränkte sich lediglich auf den Schatten von zwei Personen und drei unterschiedlich gefärbte, jeweils trapezartige Flächen: Himmel, sonnenbeschienene und beschattete Wand.

50 Kemp, Geschichte, Zit. S. 42. Das benannte Bild Strands ist auf S. 36 abgedruckt, Beispielbilder von Moholy und Moholy-Nagy auf S. 46 und 47. 51 Bilddatei-Nr. fmk47-ho-0774a. 52 Inventar-Nr. der Sammlung: 059–01–0002–001-(001–016). 53 Siehe z. B. Bilddatei-Nr. fmk02–10-ka-0017a.

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Abb. 3: Karussell vor der Skyline von La Défense in Paris

Abb. 4: Schattenwurf auf den Wänden des Mémorial des Martyrs de la Déportation in Paris

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Abb. 5: Spiegelungen des Stephans­doms im Wiener Haas-Haus

In die Bildkompositionen eingebundene Schatten erweisen sich ebenfalls als wiederkehrendes Muster im Fotonachlass. Ein weiteres Göttinger Konvolut – Bilder zum 1973 eingeweihten Mahnmal für die zerstörte Synagoge von Corrado Cagli – lässt nicht nur in dieser Hinsicht ähnliche Darstellungsweisen wie die Bilder zum Pariser Mémorial erkennen. Bei dem Mahnmal handelt es sich um eine Stahlplastik aus übereinander geschichteten Dreiecken über einem Freiraum. Die Dreiecke ergeben die Form eines Davidsterns, »der sich zur Spitze hin verjüngt«.54 Wie in beiden beschriebenen Pariser Fällen, bot sich das Denkmal für Abstraktionen und fotografisches Formenspiel an. Neben Gesamtansichten erstellte Koselleck gleich zwei abstrakte Detailansichten, die Teile des Denkmals vor kaum bewölktem blauem Himmel isolierten. In einem Fall55 hielt er dann die komplexen Überlagerungen der schroffen Schatten der Gestänge mit dem ins Pflaster unterhalb des Denkmals eingelassenen Davidstern fest.56 54 Siehe die präzise Beschreibung bei: Eckart, Adina, Corrado Cagli – der Künstler des Mahnmals für die zerstörte Synagoge in Göttingen, 2019, abrufbar unter: https://museum. goettingen.de/25-oktober-2019/ [Zugriff 01.09.2020]. 55 Bilddatei-Nr. fmk09-ho-0349a. 56 Bilddatei-Nr. fmk09-ho-0346a und Bilddatei-Nr. fmk09-ho-0348a.

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Neben der Isolierung der Motive, der Reduktion auf einfache geometrische Formen,57 den Abstraktionen und Schattenspielen fällt ein weiteres wiederkehrendes Muster im Bildnachlass auf: Der kreative Umgang mit Spiegelungen. Davon zeugt nicht nur das eben besprochene Foto von der Hohenzollernbrücke. Auch in Wien hielt Koselleck den Wiederschein des Stephansdoms im Haas-Haus von Hans Hollein fest.58 Die stark fragmentierten und in unterschiedliche Richtungen weisenden Spiegelungen von Elementen des Doms erinnern dabei an kubistische Gestaltungsprinzipien. Auch hier war die Fotografie vermutlich ein Nebenprodukt einer Fotounternehmung, mit der Koselleck dem Totenkult-Thema zuarbeitete. Sie zeigt aber wiederum den kreativen, mitunter verfremdenden Umgang Kosellecks mit seinen Motiven.59 Wie schon bei mehreren oben behandelten Bildern, fällt auch hier die Kontrastierung von Elementen auf, die deutlich erkennbar unterschiedlichen Epochen entstammen. Darauf ist zurückzukommen. Ähnlich wie solche Spiegelungen wurde auch ein weiteres wiederkehrendes Stilmittel Kosellecks seit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts intensiv von verschiedenen Vertretern der fotografischen Moderne zur Anwendung gebracht: Die radikale Perspektivierung der Bildgegenstände. Beispielsweise Rodchenko, aber auch Moholy-Nagy schlugen vor, dass Fotografen ihre Blickwinkel radikal verändern sollten. Dazu fanden bei den Modernisten u. a. verzerrende Spiegel Verwendung. Das Spiel mit Perspektiven, die Abweichung von ›normalen‹ Sichtweisen war dabei das Ziel.60 Dieser Aspekt wird gleich in einer ganzen Reihe von Kosellecks Denkmalstudien deutlich. Er zielte bei seiner fotografischen Erschließung darauf, möglichst viele Perspektiven auf die Gegenstände festzuhalten. Prinzipiell sind solche ›Einkreisungen‹ der Denkmäler eine gängige Prozedur bei der Erstellung von Fotografien für die kunsthistorische Lehr- und Forschungstätigkeit (dazu s. u.). Die bei Koselleck deutlich erkennbare Tendenz zur Überspitzung der Perspektivität ist es hingegen nicht. Für Kosellecks Aufnahmen des Chemnitzer Karl-Marx-Monuments wurde auf die »originell[e] und humorvoll[e] wie gleichzeitig kritisch[e]« Herangehensweise bereits verwiesen.61 Unter den Bildern findet man beispielsweise eine Fotografie des Kopfes, deren komplette untere Hälfte durch eine steile Untersicht vom massigen Bart des Philosophen ausgefüllt ist. Der gesamte dunkle 57 Ein weiteres, sehr streng komponiertes Beispiel dafür diese Prinzipien ist ein Foto des Darmstädter Ludwigsmonuments von Ludwig Schwanthaler, das Koselleck im Bild als eine Art Schattenrist unterhalb des Kreuzungspunktes aus einer Strom- oder Oberleitung und einem Kondensstreifen am Himmel festhielt. Bilddatei-Nr. fmk43-ho-0486a. 58 Siehe neben Abb. 5 auch Bilddatei-Nr. fmk04-ho-0068a. 59 Die Prinz Eugen Kapelle am Nordwinkel der Portalfassade des Stephansdoms wurde von diversen österreichischen Adelsfamilien als Grablege genutzt. 60 Warner Marien, Mary, Photography. A Cultural History, London 2006, S. 252: »[P]hoto­ graphers should radically change the angle of camera vision.« 61 Markantonatos, Er-fahrungen, bes. S. 44.

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Kopf formt sich so vor dem Hintergrund des hellen bewölkten Himmels annähernd zu einem Dreieck.62 Damit ist festzuhalten, dass neben der beschriebenen ›Snapshot‹-Ästhetik, deren Grad an Intentionalität schwer zu bewerten ist, in Kosellecks Bildern immer wieder ein charakteristischer ›artistic gaze‹ aufscheint, der sich durch das Spiel mit Geometrie, Abstraktion, radikalen Perspektiven, Spiegelungen sowie Kontrasten aus Schatten und Licht auszeichnet. Die ästhetischen und inhaltlichen Überlappungen mit dem fotografischen Modernismus sind damit sehr auffällig: Die Themen Bewegung bzw. Beschleunigung und urbane Dynamik spielten in beiden Fällen eine zentrale Rolle. Koselleck teilte mit den ›Modernisten‹ darüber hinaus sein ausgeprägtes Interesse an der Aufdeckung von Wiederholungsstrukturen. Die Herangehensweise des oben erwähnten Paul Strand wird in der Forschung treffend als »[f]otografische Strukturforschung« bezeichnet. Prominente Fotografen und Kuratoren wie Alfred Stieglitz waren ebenfalls stark an abstrakten Grundformen interessiert und u. a. vom Kubismus beeinflusst.63 Für mein Argument ist zunächst nicht entscheidend, ob man Koselleck damit als einen bewussten fotografischen ›Modernisten‹ bezeichnen kann. Entscheidend ist ein unkomplizierterer Befund: All diese visuellen Praktiken zeigen in ihrer Häufung auf, dass Koselleck nicht nur ein Wissenschaftler war, der besonders in seinen Aufsätzen Freude an ›Sprachspielen‹ zeigte, sondern auch ein Fotograf, der offensichtlich Freude an ›Bildspielen‹ hatte. Für die hier im Zentrum stehende Frage nach den Motivationen seines exzessiven Fotografierens ist das ein wichtiger Punkt: Auch hobbyistische Leidenschaft, Freude an Komposition und Formenspiel nährten die umfangreiche Fotosammlung. Gleiches gilt für die oben beschriebene touristische bzw. bildungsbürgerliche Sammelleidenschaft.

II. Der Fotograf als Historiker Aber es wäre eine grobe Verkürzung, beließe man es dabei, den Historiker Koselleck bei der Analyse des Fotonachlasses auszuklammern. Bereits bei den betrachteten Bildern schienen seine historischen Interessen – z. B. am Totenkult und der Moderne – ja immer wieder durch. Und die bisherige Forschung hat belegt, wie sehr visuelle und historiographische Praxis sich bei Koselleck überlagerten. Mit der Frage, wie genau sich Kosellecks Sehstil wissenschaftsgeschichtlich in seinen Arbeits- oder Erkenntnisprozess einordnen lässt, rückt zunächst notwendiger Weise auch die Frage in den Blick, wie charakteristisch visuelle Praktiken für Historiker eigentlich prinzipiell sind.

62 Bilddatei-Nr. fmk21-ho-0262a. 63 Siehe z. B. Orvell, Miles, American photography, Oxford 2003, S. 86–103, bes. S 88.

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II.1 Exkurs: Geschichtswissenschaft und visuelle Praktiken Folgt man gängigen Einschätzungen der letzten 200 Jahre, sind Historiker »Männer des Wortes«.64 In jeder Hinsicht ihres Schaffens scheinen sie eng verwiesen auf Sprache. Einerseits hat dies aufgrund der von der Zunft lange Zeit völlig unangefochten privilegierten Textquellen eine große Plausibilität. Darüber hinaus lassen sich HistorikerInnen vor dem Hintergrund der üblichen Präsentationsform ihrer Ergebnisse – der (mehr oder weniger ›großen‹) Erzählung – schwer getrennt von der Sprache denken.65 In mancherlei Hinsicht lässt sich die Ineinssetzung von Geschichtswissenschaft und Sprachlichkeit auf prinzipieller Ebene jedoch aufbrechen. Besonders evident ist das auf der Seite der Ergebnisvermittlung und didaktischen Aufbereitung von Forschungsergebnissen.66 Betrachtet man aktuelle wissenschaftsgeschichtliche Studien zu anderen Disziplinen, kann man sich jedoch anregen lassen, auch an anderen Stellen im wissenschaftlichen Erkenntnisprozess nach einer Eigendynamik visueller Praktiken zu fragen. Nicht zufällig beschränkt sich die Forschung dabei bislang weitgehend auf die Naturwissenschaften, die seit der Frühen Neuzeit untrennbar mit einer »okkularzentrischen Kultur« der Moderne verwoben sind.67 Die »[v]isuelle[n] Praktiken« und die Konstituierung sogenannter »Bildtatsachen« sind vor diesem Hintergrund in den letzten Jahren ins Zentrum der einschlägigen

64 Siehe diese gängige Charakterisierung z. B. bei Wehler, Nationalsozialismus, S. 312. 65 Einen Überblick zur breiten theoretischen und historiographiegeschichtlichen Literatur zum Stellenwert der Sprache für die geschichtswissenschaftliche Arbeit siehe Günther-Arndt, Hilke, Hinwendung zur Sprache in der Geschichtsdidaktik – Alte Fragen und neue Antworten, in: Handro, Saskia / Schönemann, Bernd (Hg.), Geschichte und Sprache, Berlin 2010, S. 19–46, allgemein zur Geschichtswissenschaft bes. die Zuspitzungen auf S. 19–25. 66 Stefan Haas hat zum »Schreiben in Bildern« – zur Visualität, Narrativität und zu digitalen Medien in der Geschichtswissenschaft – anregende Überlegungen angestellt: Er interessiert sich ganz allgemein für die Konsequenzen, die der Visual Turn für »die Sprache hat«, in der Geistes- und Kulturwissenschaftler Erkenntnisse »vermitteln«. Auf der Seite des ›Outputs‹ und der Vermittlung ist die Frage nach dem Visuellen in der historiographischen Praxis also bereits reflektiert. Es ist allerdings symptomatisch, dass die Reflexionen am Ende wiederum in Überlegungen zur Sprache der historischen Erzählungen münden. Haas, Stefan, Vom Schreiben in Bildern. Visualität, Narrativität und digitale Medien in den historischen Wissenschaften, in: Zeitenblicke. Digitale Medien und Wissenschaftskulturen 5 (2006), Nr. 3 (abrufbar unter http://www.zeitenblicke.de/2006/3/Haas). 67 Das »Training der wissenschaftlichen Beobachtung« mit technischem Gerät, die »aktive szientistische Visualisierung der Welt durch Kartographien«, die »anatomische und botanische Zeichnung« – all diese »spezialisierte[n] Sehpraktiken« standen – und stehen nach wie vor – im Zentrum der naturwissenschaftlichen Praxis und zugleich einer charakteristischen ›modernen‹ Weltsicht: Prinz, Sophia / Reckwitz, Andreas, Visual Studies, in: Moebius, Stephan (Hg.), Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies, Bielefeld 2012, S. 176–195, S. 176 f., 193.

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Forschung gerückt.68 Verschiedene Arbeiten zeigen dabei nicht nur, dass die visuelle Vermittlung von Befunden eine wichtige Erfolgsbedingung neuer Methoden war, während praktische Überlegenheit gegenüber konkurrierenden Zugriffen mitunter nur eine Nebenrolle spielte. Nicht nur in der visuellen Darstellung von Forschungsergebnissen für Dritte im »intersubjektiven Gebrauch«,69 sondern auch im Erkenntnisprozess selbst, so wurde gezeigt, spielen »Sichtbarmachungen« eine ganz erhebliche Rolle. »Das Herstellen von Sichtbarkeit« wurde dabei dezidiert »als Teil des epistemischen Prozesses« gefasst.70 Für die historiographiegeschichtliche Umsetzung ist die Erkenntnis von großer Bedeutung, dass dies nicht nur für Praktiken gilt, die eng auf technischen Instrumentarien in Laboratorien verwiesen waren. Solch avancierte Techniken der Naturbeobachtung sind ja in den seltensten Fällen Teil des historiographischen Erkenntnisprozesses. Auch für sogenannte »paper tools« wurde u. a. am Beispiel von Aufschreibweisen chemischer Formeln, aber auch in der Mathematik- und Physikgeschichte eine ausgeprägte Eigendynamik nachgewiesen. Das Konzept der »paper tools« lenkt die Aufmerksamkeit der historischen Analyse auf die materiellen, performativen und kulturellen Aspekte der Deutungsarbeit – allerdings nicht nur im Labor, sondern auch am Schreibtisch. Die gängigen Dichotomien zwischen »manual and cognitive practises«, »hand and mind«, »seeing and thinking« werden so erheblich verwischt.71 Für Geistes- und Geschichtswissenschaftler ist in diesem Zusammenhang z. B. an grafisch angelegte Aufschreibsysteme und Markierungsweisen zu denken: Techniken, mit denen HistorikerInnen sich selbst Befunde visuell verdeutlichen, um auf die Spur von Zusammenhängen und wiederkehrenden Mustern zu kommen. Sie können Einblicke in die Denkprozesse bzw. die Konstruktionsarbeit auf dem Weg zum fertigen Text und damit in die vor- oder außersprachliche Deutungsarbeit geben. Das ist historiographiegeschichtlich verlockend, quellenmäßig aber kompliziert: Man muss in Historiker-Nachlässen mit großem Glück auf ›Überreste‹ visueller Deutungsarbeit stoßen.

68 Heumann, Ina / Hüntelmann, Axel C., Einleitung: Bildtatsachen. Visuelle Praktiken der Wissenschaften, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 36/4 2013, S. 283–293. Zum großen Stellenwert von Fotografie und anderer bildgebenden Verfahren beispielsweise für den rasanten Aufstieg der Bakteriologie Ende des 19. Jahrhunderts siehe z. B. Gradmann, Christoph, »Auf Collegen, zum fröhlichen Krieg«. Popularisierte Bakteriologie im Wilhelminischen Zeitalter, in: Medizin, Gesellschaft und Geschichte 14 (1995), S. 35–54. 69 Prinz / Reckwitz, Visual Studies S. 193. 70 Heumann / Hüntelmann, Einleitung, bes. S. 284. 71 Klein, Ursula, Experiments, models, paper tools. Cultures of Organic Chemistry in the Nine­ teenth Century, Stanford 2003, S .4.

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II.2 Kosellecks Fotografie als wissenschaftliche Praxis Kosellecks umfangreich überlieferter, reich von Notizen und Verweisen durchzogener Bildnachlass ist eine außergewöhnliche Seltenheit. Gerade deshalb bietet er sich an, um die Potenziale eines solchen Zugriffs zu sondieren. Hier kann es mit den Fotografien Kosellecks, wie oben angekündigt, aber nur um eine Facette dieses Nachlasses gehen, die allerdings in noch offensichtlicherer Weise visuell verfasst ist als die Notizen und Verweissysteme. Im Gegensatz zum Koselleckschen Zettelkastensystem, ist die Arbeit mit Fotokameras – jenseits der im digitalen Zeitalter üblichen schnellen Sicherung von Textquellen oder Forschungsliteratur – für Allgemeinhistoriker wenig gebräuchlich. In der Kunstgeschichte ist sie dagegen deutlich verbreiteter und hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts professionalisiert. Da Koselleck mit seinen Arbeiten zur politischen Ikonologie in den Grenzbereichen zur Kunstgeschichte agierte, ist diese Querverbindung im Hinterkopf zu behalten. Ein erstes Indiz dafür, dass die Fotografien Teil einer wissenschaftlichen Praxis waren, ist das überaus planvolle Vorgehen Kosellecks: Wenn auch viele Fotos (die nicht dezidiert auf das oben beschriebene Formenspiel zielten) wenig sorgfältig umgesetzt waren, so waren die zugrundeliegenden Reisen dies durchgängig. Ganz offenbar gingen den Bildern minutiöse Planungen voraus und er arbeitete die Orte, die zu den Gedenk- und Totenkultthemen passten, gründlich ab. Egal ob Wien, Göttingen, Goslar – oder kleinste Flecken im Ostwestfälischen – man gewinnt den Eindruck, dass kein einschlägiges Denkmal, keine Gedenktafel ausgelassen wurde. Aber wozu genau dienten diese oft hastig erstellten Fotos in wissenschaftlicher Hinsicht? Der naheliegende Gedanke, dass es Koselleck um die Herstellung von klassischen Lehr- und Forschungsmedien ging, trifft den Kern seiner Praxis nicht vollständig: Bedenkt man, was in diesem kunsthistorischen Genre in der Regel an fotografischem Aufwand getrieben wird, werden neben evidenten Überlappungen auch massive Unterschiede deutlich.72 Gegenüber den charakteristischer Weise sorgfältig belichteten und geduldig komponierten Fotografien kunstgeschichtlicher Lehrwerke, fallen die Koselleckschen Konvolute in professioneller bzw. handwerklicher Hinsicht in der Regel massiv ab: Vor dem Hintergrund der Masse seiner Fotografien betrachtet, sind die oben beschriebenen ästhetisch anspruchsvollen Fotografien eher die Ausnahme als die Regel. Der kunsthistorischen Dokumentation auf den ersten Blick verwandt ist Kosellecks oben bereits beschriebene Annäherungsweise an Denkmäler: Koselleck lichtete sie aus unterschiedlichsten Perspektiven ab – Gesamtansicht, verschiedene Richtungen, Details. Bei Koselleck wurde nicht nur weit mehr Kontext festgehalten (dazu s. u.). Auch die handwerkliche Machart ist ein großer Unterschied. Die Masse von Kosellecks

72 Bracht, Christian, Foto Marburg. Ein klassisches Bildarchiv und die digitale Bilderwelt, in: Ziehe, Irene / Hägele, Ulrich (Hg.), Digitale Fotografie. Kulturelle Praxen eines neuen Mediums. Visuelle Kultur. Studien und Materialien, Bd. 4, Münster 2009, S. 157–166.

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Bildern ist in keiner Weise sorgfältig ausgerichtet. Das führte oft zu massiven perspektivischen Verzeichnungen und Verzerrungen. Auch auf Lichtverhältnisse hat Koselleck offenbar selten geachtet: Besonders in Innenräumen sind ausgewogene Belichtungen eher selten. Mitunter erscheinen die Objekte krumm und schief, die Bilder sind nicht selten bis zur Unkenntlichkeit ›verblitzt‹, verwackelt oder gar beschädigt.73All dies macht wiederum die bereits erwähnte Praxis des obsessiven Sammelns besonders deutlich. Es ging ganz offensichtlich nicht um eine überindividuell nutzbare Dokumentation. Im Kern, so würde ich behaupten, waren die Fotografien stattdessen zweierlei. Zunächst waren es schlicht visuelle Exzerpte und damit zunächst einfache Erinnerungshilfen. Hundertfach lichtete er nicht nur sakrale Kunstwerke und Denkmäler in aller Welt ab, sondern – wenn vorhanden – eben auch die dazugehörigen Erklärungstafeln. Für diesen Exzerptcharakter der Fotografien spricht die schiere Masse der abgelichteten Artefakte, die sehr unterschiedlich prominent waren. Begreift man die Bilder als Exzerpte, als hoch verdichtete, rasch erstellte Belegsammlungen, ist genau dieser Charakter für viele geschichtswissenschaftliche Praktiken durchaus typisch.74 Aber waren Kosellecks Fotografien das? Lediglich eigenständig erstellte Exzerpte? In einer zweiten, erkenntnistheoretisch bzw. wissenschaftsgeschichtlich nicht minder spannenden Hinsicht, waren die Fotografien paper tools, die Dinge visuell fixieren konnten, die sich der Sichtbarmachung (Heumann / Hüntelmann) sonst entzogen. Damit stehen sie in besonderer Weise für Kosellecks »Denken in und anhand von Bildern«.75 Bettina Brand und Britta Hochkirchen fassen die Bilder in diesem Zusammenhang treffend als einen »Denkraum«.76 Hochkirchen hat dabei u. a. nachvollziehen können, wie Koselleck die Fotos dezidiert als »Erkenntnismedium« zur »Hervorbringung« und »Überprüfung seiner Geschichtstheorie« nutzte.77 Wie intentional er dabei im Einzelfall vorging, ist (wie bereits im Fall der oben behandelten ›künstlerischen‹ Fotografien) erneut schwer zu bestimmen. Womöglich ist dies aber auch nicht die entscheidende Frage. Die Masse der Fotografien im Nachlass ermöglicht es nämlich unabhängig davon, wiederum auffällige Kompatibilitäten bzw. Entsprechungen zwischen grundlegenden Denkmustern Kosellecks und den Motiven bzw. Gestaltungsprinzipien vieler Bilder aufzuzeigen. Einige der nun aufzuführenden, Elemente von Kosellecks Sehstil wurden in oben

73 Als Beispiel für ein ›verblitztes‹ Bild siehe Bild-Nr. fmk01-ho-0438a; Als Beispiel für Beschädigungen Bild-Nr. fmk01-ho-0113a. 74 Es erinnert auch jenseits der Fotografie an ›wilde‹ Belegstellensammlungen, verkritzelte Exzerpte und an die Massen hastig erstellter Kopien, die wohl die Mehrzahl aller HistorikerInnen in heimischen Archiven lagert. Im Falle Kosellecks haben wir zentrale Elemente solcher Exzerpt-Systeme öffentlich in einer Bilddatenbank vor uns. 75 Heumann / Hüntelmann, Einleitung, bes. S. 284. 76 Siehe dazu den Aufsatz von Brandt / Hochkirchen im vorliegenden Band. 77 Hochkirchen, Bildzeiten, z. B. S. 33. Die Verfasserin legt in dem Text einen starken Fokus auf Kosellecks Theorie des Ereignisses.

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diskutierten Fotografien bereits angerissen und lassen sich nun systematisch auf seinen Denkstil beziehen. Fünf eng aufeinander verwiesene ›Grundpfeiler‹ bzw. Kerninteressen, die Kosellecks ›gerichtetes Wahrnehmen‹78 in der fotografischen Praxis und seinen theoretischen Reflexionen bzw. seinem Geschichtsdenken gleichermaßen prägten, sollen abschließend betont werden. Der erste Punkt, der sich in dieser Hinsicht zuspitzen lässt, ist das Interesse an Perspektivität bzw. der radikale Perspektivismus, der Kosellecks wissenschaftliches Denken und fotografisches Sehen zugleich prägte. Wie bereits beschrieben, zählte die fotografische Erschließung von Denkmälern darauf ab, möglichst viele denkbare Perspektiven auf die Gegenstände im Bild festzuhalten. Die Fotografien des Marx-Denkmals sind da keine Ausnahme.79 Oft verdeutliche er so unterschiedliche Nutzungsweisen von Denkmälern oder ihrer Umgebung, aber auch Versperrungen von Sichtachsen – beispielsweise durch Bauzäune.80 Koselleck nutzte damit die Fotografie gerade nicht, um eine möglichst präzise, scheinbar objektive Repräsentation des Gegenstandes zu erstellen, sondern um vielfältige mögliche Sichtweisen offenzulegen. Er macht seine Blicke (wie be­sonders die Bielefelder Ausstellung deutlich machte81 und in dem prominenten Kölner Bild deutlich wird, sogar seine Kamera) sichtbar. Die Bilder gerieten damit nicht analytisch-objektivierend, sondern wurden so subjektiv wie möglich gehalten. Von gängigen Spielarten der Wissenschaftsfotografie weicht diese Herangehensweise grundlegend ab. Als Denkfigur der geschichtstheoretischen und begriffsgeschichtlichen Reflexionen ist die Frage nach der Perspektive aber überaus vertraut. Ein prominentes Beispiel sind die Annahmen zu geschichtlichen Grundbegriffen. Sie zeichnen sich in Kosellecks Definition durch Umstrittenheit aus. Ein Grundbegriff liege »also gerade dann vor, wenn er perspektivisch verschieden ausgelegt werden muß, um Einsicht zu finden oder Handlungsfähigkeit zu stiften.«82 Grundbegriffe eröffnen also  – wie es die konzeptionellen Weiterführungen der Begriffsgeschichte durch Rolf Reichardt besonders präzise gefasst haben83 – als hochgradig verdichtete Deutungsmuster unterschiedliche Perspektiven auf die Wirklichkeit. Perspektivische Brechungen und pluralistische Wahr-

78 So ja die oben angeführte Definition eines Denkstils bei Fleck, Entstehung, S. 130. 79 Ein weiteres plakatives Beispiel von vielen wäre ein Basler Reiterstandbild des heiligen Georg beim Drachenkampf (Carl Burckhardt, 1922). Inventar-Nr. der Sammlung: 049-01-0012001-(001-013). 80 Als Beispiel siehe eine Aufnahme des Göttinger Denkmals für die Gefallenen des ReserveInfanterie-Regiments 91 im Ersten Weltkrieg: Bilddatei-Nr. fmk09-ho-0248a. 81 Siehe auch dazu den Aufsatz von Brandt / Hochkirchen im vorliegenden Band. 82 Siehe dazu die knappe, pragmatische Zuspitzung zum Ende der Arbeit an den Geschichtlichen Grundbegriffen: Koselleck, Reinhart, Vorwort, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, Bd. VII, Stuttgart 1992, S. V–VIII, hier S. VII. 83 Reichardt, Rolf, Einleitung, in: ders. / Schmitt, Eberhard (Hg.), Handbuch politisch sozialer Grundbegriffe in Frankreich 1680–1820, München 1985, S. 39–148, bes. S. 64–69.

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nehmung von »Geschehen« waren aber auch jenseits der Begriffsgeschichte ein konzeptionelles Kerninteresse Kosellecks und zugleich Schlüsselelement seiner Erfahrungstheorie.84 Der zweite Punkt ist eng auf solche Phänomene der Perspektivität verwiesen – und wiederum auf Analogien zur Geschichts- und Sprachtheorie. Es geht aber nicht nur darum, wie der Gegenstand je nach Betrachterstandpunkt im Raum synchron wahrnehmbar ist. Viele Bilder machen Kosellecks besonderes Interesse an der diachronen Dimension – an den sich überlagernden Zeitschichten – sichtbar. Es geht also um die »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen«.85 Im Falle des Stephansdoms waren es dessen verzerrte und damit stark verfremdete Reflexionen in hoch- bzw. postmoderner Architektur. In den Bildern von Denkmälern wurden die verschiedenen Zeitebenen häufig über umstehende Gebäude repräsentiert, die anderen Epochen entstammen. Das konnte z. B. ein Bild von einem Bismarckdenkmal vor dem Hintergrund eines C&A-Logos sein, in dem typische innenstädtische Neonreklamen nicht nur auf zeitliche Überlagerungen verwiesen, sondern auch auf Interferenzen zwischen Kultur und Geschichte auf der einen, Wirtschaft sowie Kommerz auf der anderen Seite.86 In der Koselleck-Forschung bekannte Beispiele für solche auffälligen Rekontextualisierungen sind die oben besprochenen Kölner Bilder zu den Denkmälern auf der Hohenzollernbrücke, die den modernen Bahnverkehr einbeziehen und mit den Reiterstandbildern in Beziehung setzen. Ähnliche Gegenüberstellungen finden sich vielfach, beispielsweise in einer Reihe von Aufnahmen, die er 1979 in London machte. Bewegungsunscharfe Autos vor verschiedenen Denkmälern, ein Doppeldeckerbus vor dem Clock Tower am Palace of Westminster, der die berühmte Glocke ›Big Ben‹ beheimatet87  – solche Gegenüberstellungen durchziehen nicht nur das Londoner Konvolut, sondern einen Großteil der Aufnahmen großstädtischer Umgebungen. Es liegt nahe, diese in den Bildern immer wieder beobachtbaren Kontrastierungen auf ein drittes Grundprinzip zu beziehen, das in Kosellecks Texten auf verschiedenen Ebenen immer wieder auftaucht: Das Denken in Gegensätzen. Zu denken ist dabei nicht nur an das besondere Interesse an asymmetrischen Gegenbegriffen,88 sondern auch an die verbreitete, von Koselleck

84 Dazu z. B. Hofmann, Stefan-Ludwig, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 171–204, hier S. 194. 85 Zum Konzept der »Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen« siehe die brillante Zusammenfassung bei Jordan, Stefan, Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen, in: ders. (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 297. 86 Ein weiteres Darmstädter Beispiel: Bilddatei-Nr. fmk02-ho-0676a. 87 Inventar-Nr. der Sammlung: 029–04–0015–001-(001–035). 88 Siehe als treffende knappe Skizze der Grundannahmen Jung, Theo, Rezension zu: Jung, Kay / Postoutenko, Kirill (Hg.), Asymmetrical Concepts after Reinhart Koselleck. Historical Semantics and Beyond, Bielefeld 2011, in: Zeitschrift für Historische Forschung 40 (2013), S. 273–275.

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ebenfalls adaptierte geschichtstheoretische Annahme, dass Geschichte prinzipiell aus Gegensätzen hervorgehe.89 Auch auf den vierten Aspekt, auf den Kosellecks ›gerichtete Wahrnehmung‹ sich immer wieder fokussierte, wurde bereits verwiesen: Eine vielfach wiederkehrende Variante der Kontrastierung von Bildgegenständen sind die auffällig dynamischen Kontexte der unbewegten Denkmäler oder Gebäude. Ausgeprägte Dynamiken rund um das Statische erscheinen als zentrale Topoi im Bildnachlass. Hier lassen sich interessante Parallelen sowohl zum Thema der Beschleunigung im Zuge der Moderne als auch zur Zeit- und Strukturtheorie Kosellecks aufweisen. Koselleck hat die Beschleunigung ja als Signum der Moderne und als Kernelement seiner Theorie der Moderne stark gemacht. Seine Zeit- und Strukturtheorie lehnt sich z. T. an Braudel an (geht aber auch darüber hinaus). Er betont das Ineinandergreifen unterschiedlicher Zeitdimensionen, die unterschiedliche Rhythmen aufweisen: Zunächst die »naturalen«, biologisch-geographischen »Vorgaben« – dann die gewollten und gezielten Wiederholungen, die »Dauerhaftigkeit und Stetigkeit gesellschaftlicher Verhaltensweisen« verbürgen. In enger Verbindung damit stehen die »einmaligen Handlung[en]«, die von »einmaligen« Menschen vollzogen werden. Koselleck betont, dass in diesen Handlungen alle »sich immer wiederholenden Zeitschichten« enthalten sind.90 Die einzelnen Handlungen verändern die Wiederholungsstrukturen aber zugleich in jeder Aktualisierung. In Kosellecks Geschichtsdenken überlagern sich »Dauer, Lang-, Mittel- [und] Kurzfristigkeit«91 also permanent. Viele seiner Bilder geben genau solche Überlagerungen wieder. Besonders die Beharrungskraft der oft monumentalen, steinernen Artefakte aus vergangenen Zeit(schicht)en gegenüber den möglichen Perspektiven, die Akteure ihnen gegenüber einnehmen – gegenüber den Dynamiken und Aktivitäten, die sich zum Zeitpunkt der Aufnahme rund um die Denkmäler entfalten. Quer zu diesen vier Schwerpunkten liegt ein weiteres Charakteristikum seiner Texte und Bilder: Kosellecks, oben beschriebener, anspruchsvoller und zugleich spielerischer Umgang mit Formen im Bild, findet in vielen seiner Texte eine Entsprechung: Besonders die kürzeren, essayistischen Formen sind nicht nur intellektuell oft spielerisch angelegt, sondern weisen auch eine auffällige und anerkannt außergewöhnliche Ästhetik auf.92

89 Dazu: Kaegi, Dominic, Historik als Hermeneutik. Koselleck und Gadamer, in: Dutt, Carsten / Laube, Reinhard (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013, z. B. S. 263. 90 Sie ermöglichen und begrenzen menschliche Handlungen: Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik. Frankfurt a. M. 2000, S. 9–18, bes. S. 13. 91 Ebd. 92 Als Beleg dafür mag gelten, dass er 1999 den »Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa« der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung erhielt. Siehe https://www. deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis [Zugriff 01.09.2020].

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III. Bilanz Die hier betonten wiederkehrenden Muster, sowohl der Fotografie als auch der konzeptionellen Reflexion und der wissenschaftlichen Arbeit Kosellecks, sind recht offensichtlich, wenn man eine größere Zahl der Fotografien und zentralen Texte Kosellecks betrachtet. Aber was bedeuten diese Überlappungen in der ›gerichteten Wahrnehmung‹ von Seh- und Denkstil für das Verständnis seiner wissenschaftlichen und fotografischen Praxis? Konstatiert man eine solche Überlappung, ist damit noch nicht behauptet, dass Koselleck immer wieder mit klar umrissenen ›Aufmerksamkeitskriterien‹ im Kopf die Kamera ergriff und bewusst den beschriebenen wiederkehrenden Kompositionsmustern folgte. Es ist bereits aus methodischen Gründen kaum möglich nachzuweisen, dass es sich bei den Bildern um intentionale Manifestationen seines Geschichtsdenkens handelte. Damit ist man im Falle des Koselleckschen Fotonachlasses aber mit einem Problem konfrontiert, das in der fotografiegeschichtlichen Arbeit sehr verbreitet ist – beispielsweise auch, wenn es um die prominentesten Fotografen des 20. Jahrhunderts geht. Denn sind explizite Reflexionen der FotografInnen selbst nicht zugänglich, lässt sich bewusstes Komponieren kaum nachweisen. Henri Cartier-Bresson  – um ein besonders prominentes Beispiel zu nennen – hat sogar betont, dass die Auseinandersetzung mit Kompositionsregeln für Fotografen zwar essentiell, das bewusste Komponieren nach bestimmten Regeln bei seiner charakteristischen Art des Fotografierens selbst aber kaum möglich sei.93 Trotzdem liegen viele seiner Motive auf den Millimeter genau im ›goldenen Schnitt‹ – um nur ein Beispiel zu nennen. Der kunsthistorisch geschulte Blick, so seine eigene Interpretation, habe bei ihm dafür gesorgt, dass er die Bilder intuitiv komponierte. Fotografische Praktiken – und das ist meine Deutung für Cartier-Bresson wie für Koselleck – sind zwar oft geschult, aber ab einem gewissen Punkt auch inkorporiert und damit in der konkreten Praxis intuitiv. Die Frage ist auch für Koselleck weniger: War jedes Bild so geplant? Der Befund ist vielmehr: Das Medium Fotografie war für ihn so attraktiv, weil es in seinen Potenzialen Kosellecks Kerninteressen – Perspektivität, Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen, Beschleunigung, Kontrastierungen – entgegenkam. Die Fotografie war prädestiniert, Sichtbarmachungen (im oben umrissenen Sinne)  all dieser Phänomene zu erzeugen. Diese Kompatibilität zwischen eigenen Interessen und den Potentialen des Mediums ist es womöglich, die die Eingangsfrage beantworten kann, warum ein Historiker während seines Berufslebens überhaupt so viele Fotos produzierte. Das Medium Fotografie eröffnete es Koselleck in besonderer Weise,

93 »Composition must be one of our constant preoccupations, but at the moment of shooting it can stem only from our intuition, for we are out to capture the fugitive moment, and all the interrelationships involved are on the move.« Cartier-Bresson, Henri, The mind’s eye. Writings on photography and photographers, hg. von Michael L. Sand, New York 1999, S. 34.

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visuelle Repräsentationen der Phänomene zu verfertigen, für die er sich als Wissenschaftler besonders interessierte. Damit sind viele der Fotografien eben nicht nur visuell verfasste Exzerpte und Erinnerungsstützen, sondern weisen darüber hinaus. Sie waren – wie ja auch Brandt und Hochkirchen im vorliegenden Band betonen – spezifische Denkräume, deren mediales Potenzial seinen Interessen und Denkmustern massiv entgegen kam. Die fotografisch-historiographische Arbeit Kosellecks wurde im vorliegenden Aufsatz analytisch zunächst von den bildungsbürgerlichen, künstlerischen und sammlerischen Elementen seiner visuellen Praxis getrennt. Deutlich wurde dann aber wieder: All diese Elemente überlagern sich in Kosellecks Fotografien permanent. Man findet deutlich erkennbar überindividuelle Versatzstücke bestimmter fotografischer Blicke – beispielsweise bildungsbürgerlich-touristische und künstlerische. Mitunter dominiert dabei auch eine Dimension der visuellen Praxis in Einzelbildern. Sie waren dann klar erkennbar primär Erinnerungshilfe, touristischer Schnappschuss oder künstlerische Formenspielerei. Der Regelfall war dies nicht. Alle hier herausgearbeiteten Elemente fügen sich in zahlreichen Bildern in der Überlagerung zu einem Hybrid: Zu einem spezifischen koselleckschen Sehstil der Entsprechungen zu seinen Denkbewegungen aufweist. Damit ist einerseits im Anschluss an die vorhandene Forschung zu Kosellecks Bildern behauptet, dass seine historiographische Deutungsarbeit keineswegs nur in Textform erfolgte, sondern die visuelle Dimension dabei eine besonders wichtige Rolle einnahm. In einer generelleren Perspektive lässt sich am Beispiel Kosellecks aber ein Weiteres hervorheben bzw. zuspitzen: Historiker sind ›bei der Arbeit‹ nie nur Historiker. Der Bildnachlass verdeutlicht plakativ, dass es sich bei der Geschichtswissenschaft vielmehr immer um eine hybride Praxis handelt: Sie umfasst das obsessive Sammeln, natürlich auch das bürgerliche Gelehrtenideal und eben auch den Spaß an ästhetischen Verweis- oder Formenspielen.

Abbildungen Abb. 1: Ausblick von der Klause Kastel auf die Saarschleife, August 2001, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck. Abb. 2: Reiterstandbild Friedrichs III auf der Kölner Hohenzollernbrücke, Februar 2001, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck. Abb. 3: Karussell vor der Skyline von La Défense in Paris, o. D., Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte  – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck. Abb. 4: Schattenwurf auf den Wänden des Mémorial des Martyrs de la Déportation in Paris, o. D., Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

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Abb. 5: Spiegelungen des Stephansdoms im Wiener Haas-Haus, April 2001, Fotograf: Reinhart Koselleck. Deutsches Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, Bildnachlass Reinhart Koselleck.

Abbildungsnachweis Abb. 1–5: © Bildarchiv Foto Marburg / Foto: Reinhart Koselleck.

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Kosellecks reflektierter Historismus Ausgerechnet in einem Aufsatz zum Thema ›Bürgerlichkeit‹ aus den frühen 1990er Jahren findet sich eine der zentralen Selbstverortungen Kosellecks und seines eigenen begriffsgeschichtlichen Zugriffs in der Vielfalt der geschichtswissenschaftlichen Theorietraditionen seiner Zeit. Darin bezeichnet er seinen Ansatz als »reflektierten Historismus in systematischer Absicht, die von der Sprache selber erzwungen wird«.1 Deutlich wird hier ›Historismus‹ im Sinne eines grundlegenden wissenschaftlichen Musters verwendet, und nicht im Sinne einer konservativen und zurecht obsolet gewordenen historiographischen Schule. Um dies zu bekräftigen und um zugleich auf die positiven Aspekte dieser Variante des ›Historismus‹ hinzuweisen, stehen diesem Begriff Attribute wie »reflektiert« und »systematisch« zur Seite sowie der Verweis auf die subjektunabhängige, strukturierende Eigenlogik der Sprache, deren Erforschung sich die Begriffsgeschichte verpflichtet habe. Koselleck hat den Begriff ›Historismus‹ allerdings nur selten als Selbstbezeichnung verwendet – nicht zuletzt, weil er sich der Negativkonnotationen dieses Begriffs nur allzu sehr bewusst war. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass Koselleck unter ›Historismus‹ eine Problemkonstellation des 20. Jahrhunderts verstand, die sich in der Frage kristallisierte, wie mit dem neuzeitlichen Kulturmuster der Historisierung2 umzugehen sei. Denn im angeführten Zitat findet sich wie wohl an keiner anderen Stelle in nuce Kosellecks Antwort auf diese Problemkonstellation ausgedrückt, worauf am Ende des Textes nochmals genauer eingegangen werden wird. Doch zuvor gilt es, den Begriff ›Historismus‹ selbst in seiner historisch gewachsenen Vieldeutigkeit in groben Umrissen sichtbar werden zu lassen, wobei es für das Verständnis unumgänglich ist, sich zunächst vor Augen zu führen, dass ›Historismus‹ in erster Linie einen Kampfbegriff darstellt, der seine Wirkkraft bis auf den heutigen Tag nicht eingebüßt hat. Ein asymmetrischer Begriff also, der meist zur Abgrenzung und heute kaum mehr als Selbstbezeichnung gebraucht wird. 1 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung. Exkurs II (Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der einmalig geprägten aristotelischen Bürger-Begriffe), in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 387–401, hier S. 399. Zuerst veröffentlicht unter dem Titel: »Von der alteuropäischen zur neuzeitlichen Bürgerschaft. Ihr politisch-sozialer Wandel im Medium von Begriffs-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichten«, in: ders. / Schreiner, Klaus (Hg.), Bürgerschaft. Rezeption und Innovation der Begrifflichkeit vom Hohen Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert, Stuttgart 1994, S. 11–20. 2 Vgl. Fulda, Daniel, Historicism as a Cultural Pattern. Practising a Mode of Thought, in: Journal of the Philosophy of History 4 (2010), S. 138–153.

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Das Anliegen dieses Aufsatzes ist es jedoch dezidiert nicht, der Frage nachzugehen, ob Koselleck nun eigentlich ein ›Historist‹ war, oder eben nicht. Denn das hieße nur, der polarisierenden Kraft dieses Kampfbegriffes anheimzufallen. Vielmehr soll versucht werden, jenes Innovations-Potential aufzuzeigen, welches sich in der Beschäftigung mit dem »Problem des Historismus« eröffnete. Es geht damit weder um essentialistische Kategorisierungen noch um apologetische Bewertungen von Kosellecks Werk, sondern allein um die Frage nach den Möglichkeiten, die der Begriff ›Historismus‹ im Sinne einer kulturellen Ressource3 bereithielt und für die geschichtswissenschaftliche Theoriebildung im Allgemeinen sowie die begriffsgeschichtliche Methodenentwicklung der Geschichtswissenschaft im Besonderen bieten konnte und vielleicht auch heute noch bieten kann. Was das methodische Vorgehen anbelangt, so sind die folgenden Überlegungen aus der Perspektive eines radikal historisierenden Denkens4 bzw. einer historistischen Aufklärung5 heraus entstanden.6 Mit Bezug auf Begriffsgeschichte bedeutet dies, nicht stets nur nach etwaigen Vorreitern für heutige Positionen zu fragen, sondern die einzelnen Akteure zunächst anhand ihrer eigenen, wechselnden Interessen und Problemwahrnehmungen in einen diachron entfalteten Denkraum narrativ einzubetten, dem ihr Werk in mehr oder minder kritischer Reflexion entstammte. Freilich kann hier nur ein solcher Strang zeitgenössischer 3 Der Ressourcen-Begriff ist hier entlehnt aus Ash, Mitchell, Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander, in: vom Bruch, Rüdiger (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002, S. 32–51. 4 Vgl. etwa Breidbach, Olaf, Radikale Historisierung. Kulturelle Selbstversicherungen im Postdarwinismus, Berlin 2011. 5 Vgl. Schnädelbach, Herbert, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg i. Br. 1974, S. 28 und ders., Philosophie in Deutschland, 1831–1933, Frankfurt a. M. 1983, S. 54 f. Schnädelbach spricht nunmehr auch von einem »analytischen Historismus«; vgl. ders., Geschichte als kulturelle Evolution, in: ders., Analytische und postana­ lytische Philosophie. Vorträge und Abhandlungen 4, Frankfurt a. M. 2004, S. 282–307, hier S. 300: »Die Einsicht in die narrative Konstruktion der Geschichte in der Historie nötigt uns zunächst zu einem Historismus neuer Art – zu einem ›analytischen Historismus‹, der sich die Ergebnisse der Analytischen Geschichtsphilosophie zu eigen gemacht hat. Dieser Historismus ist analytisch, weil er Natur und Geschichte nicht ontologisch, sondern gemäß ihren jeweiligen Konstitutionsbedingungen unterscheidet. […] Dies wird möglich, wenn wir uns daran erinnern, daß Evolution keine bloße Naturtatsache ist, sondern ein narratives Systematisierungsmodell mit starken Theorieelementen, das sich gleichermaßen auf Natürliches wie auf ›Kultürliches‹ anwenden läßt. Die kulturelle Evolution unterscheidet sich dadurch von der natürlichen, daß wir Menschen die prinzipielle Möglichkeit haben, die Evolutionsbedingungen Tradition, Variation und Selektion, denen wir wie alles Lebendige unterliegen, im Rahmen unserer wissenschaftlichen und technologischen Möglichkeiten zu thematisieren und zu ihnen praktisch Stellung zu nehmen.« 6 Vgl. auch Skinner, Quentin, Meaning and Understanding in the History of Ideas, in: ders., Visions of Politics. Bd. 1: Regarding Method, Cambridge 2002, S. 57–89. Zum Verhältnis von Cambridge-Schule und Begriffsgeschichte siehe Palonen, Kari, Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Münster 2003.

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Problemwahrnehmungen aufgegriffen und grob skizziert werden, nämlich die Herausforderung durch das Problem des ›Historismus‹, die sich in der Entwicklung der Begriffsgeschichte insgesamt und auch konkret in den verschiedenen Phasen von Kosellecks Werk in je veränderter Form beobachten lässt. Andererseits gilt es bei allzu offensichtlichen Brüchen und Inkonsistenzen in einem Werk zu vermeiden, diese argumentativ einzuebnen bzw. ihre Bedeutung herunterzuspielen. Im Falle Kosellecks ist deshalb zu fragen, ob seine Historik und Theorie historischer Zeiten wirklich schon in ihren Grundzügen feststanden, als er sich in den frühen 1950er Jahren mit Carl Schmitt über die Notwendigkeit einer neuen Geschichtsontologie austauschte.7 Ober ob nicht vielleicht ­Kosellecks Bereitschaft, viele seiner zentralen historiographischen Thesen (insb. zur »Sattelzeit«8) im Alter selbstkritisch zu hinterfragen, selbst wiederum durch die Auseinandersetzung mit dem ›Historismus‹ und dem damit verbundenen Kulturmuster der Historisierung ermöglicht wurde. Für den hier verfolgten Zusammenhang bedeutet dies schließlich auch, dass weder die Frage, woher oder worin die Tradition der Begriffsgeschichte entsprang, noch die Stilisierung einzelner Personen zu »Diskursbegründern« im Zentrum der Betrachtung steht, sondern die Skizzierung einiger ausgewählter Verknüpfungen, Kopplungen und »Konstellationen«9, in denen der Zusammenhang von ›Histo­ rismus‹ und Begriffsgeschichte verhandelt wurde.10 Aus diesen methodischen Überlegungen ergibt sich, wenig überraschend, ein narrativer Vorrang der Diachronie gegenüber der Synchronie, insofern zunächst (Teil I) verschiedene Verflechtungs- und Kopplungsprozesse zwischen der im Entstehen befindlichen deutschsprachigen historischen Semantik bzw. Begriffsgeschichte einerseits und andererseits der für ihre Entwicklung maßgebliche »Ressource« eines problematisierten ›Historismus‹ zwischen den 1920er und 1950er Jahren zu skizzieren sind. Darauf aufbauend wird auch durch punktuelle Vergleiche mit anderen zeitgenössischen Positionen, der Verlauf von Reinhart Kosellecks eigener Methoden- und Theoriebildung umrissen (Teil II). Schließlich wird noch einmal das produktive Potenzial der begriffsgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Problemfeld des ›Historismus‹ aufgegriffen.

7 So etwa Olsen, Niklas, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck, and the Foundations of History and Politics, in: History of European Ideas 37/2 (2011), S. 197–208, hier S. 208. 8 Vgl. etwa Koselleck, Reinhart, Das achtzehnte Jahrhundert als Beginn der Neuzeit, in: ders. / Herzog, Reinhart (Hg.), Epochenschwelle und Epochenbewußtsein, München 1987, S. 269–282. 9 Vgl. zu diesem bereits bei Walter Benjamin anzutreffenden Terminus Mulsow, Martin  / ​ Stamm, Marcelo (Hg.), Konstellationsforschung, Frankfurt a. M. 2005. 10 Was die prinzipielle Gleichrangigkeit verschiedener Beobachtungsformen voraussetzt. Vgl. hierzu etwa Luhmann, Niklas, Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, S. 85.

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I. Die Begriffsgeschichte von ›Historismus‹ Fragt man nach der Geschichte des ›Historismus‹,11 so kommt unweigerlich der Name Rankes in den Sinn; vielleicht auch noch derjenige Droysens, Diltheys, Treitschkes oder Meineckes. Auch Nietzsches fundamentale Kritik an dieser deutschen ›Historischen Schule‹ – so die eigentlich zeitgenössische Bezeichnung12 – in seinen zweiten Unzeitgemäßen Betrachtungen gehört in diesen Zusammenhang.13 Doch streng nominalistisch bzw. rein wortgeschichtlich betrachtet, so handelt es sich bei ›Historismus‹ viel eher um einen Grundbegriff des 20. und weniger des 19. Jahrhunderts. Denn erst nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich ein massenhafter Gebrauch dieses Begriffes im deutschen Sprachraum nachweisen und vollends wird er wohl erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfahrungsgesättigt.14 Lassen wir uns auf diesen Blickwinkel ein und betrachten zunächst die frühen Verwendungsweisen dieses Wortes bis hinein in die 1950er Jahre, ohne zugleich immer schon darunter den erst viel später vorherrschend gewordenen Sammelbegriff für eine ganze geisteswissenschaftliche Epoche15 oder eines etwa von Jörn Rüsen beschriebenen historiographiegeschichtlichen Paradigmas zu verstehen.16 11 Vgl. einleitend hierzu weiterhin Scholtz, Gunter, Historismus, Historizismus, in: ­Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWPh), hg. von Joachim Ritter, Bd. 3, Basel 1974, Sp. ­1141–1147 und Wittkau, Annette, Historismus. Zur Geschichte des Begriffs und des Problems, Göttingen 1994. 12 Vgl. Harstick, Hans-Peter, Historische Schule, in: HWPh, Bd. 3, Sp. 1137–1141. 13 Vgl. Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben [1872], in: ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden [KSA], hg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Bd. 1, München 2 1988, S. 248–334. Vgl. auch Schulin, Ernst, Zeitgemäße Historie um 1870. Zu Nietzsche, Burckhardt und zum »Historismus«, in: Historische Zeitschrift 281 (2005), S. 33–58. Der Begriff ›Historismus‹ findet sich bei Nietzsche nur sehr selten, und wenn, dann nicht im Sinne einer bestimmten historiographischen Schule, sondern als ein skeptisch-differenzierendes Denken, das besonders die Bewegung und den Wandel in der Geschichte in den Blick nimmt: »19. Jahrhundert, Reaktion: man suchte die Grundprincipien alles dessen, was Bestand gehabt hatte, und suchte dies als wahr zu beweisen. Bestand, Fruchtbarkeit und gutes Gewissen galten als Indicium der Wahrheit! Dies die conservative Gesinnung […] – Jetzt ein Rückschlag! Die Historie bewies zuletzt etwas anderes als man wollte: sie erwies sich als das sicherste Vernichtungsmittel jener Principien. Darwin. Anderseits der skeptische Historismus als Nachwirkung, das Nachempfinden. Man lernte in der Geschichte die bewegenden Kräfte besser kennen, nicht unsere »schönen« Ideen!« (Nietzsche, Friedrich, Nachgelassene Fragmente: Frühjahr 1880 bis Frühjahr 1881, 10[D88], in: ders., KSA 9, S. 433 f. (Hervor­ hebung im Original)). 14 Folgt man Ernst Schulin, so fanden die »Historismuskrisen« zu Beginn des 20. Jahrhunderts sogar noch »außerhalb« der Geschichtswissenschaft statt. Vgl. Schulin, Zeitgemäße Historie, S. 55. 15 Vgl. Beiser, Frederick C., The German Historicist Tradition, Oxford 2011. 16 Vgl. Rüsen, Jörn, Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a. M. 1993 und Jaeger, Friedrich / Rüsen, Jörn, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992.

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Vier Entwicklungsphasen des Begriffs sind dabei in Bezug auf die Genese der Begriffsgeschichte von besonderer Bedeutung. Zunächst findet sich etwa bei den Philosophen Friedrich Adolf Trendelenburg (1802–1872) und dessen Schüler Gustav Teichmüller (1832–1888),17 der Gottfried Gabriel zufolge als der eigentliche »Begründer der Begriffsgeschichte« gelten darf,18 eine Kritik an Hegel und der mit diesem verknüpften, Systematik und Abgeschlossenheit anstrebenden idealistischen Philosophie. Stattdessen zielte die von Trendelenburg und Teichmüller vorgelegte philosophische Begriffsgeschichte auf die Sammlung und Darlegung der historisch gewachsenen Vielfalt philosophischer ›Grundbegriffe‹. Begriffe aus dem Kontext ihrer Genese heraus zu verstehen, bedeute aber zugleich den Verzicht darauf, »die Theorien der Alten immer mit einer kritischen Sauce modernen Räsonnements«19 zu servieren, wie Gustav Teichmüller (1832–1888) forderte. Diese Absage an den allumfassenden Erklärungs- und Geltungsanspruch der Hegelschen Systemphilosophie und an die daraus resultierenden unkritischen, da nicht historisch differenzierenden Anachronismen und Reduktionismen sollte jedoch nicht vorschnell als »Antimodernismus und Antihistorismus« abgetan werden.20 Denn es ist zwar zutreffend, dass beiden Philosophen Begriffe selbst als nicht wandelbar galten. Begriffe waren für Teichmüller vielmehr »unveränderlich zugehauene[] Bausteine«21 und damit gleichsam ahistorische theoretische Modelle. Doch er war zugleich davon überzeugt, dass sich diese »systematisch bestimmten Grundformen […] in allen Jahrhunderten wiederholen«.22 Zumindest in diesen Zitaten wird nicht essentialistische Kontinuität, sondern verändernde Aktualisierung thematisiert, auch wenn diese bei Teichmüller bisweilen als Verfallsgeschichte dargestellt wird. Trotz aller Unterschiede und ohne eine direkte Verbindungslinie ziehen zu wollen, findet sich in diesem Punkt doch auch eine Ähnlichkeit zu Reinhart Koselleck, der ebenfalls von der prinzipiellen Wiederholbarkeit einmal geprägter Begriffsschichten überzeugt war, die er wiederum mit Herders, aus der Kritik Kants gewonnenen These von der »Relativität der Zeit im Spektrum vielfältiger Zeiten«23 theoretisch fundierte. Was Koselleck mit dem 17 Zu Trendelenburg und Teichmüller vgl. zusammenfassend Müller, Ernst / Schmieder, Falko, Begriffsgeschichte und Historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Berlin 2016, S. 64–73. 18 Vgl. Gabriel, Gottfried, Die Bedeutung von Begriffsgeschichte und Metaphorologie für eine systematische Philosophie, in: Strosetzki, Christoph (Hg.), Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte (Archiv für Begriffsgeschichte. Sonderheft 8), Hamburg 2010, S. 17–28, hier S. 92. 19 Teichmüller, Gustav, Studien zur Geschichte der Begriffe, Berlin 1874, S. V. 20 So Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 61. 21 Teichmüller, Gustav, Die wirkliche und die scheinbare Welt. Neue Grundlegung der Metaphysik, Breslau 1882, S. XXIII. Hier zitiert nach Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 63. 22 Teichmüller, Gustav, Religionsphilosophie, Breslau 1886, S. 109. Hier zitiert in Müller  / ​ Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 63. 23 Koselleck, Reinhart, Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Car­ sten Dutt, Berlin 2010, S. 96–114, hier S. 102.

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Rückbezug auf Herder einforderte, war also eine Historisierung und Differenzierung jener eindimensionalen, anti-pluralistischen, weil bloß gegenwartslegitimierenden Meistererzählungen. Herder stand in Kosellecks Augen für ein positives Interesse an der Alterität des Vergangenen: »Die Andersartigkeit der Vergangenheit wurde langsam aufbereitet, und der sogenannte Historismus ist sozusagen nur die wissenschaftliche Durchführung eines theoretischen Programms aus dem 18. Jahrhundert: nämlich die Vergangenheit auf ihre Andersartigkeit hin zu untersuchen, in der Hoffnung, daß die Zukunft auch anders werde als die Gegenwart.«24 Diesen (weithin noch unreflektierten) skeptischen Impuls gegen eine über­ mäßige Systematisierung und Verabsolutierung, gegen übermäßige Homogenisierung und Anachronismus teilten auch Trendelenburg und Teichmüller, freilich ohne je auch nur ansatzweise an jene »Einsicht in die Geschichtlichkeit der Begriffe« heranzureichen, die heute als Mindeststandard der Begriffsgeschichte erachtet wird.25 Vielmehr war es ein Schüler von Teichmüller, der begriffsgeschichtlich arbeitende Philosoph und Nobelpreisträger Rudolf Eucken (1846–1926), der um 1900 Nietzsches Kritik an einem »Zuviel geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis« erstmals auf den Begriff des ›Historismus‹ brachte.26 Und in diesem Sinne hat auch der Theologe Ernst Troeltsch (1865–1923) das Wort ›Historismus‹ bereits als ein »Scheltwort« angetroffen.27 Denn die zweite Station bildet Troeltschs Diagnose einer »Krisis des Historismus«.28 Was zuvor nur als einzelne, voneinander unabhängige Probleme angesehen wurde, wird nun zusammengefasst und zur Gegenwartsfrage schlechthin erklärt. Problemgeschichtlich betrachtet, wurden die damit umschriebenen kultur- und sozialgeschichtlichen Veränderungen freilich schon lange vor Troeltsch verhandelt, aber erst Troeltsch bündelte sie in einer neuen, sehr anregenden Art und Weise und brachte sie – wenn man so will – ›auf den Begriff‹.29 Das Wort ›Historismus‹ selbst war indes, wie angedeutet, weder neu noch eindeutig.30 Vor allem in Debatten innerhalb der Nationalökonomie und der 24 Koselleck, Reinhart, Zur Begriffsgeschichte der Zeitutopie, in: ders., Begriffsgeschichten, S. 252–273, hier S. 261. 25 Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 63. 26 Vgl. Wittkau, Historismus, S. 123 f. 27 Ebd., S. 150. 28 Troeltsch, Ernst, Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Band 16/1+2, Berlin 2008. Zu Person und Werk vgl. Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), »Geschichte durch Geschichte überwinden«. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006. 29 Vgl. hierzu Oexle, Otto Gerhard, Krise des Historismus, Krise der Wirklichkeit. Eine Pro­ blemgeschichte der Moderne, in: ders. (Hg.), Krise des Historismus, Krise der Wirklichkeit, Göttingen 2007, S. 11–116. 30 Scholtz unterscheidet fünf verschiedene Grundbedeutungen von ›Historismus‹ von der Romantik bis in die 1920er Jahre: »1. universelle geschichtliche Betrachtung, 2. Geschichtsmetaphysik, 3. Romantizismus und Traditionalismus, 4. Objektivismus und Positivismus, 5. Relativismus« (Scholtz, Gunter, Das Historismusproblem und die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert, in: ders., Zwischen Wissenschaftsanspruch und Orientierungsbedürfnis.

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Rechtswissenschaft während der 1880er Jahre zeigte sich das polemische Potential des Begriffs erstmals deutlich. Doch diese Auseinandersetzungen blieben auf einen kleinen Kreis von Fachwissenschaftlern beschränkt und fanden kaum Eingang ins öffentliche Bewusstsein. Dies änderte sich erst mit Troeltsch, wie Annette Wittkau und Otto Gerhard Oexle gezeigt haben.31 Vereinfacht gesagt bestand Troeltschs Beitrag zur Popularisierung des Historismus-Begriffs vor allem darin, zwei Kulturmuster miteinander zu verknüpfen, die bis dahin keineswegs zwangsläufig zusammengehörten, nämlich ›Geschichtlichkeit‹32 und ›Kontingenz‹.33 Das Gegenteil war vielmehr bis dahin vorherrschend, denn wie Koselleck meinte, habe die »historische Schule des 19. Jahrhunderts [..] den Zufall bis auf den letzten Rest verzehrt«, da sie mit ihrem »Theologem von der Singularität alles Irdischen in Hinblick auf Gott« und ihrer »ästhetische[n] Kategorie von der inneren Einheit einer Geschichte«, welche zusammen die Grundlagen für den modernen Begriff der ›Geschichte‹ bildeten, keinen Raum mehr ließ für den »Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung«.34 Doch Troeltsch stellte  – ganz im Gegensatz zum heutigen Begriffsgebrauch – seinen ›Historismus‹ in Frontstellung gegen ›Positivismus‹ und ›Naturalismus‹, mithin gegen jede Form teleologischer und deterministischer Geschichtsschreibung.35 Trägt diese Interpretation von Troeltschs Werk, so war es ausgerechnet ein Theologe, der die Krise des Historismus als Resultat von Spannungen und Widersprüchlichkeiten darstellte, ohne sie zugleich als unumkehrbare »Diskontinuität« zu verabsolutieren oder essentialisieren.36 Troeltsch befreite so Zu Grundlage und Wandel der Geisteswissenschaften, Frankfurt a. M. 1991, S. 130–157, hier S. 132 f.). 31 Vgl. Wittkau, Annette, Zur Entstehung der Mehrdeutigkeit des Historismusbegriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 5–19, hier insb. S. 6. 32 Vgl. Bauer, Gerhard, »Geschichtlichkeit«. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963, S. 139. 33 Vgl. hierzu Fulda, Historicism; sowie Hoffmann, Arnd, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2005. 34 Koselleck, Reinhart, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 158–175, hier S. 170, 173. Auf den Umstand, dass die Begriffe ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹ nicht vollständig synonym sind, wird noch einzugehen sein. Zur Kritik an diesem Historismus-Verständnis Kosellecks siehe Vogt, Peter, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011, S. 349–392. Vogt beschreibt den ›Historismus‹ in Anlehnung an Odo Marquardt als besonders aufgeschlossen gegenüber dem schicksalhaft Zufälligen. Siehe auch Makropoulos, Michael, Historische Semantik und Positivität der Kontingenz. Modernitätstheoretische Motive bei Reinhart Koselleck, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 481–512. 35 Vgl. Troeltsch, Ernst, Die Bedeutung des Begriffs der Kontingenz, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 20/6 (1910), S. 421–430. Siehe auch Knöbl, Wolfgang, Die Kontingenz der Moderne. Wege in Europa, Asien und Amerika, Frankfurt a. M. 2007, S. 194 f. 36 Zur Kritik der neuzeitlichen Ideologie der »Diskontinuität« siehe Koebner, Richard, Die Idee der Zeitwende [1941–1943], in: ders., Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende. Vorträge und Schriften aus dem Nachlaß, Gerlingen 1990, S. 147–193.

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die ›Kontingenz‹ von ihren theologischen und ästhetischen Zwängen und öffnete sie somit gleichsam für ihre Verknüpfung mit der Vorstellung der prinzipiellen Veränderlichkeit, Umstrittenheit und Wiederholbarkeit jeglicher Semantik, die auch Kosellecks »Bemühungen um ein radikal kontingenzbewußtes Geschichtsverständnis«37 prägen sollten. Im Verlauf der 1920er Jahre setzte die dritte wortgeschichtliche Phase in der Genese des Historismus-Begriffs ein, in der allererst der ›Historismus‹ zu einem massenfähigen Kampfbegriff heranwuchs.38 Troeltschs Verwendung von ›Historismus‹ war, trotz der Problematisierung von dessen Nebenfolgen, noch ein Versuch, »den Begriff ›Historismus‹ völlig von seinem (seit den Anfängen der Begriffsgeschichte üblichen) negativen Klang zu befreien.«39 Als notwendige Begleiterscheinung einer sich zunehmend liberalisierenden modernen Welt brachte der ›Historismus‹ Negativfolgen mit sich, die Troeltsch aber noch als beherrschbar erschienen.40 Troeltsch unterschied deshalb zwischen dem »Scheltwort« ›Historismus‹, das auf die »Entschlußkraft schwächende historische Bildung« zielte, und einem »sachlichen Sinn« des Wortes ›Historismus‹, welches die »Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt [bezeichnete], wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhundert geworden ist.«41 In der popularisierenden Rezeption von Troeltschs Krise-des-Historismus-Diagnose entwickelte sich jedoch ein neuer Kampfbegriff, der vor allem im Bereich der Geschichtswissenschaft den bis dahin gängigen Feindbegriff des ›Positivismus‹ inkorporieren und damit zugleich aufheben sollte. Es handele sich gleichsam um die »Gerinnung« (um eine Metapher Kosellecks zu verwenden) des stets auch 37 Joas, Hans / Vogt, Peter, Einleitung, in: dies., Begriffene Geschichte., S. 9–54, hier S. 12. Müller und Schmieder kritisieren diesen Ansatz wiederum als zu »einseitig«, was ihrerseits daraus resultiert, dasie von einem (keineswegs notwendigen) Zusammenhang von ›Kontingenz‹, Historizität‹ und ›Diskontinuität‹ ausgehen (dies., Begriffsgeschichte und historische Semantik, S. 279). Notwendig ist vielmehr die Kopplung von ›Kontingenz‹ und ›Indeterminiertheit‹ im Sinne eines ›es hätte auch anders sein können‹, womit eine Veränderlichkeit durch den Menschen gemeint ist. Vgl. Makropoulos, Michael, Modernität und Kontingenz, München 1997, S. 17 f. 38 Vgl. Koselleck, Reinhart Geschichte. VI.3. Die aufreißende Kluft zwischen Erfahrung und Erwartung, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 702–706, hier S. 706: »Erst im 20. Jahrhundert griff die von Feuerbach gestiftete negative Bedeutung [von ›Historismus‹] um sich, die Verfallenheit an eine bereits abgestorbene Vergangenheit meinend, – wogegen Troeltsch, Meinecke oder Rothacker die unüberholbare Erfahrung geschichtlicher Relativität und ihre wissenschaftliche Verarbeitung betonten. So hat die neuzeitliche Geschichte rund hundert Jahre nach ihrem Beginn einen ihr korrespondierenden Bewegungs-und Reflexionsbegriff evoziert, der heute wiederum einer scharfen Ideologiekritik unterzogen wird.« 39 Wittkau, Historismus, S. 149. 40 Ebd., S. 151. 41 Troeltsch, Ernst, Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau 33 (1922), S. 572–590, hier S. 572 f. Hier zitiert in Wittkau, Historismus, S. 150.

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negativ-geprägten ›Historismus‹ zu einem asymmetrischen Kampfbegriff.42 So findet sich etwa im Eintrag »Historismus« in der 1928 erschienenen zweiten Auflage von Religion in Geschichte und Gegenwart die Beobachtung, dass der ›Historismus‹ nunmehr zu einer »Gegenwartsfrage« geworden sei »durch eine eigentümliche Abwandlung seiner Erscheinung und eine entsprechende Zuspitzung des Begriffs.«43 Auch Karl Lamprecht richtete sich mit seiner »auf Begriffen beruhende[n], wahrhaft wissenschaftliche[n] Methode«44 bereits um 1900 explizit gegen den »unfruchtbaren Historismus der Geisteswissenschaften der fünfziger bis siebziger Jahre«45 und dessen bloß »künstlerischer« Ideenlehre. Theodor Lessing kritisierte hingegen in den 1920er Jahren vermittels des Begriffs ›Historismus‹ das westliche Machtstreben, welches in Form einer ›Geschichte der Sieger‹ zum Ausdruck komme: »Evolutionismus und Historismus kommen aus dem selben ameriko-europäischen Machtwillen. Man macht den Erfolg zum Maßstab eines Sinnes, und so muß denn freilich alles, was Erfolg gewinnt, sinnvoll sein.«46

Auch in Kosellecks ›Historismus‹-Verständnis findet sich ein machtpolitischer Aspekt, der allerdings in gewissem Gegensatz zu demjenigen Lessings steht: Einerseits vertritt Koselleck die Vorstellung, dass der ›Historismus‹ (und die nachfolgenden liberalen, demokratischen und sozialistischen Geschichtsbilder) von dem Deutungsmuster geprägt gewesen sei, wonach »die Weltgeschichte als offene Ganzheit […] unter dem rationalen Zwang [stehe], progressiv die menschliche Machtentfaltung […] in gerechte Zustände zu überführen.«47 Zweitens erschließt Koselleck jedoch auch eine machtkritische Dimension in seinem Historismus-­ Begriff, wenn er darauf hinweist, »daß selbst die Ideologiekritik nur eine Variante des Historismus ist, der von der ›Geschichte an sich‹ lebt, die es ›an sich‹ gar nicht gibt.«48 42 Vgl. Dutt, Carsten, Nachwort. Zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks, in: Koselleck, Begriffsgeschichten, S. 529–540, hier S. 532. Dutt zitiert aus Kosellecks Einleitungsentwurf wie folgt: »Die Schubkraft einmal geronnener Begriffe reicht durch Jahrhunderte. Ihre semantische Ladung läßt sich nicht abkappen und bleibt allen späteren Versuchen der Umoder Neusemantisierung anregend und begrenzend vorgeordnet.« 43 Rust, Hans, Historismus, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 21928, Sp. 1938–1940, hier Sp. 1939. 44 Lamprecht, Karl, Die kulturhistorische Methode, Berlin 1900, S. 29 (Hervorhebung im Original). 45 Lamprecht, Karl, Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Vorträge, Freiburg i. Br. 1905, S. 12. 46 Lessing, Theodor, Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. Oder die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, Leipzig 41927, S. 241. 47 Koselleck, Reinhart, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 336–358, hier S. 347. 48 Koselleck, Reinhart, Wozu noch Historie?, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 32–51, hier S. 44. Siehe auch ders., ›Neuzeit‹. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders, Vergangene Zukunft, S. 300–348, hier S. 347. Inwiefern die Koppelung von Ideologiekritik und Historismus als eine Abwehrstrategie gegen die an Koselleck selbst gerichteten Historismus-Vorwürfe fungierte, darauf kann hier nicht eingegangen werden.

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Nicht wenige Zeitgenossen aus dem (meist protestantischen) Bildungsbürger­ tum waren bei entschiedener Ablehnung seiner Nebenfolgen doch von der grundsätzlichen Richtigkeit bzw. Berechtigung des ›Historismus‹ überzeugt. Und dies wohl auch deshalb, weil sie unter dem Historismus-Begriff zunehmend jene Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zu subsumieren lernten, der es doch vermeintlich gelungen war, zumindest für eine gewisse Zeit die Zumutung der relativierenden Geschichtlichkeit allen Seins mit dem Glauben an überzeitliche, ewige Ideen zu kompensieren. Zu Recht hat man deshalb auch das Geschichtsbild des bürgerlichen 19. Jahrhunderts in Anlehnung an Max Weber als »Geschichtsreligion«49 bzw. als »letzte Religion der Gebildeten Europas«50 bezeichnet. Der Kulturanthropologe und Begriffshistoriker Erich Rothacker etwa brachte dieses Selbstverständnis zum Ausdruck, wenn er, Friedrich Meinecke beipflichtend, dem ›Historismus‹ die Leistung zusprach, »den seit 1750 neu gewonnenen Erfahrungsgehalt des historischen und schöpferischen Bewußtseins in das Weltbewußtsein einzuarbeiten.«51 Entsprechend war in den Augen des ebenfalls begriffsgeschichtlich arbeitenden Pädagogen Eduard Spranger (1882–1963)52 nicht diese überkommene Gelehrtenreligion das eigentliche Problem, sondern der Zusammenbruch derselben.53 Spranger unterscheidet im Rückblick auf seine Berliner Studienzeit um 1900 drei zwar zusammenhängende, doch verschieden akzentuierte Dimensionen des zeitgenössischen Streits um das »Historismus-Problem«, das er zugleich aufs engste mit der modernen und liberalen Großstadtkultur Berlins der Jahrhundertwende und ihren prominenten Vertretern verknüpft sah. Demnach sei erstens um 1900 infolge der Rezeption der Werke Wilhelm Diltheys (1833–1911) ein »auffallende[r] Wandel der Terminologie« angestoßen worden, denn dieser »spricht nicht einfach von ›der‹ Geschichte, sondern vom ›historischen Bewusstsein‹.«54 Eine gängige Interpretation von Diltheys Hinwendung zum Geschichtsbewusstsein war es demzufolge, »daß wir die geschichtliche Welt nicht einfach ›haben‹, nicht so abbilden, wie sie ›gegeben‹ ist, sondern daß wir sie im Wissen erst aufbauen.«55 Was Spranger nicht erwähnt, 49 Vgl. Hardtwig, Wolfgang, Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in: ders., Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttingen 2005, S. 51–76. 50 Vgl. Rüsen / Jaeger, Historismus, S. 78. 51 Rothacker, Erich, Historismus, in: Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reiche 62 (1938), S. 388–399, hier S. 399. 52 Vgl. auch Ortmeyer, Benjamin, Mythos und Pathos statt Logos und Ethos. Zu den Publikationen führender Erziehungswissenschaftler in der NS-Zeit: Eduard Spranger, Herman Nohl, Erich Weniger und Peter Petersen, Weinheim 2009. 53 Zu den unterschiedlichen Arten, die ›Krise des Historismus‹ aufzufassen vgl. etwa Oexle, Krise und Paul, Herman, A Collapse of Trust. Reconceptualizing the Crisis of Historicism, in: Journal of the Philosophy of History 2/1 (2008), S. 63–82. 54 Spranger, Eduard, Das Historismusproblem an der Universität Berlin seit 1900 [1960], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V: Kulturphilosophie und Kulturkritik, hg. von Hans Wenke, Tübingen 1969, S. 430–446, hier S. 431. 55 Ebd. (Hervorhebung im Original).

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ist freilich der Umstand, dass Dilthey sich selbst nicht als ›Historist‹ bezeichnet wissen wollte, wie aus seinem Briefwechsel mit Edmund Husserl hervorgeht.56 Mit Ernst Troeltsch verband Eduard Spranger »eine andere Spielart des Historismus«57, denn stärker noch als Dilthey habe Troeltsch das »für die Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert durchweg brennend gewordene Standortproblem der Wissenschaft sichtbar«58 werden lassen. Was Kant als Kopernikanische Wendung angestoßen hatte, wurde bei Troeltsch nun gleichsam zugespitzt, radikalisiert und somit in seiner Problematik offen gelegt: Wenn es die Sicherheit durch die Allgemeingültigkeit und Zeitüberlegenheit eines transzendentalen Bewusstseins, wie Kant es noch als Bedingung aller Erkenntnis angenommen hatte, nicht mehr gab, dann war nun die Darstellung der Geschichte allein abhängig vom gegenwartsgebundenen Bewusstsein des Historikers, das seinerseits wiederum aber selbst nur ein geschichtlich bedingtes Produkt kultureller Objektivitäten darstellte: »Die Geschichte entscheidet über das Subjekt, das Subjekt wiederum nimmt deutend und richtend Stellung zur Geschichte.«59 Dieses Dilemma sichtbar zu machen, war Spranger zufolge Troeltschs zentrale Leistung und zugleich der Punkt, an dem sein lebensphilosophisch inspirierter Lösungsversuch scheitern sollte. Was blieb, war die resignierte Einsicht, dass der Maßstab für die Geschichtsschreibung im »Mitleben der großen menschlichen Kämpfe, in dem hypothetischen Nach­empfinden der verschiedenen kämpfenden Gestaltungen […] praktisch und persönlich immer neu gewonnen und erlebt werden«60 müsse. Geschichtsschreibung als nie enden wollende Sisyphusarbeit, oder – mit Koselleck später positiv gewendet – als konstantes Umschreiben und stete Re-Interpretation. Schließlich habe Spranger zufolge auch Friedrich Meinecke (1862–1954) eine weitere, dritte Strömung in der Historismus-Diskussion nach 1900 verkörpert, insofern sein Werk nicht erst durch seine 1936 erschienene Schrift zur Entstehung des Historismus61 ein deutlich positiveres Licht auf den ›Historismus‹ zu werfen versuchte: »Meinecke hingegen redet vom Historismus in rühmendem Ton; er sieht in ihm eine Gipfelleistung der Neuzeit, die eine gewaltige Vertiefung der Weltanschauung gebracht hat. […] Der Historiker muß in der Erkenntnis des Einzigartigen und Wandelbaren eine Bereicherung erblicken, da die ›Breite der Gottheit‹ (Goethe) durch sie offenbar wird.«62 Meinecke glaubte in der Spannung 56 Wilhelm Dilthey an Edmund Husserl, 29.6.1911, abgedruckt in Rodi, Frithjof / Lessing, HansUlrich (Hg.), Materialien zur Philosophie Wilhelm Diltheys, Frankfurt a. M. 1984, S. 110– 114, hier S. 112: »Ich bin hiernach weder ein Anschauungsphilosoph, noch ein Historist, noch ein Skeptiker«. 57 Spranger, Historismusproblem, S. 433. 58 Ebd., S. 436 (Hervorhebung im Original). 59 Ebd., S. 439. 60 Troeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte, Tübingen 2 1912, S. 65. Hier zitiert in Spranger, Historismusproblem, S. 440. 61 Vgl. Meinecke, Friedrich, Die Entstehung des Historismus., in: ders., Werke. Bd. 3, hg. von Carl Hinrichs, München 41965. 62 Spranger, Historismusproblem, S. 443.

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zwischen dem klaren Bekenntnis zum Satz individuum est ineffabile, den er in Goethes spezifischer Lesart zur Quintessenz und Wahlspruch des ›Historismus‹ erklärte,63 einerseits und dem leidenschaftlichen Interesse für die Erkenntnis eben dieses Individuellen und Singulären in der Geschichte andererseits, die unerschöpfliche Triebkraft für die Beschäftigung mit der Geschichte erkannt zu haben. Dem Pädagogen Spranger zufolge lag der entscheidende Beitrag von Meineckes Historismus-Begriff deshalb auch in der Betonung des Bildungsauftrages der Geschichtsschreibung, der eben darin bestehen müsse, »die Möglichkeit schöpferischer Entwicklungen, die ganz einzigartig sein können«64, zu betonen und gerade nicht die Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung. Moderner ausgedrückt war es Meinecke also daran gelegen, ein Bewusstsein für die grundsätzliche Kontingenz65 der menschlichen Existenz zu wecken. Damit stellte sich Meinecke in den Augen seiner Zeitgenossen ganz bewusst auch gegen Friedrich Nietzsche, der fürchtete  – wie Spranger es formulierte  –, »daß das Wissen um zahllose Varietäten und Relativitäten des Historischen die Kraft zum Handeln lähmen könnte.«66 Doch es waren viele, die Nietzsches Angst vor der vermeintlich lebensfeindlichen Kraft historischer Differenzierungen, Kontextualisierungen und Relativierungen teilten. Für die Zwischenkriegszeit hat man deshalb gar als von einer »antihistoristischen Revolution«67 gesprochen, die weit über den Bereich der Geisteswissenschaften hinaus den öffentlichen Diskurs durch die Vorstellung prägte, der ›Historismus‹ müsse endgültig ›überwunden‹ werden. Dies ist der vierte Schritt in der Auseinandersetzung mit dem nunmehr vollends problematisch gewordenen ›Historismus‹, der für die Herausbildung der Begriffsgeschichte von Bedeutung 63 Meinecke wählte als Motto seines Historismus-Buches folgendes Zitat aus einem Brief Goethes an Lavater aus dem Jahr 1780: »Habe ich Dir das Wort Individuum est ineffabile, woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?« (Meinecke, Entstehung des Historismus, S. [XLXII]). Zu den soziostrukturellen Bedingungen der Individualitätssemantik und den semantischen Umbrüchen im 18. Jahrhundert vgl. außerdem Luhmann, Niklas, Individuum, Individualität, Individualismus, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1993, S. 149–258. 64 Spranger, Historismusproblem, S. 444. 65 Vgl. hierzu Luhmann, Niklas, Kontingenz als Eigenwert der modernen Gesellschaft, in: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 93–128; Makropoulos, Michael, Modernität und Kontingenz, München 1997; Lübbe, Hermann, Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung, in: von Graevenitz, Gerhart / Marquard, Odo (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. 35–47 und Hoffmann, Arnd, Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2005. 66 Spranger, Historismusproblem, S. 445. 67 Vgl. Nowak, Kurt, Die »antihistoristische Revolution«. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Renz, Horst / Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.), Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S. 133–171; Doering-Manteuffel, Anselm, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, S. 91–119.

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war. Auch Koselleck betonte, dass nach dem Ersten Weltkrieg »die Geistes- und Sozialwissenschaften dem Prozeß einer rapide um sich greifenden Enthistorisierung erlegen«68 seien und aufgrund dieses »antihistoristischen Vorbehalts« wurde »die Historie um ein ihr spezifisch zugeordnetes Objekt gebracht«, wodurch »nur noch die historische Methode übrig [blieb], deren sich die anderen Wissenschaften subsidiär bedienen.«69 Der historische Ausgangspunkt für die Etablierung dieser sich zunehmend radikalisierenden Strömung war die Wahrnehmung einer »Doppelkrise«70: Die vermeintliche Relativierung allen Wissens und der Verlust der Einheit der Wissenschaft traf in den Augen vieler Zeitgenossen zusammen mit einer politischsozialen Legitimationskrise, die zusammengefasst als »Krise des Historismus« geradezu zur Herausbildung einer »antihistoristischen Revolution« herausforderte, die auf Grundlage ihres »radikalen Ordnungsdenkens«71 einen kulturellen und politischen »Aufbruch«72 anstrebte und zugleich die unter dem Begriff des ›Historismus‹ zusammengefassten vermeintlichen »Probleme« von Pluralität, Vereinzelung, Werterelativismus und »transzendentaler Obdachlosigkeit«73 mit einer Zeitwende hin zu einer »ewigen Gegenwart« überwinden wollten.74 Mit Anselm Doering-Manteuffel kann dieses antihistoristische Ordnungsdenken als ein antiliberales, aber zugleich als ein spezifisch modernes Modell des social engineering verstanden werden, welches im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Mitteleuropa vorgeherrscht hat.75 68 Koselleck, Wozu noch Historie?, S. 33. 69 Ebd., S. 35. 70 Hübinger, Gangolf, Konzepte und Typen der Kulturgeschichte, in: Küttler, Wolfgang / Rüsen, Jörn / Schulin, Ernst (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewußtsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 136–152, hier S. 145. Zum Weimarer Krisendiskurs allgemein vgl. Föllmer, Moritz / Graf, Rüdiger (Hg.), Die »Krise« der Weimarer Republik. Zur Kritik eines Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 2005. 71 Vgl. Raphael, Lutz, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herrschaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: ders., Ordnungsmuster und Deutungskämpfe. Wissenspraktiken im Europa des 20. Jahrhunderts, Göttingen 2018, S. 51–94. 72 Zum Konzept der »Palingenese« vgl. Griffin, Roger, Modernism and Fascism. The Sense of a Beginning under Mussolini and Hitler, Basingstoke 2007. 73 Vgl. Lukács, Georg, Die Theorie des Romans [1916], Neuwied 1971, S. 32 bzw. S. 52, wo Lukács von der »transzendentalen Heimatlosigkeit« spricht, die als allgemeiner Sinn- und Werteverlust den Menschen der Moderne auszeichne. Vgl. auch Ulbricht, Justus H., »Transzendentale Obdachlosigkeit«. Ästhetik, Religion und neue soziale Bewegung um 1900, in: Braungart, Wolfgang / Fuchs, Gotthard / Koch, Manfred (Hg.), Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, Bd. II: Um 1900, Paderborn 1998, S. 47–67. 74 Vgl. Graf, Friedrich Wilhelm, Die »antihistoristische Revolution« in der protestantischen Theologie der zwanziger Jahre, in: Rohls, Jan / Wenz, Gunther (Hg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie und kirchliche Lehre. Festschrift zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 1988, S. 377–405, hier S. 385. 75 Vgl. Doering-Manteuffel, Anselm, Konturen von »Ordnung« in den Zeitschichten des 20. Jahrhunderts, in: Etzemüller, Thomas (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 41–66.

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Der Begriff ›Antihistorismus‹ ist bereits zeitgenössisch anzutreffen. Weite Verbreitung fand etwa Benedetto Croces (1866–1952)76 Warnung vor dem ›Antihistorismus‹ der europäischen Faschismen. Insbesondere erregte ein Vortrag auf dem Internationalen Philosophenkongress in Oxford im September 1930 große Aufmerksamkeit, der in deutscher Übersetzung im folgenden Jahr auch in der Historischen Zeitschrift erschien.77 Es sei das veränderte Verständnis von ›Zeit‹, welches laut Croce die Gefährlichkeit des ›Antihistorismus‹ ausmache: nämlich »als Abkehr von aller Vergangenheit sowie als Scheu vor der Gewalt des Geschehens, als Gefühl, daß erst jetzt die echte Geschichte beginne und erst heute man aus der drangvollen Enge der falschen Geschichte endlich ins Freie komme«.78 Dass der Antihistorismus »mit seiner gewaltsamen Neuerungssucht und seinen leeren Restaurationsversuchen«79 überhaupt Fuß fassen konnte, war laut Croce dem »Verfall der liberalen Idee«80 geschuldet, mit dem wiederum ein »Zerfall des historischen Sinnes«81 einherging, denn das »historische Denken und das freiheitliche« waren in Croces Augen »unzertrennlich« miteinander verbunden.82 Croce macht damit zugleich auf einen latenten Widerspruch im ›Antihistorismus‹ aufmerksam, nämlich darauf, dass einerseits mit der bisherigen Geschichte radikal gebrochen und einen utopischen Endzustand erreicht (Stichwort ›tausendjähriges Reich‹), andererseits aber sehr wohl am Konzept der ›Geschichtlichkeit‹ festgehalten werden sollte. Damit ging freilich ein Wandel des Begriffs der ›Geschichtlichkeit‹ bzw. ›Historizität‹ einher, der den bis dahin meist mit dem jüdischen Gottesglauben assoziierten Begriff im Sinne von ›Geschehentlichkeit‹83 ablöste. Karl Heussi hat in seiner Studie zur »Krisis des Historismus« aus dem Jahr 1932 den ubiquitär grassierenden ›Antihistorismus‹ in ähnlicher Stoßrichtung als Mischung aus Dogmatismus und Aktionismus beschrieben.84 Mit anderen Worten wurde ›Geschichtlichkeit‹ nunmehr gleichsam stillgestellt und im Zuge einer »gegensatzaufhebenden Begriffsbildung«85 zur Bezeichnung des »Bestimmtsein[s] 76 Zu Person und Werk vgl. Lönne, Karl-Egon, Benedetto Croce. Vermittler zwischen deutschem und italienischem Geistesleben, Tübingen 2002. 77 Vgl. Croce, Benedetto, Antihistorismus. Vortrag gehalten auf dem Internationalen Philosophenkongress in Oxford am 3. Sept. 1930, in: Historische Zeitschrift 143 (1931), S. 457–466. 78 Ebd., S. 459. 79 Ebd., S. 466. 80 Ebd., S. 464. 81 Ebd., S. 457. 82 Ebd., S. 464. Koselleck zufolge steht Croce am Ende der liberalen Strömung der Geschichtsschreibung, deren Eigentümlichkeit – wie im politischen Liberalismus insgesamt – in einem »Sich-Verzehren« bestehe, aus der aber Koselleck zwei Postulate als weiterhin aktuell anerkennt: »Institutionell ist es die Minimalgarantie freier Forschung, methodisch das Gebot zur Theorie, dass sich nicht auf eine politische Parteinahme einschränken lassen darf.« (Koselleck, Reinhart, Liberales Geschichtsdenken, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 198–227, hier S. 226). 83 Vgl. Bauer, Geschichtlichkeit, S. 113, Anm. 94. 84 Vgl. Heussi, Karl, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932, insb. Kap. I. 85 Vgl. Lepsius, Oliver, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung. Methodenentwicklungen in der Weimarer Republik und ihr Verhältnis zur Ideologisierung der Rechtswissenschaft im Nationalsozialismus, München 1994.

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durch seine Gemeinschaft und ihre ›geschichtlichen Kräfte‹« umfunktioniert, worunter vor allem das ›Volk‹ und seine ›innere Ordnung‹, und schließlich auch die ›Rasse‹ verstanden wurden:86 »Trotz aller Beschönigung durch das Wort ›Geschichtlichkeit‹ geht die von Dilthey bis Heidegger herausgearbeitete grundlegende Unterscheidung von Geschichte und Natur wieder verloren.«87 Doch wer waren diese Kritiker des ›Historismus‹? Eine von mehreren Spuren ist direkt verknüpft mit der Entwicklung der Begriffsgeschichte: Der Wiener Neuzeithistoriker Wilhelm Bauer (1877–1953),88 ein späterer Kollege und Mentor Otto Brunners, verwendete in den 1920er Jahren den Begriff ›Historismus‹ zugleich als Bezeichnung für das Problem der »relativistischen Zersetzung aller Werte« im Sinne Troeltschs, sowie für den »Kampf gegen den Anachronismus«.89 Woraus Bauer die Notwendigkeit ableitete, den »bisher vorherrschenden stoffgeschichtlichen« Historismus zu »überwinden und zu einer Systematik zu gelangen«.90 Bauers »Schlagwortforschung« war mithin bereits das Grundprogramm eingeschrieben, an dem sich auch alle späteren begriffsgeschichtlichen Ansätzen abarbeiten sollten: zu einer Systematik zu gelangen, die höchsten (naturwissenschaftlichen) Theorieansprüchen Genüge tut und doch zugleich genuin historisch ist. Dass diese schier unlösbare Aufgabe ausgerechnet in Wien erstmals formuliert wurde, mag mit einer Besonderheit der Geisteswissenschaften im Habsburgerreich zusammenhängen. Der idealistischen Tradition kam hier im Vergleich zum restlichen deutschsprachigen Raum eine deutlich geringere Bedeutung zu, wohingegen die stärkere Orientierung am Rationalismus Leibniz’scher Prägung und am Positivismus in der Nachfolge Ernst Machs (1838–1916) zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für empirisch-psychologische und sprachlogische Probleme führte.91 Hinzu tritt ein weiterer Aspekt, der die Wiener Konstellation um 1900 kennzeichnete. Denn so sehr Wien also auf der einen Seite zur Wiege jenes Aufbrechens linearer und epistemologisch-universalistischer Denkmuster Kant’scher Prägung

86 Bauer, Geschichtlichkeit, S. 141. 87 Ebd., S. 144. 88 Zu Person und Werk vgl. Scheutz, Martin, »Deutschland ist kein ganzes Deutschland, wenn es nicht die Donau, wenn es Wien nicht besitzt«. Der Wiener Neuzeithistoriker Wilhelm Bauer (1877–1953), ein Mann mit vielen Gesichtern, in: Hruza, Karel Jan (Hg.), Österreichische Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Bd. 1, Wien 2008, S. 247–281. 89 Bauer, Wilhelm, Einführung in das Studium der Geschichte, 21928, S. 42 und S. 91. 90 Ebd., S. 148. 91 Vgl. Stachel, Peter, Leibniz, Bolzano und die Folgen. Zum Denkstil der österreichischen Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften, in: Acham, Karl (Hg.), Geschichte der österreichischen Humanwissenschaften. Bd. 1: Historischer Kontext, wissenschaftssoziologische Befunde und methodologische Voraussetzungen, Wien 1999, S. 253–296; Feichtinger, Johannes, Der Wissenschaftswandel in Österreich (1848–1938). Versuch einer kulturwissenschaftlichen Annäherung, in: Arnold, Markus / Dressel, Gert (Hg.), Wissenschaftskulturen – Experimentalkulturen – Gelehrtenkulturen, Wien 2004, S. 53–68, hier S. 59.

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wurde, indem nicht nur Raum, Zeit und Entwicklung als relativ, sondern überdies auch als durch das beobachtende Subjekt konstruiert verstanden wurden,92 so sehr Wien deshalb gar als »Zentrum des europäischen Wert-Vakuums«93 (Hermann Broch) bezeichnet wurde, so sehr wurde die Donau-Metropole auf der anderen Seite zugleich zum Hort der nationalistischen und völkischen Gegenbewegung. Deutschnational bis völkisch eingestellten Kreise (vor allem die Schönerer-Bewegung, mit der auch Wilhelm Bauer sympathisierte94) setzten am Ende des 19. Jahrhunderts einen Diskurs der ›Entartung‹, ›Zersetzung‹ und ›Entwurzelung‹ in Gang, der das von Max Nordau ursprünglich als Kritik an Nietzsches Missachtung der Aufklärung intendierte Modewort ›Entartung‹ nunmehr in sein Gegenteil verkehrte, mithin in ein sozialdarwinistisches und antisemitisches Schlagwort.95 Es erklärte jetzt im Einklang mit Nietzsche »das rasend-unbedachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, das unermüdliche Zerspinnen und Historisieren alles Gewordenen«96 zum Grundübel der Moderne. Ein drittes, mit der ›Entartung durch Historisierung‹ häufig verknüpftes Problem war die »Sprachkrise« als Erfahrung des Wirklichkeitsverlustes durch mangelnde »Welthaftigkeit« der Sprache, die in Wien als literarischer Metropole Zentraleuropas besonders tiefen Eindruck machte.97 Insbesondere der Philosoph Fritz Mauthner stand für eine solche radikale Sprachskepsis und Sprachkritik, der alles, was Menschen denken und gedacht haben, unterworfen werden sollte mit dem Ziel einer Selbstreinigung, ohne dass jedoch ein neues Fundament oder ein idealisierter Urzustand der Sprache angestrebt wurde.98 Dies war der entscheidende Unterschied zu den völkisch-nationalistischen Gruppen wie etwa dem Allgemeinen Deutschen Sprachverein, der sich anschickte, »echtgermanische Wörter vor Entfremdung und Entwendung zu bewahren«.99 Und Georg Ritter von 92 Feichtinger, Wissenschaftswandel, S. 58. 93 Broch, Hermann, Hofmannsthal und seine Zeit. Eine Studie, Frankfurt a. M. 2001, S. 55. 94 Vgl. Scheutz, Wilhelm Bauer, S. 251, 274 ff.: Bauer war seit 1909 Mitglied des antisemitischen alldeutschen, später nationalsozialistischen »Deutschen Klubs«, des von Schönerer gegründeten »Deutschen Schulvereins Südmark«, der Großdeutschen Volkspartei (1918–1933), sowie der NSDAP (Eintritt 1941). 95 Vgl. Hamann, Brigitte, Hitlers Wien. Lehrjahre eines Diktators, München 1998, insb. S. 121 f. 96 Nietzsche, Nutzen und Nachteil, S. 313. 97 Hugo von Hofmannsthals hierzu häufig als Beleg herangezogener »Chandos-Brief« aus dem Jahr 1902 macht freilich deutlich, dass selbst Lord Chandos Klage, es sei ihm »völlig die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken oder zu sprechen«, nichtsdestotrotz in vollendeter Form und Sprachkunst vorgetragen werden kann (von Hofmannsthal, Hugo, Ein Brief, in: Wunberg, Gotthard (Hg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1981, S. 431–444, hier S. 436). Vgl. auch Le Rider, Jacques, Hugo von Hofmannsthal. Historismus und Moderne in der Literatur der Jahrhundertwende, Wien 1997. 98 Vgl. Hartung, Gerald, Sprach-Kritik. Sprach- und kulturtheoretische Reflexionen im deutsch-jüdischen Kontext, Weilerswist 2012, S. 142. 99 Hier zitiert in Göttert, Karl-Heinz, Die Sprachreiniger. Der Kampf gegen Fremdwörter und der deutsche Nationalismus, Berlin 2019, S. 96.

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Schönerer versprach seinen Anhängern gar, nur Unverfälschte deutsche Worte100 zu bieten. Die tiefe Kränkung, die sich in dieser Radikalität äußerte, hat der amerikanische Literaturwissenschaftler George Steiner aus einer Enteignungserfahrung zu erklären versucht, wonach der »Vertrag zwischen Wort und Gegenstand, die Voraussetzung, daß das Sein in einem praktikablen Maße ›sagbar‹ ist«, in dieser Zeit unwiederbringlich annulliert wurde und dass »dieser Bruch des Kontraktes zwischen Wort und Welt […] eine der wenigen echten geistigen Revolutionen in der Geschichte des Westens darstellt, durch den sich die Moderne definiert.«101 Wilhelm Bauer, der sich bereits vor und auch während des Ersten Weltkriegs mit dem Zusammenhang von öffentlicher Meinung und Politik beschäftigte,102 glaubte deshalb insbesondere vor der Beeinflussung der Massen durch Schlag- und Fahnenwörter warnen zu müssen: »Die Masse denkt nicht in festen Begriffen. Infolgedessen macht das Begriffliche nicht auf sie den richtunggebenden Eindruck. Da sie aber jederzeit erfüllt ist von dunklen, unklaren Empfindungen und Wollungen, die nur auf das Stichwort warten, um aus ihrem chaotischen Undasein erlöst zu werden, so bedeutet hier die Namengebung so viel wie alles. Gib einer dieser im Zwielicht von Hoffen, Wollen und Sehnen dahinschlummernden Regung einen Namen und dieses Wort ist Fleisch, ist politische Kraft geworden.«103

Eine solche auf die ›Masse‹ ausgerichtete Sprachpolitik war Bauer zufolge eine direkte Konsequenz des Umstandes, »daß die Sprache der Demokratie den Gefühlsinhalt der Wörter stärker hervorkehrt als etwa der Obrigkeitsstaat.«104 Die Demokratie gebe demnach dem »Demagogen und Stümper«105 allererst die Möglichkeit zur freien Entfaltung, der wahre »Staatsmann« – Bauer verweist hierbei besonders auf das Beispiel Bismarcks  – hingegen werde es nach Möglichkeit vermeiden, »gefühlsbetonende Ausdrücke und Wendungen« zu verwenden, »die ein Wort seines eigentlichen begrifflichen Wertes berauben und es zu einem Symbol politischer, künstlerischer oder sonstiger Strömungen gestalten.«106 In seinem 1920 erschienen Aufsatz Das Schlagwort als sozialpsychologische und geistesgeschichtliche Erscheinung107 knüpfte Bauer einerseits an die völkerpsychologischen Über100 So der Titel der Monatszeitschrift der Schönerer-Bewegung. Vgl. Wladika, Michael, Hitlers Vätergeneration. Die Ursprünge des Nationalsozialismus in der k.u.k. Monarchie, Wien 2005, S. 165 ff. 101 Steiner, George, Von realer Gegenwart. Hat unser Sprechen Inhalt?, München 1990, S. 124; 127. 102 Vgl. Bauer, Wilhelm, Die öffentliche Meinung und ihre geschichtlichen Grundlagen. Ein Versuch, Tübingen 1914 und ders., Der Krieg und die öffentliche Meinung, Tübingen 1915. Vgl. auch die vollständig überabeitete und ergänzte Neuauflage des Buchs von 1914: ders., Die öffentliche Meinung in der Weltgeschichte, Potsdam 1930. 103 Bauer, Wilhelm, Sprache und Politik. Teil II, in: Neues Grazer Tagblatt vom 7. August 1925 (35. Jg. / Nr. 393), S. 1. 104 Ebd. 105 Ebd. 106 Ebd. 107 Bauer, Wilhelm, Das Schlagwort als sozialpsychologische und geistesgeschichtliche Erscheinung, in: Historische Zeitschrift 122 (1920), S. 189–240. Zu Bauers »Schlagwortfor-

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legungen Wilhelm Wundts und dessen Leipziger Kollegen, des Kulturhistorikers Karl Lamprecht, an,108 andererseits an die Massenpsychologie Gustave Le Bons.109 Die Sozialpsychologie versprach sowohl empirisch verbürgte Objektivität als auch hinreichende Systematik zu bieten, indem sie mit vermeintlich naturwissenschaftlich exakter Methodik den Blick auf den bis dato vernachlässigten Gegenstand der ›Masse‹ und des ›Volkes‹ freigab. Im nunmehr zum Feindbegriff geformten ›Historismus‹ stellte Bauer somit zwei Aspekte in den Vordergrund, die zuvor nur latent vorhanden waren: zum einen die Kritik an der individualistisch-liberalen (und überdies kleindeutsch-borussischen110) Geschichtssauffassung, zum anderen eine Demokratiekritik (ausgehend von einer Kritik an der Demokratisierung der Sprache), die sich nicht nur gegen eine »Zersetzung der Werte« richtete, sondern vor allem einer autoritären Herrschaftspraxis das Wort redete.111 Während der NS-Zeit trat bei Bauer ein weiterer Aspekt hinzu, der zuvor nicht explizit thematisch wurde, nämlich die Verknüpfung der ›Zersetzung‹ und damit des ›Historismus‹ mit der »Judenfrage«. Bauer widmete gleich mehrere Texte112 diesem Thema, in denen er u. a. ausführte, dass die »zersetzende« Wirkung »jüdischer« Denker wie Heinrich Heine und Ludwig Börne auf ihrer »dialektische[n] Schulung der Synagoge« beruhe.113 Bauer konstatierte eine tiefgreifende »Umwandlung«114 der deutschsprachigen Kulturwelt um 1800 durch den Eintritt jüschung« vgl. Tietze, Peter, »Zeitwende«. Richard Koebner und die Historische Semantik der Moderne, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 13 (2014), S. 131–165, hier S. 154–156 und Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 218–226. 108 Vgl. auch Bauer, Wilhelm, Rez. zu Karl Lamprecht, Einführung in das historische Denken, Leipzig 1912, in: Deutsche Literaturzeitung 7. Dezember 1912 (Nr. 49), Sp. 3114 f. 109 Vgl. Bauer, Schlagwort, S. 206. 110 Bauer gehörte zusammen mit seinen engen Freunden und Wiener Kollegen Heinrich (Ritter von) Srbik (1878–1951) und Hans Hirsch (1878–1940) zu den führenden Vertretern einer »gesamtdeutschen Geschichtsauffassung«, die nach 1918 den »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich forderten und zugleich für eine positivere Bewertung der Habsburgermonarchie in der deutschen Geschichtsschreibung eintraten. Vgl. Scheutz, Wilhelm Bauer, S. 251, 272. 111 Dass dahinter bei Bauer deutliche Sympathien für den (italienischen) Faschismus standen, wird u. a. aus einer Sammelbesprechung von 1925 ersichtlich: »Der Weg zu dem neuen Nationsbegriff führt über die Leiche des liberal-demokratischen Staates, der einem Käfig glich, in dem sich die Bestien nur aus Eigennutz nicht gegenseitig zerfleischten.« (Bauer, Wilhelm, Der Faschismus, in: Politische Wochenschrift für Volkstum und Staat 31 (6.8.1925), S. 420–422, hier S. 422). 112 Bauer, Wilhelm, Zur Judenfrage als gesamtdeutsche Angelegenheit zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Gesamtdeutsche Vergangenheit. Festgabe für Heinrich Ritter von Srbik zum 60. Geburtstag am 10. November 1938, München 1938, S. 236–247, ders., Die Juden in der österreichischen Sozialdemokratie, in: Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart (1941), H. 3, S. 183–185, ders., Treitschke und die Juden, in: Weltkampf. Die Judenfrage in Geschichte und Gegenwart (1944), H. 2, S. 68–77. 113 Bauer, Judenfrage, S. 246 f. Vgl. auch Wolf, Ursula, Litteris et patriae. Das Janusgesicht der Historie, Stuttgart 1996, S. 137, Anm. 214. 114 Bauer, Judenfrage, S. 246.

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disch-stämmiger Intellektueller in die Sphäre der öffentlichen Meinungsbildung (Bauer spricht von »eindringenden Intelligenzen«115). Dies habe insbesondere vermittels des durch Börne und Heine neu etablierten Feuilletons und auf Grundlage des ebenfalls sich neu etablierenden liberalen Prinzips des »freien Spieles der Kräfte«116 zu einer zuvor unbekannten Form zeitlich und sachlich differenzierender bzw. zergliedernder Kritik geführt, welche die Gültigkeit überkommener Werte auf allen Gebieten infragestellte.117 Wie Gernot Heiss gezeigt hat, blieb Bauer unter seinen Wiener Kollegen zwar in der Deutlichkeit, mit der er seinen »massiven Antisemitismus« zum Ausdruck brachte, eine Ausnahmeerscheinung,118 doch die Kombination aus Antiliberalismus, völkischem Ordnungsdenken und Antiindivi­ dualismus war für die gesamte »Wiener Schule der Geschichtswissenschaft« in den 1920er bis -40er Jahren kennzeichnend.119 Bildete das »Trifolium«, bestehend aus den drei Ordinarien Bauer, Hirsch und Srbik, bereits eine selbst für deutschsprachige Universitäten generationell, herkunftsmäßig sozial wie ideologisch ungewöhnlich homogene Gruppe, so galt dies im gleichen Maße für ihre Schüler, zu denen neben Heinz Zatschek (1901–1965)120 auch Otto Brunner (1898–1982)121 115 Ebd., S. 247. 116 Ebd. 117 Wie sehr dieser Aspekt auch einen zentralen Teil des universitären Betriebs bildete, zeigt der Umstand, dass in Wien einige »einschlägige« Dissertationen zum Einfluss der ›Juden‹ auf das lokale Pressewesen entstanden, die von Bauer, Hirsch, Srbik und Brunner betreut wurden. Vgl. Rupnow, Dirk, Brüche und Kontinuitäten – Von der NS-Judenforschung zur Nachkriegsjudaistik, in: Ash, Mitchell G. / Nieß, Wolfram / Pils, Ramon (Hg.), Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus. Das Beispiel der Universität Wien, Göttingen 2010, S. 79–110, hier S. 82 f. 118 Sowohl Wilhelm Bauer als auch Otto Brunner wurden vom Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Wien, dem Sprachwissenschaftler Viktor Christian, im Juni 1940 dem Reichserziehungsministerium als Kooperationspartner für eine speziell den »geistigen Grundlagen des Judentums« gewidmete Professur vorgeschlagen (vgl. Junginger, Horst, The Scientification of the »Jewish Question« in Nazi Germany, Leiden 2017, S. 191). Bauer, Srbik und Christian gehörten überdies zur geheimen antisemitischen Professoren-Clique »Bärenhöhle« (vgl. Tschwer, Klaus, Geheimsache Bärenhöhle. Wie eine antisemitische Professorenclique nach 1918 an der Universität Wien jüdische Forscherinnen und Forscher vertrieb, in: Fritz, Regina / Rossolinkski-Liebe, Grzegorz / Starek, Jana (Hg.), Alma Mater Antisemitica. Akademisches Milieu, Juden und Antisemitismus an den Universitäten Europas zwischen 1918 und 1939, Wien 2016, S. 221–242, hier S. 229 f.). 119 Vgl. Heiss, Gernot, Die »Wiener Schule der Geschichtswissenschaft« im Nationalsozialismus: »Harmonie kämpfender und Rankescher erkennender Wissenschaft«?, in: Ash / Nieß / Pils, Geisteswissenschaften im Nationalsozialismus, S. 397–426. 120 Zatschek war u. a. Mitarbeiter der Reinhard-Heydrich-Stiftung, die der »Germanisierung« der Tschechen gewidmet war, und entwickelte dort eine betont völkisch-rassistische Kulturund Volksbodenforschung. Vgl. Hruza, Karel, Heinz Zatschek (1901–1965) – »Radikales Ordnungsdenken« und »gründliche, zielgesteuerte Forschungsarbeit«, in: ders., Österreichische Historiker. Bd. 1, S. 677–792. 121 Aus der Vielzahl der Literatur über Brunner seien hier nur die jüngsten Arbeiten zur Zeit vor 1945 genannt: Kortüm, Hans-Henning, »Gut durch die Zeiten gekommen«. Otto Brunner und der Nationalsozialismus, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 66 (2018), S. 117–160

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gehörte.122 Die Kollegen und zeitweiligen Konkurrenten Zatschek und Brunner beschäftigten sich beide spätestens seit Mitte der 1930er Jahre intensiv mit dem »Volksbewusstsein«123 (Zatschek) bzw. mit den »das deutsche Volk und seine Volksordnung bestimmenden Grundgedanken«124 (Brunner).125 Mit anderen Worten wurde demjenigen, was der Neuzeithistoriker Bauer an der modernen »zersplitterten« und sich stetig wandelnden »öffentliche Meinung« kritisierte, durch die Mediävisten Brunner und Zatschek ein positives Gegenbild einer konstanten, weil homogenen und hierarchischen mittelalterlichen völkischen Ordnung gegenübergestellt. Wie Willi Oberkrome zeigen konnte,126 gab es mithin einen direkten Zusammenhang zwischen Srbiks und Bauers »Gesamtdeutscher Geschichtsauffassung« und Brunners »Volksgeschichte«.127 Auch Brunner glaubte, die »Schuld« für diese allgemeine und ubiquitäre »relativistische[n] Zersetzung aller Werte« dem »liberalen« und »kosmopolitischen« Denken des 19. Jahrhunderts anlasten zu können, das mit seiner geschichtlichen und differenzierenden Analytik, mit seinem »positivistische[n] ›Trennungsdenken‹«128 und Blänkner, Reinhard, Otto Brunner (1898–1982). »Nicht der Staat, nicht die Kultur sind uns heute Gegenstand der Geschichte, sondern Volk und Reich.«, in: Hruza, Österreichische Historiker, Bd. 3, Wien u. a. 2019, S. 439–478. 122 Vgl. Heiss, Wiener Schule, S. 401 und Kortüm, Brunner, S. 126. 123 Vgl. Zatschek, Heinz, Das Volksbewusstsein. Sein Werden im Spiegel der Geschichtsschreibung, Brünn 1936. 124 Brunner, Otto, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Brünn 31943, S. 524. 125 Brunner selbst lobte deshalb die österreichische Geschichtsschreibung: »Sie hat den gesamtdeutschen Zusammenhang nie verloren. Nicht zufällig hat sich auf dem Boden Österreichs die Wendung zu einem gesamtdeutschen und damit zugleich zu einem volksdeutschen Denken vollzogen.« (ders., Das österreichische Institut für Geschichtsforschung und seine Stellung in der deutschen Geschichtswissenschaft, in: Mitteilungen des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung 52 (1938), S. 385–416, hier S. 415 f.). 126 Vgl. Oberkrome, Willi, Volksgeschichte. Methodische Innovation und völkische Ideologisierung in der Geschichtswissenschaft 1918–1945, Göttingen 1993, S. 80: »Srbiks gesamtdeutsche Geschichtskonzeption, das damit verquickte groß- und volksdeutsche Bekenntnis, die irreversibel festgeschriebene Vorstellung von einer deutschen Kulturmission in Ost- und Südosteuropa bildeten ein Ideenkonglomerat, das Brunner und andere seit Anfang der 1930er Jahre zu Verfechtern einer originären Ethnohistorie werden ließen.« 127 Was freilich nicht ausschließen soll, dass Brunners Volksgeschichte sich  – nicht zuletzt durch die Vielzahl der durch Brunner rezipierten Autoren  – in vielen anderen Punkten signifikant unterscheidet. Reinhard Blänkner unterscheidet deshalb auch eine »frühe« Phase in Brunners Werk, die stärker der Wiener »Gesamtdeutschen Geschichtsauffassung« verpflichtet war, von einer »mittleren«, volksgeschichtlichen und einer »späten«, strukturgeschichtlichen; vgl. Blänkner, Reinhard, Nach der Volksgeschichte. Otto Brunners Konzept einer europäischen Sozialgeschichte, in: Hettling, Manfred (Hg.), Volksgeschichten im Europa der Zwischenkriegszeit, Göttingen 2003, S. 326–366, hier S. 350. 128 Brunner, Land und Herrschaft, 31943, S. 128. Vgl. zum »Trennungsdenken« auch Melton, James v. H., Otto Brunner and the Ideological Origins of Begriffsgeschichte, in: Lehmann, Hartmut / Richter, Melvin (Hg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington, D. C. 1996, S. 21–33, insb. S. 30. Werner Conze

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zu einer »grundlegenden Trennung von Staat und Gesellschaft«129 und zu einem »Auseinandertreten von Recht und Macht im historischen und theoretischen Denken der letzten Generationen« geführt habe, wie es in Land und Herrschaft130 heißt. Wenn Brunner die »kritiklose Übertragung der Kategorien des 19. Jahrhunderts auf das Mittelalter«131 anprangerte, so fußte dies auf seiner Ausgangsthese einer grundlegenden Entfremdung der neuzeitlichen Semantik von derjenigen des Mittelalters, womit Brunner freilich das kritisierte liberale, sachbezogene Trennungsdenken durch eine noch fundamentalere zeitliche DiskontinuitätsThese ersetzte. Otto Brunner ist mithin ein gutes Beispiel für die antihistoristische Kopplung von Anti-Liberalismus, Anti-Universalismus und Anti-Hermeneutik einerseits sowie Ganzheitlichkeits- und Homogenitätsstreben andererseits.132 Sein Ziel war es, das, was er als Probleme des Historismus wahrnahm, nämlich die oben genannte Relativität (Dilthey), Standortabhängigkeit (Troeltsch) und Individualität (Meinecke) der Historie, mit einem vermeintlich letztgültigen Neuentwurf aus der Welt zu schaffen. Doch gerade diese Suche nach Definität, dieser Wunsch nach Entproblematisierung brachte das genaue Gegenteil hervor. Denn Brunners Antihistorismus verstärkte ironischerweise jenes Trennungsdenken, das er eigentlich überwinden wollte, indem sein Ansatz viel stärker noch als die Historische Schule, alle Periodisierungen als Abfolge von miteinander inkommensurabler133 Paradigmata134 essentialisierte und damit verabsolutierte (»germanischer Volksstaat«135 vs. liberaler Rechtsstaat). Dies steht übrigens nicht im Widerspruch dazu, dass Brunner durchaus am Konzept der »Geschichtlichkeit«136 und dem damit verbundenen »Kampf gegen den Anachronismus« festhielt. Denn dieses Konzept erfuhr in seiner Bedeutung

zufolge wird Brunners Absicht, »das ›Trennungsdenken‹ zu meiden und Lebenszusammenhänge« bzw. »das innere Gefüge« der Ereignisse zu ergründen, bereits in Brunners Habilitationsschrift zu den Finanzen der Stadt Wien deutlich. Vgl. Conze, Werner, Nachruf auf Otto Brunner, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 69 (1982), S. 452 f. 129 Brunner, Land und Herrschaft, 31943, S. 128. 130 Ebd., S. 12. 131 Brunner, Otto, Politik und Wirtschaft in den deutschen Territorien des Mittelalters. Vortrag, gehalten auf dem 19. Deutschen Historikertag in Erfurt am 6. Juli 1937, in: Vergangenheit und Gegenwart 27 (1937), S. 404–422, hier S. 421 Anm. 14. 132 Sowohl für die »innere Struktur der Territorien« als auch für die »Grundherrschaft« im Mittelalter gelte daher: »Die Sphären von Staat und Politik, Wirtschaft und Gesellschaft liegen hier ungeschieden beieinander«; Brunner, Politik und Wirtschaft, S. 420. 133 Vgl. Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 273. 134 Der Frage nachzugehen, inwiefern hier Ähnlichkeiten zu Thomas Kuhns Wissenschaftstheorie bestehen, könnte reizvoll sein. 135 Brunner, Politik und Wirtschaft, S. 405. 136 Reinhard Blänkner bevorzugt den Terminus ›Historizität‹ (vgl. ders., Begriffsgeschichte in der Geschichtswissenschaft. Otto Brunner und die Geschichtlichen Grundbegriffe, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1 (2012), S. 102–108, hier S. 104).

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einen grundsätzlichen Wandel, insofern Brunner zwar ›Kontingenz‹ im oben angesprochenen Sinne von Veränderlichkeit durch menschliches Handeln nicht gänzlich ausschloss, wohl aber deutlich negativ bewertete, ebenso wie den liberalen Entwicklungsgedanken. In den Vordergrund rückte stattdessen nun die Bedeutung historischer Bedingtheit. Wilhelm Bauer glaubte noch, seine »Schlagwortforschung« in den Dienst des »großen Staatsmannes« stellen zu müssen. Bei Brunner hingegen stand nicht mehr das schöpferische Individuum im Zentrum, sondern die in soziopolitische Strukturen eingebundene Person bzw. Personengruppen. Er zeigt sich hierin als Zeitgenosse jener verstärkt durch die Soziologie beeinflussten geisteswissenschaftlichen Strömungen, die in den 1920er Jahren begannen, Typologien der »Lebensformen« (Spengler), »Denkformen« (Leisegang) und andere Kategorisierungen wie »Denkstile« (Fleck) oder »Kulturstile« (Rothacker) auszuarbeiten.137 Der historischen Sinnkrise versuchte man, so könnte man sagen, mit einer »Auferstehung der Metaphysik« in Form einer neuen ganzheitlichen Ontologie Herr zu werden.138 Ausgangspunkt hierfür war nicht zuletzt Heideggers (bei Nietzsche entlehntes) Verdikt, dass »das Aufkommen eines Problems des ›Historismus‹ das deutlichste Anzeichen dafür [sei], daß die Historie das Dasein seiner eigentlichen Geschichtlichkeit zu entfremden trachtet.«139 Die »eigentliche Geschichtlichkeit« gehe Heidegger zufolge vielmehr mit einem neuen Begriff der ›Gegenwart‹ einher, der nicht mehr bloß das augenblickliche ›Jetzt‹ meint, sondern die »Angst vor dem Relativismus« als »Angst vor dem Dasein« dadurch überwindet, indem sie sich vor Augen führt, dass es der »erste Satz aller Hermeneutik« sei, wonach die »Zugangsmöglichkeit zur Geschichte […] in der Möglichkeit [gründet], nach der es eine Gegenwart jeweils versteht, zukünftig zu sein.«140 Eigentliche Geschichte sei demnach »wiederholbar im Wie«,141 was wohl verstanden werden kann als Wiederholbarkeit im Sinne von »Fraglichsein«.142 Reinhard Blänkner hat auf die Bedeutung Heideggers für Brunners Geschichtlichkeits- bzw. Historizitäts-Begriff hingewiesen.143 Doch gerade dieses ›Fraglichwerden‹, welches für Heidegger eine Quelle geschichtlicher Dynamik darstellt, findet sich bei Brunner allerdings nicht, noch die bei Heidegger damit verknüpfte Vorstellung einer Pluralität der Zeiten,

137 Dem Theologen Karl Heussi zufolge steht das Aufkommen dieser Typologien im direkten Zusammenhang mit der »Krisis des Historismus«. Vgl. Heussi, Krisis des Historismus, S. 33. 138 So der fast gleichlautende Titel zweier inhaltlich gleichwohl sehr verschiedener Zeitdiagnosen: Wust, Peter, Die Auferstehung der Metaphysik, Leipzig 1920 und Kerler, Dietrich Heinrich, Die auferstandene Metaphysik. Eine Abrechnung, Ulm 1921. 139 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 182001, S. 396. 140 Heidegger, Martin, Der Begriff der Zeit (Vortrag 1924), in: ders., Gesamtausgabe. III. Abteilung: Unveröffentlichte Abhandlungen – Vorträge – Gedachtes. Bd. 64, Frankfurt a. M. 2004, S. 105–125, hier S. 123. 141 Ebd. 142 Ebd., S. 125. 143 Blänkner, Begriffsgeschichte in der Geschichtswissenschaft, S. 104.

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da dies eine Ausrichtung auf das jeweilige Dasein voraussetzt: »Sofern die Zeit je meinige ist, gibt es viele Zeiten. Die Zeit ist sinnlos; Zeit ist zeitlich.«144 Ein konkretes Beispiel für Brunners Geschichtslichkeits-Begriff bietet seine Darstellung der ›Fehde‹, welche einen zentralen Bestandteil von Land und Herrschaft145 bildet.146 Hinter diesem mittelalterlichen Grundbegriff vermutete Brunner ein auf den ersten Blick paradoxales Modell einer »konkreten Ordnung«,147 das Dynamik und Geschichtlichkeit soziopolitischer Verhältnisse gerade durch die Statik und Dauerhaftigkeit ihrer kulturellen Grundlagen zu erklären versucht. Innerhalb des bis an die Schwelle des liberalen 19. Jahrhunderts weitgehend unveränderten, starren Korsetts der »das deutsche Volk und seine Volksordnung bestimmenden Grundgedanken«148 herrscht demzufolge zwar ein endloser »Kampf ums Recht«149. Doch dies sind für den Volkshistoriker vernachlässigbare Kämpfe, da sie die »germanischen Grundgedanken«150 selbst nicht infrage stellten, sondern diese vielmehr bekräftigten. Eben dies hat der französische Annales-Historiker Fernand Braudel (1902–1985) bereits 1959 an Otto Brunners Strukturgeschichte kritisiert: »Son [i. e. Otto Brunner] premier but est de nous proposer, si je ne m’abuse, et de nous faire accepter une histoire sociale, structurale et conservatrice, à l’opposé d’une histoire libérale, flexible, évolutionniste. Pratiquement nous est offert, dans les eaux de la longue durée, un certain modèle particularisé de l’histoire occidentale européenne, du XIe au XVIIIe siècle. Ce modèle met en évidence des continuités, des immobilités, des struc-

144 Ebd., S. 124 (Hervorhebung im Original). 145 Im Folgenden wird aus der dritten, erweiterten Auflage von 1943 zitiert, da diese im Vergleich zu den anderen Ausgaben den umfangreichsten Textbestand aufweist. 146 Vgl. hierzu insb. Kortüm, Hans-Henning, »Wissenschaft im Doppelpaß?« Carl Schmitt, Otto Brunner und die Konstruktion der Fehde, in: Historische Zeitschrift 282 (2006), S. 585–617. 147 Gadi Algazi zufolge benutzte Brunner das von Carl Schmitt übernommene Konzept der »konkreten Ordnung«, um die ›Fehde‹, die lediglich in gewissen Adelskreisen ein legitimes Handeln darstellte, als Grundüberzeugung einer gesamten Bevölkerung unzulässigerweise zu verallgemeinern. Vgl. Algazi, Gadi, Otto Brunner. ›Konkrete Ordnung‹ und Sprache der Zeit, in: Schöttler, Peter (Hg.), Geschichte als Legitimationswissenschaft, 1918–1945, Frankfurt a. M. 1997, S. 166–203. 148 Brunner, Land und Herrschaft, 31943, S. 524. 149 Siehe ebd., S. 37: »Denn auch der Rechtsgang ist ursprünglich Kampf«. Ebenso hat Brunner Politik gänzlich mit Rechtskampf gleichgesetzt: »Alles politische Handeln […] ist dem Mittelalter Kampf ums Recht« (ebd., S. 507). 150 Brunner glaubte freilich auch, dass diese »germanischen Grundgedanken« in seiner eigenen Gegenwart wieder zu neuem Leben erweckt wurden: »Zudem beruht die gegenwärtige politische Grundordnung des deutschen Volkes nicht auf einem ungebrochenen Zusammenhang mit älteren Institutionen, sondern ist der Bewältigung der seit dem 19. Jahrhundert gestellten Aufgaben neu geschaffen worden. Wenn sich in ihr germanische Grundgedanken entfalten, so nicht aus einer Überlieferung äußerlicher Formen, […] sondern weil es ein deutsches Volk im echten Sinne des Wortes gab, das sich aus seinem Wesen heraus eine neue Ordnung des Daseins geben konnte.« (Brunner, Land und Herrschaft, 31943, S. 523).

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tures. Il délaisse l’événement, sous-estime le conjoncturel, préfère le qualitatif au quantitatif et ne s’intéresse pas une seconde, et c’est dommage, à la pensée mathématisante d’Ernest Labrousse [i. e. une méthode statistique et quantitative151].«152

Was Braudel an Brunner störte, war freilich nicht die Perspektive der longue durée, die er im Jahr zuvor bereits systematisch vorgelegt hatte,153 sondern vielmehr der Umstand, dass Brunners »konservatives« Geschichtsmodell eine deutliche Absage an die »freiheitliche, sich verändernde und sich entwickelnde Geschichte« darstellte, indem es die Ereignisse vernachlässigte, kurz- bis mittelfristige Konjunkturen und damit die synchrone Vielfalt geringschätzte und vor allem dem geistesgeschichtlich Qualitativen einen Vorzug gegenüber dem ›eigentlich‹ Sozialgeschichtlichen, nämlich dem Statistisch-Quantitativen, einräumte. Auch Koselleck hat später Brunners Orientierung an der »Sprache der Quellen« in ähnlicher Weise als zu einseitig abgelehnt,154 unter anderem deshalb, weil sie die soziale Bedingtheit des Historikers und diejenige der historischen Akteure ausblende.155 Wie James V. H. Melton nachweist, sprach Brunner der Begriffsgeschichte eine Brückenfunktion zwischen Nationalsozialismus und Vormoderne zu, um, aus seiner »radikal-konservativen« Position heraus, den bürgerlichen-liberalen Rechtstaat des 19. Jahrhunderts kritisieren zu können.156 Gerade die bekannte These der »Sattelzeit«, ist nach Melton auf Brunners Einfluss zurückzuführen, der im Nationalsozialismus die Überwindung des zwischen 1750 und 1850 entstandenen bürgerlich-liberalen Zeitalters zu erkennen glaubte. Dass Brunner nach dem Krieg seine pan-germanische Einstellung durch eine pan-europäische eintauschen konnte, aber ansonsten sein Konzept von Begriffsgeschichte weitgehend unverändert blieb, lag laut Melton an der zentralen Prämisse Brunners, der zufolge die Begriffsgeschichte die Kluft zwischen der Gegenwart und der vergessenen Vergangenheit überwinden könne.157 Sollte aber vor dem Krieg mittels der Begriffsgeschichte die durch den Liberalismus des 19. Jahrhunderts vergessen gemachte Vormoderne rehabilitiert werden, so galt es nach 1945 wieder an die durch den NS unterdrückte gesamteuropäische Kultur der Aufklärung anzuknüpfen.

151 Zu Labrousse siehe Raphael, Lutz, Die Erben von Bloch und Febvre. Annales-Historiographie und nouvelle histoire in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994, insb. S. 137–143. 152 Braudel, Fernand, Sur une conception de l’Histoire sociale, in: Annales 14 (1959), S. 308– 319, hier S. 310 (Hervorhebung im Original). 153 Vgl. Braudel, Fernand, Die lange Dauer, in: ders., Schriften zur Geschichte, Bd. 1: Gesellschaft und Zeitstrukturen, Stuttgart 1992, S. 49–87 und Raphael, Erben, insb. S. 125 f. 154 Vgl. Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, S. 373. 155 Vgl. Algazi, Otto Brunner, S. 176 f. 156 Melton, Otto Brunner, S. 22. 157 Vgl. ebd., S. 30.

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II. Kosellecks Denkraum Folgt man dem Urteil von Niklas Olsen, so bildete insbesondere Friedrich Meineckes Verständnis von ›Historismus‹ einen wichtigen Impuls (wenn auch im kritisch-negativen Sinne) für den jungen Reinhart Koselleck.158 Meineckes Werk Die Entstehung des Historismus von 1936159 stellte trotz seiner weiten Verbreitung einen letztlich erfolglosen Versuch der Resignifizierung oder – mit Koselleck – der »Umsemantisierung« des Begriffs ›Historismus‹ dar, nicht zuletzt deshalb, weil sie noch zu stark an dem aus der Mode gekommenen Neukantianismus orientiert war.160 Meinecke ließ die Epoche des ›Historismus‹ bereits mit Goethe enden und versuchte damit die Aufmerksamkeit auf eine Phase zwischen ca. 1750 und 1830 zu richten, in der das moderne Geschichtsbewusstsein entstanden sei.161 Gegen den Relativismus setze Meinecke weiterhin sowohl auf Wilhelm Diltheys Erfahrungskategorie als auch auf die neukantianische Wertphilosophie. Bei Meinecke trat damit der Aspekt der Geschichtlichkeit und der Kontingenz deutlich zurück hinter der Betonung von Individualismus und der Wirkmächtigkeit von (überzeitlichen) Ideen. Niklas Olsen belegt seine These anhand des Briefwechsels zwischen Reinhart Koselleck und Carl Schmitt. Und tatsächlich hat Koselleck in einem Brief an Schmitt vom 21. Januar 1953 in gewissem jugendlichem Übermut gefordert, dass der »Historismus« überwunden werden müsse zugunsten einer neuen »Geschichtsontologie, die nicht mehr methodisch letzte Auskunft ist, sondern der Anfang einer Begriffsbildung, die es ermöglicht, den Geschichtsphilosophien das Wasser abzugraben und somit eine Antwort auf unsere konkrete Situation darstellen kann.«162 Olsen hat diesen Brief so gedeutet, dass hierin bereits das 158 Olsen, Schmitt, Koselleck, S. 200. 159 Vgl. Meinecke, Entstehung des Historismus. 160 Für Meinecke war die zentrale und entscheidende Geschichtsbetrachtung nicht die »horizontale«, welche gemeinhin mit dem ›Historismus‹ assoziiert wurde im Sinne eines ununterbrochen strömenden Flusses, sondern vielmehr die »vertikale«, welche – wie Gunter Scholtz es formulierte – »aus der Geschichte das Werthaft-Individuelle, die spezifische Kulturleistung der einzelnen Epochen heraus[-hebe].« (Scholtz, Historismusproblem, S. 139). 161 Daniel Fulda zufolge ist die Sattelzeit-These in diesem Punkte bereits von Meinecke vorweggenommen (ders., Wann begann die »offene Zukunft«? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die »Sattelzeit« zu lösen, in: Breul, Wolfgang / Schnurr, Jan Carsten (Hg.), Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung, Göttingen 2013, S. 141–172, hier S. 141 f.). Ralf Konersmann sieht in der »Sattelzeit« eine Analogie zu Paul Valéry (Konersmann, Ralf, Historische Semantik und Politik, in: ders., Kulturelle Tatsachen, Frankfurt a. M. 2006, S. 323–346, hier S. 331 Anm. 16). Und Heinz Dieter Kittsteiner zeigt gar eine Parallele zu William James auf (Kittsteiner, Heinz Dieter, Naturabsicht und Unsichtbare Hand. Zur Kritik des geschichtsphilosophischen Denkens, Frankfurt a. M. u. a. 1980, S. 227). 162 Reinhart Koselleck an Carl Schmitt, 21.1.1953, zit. nach: Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 11.

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Programm von Kosellecks späterer Historik in groben Zügen vorlag.163 Indem Koselleck den ›Historismus‹ ablehnte und stattdessen für eine stärkere Orientierung an der Soziologie plädierte, bewies er demzufolge die Fortschrittlichkeit seiner eigenen Methodik. Doch betrachtet man den Brief genauer, so wird klar, dass Koselleck sich mit dem Begriff ›Historismus‹ auf alle drei oben skizzierten Begriffsverwendungen bezieht, d. h. dass er ›Historismus‹ und ›Historische Schule‹ gleichsetzt, um so zugleich die idealistische, ideengeschichtliche Dimension der Historischen Schule als auch die relativierende Kraft des wesentlich umfassenderen Kulturmusters der ›Historisierung‹ zum Gegenstand seiner Kritik zu machen. Erstens verstand Koselleck zu dieser Zeit unter ›Historismus‹ in Anlehnung an Troeltsch »die sogenannte Relativierung der Werte durch ihre Einordnung in den geschichtlichen Prozess«. Diese führte laut Koselleck zweitens zu einer »ungeschichtlichen« Betrachtungsweise, »da sie nur durch einen unendlichen, in der Vergangenheit verschwimmendem Fluchtpunkt ermöglicht wird.«164 Letzteres kann als Absage an die Wertvorstellungen der bürgerlich-liberalen Welt des 19. Jahrhunderts verstanden werden, wie sie von Meinecke noch vertreten wurden. Aus dem Brief geht drittens hervor, dass Carl Schmitt Koselleck eine »strenge Mahnung« zukommen ließ, »die Begriffe im Zuge ihrer Klärung stets auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen.«165 Mit anderen Worten erteilte Koselleck in diesem Brief mit der Absage an den ›Historismus‹ zugleich eine Absage an all jene Vorstellungen von ›Geschichtlichkeit‹, in denen allein die »resignierende[…] Feststellung« zum Ausdruck komme, »dass die Relativität aller geschichtlichen Ereignisse und Werte als ›Relativität‹ absolut anzusetzen sei.«166 Dennoch bedeutet dies nicht zugleich auch eine Absage an das Denken in Kategorien der Geschichtlichkeit im Sinne der Kontextgebundenheit aller Bedeutung, wohl aber an »die linienhafte Zeitkonstruktion der Geschichte, deren Evidenz mathematisch und geschichtsphilosophisch«167 sei. Zu diesem Zeitpunkt glaubte Koselleck, dass die »Reduktion aller geistigen Äußerungen auf die Situation […] allen weiteren Relativierungen nach vorne und hinten, nach oben und nach unten ein absolutes Ende«168 setzte. Dieses reduktionistische Programm lässt sich als Muster mutatis mutandis auch in anderen zeitgenössischen geschichtsontologischen Ansätzen finden,169 denen trotz signifikanter Unter163 Vgl. Olsen, Schmitt, Koselleck, S. 208. 164 Beide Zitate aus Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 10. 165 Ebd., S. 9. 166 Ebd., S. 11. 167 Ebd., S. 10. 168 Ebd., S. 11. 169 So formuliert etwa Hans Freyer noch im Jahr 1951: »Politische Begriffe an ihrem Ursprung aufsuchen, heißt also immer auch: die geschichtliche Situation wieder erwecken von der sie ihren Bedeutungsgehalt empfangen haben und auf die hin sie geformt worden sind. Indem die geschichtliche Wirklichkeit sich änderte, nahmen sie neue Inhalte in sich auf, ihre Akzente lagerten sich um, und ihre Front verschob sich. Gerade die großen, grundsätzlichen

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schiede doch gemein ist, dass sie als Antwort auf das Historismusproblem »das Feste, dass Sein im Werden, gleichsam unterhalb der Geschichte«170, mithin in der (menschlichen) Natur suchten. Oder zumindest sollte doch im Bereich der Politik, wie Hans Freyer zu Beginn der 1950er Jahre formulierte, durch den »Rückgang auf die Ursprünge« der »politischen Grundbegriffe« eine Art Kompensation der soziopolitischen Polarisierungen erreichen werden: »Er [i. e. der Rückgang auf die Ursprünge] kann helfen, die politischen Gegensätze zwar nicht zu lösen, aber sie auf ihren eigentlichen Gehalt zurückzuführen, die politischen Diskussionen zwar nicht zu entscheiden, aber sie sinnvoll und fruchtbar zu machen, den politischen Kampf zwar nicht zu schlichten, aber zu entgiften.«171 Otto Gerhard Oexle hat davor gewarnt, diese Rhetorik der Konkretion und Reduktion, die er auch bei Carl Schmitt und Otto Brunner ausmachte, allzu vorschnell zum methodischen Kern der Begriffsgeschichte zu erklären; vielmehr führe sie lediglich zu einer »halbierten Begriffsgeschichte«. Mit Bezug auf Hans Freyers Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft von 1930172 stellt Oexle fest: »Der ›Historismus‹ als Inbegriff der Historizität alles dessen, was ist, wurde für erledigt erklärt; gab es doch jetzt neue, absolute Begriffe, die vermeintlich ein für alle Mal der ›wirklichen Wirklichkeit‹ entsprachen. Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Kenntnis des ›Wirklichen‹ brauchte nicht gestellt zu werden. Dies war die Rückführung alles Allgemeinen auf das ›Konkrete‹.173«

Koselleck wird diese reduktionistisch-antihistoristische Position allerdings später aufgeben. In der Auseinandersetzung mit Hans-Georg Gadamer und dessen These von der unhintergehbaren Sprachlichkeit aller Welterfahrung formulierte Koselleck etwa Mitte der 1980er Jahre: politischen Begriffe erweisen sich als äußerst wandlungsfähig; darauf beruht zum guten Teil ihre Kraft, auf lange Zeit hin die Geister zu binden und gültiger Ausdruck der politischen Bestrebungen zu sein. Der Rückgang auf den Ursprung ist nun der geeignete Weg um diese echten Wandlungen der politischen Begriffe von jenen Verfälschungen zu unterscheiden die sie durch Verschleiß und Gedankenlosigkeit, durch Mißbrauch und Verdrehung erleiden.« (Freyer, Hans, Politische Grundbegriffe – Demokratie, Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus – an ihrem Ursprung aufgesucht, Wiesbaden 1951, S. 6 f.) 170 Scholtz, Historismusproblem, S. 135 (Hervorhebung im Original). Scholtz zählt zu dieser ersten Antwort-Strategie, die auf die philosophische Anthropologie rekurrierte, neben den Wilhelm Dilthey, Max Scheler, Helmut Plessner, Karl Löwith, Claude Lévi-Strauss und Arnold Gehlen auch Martin Heidegger, der freilich die Begriffe ›Existentialanalyse‹ bzw. Fundamentalontologie bevorzugte (S. 137). 171 Freyer, Politische Grundbegriffe, S. 8. Zur Bedeutung Freyers für die Sozialgeschichte siehe Etzemüller, Thomas, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 60–65. 172 Zu Freyers Positionen zur historischen Semantik in Auseinandersetzung mit Karl Mannheim vgl. Laube, Reinhard, Karl Mannheim und die Krise des Historismus. Historismus als wissenssoziologischer Perspektivismus, Göttingen 2003, S. 533 ff. 173 Oexle, Begriffsgeschichte, S. 395 f.

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»Kein Quellentext enthält jene Geschichte, die erst mithilfe textlicher Quellen konstituiert und zur Sprache gebracht wird. […] Es gibt geschichtliche Vorgänge, die sich jeder sprachlichen Kompensation oder Ausdeutung entziehen.«174

Mit anderen Worten ging Koselleck im Brief an Schmitt noch von einer Abbildtheorie der Wahrheit aus, wohingegen er dreißig Jahre später aus einer Position nach der ›sprachlichen Wende‹ sprach, die zwar nicht Gadamers Absolutheitsanspruch teilte, doch ebenfalls um die unhintergehbare Sprachgebundenheit der Geschichtsschreibung wusste. Es war die Erkenntnis, dass gerade der stets unbefriedigt bleibende Wunsch, die konkrete Situation sprachlich zu erfassen, den eigentlichen Motor für das ständige Umschreiben der Geschichte darstellt.175 Koselleck wandte sich in seinem Brief an Schmitt von 1953 somit erstens gegen anachronistische und, zweitens, gegen teleologische Konstruktionen der Geschichtsphilosophie. Als Drittes kommt hinzu, dass sich im Brief an Schmitt bereits auch schon Kosellecks späteres Kontingenzbewusstsein finden lässt, auch wenn er das Wort ›kontingent‹ zu diesem frühen Zeitpunkt noch im Sinne von ›zufällig‹ und nicht bereits im Sinne von ›auch-anders-möglich‹176 verwendete.177 Dass sich ähnliche Positionen bei Heidegger, Freyer und Schmitt finden lassen, allerdings mit gewichtigen Unterschieden, die vor allem aus Kosellecks skeptisch-liberaler Haltung resultierten, darauf ist bereits hinreichend hingewiesen worden.178 Interessanter scheint deshalb die Frage zu sein, wie sich Kosellecks Auseinandersetzung mit dem ›Historismus‹ weiterentwickelte. Bereits in einer Sammelrezension zu verschiedenen geschichtstheoretischen Arbeiten aus dem Jahr 1961 hat sich Kosellecks Denken über den Begriff der ›Ge174 Koselleck, Reinhart, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten, S. 97–118, hier S. 117. 175 »Wenn Historik die Bedingungen möglicher Geschichte erfaßt, so verweist sie auf langfristige Verläufe, die in keinem Text als solchem enthalten sind, sondern erst Texte provozieren. Sie verweist auf unlösbare Konflikte, Brüche, Diskontinuitäten, auf elementare Verhaltensweisen, die sich blockieren mögen, die sprachlich zu benennen schon eine Form der Rationalisierung darstellt, gerade auch wenn die ausgesagten oder angesprochenen Sachverhalte durch und durch unrational sind.« (ebd., S. 116). 176 Vgl. Luhmann, Niklas, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 152: »Der Begriff [i. e. ›kontingent‹] bezeichnet mithin Gegebenes (Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen«. Für Luhmann ist jede soziale Operation ein grundsätzlich kontingenter Bezeichnungsakt. Vgl. auch Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 117, wo davon die Rede ist, dass Auschwitz nicht zwangsläufig aus Hitlers Mein Kampf resultierte: »Es hätte immer noch anders kommen können.« 177 Vgl. »Mit den Kategorien, wie sie Ihrem ›Nomos der Erde‹, sehr verehrter Herr Professor, zugrundeliegen, ließe sich dann jedenfalls zeigen, dass der herrschende Weltbürgerkrieg kein ontisches oder kontingentes Ereignis ist, das eigentlich nicht sein dürfte (für die Amerikaner), sondern ein Ereignis, das durchaus in den Seinsstrukturen unserer Geschichtlichkeit wurzelt, dann aber, wenn man diese Strukturen achtet, nicht so sein muss, wie es ist. (für die Russen).« (Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 12). 178 Vgl. etwa jüngst Huhnholz, Sebastian, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks Kritik und Krise, Berlin 2019.

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schichtlichkeit‹ deutlich gewandelt. Er stellt diesen Begriff nun in den Mittelpunkt seiner Suche nach einer »neuen Historik« und damit ins Zentrum der Geschichte als Wissenschaft. Infolge der »Krise des Historismus« habe die Geschichtswissenschaft eine Selbstreflexion vollzogen, wie zwei Resultate zeitigte, hinter die sie nicht mehr zurückfallen könne, ohne ihren Status als Wissenschaft einzubüßen: Zum einen sei dies das »historische Bewusstsein« der Geschichtswissenschaft im Sinne einer Reflexionsebene, auf der sie sich selbst als geschichtlich bedingt thematisch wird, und zum anderen eine grundlegende Selbstkritik ihrer weitgehend noch unreflektierten Vorannahmen.179 Nach 1945 habe sich diese »Krise« wiederholt bzw. verschärft durch den »elementare[n] Einbruch politischer Ereignisse – und damit auch philosophischer und religiöser Fragestellungen«180, wodurch die Notwendigkeit offenkundig geworden sei, den »endlosen Historismusdebatten« zu entrinnen und vermittels einer neuen Historik das »Niemandsland zwischen Naturwissenschaft und idealistischer Philosophie« zu verlassen.181 Koselleck ging es nunmehr um den »Umschlag des Historismus in die reflektierte Theorie seiner Selbstbestimmung«182, die in England durch Collingwood und Butterfield bereits vollzogen worden sei. Insbesondere aus »Collingwoods eigentlicher Leistung, dem Aufweis der Logik von Frage und Antwort« zog Koselleck den Schluss, dass »geschichtlicher Sinn« der Geschichtswissenschaft nur deshalb zugänglich sei, »insofern alle Geschichte Geschichte von Gedanken sei«.183 Daher gewinnt die »philologisch-kritische Methode« eine neue Rolle: sie liefert zwar keine wertfreien Tatsachen mehr, aber sie stellt »jene Richtigkeitsgrade im Quellenmaterial fest, die den Spielraum überhaupt möglicher Aussagen und Urteile begrenzen.«184 Nicht mehr Freyers Mystifizierung des ursprünglichen Gebrauchs, sondern lediglich ein »Vetorecht«185 der Quellen wurde nunmehr von Koselleck postuliert. Eine weitere Stelle, in der der Begriff ›Historismus‹ im Zusammenhang der Begriffsgeschichte verwendet wird, sind die 1963 erarbeiteten Leitlinien für das damals noch als »Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit« firmierende Großprojekt des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte.186 Wie auch in der 179 Koselleck, Reinhart, Im Vorfeld einer neuen Historik, in: Neue Politische Literatur 6 (1961), Sp. 577–588, hier Sp. 577. Die besprochenen Autoren waren Reinhard Wittram, Fritz Wagner, Hermann Heimpel, Ahasver von Brandt und Erich Bayer. 180 Ebd. 181 Ebd. 182 Ebd., Sp. 584. 183 Ebd., Sp. 584 f. 184 Ebd., Sp. 587. 185 So die spätere Bezeichnung (vgl. Koselleck, Reinhart, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 176–207, hier S. 206). Vgl. auch Jordan, Stefan, Vetorecht der Quellen, 2010, abrufbar unter http://docupedia.de/zg/Vetorecht_der_Quellen [Zugriff 16.08.20]. 186 Zum Lexikonprojekt siehe Dipper, Christof, Die Geschichtlichen Grundbegriffe. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Historische Zeitschrift (270) 2000, S. 281–308.

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späteren, im Archiv für Begriffsgeschichte veröffentlichten Version,187 ist in den Leitlinien, die eigentlich aus einem von Koselleck erstellten Ergebnisprotokoll einer im April 1963 in Heidelberg stattgefundenen Tagung hervorgingen – an der auch Wolfgang Schieder teilnahm188 –, von einem »soliden Historismus« die Rede, dessen man sich befleißigen müsse, um »jede teleologische Interpretation auszuschalten«.189 Die begriffsgeschichtliche Methode wird in diesem Zusammenhang auch bezeichnet als »historisch-kritisch, wie sie sich aus einer politischen und sozialgeschichtlichen Fragestellung überhaupt ergibt«190. Das Attribut »historisch-kritisch«, welches üblicherweise mit der liberalen, protestantischen Exegetiktradition in Verbindung gebracht wird, erhält hier eine politische Dimension. Diese Methode umfasse demnach unter anderem die »Frage nach unmittelbaren Erfahrungsgehalt der verwendeten Begriffe und nach zunehmender Funktionalität der Begriffe«.191 Zu dieser »historisch-kritischen« Grundeinstellung gehört zudem eine weitere unabdingbare Voraussetzung, nämlich der »Grundsatz, dass Begriffsgeschichte ›Zeitgeschichte‹ der Begriffe ist«.192 Dieser dezidierte GegenwartsBezug, der die Auswahl der zu untersuchenden Begriffe von ihrer Bedeutung für die heutige Zeit abhängig macht, wurde eingeführt, um zu verhindern, dass die jeweilige Darstellung »nicht zur Problemgeschichte ungeschichtlich systematisiert«193 werde.194 Wie hier vorgeschlagen werden soll, kann diese neue Verwendung des Historismus-Begriffs als Ausdruck eines zweiten Resignifizierungsversuchs angesehen werden (der ebenso wie Meineckes Versuch einer Umsemantisierung durch Historisierung freilich auch nicht sonderlich erfolgreich war). Der Begriff ›Historismus‹ wird nun positiv gewendet, und zwar nahezu spiegel187 Vgl. Koselleck, Reinhart, Richtlinien für das Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit, in: Archiv für Begriffsgeschichte 11 (1967), S. 81–99, hier S. 91. Dieser Text ist weitgehend identisch mit dem Ergebnisprotokoll von 1963. 188 Nach Auskunft von Wolfgang Schieder (15.12.2018) stammte der Wunsch, den Begriff ›Historismus‹ zu verwenden, von Werner Conze. Auch Jan Eike Dunkhase sieht den entscheidenden Beitrag Conzes zum Lexikonprojekt gerade in einem »reflektierten Historismus der Begriffsgeschichte«, der – in Conzes eigenen Worten – »den apriorischen Konstruktionen der Sozialwissenschaften die skeptische Alternative historischen Denkens entgegen  […] setzen« sollte (zit. in Dunkhase, Jan Eike, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 258). 189 Universitätsarchiv Heidelberg [nachfolgend UAH], Acc. 99/05–14 (Bl. 225–281), Bericht über die Tagung der Forschungsgruppe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte für die Vorbereitung eines historischen deutschen Wörterbuches der politische-sozialen [sic] Welt im Wandel vom 18. zum 19. Jahrhundert (1750–1850) in Heidelberg am 1. April 1963, Ms., 55 Seiten, hier S. 14 [Bl. 240]. 190 Ebd., S. 1 [Bl. 231]. Vgl. Koselleck, Richtlinien, S. 83. 191 UAH, Acc. 99/05–14 (Bl. 225–281), S. 17 [Bl. 243]. Vgl. ders., Richtlinien, S. 93. 192 Ebd., S. 19 [Bl. 245]. Vgl. ders., Richtlinien, S. 95. 193 Ebd., S. 19 [Bl. 245]. Vgl. ders., Richtlinien, S. 95. 194 Die Vorstellung, dass Problemgeschichte ungeschichtlich sei, findet sich auch bei Gadamer, wobei dieser besonders die neukantianische Variante derselben vor Augen hatte (Gadamer, Hans-Georg, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 72010, S. 381 f.).

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bildlich zu der Kritik aus den dreißiger Jahren mit der Betonung von Gegenwartsbezug, Erfahrungsgebundenheit, Funktionsanalyse und nicht zuletzt auch einer kritischen, d. h. differenzierenden und nicht-teleologischen Haltung. Wie kamen diese Veränderungen in der Verwendung des Begriffs ›Historismus‹ zustande? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass der Text von 1963 zwar von Koselleck geschrieben wurde, jedoch als Ergebnisprotokoll eine Zusammenfassung unterschiedlichster Positionen darstellte; er ist das Produkt einer nicht leicht zu fassenden, wissenschaftlichen Konstellation.195 Am ehesten kann wohl konstatiert werden, dass der Text Ausdruck einer kritischen Selbst-Reflexion ist: Der Erkenntnis nämlich, dass die etwa von Otto Brunner in den dreißiger Jahren geforderte Historisierung vergangener Wirklichkeiten im Sinne eines Kampfs gegen Anachronismus nur durchgeführt werden könne, wenn das Kulturmuster der Historisierung selbst als wesentlicher Bestandteil der Wirklichkeitsproduktion akzeptiert werde, nämlich im Sinne eines ständigen, an Gegenwartswerten orientierten Umschreibens, Neubewertens oder Re-Problematisierens der kontingenten historischen Vielfalt.196 Oder um es mit Rudolf Vierhaus (1922–2011)197 zu sagen: Historismus ist nicht unbedingt Relativismus, aber immer Relationismus.198 Dahinter steht – so Theodor Schieder (1908–1984)199 – eine Zeitvorstellung, wie sie bereits bei Georg Simmel zu finden ist: »so ist Zeit nur eine Relation der Geschichtsinhalte untereinander, während das Ganze der Geschichte zeitfrei ist.«200 Gemeinsam ist den Richtlinien von 1963 zudem die Vorstellung, dass die Geschichtswissenschaft »theoriebedürftig«201 ist.202 Freilich konnte das, was unter ›Theorie‹ jeweils verstanden wurde, sehr unterschiedlich sein. Während Koselleck 195 Zu den Teilnehmern gehörten neben Brunner, Conze und Koselleck auch Wilhelm Hennis, Hans Maier, Rudolf Vierhaus, Klaus von Beyme, Dieter Groh, Ursula Hüllbüsch, Hans Mommsen, Hanna Rabe, Hans Leo Reimann, Manfred Riedel, Wolfgang Schieder und Horst Stuke (UAH, Acc. 99/05–14 (Bl. 225–281), hier Bl. 225). 196 Vgl. Landwehr, Achim, Die anwesende Abwesenheit der Vergangenheit. Essay zur Geschichtstheorie, Frankfurt a. M. 2016, S. 117. 197 Vgl. zu Person und Werk Lehmann, Hartmut, Nachruf auf Rudolf Vierhaus 29. Oktober 1922–13. November 2011, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 2013, S. 184–188. 198 Vgl. Vierhaus, Rudolf, Was ist Geschichte?, in: Alföldy, Géza / Seibt, Ferdinand / Timm, Albrecht (Hg.), Probleme der Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1973, S. 7–19, hier S. 13. 199 Vgl. Rüsen, Jörn, Kontinuität, Innovation und Reflexion im späten Historismus: Theodor Schieder, in: ders., Konfigurationen des Historismus. Studien zur deutschen Wissenschaftskultur, Frankfurt a. M. 1993, S. 357–397. 200 Simmel, Georg, Das Problem der historischen Zeit, Berlin 1916. Hier zitiert in Schieder, Theodor, Geschichte als Wissenschaft. Eine Einführung, München 21968, S. 76. 201 Vgl. Koselleck, Reinhart, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten, S. 287–297. 202 Trotz Kosellecks Vorbehalten gegenüber der Geschichtsphilosophie ist in den Richtlinien von der »geschichtsphilosophischen Prämisse« des Lexikonprojekts die Rede, wonach »die Geschichte sich in bestimmten Begriffen niederschlägt und überhaupt nur Geschichte ist, als sie jeweils begriffen wird« (ders., Richtlinien, S. 85).

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auf eine genuin geschichtswissenschaftliche Theoriebildung hinarbeitete, schloss etwa Vierhaus eine Vielfalt von Theorien unterschiedlichster Herkunft nicht aus, wenn er (zehn Jahre später) forderte, dass die Geschichtswissenschaft »mit Theorien arbeiten [muss], die das Prozeßhafte geschichtlichen Geschehens und die Komplexe strukturgeschichtlicher Wirkungszusammenhänge erkennbar machen.«203 Und schließlich herrschte auch weitgehend Einigkeit, dass die Aufgabe der Geschichtswissenschaft nicht zuletzt darin bestehe, ein zeitgemäßes historisches Bewusstsein zu fördern.204 In der Folgezeit konnte sich dies freilich ebenfalls sehr unterschiedlich ausnehmen: Theodor Schieder etwa betonte in seiner weit verbreiteten Einführung in die Geschichtswissenschaft von 1965 die Problematik, Brisanz und Aktualität der These des Althistorikers Alfred Heuß’ (1909–1995), demzufolge nach 1945 »der Hiatus zwischen der verlorenen ›Geschichte als Erinnerung‹ und der ›Geschichte als Wissenschaft‹ sich nicht mehr überwinden«205 lasse. Angesichts von Diagnosen vom »Ende der Neuzeit« (Romano Guardini)206, die bereits in den frühen 1950er Jahren eine neue, nach-neuzeitliche »Epoche des emanzipierten, individualisierten Menschen« samt eines zuvor unbekannten Endlichkeitsbewusstseins im Entstehen begriffen sahen, müsse es Theodor Schieder zufolge nunmehr der Geschichtswissenschaft daran gelegen sein, die vielen verschiedenen »zeitliche[n] Schichten: abgestorbene Epochen neben höchst lebendigen, verschiedene[n] Lebensalter der Menschheit: Steinzeit neben Atomzeitalter«207 herauszustellen und sichtbar werden zu lassen. Mit Hans Freyer gelte es deshalb, die »Gleichzeitigkeit des Nicht-Gleichzeitigen«208 aufzuzeigen. Freyer seinerseits verstand dies als Korrektur (man könnte auch sagen: Relativierung und Historisierung) eines »Leitmotiv[s] und beinahe ein[es] methodische[n] Postulats des modernen Historismus, daß die geschichtlichen Zeitalter ›in ihrer Struktur 203 Vierhaus, Was ist Geschichte?, S. 17. 204 Die Rede ist etwa davon, dass das Lexikon als indirektes Ergebnis »einer Bewußtseinsschärfung dienen [könne], die von historischer Klarstellung zu politischer Klärung führt.« (Koselleck, Richtlinien, S. 83) 205 Schieder, Geschichte als Wissenschaft, S. 11; 220 f. Vgl. auch zur These der Zerstörung des Bandes zwischen vitalem Geschichtsinteresse und wissenschaftlicher Geschichtsschreibung Heuß, Alfred, Verlust der Geschichte, Göttingen 1959, sowie Rexroth, Frank, Geschichte schreiben im Zeitalter der Extreme. Die Göttinger Historiker Percy Ernst Schramm, Hermann Heimpel und Alfred Heuß, in: Starck, Christian / Schönhammer, Kurt (Hg.), Die Geschichte der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Bd. 1, Berlin 2013, S. 265–299. Offen muss hier die Frage bleiben, inwiefern der von Heuß diagnostizierte »Hiatus« auch Kosellecks These eines »bewusste[n] Auseinandertretens von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont« beeinflusst hat; zitiert wurde Heuß im einschlägigen Artikel jedenfalls nicht (vgl. Koselleck, Reinhart, ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 349–375, hier S. 372). 206 Vgl. Guardini, Romano, Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Basel 1950. 207 Schieder, Geschichte als Wissenschaft, S. 88. 208 Freyer, Hans, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 7. Vgl. auch Nolte, Paul, Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in: Jordan, Stefan (Hg.), Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 134–137.

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voneinander verschieden sind‹«209. Andere, wie Vierhaus, richteten ihr Augenmerk weniger auf die unterschiedlichen Schichten historischer Kontinuität, denn vielmehr auf die grundsätzliche Wandelbarkeit allen Seins und sahen die Aufgabe der Geschichtsschreibung darin, dass sie »der Einsicht in die Geschichtlichkeit gegenwärtiger politischer, sozialer und Wertsysteme dient – und damit auch als Basis derjenigen Kritik am Bestehenden wie an den technizistischen Planungen der Zukunft, die eine Bedingung von Freiheit ist.«210 Bemerkenswert ist hieran die Kopplung von Geschichtlichkeit, Kritik und Freiheit, mithin ein liberaler Grundzug, der sich zumindest bei den jüngeren Teilnehmern des Lexikonprojektes beobachten lässt.211 Doch nicht alle ursprünglich an den Planungen von 1963 beteiligten Personen zeigten sich mit den grundlegenden Ideen einverstanden. Hans Mommsen etwa, der zunächst als Beiträger zum Begriff ›Nation‹ vorgesehen war, wandte sich mit heftiger Kritik um 1970 vom begriffsgeschichtlichen Wörterbuch ab, wofür er als Begründung nicht nur Brunners »Abwendung vom modernen pluralistisch-kapitalistischen Gesellschaftssystem« anführte, sondern darüber hinaus die postulierte »grundlegende Scheide zwischen der vor- und der revolutionären Epoche  […] namentlich für die Analyse der westeuropäischen Entwicklung als zu eng« erachtete.212 Darüber hinaus monierte er: »Auch der Versuch Conzes und Reinhard [sic] Kosellecks, vermittels einer Analyse des formalen und inhaltlichen Wandels politisch-sozialer Grundbegriffe – also durch eine semasiologische Untersuchungsmethode  – Probleme der sich verändernden gesellschaftlichen Struktur mit einer im Kern dem Historismus verpflichteten Betrachtungsweise zu amalgamieren, bleibt im Vorfeld einer die sozialökonomischen Prozesse voll berücksichtigenden Historiographie stehen.213«

Dass Hans Mommsen die explizite Verschränkung von semasiologischer und onomasiologischer Analyse im Wörterbuchprojekt verkannte214 und stattdessen die

209 Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, S. 8. 210 Vierhaus, Was ist Geschichte?, S. 19. 211 In diesen Zusammenhang gehört auch, dass sich Koselleck in einem Interview erinnerte, in der Adenauer-Zeit die FDP gewählt zu haben; eine Partei allerdings, deren Richtungsstreit zwischen nationalliberalen und freiheitlich-demokratischen Strömungen zu dieser Zeit noch nicht entschieden war. Vgl. Koselleck, Reinhart / Dutt, Carsten, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 29. 212 Mommsen, Hans, Betrachtungen zur Entwicklung der neuzeitlichen Historiographie in der Bundesrepublik, in: Alföldy / Seibt / Timm, Probleme der Geschichtswissenschaft, S. ­124–155, hier S. 140. 213 Ebd. 214 Vgl. Koselleck, Richtlinien, S. 84. Ironischerweise wurde dann auch der Begriff ›Nation‹ unter der Rubrik bzw. dem semantischen Feld ›Volk, Nation, Nationalismus, Masse‹ abgehandelt. Vgl. Koselleck, Reinhart / Gschnitzer, Fritz / Werner, Karl Ferdinand / Schönemann, Bernd, Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Brunner / Conze / Koselleck, Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 141–431.

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Arbeiten seines eigenen Vaters als Vorbild für die begriffsgeschichtliche Analyse herausstellte,215 mag dahingestellt bleiben. Durchaus berechtigt war jedoch Mommsens Verweis auf die nur unzureichend durchgeführte Historisierung und kritische Reflexion des ›Historismus‹, welche auch Koselleck später mit Blick auf Otto Brunner konzedierte.216 Zwar finden sich bei Otto Brunner nach 1945 Äußerungen, die den weiter oben angedeuteten Wechsel von ›antihistoristischen‹ zu ›historistischen‹ Positionen geschichtstheoretisch ermöglichen und zugleich legitimieren.217 Doch Thomas Etze­ müller spricht diesbezüglich von einem »selektierende[n], doppelschichtige[n] Historismus«: »Die eine Schicht eliminierte ideologische Kontinuitäten qua Historisierung, die andere stiftete qua Historisierung die Kontinuität der Inhalte.«218 In Brunners Studie Abendländisches Geschichtsdenken von 1954 findet sich etwa die Vorstellung, dass spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts ein »verändertes Verhältnis zur Geschichte« vorliege, welches »die ›Geschichtlichkeit des Daseins‹ in den Mittelpunkt des philosophischen Denkens« stellte.219 Es habe sich nunmehr ein »absoluter Begriff der Geschichte« etabliert, »der im 19. Jahrhundert selbst zu einem geschichtlichen Faktor von großer Kraft geworden ist.«220 ›Historismus‹ wie ›Antihistorismus‹ sind demnach lediglich unterschiedliche Weisen, auf die Erkenntnis der »Geschichtlichkeit des Daseins« zu reagieren: »Historismus und Antihistorismus stehen hier neben- und gegeneinander; es genügt in diesem Zusammenhang auf die Namen Hegel und Schopenhauer zu verweisen.«221 Brunner stilisiert beide Begriffe zu zwei fundamentalen Grundhaltungen des modernen Menschen, wobei beide letztlich negativ bewertet werden: »In Weltanschauungen, Ideologien, politischen Programmen bis herab zu einer populären Redeweise erscheint ein Glaube oder Aberglaube an die Geschichte. Man glaubt hier entweder an eine notwendige, zwangsläufige »Entwicklung« auf einem bestimmten, gegenwärtigen oder zukünftigen, Endzustand hin oder an die alleinige Gültigkeit jener »Geschichtlichkeit des Daseins« nicht nur für den die Vergangenheit betrachtenden, sondern auch für den handelnden, gegenwärtigen, von einem bestimmten Zukunftswollen erfüllten Menschen und kommt damit zu einem historischen Relati­vismus.«222 215 Vgl. Mommsen, Wilhelm, Stein. Ranke. Bismarck. Ein Beitrag zur politischen und sozialen Bewegung des 19. Jahrhunderts, München 1954 und ders., Die politischen Anschauungen Goethes, Stuttgart 1949 (Mommsen, Betrachtungen, S. 141, Anm. 38). 216 Vgl. Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, S. 373. 217 Inwiefern dieser Wechsel bei Heinrich Srbik bereits einige Jahre zuvor angedacht wurde, kann hier nicht vertieft werden. Vgl. Srbik, Heinrich, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart. 2 Bde., München 1950 f. 218 Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, S. 86. 219 Brunner, Otto, Abendländisches Geschichtsdenken, in: ders., Neue Wege der Verfassungsund Sozialgeschichte, 21968, S. 26–44, hier S. 27. 220 Ebd. 221 Ebd. 222 Ebd., S. 27 f.

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Mit anderen Worten versucht Brunner, seine »Sozialgeschichte« als Mittelposition zwischen ›Historismus‹, nunmehr verstanden als geschichtsphilosophische Teleologie à la Hegel,223 und ›Antihistorismus‹, hier im Vergleich zu Croce radikal umgedeutet als nihilistischer Relativismus im Sinne Schoperhauers, darzustellen, um erst gar nicht den Verdacht aufkommen zu lassen, dass er die antihistoristische Position selbst geteilt hätte.224 Doch die Kontinuitäten sind schwerlich zu leugnen. Wie bereits vor 1945 richtet sich Brunners Kritik vor allem gegen die liberale Tradition der Kulturgeschichte, die in säkularisierter Form den religiös-metaphysischen Dualismus von Leib / Seele bzw. Geist / Welt unhinterfragt weitergeführt habe.225 Der vermeintlich objektivere Blick auf die Sprache der Quellen und die in einer konkreten historischen Situation verwendeten Begriffe im Verbund mit dem ganzheitlichen Konzept der »konkreten Ordnung« sollte hingegen ja bereits in »Land und Herrschaft« das historistische »Trennungsdenken« überwinden helfen.226 Von »konkreter Ordnung« ist nun nicht mehr die Rede, stattdessen gibt sich der ehemalige Volkshistoriker geläutert und distanziert sich von der Vorstellung »organischer Totalitäten«: »Der Irrweg beginnt, wenn man diese »Entwicklungen« mit der geschichtlichen Wirklichkeit, mit Gruppen, Völkern, Kulturen identifiziert, diese als »organische Totalität« zu fassen sucht oder gar zu hinter dieser empirischen Wirklichkeit wirkenden Kräften macht.«227

Was Brunner auch nach 1945 beibehält, ist jedoch sein Interesse an ›Strukturen‹ und damit an sozialpolitischen ›Ordnungen‹ insgesamt. Koselleck wird es später kritisieren, dass Brunner den Terminus ›Struktur‹ nicht definiert, und somit verschleiert, dass Begriffsgeschichte in erster Linie »Übersetzungsarbeit« ist.228 Einen Gedankengang Sandro Chignolas aufgreifend und weiterführend, könnte man sagen, dass Kosellecks Konzept der »Wiederholungsstrukturen« nachgerade ein Gegenmodell zu Brunners statischem Strukturbegriff darstellt. Strukturen sind demnach nicht als dauerhafte Zustände, sondern als Operationen des Wiederholens zu verstehen, die im Prozess des Aktualisierens stets auch Veränderungen 223 Diese Umdeutung des Begriffs weist Ähnlichkeiten zu Poppers »Historizismus« auf. Vgl. Popper, Karl, Das Elend des Historizismus, Tübingen 72003. 224 Umso zynischer mutet daher auch der folgende Satz an: »aber man muß wohl auch einmal einen Irrweg zu Ende gehen, um ihn als solchen zu erkennen und den rechten Weg zu finden.« (Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, S. 44). 225 Ebd., S. 39. 226 Vgl. etwa Oexle, Otto Gerhard, Sozialgeschichte – Begriffsgeschichte – Wissenschaftsgeschichte. Anmerkungen zum Werk Otto Brunners, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 71 (1984), S. 305–341. 227 Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, S. 39. 228 Koselleck, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, S. 375. Siehe auch Chignola, Sandro, Diferencia y Repetición. Otto Brunner, Reinhart Koselleck, la historia conceptual, in: Conceptos Históricos 1 (2015), S. 18–38, hier S. 31: »Oponiéndose a Brunner, la tesis que defiende [i. e. Koselleck] es que no puede existir historia, ni siquiera de conceptos, sin traducción o reescritura.«

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herbeiführen.229 Wiederholungsstrukturen müssen nicht immer sprachlicher Natur sein und, obwohl sie von der Sprache niemals ganz eingeholt werden können, so werden sie doch stets »sprachlich ermöglicht und sprachlich vermittelt«230, wenn sie in der Geschichtsschreibung als Wirkungszusammenhang dargestellt werden sollen. Diese unhintergehbare sprachliche Vermittlung wird dann selbst zu einem Motor der Veränderung,231 der die verschiedenen Zeitschichten im Sinne unterschiedlicher Geschwindigkeiten der Wiederholungs- und Differenzierungs­ operationen hervorbringt, in dem Maße, wie die »Primärerfahrung« einer »Differenz zwischen Sprache und Sachverhalt« als solche thematisch wird.232 Mit Luhmann ausgedrückt handelt es sich hierbei also um eine Autopoiesis des sozialen Systems, die durch die Selbstbeobachtung der Moderne vermittels zeitlicher, sachlicher oder sozialer funktionaler Differenzierung (also Brunners ›Trennungs­ denken‹) ausgelöst wird. Mit wieder anderen Worten steht jenes liberale, historistische Trennungsdenken, das Brunner überwinden wollte, für Koselleck nicht nur im Zentrum der Moderne, sondern auch im Zentrum seiner Theorie der historischen Zeiten. Dazu gehört auch, dass für Koselleck sich die Geschichte selbst im Laufe der Zeit verändern kann, dass also nicht nur die verschiedenen synchronen »Sehepunkte« (Chladenius), sondern auch die diachron unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte anders konstruieren.233 Wenn Brunner also noch im Jahre 1954 vor den »Gefahren« des geschichtlichen Denkens warnte,234 erwies er sich trotz gegenteiliger Beteuerungen im Kern als unverändert antihistoristisch eingestellt, nämlich unverändert in seiner Ablehnung des liberalen Individualitätsprinzips, des Verlaufscharakters der Geschichte, aber auch der unhintergehbaren Standortabhängigkeit ihrer Darstellung, die wiederum eine konstruktivistischen Position, mithin den Hiatus von Sprache und Welt logisch voraussetzt.235 Mit der Frage nach dem Zusammenhang von ›Historismus‹ und Begriffs­geschichte befasste sich bereits der »Emser Kreis«, aus dem sich später der »Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte« entwickeln sollte.236 Im April 229 Vgl. Chignola, Diferencia y Repetición, S. 32. Vgl. auch ders., Temporalizar la historia. Sobre la Historik de Reinhart Koselleck, in: Isegoría. Revista de Filosofía Moral y Política 37 (2007), S. 11–33. 230 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 117. 231 Was freilich nicht ausschließt, dass es auch außersprachliche Faktoren der Beschleunigung gibt. Dennoch bleibt im Kern die neuzeitliche Beschleunigung eine »Denaturalisierung der Zeit durch die technischen Beschleunigungsfaktoren« (Koselleck, Reinhart, Gibt es eine Beschleunigung der Geschichte?, in: ders., Zeitschichten, S. 150–176, hier S. 153 f.). 232 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 113. 233 Vgl. Koselleck, Theoriebedürftigkeit, S. 311: »Nur hat Chladenius den ›Sehepunkt‹ selber noch nicht historisch relativiert und die Urteilsbildung als überholbar begriffen.« 234 Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, S. 43. 235 Zum Zusammenhang von Differenzierung, Standortabhängigkeit und Konstruktivismus vgl. etwa Luhmann, Niklas, Das Erkenntnisproblem des Konstruktivismus und die unbekannt bleibende Realität, in: ders., Soziologische Aufklärung. Bd. 5, Opladen 1990, S. 31–58. 236 Vgl. hierzu nunmehr Engelhardt, Ulrich, Ein Labor der Sozialgeschichte. Die Entwicklung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte seit 1956, Köln 2020. Die Studie erschien nach Abfassung des Manuskripts und konnte nicht mehr berücksichtigt werden.

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1957 trafen sich unter anderem die Historiker Otto Brunner, Werner Conze und Theodor Schieder sowie die Soziologen Carl Jantke und Gunter Ipsen zu einer Tagung in Bad Ems, auf welcher der Plan gefasst wurde, ein »Historisches Wörterbuch der politisch-sozialen Begriffe im 18./19. Jahrhundert« zu erstellen, »worin Tradition, Traditionsbruch, Bedeutungswandel und ideologische Verkehrungen der wichtigsten Wörter und Begriffe der sich aufspaltenden und ausweitenden alten ›res publica seu societas civilis‹ festgestellt werden sollen.«237 Gerade der Verweis auf »ideologische Verkehrungen« und auf die »Aufspaltung« des alten Europas, erinnern frappant an die bereits weiter oben erwähnten Wiener Diskurse der Zwischenkriegszeit und der damit verbundenen Abwehrversuche historistischer ›Entfremdungen‹. Im Jahr 1945 lobte etwa der zum Protes­tantismus konvertierte Otto Brunner, dass die Reformation den »einheitlichen Strukturzusammenhang« »Alteuropas« zu retten versuchte, in welchem die »Wirklichkeit des Alltags und die letzten metaphysischen Begriffe […] dieselbe Struktur« zeigen.238 Um 1945 avancierten somit Luther und Calvin zu Hütern dessen, was Brunner kurz zuvor noch als »germanische Grundgedanken« bezeichnete, was wiederum die Frage nach der Nähe zur Vorstellungswelt der »Deutschen Christen« aufwirft. Zu dieser Idealvorstellung einer Strukturgleichheit von Wirklichkeit und »letzten metaphysischen Begriffen« gehört auch, dass die Begriffsgeschichte zu dieser Zeit als Teil einer umfassenden Sozialgeschichts-Konzeption verstanden wurde. In diesem Ansatz spielte der später von Koselleck sogenannte Hiatus von Sprache und Welt noch keine zentrale Rolle, wurde er doch als Ausdruck einer »Aufspaltung« verstanden. Noch herrschte ein holistisch-essentialistischer Restbestand vor, der etwa bei Werner Conzes nationsgeschichtlichem Forschungskonzept deutlich wird, aber auch in der zeitgenössischen Kritik an demselben. Ralf Dahrendorf kritisierte etwa – Wolfgang Schieder hat darauf hingewiesen – auf dem Historikertag des Jahres 1962, dass Conze »das Konzept einer nationalen Gesellschaftsgeschichte nur ideengeschichtlich, aber gerade nicht sozialgeschichtlich« verstehe.239 Dahinter steht freilich die Frage geschichtlicher Pluralität, aber auch diejenige einer historisierenden Kritik essentialistischer Kategorien und damit der Reflexion auf die eigenen Vorannahmen. Im deutlichen Unterschied zu Brunners oder Conzes Ausgangspunkten in kollektiven Entitäten, hatte Koselleck dagegen ein grundsätzlich aporetisches Weltbild:240 237 Bundesarchiv Koblenz, Nachlass Theodor Schieder, N 1188/1277: Protokoll »Emser Kreis«, 22.10.1958, ms., 4 S., hier S. 1. 238 Brunner, Otto, Calvin und der Staat. Zu den Forschungen von Josef Bohatec, in: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 65/66 (1944/45), S. 135–148, hier S. 144 und 148. 239 Schieder, Wolfgang, Rezension zu: Dunkhase, Werner Conze. Ein deutscher Historiker im 20. Jahrhundert, in: Göttingische gelehrte Anzeigen 266 (2014), S. 205–218, hier S. 215. Vgl. auch Dunkhase, Werner Conze, S. 259. 240 »Die Gesamtgeschichte bleibt unvernünftig. Vernünftig ist höchstens ihre Analyse.« (Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, S. 9–31, hier S. 16).

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Die Differenziale von Oben / Unten, Früher / Später und Innen / Außen galten ihm im Sinne von Wiederholungsstrukturen als prinzipiell immer aktualisierbar.241 Damit ist jeglicher totalisierender Sicht auf die Geschichte eine Absage erteilt und vielmehr ihre prinzipielle »Sinnlosigkeit« ausgesprochen.242 Jan Eike Dunkhase hat darin den Einfluss des französischen Existenzialismus der 1950er Jahre ausgemacht,243 andere denjenigen des Neu-Kantianismus.244 Hinzu kommen berechtigte Verweise auf Heideggers »Hermeneutik der Faktizität« und Gadamers Verständnis der Sprache als Medium hermeneutischer Erfahrung.245 Kari Palonen erinnerte allerdings auch an die zentrale Bedeutung von N ­ ietzsches »historischen Perspektivismus« der Unzeitgemäßen Betrachtungen und an ähnliche Positionen bei Max Weber.246 Palonen vermutet zugleich jedoch, dass dieser ­Nietzscheanisch-Webersche Perspektivismus im Widerspruch zur These der Wiederholungsstrukturen stehe.247 Hier soll zunächst jedoch vorgeschlagen werden, dass die Vorstellung einer grundsätzlich sinnlosen Welt die Idee einer prinzipiell unbegrenzten Wiederholbarkeit zeitlicher, sachlicher und sozialer Differentiale nicht notwendig ausschließen muss, denn deren stete und ubiquitäre Operationalisierung verhindert ja gerade jegliche Harmonisierung und ›Sinnhaftigkeit‹ realgeschichtlicher Strukturiertheit. Dies erklärt zugleich den Unterschied zwischen Conze und Koselleck, den Palonen darin festmacht, dass Conze in Kosellecks Augen Begriffe nur als Indikatoren betrachtete, Koselleck hingegen bekanntlich als Indikatoren und Faktoren, wobei letzteres allerdings eine gewisse Autonomie der Sprache gegenüber der Welt voraussetzt.248 Koselleck wendet sich damit zugleich gegen »das Axiom des sogenannten Historismus«, hier verstanden als die von Ranke gestiftete Tradition der Geschichtsschreibung: »Jede Epoche ist direkt zu Gott, also immer einmalig«.249 Diese »Einmaligkeitstheorie des Historismus« hat Koselleck selbst wiederum historisiert und als Produkt der sich beschleunigenden Neuzeit beschrieben. Es zeigt sich hierin Kosellecks Absage an die moderne Sehnsucht nach Definität: weder absolute Ein241 Vgl. Koselleck, Reinhart, Was sich wiederholt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21.7.2005 (Nr. 167), S. 6. Koselleck zählte zu diesen Wiederholungsstrukturen erstens naturale Vorbedingungen des Lebens überhaupt, zweitens die aufgeführten »formalen Grundbestimmungen«, drittens gesellschaftliche Institutionen und viertens Typen von Ereignisverläufen. 242 Vgl. Koselleck, Sinn und Unsinn der Geschichte, insb. S. 28. 243 Dunkhase, Jan Eike, Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existenzialismus, Marbach 2015. 244 Vgl. Palti, Elías José, Reinhart Koselleck: His Concept of the Concept and Neo-Kantianism, in: Contributions to the History of Concepts 6/2 (2011), S. 1–20. 245 Vgl. Olsen, History in the Plural, S. 26–29. 246 Vgl. Palonen, Entzauberung, insb. Kap. 2. 247 Vgl. Palonen, Kari, Koselleck’s Two Visions of History, in: Contributions to the History of Concepts 6/2 (2011), S. 124–129, hier S. 128. Ähnlich auch Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 327. 248 Vgl. Palonen, Koselleck’s Two Visions of History, S. 126. 249 Koselleck, Reinhart / Dutt, Carsten, Geschichte(n) und Historik, in: dies., Erfahrene Geschichte, S. 47–67, hier S. 65.

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maligkeit, noch absolute Kontinuität sind möglich. Damit ist der alte Topos der Historia Magistra Vitae zwar nicht rehabilitiert, wohl aber die Möglichkeit mittelfristiger Prognostik und (soziopolitischer) Einflussnahme angesprochen, die sich durch die relative Stabilität der Bedingungen möglicher Geschichte eröffnen. Dass sich viele dieser »strukturellen Vorgaben selbst sich schneller verändern, als das früher möglich war«250, unterscheide die Moderne jedoch »fundamental« von früheren Zeiten. Doch die von Palonen angesprochene Ambivalenz bei Koselleck bleibt zugegebermaßen in einer Hinsicht bestehen und verweist damit auf die bereits bei Wilhelm Bauer gestiftete Programmatik der Begriffsgeschichte: mal scheint Koselleck klassisch geschichtsontologisch zu argumentieren (insbesondere in Bezug auf die »in gewisser Weise […] transzendentale[n] Kategorien, die die Möglichkeit von Geschichten benennen«251), mal entschieden narratologisch, wenn er etwa unter Verweis auf sozialkonstruktivistische Positionen von Thomas Luckmann252 und Theodor Lessing von einer »unlösbaren Paradoxie« sprach: »Denn die Differenz zwischen der wirklichen und der gedeuteten Geschichte reproduziert sich ständig auf neue.«253 Es zeichnet vielleicht Kosellecks pragmatisches Denken und zugleich auch seine Skepsis aus, eine Systematisierung dieser Frage nicht unternommen zu haben.254 Hermann Lübbe versuchte seit Mitte der 1970er Jahre ebenfalls dieses Paradox zu lösen, sich also der ›Ontologie‹ des ›Geschichtlichen‹ vermittels der ›Narration‹ zu nähern,255 und auch Kosellecks Äußerungen sind in Richtung von Lübbes »Analytischen Historismus« hin deutbar. Kosellecks Skepsis gegenüber theoretischen Modellen, die in Konstruktionen des ›Kollektiven‹ ihren Ausgangspunkt haben, zeigt sich auch in seiner Auseinandersetzung mit der Konzeption des »Kollektiven Gedächtnisses«. Anlässlich einer internationalen Konferenz zu Pierre Noras Theorie der »Erinnerungsorte« im Dezember 2003 in Sofia (Bulgarien) stellte Koselleck fest:

250 Ebd., S. 66. 251 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 109. Die angesprochene Ambivalenz wird im kurz darauffolgenden Satz deutlich, wenn die ›Transzendenz‹ der formalen Kategorien wieder eingeschränkt wird durch den Hinweis auf den Konstruktionscharakter der Realität: »Der Kategorienkatalog ist auf empirische Einlösung hin angelegt, ohne die Mannigfaltigkeit der tatsächlich sich ereignenden Geschichten deshalb erfassen zu können. Immer müssen Zusatzbedingungen hinzukommen, um einer Geschichte ihren, wie auch immer konstruierten, Realitätscharakter verleihen zu können.« (S. 109 f.). 252 Vgl. Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel, S. 33, Anm. 8. 253 Koselleck, Sinn und Unsinn, S. 20. 254 Weshalb die Entschiedenheit, mit der Gennaro Imbriano Koselleck zu den Geschichtsontologen zählt, diese Ambivalenz zu sehr in den Hintergrund treten lässt (Imbriano, Gennaro, Der Begriff der Politik. Die Moderne als Krisenzeit im Werk von Reinhart Koselleck, Frankfurt a. M. 2018, S. 54 et passim). 255 Vgl. Lübbe, Hermann, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik und Pragmatik der Historie, Basel 1977, S. 118 ff.; vgl. auch Schnädelbach, Geschichte als kulturelle Evolution, S. 289.

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»Meine Hypothese ist, dass die kollektiven Referenzbestimmungen nicht auf empirische Daten aufruhen, sondern von den sieben großen P-s vertreten werden: die Professoren, die Priester, die Pfarrer, die PR-Spezialisten, die Presseleute, die Poeten und die Politiker. Das sind sieben Kategorien in der Gesellschaft, deren Referenzbestimmungen sich auf Kollektivität beziehen, die sie durch Homogenisierung, Kollektivierung, Vereinfachung, Verschlichtung und Mediatisierung selber stiften wollen. Diese ideologische Zuordnung soll darauf hinweisen, dass die tatsächlichen Erinnerungen pluralistisch und unlösbar im Sinne der Homogenisierung bleiben. Es gibt so viele Erinnerungen wie Menschen und jede Kollektivität, die darüber gestülpt wird, ist m. E. a priori Ideologie oder Mythos. Keine Ideologie und kein Mythos ist dagegen jene Erinnerung, die durch die Düse der historischen Kritik gelaufen ist. Diese Kritik fragt nämlich, was ist nun konkret der Fall gewesen. Meine These lautet dann, dass es zwar keine kollektiven Erinnerungen gibt [,] aber es gibt kollektive Bedingungen der möglichen Erinnerungen. Die kollektiven Bedingungen möglicher Erfahrungen sind religiöser, sozialer, politischer und ökonomischer Art.«256

Aufgabe der Geschichtswissenschaft ist es demnach, sich kritisch gegenüber kollektivistischen Ideologien und Mythen zu verhalten. Insoweit erhält die Begriffsgeschichte gerade durch die Vorstellung der unhintergehbaren Geschichtlichkeit und Einzigartigkeit jeder Erfahrung eine ideologie- und wissenskritische Funktion.257 Letztere ist jedoch zu unterscheiden von jener »Selbstbesinnung«,258 zu der Brunner noch in den 1950er Jahren beitragen wollte, denn diese setzte ja gerade – trotz aller Hinweise auf die letztlich als ein Ganzes unergründlich bleibende geschichtliche Wirklichkeit – die Vorstellung von geschichtlich wirksamen Strukturen voraus, die ein solches kollektives ›Selbst‹ oder ›Wir‹ hervorbringen, auf das es sich dann zu besinnen gelte.259 Brunner forderte bereits in den dreißiger Jahren die stärkere Beachtung von synchronen Strukturzusammenhängen statt des liberalen »Trennungsdenkens«. Diesen Aspekt bezeichnete Koselleck später als »einen konsequenten Historismus, der freilich darauf verzichtet, eigene zeitspezifische Begriffe noch einmal historistisch zu relativieren.«260 Was Koselleck deshalb neu in das Lexikonprojekt mit hinein brachte, war die Vorstellung, dass Historisierung neben dieser bereits bei Brunner zu findenden synchron-relationalen Komponente zugleich ein historisches Kulturmuster zeitlicher Differenzierung darstelle, dem dann weitere Differenzierungsprozesse folgen, wie etwa die Politisierung im Sinne von Polarisierung, Demokratisierung 256 Koselleck, Reinhart, Gibt es ein kollektives Gedächtnis?, in: Divinatio. Studia Culturologica 19 (2004), S. 23–28, hier S. 27 f. 257 Koselleck sprach bereits 1972 vom »ideologiekritische[n] Effekt, den die Begriffsgeschichte auslösen kann«; ders., Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 107–129, hier S. 121. 258 Vgl. Brunner, Abendländisches Geschichtsdenken, S. 43. 259 Vgl. ebd. 260 Koselleck, Reinhart, Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung, in: ders., Begriffsgeschichten, S. 365–387, hier S. 373.

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im Sinne von der Schaffung bzw. des Ausbaus einer zweiten, nicht-staatlichen Öffentlichkeit und Ideologisierung im Sinne von sozialer Differenzierung mithilfe verschiedener Zukunftsentwürfe. Dies bedeutet nicht nur, synchronen und diachronen Perspektiven zu gleichen Anteilen Geltung zu verschaffen, sondern vielmehr sich ihrer gegenseitigen Verschränkung bewusst zu werden, was Kosel­ leck als »Umschreiben« der Geschichte zum Ausdruck brachte, die wiederum aus der »bis heute unüberholte[n] Differenzbestimmung zwischen Sprache und Geschehen, zwischen Sprechen und Ereignissequenzen« resultiere.261 Koselleck zufolge komme es darauf an, »die Aporie des Historismus aufzulösen, der davon überzeugt war, daß man aus Geschichten nicht mehr lernen könne, gleichwohl die Geschichtswissenschaft zur Lehre zählte.«262 Mit anderen Worten ging es Koselleck um eine Historisierung des Historismus. In eine ähnliche Richtung zielte wohl auch Hans-Georg Gadamer, wenn er in der dritten Auflage der RGG aus dem Jahr 1959 für einen »Historismus zweiten Grades« warb, in dem »der Relativismus nicht als eine zu überwindende Aufgabe, sondern als die notwendige Struktur der geschichtlichen Endlichkeit des Menschen gedacht wird.«263 Mit dieser Hoffnung, den ›Historismus‹ noch einmal erneuern zu können, wusste sich Gadamer in den 1950er und frühen 1960er Jahren durchaus nicht allein.264 Auch der Kulturphilosoph und Pädagoge Theodor Litt (1880–1962) machte in seiner Schrift Der Historismus und seine Widersacher265 »in der philosophischen Gegnerschaft gegen die Geschichte die Gefahr eines neuen Dogmatismus«266 aus. Doch ab den 1960er Jahren wird der ›Historismus‹ endgültig zum Feindbegriff, was nicht zuletzt Georg Iggers’ The German Conception of History geschuldet war, welches dem ›Historismus‹ Versagen in der geistigen Abwehr gegenüber dem NS vorwarf.267 Und in diesem Sinne prophezeite auch Hans-Ulrich Wehler seinem Bielefelder Kollegen Reinhart Koselleck, dass dessen Begriffsgeschichte schon »auf mittlere Sicht in die historistische Sackgasse« führen werde.268 261 Koselleck, Reinhart, Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte [2003], in: ders., Begriffsgeschichten, S. 56–76, hier S. 73. 262 Koselleck, Theoriebedürftigkeit, S. 316. 263 Gadamer, Hans-Georg, Historismus, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Kurt Galling, Bd. 3, Tübingen 31959 Sp. 369–371, hier S. 370. Vgl. auch ders., Hermeneutik und Historismus (1965), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. II: Hermeneutik II. Wahrheit und Methode. Ergänzungen und Register, Tübingen 21993, S. 385–424, hier insb. S. 411. 264 Auch in der sogenannten Ritter-Schule lassen sich Bestrebungen zu einer Historisierung des Historismus feststellen. Vgl. Hacke, Jens, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006, S. 57–60. 265 Abgedruckt in Litt, Theodor, Die Wiedererweckung des geschichtlichen Bewußtseins, Heidelberg 1956, S. 19–93. 266 Gadamer, Hermeneutik und Historismus, S. 423. 267 Vgl. Iggers, Georg, The German Conception of History. The National Tradition of Historical Thought from Herder to the Present, Middletown / Conn. 1968. Vgl. Scholtz, Historismusproblem, S. 148. 268 Wehler, Hans-Ulrich, Geschichtswissenschaft heute, in: Habermas, Jürgen (Hg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, Bd. 2: Politik und Kultur, Frankfurt a. M. 1979, S. 709–753, hier S. 725.

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Dass ein solches reflektiertes Historismus-Verständnis wie bei Gadamer und Koselleck allerdings auch mutatis mutandis die Grundlage für den deutsch-jüdischen Begriffsgeschichtspionier Richard Koebner (1885–1958) bildete, kann hier nicht weiter ausgeführt werden.269 Erwähnt sei lediglich, dass Koebners Entwurf einer Historischen Semantik auch in den Vorbereitungen zum Lexikonprojekt der Geschichtlichen Grundbegriffe rezipiert wurde. Die Texte Richard Koebners finden sich zwar ebenso wenig wie diejenigen Wilhelm Bauers auf der ersten »Leseliste« im bereits erwähnten Bericht über die Tagung des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte vom 1. April 1963, der als Vorlage für die Verfasser der Lexikonartikel diente.270 Doch bereits im Oktober 1963 schrieb der zu dieser Zeit ebenfalls am Projekt beteiligte Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis (1923–2012) an seinen Heidelberger Kollegen Reinhart Koselleck: »Gerade lese ich ein für unser Vorhaben sehr interessantes Buch von Richard Koebner und Helmut D. Schmidt ›Imperialism. The Story and Significance of a Political Word, 1840–1960, Cambridge U P 1963‹.«271 In dieser postum erschienen und von Koebners Schüler fertiggestellten Studie zur Begriffsgeschichte des ›Imperialismus‹ findet sich in der Einleitung auch eine knappe Skizze von Koebners Methode und Moderne-Theorie: »But what is new in the recent understanding of the modern age is the belief that the critical present is at the same time the beginning of an unprecedented new period in human history. The present is understood to be creative to the same degree as it is catastrophic. […] This conviction, then, is common to all the modern assertive ideologies, all the party slogans, and to all the isms of the last two centuries. They aspire to be both modern and assertive, even where they appear to be negative watchwords, such as despotism in the eighteenth century and imperialism in the present.«272

Stärker als in allen begriffsgeschichtlichen Ansätzen zuvor, hat Koebner mit seiner »Wortbedeutungsforschung«273 nach der Zeitstruktur der Begriffe gefragt, die er 269 Vgl. hierzu Tietze, Zeitwende und ders., Von der Ostforschung zur Historischen Semantik. Richard Koebner, ein deutsch-jüdischer Pionier der Begriffsgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 67 (2019), S. 31–72. 270 In einer späteren Version der »Richtlinien«, die nach 1964 erstellt wurde, findet sich jedoch in der Literaturliste der Verweis auf Koebner, Richard, Semantics and Historiography, in: The Cambridge Journal 7/3 (1953), S. 131–144 (UAH, Acc. 09/5–24: »Lexikon politisch-sozialer Begriffe der Neuzeit«, Broschur, 44 S., hier S. 29). 271 UAH, Acc. 9/05–15: »Deutsches Wörterbuch (DFG) 1960/61 laufend«, hier Bl. 195: Wilhelm Hennis an Reinhart Koselleck, 26.10.1963. Der zitierte Satz ist rot unterstrichen und in Kosellecks Handschrift ist angemerkt: »anschaffen!«. Im Arbeitskreis wurden mehrere Tagungen zum Thema »Imperialismus« abgehalten, darunter auch im Oktober 1965 (vgl. Engelhardt, Ein Labor der Sozialgeschichte, S. 316). Inwieweit hierbei Koebner eine Rolle spielte, bedarf noch der Klärung. 272 Koebner, Richard / Schmidt, Helmut D., Imperialism. The Story and Significance of a Political Word, 1840–1960, Cambridge 1963, S. XVII (Hervorhebung im Original). 273 Vgl. Koebner, Richard, Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung [1953], in: ders., Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende. Vorträge und Schriften aus dem Nachlaß, Gerlingen 1990, S. 260–274.

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in der spezifisch modernen »Idee der Zeitwende« vermutete.274 Die Frage stellt sich somit, inwiefern Kosellecks spätere Studien zur Theorie der historischen Zeiten nicht auch durch Koebner einen wichtigen Impuls erhalten haben.275 Kosellecks Theorie der historischen Zeiten war jedenfalls von einem sich selbst reflektierenden und immer wieder aufs Neue problematisierenden Kulturmuster der Historisierung geprägt,276 das sich in ähnlicher Form auch bei Koebner finden lässt und sich zugleich deutlich abhebt von Brunners antihistoristischen These eines klaren Bruchs zwischen dem vormodernen »Alteuropa« und der liberalen Moderne.277 Periodisierungen stehen und fallen bei Koselleck stets in Abhängigkeit konkreter Fragestellungen und können nicht ohne weiteres verallgemeinert werden.

III. Schlussbemerkungen Wie in dieser Skizze des Verhältnisses von Begriffsgeschichte und ›Historismus‹ gezeigt werden sollte, so stand in allen begriffsgeschichtlichen oder historischsemantischen Ansätzen immer auch die Frage im Zentrum ihrer Überlegungen, wie mit dem »Kulturmuster der Historisierung«278 umzugehen sei, welches sich als eine immer wieder aufs Neue aktualisierte Bedeutungsschicht des Begriffs ›Historismus‹ erwies. Der Terminus ›Historisierung‹, dem zeitgenössisch die Begriffe ›Geschichtlichkeit‹ oder ›Historizität‹ in mehr oder minder synonymer Verwendung zur Seite standen,279 wird hierbei verstanden als ein Muster280 primer temporaler Differenzierungsoperationen, aus denen sekundär sachliche und 274 Vgl. hierzu Tietze, Zeitwende, insb. S. 150–153. 275 Von Koselleck gibt es nur wenige Äußerungen zu Koebner. Vgl. v. a. Koselleck, Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte, S. 57: Koselleck zufolge sei Koebner in seiner vor allem »pragmatischen« Semantikforschung eher als »Vorläufer[..] von Pocock und Skinner« zu betrachten, auch wenn er den Begriffen gemäß der deutschen idealistischen Tradition drüber hinaus eine »eigene, sprachimmanente Geschichte« zuspreche. 276 Vgl. Tietze, Peter, »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«: Richard Koebners und Reinhart Kosellecks historische Semantikforschungen zwischen Historismus und ›Post­ historie‹, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5/2 (2016), S. 6–22. 277 Vgl. hierzu auch Jordheim, Helge, Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51 (2012), S. 151–171. ›Historismus‹ wird bei Jordheim allerdings pauschal mit einem Denken in essentialistischen Periodisierungen identifiziert, was einer genaueren Differenzierung bedarf. 278 Vgl. Fulda, Historicism. 279 Was freilich nicht bedeuten soll, dass diese Begriffe nicht im starken Widerspruch zueinander stehen könnten. Oexle macht etwa darauf aufmerksam, dass bei Heidegger »die Historizität alles dessen, was ist, aufgehoben [i. e. ›stillgelegt‹] wird im ›Existenzial‹ der ›Geschichtlichkeit‹«; Oexle, Begriffsgeschichte, S. 387. 280 Luhmann definiert ›Kulturmuster‹ wie folgt: »Kulturmuster sorgen für die Reaktivierbarkeit von Verhaltensmustern, für die Reaktivierbarkeit etwa von Rollen und einzelnen Handlungstypen in zeitlich weit auseinanderliegenden Situationen.« (Luhmann, Niklas, Einführung in die Systemtheorie, hg. von Dirk Baecker, Heidelberg 62011, S. 31).

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soziale Differenzierungsoperationen folgen können.281 Der Aspekt auf den hin die Differenzierung erfolgt, ist derjenige der Funktion bzw. der Verwendungsweise, im Falle der Begriffsgeschichte also die Rekonstruktion des konkreten (soziopolitischen) Gebrauchs der Begriffe als Ausdruck eines Erfahrungsgehalts.282 Das Neue an Kosellecks »reflektierte[m] Historismus in systematischer Absicht, die von der Sprache selber erzwungen wird«283 ist der Umstand, dass er zwei zuvor getrennte Auffassungen des Kulturmusters der Historisierung zusammenbringt: einerseits das von den Antihistoristen eingeforderte (aber nicht immer umgesetzte) synchrone, kontextualisierende Denken, und andererseits Historisierung als funktionale Differenzierung, die diachron operationalisiert wird. Und zwar letzteres sowohl als ein für die (europäische) Moderne spezifisches Kulturmuster, als auch als ein Analyseinstrument des Historikers. Entsprechend ist Kosellecks ›Historismus‹ reflektiert, weil er sowohl auf die Kontingenz als auch auf die Aporien der Wirklichkeit abhebt und sich damit gegen jegliche teleologischen Geschichtsphilosophien richtet. Er ist historistisch, insofern er die Historisierung als auch die daraus resultierende Vieldeutigkeit und Vielfalt der Lebensäußerungen betont. Doch dieser ›Historismus‹ wird in systematischer Absicht vollzogen, weil er kein bloßes Einfühlen in individuelle Intentionalität darstellt, sondern dazu drängt, eine Theorie der historischen Zeiten zu etablieren, die auch die Sozialgeschichte miteinbezieht. Dieser Versuch einer genuin geschichtswissenschaftlichen Theoriebildung wird insofern von der Sprache selber erzwungen, als der Hiatus von Sprache und Welt zu immer neuen Konstruktionen, zum immer neuen Umschreiben aus der jeweiligen Perspektive des Fragestellers anspornt. Das Kulturmuster der ›Historisierung‹ desavouiert den neuzeitlichen Wunsch nach Definität und Reduktion284 und zwingt zur unablässigen Reproblematisierung285 nicht nur des geschichtlichen Wissens, sondern auch des ›Historismus‹ selbst im Sinne einer stets aufs Neue unternommenen Auseinandersetzung mit der Relativität (Dilthey), Standortabhängigkeit (Troeltsch) und Individualität (Meinecke) jeg­licher Geschichtsschreibung. Die Begriffsgeschichte wird so verstehbar als zentrale Reflexionsform auf die Aporien und Nebenfolgen der Moderne und vollzog somit in ihrer eigenen 281 Ob die ›Historisierung‹ ihrerseits eine »Funktion der evolutionären Beschleunigung unserer Zivilisation« ist, wie Hermann Lübbe meint, oder ihr Ursprung, muss dahingestellt bleiben (Lübbe, Hermann, Zeit-Verhältnisse. Zur Kulturphilosophie des Fortschritts, Graz 1983, S. 27). 282 In diesem funktionalen Aspekt liegt auch der wesentliche Unterschied zum scholastischen semper distinguendum est, insofern dies darauf abzielte, selbstständige Teile zu einem harmonischen Ganzen zusammenzuführen. Vgl. Koch, Josef, Scholastik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5, Tübingen 31961, Sp. 1494–1498, hier Sp. 1495. 283 Koselleck, Zur Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte der einmalig geprägten aristotelischen Bürger-Begriffe, in: ders., Begriffsgeschichten, S. 387–401, hier S. 399. 284 Zur »Historischen Semantik als Definitätsverzicht« siehe Konersmann, Historische Semantik und Politik, insb. S. 325 f. 285 Entlehnt aus Laube, Reinhard, »Perspektivität«. Ein wissenschaftssoziologisches Problem zwischen kulturbedingter Entproblematisierung und kulturwissenschaftlicher Reproblematisierung, in: Oexle, Otto Gerhard (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, Göttingen 2001, S. 128–179.

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Genese die Entwicklung hin zu einer zweiten, reflexiven Moderne (Beck).286 Diese reproblematisierende Position Kosellecks ist im Kern nicht beharrend-konservativ, verwirft sie doch die Idee einer kompensatorischen Kraft historischer Narrative, wie sie bei Otto Brunner noch anzutreffen war, und ermahnt vielmehr zu Verantwortung und Selbstkritik im Bewusstsein der Vorläufigkeit und Zeitgebundenheit ihrer eigenen Produkte.287 Dass auch dieser Ansatz nicht ohne (relativ) feste Setzungen auskommt, zeigen Kosellecks unsystematisch betriebene Versuche auf dem Gebiet der Anthropologie. Doch Systematik und strenge Verkettung der Elemente raubten der Theorie nur ihre Dynamik und Offenheit, denn mit Odo Marquard gesagt: »Der gleichwertige Widerstreit beider – der Geschichtsphilosophie und der Anthropologie – ermöglicht dem Skeptiker die Epoché.«288 Koselleck hat den Begriff ›Historismus‹ außer in dem anfangs angeführten Zitat aus dem Jahre 1981 kaum je im Sinne einer Selbstbezeichnung verwendet. Der Kampfbegriff ›Historismus‹ war in seiner asymmetrischen Wirkung bereits zu mächtig geworden.289 Vielleicht hat dies aber auch damit zu tun, dass viele seiner Positionen zunehmend unter dem Begriff des französischen ›Poststrukturalismus‹ oder der ›Postmoderne‹ verhandelt wurden und die deutschen Versuche einer selbstkritischen Historisierung des Historismus-Diskurses in den Hintergrund traten.

286 Beck, Ulrich, Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung, Frankfurt a. M. 1993. Kari Palonen hat die Reflexion auf die unbeabsichtigten Nebenfolgen gar als zentrales Charakteristikum von Kosellecks Begriffsgeschichte benannt (Palonen, Entzauberung der Begriffe, S. 15). 287 Diesem Zusammenhang entstammt auch Kosellecks Engagement für das kontrovers diskutierte »Tätermal«, das er aus der Kluft zwischen Erinnerung und Erfahrung zu begründen suchte (vgl. Koselleck, Reinhart, Die Diskontinuität der Erinnerung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 47/2 (1999), S. 213–222, hier S. 222). Siehe auch Olsen, History in the Plural, S. 288–297. 288 Marquard, Odo, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie. Aufsätze, Frankfurt a. M. 1973, S. 29. 289 Vgl. Rüsen, Jörn, Die Last der Geschichte und das Versprechen der Zukunft  – Historismuskritik gestern und heute, in: Gebhard, Helmut / Sauerländer, Willibald (Hg.), Feindbild Geschichte. Positionen der Architektur und Kunst im 20. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 21–53, hier S. 35. Zu Rüsen selbst vgl. Wiklund, Martin, Rüsen’s Response to the Crisis of Historicism, in: Intelligere, Revista de História Intelectual 3/2 (2017), S. 90–104.

Reinhard Mehring

Negativer Kantianismus. Kosellecks sinnkritische »Primärerfahrung«

Der folgende Text erörtert philosophische Voraussetzungen des memorialpolitischen Spätwerks von Kosellecks Kritik der Geschichtsphilosophie her. Dafür erörtert er eingangs auch die Ausgangslage im Heidelberger Studium. Als einen vorletzten Stand der Geschichtstheorie betrachte ich die Aufsatzsammlungen »Vergangene Zukunft« und »Zeitschichten« in deren Komplementärverhältnis:1 Gegen die Neuzeit erinnerte Koselleck kompensatorisch an den Bestand älterer Strukturen. Seine definitive »Theorie der historischen Zeiten« und Historik blieb dann ungeschrieben. Selbst die im Vorwort zu den »Zeitschichten« angekündigten Folgebände blieben aus. Die »Begriffsgeschichten« hat Koselleck zwar noch selbst zusammengestellt, nicht aber, wie beabsichtigt, grundlegend eingeleitet. Die Aufsatzsammlung »Vom Sinn und Unsinn der Geschichte« ist eine posthume Herausgeberkompilation. Ich konzentriere mich auf wenige Texte aus diesem 2010 posthum herausgegebenen Band sowie einige späte denkmalpolitische Beiträge. Mein Text erinnert die Heidelberger Ausgangslage und Kosellecks frühe politische Kritik der Geschichtsphilosophie, konstatiert eine sinnkritische Gegenrechnung zum idealistischen Teleologismus Kants und liest die ästhetischen und denkmalpolitischen Konsequenzen als Selbstdementi der frühen Kritik: Koselleck macht mit seiner Geschichtstheorie starke geschichtsphilosophische Voraussetzungen und übersetzt seine Sinnkritik im Spätwerk in eigene denkmalpolitische Instruktionen und Planungen.

1 Verschiedentlich habe ich mich bereits zur Thematik geäußert: Mehring, Reinhard, Das Politikum der Kritik. Geschichtstheorie nach Carl Schmitt, in: Neue Rundschau 111 (2000), Heft 3, S. 154–167; ders., Thomas Hobbes im konfessionellen Bürgerkrieg. Carl Schmitts HobbesBild und seine Wirkung im Kreis der alten Bundesrepublik, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 36 (2008), S. 518–542; ders., Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 138–168 (überarbeitet in: Mehring, Reinhard, Carl Schmitt: Denker im Widerstreit, Freiburg 2017, S. 293–310); ders., Der Sinn der Erinnerung. Zur Geschichtsethik Reinhart Kosellecks, in: Mittelweg 36 22 (2013), Heft 1, S. 41–52; ders., Philosophischer »Schmittianismus«? Reinhart Kosellecks Korrespondenz mit Carl Schmitt, in: Philosophische Rundschau 67 (2020), S. 34–53.

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Reinhard Mehring

I. Die Heidelberger Ausgangslage: Entscheidung für Löwith Die Ausgangslage des geschichtsphilosophischen Diskurses nach 1945 war für Koselleck durch die eigenen Kriegserfahrungen und den »Weltbürgerkrieg« im Zeitalter der Ideologien bezeichnet. Das Terrain des geschichtsphilosophischen Diskurses war durch die Kritik der Großideologien bestimmt. Eine tiefenscharfe Analyse des nationalsozialistischen Geschichtsbildes lag noch nicht vor. Die Auseinandersetzung erfolgte im Kanon der nachidealistischen Philosophie. Hegelianismus und Marxismus, Teleologismus und Finalismus galten als Problem. Der Marxismus wurde dabei gerne als Spielart des Hegelianismus betrachtet, der endgeschichtliche Finalismus als starker Teleologismus kritisiert. Was in der breiteren Wahrnehmung heute gerne mit Poppers HistorizismusKritik verbunden wird, trat Koselleck im Heidelberger Studium durch andere Autoren entgegen. Gadamer und Löwith lehrten noch nicht in Heidelberg, als er sein Studium 1947 begann. Jaspers wechselte im März 1948 nach Basel. 1950 lernte Koselleck Schmitt kennen. Gadamer lehrte da gerade erst in Heidelberg, Löwith kam 1952 nach. Koselleck hat sich verschiedentlich an seine Lehrer erinnert, besonders autoritativ 2004 in seiner Dankesrede zum 50. Jahrestag seiner Promotion. Jaspers ist dort in der Reihe der Lehrer gar nicht genannt, obgleich Koselleck ihn noch hörte und mehrfach karikierte. Auch der philosophische Extraordinarius Franz Josef Brecht wird als Lehrer nur »ferner« genannt. Gadamer und Löwith lernte Koselleck im Studium also erst relativ spät kennen. Wenn sein Name heute mit Kompensationstheoretikern wie Hermann Lübbe und Odo Marquard verbunden wird, stehen diese Namen und Bekanntschaften doch nicht am Anfang der Heidelberger Prägungen; sie ergaben sich erst seit den späteren 1950er Jahren. Wenn Nicolaus Sombart dagegen in seinen Erinnerungen für die Anfänge ein Heidelberger Trio Infernale mit Kesting und Koselleck konstruiert, das mit einer konzertierten Kritik der modernen Geschichtsphilosophie hervortrat, zeigt Sombarts Briefwechsel mit Schmitt doch keine ungetrübten Nähen. Sombart scheint Kosellecks Bekanntschaft mit Schmitt aber durch die Übersendung eines studentischen Referates über »Kants Friedensplan« vermittelt zu haben. Schmitt schreibt Sombart am 2. Mai 1950 dazu: »Koselleck-Referat ist sehr gut; erzähl ihm die Geschichte vom Ketzerrichter!«2 Kant kritisierte in seiner Religionsschrift3 die Orientierung des Richters an den kontingenten »Geschichtsdokumenten« des »statuarischen Glaubens«; Schmitt bezog sich ansonsten aber nicht zustimmend auf Kant, sondern betonte damals, im »Nomos der Erde«,

2 Schmitt am 2. Mai 1950 an Nicolaus Sombart, in: Tielke, Martin (Hg.), Schmitt und Sombart. Der Briefwechsel von Carl Schmitt mit Nicolaus, Corina und Werner Sombart, Berlin 2015, S. 32. 3 Kant, Immanuel, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: ders., Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 7, S. 860 ff.

Negativer Kantianismus. Kosellecks sinnkritische »Primärerfahrung« 

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diskriminierende Folgen von Kants Rede vom »ungerechten Feind«.4 Kosellecks frühes Dissertationsprojekt zielte vermutlich auf eine politische Kant-Kritik, die in »Kritik und Krise« auch im weiteren Kontext entwickelt ist. Sombart promovierte damals in Heidelberg zwar auch über die Geschichte der Geschichtsphilosophie. Nur Kesting und Koselleck haben ihre verwandten Dissertationen aber zu kongenialen Büchern ausgebaut, die nicht nur Habermas5 als Parallelwerke unter dem Patronat Schmitts skeptisch betrachtete. Sombart schreibt Schmitt dazu schon 1957 einen verwegenen Plan: »Sollten wir nicht einen Band ›Briefwechsel mit Carl Schmitt‹ herausgeben, in dem die Briefe von und an Altmann, Kesting, Koselleck, Scheibert, Schnur, Krauss, Warnach etc. in chronologischer Reihenfolge, seit Kriegsende, veröffentlicht würden? (Die besten natürlich nur.) Ich glaube, unser Kreis würde sich damit vor der Geschichte als das fruchtbarste Zentrum deutschen Geisteslebens nach dem Kriege ausweisen, und der wahre Zusammenhang und Zuordnungspunkt unser aller Arbeit würde zu unser aller Gewinn leuchtend sichtbar werden.«6

Die Heidelberger Kontakte von Sombart, Koselleck und Kesting lassen sich zwar nicht als eng verschworener Freundschaftsbund nach dem Muster Tübinger Stiftler rekonstruieren. Eine solche Legende wurde erst von der neueren Forschung gestrickt. Dennoch trifft Sombarts frühe Mythisierung des »Kreises« einen Punkt: Koselleck gehörte wie Kesting und Schnur zu den bedeutendsten Adepten der Plettenberger Impulse; Kesting war ihm dabei seit frühen Heidelberger Tagen ein enger Gesprächspartner und Freund. Aus den Kreisen um Schmitt war darüber hinaus auch Roman Schnur wichtig, auch er ein sehr belesener, kluger und origineller Partner. Jan Eike Dunkhase hat Kosellecks Korrespondenz mit Schmitt vorzüglich ediert und die frühen Lektüren existentialistischer Autoren aus dem Archiv zu rekonstruieren versucht.7 Er verweist auf Kosellecks autobiographische Identifikation und Analogisierung der KZ-Lager mit der eigenen russischen Kriegsgefangenschaft, auf die »ambivalente Haltung« zu Jaspers, das Studium von Heideggers »Sein und Zeit« seit 1949 und ein Interesse an Sartre und Camus, das aber in den begrifflichen Folgen unklar bleibt. Dunkhase betont auch, dass Koselleck als »früher Totalitarismus-Theoretiker« von einer Kritik des »Jakobinismus« ausging. Das freilich war eine verbreitete Position, die bei Schmitt8 wie Gerhard Ritter9 und anderen zu finden ist. Eine existentialistische Philosophie 4 Schmitt, Carl, Der Nomos der Erde im Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 140 ff. 5 Habermas, Jürgen, Zur Kritik der Geschichtsphilosophie, in: ders., Politisch-philosophische Profile. Frankfurt a. M. 1981, S. 434–444. 6 Sombart am 5. Februar 1957 an Schmitt, in: Tielke, Schmitt und Sombart, S. 100 f. 7 Dunkhase, Jan Eike, Absurde Geschichte. Reinhart Kosellecks historischer Existentialismus, Marbach 2015. 8 Dazu vgl. Schmitt, Carl, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf (1921), München 1927, S. XI ff., S. 143 ff.; ders., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, München 1926. 9 Ritter, Gerhard, Europa und die deutsche Frage, München 1948.

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Kosellecks lässt sich aus den frühen Quellen schwerlich rekonstruieren. Es kann hier die Ausgangslage auch nur grob durch Heidelberger Lehrer umrissen werden. Koselleck traten im Heidelberger Studium mindestens zwei bedeutende, jedoch geradezu konträre geschichtsphilosophische Entwürfe entgegen: Karl Jaspers’ »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte« (1949) und Karl Löwiths »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« (1953), das 1949 zunächst in Chicago unter dem Titel »Meaning in History« erschienen war. Löwith und Jaspers leiteten einander ihre Bücher zu,10 doch die von Löwith versprochene Besprechung ist bezeichnenderweise wohl nie erschienen. Koselleck schrieb eine unveröffentlicht gebliebene negative Besprechung von Jaspers.11 Vielleicht hatte Löwith ihm seinen Plan abgetreten. Im Vorwort vom Sommer 1952 schreibt Löwith,12 dass Kesting das Buch aus dem Englischen übersetzt habe. Koselleck betonte später wiederholt, dass er an der Übersetzung intensiv beteiligt war und die »letzten vier Kapitel und alle Anmerkungen« selbst übernommen hatte.13 Diese Kapitel betrafen die christliche Vorgeschichte der Geschichtsphilosophie bis zum hohen Mittelalter (Joachim de Fiore). Warum Löwith die Übersetzung ausschließlich Kesting zuschreibt und wie genau die Übersetzungsarbeit erfolgte, ist zwar bislang ungeklärt. Es ist aber anzunehmen, dass Löwith die Übersetzung intensiv durchgesehen und besprochen hat. Löwith prüfte Koselleck im mündlichen Promotionsexamen und beurteilte dessen Dissertation als Zweitgutachter recht kritisch.14 Wie genau sich das persönliche Verhältnis gestaltete, ist offen. Kosellecks frühe und kritische Wahrnehmung von Jaspers ist biographisch ebenfalls noch nicht genau erschlossen. Es lässt sich aber sagen, dass Koselleck sich in der Alternative zwischen Jaspers und Löwith, dem positiven geschichtsphilosophischen Entwurf und der Kritik der teleologischen Geschichtsphilosophie, eindeutig für Löwith entschieden hat. Kosellecks relatives Desinteresse an Jaspers und dessen Geschichtsphilosophie hat wahrscheinlich auch persönliche und politische Aspekte, worüber hier nicht spekuliert werden soll. Jaspers hatte mit seinem Buch »Vom Ursprung und Ziel der Geschichte« einen kühnen geschichtsphilosophischen Entwurf vorgelegt, der den überlieferten Teleologismus empirisierte, jedenfalls zur Empirisierung vorschlug, 10 Dazu die Briefe Löwiths vom 1. August 1949 und 18. Januar 1950 sowie Jaspers’ Antwort vom 8. August 1949 an Löwith in: Jaspers, Karl, Korrespondenzen. Philosophie, hg. von Kaegi, Dominic / Wiehl, Reiner, Göttingen 2016, S. 510ff, vgl. S. 513: »Vor einigen Tagen erhielt ich zu meiner Freude vom Piper Verlag Ihre Geschichtsphilosophie. Haben Sie vielen Dank dafür! Ich soll sie für Bultmanns Theolog. Rdsch. besprechen. Ich nehme an, dass Sie vom Chicago Verlag andererseits mein Buch erhalten haben.« 11 So Dunkhase, Absurde Geschichte, S. 39. 12 Löwith, Karl, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1953, S. 7. 13 Koselleck, Reinhart, Dankesrede, in: Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck (1923– 2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion, Heidelberg 2006, S. 33–60, hier: S. 45; vgl. Dutt, Carsten / Koselleck, Reinhart, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 37 f. 14 Abdruck des Gutachtens in: Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Frankfurt 2019, S. 64.

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und politisch aktualisierte. Eine zentrale These betraf die sog. »Achsenzeit«. Jan Assmann15 hat die diversen Auslegungen der »Achsenzeit« unlängst eingehend rekonstruiert. Wenn Koselleck für das Lexikon Geschichtliche Grundbegriffe ziemlich improvisiert und lax von einer »Sattelzeit« sprach, antwortete er damit auch auf die »Achsenzeit«. Inzwischen wurde vielfältig ausgeleuchtet, wie fragwürdig diese paradigmatische These und Metapher ist. Wolfgang Schieder verwies auf unserer Bielefelder Tagung auf leicht ironische Erklärungen Kosellecks aus der Epoche des Pferdezeitalters: Die Sattelzeit bezeichnete demnach einen Anspruch von Militärpferden auf eine tägliche Ausrittzeit. Wenn Koselleck die Metapher derart buchstäblich auf das Pferdezeitalter rückbezog und so seine eigene These ironisierte, hörte er aus der »Achsenzeit« auch eine technikgeschichtlich konkrete Bedeutung heraus. Das metaphorische Spiel mit starken Thesen und Theorien war eine akademische Eulenspiegelei, wie sie einem gelehrten und hintersinnigen Schalk wie Koselleck geziemte. Kosellecks »Sattelzeit« ist auch als ironischer Nachhall auf die »Achsenzeit« zu lesen. Als Historiker interessierte Koselleck sich nicht weiter für die transkulturell vergleichende Empirisierung der »Achsenzeit«. Das war nicht seine Epoche. Erklärungsbedürftiger ist dagegen seine Tabuisierung der Frage nach der Zukunft. Jaspers entwickelte seine Geschichtsphilosophie um der zeitdiagnostischen Orientierung der Gegenwart willen; er verband mit seiner These von der »Achsenzeit« zwar eine starke transkulturelle These, die den überlieferten Eurozentrismus in der Nachfolge von Kulturkreistheorien und polyzentrischen Entwürfen (Spengler, Toynbee u. a.) verabschiedete; in seinem Buch »Die großen Philosophen« führte er seine transkulturelle Sicht 1957 auch eingehender aus; der Entwurf von 1949 zielte in der Wiederaufnahme früherer Diagnosen der »geistigen Situation der Zeit« aber vor allem auf eine geschichtsphilosophische Standortbestimmung. So schreibt Jaspers 1949: »Die geschichtsphilosophische Totalanschauung, wie wir sie versuchen, soll die eigene Situation erleuchten im Ganzen der Geschichte. Geschichtliche Anschauung dient zur Erhellung des Bewusstseins des gegenwärtigen Zeitalters. Sie zeigt den Ort, an dem wir stehen.«16

Als das »schlechthin Neue«, das die Zukunft prägt, bezeichnete Jaspers 1949 die okzidentale »Wissenschaft und Technik«. Einige Jahre später, 1958, schrieb er mit seinem – von Koselleck positiver aufgenommenen – Buch »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen« die Atombombe in die Epochensignatur des gegenwärtigen Zeitalters hinein. Jaspers entwickelte seine Geschichtsphilosophie mit Kant in weltbürgerlicher Orientierung um der »Zukunft« des Menschen willen. Kosellecks weitgehende analytische Tabuisierung des »Erwartungshorizonts« der Zukunft ist dagegen ein Erbe des Totalitarismustheorems, an dem Koselleck lebenslang festhielt. So kritisch er über kausalistische Geschichtsteleologien dachte, 15 Assmann, Jan, Achsenzeit. Eine Archäologie der Moderne, München 2018. 16 Jaspers, Karl, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, Zürich 1949, S. 107.

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so endgeschichtlich verbot er sich optimistische Szenarien und Prognosen der Zukunft. Grob gesagt lehnte er Jaspers’ starke Thesen zum Ursprung und Ziel der Geschichte – »Achsenzeit« und »Zukunft« – also historisch wie philosophisch ab: Seiner Auffassung nach ließ sich das Konstrukt der polyzentrischen Achsenzeit historisch nicht streng bestätigen, starke Zukunftsaussichten verboten sich ihm angesichts der Schere von Herkunft und Zukunft, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont. Das sind zwei starke Vorbehalte, die ihn von Jaspers’ Geschichtsphilosophie trennten. In seinem Beitrag »Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische« äußerte er sich 1986 zwar ziemlich positiv, ohne persönliche Studienerinnerungen anzuführen; er konzedierte nun ein »prognostisches Potential«,17 betonte aber auch das »joachitische Erbe«18 in Jaspers und las dessen Geschichtsphilosophie als mystische Utopie und Verklärung der Weltgeschichte zum »Weltgericht«. Jaspers hatte die Doppelberufung von Gadamer und Löwith nach Heidelberg nicht wirklich gewünscht, wie Korrespondenzen19 zeigen. Gadamer und Löwith waren auch nicht eng miteinander befreundet. Löwith gehörte zu den ältesten Freiburger Heidegger-Schülern, während Gadamer erst in Marburg in den Kreis trat. Während Koselleck später mit Gadamer freundschaftlichen Kontakt pflegte, stand er am Anfang positionell Löwith wohl näher. Wichtig ist hier sachlich zweierlei: Koselleck folgte Löwith  – und nicht Gadamer  – in der Heidegger-Kritik, und dieses Interesse an Löwith war wohl auch durch Carl Schmitt vermittelt. Schmitt interessierte sich für Löwith seit dessen früher und wirkungsvoller Kritik am »politischen Dezisionismus«; er las Löwiths »Von Hegel zu Nietzsche« (die von Schmitt gelesene EA hieß: »Von Hegel bis Nietzsche«) und rezensierte »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« schon 1950 in der englischen Originalfassung.20 Während Schmitt aber christliche Motive im Geschichtsdenken gegen Löwith zu erneuern suchte, folgte Koselleck doch Löwith in der Destruktion des geschichtsphilosophischen Teleologismus und Finalismus. Die Kritik der »christlichen Überlieferung« und des Protestantismus war ­Löwiths philosophisches Lebensthema. Er folgte Nietzsche und dem Junghegelianismus in der konfessionellen Gleichsetzung des philosophischen Idealismus mit christlich-protestantischer Philosophie und richtete seine »skeptische« Dekon­ struktion gegen das Christentum. »Von Hegel zu Nietzsche« entwickelte diese Religionskritik ebenso wie »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« und zahlreiche weitere kleinere Arbeiten. Wenn Koselleck dieses religionskritische Pathos auch nicht teilte, verband ihn doch das existentialistische, skeptische und atheistische Credo. 17 Koselleck, Reinhart, Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2010, S. 306–318, hier: S. 318. 18 Koselleck, Jaspers, die Geschichte und das Überpolitische, S. 316. 19 Dazu Mehring, Reinhard, »Vergeben Sie ihm bitte, mein lieber Herr Professor Jaspers«. Heidegger-Schüler in der Korrespondenz mit Karl Jaspers, in: Politisches Denken. Jahrbuch 2017, S. 221–230. 20 Schmitt, Carl, Drei Stufen historischer Sinngebung, in: Universitas 5 (1950), S. 927–931.

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Löwiths schon vor 1933 entwickelte Heidegger-Kritik lässt sich formelhaft an der Ablehnung der »ontologischen Differenz« festmachen, die zwischen einem »ontischen« Existenzideal und einem »ontologischen« Seinsverständnis unterschied. Löwith kassierte diese Differenz und meinte, dass Heideggers Fundamentalontologie »ontisch« im existentialistischen Zeitgeist der Weimarer Republik und postnietzscheanischen »Nihilismus« befangen blieb.21 Gadamer dagegen hielt an Heideggers »ontologischer Differenz« fest, auch wenn er in seiner philosophischen Hermeneutik von »Seinsverständnis« auf »Selbstverständnis« umstellte. Löwith bezweifelte, dass Heidegger den »aktiven Nihilismus« Nietzsches tatsächlich überwunden habe, und er betrachtete ihn lebenslang – zutreffend – als Nietzscheaner. Schon im frühen Briefwechsel suchte er Heidegger deshalb im Gespräch mit Nietzsche zu stellen; seine Verweise auf Nietzsche gehören zu den frühesten Belegstellen für Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsche vor 1933. Im unlängst erschienenen Band »Zu eigenen Veröffentlichungen«22 verwirft Heidegger sein Frühwerk »Sein und Zeit« schon in den 1930er Jahren auch sehr weitgehend; er spricht von »drei Grundtäuschungen«: vom phänomenologischen, existenziellen und transzendentalen Vorurteil, dem »Sein und Zeit« verhaftet geblieben sei. Damit bestätigte er Löwiths Kritik, ohne jedoch dessen Namen zu nennen. Im Briefwechsel mit Schmitt beruft sich Koselleck 1953 eingangs auf Heideggers Unterscheidung einer »ontologischen« und »ontischen« Betrachtungsweise und spricht programmatisch von »Geschichtsontologie«. Von solchen starken philosophischen Zielsetzungen ist im Briefwechsel dann bald nicht weiter die Rede. Löwith hatte als Pointe von Heideggers Unterscheidung erkannt, dass alle »ontologischen« Erfahrungen (Dasein als »Sorge«, »Seinsverständnis«) nur »ontisch« realisiert werden. Löwith kassierte deshalb Heideggers Unterscheidung und erklärte sie für irrelevant. Mit Nietzsche rückte er die »phänomenologische Ontologie« in den Umkreis protestantischer Theologie.23 Koselleck scheint dagegen in den 1950er Jahren noch mit Heidegger auf der »ontologischen Differenz« und einer ontologischen »Wahrheit« zu bestehen, die sich aber in ihren »ontischen« Auslegungen verflüchtigt und – mit Heidegger gesprochen – »entzieht«. Der moralistische Appell an die »Sinnlosigkeit« des gewalttätigen Todes tritt im Spätwerk in diese »Wahrheit« ein. Gewiss müsste Kosellecks philosophische Ausgangslage aus den biographischen Quellen näher belegt werden. Die frühe Entscheidung für Löwith (gegen Jaspers und Gadamer) ist dabei wahrscheinlich nicht auf die Ablehnung der teleologischen und finalistischen Geschichtsphilosophie zu reduzieren. 1952 wechselte Löwith aus den USA nach Heidelberg. 1953 erschienen dann, gleichsam als Antritts- oder 21 Dazu Denker, Alfred (Hg.), Martin Heidegger / Karl Löwith. Briefwechsel 1919–1973, Freiburg 2017. 22 Heidegger, Martin, Zu eigenen Veröffentlichungen, Frankfurt 2018, Heidegger-Gesamtausgabe Bd. 82, S. 41 ff. 23 Dazu vgl. Löwith, Karl, Phänomenologische Ontologie und protestantische Theologie, in: ders., Aufsätze und Vorträge 1930–1970, Stuttgart 1971, S. 9–40.

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Rückkehrerklärung, eine Neuauflage von »Von Hegel zu Nietzsche«, die Essaysammlung »Heidegger. Denker in dürftiger Zeit« sowie die deutsche Übersetzung von »Weltgeschichte und Heilsgeschehen«. Auch die früheren Burckhardt- und Nietzsche-Bücher dürfte Koselleck früh schon zur Kenntnis genommen haben. »Von Hegel zu Nietzsche« explizierte den »revolutionären Bruch«: die Abkehr vom philosophischen Idealismus und Christentum, problemgeschichtlich an einzelnen Themen wie Arbeit, Bildung und Humanität. Während »Weltgeschichte und Heilsgeschehen«, von Burckhardt ausgehend, Heideggers Methode des dekonstruktiven Rückgangs in die urchristlichen Anfänge des fatalen Teleologismus und Finalismus folgte, wählte »Von Hegel zu Nietzsche« den älteren problem­ geschichtlichen Ansatz, wie Windelband ihn in seinem »Lehrbuch der Geschichte der Philosophie« in Heidelberg vertreten hatte. Wenn Löwiths diverse Problemskizzen einen »revolutionären Bruch« von 1848 konstatieren, lassen sich Affinitäten zur begriffsgeschichtlichen These von der »Sattelzeit« heraushören. Koselleck positionierte sich mit seiner »Sattelzeit« also zwischen Jaspers’ »Achsenzeit« und Löwiths »revolutionärem Bruch«.

II. Von Schmitt 1938 zu »Kritik und Krise« Kosellecks anfängliche philosophische Grundstellung ist hier nicht weiter zu erschließen. Der Einfluss von Schmitts höchst problematischem Buch »Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes«24 auf Kosellecks »Kritik und Krise« ist seit Jahren ein Gegenstand intensiver Forschung. Schmitt zielte mit seinem Buch nicht auf die Auseinandersetzung mit der naturrechtlichen oder kontraktualistischen Philosophie des Hobbes, sondern auf eine antisemitische Lesart und Legende vom »Sinn und Fehlschlag« des Leviathan-Symbols und eine Mobilisierung des »politischen Symbols« für die mythopolitische Rekonstruktion des »totalen« nationalsozialistischen Unstaates. Er machte den philosophischen Individualismus für die liberalistischen Umdeutung und den »Fehlschlag« der Staatskonstruktion verantwortlich und suchte dagegen das Surplus des Mythos. Nach 1945 schuf Schmitt zwar eine Legende vom individualistischen Vorbehalt, den sein Buch 1938 gegen den Nationalsozialismus gesetzt habe; diese »esoterische« Deutung wurde in der älteren Forschung gepflegt, und es ist wahrscheinlich, dass Schmitt sie in seinen frühen Gesprächen mit Koselleck auch vertrat. Ob Koselleck sie ihm damals aber naiv abnahm und er sich über die nationalsozialistische und antisemitische Tendenz des »Leviathan«-Buches je täuschen konnte, erscheint zweifelhaft. Zu bewusst ersetzte Koselleck Schmitts antisemitische Legende durch eine politische Analyse der Freimaurerei.

24 Schmitt, Carl, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes. Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols, Hamburg 1938.

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»Kritik und Krise« kann hier nicht eingehend erörtert werden. Der Briefwechsel mit Schmitt gibt den Debatten neue Nahrung. So unstrittig Kosellecks liberale und individualistische Haltung im Spätwerk auch ist, so unhistorisch wäre eine einfache Identifikation von »Kritik und Krise« mit dem späteren Liberalismus. Polemik gegen die Freimaurerei gehörte zum antisemitischen Verschwörungsszenario des Nationalsozialismus. Wenn Koselleck Schmitts antisemitische Legende durch eine politische Kritik der Freimaurerei ersetzte, zitierte er ein vermintes Gelände, das antisemitisch lesbar war. Eine kritische Distanzierung dieser Assoziationen wäre deshalb akademisch zu wünschen gewesen. Aus heutiger Sicht verwundert es, dass Koselleck seine Auffassung nicht gegen Missdeutungen absicherte und vom antisemitischen Code abgrenzte; der heutige Diskurs ist dafür wahrscheinlich empfindlicher als die Adenauer-Zeit. Eine positive Rezeption der humanistischen und universalistischen Botschaft von der Fraternisierung von Adel und Bürgertum, die die Logen inszenierten, ist »Kritik und Krise« schwerlich abzulesen. Es überwiegt die anti-universalistische Lesart und politische Kritik der »Menschheit«, die Schmitt stets intoniert hatte. Abstrahiert man vom historischen Kleid: Schmitts antisemitischer Legende sowie Kosellecks Freimaurer-Kritik, so steht systematisch vor allem eine politische Kritik des moralischen Universalismus der Aufklärung. In seiner Dankesrede von 2004 verteidigte Koselleck »Kritik und Krise« gegen verbreitete Fehlwahrnehmungen; er konzedierte zwar den Einfluss von Schmitt, betonte aber auch, dass seine »Aufklärung über die Aufklärung«25 nicht auf eine politische Kritik universalistischer Moral gezielt habe. Koselleck schreibt: »Das Gegenteil ist freilich der Fall: Gerade die gegenseitige Angewiesenheit von Politik und Moral war die normative Implikation meiner Thesenführung.«26 »Kritik und Krise« habe auf Utopiekritik gezielt. Er betonte aber auch, dass er ursprünglich über Kant promovieren und die »politische Funktion der drei Kritiken«27 herausstellen wollte. Auch wenn Koselleck sich im Alter dagegen wehrte, »zum Sprachrohr von Carl Schmitt abgestempelt«28 zu werden, lässt sich Schmitts Einfluss auf die Dissertation schwerlich übersehen und marginalisieren. Wie auch immer man Kosellecks Umdeutung von Schmitts Legende einschätzt: Thomas Hobbes rückte im historischen Kontext von »Kritik und Krise« – statt Nietzsche oder Heidegger – in die Stellung des philosophischen Referenzautors ein, dessen Anthropologie Koselleck nach seiner Kriegserfahrung  – seiner Wahrnehmung des »Naturzustands«  – weitgehend teilte. Das postnietzscheanische und existentialistische Credo artikulierte er mit Schmitt im Spiegel des Hobbes und der frühen Neuzeit. Das unterschied seine Heidelberger Ausgangsstellung auch von der Ausgangslage der Münsteraner Ritter-Schüler, die von Hegel her dachten. Die Annäherungen zwischen Münster und Heidelberg, Schmitt und Ritter, liefen

25 26 27 28

Koselleck, Dankesrede, S. 59. Ebd., S. 56. Ebd., S. 34, vgl. S. 45. Ebd., S. 55.

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über Verhältnisbestimmungen von Hobbes und Hegel. Koselleck dachte hier von Schmitt ausgehend. Springen wir mit diesen wenigen Bemerkungen zu »Kritik und Krise« in eine spätere Wiederaufnahme dieser Sicht hinein.

III. Geschichtsphilosophie als Mittel politischer Planung Eine Anknüpfung an das Frühwerk findet sich 1976 im Text über »Adam Weishaupt und die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland«. Er ist ein reifer Nachklang von »Kritik und Krise« und der mit Löwith, Schmitt und Kesting bezeichneten Debatten der 1950er Jahre, den Koselleck in seiner Widmung des Sonderdrucks an Schmitt auch ausdrücklich als »einige Ergänzungen zu meiner These«29 bezeichnete. Die Revision der heiklen Kritik der Freimaurerei gehörte zur Emanzipation des Frühwerks vom Odium seiner Abhängigkeit von Schmitt. Koselleck distanzierte sich 1976 aber nicht von seiner frühen politischen Lesart, sondern bestätigte sie vielmehr. Die Kritik der Geschichtsphilosophie stand in den 1950er Jahren im Zeichen des Kalten Krieges. Das Totalitarismustheorem verschliff dabei einige Differenzen zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus. Die geschichtsphilosophische Tradition wurde von Marx und Hegel her gesehen und die Abgrenzung vom Marxismus, Leninismus und Stalinismus erfolgte in idealistischer Engführung auf Hegel. Löwith war an dieser Engführung nicht unschuldig: Allzu pauschal sprach er in seinem einführenden Büchlein von »theologischen Voraussetzungen«. Allzu plakativ und dilettantisch wurde damals auch von Eschatologie und Utopie gesprochen. Schmitt stand hier in der Auseinandersetzung mit Löwith nicht nur für »theologische« Bedenken, sondern auch für eine politische Deutung der Geschichtsphilosophie als Legitimationsideologie und Instrument politischer »­Planung«. Sein früher Aufsatz »Die Einheit der Welt«, 1952 – also vor der deutschen Fassung von »Weltgeschichte und Heilsgeschehen« – in der Monatsschrift »Merkur« erschienen, gab Kesting und Koselleck die politische Kritik vor. Dort lasen sie: »Zu allen Zeiten haben sich die Menschen irgendwie durch religiöse, moralische oder wissenschaftliche Überzeugungen bestimmen lassen, die auch gewisse Vorstellungen vom Gang der Geschichte enthielten. Aber das Zeitalter der Planung ist in einem besonderen Sinne das der Geschichtsphilosophie. Wer heute plant, muss den Menschen, die er hinter seine Planung zu bringen sucht, gleich eine handfeste Geschichtsphilosophie mitliefern. Insofern hat Geschichtsphilosophie heute einen überaus praktischen und effektiven Sinn. Sie ist nämlich ein unabdingbarer Bestandteil der Planung.«30

29 Koselleck am 25. März 1978 an Schmitt, in: Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 329. 30 Schmitt, Carl, Die Einheit der Welt, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. von Günter Maschke, Berlin 1995, S. 496–506, hier S. 501.

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Kesting und Koselleck übernahmen in den 1950er Jahren diese herrschafts- und elitensoziologische Deutung der Geschichtsphilosophie als Instrument politischer Planung durch Eliten. Was Koselleck 1976 über Weishaupt und die Illuminaten schreibt, hätte er auch in den 1950er Jahren im Horizont von »Kritik und Krise« schon fast wörtlich so formulieren können. Er hat damals unter dem Aspekt der »Krise« die »Dialektik von Moral und Politik« und »geschichtsphilosophische Verdeckung« der revolutionären Planung sogar schärfer formuliert. Das klang 1959 so: »Die geschichtsphilosophisch eruierte Notwendigkeit der eigenen Planung enthob die Planer der politischen Verantwortung. Der Illuminat ist gerade so sehr Geschichtsphilosoph, als er politisch verantwortungslos blieb. Die Revolution wurde also durch die Konstruktion einer fortschrittlichen Geschichte zwar verdeckt, aber das tatsächlich Revolutionäre: die Planung, den Staat zu okkupieren und zu ›beseitigen‹, wurde durch dieselbe Konstruktion gerade forciert. Die Verdeckung der politischen Spannung, ihre Scheinlösung in der Zukunft, verschärfte sie in der Gegenwart.«31

1976 führte Koselleck erneut aus, dass die Illuminaten sich nach dem Vorbild des Jesuitenordens als politische Elite organisierten und Weishaupts Geschichts­ philosophie »das theoretische Kernstück« der politischen Selbstorganisation des Ordens formulierte. Die Illuminaten vertraten das »Programm einer Herrschaft zur Beseitigung von Herrschaft« und verschleierten ihre instrumentelle »Moralisierung der Politik«: Politik drapierte sich als humanitäre und universalistische Moral. Koselleck formulierte abschließend als Weishaupts Innovation: »Er hat erstmals den Zusammenhang zwischen Geschichtsphilosophie und politischer Selbstorganisation einer neuen Elite hergestellt. Über Saint-Simon und Marx ist er zu Unrecht in Vergessenheit geraten.«32

Auch in der Revision beharrte Koselleck 1976 also auf der historischen Beobachterperspektive und der eliten- und herrschaftssoziologischen Kritik der humanistischen Botschaft und verzichtete auf emphatische Bestätigungen des universalistischen Geltungsanspruchs. Religiöse Motive und »theologische Voraussetzungen« interessierten ihn kaum und lassen sich allenfalls hinter der soziologischen Rede von »Entlastung« vermuten. So schreibt Koselleck: »Alle drei genannten Kriterien: die Entlastung durch eine angeblich selbsttätige Zukunft, die Legitimation der Planung und die Absicherung einer elitären Herrschaft, hingen unmittelbar zusammen. Sie bilden ein einziges Syndrom, das alle moderne Politik im Horizont von Geschichtsphilosophie kennzeichnet.«33

31 Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg 1959, S. 112. 32 Koselleck, Reinhart, Adam Weishaupt und die Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 273–285, hier: S. 285. 33 Koselleck, Adam Weishaupt, S. 280.

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Mit der Kategorie der »Entlastung« klingt zwar die Theodizeefunktion der Geschichtsphilosophie an; Koselleck überlässt diesen Aspekt aber den Theologen und Philosophen. Die philosophische Kritik der Umbesetzung der Theodizee­ funktion auf die Geschichtsphilosophie explizierte damals der Ritter-Schüler Odo Marquard,34 ihm wurde die Kompensation der »Theodizee« zum philosophischen Lebensthema. Koselleck stellte 1976 dagegen in seinem Weishaupt-Text vor allem die politische Legitimationsfunktion von Geschichtsphilosophie heraus und bewegte sich damit weiter im Horizont der früheren Gespräche mit Schmitt, Kesting und anderen. Das heißt nicht, dass er die philosophische Substanz der Fragen übersehen hätte. Er argumentierte aber als Historiker und näherte sich den philosophischen Grundfragen in seiner Theoriearbeit nur langsam und vorsichtig an. Dabei stand seine Antwort mit seiner »Primärerfahrung« des Weltkriegs und existentialistischen Prägung durch die 1940er Jahre eigentlich von Anfang an fest. Im Spätwerk ging er aber über eine politische Lesart der Geschichtsphilosophie hinaus und begriff die »Sinnfrage« als normativen Kern des geschichtsphiloso­ phischen Teleologismus. Er stellte die »Sinnfrage« nun offen und beantwortete sie mit eigenen Überlegungen zu den »Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses«. Damit trat er aus der deskriptiven und analytischen Geschichtstheorie heraus und entwickelte eine eigene Geschichtsphilosophie, die er von seiner legitimierenden »Primärerfahrung« her artikulierte.

IV. Primärerfahrung des Besiegten In einem späten Interview vom November 2005, erst 2010 in der FAZ erschienen, schilderte Koselleck eine biographische Urszene seiner geschichtspolitischen Einsicht und Wirksamkeit. Er berichtete aus russischer Kriegsgefangenschaft: »In der Gefangenschaft habe ich Inschriften im Speisesaal anbringen müssen: ›Als Kriegsverbrecher zogen wir aus, als Helden der Wiedergutmachung kehren wir heim!‹ […] Für diese Malerleistung kriegte ich eine Postkarte, dass ich meinen Eltern schreiben konnte, ich sei am Leben. Da habe ich schon einen Knick in meinem moralischen Selbstbewusstsein erfahren […] Ich hab’s getan, weil ich dafür jene Postkarte kriegte.«35

Die »Postkarte« mag für publizistische Wirksamkeit überhaupt stehen. Das Problem der moralischen Verbiegung und Korruption um der publizistischen Wirkungen willen hat Koselleck in der öffentlichen Intervention wiederholt erfahren. Im gleichen Interview spricht er für die Debatten um das Berliner HolocaustDenkmal und eine Kollwitz-Plastik in der Neuen Wache von einer »manipulierten Öffentlichkeit« und persönlichen Niederlage. Er sagt:

34 Marquard, Odo, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, Frankfurt a. M. 1973. 35 Koselleck, Reinhart, Über Krisenerfahrungen und Kritik, in: FAZ Nr. 10 v. 13. Januar 2010, S. N4.

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»Die einzige Kritik, die ich je selber öffentlich versucht habe, wirksam zu machen, die Kritik an diesem elenden Totenkult, den die Deutschen in der Neuen Wache entwickelt haben und auch im Holocaust-Denkmal, ist verpufft. Da hab ich rundum verloren.«

Koselleck hatte eine ethisch-universalistische und ästhetisch-abstrakte Lösung vorgeschlagen. Darauf komme ich zurück.

V. Existentialistische Sinnkritik Koselleck führte seine begriffsgeschichtliche Kritik am »Kollektivsingular« und Topos der »Neuzeit« schon in »Vergangene Zukunft« aus. Im Text »Über die Verfügbarkeit der Geschichte« von 1997 beantwortete er die »Frage nach der Geschichte apriori« mit Kant dann erneut grundsätzlich zustimmend: Geschichte ist machbar, wenn die Akteure über die Gelingensbedingungen ihrer Handlungen souverän verfügen. Sie gestalten ihre Zukunft dann intentional und teleologisch nach eigenen Ideen und Vorstellungen. Das scheitert meist aber an der Kontingenz der Umstände und der Pluralität der Akteure. Dass Handlungsintentionen regelmäßig Nebenfolgen und Kollateralschäden provozieren, ist eine typische Erfahrung, die Koselleck an gewichtigen Beispielen ausführte. 1977 schreibt er: »Wo sind die Grenzen zu ziehen, die einer recht begriffenen Geschichte ihre Machbarkeit versagen? Wenn Engels recht haben sollte, dass in Zukunft Voraussicht, Plan und Durchführung nahtlos zusammenstimmen, so lässt sich nur hinzufügen, dass dann in der Tat das Ende aller Geschichte erreicht wäre. Denn, und das ist meine zweite These, Geschichte zeichnet sich dadurch aus, dass menschliche Voraussicht, menschliche Pläne und ihre Durchführungen im Ablauf der Zeit immer auseinandertreten. […] Geschichte vollzieht sich immer im Vorgriff auf Unvollkommenheit und hat deshalb eine offene Zukunft. Das jedenfalls lehrt die bisherige Geschichte, und wer das Gegenteil behauptet, trägt die Beweislast.«36

Zwanzig Jahre später, 1997, spricht Koselleck in seinem Text »Vom Sinn und Unsinn der Geschichte« am Beispiel Stalingrads von seiner Erfahrung der »Sinn­ losigkeit«. Er listet hier zunächst verschiedene Sinnzuschreibungen an »Stalingrad« auf, um den rekonstruktiven Charakter der historischen Narration drastisch herauszustellen. Seine These lautet dazu: »Die Gesamtgeschichte bleibt unvernünftig. Vernünftig ist höchstens ihre Analyse.«37 Koselleck führt aus, dass eine solche sinnkritische These erst durch Kant und Nietzsche möglich wurde. Nietzsche habe zwar einige Kategorien sinnkritisch abgeräumt, die Sinnfrage aber dabei mit dem 36 Koselleck, Reinhart, Über die Verfügbarkeit der Geschichte, in: Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1979, S. 272. 37 Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 9–32, hier S. 16.

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Lebensbegriff auch neu belastet. Deshalb sei Nietzsche an der nationalsozialistischen Erlösungs- und »Vernichtungsideologie« nicht ganz unschuldig gewesen, die Stalingrad und Auschwitz erschuf. Koselleck deutet konstruktiv an: »Mit Kant ließe sich eine Teleologie ex post noch hypothetisch begründen.«38 Hegels »List der Vernunft« habe diesen kritischen Weg jedoch sogleich wieder verschlossen. Koselleck mit Kant! Wenn ich richtig sehe, hat Koselleck sich zu Kants Geschichtsphilosophie niemals eingehender geäußert. Das lässt sich als Langzeitfolge des Abbruchs der Kant-Dissertation und erörterten Entscheidung gegen Jaspers und für Löwith deuten: Während Jaspers sich an Kant orientiert hatte, überging Löwith ausgerechnet Kant, den Vater der idealistischen Geschichtsphilosophie, auffällig. Meine Koselleck-Kritik setzt hier ein: Sie lautet, dass Koselleck Kants Antwort zwar in ihrer grundlegenden Bedeutung richtig gesehen hat, die Auseinandersetzung aber in seiner Meistererzählung von der Geschichtsphilosophie, wie einst Löwith, umging. Koselleck ersetzte einen an Kant anknüpfenden kritischen Teleologismus, der am Rechtsbegriff und Weltbürgertum ausgerichtet war, durch eine nietzscheanisch-existentialistische Sinnkritik, die alle Sinnstiftungen als Rechtfertigungsideologien entlarvte. Statt einer Auslegung von Kants »Idee« oder Hypothese zu einer allgemeinen Geschichte bietet Koselleck im Text »Vom Sinn und Unsinn der Geschichte« jedenfalls nur eine existentialistische und eine mystische Antwort an. Er verzichtet dabei auf eine nähere philosophische Erörterung und thematisiert seine eigene Orientierung im Nachkriegsexistentialismus kaum. Aus den späten Schriften lässt sich kein genaues Bild von Kosellecks Rezeption des französischen NachkriegsExistentialismus machen. Dunkhases Spurenlese ermittelte hier auch keine klaren Belege und kein komplettes Bild. Kosellecks Benjamin-Rezeption bleibt im Detail auch unklar. Will man die Assoziationen oder Prägungen aber grob mit ungenannten Autorenstereotypen verbinden, so ließen sich etwa Camus und Benjamin nennen. Koselleck schreibt zur Differenz von Ereignis und Deutung: »Es handelt sich bei der sich ereignenden Geschichte um eine Wirklichkeit, die Kant als Ding an sich umschrieben hätte«.39 Er nennt sie aber »das Absurde, das Aporetische, das Unlösbare«40 oder auch Paradoxe. Eher beiläufig deutet er die religiöse oder mystische Fassung an, die er als regulative Idee der Geschichtstheorie und perfekten Geschichtserzählung verstand: »Was sich in Wahrheit abgespielt hat, kann erst gesagt werden, wenn alle Parteien, einschließlich der Toten, die zum Schweigen verurteilt sind, in ihrer Wechselseitigkeit zur Sprache kommen.«41

Das wäre wohl ein jüngstes Gericht, an das Koselleck schwerlich glaubte. Er rutscht hier in ein falsches Pathos ab, eine Vortragsrhetorik, die akademisch nur dann zu38 39 40 41

Ebd., S. 29. Ebd., S. 18. Ebd., S. 16. Ebd., S. 19.

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lässig wäre, wenn sie anderen Orts einigermaßen expliziert ist. Manche späte Texte sind steil überspannt und akademisch allzu assoziativ. Koselleck formuliert die normative Grundfrage der Geschichtsphilosophie zwar mit Kant, beantwortet sie aber nur vage im Vokabular des Existentialismus, das nach 1945 gängig wurde. Von tiefenscharfer Klärung ist kaum zu sprechen. Koselleck tilgt die Differenz zwischen der transzendentalen und der pragmatischen Geschichtsauffassung, die er sonst herausstrich, wenn er von seiner Erfahrung ausgeht und seine Primärerfahrung der Absurdität, die Primärerfahrung der Stalingrad-Soldaten wie der AuschwitzOpfer, zur normativen These und Negativitätsoption erhebt. Koselleck schließt: »Nachdem die Absurdität zum Ereignis geworden war, sollte sie nicht auch noch mit Sinnzumutungen Absolution erhalten. […] Vollends absurd wäre es, Auschwitz als sinnvoll zu deuten, weil es die Gründung von Israel vorangetrieben habe, was der Ankläger von Eichmann zu unterstellen geneigt war.«42

In steiler Auslegung ließe sich aus Kosellecks Rede vom »Ereignis« ein Nachklang des späten Heidegger heraushören. Heidegger hatte die überlieferte christlich-­ platonische Metaphysik durch die Rede vom »Ereignis« ersetzt und sich in der Nachfolge von Stefan George, zur Lösung der Nihilismus-Problematik, auf akademische Ereignisstiftung und die Inszenierung seiner Auftritte und Texte als auratische und erotische Ereignisse verlegt. Durch Heidegger war die Rede vom »Ereignis« seit den 1950er Jahren letztbegrifflich geläufig geworden. Die Phänomenologie führte von der »Erfahrung« zum »Ereignis«. Die Rede vom »Ereignis« wurde dabei strikt vom lebensphilosophischen »Erlebnis« unterschieden. Koselleck empfiehlt das »Ereignis« aber nicht als Lösung, sondern betont dessen Kontingenz und antwortet mit einer Absurditäts-These. Mir scheint, dass seine Geschichtstheorie diese Absurditäts-These mit der eigenen Erfahrung schlicht dekretiert und nicht begründen kann, sowenig wie die ebenfalls problematische und anstößige These vom »gemeinsamen Grund« von Stalingrad und Auschwitz »in der opfersüchtigen Erlösungs- und der rassischen Vernichtungsideologie«.43 Vielleicht müsste Koselleck hier nur vorsichtiger formulieren. Seine Absurditätsthese vermischt die transzendentale These mit der eigenen Primärerfahrung, die im existentialistischen Vokabular formuliert ist. Sie nimmt eine existentialistische Umschrift Kants vor. Die »Erfahrung der absurden Sinnlosigkeit« nennt Koselleck ausdrücklich seine »Primärerfahrung«.44 Er schreibt auch: »Die Sinnlosigkeit war zum Ereignis geworden. Es gibt keine Sinnstiftung, die rückwirkend die Totalität der Verbrechen der nationalsozialistischen Deutschen einholen oder einlösen könnte.«45

42 Ebd., S. 30. 43 Ebd., S. 13. 44 Koselleck, Reinhart, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 241–253, hier: S. 244. 45 Ebd., S. 243.

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VI. Denkmalpolitische Konsequenzen Koselleck zieht aus seiner »Negativitätserfahrung« vor allem zwei strittige vergangenheits- und denkmalpolitische Folgerungen: Er fordert, die Opferperspektive um die Täter zu erweitern und ein allgemeines Opfergedenken zu pflegen, und er hält nur eine abstrakte ästhetische Visualisierung der »Negativitätsaussagen«46 für angemessen und überzeugend. Dieser Problemkreis ist von der geschichtsphilosophischen These deutlich zu unterscheiden. Aus der existentialistischen Primärerfahrung von der »Sinnlosigkeit« folgt nämlich nicht zwingend der Primat einer allgemeinen Opferperspektivik; und eine allgemeine Opferperspektivik erzwingt keine Ästhetik der Abstraktion. Das betont Koselleck aber sehr energisch. Kosellecks denkmalpolitische Interventionen waren ein Fazit lebenslanger Meditation des gewaltsamen Todes und der Kriegerdenkmale. Koselleck verarbeitete oder meditierte hier seine eigenen traumatischen Kriegserfahrungen und Kriegsgefangenschaftserfahrungen, soweit das überhaupt ging. Auf unserer Bielefelder Tagung wurde seine materiale Fotosammlung eindrucksvoll vorgestellt. Wer erwartet hatte, dass dieses extensive Fotowerk als Vorarbeit und Teil einer Forschungspraxis methodisch organisiert gewesen wäre, musste überrascht zur Kenntnis nehmen: Einerseits betrieb Koselleck hohen Aufwand für seine Fotos; so organisierte er sein extensives Reisepensum auch nach Gedächtnisorten und fotografierte nahezu überall und unentwegt; andererseits verzichtete er aber offenbar sehr weitgehend auf eine Professionalisierung seiner Fotopraxis und machte mit einfachstem technischem Aufwand nur sehr flüchtige Schnappschüsse, elementare Regeln des Fotografierens geradezu ostentativ missachtend. Koselleck bearbeitete, katalogisierte und archivierte seine Schnappschüsse oder Spots auch nicht sorgsam, sondern ließ sie vielmehr nahezu unbesehen im häuslichen Keller verschwinden. Es ging ihm wohl primär um die Präsenz am Gedächtnisort und den rituellen Akt des Fotografierens selbst. Von der indifferenten Ubiquität heutiger fotographischer Praktiken unterscheiden sich diese Schnappschüsse durch die intentionale Orientierung auf den Gedächtnisort. Menschen stehen nicht im Fokus. Die Fotos dienen nicht (wie Selfies) zum Beweis eigener Präsenz oder als materialer Anstoß zur reflexiven Vergewisserung und Forschung, sondern sie markieren die Differenz zwischen der profanen Ankunft am Gedächtnisort und der dortigen religiösen Andacht des gewaltsamen Todes selbst. Der Ereignisakt des Fotografierens, nicht das entwickelte Foto, das ziemlich gleichgültig ist, tritt gleichsam an die Stelle der Entzündung einer Kerze oder anderer ritueller Gesten am Grabe von Verstorbenen. Das Fotografieren der Gedächtnisorte wurde zum solidarischen und religiösen Akt und allgemeinen Opfergedenken in säkularen, absurden Zeiten. Es war als solches religiöse Sinnstiftung, Andacht kreatürlicher Leiden und Sterblichkeit. 46 Ebd., S. 252.

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Kosellecks zahlreiche memorialpolitische Schriften können hier nicht eingehend erörtert und kontextualisiert werden. Grundlegend ist ein – im Briefwechsel mit Schmitt noch thematischer – früher Aufsatz »Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden«, von 1979, der den bürgerlichen Denkmalkult eingangs als eine Folge der Säkularisierung des Christentums auffasst: »Während die transzendente Sinnstiftung des Todes verblasst oder verloren geht, wächst der innerweltliche Anspruch der Todesdarstellungen. […] Ihre innerweltliche Funktion wird zum Selbstzweck. Es entsteht der bürgerliche Denkmalskult.«47

Koselleck betont die politische »Funktionalisierung« und »Demokratisierung« des Kultes. Während er die Instrumentalisierung scharf ablehnt, bejaht er die »Demokratisierung des Todes«48 im Übergang zur »absoluten Gleichheit« aller Gefallenen jenseits von Nation, Schicht und Rang. Unterschiede wurden durch die Errichtung von Soldatenfriedhöfen nur noch zwischen Militärs und Zivilisten gemacht. Schon 1979 konstatierte Koselleck eine Tendenz, »den Tod in Krieg oder Bürgerkrieg nur noch als Frage, nicht mehr als Antwort, nur noch als sinnfordernd, nicht mehr als sinnstiftend darzustellen.«49 Indem er das Thema 1993  – zusammen mit Michael Jeismann  – in einem kooperativen Sammelband wieder aufnahm, gab er es als monographisches Thema schon ein Stück weit an andere ab. Früh schon finden sich in seinen verstreuten Beiträgen Wiederholungen; stets betonte Koselleck den Aspekt der Säkularisierung. 1993 schrieb er dazu in der Einleitung zum Sammelband: »Hier liegt ein authentischer Fall der Säkularisierung vor. Die christliche Hoffnung auf die Rettung einer jeden Seele im sogenannten Jenseits wird der politischen Gemeinschaft anvertraut, die sich eines jeden Gefallenen erinnern soll. Die Jenseitshoffnung wird in die irdische Zukunftshoffnung der politischen Handlungsgemeinschaft transponiert, das Ewigkeitsversprechen verzeitlicht.«50

Dieses vergleichsweise schlichte Argument findet sich bei Koselleck immer wieder. Heidegger hatte solche »Sorge« in »Sein und Zeit« ätzend kritisiert. Max Weber betrachtete den Soldatentod 1915 in seiner berühmten »Zwischenbetrachtung« zur »Religionssoziologie« als »Theodicee des Todes«, sprach von »innerweltlicher Erlösung« und meinte: »Diese Leistung einer Einstellung des Todes in die Reihe der sinnvollen und geweihten Geschehnisse liegt letztlich allen Versuchen, die Eigenwürde des politischen Gewaltsamkeitsverbandes zu stützen, zugrunde. Die Art aber, wie der Tod hier als sinnvoll erfasst

47 Koselleck, Reinhart, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Marquard, Odo / Stierle Karlheinz (Hg.), Identität, München 1979, S. 255–276, hier S. 259. 48 Ebd., S. 267 ff. 49 Ebd., S. 274. 50 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: ders. / Jeismann, Michael (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmale in der Moderne, München 1994, S. 14.

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werden kann, liegt nach anderen Richtungen als eine Theodicee des Todes in einer Brü­ derlichkeitsreligiosität.«51

Webers Rede von einer »Kriegsbrüderlichkeit« bezeichnet Kosellecks Ethos sehr prägnant. Carl Schmitt sprach im »Begriff des Politischen« von der »Todes- und Tötungsbereitschaft«, die der moderne Nationalstaat mobilisierte: »Der Staat als die maßgebende politische Einheit hat eine ungeheure Befugnis bei sich konzentriert: die Möglichkeit Krieg zu führen und damit offen über das Leben von Menschen zu verfügen. Denn das jus belli enthält eine solche Verfügung; es bedeutet die doppelte Möglichkeit von Angehörigen des eigenen Volkes Todesbereitschaft und Tötungsbereitschaft zu verlangen, und auf der Feindesseite stehende Menschen zu töten.«52

Von der Zumutung einer »Tötungsbereitschaft« spricht Koselleck weniger, betrachtete er doch auch Soldaten als Opfer. Seine Argumentation läuft auf eine Paradoxie hinaus, die Koselleck nicht weiter reflektiert: Einerseits soll jeder Tote durch individuelle Bestattung einzeln erinnert werden und andererseits fehlen im Zeitalter des totalen Krieges die Gräber. Die Denkmäler kompensieren dieses Fehlen individueller Gräber und die Denkmalästhetik wird abstrakt, weil Individualisierung nicht möglich ist. Koselleck betont den Aspekt der Legitimation oder Rechtfertigungsideologie. Die demokratische Egalität begründet er dabei, wie schon Hobbes, mit der relativen Gleichheit der Todes- und Tötungschancen. 1998 publizierte er eine vorläufige Zusammenfassung, die den Übergang vom dynastischen zum republikanischen Totenkult im deutsch-französischen Vergleich herausarbeitete und die deutschen Lösungen scharf kritisierte. So schreibt er: »Die Weimarer Republik hatte den Totenkult, im Gegensatz zur III. Republik, den Konservativen alleine überlassen – ein Schlüssel, ihren Untergang zu verstehen.«53 Einerseits meint er: »Es gehört zur politischen Legitimität der Bundesrepublik, die Folgen der Niederlage zu integrieren.«54 Anderseits kritisiert er deren Lösungen. Dabei orientiert er sich an abstrakten Antworten. Ein Beispiel gab Wilhelm Lehmbruck anknüpfend an Rodin: »Lehmbruck lässt die bisher überkommene Frage nach dem Wofür und Warum hinter sich, er verzichtet auf jede Sinnstiftung, um die Frage nach dem Sinn selber in Frage zu stellen.«55

Das wurde zum Standard der Denkmalsästhetik: 51 Weber, Max, Zwischenbetrachtung, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie Bd. I, Tübingen 71978, S. 536–573, hier S. 548 f. 52 Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, S. 46. 53 Koselleck, Reinhart, Zur politischen Ikonologie des gewaltsamen Todes. Ein deutsch-französischer Vergleich, Basel 1998, S. 39. 54 Ebd., S. 49. 55 Ebd., S. 45.

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»Nicht mehr Sieg wird erfragt, nur noch Rettung, die nicht mehr gefunden, Rettung, die verweigert wurde. Abstrakte Denkmäler entstehen, die zur Antwort nötigen, ohne sie anzubieten; nicht personale, entleiblichte Mahnmale werden geschaffen oder solche, die den Vollzug des Sterbens und Verschwindens visualisieren; gespaltene, zerrissene, nicht mehr traditionell zerbrochene Säulen werden errichtet; Hohlformen werden gegossen für die entschwundenen Leichen; schließlich werden Denkmäler ersonnen, die ihr eigenes Verschwinden thematisieren, um sich einer Wirklichkeit anzunähern, die nur in der Reflexion einzuholen ist. Am Ende stehen unsichtbare Denkmäler, die […] dennoch vorhanden sind. Alle Holocaustdenkmäler suchen nach solchen Formen, die auf Aussagen überkommener Art verzichten müssen. Daran gemessen ist das neue, in der Berliner Schinkelwache errichtete Trauermal nur noch ein Satyrspiel […] – alles ignorierend was seitdem geschehen, erdacht und erstellt worden ist, um sich einer Wahrheit anzunähern, die schwer aussprechbar, kaum visualisierbar ist.«56

Koselleck hat den memorialpolitischen Pfad, den Kohl und die neue BRD einschlugen, im Denkmalstreit der 1990er Jahre vehement und wirkungsvoll kritisiert. Der Rückgang hinter ethisch-universalistische und ästhetisch-abstrakte Lösungen hierarchisierte seiner Auffassung nach die Opfergruppen, schloss Juden und Frauen aus und führte in den Pfad additiver Erinnerung einzelner Opfergruppen. »So generierte die eine Fehlentscheidung, die Pietá, die nächste.«57 Koselleck wünschte dagegen ein einziges »Negativdenkmal«,58 eine »allgemeinmenschliche Trauerstätte«,59 »eine zentrale Berliner Gedenkstätte für alle Getöteten und Ermordeten unseres ehemaligen Terrorsystems«. Man kann seine Empörung über Kohls denkmalpolitischen Pfad nachvollziehen. Koselleck verstarb 2006: Er erlebte neuere Lösungen nicht mehr, die seine Bedenken und Befürchtungen bestätigten. So weckt das 2008 eingeweihte Denkmal für die verfolgten Homosexuellen Assoziationen an eine Peepshow und Clubsauna. Beim 2012 eingeweihten Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma steht der Betrachter bei nassem Wetter im Schlamm und findet antiziganistische Stereotype ins Werk gesetzt. In späten Arbeiten weitete Koselleck seine Analysen auf die »Symbiose von Pferd und Mensch«60 aus und fasste das Leiden über die anthropozentrische Per­ 56 Ebd., S. 50 f. 57 Koselleck, Reinhart, Die falsche Ungeduld. Wer darf vergessen werden? Das Holocaust-Denkmal hierarchisiert die Opfer, in: Heimrod, Ute (Hg.), Der Denkmalstreit – das Denkmal? Die Debatte um das »Denkmal für die ermordeten Juden in Europa«, Berlin 1999, S. 148–151, hier S. 149 (erstmals: Die ZEIT 19. März 1998). 58 Koselleck, Reinhart, »Denkmäler sind Stolpersteine«, in: Heimrod, Der Denkmalstreit, S. ­644–646, hier: S. 644 (erstmals: Der Spiegel vom 3. Februar 1997). 59 Koselleck, Reinhart, Minuten für die Ewigkeit. Das Totenreich vermessen. Fünf Fragen an das Holocaust-Denkmal, in: Heimrod, Der Denkmalstreit, S. 599–601, hier S. 599 (erstmals: FAZ 9. Januar 1997). 60 Koselleck, Reinhart, Der Aufbruch in die Moderner und das Ende des Pferdezeitalters, in: Berthold Tillmann (Hg.), Historikerpreis der Stadt Münster, Münster 2005, S. 159–173, hier: S. 165; vgl. ders., Der Unbekannte Soldat als Nationalsymbol im Blick auf Reiterdenkmale, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus 7 (2003), S. 139–166.

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spektive hinaus kreatürlich. Die »Demokratisierung« des Todes führte ihn über die anthropozentrische Perspektive hinaus zu einer allgemeinen Thematisierung der Leiden. Aus der Perspektive des Opfers entdeckte er zuletzt die humane Teilhabe am allgemeinen kreatürlichen Leiden. Hannah Arendt betrachtete das nationalsozialistische »Experiment« der Vernichtungslager gleichsam als Praxistest auf den Darwinismus: als Versuch weitestgehender Vernichtung jeglicher Individualität und Freiheit und Reduktion des Menschen auf »Exemplare der Tierspezies Mensch«.61 Gerade diese Animalisierung nannte Arendt im Totalitarismus-Buch – mit einiger Diskrepanz zum späteren Eichmann-Buch – das »radikal Böse«.62 Solche Ansichten waren Koselleck nicht fremd. Er korrigierte mit seinem Übergang zur Mitleidsethik zuletzt noch idealistisch überspannte Mensch-Tier-Unterscheidungen, wie sie die Philosophische Anthropologie der Zwischenkriegszeit antidarwinistisch erneuert hatte. Koselleck springt damit aus dem philosophischen Idealismus heraus. Seine allgemeine Opfer- und Leidensperspektive ist auch in der Abkehr von der Anthropozentrik eine starke These. Statt der naturalistischen und rassistischen Auslegung des Darwinismus nach Nietzsche schlägt Koselleck Töne einer Mitleidsethik an, die eine emphatische Mitmenschlichkeit und Humanität von der Tierethik und »Symbiose« von Mensch und Tier her formuliert. Für eine solche tierethische Revision der Humanität vom Tier her sei Felix Salten illustrativ zitiert, der Autor des »Bambi«-Schicksals, der viele Tiergeschichten schrieb; Salten leitete sein Buch »Gute Gesellschaft. Erlebnisse mit Tieren« 1930 mit einem Satz ein, der auch als Motto über seinem Buch »Fünfzehn Hasen« steht: »Suche nur immer das Tier zu vermenschlichen, so hinderst du den Menschen am vertieren.«63 Kosellecks Ausführungen sind zweifellos bestechend. Sie lassen in ihrer Vortragsrhetorik aber mitunter das sinnkritische Ethos vermissen, das sie grundsätzlich fordern. Eine kritische Analyse der Überlegungen könnte etwa bei der Rede von der »Sinnlosigkeit« oder dem Konnex von Ethik und Ästhetik ansetzen, den Koselleck mit der Verbindung der universalistischen Forderung nach einem »Einheitsdenkmal« mit der Option für abstrakte »Negativdenkmale« knüpfte. Er argumentierte dabei mit der Entwicklung moderner Kunst zur Abstraktion und polemisierte gegen einzelne diskriminierende Antworten. Dabei wünschte er eine Lokalisation – mit Schmitt gesagt: »konkrete Verortung« – und Materialisation der Gedächtnisorte und lehnte eine flüchtige Event- und Reflexionskunst ab, die mit einmaligen Aktionen endet. Seine ästhetische Option für Abstraktion hat geschichtsphilosophische Prämissen. Der Historiker der »Zeitschichten« scheint zu meinen, dass naturalistische Kunst im Zeitalter der Abstraktion antiquiert sei. Eine solche dogmatische Option für Abstraktion und Avantgarde widerspricht aber Kosellecks konservativer Kritik des Geschichtsteleologismus. Im Denkmalstreit der 1990er Jahre war nur die Erinnerung des Zweiten Weltkriegs und Holocaust thematisch, nicht etwa die neuere Kriegsgeschichte nach 61 Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frankfurt 1955, S. 717. 62 Ebd., S. 722. 63 Salten, Felix, Gute Gesellschaft. Erlebnisse mit Tieren, Berlin 1930, S. 21.

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1945. Dieser Denkmalstreit hatte den Historikerstreit um die Singularität des »Zivilisationsbruchs« des Holocaust zum Hintergrund. Koselleck folgte dieser Engführung; er wünschte zwar kein letztes Einheitsdenkmal für alle Opfer militärischer Gewalt, thematisierte dabei aber das weitere Kriegsgedenken für die Zeit nach 1945 nicht: die Opfer des Ex-Jugoslawienkrieges etwa oder den Irak- oder Afghanistankrieg. Seine Überlegungen fallen damals gerade in die Zeit der Neudefinition der Aufgaben der Bundeswehr. Außenminister Joschka Fischer begründete den deutschen – nicht UN-mandatierten – Ex-Jugoslawieneinsatz mit einem höchst umstrittenen Holocaust-Vergleich.64 Koselleck reflektierte zwar auf die politischen Grenzen von Kohls Denkmalpolitik, verzichtete aber auf weitere Überlegungen zur Rückkehr des Krieges nach Europa und als Mittel der Politik. Es ließe sich fragen, ob seine ethische Universalisierung des Opfergedenkens an die relativen Friedenszeiten und den verbreiteten Pazifismus der alten Bundesrepublik gebunden war, der durch die »friedliche Revolution« der DDR bestätigt schien. In deutscher Nabelschau übersah man in den 1990er Jahren gerne die Rahmen­ bedingungen und Folgen des Mauerfalls, der nicht überall unblutig verlief und die Post-Jugoslawienkriege zur baldigen Folge hatte. Wenn Koselleck Existentialismus und Abstraktion miteinander verknüpfte, folgte er Erfahrungen seiner Generation. Und obgleich er die politische Instrumentalisierung der Geschichtsphilosophie einst scharf kritisiert hatte, übersetzte er seine Primärerfahrung im Spätwerk doch ziemlich direkt und emphatisch in vergangenheitspolitische und denkmalästhetische Empfehlungen. Es gibt einen Widerspruch zwischen dem Früh- und Spätwerk: Koselleck widerlegte oder dementierte seine frühe kritische Sicht der Geschichtsphilosophie im Spätwerk durch die eigene Praxis. Dort vertrat er starke Überzeugungen, die er zuletzt auch in vergangenheitspolitische Empfehlungen oder Planungen umsetzt. Ethisch argumentierte er für die »Sinnlosigkeit« militärischer Gewalt, ästhetisch für ein abstraktes Gedenken.

VII. Legitimationsverzicht Es ließe sich weiter darüber nachdenken, und an Äußerungen prüfen, welche Grenzen die politische Kritik von Kohls memorialpolitischem Pfad ihrerseits hatte. Koselleck argumentierte gegen eine Hierarchisierung der Opfergruppen und forderte in seinen Stalingrad-Reflexionen die Einbeziehung der russischen Soldaten und Opfer. Bei seiner allgemeinen Charakterisierung des »Zeitalters des Totalen« musste ihm eine allzu einfache Unterscheidung von Tätern und Opfern problematisch werden. Zum universalistischen Ethos seiner Argumentation gehörte unter totalitarismustheoretischen Voraussetzungen nicht zuletzt die Annahme, dass alle Akteure und Täter im totalitären Kontext auch als Opfer verstanden werden 64 Dazu Mehring, Reinhard, Die neue Bundesrepublik. Zwischen Nationalisierung und Globalisierung, Stuttgart 2019, S. 63.

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können. Zu Kosellecks Gerechtigkeit gehörte das Ethos, auch die Täter, mit gewichtigen Differenzierungen in jedem Einzelfall, als Opfer zu betrachten. Diese Gesamtbetrachtung aller Akteure als Opfer, diese allgemeine Opferperspektive, ist ein individuell verständlicher und ethisch zulässiger apologetischer Unterton: Koselleck betrachtete auch sich selbst, den Stalingrad-Soldaten, als Opfer. Sein ethischer Universalismus hatte den politischen Universalismus der Totalitarismustheorie zum Hintergrund, der jeden Täter im mörderischen Vernichtungsprozess zugleich als Opfer betrachtete. Diese allgemeine Opferperspektive formuliert die Absurditätsthese zum Sinn der Gesamtgeschichte aus der Perspektive der relativ ohnmächtigen und unverantwortlichen Akteure. Diese allgemeine Opferperspektive vertrat Koselleck aus der Sicht des einfachen Soldaten und Stalingrad-Kämpfers, der seine Solidarität, mit soldatischem Berufsethos, insbesondere auf die transnationale Verbundenheit in der Schicksalsgemeinschaft von Freund und Feind ausweitete. Dieses »soldatische« Ethos formulierte Koselleck mitunter, gerade im Frühwerk, zwar auch mit nationalistischen Untertönen; es zielte aber auf eine Solidarisierung mit den einstigen Feinden. Kosellecks Solidarität galt hier insbesondere den russischen Soldaten im gemeinsamen Opferstatus und Schicksal. Sein existentialistisches Ethos war letztlich radikal individualistisch; nationalistische Töne schlug es nur kompensatorisch an, um auf dem gemeinsamen Opferstatus zu bestehen. Die Rede von der »Absurdität« und »Sinnlosigkeit« unterstreicht diese Opferperspektive. Grundsätzlich ist sie fragwürdig: Es gab ja Akteure, die das Geschehen politisch veranlassten. Handlungsanalytisch ist es problematisch, Kriege als »absurd« und »sinnlos« zu bezeichnen. Wir erleben heute auch eine Wiederkehr der Akzeptanz von Gewalt als Konfliktlösungsmodus und von »kleinen« Kriegen als Mitteln der Politik. Kriege scheitern zwar und zeitigen contraintentionale und entfesselte Nebenfolgen, sind aber auf politisches Handeln rückführbar. Erst heute werden Gewalteskalationen denkbar, bei denen digitale Steuerungskreisläufe die Entscheidungsprozesse übernehmen. Kosellecks Insistenz auf der »Sinnlosigkeit« zielt appellativ gegen jegliche Rechtfertigungsideologie. Sie unterstreicht die Ohnmacht und Unverantwortlichkeit der Opfer in einer Naturalisierung des Geschehens, für das die Tradition vom »Naturzustand« sprach. Systematisch klar und überzeugend ist diese Rede nicht. Ihre Funktion ist moralistisch und appellativ; Koselleck setzt einen radika­len Individualismus und Moralismus gegen jede Rechtfertigungsideologie. Seine Wendung zur sinnkritischen Geschichtstheorie distanzierte sich dabei von Schmitts »Politischer Theologie«. Das betraf aber weniger die Analyse als die individualistische und moralistische Entscheidung gegen die Apologie einer bestimmten »Legitimität«. Schmitt dachte nach Weber in der Unterscheidung von »Legalität und Legitimität«. Während Weber diese Unterscheidung aber herrschaftssoziologisch entwickelte, bedachte Schmitt sie primär juristisch und rechtsphilosophisch. Stets betonte er die politische Funktion und die Grenzen der Legalität. Stets fragte er über die positivrechtliche Legalität auf die tragende Legitimität hinaus. Diese Legi­

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timität war ihm fragwürdig, weshalb er alle Legitimitätstitel sinnkritisch hinterfragte und gegen Rekurse auf »Naturrecht« oder die Rede von »Menschheit« und »Gerechtigkeit« polemisierte. Schmitt konstatierte eine epochale Wendung von der »dynastischen« zur »demokratischen« Legitimität, wie sie Koselleck an der Geschichte der Kriegerdenkmäler nachvollzog, und er bejahte die Entliberalisierung und Wendung zum neuen Cäsarismus des Nationalsozialismus. Seine Apologetik stand aber unter dem Vorbehalt einer Gegenrechnung und Aufkündigung von Loyalität in der »Relation von Schutz und Gehorsam«. So finden sich im »Begriff des Politischen« Sätze wie folgende: »Es gibt keinen rationalen Zweck, keine noch so richtige Norm, kein noch so verbindliches Programm, kein noch so schönes soziales Ideal, keine Legitimität oder Legalität, die es rechtfertigen könnte, dass Menschen sich gegenseitig dafür töten. Wenn eine solche physische Vernichtung menschlichen Lebens nicht aus der seinsmäßigen Behauptung der eigenen Existenzform gegenüber einer ebenso seinsmäßigen Verneinung dieser Form geschieht, so lässt sie sich eben nicht rechtfertigen. Auch mit ethischen und juristischen Normen kann man keinen Krieg begründen.«65

Die Kasuistik der existentiellen Selbstbehauptung einer »Existenzform« ist zwar sehr weit und offen; grundsätzlich aber sah Schmitt den Missbrauch von Rechtfertigungsideologien; Koselleck ging gerade in der Analyse der Instrumentalisierung politischer Semantik in seine Schule. Wo Schmitt aber mit seinen Optionen moralisch-politisch versagt hatte und gescheitert war, zog Koselleck als Historiker die Konsequenz des weitgehenden Verzichts auf irgendeine Apologie der herrschenden Legalität und Legitimität. Wo Schmitt Demokratie und Liberalismus trennte, um für eine antiliberale Demokratie zu optieren, betrachtete Koselleck die jakobinische Demokratisierung seit 1789 als Zug zum totalen Staat und »Weltbürgerkrieg« und vertrat dagegen verstärkt individualistische und liberalistische Positionen. Es ließe sich seinem Werk zum Vorwurf machen, dass es diese liberalistischen Implikationen des eigenen Individualismus nicht von Anfang an klar und deutlich thematisierte. Koselleck vertrat im Spätwerk eindeutig liberale Positionen und optierte für einen bürgerlichen Rechtsstaat. Starke Bekenntnisse zur Staatsform der Demokratie finden sich aber nicht. Wenn er im Spätwerk am Beispiel der Kriegerdenkmale von einer »Demokratisierung des Todes« sprach, klingt einmal mehr Hobbes an: die Begründung der Egalität auf den gewaltsamen Tod, keine besondere Neigung zur Demokratie als Verfassung des »Zeitalters des Totalen«.

65 Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 49 f.

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VIII. Negativer Kantianismus Eingangs wurde Kosellecks Heidelberger Ausgangslage skizziert. Mit ­Heidegger zielte Koselleck auf eine Kantkritik. Seine programmatische Rede von »Geschichts­ ontologie« ersetzte er später durch einen lapidaren Verweis auf Kant. Die haarfeinen Unterschiede zwischen Kants Transzendentalismus und Heideggers geschichtsontologischem »Seinsverständnis« interessierten ihn bald nicht mehr, weil er – mit Löwith und Schmitt – jeder philosophischen Grundlegungsarbeit entsagt und sich konsequent für eine begriffsgeschichtlich ansetzende, sinnkritische Geschichtstheorie entschieden hatte. Kosellecks Position lässt sich mit Kant kontrastieren: Es wurde behauptet, dass Koselleck Kants Hypothese existentialistisch auslegte. Kant verfasste seine »Idee zu einer allgemeinen Geschichte« in »pragmatischer« und »weltbürgerlicher« Absicht. Er skizzierte seine chiliastische »Geschichte der Menschengattung«66 zur »Rechtfertigung« der »Vorsehung« in normativ-praktischer Absicht. Hegel führte das als »Theodizee« der Geschichte aus, ohne zu übersehen, dass Historiker die Gegenrechnung von der »Schlachtbank des Glücks« aufmachen. Koselleck hat diese Gegenrechnung ein Stück weit geschrieben: Er schrieb das »Weltbürgertum« in den »Weltbürgerkrieg« um, betrachtete auch Täter als Opfer und arbeitete an einer Dialektik der Aufklärung, die Fortschrittsgeschichten in ihrer Diskriminierungslogik sah. Den zeitgenössischen Universalismus beschrieb er als »Zeitalter des Totalen«, in dem die Menschen sich primär nicht mehr als »Zweck an sich«, sondern als »Vernichtungsmittel« erfahren. Koselleck imaginierte die »Menschheit« durch eine abstrakte Ästhetik der Negativitätsaussagen als Opfergemeinschaft. Man könnte seine Geschichtsphilosophie also als negativen Kantianismus bezeichnen, der den philosophischen Idealismus gegen den Strich bürstet, um die normativen Evidenzen aus ihrer faktischen Negation zu erneuern. Man könnte von einer Dialektik der Sinnkritik und moralistischen Revokation normativer Emphasen sprechen, die Kosellecks Werk heute so attraktiv und aktuell erscheinen lässt. Wem die starken normativen Evidenzen und Antworten verloren gegangen sind, der insistiert oft umso eindringlicher auf der Frage, Suche oder Lücke. Auch das ist ein Erbe des Existentialismus und auch Heideggers. Kant hätte die pessimistische Gegenrechnung nicht bestritten, ging er in seiner Geschichtsphilosophie doch naturteleologisch von der Kategorie der »ungeselligen Geselligkeit« aus. Kant formulierte seine Geschichtsphilosophie kontrafaktisch als »tröstende Aussicht in die Zukunft«.67 Negativitätserfahrungen waren auch Kant, Goethe oder Hegel reichlich vertraut. Welcher historischen Epoche eigentlich nicht? Kant und Koselleck betrachteten die Geschichte beide von ihren moralischen Intuitionen her. Koselleck formulierte die pessimistische Gegenrechnung zu Kants Idealismus. Widersprechen sich beide Perspektiven? Kant hätte das bestritten. 66 Kant, Werke, Bd. IX, S. 45. 67 Kant, Werke, Bd. IX, S. 49.

Sebastian Huhnholz

Die (un-)endliche Geschichte. Reinhart Kosellecks »Historik« zwischen geschichtswissenschaftlicher Methodologie und Politischer Theorie1 »Wer einmal wie ich den Bruch der Geschichte erlebt hat, den Bildersturm der Sieger, die Demontage der Denkmäler, dem fällt es nicht schwer, in jeder Zukunftsvision nichts anderes als eine zukünftige Vergangenheit zu erkennen, in der beispielsweise die Ruine eines wiederaufgebauten Berliner Stadtschlosses einem Nachbau des Palasts der Republik wird weichen müssen.« Judith Schalansky: Verzeichnis einiger Verluste.2

I. Die Unvollendete? Kürzlich betonte Patrick Bahners in einem Festvortrag, Reinhart Koselleck habe »[b]is zu seinem Tod […] an einer Theorie historischer Zeiten« gearbeitet.3 In der Tat. Das unvollendete Projekt hat Absicht bleiben müssen – und hatte womöglich immer Absicht bleiben sollen. Dass »in den letzten Jahren wenige Autoren eine so große Wirkung auf die Theoriediskussion in der Geschichtswissenschaft ausgeübt« haben, vermerkt der einst von Koselleck promovierte Jörg Fisch, sei insofern »erstaunlich«. Koselleck habe »nie ein größeres, und schon gar kein systematisches Werk zur Theorie der Geschichtswissenschaft veröffentlicht. Seine Historik ist oft von ihm in Aussicht gestellt worden (wenn auch nicht geradezu angekündigt) und von anderen erhofft oder angemahnt worden. Doch selbst der Nachlass hat nichts Einschlägiges preisgegeben.«4 1 Die Fertigstellung dieses Beitrags unterlag den allgemeinen »Corona«-Bedingungen des Frühjahrs 2020, weshalb mir nicht alle für das Thema interessante und relevante Literatur zur Verfügung stand. Für inhaltliche Hilfestellungen und aufmerksame Beratung danke ich umso mehr Rieke Trimҫev und Manfred Hettling. 2 Schalansky, Judith, Verzeichnis einiger Verluste, Berlin 2018, S. 19. 3 Bahners, Patrick, Kritik und Krise revisited. Neues zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 2018, abrufbar unter: https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/09/15/kritik-und-krise-revisitedneues-zur-pathogenese-der-buergerlichen-welt/ [Zugriff 22. Mai 2020]. 4 Fisch, Jörg, Reinhart Koselleck und die Theorie historischer Zeiten, in: Dutt, Carsten / Laube, Reinhard (Hg.), Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013, S. 48–64, hier 48.

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Dem scheint nichts mehr hinzuzufügen und damit ließe sich die Sache bewenden. Wozu aus einer Sammlung meist situativer Fragmente und Notizen ein Kartenhaus errichten? Hatte Koselleck nicht typischerweise aufgehört, bevor es richtig spannend wurde? »Kritik und Krise« zielte nur auf 1789 hin, die Preußenschrift auf 1848, der Untersuchungszeitraum der Geschichtlichen Grundbegriffe lief um 1900 aus. Warum sollte es der versprochenen »Historik« und der in sie eingelassenen »Theorie historischer Zeiten« anders ergangen sein? Diverse biographische Zeugnisse und Gefährtenberichte bekunden Kosellecks teils überlastungsverstärkten Unmut am Schreiben. Die gleichwohl große Zahl von Aufsätzen und das aus ihr bemerkenswert konsequent sprechende Streben nach einer »Historik« lasse kaum sagen, »[w]ie sich das Ganze zu einem System hätte fügen lassen«.5 »Im Zuge der in den vergangenen Jahren intensivierten theoretischen Erschließung seines Werkes« jedenfalls »traten immer neue Fragen und Aspekte auf, die sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen lassen.«6 Solche Schwierigkeiten sind schon in der Vielfalt von Kosellecks Perspektiven angelegt. Einesteils muss berücksichtigt werden, dass viele seiner geschichtstheoretischen Überlegungen durch ältere Diskussionen über deutsche Geschichtswissenschaften geprägt sind, verschiedentlich noch auf deren Konflikte anspielen und diese Erbschaft umso undurchsichtiger wurde, wie auch einströmende sozialgeschichtliche Leitbilder im 20. Jahrhundert zahlreichen Wechseln unterworfen waren.7 Die über sechs Jahrzehnte reichende Schaffensperiode Kosellecks spiegelt unbeschadet vieler Kontinuitäten entsprechende Moden, Trends und Zwänge, von denen gleichwohl erhebliche Vorarbeiten und manche Kontexte heute als weithin unbekannt gelten müssen.8 Hinzutritt der Umstand, dass jedes Vorhaben, eine Theorie der Geschichte zu entwerfen, in eine gewaltige philosophische Tradition eintritt, mit der Koselleck urvertraut war, ohne ihre Komplexität systematisch zu verwenden. Innerhalb des philosophischen Spektrums der Geschichtswissenschaft entzieht sich Kosellecks Denken der eindeutigen Zuordnung, wenngleich manche Aspekte wie Vorgriffe auf postmoderne Ansätze vom Ende der »Großen Erzählungen« anmuten.9 Überdies fällt Kosellecks Werk in eine akademische 5 Meier, Christian, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 103–120, hier 114; als auch internationale Referenz einer umfassenden Bestandsaufnahme der relevanten Beiträge Kosellecks siehe Olsen, Niklas, History in the Plural. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York 2012, insb. S. 203–267. 6 Müller, Ernst / Schmieder, Falko, Begriffsgeschichte und historische Semantik. Ein kritisches Kompendium, Frankfurt a. M. 2016, S. 278. 7 Siehe Doering-Manteuffel, Anselm, Deutschlands 20. Jahrhundert im Wandel zeithistorischer Narrative, in: ders., Konturen von Ordnung: Ideengeschichtliche Zugänge zum 20. Jahrhundert, hg. von Angster, Julia u. a., Berlin 2019, S. 126–154. 8 Vgl. dafür (auch dafür) Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte. 9 Als Abgleich hierfür dient Hübner, Dietmar, Philosophie der Geschichtswissenschaft, in: Lohse, Simon / Reydon, Thomas (Hg.), Grundriss Wissenschaftsphilosophie: Die Philosophien der Einzelwissenschaften, Hamburg 2017, S. 131–166.

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westeuropäische Epoche, die Zeit, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit als kulturelle Konstruktion zu reflektieren begann (temporal turn),10 von White und Wittgenstein über Searle und Gellner bis Luhmann und Habermas, der Sprache für die Bewusstseinsbildung und soziale Realitätskonstruktion konstitutiven Charakter beimaß (linguistic turn) und spezieller noch in Gestalt der entstehenden Cambridge School of Political Thought auf eine kontextualistische Spielart der Intellektuellen- und Diskursgeschichte traf, die dem semantischen Kampf um politische Deutungshoheit eine mikrohistorisch verfeinerte Aufmerksamkeit widmete.11 Koselleck war in solche trans- und interdisziplinären Entwicklungen eingebunden und vermied als bisweilen koordinierender Doyen wohl auch darum eine allzu dogmatische Selbstpositionierung, woraus sich sowohl die von vielen gewürdigte Anregungskraft seiner Schriften erklären lässt wie auch die Deutungsvielfalt der Koselleck-Rezeption. Einige weitere Schwierigkeiten, die Frage nach dem System in Kosellecks geschichtswissenschaftstheoretischem Vorhaben zu beantworten, ließen sich unschwer ergänzen. Genannt sei einzig noch, dass der quantitative, einflussreichste und populärste Schwerpunkt von Kosellecks Schaffen in der historischen Semantologie neuzeitlichen Geschichtsbewusstseins lag, namentlich selbstredend im Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe und der mitlaufenden Testung der ihr eigenen Heuristik einer Verzeitlichung des vornehmlich westlichen Geschichtsbewusstseins in der »sattelzeitlichen« Periode, einer Verzeitlichung, die Koselleck vor allem im Medium der (Gelehrten-)Sprache anhand polysemischer politisch-sozialer Leitideen erforschte und mit deren Hilfe er gesellschaftstheoretisch meinte, eine ironische Dialektik nachweisen zu können.12 Denn mit zunehmend naturwissenschaftlich-technischer Eroberung und politischer Durchherrschung der Zeitlichkeit moderner Gesellschaften würden die temporalen Qualitäten moderner Historizität durch eine diesen Prozess nochmals beschleunigende Geschichtsphilosophie gleichsam kontestiert, ideologisiert, radikalisiert und relativiert. Indem die dynamisierte Eigenzeit sich modernisierender Gesellschaften politisch in den Dienst gesellschaftlich zu realisierender Zukunftsvisionen gestellt worden war, münde die Umrüstung des modernen Geschichtshorizonts auf das planvoll Kommende unweigerlich in eine antizipatorische Historisierung des eigenen Selbstverständnisses und werde günstigstenfalls zurückgeworfen auf die End 10 Einen kurzen Abriss einschließlich Überlegungen zu Kosellecks Rolle dafür bietet Clark, Christopher, Von Zeit und Macht. Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, München 2018, S. 9–27. 11 Vgl. Huhnholz, Sebastian, Bielefeld, Paris & Cambridge? Wissenschaftsgeschichtliche Ursprünge und theoriepolitische Konvergenzen der diskurshistoriographischen Methodologien Kosellecks, Foucaults und Skinners, in: Gasteiger, Ludwig / Grimm, Marc / Umrath, Barbara (Hg.), Theorie und Kritik. Dialoge zwischen differenten Denkstilen und Disziplinen, Bielefeld 2015, S. 157–182. 12 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XII–XXVII.

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of history-Reflexion perspektivisch desillusionierter Utopien.13 Knapper gesagt: Indem eine ideologisch erträumte oder befürchtete Zukunft in greifbare Nähe rückt, aber nicht eintritt, verspüren Beteiligte steigenden Handlungsdruck, bei dem utopische und dystopische Zukunftsvisionen einander zwar befeuern und beglaubigen, während durch die wechselseitige Behinderung und Entschleunigung gleichwohl eine Selbsthistorisierung, Ernüchterung und vielleicht Ermattung begünstigt wird. Eine gängige Sprachformel von Zeitzeugen für diese Konstellation lautet: »Wir haben damals geglaubt, dass […]« Das dazu gehörige Geschichtsbewusstsein operiert im frontier-Modus einer Einheit »für alle gemachte[r] und noch zu machende Erfahrung«.14 Sie ist durch ein Denken vom Ende her gekennzeichnet, durch Ankunft, nicht durch Herkunft. Sie ist insofern »modern«, wie sie nicht zukunftsoffen, also bewusst kontingent, aber zukunftsgerichtet ist. Kosellecks Metapher dafür ist bekanntlich die des mit jeder Annäherung sich weiter entfernenden »Erwartungshorizonts«.15 In diesem zum aktiv oder passiv »fortschrittlichen« Selbstzweck gewordenen, eigendynamisch beschleunigten Geschichtsbewusstsein der Moderne vermutete Koselleck einen nicht zuletzt tragischen dreifachen Sinnverlust: Traditionsverlust im Sinne der Einbuße orientierender historischer Gewissheiten, Gegenwartsverlust im Sinne einer Relativierung des Selbstwerts eigenen Erlebens zugunsten subjektiv ohnehin unerreichbarer »Erwartungshorizonte« und schließlich Zukunftsverlust durch die im Ausscheidungskampf ideologisch konkurrierender Projektentwürfe einprogrammierte Enttäuschungswahrscheinlichkeit, denn im politisierten Geschichtsbegriff ist die Opferung der Gegner (bzw. Opferung durch Gegner) ebenso angelegt wie die Erschöpfung von Hoffnungsreserven im Fall des umso dringlicher verdrängten Scheiterns. Egal daher, welcher gleichwie prooder regressive Zukunftsentwurf in einer je konkreten Gegenwart die Oberhand gewinnt: sein uneinlösbarer Erfolg realisiert sich nicht im verwirklichten Versprechen, sondern im Stress, vermeintlich zukunftsfeindliche Gegner zu besiegen,

13 Vgl. für Genaueres Huhnholz, Sebastian, Abschied vom Wandel? Zum postdemokratischen Status des Topos »Ende der Geschichte«, in: Briese, Olaf / Faber, Richard / Podewski, Madleen (Hg.), Die Aktualität des Apokalyptischen. Zwischen Kulturkritik und Kulturversprechen, Würzburg 2015, S. 79–96. Eine meines Erachtens geschlossene, von genauer Kenntnis der Koselleckschen Überlegungen gewinnende Synthese der Frage, warum die Temporalintegration moderner Gesellschaften dennoch gelingt, liegt von Niklas Luhmann vor: ders., Die Zukunft kann nicht beginnen: Temporalstrukturen der modernen Gesellschaft, in: Sloterdijk, Peter (Hg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft, Bd. 1, Frankfurt a.M.1990, S. 119–150. 14 Koselleck, Reinhart / Meier, Christian / Engels, Odilo / Günther, Horst, Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (1975), S. 593–717, hier 593. 15 Verpackt in den »Witz aus Rußland« vom Versprechen Chruschtschows des am ›Horizont schon sichtbaren Kommunismus‹, woraufhin ein Genosse im Lexikon nachschlage und lese: »›Horizont ist eine Scheinlinie, die den Himmel von der Erde trennt, die sich entfernt, wenn man sich ihr nähert.‹« Hier nach Koselleck, Reinhart, Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten, in: ders., Zeitschichten, Frankfurt a. M. 2000, S. 317–335, hier 332.

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und im Preis einer von geschichtlichem ›Sinn‹ entwerteten Gegenwart, die bloß Interimsphase ist, eine Zwischenstation auf dem Weg zum Erhofften. Insofern bedient sich Koselleck zwar aus dem Repertoire konservativer und soziologischer Modernisierungskritik von Entfremdung und Verdinglichung über Autodestruktivität bis Anomie. Ihre geschichtstheoretisch reflexive Kraft allerdings ist schematisch objektivierbar, insoweit Koselleck empfahl, aufgrund der notorisch von ihm aufgezeigten modernen Gleichursprünglichkeit des wissenschaftlichen Geschichtsbegriffs und der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie den Anspruch auf einen »sinnvollen«, wertbehafteten Geschichtsbegriff zurückzuweisen,16 und sich selbst eher auf dessen Kritik durch insbesondere semantologische Erforschung verlegte. So konnte es Koselleck nicht länger darum gehen, es als vorrangige Aufgabe der Geschichtswissenschaft zu begreifen, eine Einheit der Geschichte (oder einheitliche Teilgeschichten) zu erfassen und eine innere Gesamtlogik erkennen zu wollen, die es dann zu bewerten gälte. Stattdessen sollten die Produktionsbedingungen der gewissermaßen geschichtstechnischen Betrachtungsweise aufgezeigt werden – eine zuvörderst methodologische Aufgabe. Kosellecks dafür in den Blick genommene Pluralisierung gleichzeitiger, nicht zwingend miteinander konkurrierender Geschichts- und Geschichtlichkeitsauffassungen historischer Akteure setzte darum voraus, die modernetypischen Zugriffe zu reflektieren. Er musste sowohl mit der Idee einer Einheit der Geschichte als Geschichtsganzem brechen wie auch mit der Ideologie der Geschichte als politischem Projekt. Weil sodann erst die temporale Vielschichtigkeit neuzeitlicher Geschichtsprojekte beobachtet werden konnte, wurde es Koselleck möglich, die Moderne als eine umkämpfte Diskursformation verstehen – als vielleicht nicht gänzlich erfundene Epoche, die »es nicht gab« (Wolfgang Knöbl), wohl aber als eine, deren anspruchsvolles Vorhaben, ihre »Normativität aus sich selber [zu] schöpfen« (Jürgen Habermas),17 einer politischen Feststellung ihrer selbst nicht vollends entkommen kann. Darum enthält Koselleck sich jedes aufdringlichen Pathos dem eigenen Gegenstand und lässt wenig Begeisterung für jene erkennen, die die Moderne als politisches Versprechen denken.18 Darin liegt vermutlich schon eine Hälfte der Irritationen begründet, die Kosellecks Historik im eigenen Fach hervorruft.19 16 Koselleck, Reinhart: Wozu noch Historie?, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, hg. von Carsten Dutt, Berlin 2014, S. 32–51. 17 Siehe Knöbl, Wolfgang über »Moderne« als sozialwissenschaftlich erfundene Epoche (Die Epoche, die es nicht gab, in: Mittelweg 36 29(2) (2020), S. 47–79); Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M. 1985, S. 16. 18 Als Reflexionsform eines »die Grenzen und Aporien der Aufklärung« binnenkritisch einpreisenden Engagements zugunsten liberalen Denkens jüngst noch einmal pointiert und aktualisiert durch Auer, Marietta, Der privatrechtliche Diskurs der Moderne revisited, in: Kritische Justiz 53(1) (2020), S. 47–55, hier 49. 19 Eine Reihe teils vorwurfsvoller Beobachtungen verdichtet Falko Schmieder im Interview in Knatz, Jonas / Schmieder, Falk, Die Geschichte der Begriffsgeschichte: Zwischen Historisierung und Begriffspolitik, 2019, abrufbar unter https://www.theorieblog.de/index.php/2019/10/ die-geschichte-der-begriffsgeschichte-zwischen-historisierung-und-begriffspolitik/ [Zugriff 22. Mai 2020].

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II. Missverständliche »Historik« Dennoch hat sich Koselleck mit beachtlicher Kontinuität immer wieder unmissverständlich und vor allem ohne programmatisch substantielle Variierung zu Inhalt und Zweck seiner Historik und zu der in sie verflochtenen Theorie geschichtlicher Zeiten eingelassen. Auch besteht kein Mangel an – im Weiteren sukzessive zu nennenden  – Sekundärdarstellungen. Dass es gleichwohl Diskussionsbedarf zu geben scheint, mag zur anderen Hälfte mit einigen Missverständnissen zu tun haben, die der von Koselleck selbst nicht sonderlich ernst genommene bzw. breit verstandene Begriff der »Theorie« an seine Geschichtstheoriefragmente heranträgt. Insofern sollte es zweckmäßig sein, zunächst mit drei gängigen, aber meines Erachtens irreführenden Annahmen über Kosellecks gleichwie unvollendete »Historik« zu brechen. (1) Erstens ist es nach meinem Dafürhalten unplausibel, diese Historik im semantologischen Projekt verorten zu wollen. Fraglos ist die Summe der verzeitlichten bzw. ›beschleunigten‹ »Grundbegriffe« Kosellecks im Rahmen einer »Theorie der Modernisierung« zu lesen,20 nicht aber als Grundlage seiner allgemeinen Historik. Willibald Steinmetz hat daran erinnert, dass selbst in Kosellecks Empfinden die geschichtstheoretisch spezifische »Sattelzeit«-Hypothese von »secondary importance« für die begriffsgeschichtliche Methodologie war, beide mithin getrennt verstanden werden können.21 Tatsächlich kann die begriffsgeschichtliche Methode nicht auf einer Ebene mit einer Epochentheorie vermengt werden, wenn die Analyse begriffsgeschichtlichen Wandels das Instrument zur Erfassung im Medium der Begriffe sich konturierender Epochen sein soll. Neben ihrer methodologisch experimentellen Anlage, ihrem durch die Vielfalt der am Projekt Beteiligten (und deren bisweilen abwegig eingeflochtene eigene Forschungsarbeiten) sowie die schiere Bearbeitungsdauer über drei Jahrzehnte unvermeidlichen Kompromisscharakter und angesichts ihres praktisch oft uneingelösten Anspruchs sind die »Geschichtlichlichen Grundbegriffe« darum einer semantologisch nur durchgeführten allgemeineren Theorie der Neuzeit verpflichtet, auf die Kosellecks metahistorische angelegte Historik zwar rekurrieren, sie aber gleichsam ›nur‹ als eine epochenspezifische Exemplifizierung begreifen kann. Die Geschichtlichen 20 So Escudier, Alexandre, Von Kosellecks Anthropologie zu einer vergleichenden Topik der politischen Moderne, in: Dutt / Laube, Sprache und Geschichte, S. 196–235, hier 216. Siehe grundlegend auch Jordheim, Helge, Does Conceptual History Really Need a Theory of Historical Times?, in: Contributions to the History of Concepts 6(2) (2011), S. 21–41. 21 Steinmetz, Willibald, Multiple Transformations: Temporal Frameworks for a European Conceptual History, in: ders., Freeden, Michael / Sebastián, Javier Fernández (Hg.), Conceptual History in the European Space, New York 2017, S. 63–95, hier 65. Koselleck selbst sprach gar von einer »theoretischen Zwangsjacke« (Koselleck, Reinhart, Hinweise auf die temporalen Strukturen begriffsgeschichtlichen Wandels (1991/94), in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 86–98, hier 86).

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Grundbegriffe verfolgten das Ziel, die Entstehung der Moderne im Medium der vor allem deutschen Schrift-, Gelehrten- und Elitensprache durch Analysen semantischer Strukturen und innovativer Sprachmanöver zu reflektieren. Die durchaus beabsichtigte Dialektik ihres Erfolgs bestand in der Überwindung der fortwährenden Plausibilität des Realitätsanspruchs der untersuchten Begriffe. Historisierung, Problematisierung und Distanzierung sollten ineinandergreifen, weshalb es »gerade keinen übergreifenden, allgemeingültigen und methodisch übertragbaren Ansatz« zu entwerfen galt.22 Wie mit diesem klar eingegrenzten Anliegen ein metahistorischer, eben theoretischer Geschichtsbegriff entwickelt werden können sollte, versteht sich nicht. Vielmehr also unterstreicht das lexikalische Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe die »Theoriebedürftigkeit der Geschichte«. Denn die jeweils historischkonkreten Ausprägungen der typischen Temporalbegriffe – von »Vergangenheit« und »Zukunft« selbst über »Fortschritt« und »Krise« bis »Revolution«  – seien Indikatoren gesellschaftlicher Prägungen und kultureller Verwendungen sowie Faktoren politischer Gestaltungen neuzeitlicher Geschichtsbilder und Geschichte.23 Neue oder renovierte Begriffe etwa – wie beispielsweise der des »Staates« – können als »Erfahrungsstiftungsbegriffe« fungieren und in einer veränderten Lage Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen, von deren Voraussetzungen und Anlässen der Begriff selbst nichts sagt. Denn Begriffe sind sprachliche Gefäße für definitionsoffene Probleme. Sie lassen sich terminologisch nur kurzzeitig fixieren. Sie treiben Entwicklungen – Krisen wie Lösungen –, weil sie sowohl Erblasten einstiger Konflikte mitführen wie auch neue Probleme und Problembeschreibungen ermöglichen, ohne freilich alle vor- und außersprachlichen Phänomene aufnehmen zu können.24 Die der Begriffsverwendung eigene Wiederholungsstruktur überbrückt die Einmaligkeit jedes ›geschichtlichen‹ Ereignisses sprachlich: Begriffe erbringen dann eine Vermittlungsleistung, die Vergangenheit und Gegenwartseinfassung aneinander bindet, ohne im empirischen Ereignis aufzugehen. »Es gibt eben Grundbegriffe, deren wiederholte Anwendbarkeit allem Wandel zum Trotz von Herausforderungen zeugen, die sich strukturell, nicht im Detail,

22 So treffend Christian Geulen in der konsequenten Absicht, das Projekt über die Moderneschwelle hinweg fortzusetzen: ders., Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 7(1) 2010, abrufbar unter: https://zeithistorische-forschungen.de/1-2010/4488 [Zugriff 23. Mai 2020]. 23 Diese Überlegung rekurriert auf Schmitts Begriffspolemik: »Worte wie Staat, Republik, Gesellschaft, ferner Souveränität, Rechtsstaat, Absolutismus, Plan, neutraler oder totaler Staat usw. sind unverständlich, wenn man nicht weiß, wer in concreto durch ein solches Wort getroffen, bekämpft, negiert und widerlegt werden soll«, so Schmitt (Schmitt, Carl, Der Begriff des Politischen. Synoptische Darstellung der Texte. Im Auftrag der Carl-Schmitt-Gesellschaft hg. von Marco Walter, Berlin 2018, S. 92 u. 94 der 1932er Fassung). 24 Koselleck, Reinhart, Die Geschichte der Begriffe und die Begriffe der Geschichte, in: ders., Begriffsgeschichten, S. 56–76, hier 68.

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wiederholen.«25 Begriffe können im engeren Sinne dann nicht selbst Bestandteil von Kosellecks Theorie sein, sondern ›nur‹ sprachempirische Anwendungsfälle für sie. Sie sind allenfalls Explanandum, nicht Explanans.26 Was Hans Blumenberg am Beispiel des Säkularisierungsbegriffs 1966 kritisch auch gegen Koselleck ins Feld führte: dass hier ein historischer Begriff nur deshalb noch riskant in gegenwärtige Weltbilder hineinzuwirken vermag, weil wir die in ihm gebündelten Konflikte »noch zu verstehen imstande wären« und uns »noch im Auslaufhorizont dieses Prozesses« befänden,27 solch ein Monitum ist in Kosellecks Historik berücksichtigt28 und bedingte, dass ausgerechnet (oder gerade) der politische Begriffshistoriker Koselleck seine Historik von den Fesseln und Fallen der neuzeitlichen Kampf- und Großbegriffe zu emanzipieren trachtete, die Begriffe gewissermaßen der Selbsthistorisierung aussetzen wollte, und im Übrigen auch deswegen die erkenntnisförderliche und veranschaulichungsdienliche Bedeutung von Metaphern hervorkehrte.29 (2) Ein zweites, sich an das vorgenannte anschließende Missverständnis lauert meines Erachtens in der Annahme, Kosellecks Historik müsse, weil sie unabweisbare Alleinstellungsmerkmale der Geschichtswissenschaften zu markieren versuchte, intradisziplinär fundiert sein. Das scheint mir insofern zu kurzgegriffen, wie Kosellecks Standardreflexion, wonach die offene, gestaltbare, machbare »Geschichte« als selbstreferentiellem »Kollektivsingular« und politischem (statt etwa theologischem) »Perspektivbegriff« mit gesamtgesellschaftlichem Anspruch ein kognitiv neuzeitliches Phänomen sei, eine Konzeption suchte, deren Geschichtsbegriff nicht (mehr) mit Geschichtsphilosophie identisch ist und sich mit ihr nicht gemein macht, eine Vorstellung also, die sich der Deutung und Anordnung geschichtlicher Fakten durch eine die Moderne voraussetzende und vielleicht überhöhende Geschichtswissenschaft in manchen Hinsichten zu entziehen be-

25 Koselleck, Reinhart, Offene Fragen an die »Geschichtlichen Grundbegriffe« (1992/1996), in: Archiv für Begriffsgeschichte 54 (2012), S. 249–266, hier 264. 26 In diesem Punkt differiere ich meinem Eindruck nach vor allem mit Jörg Fischs Vorstellung, der Kosellecks Historik als (folglich gescheiterten oder nur gelegentlichen) Versuch interpretierte, ein System der Geschichtswissenschaft zu errichten (Fisch, Reinhart Koselleck und die Theorie historischer Zeiten). 27 Blumenberg, Hans, Die Legitimität der Neuzeit (Erneuerte Ausgabe), Frankfurt a. M. 1996, S. 11. 28 »Gerade wegen ihrer Unersetzbarkeit werden die Grundbegriffe als solche strittig« (zit. n. Dutt, Carsten, Nachwort: Zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks, in: Koselleck, Begriffsgeschichten, S. 529–540, 534 – Hervorhebung im Orig.). 29 Zu Verbindungen mit Hans Blumenbergs Metaphorologie Schmieder, Falko, Absolutismus und Wirklichkeit. Zum Verständnis moderner Geschichte bei Hans Blumenberg und Reinhart Koselleck, in: Gräfe, Anna / Menzel, Johannes (Hg.), Un / Ordnungen denken. Beiträge zu den Historischen Kulturwissenschaften, Berlin 2017, S. 58–77; Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 149 ff.; Palti, Elías José, From Ideas to Concepts to Metaphors: The German Tradition of Intellectual History and the Complex Fabric of Language, in: History and Theory 49 (2010), S. 194–211.

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absichtigt.30 Der vor allem ideologiekritische Wert von nicht nur Kosellecks Historik wird deshalb häufig darin gesehen, dass sie sich der vielgestaltig fragwürdig gewordenen westlich-zivilisationsspezifischen und geschichtswissenschaftlichen Praxis von Epochalisierung, Chronologisierung und Periodisierung entwand.31 Ein solches Anliegen kann nicht in den intradisziplinären Strukturen allein entwickelt werden. So wie die Politologie einige Grundbegriffe (Politik, Macht, Institution etc.) aus soziologischen Kategorien des sozialen Handelns gewinnt, die Rechtswissenschaft Begriffe wie Staat, Souveränität und Legitimität von der Politologie bezieht, die Biologie ihren Begriff von Leben aus Medizin, Physik, Chemie etc. oder die Psychologie ihren Begriff von Bewusstsein aus der Philosophie, sucht auch Kosellecks Historik extradisziplinären Grund und fokussiert dabei vor allem auf eine in Teilen noch existentielle, ursprünglich zunächst heideggerianisch gefärbte historisch-politische Anthropologie. Dieser Fokus ist sicher ungemein idiosynkratisch und nur durch Kosellecks Vita begreiflich. Dazu weiter unten Genaueres. Stellen wir diese Besonderheit vorerst noch zurück und kehren lediglich hervor, dass Kosellecks allmählich entwickeltes Modell einer historischen Anthropologie als allgemeines Zeitlichkeitskriterium nur die Unterscheidung früher / später bzw. vorher / nachher anführt. Diese Leitunterscheidung war nicht als Sammelbegriff gedacht oder gar als Einstieg in Kosellecks Suche nach spezifisch »geschichtszeitlichen« Kriterien für die empirische Untersuchung sich transformierender Temporalerfahrungen in einem bestimmten historischen Zeitabschnitt, die er als einzig genuin geschichtswissenschaftlichen Beitrag zur »Theoriedebatte« der Geistes- und Sozialwissenschaften empfahl.32 Denn das allgemeine früher / später-Kriterium lässt sich schwerlich als exklusiv historiographische Kategorie reklamieren. Und meinem Eindruck nach ist derlei von Koselleck auch gar nicht erwünscht gewesen. Denn in Verbindung mit einem weiteren seiner Kriterien, der Unterscheidung innen / außen, ermöglicht die früher / später-Dichotomie die disziplinäre Diskursgewohnheiten aufsprengende Frage, wer eigentlich über die Ein- und Ausschlussentscheidungen verfügt. Simpel exemplifiziert: Wer übt etwa die Unterscheidungsmacht nach »vormodern« und »modern« aus? Wer institutionalisiert entsprechende (Fach-)Standards, definiert die in ihnen gebün30 Koselleck wandte sich bis in seine späte Historische Hippologie (der ikonologischen Analyse des von Adolph Loos erstmals so identifizierten ausgehenden »Pferdezeitalters«) hinein immer wieder eindeutig und scharf gegen die Selbstverständlichkeit, mit der eine politischideologisch schablonierte Epochalisierung als Basis nicht nur für offiziöse Geschichtsbilder, sondern auch für die geschichtswissenschaftliche Denk- und Selbstorganisation herhält. Trotzdem ist dieses Muster auf ihn selbst angewendet worden und hat sich als Missverständnis vor allem in der anglophonen Koselleck-Rezeption verselbstständigt, wie Helge Jordheim aufzeigt: ders., Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Temporalities, in: History and Theory 51(2) (2012), S. 151–171; grundlegend George, Lucian / McGlynn, Jade (Hg.), Rethinking Periodisation, Berlin 2019. 31 Siehe dazu den Forums-Auftakt von Jordheim, Helge, Introduction: Multiple Times and the Work of Synchronization, in: History and Theory 53(4) (2014), S. 498–518. 32 Vgl. Koselleck, Moderne Sozialgeschichte, S. 324 ff.

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delten kulturellen Werturteile zum disziplinären Maßstab auf- und abwertender Vergleiche von Fortschrittsstufen, Lebensstilen und politischen Einstellungen und verwandelt dadurch die wertmäßig neutrale früher / später-Temporaldifferenz in eine Zivilisationshierarchie, die das als ›vormodern‹ Markierte als ein ›Nochnicht-modernes‹ stigmatisiert und dadurch einem politisierten Entwicklungsraster unterwirft?33 Kurzum, es werden hier epistemische Vorgänge freigelegt, durch deren Refle­ xion akademisch bis kulturell verfestigte Voraussetzungen einer geschichtspolitischen Verwendung der früher-/später-Kategorie in den Blick rücken. Und es erscheint mir dann besonders konsequent, dass Kosellecks Historik zusätzlich zu diesem allgemeinen doch noch auf ein besonderes Zeitlichkeitskriterium reflektiert: auf das Ende. Nicht, weil das Ende im Kontrast zum Anfang bestimmter wäre oder gar unverfänglicher. Sondern weil das Bewusstsein der Endlichkeit einer Situation, Figuration, Konstellation etc. erst den Raum öffnet, in dem sich eine Vorstellung von Geschichte (im Unterschied zur Unendlichkeit etwa, zur bloßen Chronologie oder temporal gegliederten Sukzession von Ereignissen usf.) gedanklich entfalten und positionieren lässt. Schon der junge Koselleck hatte in diesem Sinne bekannt, man müsse die »›Endlichkeit des Menschen […] in den Blickpunkt zu rücken, nicht in Hinblick auf das individuelle Dasein, […] sondern in Hinsicht auf den dauernden Ursprung der Geschichte: also auf die Strukturen einer ›Situation‹, ohne die es so etwas wie Geschichte gar nicht gibt.‹« Und treffend konstatiert Reinhard Mehring: »Der alte Koselleck hätte es kaum anders formuliert.«34 Insoweit kann es nicht verwundern, dass verschiedentlich moniert oder wenigstens registriert worden ist, dass sich Kosellecks Historik auf Abwege begibt und sich »ziemlich weit von dem entfernt, was Historiker normalerweise an Theorie bräuchten.«35 Einige der Unzufriedenheiten mit Kosellecks Arbeits­logik rühren wohl just aus diesem professionshistoriographischen Gespür, dass sich seine universell-abstrakte Geschichtstheorie nicht aus dem historisch-konkreten Geschichtsbegriff einer institutionell etablierten und entlang präformierter wie überdeterminierter Geschichtsepochen organisierten Disziplin gewinnen lässt, deren traditionell politikberatende Funktion der Analyse und Bereitstellung von Herrschaftswissen Koselleck selbstbewusst und programmatisch ablehnte. Seine Historik muss insofern enttäuschen, so sie ›nur‹ aus einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive begutachtet und ihre Relevanz darauf beschränkt würde. (Dass

33 Eine sozial- und gesellschaftstheoriegeschichtliche Kontextualisierung dieser Frage liefert Eberl, Oliver, Naturzustand und ›Barbarei‹. Begründung und Kritik staatlicher Ordnung im Zeichen des Kolonialismus, Hamburg 2020. 34 Hier zwecks Kontextualisierung samt inbegriffenem Zitat Mehring, Reinhard, Begriffs­ geschichte mit Carl Schmitt, in: Joas / Vogt, Begriffene Geschichte, S. 138–170, hier 151. 35 Meier, Gedenkrede, S. 113. Kritisch dahingehend der Beitrag von Langewiesche im vorliegenden Band sowie affirmativ Imbriano, Gennaro, Der Begriff der Politik. Die Moderne als Krisenzeit im Werk von Reinhart Koselleck, New York 2018.

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er selbst die Sache im Kreise seines Fachs vorsorglich anders bewarb, kann man zur Kenntnis nehmen oder auch nicht.)36 (3) Ein letztes hier zu nennendes Missverständnis nun wendet einige der bis­ herigen Bedenken ins Produktive. Eingedenk auch der vorgenannten Besonderheiten ist Kosellecks Geschichtstheorie gelegentlich als Politische Theorie verstanden oder wenigstens im Deutungsrahmen eines Vergleichs Politischer Theorien beschrieben worden.37 Dem möchte ich mich anschließen. Koselleck bezog nachweislich und erklärtermaßen nicht nur Anregungen von vielen Klassikerinnen und Klassikern der politischen Ideengeschichte – der erste Lehrstuhl (Bochum 1966/67) war kaum versehentlich ein politikwissenschaftlicher. Schon Kritik und Krise ist nicht zuletzt eine genialische Auseinandersetzung mit vielen von ihnen, allen voran mit Thomas Hobbes sowie den französischen Aufklärern. Kosellecks autobiograpische und konzeptionelle Rekurse auf Carl Schmitt und Hannah Arendt gelten als einschlägig. Aus dem weiteren Feld der politischen Philosophie und Anthropologie sind Gedankenfiguren Martin Heideggers, Ernst Cassirers, Karl Jaspers’, Hans Freyers, Arnold Gehlens und Ernst Forsthoffs in Kosellecks Historik eingeflossen.38 Diverse verschlungene Übereinstimmungen mit Max Webers Werk und mit Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung sind ebenfalls offenkundig, produktive Konflikte und Kooperationen mit Habermas und Luhmann verbürgt. Viele mehr ließen sich ergänzen.

36 Vgl. Koselleck, Moderne Sozialgeschichte. 37 Als Vorreiter entsprechender Lesarten gilt ein erheblicher Teil des Werks von Kari Palonen (vor allem ders., Die Entzauberung der Begriffe. Das Umschreiben der politischen Begriffe bei Quentin Skinner und Reinhart Koselleck, Berlin 2004). Jüngsten Datums ist die schon genannte Arbeit Imbrianos, Der Begriff der Politik, zu nennen, die Aufsatzsammlung Hamp­ sher-Monk, Iain, Concepts and Reason in Political Theory, Colchester 2015 (dazu allerdings Ewing, Blake, Links and Limits between Political Theory and Conceptual History, in: Contributions to the History of Concepts 13(2) (2018), S. 137–140), ferner Ewing, Blake, Koselleck’s Historik and the Horizons of Politics, in: Contributions to the History of Concepts 13(2) (2018), S. 79–99, Feres Júnior, João, With an Eye on Future Research: The Theoretical Layers of Conceptual History, in: Sebastián, Javier Fernández (Hg.), Political Concepts and Time. New Approaches to Conceptual History, Santander 2011, S. 223–244, Steinmetz / Freeden /  Sebastián: Conceptual History, vor allem aber Olsen, History in the Plural. Ein vielbeachteter Beitrag, der zugleich die Reichweite dessen vermisst, was als Politische Theorie subsumiert werden kann, liegt von Stefan-Ludwig Hoffmann vor: ders., Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Joas / Vogt, Begriffene Geschichte, S. 171–204, hier 182 f. 38 Mir ist gleichwohl noch zu undeutlich, inwieweit und wann Kosellecks Vorstellung von historischer Anthropologie tatsächlich von den Themen jener neuzeitlichen philosophischen Anthropologie geprägt wurde, der Max Scheler und Arnold Gehlen zum Durchbruch verhelfen und die sich spätestes in Gestalt von Erich Rothackers gleichnamigem Buch auch für das begriffsgeschichtliche Programm anboten, oder ob diese Themen nicht vielmehr ›in der Luft‹ lagen oder sich – Kenntnis immer vorausgesetzt – eine wechselseitige Bezugnahme gar durch als unüberbrückbare wahrgenommene weltanschauliche Konkurrenzen verbat bzw., wie etwa im Fall von Karl Jaspers, durch Kosellecks offene Verachtung für ihn erledigte.

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Was ich mit diesen unten zu vertiefenden Hinweisen bezwecke, ist die Stärkung einer Perspektive auf Kosellecks Theorie geschichtlicher Zeiten, die sie nicht nur im Spiegel Politischer Theorien und von Klassikerinnen und Klassikern des politischen Denkens interpretiert, sondern vorschlägt, Kosellecks Perspektive weniger als nur historiographisch fundierte Geschichtstheorie (was ich also nicht ausschließe oder gar ablehne), sondern selbst als Politische Theorie zu interpretieren, genauer: als eine Theorie, die die Voraussetzungen geschichtlichen Denkens in den Grundlagen politischen Handelns sucht. Den von Genaro Imbriano vorgezeichneten Pfad, der davon ausgeht, dass Kosellecks Vorstellung von Geschichte, geschichtlichen Zeiten und pluraler Geschichte einen Begriff der Politik voraussetzt so wie Carl Schmitt meinte, der Begriff des Staates setze einen Begriff des Politischen voraus, will ich somit (in einer allerdings weniger auf Schmitt oder auf Kosellecks Emanzipation von ihm abhebenden Weise) fortsetzen. Mit einem solchen Zugriff ließe sich das eingangs herausgestellte, anscheinend aber hoffnungslose Ziel, eine geschichtswissenschaftlich satisfaktionsfähige Kosellecksche »Historik« systematisch zu (re-)konstruieren, meiner Ansicht nach immerhin noch dergestalt spezifizieren, dass etwas genauer geklärt würde, was »Theorie« im Zusammenhang einer »Theorie historischer Zeiten« und dem wissenschaftstheoretischen Projekt einer »Historik« überhaupt meinen sollte, meinte erreichen zu können und uns heute zu sagen hat. Die Reihenfolge meiner Ausführung folgt derjenigen der soeben knapp erläuterten drei Missverständnisse und schließt mit einigen kritischen Anfragen zum Gegenwartswert der Koselleckschen Perspektive.

III. Ein Begriff von Geschichte jenseits von Geschichtsphilosophie Der von Koselleck modellierten »Historik« vorangegangen war eine außerordentlich subjektive Motivation. In Kosellecks Fall ist sie bekanntermaßen durch seine kontinuierliche und fundamentale Opposition gegen Geschichtsphilosophie, historische Teleologie und dabei insbesondere gegen Varianten von Politischer Theologie und dogmatischem Utopismus geprägt. Deren auf die Religionskritik des 18. und insbesondere 19. Jahrhunderts aufbauende intellektuelle Durchdringung war in den für Koselleck einschlägigen Varianten von Karl Löwith und Carl Schmitt geleistet worden, findet sich aber auch in Denkfiguren etwa Eric ­Voegelins, Karl Poppers, später Hans Blumenbergs und anderen. In fachprofessionelle Motivation überführt wurde sie durch Koselleck, weil er die Geschichtswissenschaft der Neuzeit zutiefst verstrickt sah in Wiederverzauberung und begriffssprachlich vitale Strukturen des »Weltbürgerkriegs«.39 Diese Verstrickung sah Koselleck nicht 39 Einen Überblick zur Entwicklung und Bedeutung dieses Motivs lieferte zuletzt Potsch, Lukas, Die Moderne als Weltbürgerkrieg. Zeit- und Geschichtskritik bei Roman Schnur, Reinhart Koselleck, Hanno Kesting und Nicolaus Sombart, in: Leviathan 47(2) (2019), S. 244–256; zudem Huhnholz, Sebastian, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungs-

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allein durch eine Dialektik der Aufklärung, durch die politische Polemik unserer Grund- und Leitsemantiken oder durch aktive ideologische Parteinahme öffentlichkeitswirksamer Großhistoriker bedingt, sondern auch wissenschaftspolitischstrukturell: durch die vor allem im deutschen Sprachraum des 19. Jahrhunderts geradezu notorische Indienstnahme der Geschichtswissenschaft als Geschichtsbild- und Leitkulturproduzentin. Schon als junger Heidelberger Doktorand hatte Koselleck seine Absicht, eine solche ›Geschichtspolitikwissenschaft‹ zu erledigen, noch als »ontologische« Programmatik beschrieben; im späteren Werk rückt die Anthropologie in diese Stelle ein. Die von Heideggers »Sein und Zeit« inspirierte Problematik, wie es sein kann, dass etwas ist und nicht, dass etwas nicht ist, beschäftigt Koselleck weniger erkenntnistheoretisch-philosophisch als methodologisch und dauerhaft, weil er darin einige Probleme der auch historiographischen Geschichtsbildproduktion beschrieben findet.40 Denn der philosophisch alten Problematik der ontologischontischen Beziehung, der Frage, ob das Nichts etwas hinzufügt, kommt, übertragen auf die Erfassung von »Geschichte«, eine neuzeitlich besondere Relevanz zu, weil das neuzeitliche Geschichtsbild einerseits die Zukunft als etwas, das nicht ist, umfassend entdeckt, und andererseits durch die daraus abgeleitete Deutung der Zukunft als etwas, das noch nicht ist, strukturiert wird. So wie – verkürzt interpretiert – Heidegger das Sein als unthematisch bleibende Voraussetzung des Seienden beschreibt und seinsvergessenen Präsentismus als Nihilismus, moniert Koselleck am gerichteten Geschichtsverständnis der Moderne die Ableitung aus dem Kommenden. Sein eigener Geschichtsbegriff erschöpft sich nicht in historischen Fakten und auch nicht in deren Deutung, sondern verweist auf die ihm vorgelagerte Tatsache, dass es Geschichte überhaupt geben kann. Das ist kein Zugriff, der selbst semantologisch fixiert und somit auf Kosellecks Forschungen an den »Geschichtlichen Grundbegriffen« zu verengen ist, als wäre »Geschichte« nicht auch zentrale Kategorie statt nur historischer Untersuchungsbegriff. Denn nicht im politisch-sozialen Begriff, sondern in der Frage, ob und wie es das als »Geschichte« Bezeichnete überhaupt geben kann, liegt, so vermutet schon der junge Koselleck, nicht die geschichtswissenschaftliche Praxis, sondern deren Voraussetzung, wie sich allein daran zeigt – und das ist die Perspektive Heideggers, auf die Koselleck häufiger verwies –, dass wir Neuzeitliche uns keinen Begriff von Geschichte mehr machen können, der ohne sinnstiftende Temporalverweise auf mögliche Zukünfte auskäme. Mit einer luhmannianischen Theoriesprache könnte die Zukunftsidee insofern als »Kontingenzformel« bezeichnet werden: als fiktiver Einheitswert, auf den sich Kommunikationshandlungen in Hinblick auf mög­liches Anderssein kontexte und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks Kritik und Krise, Berlin 2019, S. 69 ff. 40 Im Hintergrund steht die in Heidelberg seinerzeit typische Auseinandersetzung mit der »ontischen« Perspektive Heideggers, der Koselleck die Ontologie entgegensetzt; das kann hier nicht ausgeführt werden. Siehe dazu Kosellecks eigene Anmerkungen in: Dankrede, in: Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck. Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 33–60.

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entfalten lassen. Ohne einen solchen Bezug, wäre Verständigung über Geschichte im neuzeitlichen Begriffsverständnis vermutlich kaum möglich. Sie wäre durch andere überkommene Einheitswerte integriert: Tradition, Gott, Gemeinwohl usf. Ähnlich also schon der junge Koselleck. Es gelte aufzuzeigen, inwieweit gegenwärtige – auch begrifflich-sprachlich vermittelte – Deutungsrahmen selbst in den »Seinsstrukturen unserer Geschichtlichkeit wurzel[n]«. Gerade in der historischen Rekonstruktion sei dann, schreibt Koselleck 1953 an Carl Schmitt, der Trost zu finden, dass das tatsächliche Sein »nicht so sein muss, wie es ist«, wenn sich nur ein verwissenschaftlichter Geschichtsbegriff endlich der Voraussetzung eines »dauernden Ursprung[s]« bewusst werde. Wer historiographisch belege, dass ein geschichtlicher Prozess nicht determiniert ist, entkomme der Vorstellung, dass eine besondere Lage nach vorherbestimmter Art verlaufen müsse statt sich durch soziales, politisches, gesellschaftliches Handeln zu entfalten, mithin auch gestalten, verzeitlichen, externalisieren, aufhalten usw. zu lassen. Nur so umfunktioniert, deutet Koselleck an und legt damit die Pointe seines Vorhabens gegenüber dem Plettenberger Adressaten seiner Überlegungen offen, wachse der historischen Ontologie »selber jener prognostische[] Charakter« zu, mit der »sie die geschichtsphilosophischen Zwangsprophezeiungen ausser [sic] Kurs setzen kann.« Und sogleich gesteht er zu: »Ob sie dazu die Macht hat, ist eine andere Frage; aber mehr kann die ›historische Wissenschaft‹ als Wissenschaft nicht leisten.«41 Inwiefern diese Problemlage heute noch Aktualität beanspruchen kann, sei dahingestellt. Inwiefern sie geschichtswissenschaftlich bearbeitet werden könnte ebenso. Den Geisteswissenschaften noch politische Sinnstiftung attestieren zu wollen, erschiene gewagt. Doch Koselleck eben galt diese gesellschaftsorientierende und politisch einflussreiche Funktion ideologisch verkopfter Historiker noch als notorische Gefahr, die durch die aufkommende Sozialgeschichte lediglich sozialwissenschaftlich neu verkleidet worden sei. Sein Argwohn, den politisch Herrschaftsausübenden geschichtsphilosophisch-theoretisch oder sozialhistorisch-›progressiv‹-empirisch unterfütterte Deutungsmacht zu servieren, ohne sie mit Reflexionswerkzeugen für die eigendynamische Kraft historischer Wiederholungsstrukturen auszustatten, durchzieht sein Wirken von »Kritik und Krise« über den Denkmalstreit der Berliner Republik bis zu den späten ikonologischen Arbeiten.42 Vor diesem Hintergrund begründet sich die »Theorienbedürftigkeit der Geschichte«. Eine »Historie«, die »sich noch als Wissenschaft begreifen will«, müsse 41 Brief Reinhart Kosellecks an Carl Schmitt vom 21. Januar 1953, in: Nachlass Koselleck, DLA Marbach, nunmehr auch in Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Frankfurt 2019, S. 11 ff. Dieser nach Archivlage erste Brief an Schmitt wurde bereits mehrfach als frühe methodische Grundlegung des späteren geschichtstheoretischen Forschungsprogramms interpretiert, vgl. insb. Mehring, Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt; und Olsen, Niklas, Carl Schmitt, Reinhart Koselleck and the Foundation of History and Politics, in: History of European Ideas 37 (2011), S. 197–208. 42 Vgl. Huhnholz, Sebastian, Geschichte / Gedenken, in: Voigt, Rüdiger (Hg.), Handbuch Staat, Berlin 2018, S. 451–463.

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sich professionell dem Zwang stellen, ihren Gegenstand selbsttätig einzukreisen. Wenn der neuzeitliche Begriff der »Geschichte« als gelehrter Kollektivsingular am Ausgang des 18. Jahrhunderts selbst mit dem geschichtsphilosophischen Ordnungsanspruch auftrat, die »metahistorische Komponente« der Einzelgeschichten in ein System zu bringen – und diese ideologische Tradition »im Zuge der Zeit von der Neuprägung ›Geschichtlichkeit‹ aufgesaugt« wurde – müssten »Geschichtlichkeit und d[ie] ihr zugeordneten Kategorien« anders befragt werden. »[D]er Blick« solle »freigelegt werden auf eine Historik, auf eine Metahistorie, die nicht die Bewegung, sondern die Beweglichkeit untersucht, nicht die Veränderung im konkreten Sinne, sondern die Veränderlichkeit.«43

IV. Geschichtswissenschaft und »Historik« Koselleck argumentierte eine Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft verschiedentlich dahingehend, dass – weil aus der chronologischen Datierbarkeit und bloßen Ereignisbeschreibung einer Geschichte weder eine »Inhaltsbestimmung dessen, was ›geschichtliche Zeit‹ genannt werden mag« erfahrbar sei noch, wie ehedem, eine verlässliche »Lehre« für die Zukunft ableitbar – eine Theorie geschichtlicher Zeiten vielmehr die Bedingungen »möglicher Geschichte« re­ flektieren,44 das geschichtliche Gestaltungs-, ja womöglich Planungsbewusstsein der Akteure wie auch ihres Interpretationspublikums erfassen und somit gewissermaßen die politischen Produktionsbedingungen historischer Veränderungen und Gestaltungsabsichten identifizieren können müsse. »Wenn wir als Historiker eine genuine Theorie entwickeln wollen«, postuliert Koselleck 1982, »die sich von den allgemeinen Sozialwissenschaften unterscheiden soll, so muß es offensichtlich eine Theorie sein, die es möglich macht, eine Veränderung temporaler Erfahrungen einzukalkulieren«.45 Koselleck artikuliert diesen Anspruch seinerzeit gegen eine in seinen Augen gewaltige, sozialwissenschaftlich inspirierte und sozialhistorisch bediente, wenn nicht okkupierte »Ausweitung der empirischen Fragestellungen«, aus denen einer43 Koselleck, Reinhart, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten, S. 298–316, hier 299 f. Zur speziellen und bedeutenden Vorgeschichte des hier nicht weiter vertiefbaren Terminus der »Geschichtlichkeit« siehe Tietze, Peter, »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«. Richard Koebners und Reinhart Kosellecks Historische Semantik-Forschungen zwischen Historismus und Posthistoire, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5(2) (2016), S. 6–22. 44 Vgl. das Vorwort von 1973 zur ersten Suhrkamp-Taschenbuchausgabe von Kritik und Krise, die nun mit neuem Untertitel erschien (Koselleck, Reinhart, Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Frankfurt a. M. 1973, S. IX–XI, IX); ders., Vorwort (1979), in: ders., Vergangene Zukunft, S. 9–14. Und in Historik und Hermeneutik dann explizit: »Die Historik ist […] die Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichten« (ders., Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten, S. 97–118, hier 99). 45 Koselleck, Moderne Sozialgeschichte, S. 324.

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seits vermehrter methodologischer Ordnungsbedarf resultiere und andererseits stärkere erkenntnistheoretische Reflexionen darauf erforderlich würden, wie sich »die Gesamtheit aller einzelnen Geschichten zu einer totalen Geschichte« verhält. Denn solch ein metatheoretisches Unterfangen müsse »empirisch scheitern«, weil jede »totale Geschichte« und auch jede »Theorie für die Möglichkeit einer totalen Geschichte […] immer das Produkt einer notwendigen Perspektive bleibt«, die von der Summe empirischer Fälle aus besehen unsichtbar bleibt.46 Mit dieser – hier nur exemplarisch aus einer Reihe vergleichbarer Einlassungen herangezogenen – Problematisierung reklamiert Koselleck einen deduktiven Forschungsprozess. Ein theoriefähiger Begriff von Geschichte habe der empirischen Erforschung von Geschichten voranzugehen; der umgekehrte Weg sei »wissenschaftlich« zum Scheitern verurteilt. Grundsätzlich ist dieses Denkmodell Kosellecks durch drei Ordnungsebenen strukturierbar: die wissenschaftstheoretische Absicht einer Historik selbst, die anthropologische Frage nach den Bedingungen sozialer Zeitlichkeit und historischer Wiederholbarkeit sowie schließlich der Konsequenz multipler und pluraler Geschichte(n). Historik, Temporalität und empirisch untersuchbare Theorie geschichtlicher Zeiten bilden dabei  – raumbildlich gesprochen  – kein Dreieck, sondern eine Stufenordnung. Auf der ersten Stufe wird wissenschaftstheoretisch nach dem Zweck einer geschichtswissenschaftlichen Perspektive gefragt und die Antwort in der Aufgabe gefunden, die Wahrnehmung und Deutung der Eigenzeitlichkeit(en) einer menschengemachten Ordnung zu erfassen (»Geschichtlichkeit«). Die zweite Ordnungsebene fragt erkenntnistheoretisch nach der Möglichkeit von Geschichte / n überhaupt und sucht Antworten in der allgemeinen (mit Ausnahme allerdings der psychologischen) Anthropologie im Sinne einer Lehre von den Voraussetzungen solchen sozialen Handelns, das die mehr oder minder komplexe Reflexion dieses Handelns als Kollektivhandeln, als gestaltendes Handeln möglich macht. Die dritte Ordnungsebene schließlich fragt nach empirischen Mustern dieser Reflexion und findet Antworten im Schema der Deutungskonkurrenz: Geschichtsbilder sind dann zeitpolitische Sinnstiftungsarrangements, weil sie ihre Formen aus Kontrasten zu alternativen Darstellungen (sei es früheren, oppositionellen, importierten, thematisch-strukturellen, chaotisch / katastrophisch induzierten o. a. m.) gewinnen.47 46 Ebd., S. 319 ff. 47 Damit aufgerufen sind die hier nicht im Detail zu würdigenden Anordnungsoptionen, die Koselleck über das Auf-, Um- oder Fortschreiben bzw. das dokumentierende, innovativmani­pulierende oder konservativ-kontinuierende Deuten geschichtlicher Ereignisse vor allem beschreibt in: ders., Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthropologische Skizze, in: ders., Zeitschichten, S. 27–77. Einige vielleicht hilfreiche methodologische Überlegungen dazu habe ich in zwei Aufsätzen zu entwickeln versucht: Huhnholz, Sebastian, Ans Vergessen erinnern (Rezensionsessay zu Christian Meiers »Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit«), in: Berliner Debatte Initial 22(4) (2011), S. 145–155, sowie: ders., Erfah-

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Offensichtlich ließe sich dieses Schema auch über verschiedene andere logische Perspektiven beschreiben, doch will ich hier auf alternative Gestaltungsangebote und ablenkende Theoriesprachspiele ebenso verzichten wie auf Verfeinerungen und Kritik. Hervorgehoben seien lediglich zwei Auffälligkeiten: Erstens, dass hier kein speziell geschichtswissenschaftliches Modell vorliegt, sondern – will man es etwas pointiert – auf eine wissenschaftstheoretische eine selbsternannt ›anthropologische‹ und schließlich eine stärker sozialwissenschaftliche Blickführung folgt, die zusammengenommen erst die vollgültige Identifizierung des zu untersuchenden Sachverhalts »Geschichte / n« zulassen. Zweitens ist dieses Schema sukzessive operationalisiert: Auf die Angabe der Beobachtungsperspektive (Geschichtlichkeit) folgt die Identifizierung mutmaßlicher Invariablen (Konstanten) und erst dann wird der Blick auf Variablen gelenkt, namentlich auf Geschichten, Ereignisketten und ihre Deutungen. Die Anordnung eines solchen Untersuchungsdesigns folgt dem Muster Methodologie (Erkenntniszweck), Theorie (Erkenntnismittel), Empirie (Erkenntnisobjekt), deren forschungspraxeologische Abfolge folglich nicht beliebig ist, insofern zwar die Auswahl der empirischen Fälle zu guten Teilen den Forschenden obliegt und die anthropologische Setzung – wie erwähnt – Kosellecks Steckenpferd ist, allein aber auf der obersten Ebene, derjenigen der Methodologie, die spezifisch geschichtswissenschaftliche Zuständigkeit vorentschieden werden könne. Insbesondere die letztgenannte Behauptung Kosellecks freilich muss nicht überzeugen. Denn die aus ihr abzuleitenden Problemstellungen könnten auch durch ein philosophisches oder politikwissenschaftliches Erkenntnisinteresse bestimmt werden, insofern diese Disziplinen vielfach ebenfalls nach einem Begriff von ­Geschichte fragen oder eines solchen bedürfen.48 Das gleichwohl geschichtswissenschaftlich besonders Interessante an dieser eben nicht beliebigen Sukzession ist, dass sie nur deduktiv, sozusagen treppenabwärts verfahren kann. Denn eine etwaig historiographische Spezifik ergibt sich nicht gleichsam naturwüchsig ›von unten‹, von den Wurzeln der empirischen Fälle, von den ›Geschichten‹ her. Sie muss ›von oben‹ durchgereicht werden, um als geschichtswissenschaftliche Aufgabenstellung identifiziert werden zu können. Die induktive Reihenfolge, das Treppenaufwärts quasi, lässt sich nur vertreten, wenn die Frage nach der konkreten Geschichte von gleichwie Beteiligten schon vorentschieden worden ist – wenn vorausgesetzt wird, dass es Geschichte gibt: Sei es als Forschungsentscheid (z. B. »Ich untersuche die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.«), rungswandel ohne Methodenwechsel? Zum Problem weltbürgerkriegerischer Veteranenmethodik für ein europäisch integriertes Totalitarismusgedächtnis, dargestellt am Beispiel der deutschen Diskussion um Timothy Snyders »Bloodlands«, in: Tr@nsit online 2014, abrufbar unter https://www.iwm.at/transit-online/erfahrungswandel-ohne-methodenwechsel/#_ftn1 [Zugriff 22. Mai 2020]. 48 Das verweist auf die hier nicht zu elaborierende Frage, inwiefern die Leitbehauptung, dass eine genuin geschichtswissenschaftliche Selbstklassifizierung überhaupt angemessen sein kann, eine evidente Deutung ist.

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sei durch politische Absicht (»Wir schreiben heute Geschichte.«, »Ich will in die Geschichte eingehen.« usf.). Das scheint mir der ausschlaggebende Grund dafür zu sein, dass sich Koselleck als historiographischer Methodologe der intradisziplinären Induktion verweigert und die Frage, was Geschichtswissenschaft leisten kann, nicht von den Fällen oder von ihrer intradisziplinär tradierten Strukturierung her beantwortet sehen will. Koselleck ließ vor allem im Spätwerk keinen Zweifel daran, dass seine »Historik« im Unterschied zur »empirischen Historie« als eine »theoretische Wissenschaft«49 mit einem zeittheoretischen Anspruch antrete, die philosophischen Halt in sozial- und kulturanthropologischen Konstanten finde, nach den Bedingungen der »Darstellbarkeit« von Ereigniszusammenhängen frage50 und sich durch »formalisierte[] Kategorien« wie »Innen / Außen, Oben / Unten, Früher / Später« Vergleichbarkeitsgrundfiguren schaffe, »auf die alle Geschichten rückführbar sind«51 mit dem Ziel, von Koselleck sogenannte »Zeitschichten« zu differenzieren, die über »die üblichen Weisen der Historiker, Zeit zu behandeln«, nämlich als entweder linearen Ver- oder als rekursiven Kreislauf, hinausreicht. Das Modell der »Zeitschichten« fragt nach dem Verhältnis von Einmaligkeit, Verlässlichkeit und Wiederholungsstrukturen, nach der »Bedingung möglicher Einmaligkeit« als Deutungsschema historischer Ereignisse. Kosellecks anthropologisches Bild für solche seiner Hoffnung nach strukturierbaren »Rekurrenzphänomene« ist die kulturorganisatorisch voraussetzungsreiche Rolle des Briefträgers: Als Person ist der Briefträger austauschbar, kehrt aber täglich mehr oder minder pünktlich wieder, um je einmalige Nachrichten zu überbringen, die wir im Rahmen eines begrenzten Verhaltenssettings individuell verarbeiten.52 So besehen ist die Absicht einer »Historik« im Sinne Kosellecks zunächst das Projekt einer Propädeutik für die Historiographie. Gesucht wird nach einem Begriff des Historischen, der die metahistorischen Voraussetzungen ›möglicher Geschichten‹ und die praktischen Grenzen der Geschichtswissenschaft klärt, bevor konkret geforscht werden kann. Nicht zuletzt das war schließlich auch die Denomination des Bielefelder Ordinariats, das Koselleck 1973 antrat: »Theorie und Didaktik der Geschichte«. Analog zur Frage nach dem »Politischen« in der Politologie, der nach »Kultur« in den Kulturwissenschaften usf. sollte also das Anliegen, eine Wissenschaftstheorie der Geschichtsschreibung zu entwerfen, allgemein auf den Gegenstandsbereich des Fachs reflektieren und speziell in einem zeitgeschichtlichen Umfeld der Versozialwissenschaftlichung der Universitäten in den 1960er und -70ern die wissenschaftspolitische Bedeutung der in ihrem dis49 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 99. 50 Ebd. 51 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: ders., Zeitschichten, S. 9–16, hier 16. Eine anschauliche Systematisierung dieses Modells hat Alexandere Escudier erarbeitet: ders., ›Temporalization‹ and Political Modernity. A Tentative Systematization of the Work of Reinhart Koselleck, in: Sebastián, Political Concepts, S. 131–177. 52 Koselleck, Einleitung, in: ders., Zeitschichten, S. 19–26, hier 22 u. 21. 

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ziplinären Eigenwert als bedroht, beliebig und banal empfundenen historischen Zunft stärken.53

V. Historische Theorie und politiktheoretische Anthropologie Wenn jedoch Kosellecks Historik »nach den theoretisch zu erbringenden Vorgaben« fragt, »die es begreiflich machen sollen, warum sich Geschichten ereignen, wie sie sich vollziehen können und ebenso, warum und wie sie untersucht, dargestellt oder erzählt werden müssen«,54 wäre es nicht nur untertrieben, sondern inkonsequent, das als ein bloß geschichtswissenschaftliches Anliegen zu verstehen. Koselleck fragt nicht, was konkret der Fall war, sondern wie es dazu kommen konnte, mehr oder minder erfolgreich zu behaupten, dass konkret dies (und nicht etwas anderes) der Fall sei. Das ist – jedenfalls im ersten Schritt – ein deutlich sozialwissenschaftlich affizierter Theoriebegriff, kein rein geisteswissenschaftlicher, weder philosophischer noch allgemein historiographischer oder speziell geschichtstheoretisch-modellhafter. Sowohl die verbindliche Tatsachenentscheidung (Dies ist jetzt der Fall!) wie auch Widerspruch und Widerstand dagegen sind nicht geringstenteils politische Akte, Akte eben, wie Koselleck mit Rückgriff auf Carl Schmitt hervorhob, »des Politischen, nicht der Politik«, weil sie sich in »einem Raster möglicher Antithesen« sinnstiftend positionieren.55 Ein ›geschichtsloses‹ Wesen wäre entsprechend kein vergangenheits- oder zukunftsloses im gebräuchlichen Alltagssprachsinn, sondern ein zugleich unpolitisches Wesen, das ohne Bewusstsein eines beinflussbaren Morgen lebt, dessen Verhalten ohne die Vorstellung eines kontingenten ›Später‹ auskommt oder dem Einsichten in etwaige Konsequenzen des eigenen Handelns notorisch verwehrt sind oder verwehrt werden. Aus einer politiktheoretischen Perspektive besehen wäre solche ›Geschichtslosigkeit‹ Inbegriff von »Unterdrückung«.56 53 Rückblickend vgl. Meier, Gedenkrede, S. 110 ff.; konkret so motiviert Koselleck, Wozu noch Historie?, und ders., Moderne Sozialgeschichte, S. 317 ff. Wenigstens zu Teilen ließe sich diese Absicht heute getrost historisieren, denn drei ihrer wesentlichen Kontexte – intradisziplinäre Konkurrenz von Sozial-, Begriffs-, Diskurs- und Ideengeschichte zum einen (vgl. Dipper, Christof, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«: Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Joas / Vogt, Begriffene Geschichte, S. 288–316, z. B. 304), »Theorie« als akademisches Genre und Schlagwort der westeuropäischen Revoltephase um ›1968‹ zum nächsten (siehe Felsch, Philipp, Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990, Berlin 2015) und drittens der besagte interdisziplinäre Drang nach vor allem soziologischer Versozialwissenschaftlichung – sind Vergangenheit (vgl. Groebner, Valentin, Theoriegesättigt. Ankommen in Bielefeld 1989, in: Asal, Sonja / Schlak, Stephan (Hg.), Was war Bielefeld? Eine ideengeschichtliche Nachfrage, Göttingen 2009, S. 179–189, 183). 54 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 99. 55 Koselleck, Reinhart, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 211–259, hier 258 f. 56 Ich nenne nur zwei einschlägige Titel dazu Young, Iris Marion, Fünf Formen der Unterdrückung, in: Nagl-Docekal, Herta / Pauer-Studer, Herlinde (Hg.), Politische Theorie. Differenz

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Vor diesem Hintergrund mag verständlicher werden, dass Kosellecks Theoriebegriff auch in einem weiteren, werkhistorischen Schritt den eigenen Fachbereich verließ. Wenn er insbesondere im mittleren und späteren Werk regelmäßig auf ein mal mehr und mal minder ausgeführtes Set von anthropologischen Konstanten zu sprechen kam, fragte Koselleck, welche Faktoren die sozialen und geistigen Planungs- und Reflexionsrahmen limitieren: die in der Tatsache der Tötbarkeit kulminierende, oben schon genannte Figur des Endes, ferner das Alter der Akteure, überhaupt der menschliche Lebenszyklus und generationelle Lebensspannen, biologische Bedürfnisse und Geschlechtlichkeit, Gattungsspezifika, der technische Machbarkeitshorizont, interzivilisatorische Erkenntnis-, Irritations- und Kontaktmöglichkeiten u. a. m.57 Diese Spannbreite und die Anwendungstauglichkeit einer solchen Verflechtung von Historik und politischem Bewusstsein als Voraussetzung geschichtlichen ­Denkens weist weit über die üblicherweise dazu benannten Theoretisierungsfragmente Kosellecks hinaus.58 Für »Kritik und Krise« und dessen Entstehungsumfeld ist diese Behauptung schon insofern evident, wie Koselleck damals bereits das spätere anthropologische Set parat hielt. Im oben schon einmal angesprochenen Winter des Jahres 1953 schrieb Koselleck an Carl Schmitt, die »Geschichte ist dem Menschen nicht transzendent, weil sie weitergeht, wenn dieser oder jener Mensch stirbt, sondern es durchherrscht eine Endlichkeit die menschlichen Dinge, die den Geschichtsraum, der den jeweiligen Menschen zugeordnet ist, dauernd in Frage stellt. ›Herr und Knecht‹, ›Freund und Feind‹, Geschlechtlichkeit und Generation […] gehören hierher.«59 Doch auch für das Projekt der Geschichtlichen Grundbegriffe ist das ungleich mehr als geschichtswissenschaftliche Rahmenanliegen allemal konstitutiv60 und und Lebensqualität, Frankfurt a. M. 1995, S. 99–139; Spivak, Gayatri Chakravorty, Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulaton, Wien 2020 (Orig. 1988). 57 Vgl. Escudier, ›Temporalization‹. Hoffmann (ders., Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen, S. 182 f.) weist durch genauere Textvergleiche auf gelegentliche Modifikationen und Erweiterungen hin, etwa darauf, dass Koselleck auch mit den Gegensätzen von Öffentlichkeit und Geheimnis sowie Siegern und Besiegten experimentiert, und in »seinem letzten publizierten Text« zu den »drei formalen Grundbestimmungen als Basis seiner historischen Anthropologie […] drei weitere Kriterien ergänzt: die geographischen und klimatischen Vorbedingungen, die unabhängig vom Menschen dessen Leben ermöglichen, Institutionen, die rein menschlich generierte Bedingungen möglicher Geschichten hervorbringen wie etwa die Arbeit und das Recht, und schließlich die Ereignisse selbst, die eigene Wiederholungsstrukturen enthalten, wie der Begriff der Revolution anzeigt.« 58 Vgl. jüngst noch dazu Ewing, Koselleck’s Historik. 59 Und überdies, vielleicht als Zugeständnis oder Gesprächsangebot an Schmitt, auch »alle ›geopolitischen‹ Fragen« – siehe Brief vom 21. Januar 1953, nun abgedruckt in Koselleck / Schmitt, Briefwechsel, S. 12, zum genaueren Kontext Huhnholz, Von Hannah Arendt zu Carl Schmitt. 60 So weist Reinhard Blänkner (vgl. auch dessen Beitrag im vorliegenden Band) darauf hin, dass nur eine der vier für die Geschichtlichen Grundbegriffe reklamierten »heuristischen« Annahmen aus der Geschichtswissenschaft stammt, namentlich die These der »Ideologisierung« von Otto Brunner inspiriert ist, wohingegen die Thesen der »Politisierung« und »Demokratisierung« aus sozialwissenschaftlichem und juristischem Kontext stammen, namentlich von

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angesichts der ikonologischen Studien zum politischen Totenkult lässt sie sich auch auf das unvollendete Spätwerk projizieren.61 Damit sind nur wenige Dimensionen und Themen benannt, mit denen die erweiterte Vorstellung einer Geschichtstheorie Kosellecks selbst die Schwelle von geistes- zu sozialwissenschaftlichen Fragestellungen nimmt, die intellektuelle und öffentliche Produktion politischer Geschichtsbilder als Herrschaftstechnik oder Konfliktentfaltungsstrategie begreift und dafür immer wieder ausdrücklich auf Politische Theorien und politiktheoretische Denkmodelle verweist, deren ideenpolitische Wirkmächtigkeit Koselleck als eine maßgebliche Voraussetzung erfolgreicher Geschichtspolitik begriff. Aus einem solchen Blickwinkel ist besonders zu erinnern, dass neben der eher späten, benanntermaßen mürrischen und ohnehin mehr fachspezifischen Absicht des bestallten Professors, eine »Historik« zu entwickeln, Kosellecks Denken schon seit der Promotionsphase durch intensive Auseinandersetzungen mit Politischer Theorie und (politischer) Philosophie charakterisiert war. Die in der jüngeren Rezeptionsliteratur zu Koselleck – soweit ich sehe – ausgebliebene Frage, ­warum er seine allgemeine Theorie ausgerechnet mit einem etwas absonderlichen Set anthropologischer Konstanten unterfüttern zu müssen meint, scheint ohne Rückgriff auf das Forschungsfeld der Politischen Theorie und ohne Kritik dieser politologischen Teildisziplin schwerlich zu beantworten. Denn Kosellecks Denken in politischen Oppositionsverhältnissen bzw. das Interpretieren des »Politischen« als ein Denken in Kontrasten, Differenzen und Abgrenzungen mit der Folge entsprechender Kämpfe um die Deutungshoheit über besonders begehrte Herrschaftsbegriffe gingen seinen geschichtstheoretischen Entwürfen sowohl zeitlich wie auch konzeptionell voran. Sie fundierten sich in einem – wie ich es an anderer Stelle genannt habe – »methodologischen Schmittianismus«,62 der nicht – wie bei Schmitt – selbst »politischer«, d. h. politisierter und politisierender Denkstil Carl Schmitt und Karl Mannheim, und die verbleibende Dimension der »Verzeitlichung« Kosellecks genuiner Beitrag ist. Der zusätzliche Einfluss Max Webers wurde von Kari Palonen in Die Entzauberung der Begriffe herausgestellt. Ergänzungswürdig erscheint mir, dass diese Heuristik Kosellecks in enger Beziehung mit seinem Verständnis des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs steht und sich folgerichtig auch – in erweiterter, meines Erachtens teils präzisierer, weil z. B. das globale Ausgreifen der Kollektivbegriffe als handlungsanleitende Kategorien thematisierenden Form – in den acht Kriterien, die Koselleck zeitgleich für diesen Revolutionsbegriff entwickelte, spiegelt (siehe Koselleck, Reinhart, Historische Kriterien des neuzeitlichen Revolutionsbegriffs, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 67–86). In diesem letztgenannten Kriterienkatalog zeigt sich auch der Einfluss des Weberschen Rationalisierungsmoments stärker, das Koselleck u. a. als (revolutionäre, sozialtechnologische oder schlichtweg epistemische Dimension der) »Machbarkeit« von Geschichte übersetzt und daran einen zukunftsgerichteten Legitimitätsbegriff bzw. professionellen Selbstlegitimierungsanspruch der (ggf. Berufs-)Revolutionäre koppelt, der sich als Kontrast zu den anderen zwei weberianischen Typen des »Legitimitätsglaubens« begreifen lässt, also als sich zweckrational rechtfertigender statt als charismatischer oder traditionaler Herrschaftsbezug. 61 Statt vieler siehe nur Koselleck, Reinhart / Jeismann, Michael (Hg.), Der politische Totenkult. Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994. 62 Huhnholz, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt?, S. 130.

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war, sondern sich cum grano salis als eine Politische Theorie von Geschichte bezeichnen ließe. Insofern teile ich sowohl Alexandre Escudiers Einschätzung, dass mit Kosellecks Entwurf einer allgemeinen Historik »der Dialog zwischen der Geschichtsforschung und den Politikwissenschaften wieder aufgenommen wird«,63 wie auch die zuletzt vor allem von Gennaro Imbriano wenigstens implizit verfochtene Annahme, Kosellecks Historik liege ein eigener »Begriff der Politik« bzw. des Politischen zugrunde. Denn wenn Carl Schmitt bekanntermaßen pointierte, der Begriff des Staates setze eine Vorstellung des Politischen voraus, ließe sich Kosellecks Sichtweise, nach der politische Konflikte im Sinne Schmitts »Bedingungen aller möglichen Geschichten« sind,64 unschwer in das Schema eines analogen Theorems kleiden: Der Abstraktionsbegriff »Geschichte« setzt einen Begriff des Politischen voraus. Dies wenigstens exemplarisch vertiefend wäre hervorzuheben, dass Kosellecks Begriff des Politischen hobbesianisch geprägt ist. Diese vordergründig simple und womöglich provozierende, weil missverständliche Einschätzung müsste Gegenstand weit umfassenderer Betrachtungen sein als sie hier möglich sind. Es soll abschließend genügen, auf drei Besonderheiten hinzuweisen. (1.) Erstens ist von einer frühen intellektuellen Prägung Kosellecks durch die äußerst intensive Auseinandersetzung mit Hobbes’ politischer Philosophie auszugehen. Sie ist durch Carl Schmitts Beratungen und dessen spezifische HobbesRezeption beeinflusst, nicht jedoch initiiert oder gegängelt.65 Jede Annahme, Koselleck würde einem Trivial- oder Klischeehobbesianismus frönen (»Krieg aller gegen alle«, homo homini lupus etc.), ist dabei streng zurückzuweisen. Wesentlich ist vielmehr, dass sich der vom späten Koselleck durch öffentliche Stellungnahmen selbst forcierte und in der jüngeren Koselleck-Rezeption dominierende autobiographische Deutungsansatz mit Hilfe des Rückgriffs auf die frühe und tiefe Auseinandersetzung Kosellecks mit der politischen Philosophie und Anthro­ pologie von Hobbes an einer bedeuteten Stelle relativieren ließe: Die von Koselleck und Hobbes gleichermaßen herausgestellte Bedeutung der Sterblichkeit und des »Totschlagenkönnens« (Koselleck) für geschichtstheoretische Deutungen. Nicht lebendige Natürlichkeit oder metaphysische Kreatürlichkeit, sondern die Gewissheit, die Fortpflanzung des anderen verhindern zu können (einschließlich der des Herrschers – denn der Regizid ist das Leitmotiv des Hobbeschen Leviathan), firmiert dabei als Motiv, Movens und Grenze solcher sozialen und politischen Ordnungsbildungen, die überhaupt Deutungskompetenz und Gestaltungsfähig63 Escudiers, Kosellecks Anthropologie, S. 199. 64 Imbriano, Begriff der Politik, S. 97. 65 Dazu mit ausführlichen Hinweisen zu Kontext und Gestalt der damaligen deutschen HobbesRezeption Huhnholz, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt?; Koselleck / Schmitt, Briefwechsel. Zu Schmitts Hobbes-Bild und dessen Auswirkungen Mehring, Reinhard, Thomas Hobbes im konfessionellen Bürgerkrieg. Carl Schmitts Hobbes-Bild und seine Wirkung im Kreis der alten Bundesrepublik, in: Leviathan 36(4) (2008), S. 518–542.

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keit erfordern und damit sozusagen den Eintritt in die Geschichte als Möglichkeitsraum eröffnen. Dass es sich dabei keinesfalls um einen einmaligen Vorgang handelt, sondern um die politisch konstitutive Opposition zwischen »Natur-« und »Gesellschaftszustand« bzw. Anarchie und Recht, Individualität und Kollektivität, verbindet Hobbes’ und Kosellecks Denken nicht nur hinsichtlich des herrschaftlichen Ordnungsbegriffs. Mithilfe einer geschlechtertheoretischen Perspektive wird besonders auffällig, wie tief Kosellecks anthropologische Kriterien die in seiner Wissenschaft bis in seine Zeit etablierten herkömmlichen Herrschaftsbegriffe unterlaufen, indem sie eine ganz erhebliche Reihe von schambehafteten Dimensionen aufrufen, die in einer maskulin fixierten Intellektuellen- und Theoriekultur gewöhnlich unsichtbar bleiben oder gemacht werden.66 Diese Einblendung von Verdrängtem dürfte alles andere als eine zufällige Begebenheit sein, da Kosellecks Anthro­ pologie die ›feminine‹ Naturzustandskonzeption der Politischen Theorie des Thomas Hobbes geradezu kopiert. Denn analog zu dem, wie bei Hobbes diverse mit ›privat‹, ›häuslich‹ und ›schwach‹ korrelierten Weiblichkeitszuschreibungen einer in doppelter Hinsicht ›natürlichen‹ und ›naturhaft‹ belassenen Sphäre zugehören – nämlich wahlweise der Sphäre des vorstaatlichen Naturzustands oder derjenigen der gesellschaftsvertraglich garantierten Privatheit – und sie insofern vorpolitisch / außerstaatlich bleiben bzw. jenseits der just darum in ihrer Stabilität theorienotwendig und praktisch-notorisch prekären (nämlich die gesellschaftliche

66 So schreibt Cornelia Klinger in auffallend breiter Überschneidung mit Kosellecks anthropologischen Kriterien: Gründe dafür, dass »die Geschlechterverhältnisse so nachhaltig aus den philosophischen Gesellschaftstheorien ausgeblendet wurden, dürfte[n] in der Ausgrenzung der Geschlechterverhältnisse in eine außer-gesellschaftliche Sphäre zu suchen sein. Die Gegebenheiten der Kontingenz, die Zufälligkeit und Hinfälligkeit des Daseins wurden allesamt mit Schwäche identifiziert: Gebürtlichkeit (Sexualität & Generativität) und Sterblichkeit (Krankheit & Gebrechlichkeit) sowie die auf der Strecke zwischen Anfang und Ende auftretenden Phänomene von Partikularität und Pluralität von und zwischen Menschen (Nicht-Ganzheit & Nicht-Einheit, Differenz, Streit, Konflikt) wurden in der europäischen Geschichte auf viele verschiedene Weisen negiert und abgewiesen in dem Glauben, die damit verbundenen Probleme durch Herrschaft lösen zu können. Diejenigen, die sich stark machen wollten und konnten, haben die conditio humana von sich abgespalten, die Bewältigung der Kontingenz an andere delegiert und in vor-politische, außer-gesellschaftliche Räume aus- und eingegrenzt. Herrschaftlich organisierte Kontingenzbewältigung impliziert asymmetrische Relationen entlang von drei großen Linien gesellschaftlicher Ungleichheit: Herr / Knecht, Eigen / Fremd und die dritte Linie trennt das eine vom anderen Geschlecht. Das weibliche Geschlecht wurde über weite Strecken der westlichen Geschichte von formellen politischen und ökonomischen Machtpositionen ebenso wie von den diese legitimierenden Wissensproduktionen wenn schon nicht gänzlich ausgeschlossen, so doch an den Rand gestellt. In der westlichen Philosophie wurden Rangordnungen von oben und unten, zwischen innen / eigen und außen / fremd in die Verhältnisse zwischen Kultur und Natur, Geist und Körper, Form und Materie, Vernunft und Gefühl usw. eingeschrieben.« (Klinger, Cornelia, Im Nachgang. Zu Georg Simmels Theorie der Geschlechter (2019), abrufbar unter https://www.soziopolis.de/erinnern/jubilaeen/artikel/im-nachgang/ [Zugriff 22. Mai 2020]).

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Reproduktion nicht garantierenden) staatlichen Herrschaft liegen,67 konzipiert auch Koselleck Teile seiner Anthropologie. Die Homologie beider Modelle ist dermaßen intensiv, dass es schwerfällt, sie als Zufälligkeit oder aber als eine Koselleck unbewusste Reminiszenz an frühe Forschungsschwerpunkte abzutun. Dass sich denn auch Hobbes’ konkrete Zeitlichkeitsvorstellung des Naturzustandes recht explizit in Kosellecks anthropologischer Kategorie des »Totschlagenkönnens« übersetzt, kann gar nicht mehr verwundern.68 Der von Hobbes beschriebene Naturzustand ist ein geschichts-, weil zukunftsloser, angesichts umfassender Unsicherheit vorstaatlicher Zustand, dessen empirische Beobachtung – etwa durch ›Zeitreisen‹ in die »Neue Welt« – einem Blick in die vorgeschichtliche Zeit gleichkomme.69 Politiktheoretisch umso auffallender ist, dass besagte Homologie Kosellecks Geschichtsbegriff mehr als nur subtil an die Ordnungsleistung des neuzeitlichen Staates bindet: insofern Kosellecks »Kritik und Krise«-Mantra einer Gleichursprünglichkeit des modernen Geschichtsbegriffs einerseits und der in Reaktion auf den Staat des Absolutismus erwachsenen Dialektik der Aufklärung anderseits sich im anthropologischen Komplex seiner Historik spiegelt. Die Geschichts­kategorie, so ließe sich das pointieren, ist in Kosellecks Modell Voraussetzung und Folge neuzeitlicher Staatlichkeit und sie stellt den konkret neuzeitlichen Staat selbst beständig zur Disposition. (2.) Zweitens wäre daher zu beachten, dass Koselleck in einer seinerzeit neuen, mittlerweile aber hegemonialen Deutung, Hobbes’ als einen liberalen Theoretiker zu begreifen verstand. Die historisch oberflächliche und denunziatorische Deutung, Hobbes als Monarchisten und Absolutisten zu lesen, wodurch sich dann auch jede produktive Rezeption gefälligst verbitte, können wir getrost beiseitelegen. Denn nicht etwaige verfassungstypspezifische – gleichwie royalistische versus republikanische  – Empfehlungen, die Hobbes als Konsequenz seiner Analysen zieht, interessierten Koselleck, sondern die existentielle Fundierung der hobbesianischen Philosophie: die Endlichkeit und Verletzlichkeit des Menschen, von denen aus Neubeginn und Gestaltbarkeit in politischer Hinsicht denkbar und erforderlich werden. Der Mensch ist Subjekt und Faktor von Geschichte, sobald er sich der Fähigkeit bewusst ist, die Voraussetzungen seiner historischen Existenz zerstören zu können. Koselleck selbst lässt im Alterswerk die sowohl hobbesianisch, heideggerianisch, arendtianische wie auch schmittianisch inspirierte An67 Siehe zu den Verdrängungsleistungen vor allem Pateman, Carole, The Sexual Contract, Cambridge 1988, und Manow, Philip, Politische Ursprungsphantasien. Der Leviathan und sein Erbe, Konstanz 2010; zu Erweiterungen der komplexen Verschachtelung von geschichts-, staats- und gesellschaftstheoretischen Geschlechtlichkeitsperspektiven des Leviathan Brand, Reinhard, Das Titelbild des Leviathan, in: Manow, Philip / Rüb, Friedbert / Simon, Dagmar (Hg.), Die Bilder des Leviathan. Eine Deutungsgeschichte, Baden-Baden 2012, S. 13–41; Thomö, Dieter, Puer Robustus. Eine Philosophie des Störenfrieds, Berlin 2016, S. 50 f.; den Special Issue Odzuck, Eva / Chadwick, Alexandra (Hg.), Feminist Perspectives on Thomas Hobbes, in: Hobbes Studies 33(1) (2020); Odzuck, Eva, Thomas Hobbes’ körperbasierter Liberalismus – Eine kritische Analyse des Leviathan, Berlin 2016. 68 Siehe Escudier, Temporalization, S. 132. 69 Dazu insb. Manow, Politische Ursprungsphantasien.

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lage einigermaßen unmissverständlich erkennen, wenn er auf die Erfahrung und Einsicht der Totschlagenkönnens abhebt und sie zur anthropologischen Kategorie erhebt. Das Endlichkeitsbewusstsein evozierte bei Heidegger die Gedankenwelt des »Nichts«, in der politischen Philosophie von Hobbes die Motivation der Ordnungsstiftung, bei Arendt in politischer Erweiterung die Kategorie der Nativität und bei Schmitt – so führt Koselleck diese Ansätze zusammen – das Begriffspaar von Freund und Feind, das »[h]inter dem Oppositionspaar des Sterbenmüssens und Tötenkönnens« stehe.70 Damit war, auch zeittheoretisch, ›Geschichtlichkeit‹ von Ewigkeit als einer weniger un- denn überzeitlichen Kategorie abgegrenzt, wie sie diversen religiösen Vorstellungswelten eigen ist. Wenn man hingegen die Träger von Herrschaft töten und ersetzen kann, ist keine bestimmte politische Herrschaft von Gott gewollt, sondern sie ist durch den Menschen machbar.71 Diese liberalschmittianische Deutung des »Politischen« verband viele der von Carl Schmitt beeinflussten und reflektierten Historiker der Bonner Republik. Christian Meier nannte sie ein »Könnens-Bewusstsein«, mit dem der Eintritt in »die« Geschichte erfolgte und ein ›Davor‹ durch ein Gründungserlebnis, eine Initialerfahrung, eine Machbarkeitsrevolution usw. von einem ›Nachher‹ spezifisch unterschieden werden konnte im Bewusstsein der Möglichkeit des Rückfalls durch Ordnungszerfall.72 (3). In verschiedenen ›Koselleckiana‹ ist bereits erörtert worden, dass, warum und inwieweit dieser Zugriff generationenspezifisch ist, intellektuelle Mode eines breiteren Milieus, das – unbeschadet aller beachtlichen Differenzen – von Heidegger über Arendt bis Löwith und Schmitt reicht. Das braucht hier nicht wiederholt werden. Wichtiger sei, dass Koselleck die individuell-existentielle Dimension der Endlichkeit und die kollektiv-politische Dimension des Neuanfangs transzen­dental-anthropologisch zusammenführt in einem analytischen Rahmen, der sozial­wissenschaftlich besehen methodologischer Individualismus ist, wie er uns von Hobbes her entwickelt wurde.73 Herrscht ein Mensch, ist er austauschbar 70 71 72 73

Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 102. Dazu komplexer Manow, Politische Ursprungsphantasien. Meier, Christian, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt a. M. 1980. Dies ist denn im Übrigen auch der Punkt, an dem Kosellecks und Arendts Auffassungen differieren: Weil Arendt einen liberalen, über Hobbes begründeten Geschichtsbegriff ebenso ablehnt wie einen marxistischen (und nur Letzteres teilt sie mit Koselleck, dazu Huhnholz, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt?), denn beide Geschichtsbegriffe »verlagern Arendt zufolge das Ziel politischen Handelns in den unpolitischen Außenbereich der Politik. Sowohl der Liberalismus als auch der Marxismus suchen das normative Fundament der Politik, also dasjenige Kriterium, das politisches Handeln legitim erscheinen läßt, nicht im Politischen selbst. Vielmehr reduzieren sie das Politische auf Essenzen, die ihm angeblich zugrunde liegen. Während der Liberalismus legitimes politisches Handeln an individuelle Interessen oder die Natur des Menschen bindet, setzt der Marxismus den Gang der Geschichte an diese Stelle. Aus Arendts Sicht sind diese anthropologischen und geschichtsphilosophischen Begründungen politischer Theorie nichts weiter als metaphysische Restbestände im alteuropäischen politischen Denken«, so treffend Bonacker, Thorsten, Die politische Theorie des freiheitlichen Republikanismus: Hannah Arendt, in: Brodocz, André / Schaal, Gary S. (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart, Bd. 1, Opladen 22006, S. 177–214, hier 180.

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durch potentiell jeden anderen Menschen. Und ist dem so, muss politische Herrschaft von den Individuen her gedacht und legitimiert werden – insofern ist der Mensch in einem nicht mehr aristotelischen Sinne ›politisch‹. Der ohne den ihn schützenden Staat auf sich selbst zurückgeworfene Einzelne, der vom übermächtigen Staat entrechtete oder missbrauchte Bürger oder auch der gegen den Staat klandestin vorgehende radikalrepublikanische Opponent: Ihr Potential, Täter und Opfer zu sein, ist die wahlweise düstere oder trostreiche anthropologische Konstante, die insbesondere der junge und der alte Koselleck von Hobbes gewannen.74 Schon diese drei Hervorhebungen lassen erahnen, dass Kosellecks eigener Politikbegriff von der Voraussetzung jenes politischen (Freiheits-)Handelns unter Kontingenzbedingungen lebt, der einerseits typische Merkmale einer modernen, liberalistischen und individualistischen Sichtweise aufweist und anderseits zutiefst skeptisch gegenüber politischen Unwuchten und Freiheitskonsequenzen bleibt. Kosellecks Begriff des Politischen also ist eine polemische Bewusstseinskategorie, keine politische Entscheidungstheorie und kein erkenntnistheoretisches Hilfsmittel wie bei Schmitt. Polemisch ist dieser Begriff, insofern die Masse der teils launigen Kommentare des gealterten Kosellecks geschichtliches Bewusstsein an den im oben genannten Sinne politischen Erfahrungsbegriff koppeln und eine autobiographisch-generative Superiorität der Tötbarkeitserfahrung reklamieren, die vordergründig zwar idiosynkratisch anmutet, genauer besehen aber insistiert, die politische Dimension des Todes für die Reflexion und Kritik zumal offizieller Geschichtsbilder und Gedenkpolitik stärker zu beachten, sich insbesondere nicht naiven Selbstgefälligkeiten auszuliefern, wie sie Koselleck hinter verschiedenen geschichtspolitischen Inszenierungen der moralischen Hierarchisierung, opferspezifischen Klassifizierung oder auch universalistischen Nivellierung gewaltsamer Tode von der Massen- und Völkermorderinnerung bis zum Kriegerdenkmal zu entdecken meinte. All dies macht Kosellecks politiktheoretisch geerdeten Liberalismus75 einerseits zu einer mehr autobiographischen und generationstypischen als wissenschaft­ lichen Angelegenheit. Das könnte erklären helfen, warum Kosellecks Anthropologie und Historik so auffallend desinteressiert an Forschungsstand und Entwicklung waren.76 Andererseits ist nicht zu übersehen, wie sehr die naturrechtliche Anlage des Hobbesschen Werks und dessen anthropologischer Pessimismus auf Koselleck weit über »Kritik und Krise« hinaus fortwirkte – womit noch nicht behauptet sei, 74 Umso beachtlicher ist, dass Kosellecks Lesart stärker den anthropologischen Philosophen in Hobbes betonte und weniger den – allerdings auch erst langsam so referentialisierten – politiktheoretischen Systematiker, wiewohl der doch sein Menschenbild in strenger Opposition beispielsweise zur platonischen Tugend- und Ideenlehre und zum republikanischen zoon politikon des Aristoteles konzipiert hatte. 75 Der genauer als »Liberalkonservatismus« zu kontextualisieren wäre, dazu Hacke, Jens, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 76 Was vielfach beobachtet und moniert wurde, vgl. statt vieler nur Escudier, Kosellecks Anthro­ pologie, S. 198.

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Koselleck habe Hobbes’ staatstheoretisch produktiv gedachten Argumentationszweck umfänglich mitvollzogen. Den Staat der bürgerlichen Gesellschaft hatte auch Kosellecks »Kritik und Krise« seiner Politikunfähigkeit wegen kritisiert und damit eine historisch-konkrete Phase der Wehrlosigkeit des liberalen Denkens gegen utopistischen Radikalismus ins Visier genommen. Das begründete womöglich eine einseitige Pfadabhängigkeit Kosellecks eigener Interpretationen, denn sein frühes Werk hatte eine Dialektik zwischen der staatlich gewähr­ leisteten Freisetzung persönlicher Überzeugungen einerseits (Glaubens- und Gewissensfreiheit) und ihres übertrieben staatskritischen Missbrauchs andererseits diagnostiziert. So treffen wir hier auf den Vertreter eines Begriffs des Politischen, für den Kontingenz (als Kontrastbegriff etwa der Determination, der Prädestination, der Providentialität und der Geschichtsphilosophie) zum einen ein notwendiges Neutrum ist, das die Möglichkeit politischen Denkens und Handelns sich geschichtlich reflektierender Akteure überhaupt erst eröffnet, und zum anderen doch zur Vorsicht und klugen Selbstbeschränkung angesichts der prekären Voraussetzungen kollektiver Ordnungsmacht mahnt.77 Die (abzüglich zivilisatorischer Universalien, anthropologischer Konstanten und irreparabler Vorschädigungen bzw. kollektiver, etwa ökologischer Problemerbschaften) grundsätzlich vorhandene Zukunftsoffenheit und Gestaltungsfreiheit einer – mit Michael Th. Grevens Begriff – »politischen Gesellschaft«, die sich der Möglichkeit bewusst ist, dass alle für sie relevanten oder für relevant erklärten Belange ihrem Zugriff potentiell unterworfen werden können, sind Kennzeichen eines der Neuzeit adäquaten politischen Begriffs machbarer Geschichte.78

VI. Postsemantische Geschichte? Schlussbemerkungen Die eingangs genannten Urteile, eine geschlossene Theorie historischer Zeiten Kosellecks liege entweder nicht vor oder befriedige keinen systematischen Anspruch, sind nicht in Gänze zu dementieren, wohl aber zu relativieren. Einesteils, weil Kosellecks Vorstellung historischer Heterotemporalität – d. h. sowohl der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«79 im Sinne nicht nur begrifflich konservierter, 77 Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 279, betonen meines Erachtens darum zu Recht, dass es »mit Blick auf Kosellecks Einsicht in die Verselbstständigung von Geschichte« einseitig wäre, ihm – wie bisweilen geschehen – einen Geschichtsbegriff absoluter Kontingenz nachzusagen. 78 Mit Blick auf das Moment der kollektiven Vorsicht vor der Entfesselung des Politischen siehe darum abkürzend Fischer, Karsten, Selbstbeschränkung in der »politischen Gesellschaft«: Eine Bestandsaufnahme im Werk von Michael Th. Greven, in: Asbach, Olaf / Schäfer, Rieke / Selk, Veith / Weiß, Alexander (Hg.), Zur kritischen Theorie der politischen Gesellschaft (Festschrift Greven), Wiesbaden 2012, S. 25–39; zur Kontingenz Vogt, Peter, Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte, Berlin 2011. 79 Koselleck, Geschichte, Historie, S. 595.

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synchron koexistenter Kultur- und Bewusstseinsstufen wie auch deren politischer bis zivilisatorischer Konkurrenz – in ein anthropologisches Modell eingelassen ist, das nach den konstanten Voraussetzungen politischen Bewusstseins fragt, durch das erst Menschen sich als teilnehmende Subjekte von Geschichte reflektieren können. An diesem Zugriff ließe sich bemängeln, dass er selbst nicht ohne Zugrundelegung jenes neuzeitlichen, in sich politisierten Geschichtsverständnisses (als Aktions-, Sinnstiftungs-, Perspektivbegriff etc.) zu haben ist, das er zu kritisieren und zu überwinden beabsichtigt, und dass ferner seine vermeintlich ahistorischen Stabilitätsanker der hobbesianischen politischen Anthropologie nachempfunden sind und vielleicht nicht zuletzt deshalb von Kritikern als geradezu »ironische Verabschiedung jeglicher anthropologischer Anstrengung« verworfen wurden.80 Anderenteils ließe sich der monierte Mangel an Systematik der Koselleckschen »Historik« durch die oben ausgeführte Interpretation als ein Stufenordnungs­ modell mindern, bei dem bestimmte natürliche und soziale Macht- und Wiederholungsmuster divergierende Geschichtsgestaltungs- und Geschichtsdeutungsmöglichkeiten es überhaupt erst ermöglichen, tatsächliche oder potentielle Pluralität zu identifizieren, was dann der im weitesten Sinne eigentliche ›wissenschaftliche‹ Kern, nämlich das akademisch-funktionale Alleinstellungsmerkmal der Geschichtswissenschaft sei. So besehen wäre aus Kosellecks Reflexionen theoretisch bis systematisch weiterhin viel zu ziehen – nicht zuletzt, was eine geschichtswissenschaftliche Fragestellung im Unterschied etwa zu einer nur deskriptiven Dokumentation oder einer schon sinnstiftend-integrierenden Parteinahme wäre. Ungleich stärkere Bedenken ließen sich hinsichtlich der fortwährenden empirischen Durchführung seiner Vorgaben anmelden. Denn zwar bleibt Kosellecks gewaltigste Mahnung, dass wir womöglich längst überkommene ideologischsoziale Konflikte durch sprachliche, ikonische und performative Formen (Begriffe, Symbole, Metaphern, Pathosformeln, Inszenierungen etc.) unbewusst beerben, ihre Konflikte lebendig halten und den tatsächlichen Gestaltungshorizont gegen sachgerechtere Lösungen imprägnieren. Doch erscheint uns Koselleck damit wie ein vielleicht allzu typischer Vertreter der von Joseph Beuys über Iring Fetscher bis Helmut Schmidt reichenden »skeptischen Generation« im Sinne Schelskys, deren spezifisches Verständnis strikt abzuwehrender Ideologie und deren pragmatischtechnokratischer, interessenpluralistischer Fokus auf das Politische heute seinerseits historisierbar geworden ist.81 Schon eine oberflächliche Materialsichtung der jüngeren Koselleck-Rezeption lässt darum Verschiebungen erkennen, die neben der retrospektiven Würdigung Kosellecks durch Weggefährten und dem erstarkten Interesse am Gesamtwerk die Kosellecksche Variante der Begriffsgeschichte zu nunmehr nur noch einer unter vielen anderen Methoden erklären und ihre zukünftige Relevanz hinterfragen.82 Handlungsstiftende Vergemeinschaftungsbe80 So Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte, S. 325. 81 Vgl. Imbriano, Begriff der Politik, insb. S. 127 f.; Huhnholz, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? 82 Siehe Müller / Schmieder, Begriffsgeschichte. Dass die Begriffsgeschichte erlahmt, ließe sich freilich allenfalls hinsichtlich des wissenschaftlichen Interesse an der Großgeschichte kon-

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griffe immerhin stehen heute mehr denn je unter Ideologie- resp. Essentialismus­ verdacht, Kollektivphobie gehört zum guten Ton83 und Hinweise darauf häufen sich, dass sich mit der medialen Fragmentierung von Öffentlichkeit(en), der Globalisierung von Kommunikationsströmen, der moralpolitischen oder bloß ästhetisierenden Segmentierung isolierter Partikular- und Milieurhetoriken und selbstredend überhaupt durch den Zerfall ideell integrierter Großkollektive auch die Geltungskraft begriffssprachlicher Großgruppenverständigung und die Bedeutung kollektiver Semantiken erledigen könnte,84 was wiederum die Überzeugungskraft der historischen Semantologie als einer fortwährend auch gesellschaftswissenschaftlichen Kraft – wie Koselleck sie verstand – bald schmälern dürfte.85 Ob Begriffe und Begriffsfelder unter diesen Voraussetzungen überhaupt noch repräsentieren, mobilisieren und integrieren, ist keinesfalls gewiss.86 Kann aber der öffentliche Kampf um politische Anerkennung, Teilhabe und kollektive Zu-

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kreter Leit- und Grundbegriffe behaupten, jedenfalls dort, wo eine derart intensive Behandlung wie in den Geschichtlichen Grundbegriffen erforderlich wäre. Zu etablierten Journals wie dem Archiv für Begriffsgeschichte und dem internationalen Flaggschiff der Contributions to the History of Concepts gesellen sich etwa ambitionierte Unterfangen wie das Projekt »Interdiszplinäre Begriffsgeschichte« am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, dessen politische Anteile im beeindruckenden Spektrum allerdings marginal sind (als Einstiege https://begriffsgeschichte.de/doku.php/startseite und https://www.zfl-berlin.org/ projekt/begriffsgeschichte.html [Zugriffe je 23. Mai 2020]. Vgl. dazu die Beiträge zur Gruppensoziologie im Mittelweg 36 28/29 2019/20, H. 6, insb. v. Delitz, Heike, »There is no such thing …«. Zur Kritik an Kollektivbegriffen in der Soziologie, S. 160–183. Siehe z. B. Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2019. Simple Indikatoren dafür mag man darin angezeigt finden, dass in einem sehr gängigen politologischen Begriffshandbuch kaum identitätspolitische Kollektivsingulare und Bekenntnisbegriffe geführt werden (siehe Göhler, Gerhard / Iser, Mattias / Kerner, Ina (Hg.), Politische Theorie. 25 umkämpfte Begriffe zur Einführung, Wiesbaden 22011), solche allerdings im Bereich »wohlfahrtsstaatlicher Grundbegriffe«, das heißt maßgeblich als sozialpolitische Bezugsgrößen eine gesteigerte Rolle spielen (vgl. Lessenich, Stephan (Hg.), Wohlfahrtsstaatliche Grundbegriffe. Historische und aktuelle Diskurs, Frankfurt a. M. 2003), wohingegen dort, wo »Leitbegriffe« noch als weltanschauliche Semantiken ›gepflegt‹ werden, wie im rechtsextremen Spektrum, ausschließlich selektive, reaktionär wenigstens interpretierte Klassikertexte vorrangig des eigenen Kulturkreises ausgewiesen werden (vgl. Lehnert, Erik / Weißmann, Karlheinz (Hg.), Staatspolitisches Handbuch, Bd. 1: Leitbegriffe, Schnellroda 2009), während das wissenschaftliche Spektrum der Begriffsgeschichte meinem (hier nicht kritisch gemeinten) Eindruck nach jüngst vermehrt auf assoziative statt systematische Gelegenheitssammlungen setzt (vgl. z. B. Schmieder, Falko / Töpfer, Georg (Hg.), Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2018) oder auf »Komposit«-Sammlungen (vgl. z. B. Stockhammer, Robert / Erthel, Thomas (Hg.), Welt-Komposita. Ein Lexikon, Paderborn 2019). Vgl. allerdings auch Jordheim, Helge, Welten in Übersetzung – Oder Plädoyer für ein Lexikon des Plurals, in: Schmieder / Töpfer, Wörter aus der Fremde, S. 283–293. Zu über die semantologischen Ansätze hinausweisenden Entwicklungen siehe Pernau, Mar­ grit, Einführung: Neue Wege der Begriffsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 44 2018, S. 5–28.

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kunftsentwürfe kaum mehr semantisch geführt werden – bzw. dienen die gepflegten Altsemantiken wenn überhaupt eher rhetorischen Zwecken oder allenfalls der moralischen Selbstvergewisserung und prekären Binnenkohäsion aparter Kleinstgruppen  –, dann erleiden auch das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geistes- und sozialwissenschaftliche Leitparadigma Sprache und das Lösungsschema seiner institutionellen Übersetzung in demokratische Deliberationsforen erhebliche, sowohl analytische wie auch normative, Plausibilitätsverluste und eine »post-Koselleckian era«87 wird evident. Dies bedeutete – und zwar durchaus im Sinne der (viel zu) bekannten Fukuyama-These vom »end of history« – erschwerte Bedingungen für die erfolgreiche Ausbildung eines Subjekts, das sich überhaupt noch als Trägerin von Geschichtlichkeit begreifen und ein wie auch immer ›progressives‹ Bewusstsein entwickeln könnte.88 Andererseits freilich stärkte eine solche Diagnose oder Prognose Kosellecks Befund einer ohne semantische Reflexion politischer Ordnungen und ohne inbegriffene Antizipation imaginierbarer Zukunftsvarianten unmöglichen »Geschichte«. Schon darin zeigt sich, warum Kosellecks Ansatz – manch eigenem Bekunden zum Trotz – mitnichten disziplinenspezifisch verstanden oder entsprechend verengt werden sollte. Blake Ewing ist insofern zuzustimmen, wenn er (mit Rückgriff auf Studien Helge Jordheims) pointiert, dass Kosellecks vordergründige Metaphern »Erfahrungsraum and Erwartungshorizont […] anthropological conditions at the highest level of abstraction that make the history of humanity possible« sind. »All other subsequent formalizations of history – in the use of categories like master / slave or friend / enemy – must always rest on this anthropological presupposition of temporal experience.«89 Nur im Zusammenwirken von Erfahrung und Erwartung könne Zeitlichkeitsbewusstsein in Kosellecks Sinne entstehen. Vereinfacht gesagt: Ohne inbegriffene »Zukunftskomponente« (Koselleck) ist keine politisch-soziale Semantik möglich und ohne jene bleibt auch reichweitenstarke Stimulation kollektiver Gestaltungs- und sprachlicher Deutungskämpfe aus. Die »temporality of horizonal language«, d. h. des in Teilen kontingenten, jedenfalls weder verschlossenen noch zufälligen Erwartungshorizonts, bleibt also wohl Ermöglichungsbedin-

87 Steinmetz, Willibald / Freeden, Michael, Introduction: Conceptual History. Challenges, Conundrums, Complexities, in: dies., Conceptual History, S. 1–46, hier 1. 88 Siehe dazu Nullmeier, Frank, Ende oder Erneuerung der Fortschrittsidee?, in: Neue Politische Literatur 64(3) (2019), S. 461–480, aber auch dominante Einschätzungen wie die, wir seien heute »aufgrund der Desynchronisation von sozioökonomischer Entwicklung und politischem Gestaltungshandeln an []ein mögliches Ende gelangt. Spätmoderne Politik wird unter anhaltender Gegenwartsschrumpfung gleichsam situativ, sie reagiert auf anfallende Probleme ohne geschichts- und gesellschaftsgestaltenden Anspruch aufrechterhalten zu können« – kulminierend »in einem eigentümlichen Zusammenfallen der dadurch bezeichneten Anti­nomie, d. h. in einem Zustand, in dem nichts bleibt, wie es ist, obwohl sich nichts Wesentliches verändert« (Rosa, Hartmut, Beschleunigung. Die Veränderungen der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2016 [Orig. 2005], S. 477–479). 89 Ewing, Koselleck’s Historik, S. 88.

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gung politischen Handelns überhaupt.90 Es wäre darum sowohl zu kurz gegriffen, Kosellecks Bedeutung für die Sozial- und insbesondere Politikwissenschaften auf seine begriffsgeschichtlichen Arbeiten zu reduzieren als auch geschichtswissenschaftstheoretisch zu übersehen, wie stark Kosellecks fragmentarische »Historik« von politiktheoretischen Prägungen her dachte.

90 Vgl. ebd., S. 88 ff., insb. S. 92 – wobei vorsichtshalber zu unterstreichen ist (S. 92), dass diese These nicht auf die Bewegungsbegriffe und Ismen beschränkt bleibt, sondern mindestens für die »Grundbegriffe« prinzipielle Geltung beanspruchen muss. Vgl. ferner Jordheim, Does Conceptual History Really Need a Theory of Historical Times?

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Auf dem Dachboden des historischen Bewusstseins. Erinnerungsschichten, Primärerfahrung und Geschichtlichkeit im Werk Reinhart Kosellecks

Käthe Kollwitz notierte am 22. Oktober 1937 in ihr Tagebuch: »In dieser Nacht fiel Peter. […] Ich arbeite an der kleinen Plastik, die hervorgegangen ist aus dem plastischen Versuch, den alten Menschen zu machen. Es ist nun so etwas wie eine Pietà geworden. Die Mutter sitzt und hat den toten Sohn zwischen ihren Knien im Schoß liegen. Es ist nicht mehr Schmerz, sondern Nachsinnen.«1 Die Bildhauerin, Graphikerin und Malerin hatte in den zurückliegenden 23 Jahren, seit ihr jüngster Sohn Peter achtzehnjährig während seines ersten Kampfeinsatzes als Infanterist in Westflandern ums Leben gekommen war, ihre Trauer und ihren Schmerz künstlerisch zu verarbeiten versucht. Im Atelier sei sie oft »ganz in Gedanken und in ihm« gewesen, erfüllt von dem »Bedürfnis hinzuknien und ihn durch mich durch strömen zu lassen«.2 Während der langjährigen Auseinandersetzung mit dem Tod des Sohnes entstand zudem die zweiteilige Figurengruppe »Trauerndes Elternpaar«, die am 23. Juli 1932 zunächst auf dem Soldatenfriedhof Esen-Roggeveld errichtet wurde und seit 1956, nach der Umbettung der dort bestatteten deutschen Soldaten, im belgischen Vladslo in einem parkähnlichen Gräberfeld steht. Beide etwa lebensgroß gestaltete knieende Skulpturen tragen die Gesichtszüge des Ehepaars Kollwitz, die – der Mann aufrecht mit verschränkten Armen in versteinerter Pose, die Frau tief gebeugt mit geschlossenen Augen – auf das Grab ihres Sohnes und auf das von mehr als 25.000 weiteren Gefallenen blickt. »Ich will Dich ehren mit dem Denkmal. […] Den Tod von Euch ganzen jungen Kriegsfreiwilligen will ich in Deiner Gestalt verkörpert ehren. In Eisen und Bronze soll das gegossen werden und Jahrhunderte stehn«3, so umschrieb Kollwitz bereits am 3. Dezember 1914 ihre Absicht, dass die zunächst dreiteilig geplante Granitskulptur nicht nur dem individuellen Tod ihres Sohnes, sondern generell »dem Opfertod der jungen Kriegsfreiwilligen«4 gelten solle. Obgleich das »Trauernde Elternpaar« wie auch die zwischen 1937 und 1939 entstehende Plastik »Mutter mit totem Sohn« ausschließlich den Soldatentod im 1 Kollwitz, Käthe, Die Tagebücher, Berlin 1989, S. 690. 2 Ebd., S. 193. 3 Ebd., S. 177 (H. i. O.). 4 Ebd.

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Ersten Weltkrieg thematisieren, gab es nach 1945 mehrere Initiativen, die Kunstwerke mit dem Sterben im Zweiten Weltkrieg in Beziehung zu setzen.5 So wurde 2014 ein Abguss des »Trauernden Elternpaars« am Eingang der deutschen und russischen Kriegsgräberstätte in Rshew zum Gedenken an den dort am 22. September 1942 gefallenen Enkel Peter Kollwitz errichtet. Kontroversen rief 1993 der Entschluss der Bundesregierung hervor, die zur Zentralen Gedenkstätte der Bundesrepublik Deutschland für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft umgestaltete Neue Wache in Berlin mit einer vierfach vergrößerten Ausfertigung der Pietà zu versehen. Zu den schärfsten Kritikern dieser vor allem vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl forcierten Umwidmung gehörte zweifellos Reinhart Koselleck, der wiederholt und für seine Verhältnisse ungewöhnlich lautstark gegen die »aufgeplusterte Pietà«6 öffentlich Stellung bezog. Weder »als Realaussage noch als symbolische Darstellung ist die Pietà der Kollwitz geeignet, um an das alle Generationen und alle Geschlechter und alle Völker erfassende Massensterben und eben auch das Massenmorden zu erinnern, für das wir Deutsche einzustehen haben«.7 Die Kontroverse, bei der es für Koselleck im Kern um die ästhetische Darstellung des Sinnlosen ging, erweist sich rückblickend als der Beginn eines geschichtspolitischen Engagements, das man zuvor von dem Bielefelder Historiker, beispielsweise während des sogenannten Historikerstreits 1986/87, in dieser Form nicht kannte. Ob Neue Wache oder Holocaust-Denkmal – Koselleck äußerte sich fortan ebenso deutlich wie zunehmend polemisch zu den in den 1990er und beginnenden 2000er Jahren verhandelten erinnerungs- und geschichtskulturellen Großprojekten.8 Der naheliegende Rückschluss, in diesen Interventionen spiegele sich eine intensive Beschäftigung Kosellecks mit den seit den späten 1980er Jahren reformulierten kulturellen Erinnerungs- und Gedächtnistheorien wider, erweist sich gleichwohl als voreilig, zumindest kommt dem Begriff Erinnerung im Gesamtwerk Kosellecks eine eher geringe, angesichts seiner teils vehementen Kritik möchte man fast sagen, eine erstaunlich nebensächliche Bedeutung zu. Koselleck hat weder an einer Theorie des historischen Erinnerns gearbeitet noch sich explizit mit den populären sozialen Gedächtniskonzepten auseinandergesetzt. 5 Nach Fertigstellung der Pietà vollendete Käthe Kollwitz bis zu ihrem Tod 1945 weitere Arbeiten, die – auch mit Bezug zum Zweiten Weltkrieg – Sterben, Verlust und Trauer thematisieren, u. a. das Bronzerelief Die Klage (1938–1940), die Bronzevollplastik Zwei wartende Soldatenfrauen (1941–1943), im Gedenken an ihren 1940 verstorbenen Ehemann Karl Kollwitz das Figurenpaar Abschied (1940/41) sowie einige Lithografien und Zeichnungen. 6 Koselleck, Reinhart, Wer darf vergessen werden? Das Holocaust-Mahnmal hierarchisiert die Opfer, in: Die ZEIT vom 19.3.1998. An anderer Stelle bezeichnete er die vergrößerte KollwitzPlastik als »anthropophagische Plusterdame«, vgl. ders., Die Diskontinuität der Erinnerung, in: DZPhil 47 (1999), H. 2, S. 213–222, Zitat S. 220. 7 Koselleck, Reinhart, Bilderverbot. Welches Totengedenken? in: FAZ 8.4.1993. 8 Hier nur einige Beispiele: Koselleck, Reinhart, Als Denkmal unangemessen, in: SZ 20.10.1993; ders., Glühende Lava, zur Erinnerung geronnen, in: FAZ 6.5.1995; ders., Vier Minuten für die Ewigkeit, in: FAZ 9.1.1997; ders., Erschlichener Rollentausch, in: FAZ 9.4.1997; ders., Die Widmung, in: FAZ 3.3.1999; ders., Differenzen aushalten und die Toten betrauern: Der Mai 1945 zwischen Erinnerung und Geschichte, in: NZZ 14.5.2005.

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Seine Buchexemplare von Maurice Halbwachs’ »Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen«, Harald Weinrich’s »Kunst und Kritik des Vergessens« oder Paul Riceur’s »Rätsel der Vergangenheit« weisen deutlich weniger Lesespuren auf als Primo Levi’s »Ist das ein Mensch?« und Sebastian Haffner’s »Geschichte eines Deutschen«.9 Und selbst dort, wo er sich konkreter mit »Erinnerung und Geschichte« beschäftigt hat, wie zum Beispiel in einem seiner letzten Aufsätze über den 8. Mai 1945, zeigt sich ein Verständnis, das Erinnern zwar als einen »anhaltend vollzogenen, ständigen Überschritt« im Historisierungsprozess entwirft, dabei allerdings umgehend die Fragwürdigkeit kollektiver Erinnerungsnarrative hervorhebt.10 Es gibt »kein empirisches Subjekt, das sich kollektiv zu erinnern fähig wäre«.11 Seine dezidiert kritischen Äußerungen zum immer wieder behaupteten Wirkungszusammenhang zwischen kultureller Erinnerung und kollektiver Identität verweisen darauf, dass Koselleck Erinnern stets in Beziehung gesetzt hat zu anderen, von ihm theoretisch stärker reflektierten Begriffen. Will man sich also seinem Verständnis historischen Erinnerns nähern, besteht die Herausforderung darin, Erinnern als ein zwar anthropologisch gegebenes, gleichwohl historiographisch nachrangiges Element eines begrifflichen Gefüges zu denken, das von Koselleck allerdings weder systematisch entwickelt noch theoretisch durchgearbeitet wurde. Die Gefahr, hier etwas zu systematisieren, was in dieser Konsequenz möglicherweise so nicht gemeint war, spricht indes nicht gegen den Versuch, Erinnern in der (hier verkürzt so bezeichneten) Koselleck’schen Verzeitlichungstheorie der Moderne zu verorten.12 Dabei erweisen sich allerdings andere Begrifflichkeiten als weitaus relevanter: Primärerfahrung, Geschichtlichkeit und Erfahrungswandel gehören zu den bevorzugten Parametern, an denen deutlich werden wird, was Koselleck unter Erinnern verstand, und was mit der Vorstellung einer Umformung »der einmaligen Erinnerung der jeweiligen Eigenerfahrung zur schulbaren und lehrbaren und steuerbaren Gedächtnisleistung« gemeint und was damit vermutlich auch eher nicht gemeint war.13

9 Nachlass Koselleck, DLA Marbach, BRK. 10 Koselleck, Reinhart, Der 8. Mai zwischen Erinnerung und Geschichte, in: Von Thadden, Rudolf / Kaudelka, Steffen (Hg.), Erinnerung und Geschichte. 60 Jahre nach dem 8. Mai 1945, Göttingen 2006, S. 13–22, Zitat S. 13. 11 Ebd., S. 15. 12 Jörg Fisch argumentiert, Koselleck sei zwar mit einem Programm angetreten, das sich im Kern auf den Begriff Zeit richtete, gleichwohl habe die Forderung nach einer Theorie der historischen Zeit unerfüllt bleiben müssen, weil Zeit nicht irgendeine »Bedingung möglicher Geschichten« sei, sondern »Geschichte ist Zeit, und vor allem ist sie in der Zeit«. Zu den unterschiedlichen Ebenen der Beschäftigung mit zeitlichen Phänomenen, wie u. a. Beschleunigung, Fortschritt, historischer Wandel, Wiederholungsstrukturen, sowie zur weiteren Differenzierung von Zeit, Zeiten und Zeitschichten vgl. Fisch, Jörg, Reinhart Koselleck und die Theorie historischer Zeiten, in: Dutt, Carsten / Laube, Reinhard, Zwischen Sprache und Geschichte. Zum Werk Reinhart Kosellecks, Göttingen 2013, S. 48–64. 13 Koselleck, Der 8. Mai, S. 14.

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I. Utopie und Terror. Über das Verhältnis von Geschichtstheorie und Primärerfahrungen Am 21. Januar 1953 schrieb Reinhart Koselleck wenige Tage nach seinem ersten Besuch im sauerländischen Plettenberg einen Brief an Carl Schmitt, in dem er dem damals 64-Jährigen nicht nur für seine Gastfreundschaft, sondern auch für »die strenge Mahnung […], die Begriffe im Zuge ihrer Klärung stets auf die ihnen entsprechende Situation zurückzuführen«, dankte.14 Der damals in Heidelberg promovierende Koselleck hatte Schmitt drei Jahre zuvor über Nicolaus Sombart kennengelernt. Der umfangreiche Briefwechsel in den nachfolgenden dreißig Jahren dient in der Forschung immer wieder dazu, das durchaus facettenreiche und als Lehrer-Schüler-Beziehung gänzlich unzureichend beschriebene Verhältnis der beiden zu beleuchten. Das Schreiben aus dem Januar 1953 verdient dabei sicherlich besondere Aufmerksamkeit, nicht nur, weil es der erste Brief Kosellecks an Schmitt war, sondern auch, weil das intensive Gespräch, das die beiden wenige Tage zuvor in Plettenberg geführt hatten, darin spürbar nachwirkte. Noch ganz im intellektuellen Austausch vertieft und mit gewissem Klärungsbedarf für die fertigzustellende Dissertation skizziert Koselleck darin einen Forschungshorizont, der – zumindest rückblickend – bereits auf einige seiner späteren theoretischen wie empirischen Interessen zu verweisen scheint. Von einer fragwürdigen »linienhaften Zeitkonstruktion der Geschichte« ist da beispielsweise die Rede, »deren Evidenz mathematisch und geschichtsphilosophisch« sei. Selbst der »Abbau der fortschrittlichen Zukunft« habe die Historie nicht davor bewahrt, »eine linienhafte Vergangenheit beizubehalten«, daher sei es nun geboten, »zu einer Geschichtsontologie« durchzustoßen, »die nicht mehr methodisch letzte Auskunft ist, sondern der Anfang einer Begriffsbildung, die es ermöglicht, den Geschichtsphilosophen das Wasser abzugraben«.15 Im Zentrum dieser gleichwohl noch unspezifisch bleibenden Ontologie müsse »die Endlichkeit des geschichtlichen Menschen« stehen, nicht im Sinne individueller oder planetarischer Vergänglichkeit, sondern hinsichtlich der strukturellen Phänomene, »die den Geschichtsraum, der den jeweiligen Menschen zugeordnet ist, dauernd in Frage« stellen. Die später für Koselleck charakteristische Formel von den »Bedingungen möglicher Geschichten« klingt der Sache nach bereits an: »Herr und Knecht«, »Freund und Feind« (hier macht sich Schmitts Voka14 Brief von Koselleck an Carl Schmitt vom 21.1.1953, Nachlass Koselleck, DLA Marbach, Konvolut: »Geschichtlichkeit«. Zum Verhältnis Koselleck und Schmitt vgl. Huhnholz, Sebastian, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungsspuren und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks Kritik und Krise, Berlin 2019, S. 55–82; Dunkhase, Jan Eike, Nachwort: Asymmetrische Korrespondenzen. Reinhart Kosellecks Briefwechsel mit Carl Schmitt, in: Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Frankfurt a. M. 2019, S. 409–425. 15 Brief von Koselleck an Carl Schmitt vom 21.1.1953, Nachlass Koselleck, DLA Marbach, Konvolut: »Geschichtlichkeit«.

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bular zweifellos bemerkbar), »Geschlechtlichkeit und Generation« sowie »alle geopoli­tischen Fragen gehören hierher«.16 Zwanzig Jahre später spricht Koselleck von »Strukturen der Endlichkeit«, von den fünf Oppositionspaaren Sterbenmüssen / Tötenkönnen, Freund / Feind, Innen / Außen, Oben / Unten sowie von der Generativität, in der »jene Endlichkeit beschlossen« liege, »die zu den zeitlichen Voraussetzungen gehört, immer neue mögliche Geschichten aus sich hervorzutreiben«.17 Bereits vor Fertigstellung seiner Dissertation »Kritik und Krise« sah er den Ausgangspunkt für zukünftige historische Forschungen in der damaligen Gegenwart. Auch wenn er im Brief an Schmitt vor allem pragmatische Gründe anführt (»um nicht wie immer bei den Ägyptern anzufangen«), so ist doch unverkennbar, dass ihn die Erfahrung von Weltkrieg und totalitärer Ordnung als biographischer wie auch als historischer Einschnitt dazu herausforderte, im Verhältnis von Utopie und Terror eine Signatur der Neuzeit zu vermuten. Der »herrschende Weltbürgerkrieg«18 sei kein ontisches oder kontingentes Ereignis, das eigentlich nicht sein dürfe, so Koselleck an Schmitt, sondern dieser Krieg sei ein Ereignis, das »in den Seinsstrukturen unserer Geschichtlichkeit wurzelt«, und daher »nicht so sein muss, wie es ist«.19 Das Bedingungsgefüge möglicher Geschichten wird hier bereits als Kernelement eines analytischen Interesses sichtbar, das Koselleck in den nächsten Jahrzehnten allerdings weniger nach den Ursachen und Wirkungsmechanismen des (biographisch einschneidenden) Weltkrieges fragen oder diesen in irgendeiner Weise empirisch erforschen lässt. Vielmehr arbeitet er fortan daran, das Geschehene in eine Forschungsprogrammatik zu übersetzen, die er später als Historik im Sinne einer »Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichten« bezeichnete.20 Der Dialog mit Schmitt in den 1950er Jahren war für diese beginnende intellektuelle Anstrengung von eminenter Bedeutung, und zwar keineswegs deswegen, weil der Heidelberger Doktorand den eher berüchtigten denn berühmten Carl Schmitt vorbehaltlos verehrte oder dessen intellektuelle Positionen kritiklos teilte, sondern weil er es verstand, von den kaum zu übersehenden Differenzen (wie sie u. a. bei der Hobbes-Interpretation deutlich wurden)21 intellektuell zu profitieren und die eigenen theoretischen Ambitionen an seinem Gegenüber zu schärfen, ohne deswegen den Dialog mit Schmitt wie auch mit seinen wissenschaftlichen Lehrern, mit denen er in dieser Zeit ebenfalls in engem Austausch stand,

16 Ebd. 17 Koselleck, Reinhart, Hermeneutik und Historik, in: ders. / Gadamer, Hans-Georg, Hermeneutik und Historik, Heidelberg 1987, S. 9–28, Zitat S. 18. 18 Zum Begriff vgl. Missfelder, Jan-Friedrich, Weltbürgerkrieg und Wiederholungsstruktur. Zum Zusammenhang von Utopiekritik und Historik bei Reinhart Koselleck, in: Dutt / Laube, Sprache und Geschichte, S. 268–286. 19 Brief von Koselleck an Carl Schmitt vom 21.1.1953, Nachlass Koselleck, DLA Marbach, Konvolut: »Geschichtlichkeit«. 20 Koselleck, Hermeneutik und Historik, S. 11. 21 Zu Kosellecks Schmitt Lektüre und ihren unterschiedlichen Perspektiven u. a. auf Thomas Hobbes und Donoso Cortés vgl. Huhnholz, Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt?, S. 63–82.

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in Frage zu stellen.22 Denn trotz aller Verehrungsrhetorik argumentiert Koselleck bereits in seinem ersten Brief an Schmitt ebenso selbstbewusst wie intellektuell eigenständig, hier theoretisiert ein versierter Nachwuchshistoriker, der vor dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen im »globalen Weltbürgerkrieg«23 erkennbar im Begriff ist, sich einer wissenschaftlichen Lebensaufgabe zu verschreiben. Die anvisierte »geschichtsontologische Analyse«24 nennt er später eine »Historik, die sich als theoretische Wissenschaft im Unterschied zur empirischen Historie nicht mit den Geschichten selber, deren vergangene, gegenwärtige und vielleicht zukünftige Wirklichkeiten von den Geschichtswissenschaften thematisiert und untersucht werden«, beschäftigt, sondern die in erster Linie nach ihren »theoretisch zu erbringenden Vorgaben« fragt und folglich auf die »Doppelseitig­ keit jeder Geschichte«, genauer auf ihre »Ereigniszusammenhänge wie deren Darstellung« abhebt.25 Wie stark die persönlichen Erlebnisse während Nationalsozialismus, Fronteinsatz und Kriegsgefangenschaft auf Kosellecks intellektuelles Forschungsprogramm wirkten, lässt sich seriös kaum beziffern. Es wäre sicherlich zu kurz gegriffen, in seinem akademischen Schaffen allein die Verarbeitung eines subjektiven Dramas auszumachen, auch wenn Koselleck rückblickend diese Bezüge selbst herstellte. Es sei »im Grunde von Anfang an« sein Hauptmotiv gewesen, »der Utopie auf die Spur zu kommen, die die Katastrophe des Dritten Reiches herbeigeführt hat«26, resümierte er wenige Jahre vor seinem Tod. Biographisches Erzählen neigt bekanntermaßen zu retrospektiven Kontinuitätskonstruktionen, auffällig ist gleich22 Koselleck hat sich dazu selbst in seiner Rede am 23. November 2004 in Heidelberg geäußert; Koselleck, Reinhart, Dankrede, in: Weinfurter, Stefan (Hg.), Reinhart Koselleck (1923–2006). Reden zum 50. Jahrestag seiner Promotion in Heidelberg, Heidelberg 2006, S. 35 ff. 23 Schmitt, Carl, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Berlin 4 1997, S. 271. 24 Brief von Koselleck an Carl Schmitt vom 21.1.1953, Nachlass Koselleck, DLA Marbach, Konvolut: »Geschichtlichkeit«. 25 Koselleck, Hermeneutik und Historik, S. 11. Ähnlich: ders., Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders. / Stempel, Wolf-Dieter (Hg.), Geschichte, Ereignis und Erzählung, München 1973, S. 211–222. 26 Diesen Zusammenhang sieht Koselleck u. a. bereits belegt durch sein Referat über die Jakobiner-Herrschaft bei Alfred Weber vermutlich im Wintersemester 1948/49, vgl. Koselleck, Reinhart / Dutt, Carsten, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, S. 32 sowie den Abdruck des Vortrags im vorliegenden Band. Relevant für diesen Zusammenhang sicherlich auch die Heidelberger Antrittsvorlesung von Kosellecks Doktorvater und Patenonkel Johannes Kühn aus dem Wintersemester 1949/50, gedruckt: Kühn, Johannes, Geschichtsphilosophie und Utopie, in: Die Welt als Geschichte. Eine Zeitschrift für Universalgeschichte 11 (1951), S. 1–11. Unveröffentlicht blieb hingegen dessen Weltgeschichte der Revolutionen. Koselleck sah Kühn als den »wichtigsten Anreger in Bezug auf die Frage nach der Utopie«, vgl. Koselleck / Dutt, Erfahrene Geschichte, S. 36. Mit Verweis auf seine Dissertation resümierte Koselleck 2004, dass sich die Utopie hinter vielen Masken verstecke, deren gemeinsame Herkunft »im Zeitalter der Aufklärung ich aufzuweisen versuchte«; vgl. Kosellecks Rede anlässlich seines 50. Promotionsjubiläums in Heidelberg, in: Weinfurter, Reinhart Koselleck, S. 59.

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wohl, dass Koselleck empirisch zu diesem Teil seiner und auch zu der entsprechenden allgemeinen Geschichte nie geforscht und publiziert hat, man könnte fast den Eindruck gewinnen, er habe dieses Forschungsfeld bewusst gemieden, auch wenn er die wissenschaftlichen Debatten darüber, wie die zahlreichen und von Lesespuren gekennzeichneten Material- und Zeitungsausschnittsammlungen in seinem Nachlass eindrücklich zeigen, intensiv verfolgt hat.27 Kosellecks Form der Verarbeitung war eine andere: Er übersetzte eigene biographische Erkenntnisse in theoretische Begriffe und Konzepte. Ein signifikantes Beispiel dafür ist der in den 1950er Jahren bereits anklingende Begriff Primärerfahrung, der in Kosellecks Werk fortan eine zentrale Rolle spielen sollte. Nach eigenem Bekunden regte bereits sein Studium bei dem in Heidelberg lehrenden Mittelalter-Spezialisten Fritz Ernst dazu an, der »Differenz zwischen primären und sekundären Berichten, Augenzeugenschaft und Hörensagen« erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.28 Den Begriff als solchen übernahm Koselleck vermutlich von Helmut Schelsky, der in den 1950er Jahren im Rahmen seiner »Ortsbestimmung der Soziologie« die Wahrnehmungsfähigkeit des Sozialwissenschaftlers als »verwissenschaftlichte Primärerfahrung« bezeichnete.29 Die kritische Dauerreflexion präge mittlerweile  – so Schelsky – nicht mehr nur die Sozialerfahrung des Soziologen, sondern angesichts der durchgehend technisch-wissenschaftlichen Rationalisierung der gesamten Lebenswelt zunehmend auch die des »Jedermann«.30 Koselleck knüpfte daran an, indem er unter (einer nicht-verwissenschaftlichten) »Primärerfahrung« fortan einen individuellen Erfahrungsmodus des Unmittelbaren verstand. Streng und beim Wort genommen »kann ich nur erinnern, was ich selbst erfahren, selbst erlebt habe. Nur meine eigene Erfahrung, in den Leib geschrieben, kann ich erinnern.«31 Eigenerfahrungen umfassen nach dieser Logik zum einen das, was »im Gehirn« und »im Gedächtnis« gespeichert wird, zum anderen verstand Koselleck darunter vornehmlich die körperliche Dimension erinnerter Erlebnisse. Vor allem gewalthafte Geschehnisse »erfassen Herz, Nieren, Galle, Darm, alle Muskeln und alle Nerven«, und es sei keineswegs metaphorisch gemeint, wenn von »in den Leib gebrannten Erfahrungen« die Rede sei. Mit dem Tod »der unüberholbaren, der unmittelbaren, der genuinen und primären Erfahrungsträger verändert sich die gesamte Erinnerungslandschaft, die Geschichte«.32 Die starke körperliche Komponente in Kosellecks Begriff Primärerfahrung legt offen, wie tiefgreifend dieses Verständnis von biographischen wie auch von 27 Hier nur einige Beispiele: Nachlass Koselleck, DLA Marbach, HS008342415 Konvolut: »Gefangenschaft« 1994–2005; HS006333613 Konvolut »Holocaust«; HS008342077 Konvolut: Materialien zum Thema »Justiz, NS-Zeit und Kriegsverbrechen« 1959–1997; HS006073318 Konvolut: Materialien zum Thema »Nationalsozialismus / Krieg«; HS006077747 Konvolut: Materialien zum Thema SS. 28 Koselleck / Dutt, Erfahrene Geschichte, S. 35. 29 Schelsky, Helmut, Ortsbestimmung der deutschen Soziologie, Düsseldorf 1959, S. 81. 30 Ebd. 31 Koselleck, Der 8. Mai, S. 14. 32 Ebd.

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generellen Gewalt-, Verfolgungs- und Kriegserlebnissen geprägt war. Primärerfahrungen waren für ihn mit Folter, Vergewaltigung, Kriegstod und Massensterben assoziiert, im Kern ging es Koselleck hier um individuell erfahrene Todesangst, deren »Erinnerung an den Leib zurückgebunden« bleibe und die den Augenzeugen zum Überlebenden mache. Und mit Blick auf die, die diese Primärerfahrungen nicht teilen, formulierte er unmissverständlich: »Nachgeborene sind keine Überlebenden.«33 Die starke Betonung, dass Eigenerfahrungen nicht übertragbar und damit auch von anderen nicht erlernbar sind, macht deutlich, dass Koselleck zunächst einen überaus engen Begriff von Erinnern vertrat. Das, was an andere und damit auch an Nachgeborene weitergegeben und demzufolge von diesen angeeignet werden kann, nannte er abgrenzend Sekundärerinnerungen. Dabei handele es sich um eine »schwächere Variante«, genauer um »erlernte Wissensbestände über Erinnerungen und Erfahrungen jener Menschen, deren Eigenerfahrungen gerade nicht erlernbar sind«. Bei der Umwandlung der persönlichen Erinnerungen in eine »erlernbare Gedächtnisübung« handele es sich um »einen anthropologisch jeweils einmaligen, nicht mehr wiederholbaren Überschritt«.34An mehreren Stellen wiederholt Koselleck diese Prämissen, dabei ist die Rede von den ebenso unverfügbaren wie unverwechselbaren Eigenerfahrungen weitaus weniger erklärungsbedürftig als die Annahme, dieser »Überschritt« sei nicht wiederholbar. Man ist geneigt zu vermuten, Koselleck meinte hier möglicherweise weniger einen einmaligen, sondern eher einen unumkehrbaren Prozess, soll heißen: Wenn Primärerfahrungen erstmal in die Welt kommuniziert werden, entwickeln sie ein Eigen­leben, das von den Erfahrungsträgern nicht wieder eingefangen und unter Kontrolle gebracht werden kann. Sekundärerinnerungen sind lehrbar, sie sind tradierbar und damit auch in vielerlei Hinsicht steuerbar. Auf die öffentliche Verfügbarkeit überlieferter Erfahrungen wird hier noch zurückzukommen sein, doch zuvor bleibt zu ergänzen, dass Koselleck wohl noch einen anderen, einen persönlichen Impuls im Hinterkopf hatte, wenn er von dem »nicht mehr wiederholbaren Überschritt« sprach. In einem Brief an Harald Weinrich vom 4. November 1996 bekennt er anlässlich einer seit Monaten nicht beantworteten Anfrage, dass jedes unkontrollierte Vergessen in ihm ein ungutes Gefühl hinterlasse. Als professioneller Historiker wendet er diese Beobachtung sogleich ins Generelle, denn je mehr »ich aus dem persönlichen Gedächtnis in die verschriftliche Erinnerung überführe, desto mehr reissen alle Fäden zur ehedem primären Erlebnisschicht ab. Mit der schriftlichen Fixierung wird das Vergessen etabliert. Es ist wie beim Denkmal: Zeigen heißt verschweigen. Schreiben heisst auswählen, also den Rest dem Vergessen überantworten.«35 Dass sich die Korrespondenz mit dem vier Jahre jüngeren Harald Weinrich zu dieser Zeit um alle möglichen Facetten des Vergessens drehte, 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Brief Koselleck an Harald Weinrich vom 4.11.1996, Nachlass Koselleck, DLA Marbach, BRK, Einlage 2158.

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ist angesichts der damals in Vorbereitung befindlichen Publikation des Sprachund Literaturwissenschaftlers über die »Kunst und Kritik des Vergessens« nicht weiter verwunderlich. Gleichwohl äußert sich Koselleck hier als »Überlebender«, seine Selbstbeobachtung verweist auf die Konversion vorsprachlicher Empfindungen im Zuge ihrer Versprachlichung. Er scheint diesen therapeutisch durchaus bekannten Vorgang als einen Verlust und weniger als eine Verarbeitungsform autobiographischer Erlebnisse wahrgenommen zu haben. Jedenfalls wird es nicht zufällig Weinrich gewesen sein, gegenüber dem er sich in dieser Form äußerte, schließlich ist auch der zu dieser Zeit in Paris lehrende Romanist in Kosellecks Begrifflichkeit ein »Überlebender«, der sich zudem bereits als Spezialist für Tempustheorien in narrativen Texten einen Namen gemacht hatte. Insgesamt bleibt festzustellen, dass sich Koselleck erst relativ spät und angesichts seines Gesamtwerkes nicht sonderlich ausführlich mit dem, was andere historisches Erinnern nennen, konzeptionell auseinandergesetzt hat. Dabei scheint ein wesentlicher Antrieb gewesen zu sein, im Kontext der geschichtspolitischen Debatten der 1990er Jahre gegen den inflationären Gebrauch des Erinnerungsbegriffs wie auch gegen seine theoretisch überaus diffuse Verwendung öffentlich Stellung zu beziehen. Auf Kosellecks vehemente Kritik an der Gestaltung des Berliner Holocaust-Denkmals und der zu verhindernden »Durchführung des Stelensalates« sei an dieser Stelle nur stichwortartig verwiesen.36 Begrifflich verstand Koselleck Erinnern primär als einen individuellen Vorgang, hinsichtlich der kollektiven Ebene bestritt er sogar explizit, dass so etwas wie ein empirisches Subjekt überhaupt existiert. Volk, Klasse, Staat seien ebenso wie »die Franzosen« oder »die Polen« allenfalls sprachlich generierte Referenz-Subjekte und eben keine Handlungseinheiten, die sich ihrer Taten oder Leiden erinnern könnten. Die berühmt-berüchtigten sieben P’s würden vielmehr darüber befinden, so Koselleck außergewöhnlich bissig, »was als Kollektiv zu erinnern sei«. Professoren, Politiker, Priester, Pädagogen, Poeten, Publizisten und PR-Spezialisten seien die treibenden Kräfte einer in erster Linie medial gesteuerten Gedächtnisleistung. Was untersucht werden könne, seien keineswegs kollektive Erinnerungen, sondern »kollektive Bedingungen der je eigenen Erinnerungen«. Dieses strukturelle Gefüge sei überaus vielschichtig: ob sprachlich oder mental, politisch oder sozial, ökonomisch oder religiös – solche »abgeschichteten Bedingungen« prägten die Erfahrungen jedes einzelnen ebenso wie sie sie zugleich begrenzten.37 Löst sich damit das, was Pierre Nora, Jacques Le Goff oder Jan Assmann als kollektives Gedächtnis bezeichnet und entworfen haben, faktisch in Luft auf? Nicht ganz. Ähnlich wie Maurice Halbwachs hielt Koselleck an empirisch einholbaren Handlungs- und damit auch 36 Brief Koselleck an Dr. Gabi Dolff-Bohnekämper vom 13.2.1998, BFA Marburg, NL Koselleck, Mappe 18. An anderer Stelle bezeichnet er das geplante Stelenfeld als »Fußballplatz zwischen Brandenburger Tor und Hitlers Bunker«, vgl. Koselleck, Diskontinuität, S. 221. Zu der sich daran anschließenden Debatte vgl. Nachlass Koselleck, DLA Marbach, HS006375954, Konvolut: Dokumente zum Aufsatz »Die Diskontinuität der Erinnerung«, 1997–2001. 37 Koselleck, Der 8. Mai, S. 15.

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an Erinnerungsgemeinschaften fest. Immer dann, wenn Menschen zwar disparat lesbare, aber dennoch gemeinsame »hautnah« erlebte Erfahrungen sammelten, wie dies unter anderem in Familien, Notgemeinschaften oder religiösen Gruppen tagtäglich geschehe, könne so etwas wie eine gemeinsame Erinnerung entstehen, die aber stets an die jeweilige konkrete Gruppe gebunden bliebe. Alles andere seien hingegen passive und rezeptive Konstellationen. Während beispielsweise Zuschauer eines mitreißenden Sportereignisses oder Besucher einer pompösen Theaterprämiere nach dieser Logik keine erinnerungsfähigen Kollektive darstellen, schrieb Koselleck generationellen Vergemeinschaftungsformen eine besonders hohe Relevanz zu. Generationenwechsel und Generationenschübe »sind schlechthin konstitutiv für den zeitlich endlichen Horizont, durch dessen jeweilige Verschiebung und generative Überlappung sich Geschichten ereignen. Erfahrungen sind generationsspezifisch und deshalb sind Erfahrungen nicht unmittelbar übertragbar.«38

II. Generation, Generativität und Geschichtlichkeit Kein anderer Beitrag zur Generationenforschung hat die theoretische und methodische Ausrichtung dieses Forschungsfeldes so nachdrücklich geprägt wie die Abhandlung von Karl Mannheim zum »Problem der Generationen« von 1928. Der damals in Heidelberg lehrende Soziologe brachte mit Generation den zeitgenössischen Werte- und Kulturwandel auf den Begriff, indem er ihn mit der generativen Erneuerung von Gesellschaften zusammenführte und als soziales Phänomen zwischen Kultur und Natur beschrieb. In Abgrenzung zu zeitgenössischen biologischen Gesellschaftstheorien unternahm Mannheim den Versuch, eine zwar nicht in erster Linie quantifizierbare, aber dennoch messbare Rhythmik gesellschaftlicher Veränderungen herauszuarbeiten. Im »steten Neueinsetzen neuer Kulturträger« sah Mannheim ein zentrales Erklärungspotential für die »beschleunigten Umwälzungserscheinungen der unmittelbaren Gegenwart«.39 Jeder Mensch befinde sich in einer bestimmten Generationenlagerung, die er nicht einfach wie einen Verein verlassen könne und die dem Einzelnen sowohl spezifische Möglichkeiten eröffne wie auch Beschränkungen auferlege. Die Differenz zwischen generationeller Lagerung und Generationenzusammenhang verortete Mannheim in der kulturell verfassten Bewusstseins- und Erlebnisschichtung, die es ermögliche, dass Menschen verwandter Jahrgänge eine ähnliche Perspektive auf Ereignisse ausbilden. Mit der Unterscheidung von Generationslagerung, Generationszusammenhang und Generationseinheit entwickelte Mannheim in Anlehnung an den Klassenbegriff eine Systematisierung, die bis heute für viele Forschungsvorhaben

38 Koselleck, Hermeneutik und Historik, S. 18. 39 Mannheim, Karl, Das Problem der Generationen, in: ders. / Wolff, Kurt Hg., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, Neuwied 1964., S. 509–565, Zitat S. 530.

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richtungweisend ist.40 Das parallele Erleben von Geschichte, die als vergleichbar empfundene biographische Erfahrungsschichtung sowie die Phantasie, einen gemeinsamen zeitlichen Ursprung zu haben – solche Zusammenhänge sind für das Verstehen generationeller Selbstthematisierungen von grundlegender Bedeutung und verleihen der Beobachtung, dass sich Menschen verwandter Jahrgänge oftmals miteinander verbunden glauben, eine enorme Evidenz. Generation ist daher in erster Linie eine individuelle Zuordnungsgröße wie auch eine kollektive Selbstbeschreibungsformel, die sich vor allem darin äußert, dass das eigene Denken, Fühlen und Handeln als eine altersspezifische Ausprägung empfunden und die unterstellte dauerhafte und gleichartige Wirkung von Sozialisations- und Lebensbedingungen als kollektive Erfahrung aufgefasst wird.41 Reinhart Koselleck hat sich zeitlebens mit Mannheims Werk beschäftigt, was angesichts seiner 1947 in Heidelberg beginnenden universitären Laufbahn und seines dortigen Studiums bei Alfred Weber nicht weiter verwundern kann.42 Sein Generationenverständnis lässt sich im Kern auf Mannheim’s einschlägigen Aufsatz über das »Problem der Generationen« zurückführen, was die hier noch zu erörternden Unschärfen und Widersprüche in vollem Umfang einschließt.43 In Kosellecks Unterscheidung der drei Arten von Erfahrungsgewinn bilden »generationsspezifische Erfahrungsfristen« gewissermaßen die zweite Ebene. Sie »ergeben sich aus der biologischen Vorgabe, die jedes individuelle Leben durch die zeitliche Differenz zwischen Eltern und Kindern prägt«.44 Während sich singuläre und unwiederholbare Erfahrungen des einzelnen (»Primärerfahrungen«) vor allem 40 Vgl. Riedel, Manfred, Generation, in: Ritter, Joachim (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Spalte 274–277; Weigel, Sigrid, Generation, Genealogie, Geschlecht. Zur Geschichte des Generationskonzepts und seiner wissenschaftlichen Konzeptionalisierung seit Ende des 18. Jahrhunderts, in: Musner, Lutz / Wunberg, Gotthart (Hg.), Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen, Wien 2002, S. 161–190; Weisbrod, Bernd, Generation und Generationalität in der neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 8/2005, S. 3–9; Parnes, Ohad / Vedder, Ulrike / Weigel, Sigrid (Hg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, Paderborn 2005; Jureit, Ulrike / Wildt, Michael (Hg.), Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; dies., Generationenforschung, Göttingen 2006; Fietze, Beate, Historische Generationen. Über einen sozialen Mechanismus kulturellen Wandels und kollektiver Kreativität, Bielefeld 2009; Bauerkämper, Arnd, Generation als Selbstdeutung. Die Erinnerung an den Nationalsozialismus, in: Hille, Almut / Liaoyu, Huang / Langer, Benjamin (Hg.), Generationenverhältnisse in Deutschland und China. Soziale Praxis  – Kultur  – Medien, Berlin 2016, S. 91–113. 41 Jureit, Generationenforschung, S. 40–85. 42 Die intensive Lektüre von Mannheims Werken lässt sich in Kosellecks Bibliothek im Einzelnen nachvollziehen, so u. a. das 1958 erschienene Buch Mensch und Gesellschaft im Zeitalter des Umbaus, in dem – wie Reinhard Laube festgestellt hat – der für Kosellecks eigene Theoriebildung so entscheidende Begriff »Erwartungshorizont« bereits markiert ist. Vgl. Laube, Reinhard, Reinhart Kosellecks Lektüren, in: Dutt / Laube, S.  95–110. 43 Jureit, Generationenforschung, S. 20–39. 44 Koselleck, Reinhart, Erfahrungswandel und Methodenwechsel (1988), in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 27–77, Zitat S. 35.

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durch ein Überraschungsmoment auszeichneten, vollziehe sich ein personen- und generationenübergreifender Systemwandel stets langfristig und eher schleichend, so dass er oftmals erst retrospektiv wahrgenommen werden könne. Letzterer sei somit »strikt diachron, in generationenübergreifenden Sequenzen angelegt, die sich der unmittelbaren Erfahrung entziehen«.45 Zwischen diesen beiden Kategorien installiert Koselleck in Anlehnung an Mannheim’s Ordnungsmodell als gleichsam mittlere Schicht »generationenspezifische Erfahrungsfristen«, denen er in seiner Anthropologie geschichtlicher Zeiterfahrungen eine Art Scharnierfunktion zuschreibt. Im Rahmen ihrer sozialen Einheiten »gewinnen die biologisch bedingten, zeitlich – je nach Geburtsjahren – verschieden gestaffelten Erfahrungen ihre gemeinsame Signatur«.46 Bei Koselleck gerinnt Generation zu einem Synchronisierungsmechanismus im historisch-anthropologischen Zeitenwandel. Dabei differenziert er weder systematisch zwischen Prägung, Sozialisation und Erziehung noch wird deutlich, wie man sich den übergreifenden Verarbeitungsprozess der ja stets individuell erlebten Geschehnisse zu denken hat. Jenseits seiner in jeder Hinsicht diffus bleibenden Unterscheidung zwischen biologischen, sozialen und politischen Generationen läuft Koselleck’s Argumentation letztlich darauf hinaus, dass er Generationen gewisse Sammlungs-, Vereinheitlichungs- und Tradierungsfunktionen schlichtweg zuschreibt, ohne die dafür grundlegenden, letztlich ja im weitesten Sinne kommunikativen Vorgänge in irgendeiner Weise zu erläutern, empirisch zu untersuchen oder anderweitig auszudifferenzieren. Erfahrungsgewinn und Erfahrungswandel sind nach dieser Logik insoweit »synchron, als sie an die zusammenlebenden Generationen zurückgebunden« bleiben.47 Koselleck greift in seiner Theorie historischer Zeiten auf den Generationenbegriff zurück, weil er damit die Kluft zwischen individueller und kollektiver Ebene, zwischen primärem und allgemeinem Erfahrungsgewinn zu überbrücken sucht. Generation stellt für ihn eine Handlungs- und Erfahrungseinheit mittlerer Reichweite dar, deren grundlegende Gemeinsamkeit allerdings weitgehend unklar bleiben muss, da der generationelle Erfahrungsgewinn nicht als dynamischer Aneignungs-, Zuschreibungs- und Verarbeitungsprozess analysiert wird, sondern als generelles Synchronisierungsgeschehen weitgehend abstrakt bleibt. Wer Generation in dieser Weise als soziale Erfahrungsgemeinschaft substantialisiert, fängt sich analytisch erhebliche Probleme ein. Denn jede Generationenformierung setzt voraus, dass die jeweiligen Trägergruppen altersspezifische Gemeinsamkeiten imaginieren. Und obgleich diese in der Regel auch biologisch begründet werden, bleibt das Generationenangebot meistens doch so offen, dass sich auch andere Jahrgänge zugehörig fühlen, solange sie sich zum generationellen Erfahrungs- und Deutungsrepertoire bekennen. Generationsangehörige(r) ist man folglich nicht unbedingt nur durch Geburt, sondern ebenso durch Bekenntnis oder Zuordnung. Auch bei familiären 45 Ebd., S. 39. 46 Ebd., S. 35. 47 Ebd., S. 38 f.

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Generationenkonzepten gehört das biologische setting zwar zu den unverrückbaren Rahmenbedingungen, für das Verhältnis zwischen Alt und Jung ist es aber entscheidender, wie diese Strukturbeziehung konkret gedeutet und gestaltet wird. Versteht man Generationenbildung in diesem Sinne als kollektiven Zuschreibungs- und Selbstthematisierungsvorgang, dann macht die Vorstellung einer Generation an sich grundsätzlich wenig Sinn. Hier spiegeln sich konzeptionelle Ungenauigkeiten wider, die bereits in Mannheims Generationenmodell angelegt sind, denn bei genauerer Betrachtung erweist sich die angenommene Gleichzeitigkeit des Erfahrungsgewinns und die ähnlich gelagerten Sozialisations- und Prägungszusammenhänge trotz zeitlicher und manchmal auch sozialer Übereinstimmungen doch als heterogener als gemeinhin angenommen. Die generationelle Lagerung ist allenfalls ein Potential, das nicht von sich aus oder automatisch dazu führt, dass sich Generationen oder gar soziale Gruppen ausbilden, sondern solche Vergemeinschaftungen müssen forciert, müssen gewollt, müssen durch soziale Akteure kommunikativ (und das bedeutet zumeist medial) hergestellt werden. Ansonsten passiert genau das, was auch in Kosellecks Konzept aufscheint: Eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Generativität, Genealogie, Generation und Alterskohorte sucht man in seinen Zeitschichten vergeblich. Generationenbildung konzipiert Koselleck vor allem als einen mal mehr, mal weniger »natürlichen« Rhythmus historischen Wandels (analog zu Mannheim’s stetem »Neueinsetzen neuer Kulturträger«), was dazu führt, dass manchmal von Generationen gesprochen wird, wenngleich Generativität gemeint ist. Und bei genauer Lektüre sind dann zuweilen dort, wo Generationen draufsteht, allenfalls Alterskohorten drin. Koselleck hat sich mit den jeder Generationenbildung zugrunde liegenden Vergemeinschaftungs- und Selbstthematisierungsprozessen wenig beschäftigt.48 Für ihn war Generation zwar sowohl ein biologischer wie auch ein kultureller Mechanismus der Erfahrungsverarbeitung, aber kein dezidiertes Gemeinschaftsversprechen. Das emotional Verbindende verstand er in erster Linie genealogisch, die gemeinschaftsstiftende, wenngleich bestenfalls geglaubte Verbundenheit der sich selbst als Generationsangehörige verstehenden Erfahrungsträger wird in Kosellecks Schema von der funktionalen Synchronisierungsleistung weitgehend überdeckt. Eine begriffliche Abgrenzung zu dem, was man soziologisch als Alterskohorte bezeichnen würde, fehlt ebenso wie die kritische Überprüfung der stillschweigend vorausgesetzten Homogenisierung vormals disparater Erlebnisinhalte. Diese Oberflächlichkeit ist insofern besonders augenfällig, da Koselleck ja ansonsten keine Gelegenheit ausließ, um auf das individuelle »Recht auf […] unaustauschbare Erinnerung« zu insistieren.49 Wie sich solche einmaligen (primären) 48 In seinem Aufsatz Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten geht es in erster Linie um synchrone Faktoren der Bewusstseinsprägung sowie um die diachrone Wirkung von Kriegserfahrungen, aber nicht um Selbstthematisierungen als kommunikative Form der Erfahrungsverarbeitung. Vgl. Koselleck, Reinhart, Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten. Der Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein, in: ders., Zeitschichten, S. 265–284. 49 Koselleck, Der 8. Mai, S. 15.

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Erfahrungen jedoch zu wiederholbarem Erfahrungswissen »kollektivieren«, interessierte ihn erstaunlich wenig.50 Generation bleibt bei Koselleck stets an sein Verständnis von Generativität und damit an einen Diskurs gebunden, der sich im Kern um den in seinem Werk viel zentraleren Begriff Geschichtlichkeit dreht. Ergiebig wäre es, Kosellecks Auseinandersetzung mit Martin Heideggers »Sein und Zeit« dahingehend zu befragen, welchen Einfluss die zweifellos intensive Lektüre auf seine Vorstellung von Endlichkeit, Geworfenheit und Zeitlichkeit hatte. An dieser Stelle muss sich eine solche Bezugnahme gleichwohl auf den Hinweis beschränken, dass Koselleck im Rahmen seiner »Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichten« das Moment der Endlichkeitsbestimmung bereits in den 1950er Jahren sowohl bei Martin Heidegger als auch bei Hannah Arendt vorfand, mit deren Arbeiten er sich damals bereits intensiv auseinandersetzte. Während Arendt von »Gebürtlichkeit« und »Natalität« sprach, betonte Heidegger, dass »das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner ›Generation‹ […] das volle eigentliche Geschehen des Daseins« ausmache.51 Als Differenzierung favorisierte Koselleck in Abgrenzung dazu »die Kategorie der Generativität«. In ihr (und nicht im »schicksalhaften Geschick des Daseins«) liege jene Endlichkeit beschlossen, die zu den zeitlichen Voraussetzungen gehöre, immer »neue mögliche Geschichten aus sich hervorzutreiben«.52 In einer undatierten handschriftlichen Notiz rekurrierte Koselleck auf bestimmte »Bindungen, die erst den Menschen als Menschen konstituieren«. Eine solche »Bindung ist z. B. die Geschichtlichkeit, der die Generationenproblematik entspringt«.53 Ob Koselleck hier von Edmund Husserls Kritik an Heideggers »Macht des Geschickes« angeregt wurde, wäre noch zu klären, jedenfalls sah Husserl bereits Generationen in der Generativität menschlicher Lebens- und Welterfahrung begründet. Von dieser physisch-organischen Generativität unterschied Husserl eine personale, mit der er hervorzuheben versuchte, dass jeder Einzelne nicht nur in einer mitmenschlichen Gegenwart ist, sondern sich auch innerhalb eines solchen generativen Zusammenhangs weiß, und somit in eine Situation geworfen ist, die es ihm erlaubt, sich selbst in einer historischen Gegenwart wahrzunehmen. Während Koselleck betont, dass die zwangsläufige Abfolge von Generationen »in ihrer sich fortzeugenden faktischen und zeitlichen Überlappung […] zu immer neuen Ausschließungen, zu diachronen Innen- und Außenbestimmungen, zum Früher oder Später der jeweils generationsspezifischen Erfahrungseinheiten«54 führe, bleibt die für Selbstthematisierungsdiskurse entscheidende Spannung zwischen Sein und Wissen seltsam unbeachtet. »Im Gefolge Heideggers«, wie er selbst schreibt, handele es sich bei Generativität um eine von mehreren existentialen Bestimmungen, um eine transzendentale Kategorie, 50 Ebd. 51 Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 151979, S. 384–385. 52 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 107. 53 Handschriftliche Notiz »Geschichtlichkeit« o. D., Nachlass Koselleck, DLA Marbach, HS00​ 5900512 Konvolut: »Geschichtlichkeit«. 54 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 107.

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»die die Möglichkeit von Geschichten« benennt, »ohne deshalb schon konkrete Geschichten hinreichend beschreibbar zu machen«.55 In Generativität sah Koselleck demnach eine »existentiale Bestimmung« von Geschichte, die er eher als natürliche denn als kulturelle Kategorie gewichtete und daher eng an sein Verständnis von Geschichtlichkeit koppelte. In dezidierter Abgrenzung zu Heidegger, der seiner Meinung nach den »Weg von der Endlichkeit des Daseins zur Zeitlichkeit der Geschichte«56 zwar aufgewiesen, aber nicht weiterverfolgt habe, setzte sich Koselleck intensiv mit dem philosophischen Denken entlang der Arbeiten u. a. von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Rudolf Haym und Karl Jaspers über Geschichtlichkeit als das Wissen von der Zeitlichkeit des Seins auseinander, insbesondere anhand des brieflichen und in erster Linie lebensphilosophisch geprägten Zwiegespräches zwischen Wilhelm Dilthey und Graf Paul Yorck von Wartenburg.57 Trotz seiner Distanzierung von Heidegger in dieser Frage finden sich bei Koselleck gleichwohl gewisse Anknüpfungspunkte, 55 Ebd., S. 109. 56 Koselleck, Reinhart, Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten, S. 298–316, Zitat S. 299. 57 Koselleck befasste sich bereits seit den 1950er Jahren, vor allem wohl aufgrund seiner Heidegger Lektüre, mit dem existenzphilosophischen Diskurs über Geschichtlichkeit. Heideggers »Sein und Zeit« sei für ihn ein »Initiationsbuch« gewesen, prägend sicherlich auch Gadamer, Hans-Georg, Geschichtlichkeit, in: RGG, Bd. 2 (1958), 3. Auflage, S. 1496–1498 sowie vermutlich auch Jaspers, Karl, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1949 sowie dessen 1932 erschienene »Philosophie«. In diesen Kontext gehört auch Kosellecks Mitschrift aus dem Wintersemester 1948/49 zur Vorlesung von Viktor von Weizsäcker »Medizinische Anthropologie« in Heidelberg, Nachlass Koselleck, DLA Marbach, HS007272773, Zettelkasten »Anthropologie«. Des Weiteren dokumentiert der Nachlass die intensive Lektüre zahlreicher anderer einschlägiger Abhandlungen zum Begriff Geschichtlichkeit, auch in Vorbereitung seines Handbuchartikels über »Geschichte« für die Geschichtlichen Grundbegriffe (Koselleck, Reinhart / Meier, Christian / Engels, Odilo / Günther, Horst, Geschichte, Historie, in: Geschichtliche Grundbegriffe 2 (1975), S. 593–717). Zu Kosellecks Lektüren über Geschichtlichkeit gehörten darüber hinaus u. a.: Kamlah, Wilhelm, Christentum und Geschichtlichkeit. Untersuchungen zur Entstehung des Christentums und zu Augustins »Bürgerschaft Gottes«, Stuttgart 21951; Noack, Hermann, Probleme der Geschichtlichkeit, in: Studium generale 15 (1962), H. 6, S. 373–389; Hennig, John, Zum gegenwärtigen Gebrauch des Begriffes »­Geschichtlichkeit«, in: GWU 17 (1966), S. 416–425; Bauer, Gerhard, Geschichtlichkeit. Wege und Irrwege eines Begriffs, Berlin 1963; Von Renthe-Fink, Leonhard, Geschichtlichkeit. Ihr terminologischer und begrifflicher Ursprung bei Hegel, Haym, Dilthey und Yorck, Göttingen 2 1968; ders., Noch einmal: Zur Herkunft des Wortes »Geschichtlichkeit«, in: Archiv für Begriffsgeschichte 15 (1971), S. 306–312 mit Bezug zu und als Replik auf: Scholtz, Gunter, Ergänzungen zur Herkunft des Wortes »Geschichtlichkeit«, in: ebd., 14 (1970), S. 112–118; Löwith, Karl, Wahrheit und Geschichtlichkeit, in: Universitas 27 (1970), Heft 10, S. 1077–1089; von Renthe-Fink, Leonhard, Geschichtlichkeit, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Spalte 404–408. Vgl. zudem diverse handschriftliche Notizen in: Nachlass Koselleck, DLA Marbach, HS007258934, Zettelkasten »Geschichtlichkeit«; HS005900512 Konvolut »Geschichtlichkeit«. Der erwähnte Briefwechsel ist ediert: Dilthey, Wilhelm / Graf Yorck von Wartenburg, Briefwechsel 1877–1897, hg. von Sigrid von der Schuldenburg, Halle 1923.

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schließlich bemerkte schon Heidegger in »Sein und Zeit«, ob die Historie nicht primär das »Mögliche zum Thema« habe. Die »eigentliche« Historie fordere die unerbittliche Orientierung an den »Tatsachen«, gerade weil es im Kern um die »Möglichkeit der dagewesenen Existenz« gehe. Weder das einmalig Geschehene noch das »darüber schwebende Allgemeine« sei das zentrale Thema, sondern die »faktisch existent gewesene Möglichkeit«.58 Kosellecks Historik als Lehre von den »Bedingungen möglicher Geschichten« klingt hier bereits an, gleichzeitig überträgt Koselleck die Differenzbestimmung zwischen Geschichte und Geschichtlichkeit auf weitere Veränderungsdynamiken. Es gehe um eine Historik, »die nicht die Bewegung, sondern die Beweglichkeit untersucht, nicht die Veränderung im konkreten Sinne, sondern die Veränderlichkeit«.59 Zu den Kategorien der Zeitlichkeit, die »die Geschichte sozusagen in Bewegung« versetzen, zählt Koselleck neben den bereits erwähnten »Oppositionspaaren«60 (oben / unten; früher / später etc.) eben auch »das anthropologische Substrat des politischen Generationswechsels«61, an diesen und anderen Stellen zuweilen inkonsequent nicht als generativer Prozess, sondern bereits konkreter als politische Vergemeinschaftung gedacht. Jenseits solcher (begrifflichen wie theoretischen) Inkonsistenzen bedeutet diese Rückbindung im Umkehrschluss gleichwohl, dass die Synchronisierung gelebter und erlittener Erfahrungen bei Koselleck anders als bei Jaspers nicht an den einzelnen Menschen gebunden bleibt, sondern sich aufgrund einer nach dieser Logik generationell verfassten Rhythmik zu einer Wissensform verdichtet, die gleichwohl selbst historisch und damit wandelbar ist. Geschichtlichkeit umfasst somit nicht nur alle denkbaren, veränderbaren wie existentialen Bedingungen von Geschichte und Geschichten, sondern eben auch die ihrer Erforschung. Die »Transzendenz der Geschichte meint hier einen Überholvorgang, der den Forscher dauernd zwingt, die Geschichte immer wieder neu zu schreiben«.62 Das Umschreiben der Geschichte sei demzufolge im Kern keine Fehlerkorrektur, sondern analog zur früheren »Historie als Erzählkunst« ginge es »heute« um die (theoriebedürftigen) Darstellungsformen einer historischen Anthropologie. Historie als Wissenschaft könne nur bestehen, wenn sie »eine Theorie der geschichtlichen Zeiten« entwickele, die allerdings angesichts »der Anschauungslosigkeit der reinen Zeit« dem Zwang zur Metaphorik unterliege.63 Dass Koselleck zeitlebens an dieser historiographischen Herausforderung gearbeitet hat, steht außer Frage, damit ist allerdings noch nicht hinreichend dargelegt, welche Bedeutung dem Erinnern (und weniger der Erinnerung) in diesem von Koselleck 1961 höchst anschaulich als »Dachboden des historischen Bewußtseins« bezeichneten und hier allenfalls skizzierten Theoriegebäude zukommt.64 58 Heidegger, Sein und Zeit, S. 394. 59 Koselleck, Theoriebedürftigkeit, S. 299 f. 60 Koselleck, Historik und Hermeneutik, S. 101. 61 Koselleck, Theoriebedürftigkeit, S. 300. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Koselleck, Reinhart, Im Vorfeld einer neuen Historik, in: NPL 6 (1961), S. 578–583, Zitat S. 578.

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III. Erlebnis, Erfahrung und Erzählung Es sollte bereits deutlich geworden sein, dass Koselleck von Erinnern in durchaus unterschiedlichen Zusammenhängen sprach und den Begriff erst relativ spät, streng genommen erst in den 1990er Jahren, in seinen geschichtstheoretischen Reflektionen expliziter berücksichtigte. Neben den bereits aufgezeigten Bezügen zu Generation, Generativität und Geschichtlichkeit beschäftigte sich Koselleck mit Erinnern in der Regel immer dann, wenn es um individuelle und gruppenspezifische Erfahrungsverarbeitungen ging. Seine Skepsis gegenüber kollektiven Erinnerungskonzepten lässt sich zwar durchgängig aufzeigen, gleichwohl hat er sich nie konsequent darangehalten, mit Erinnern ausschließlich subjektiv-individuelle Vergegenwärtigungen selbst erlebter Geschehnisse zu bezeichnen. Ob diese Unschärfe dem aufdringlichen Erinnerungsdiskurs der 1990er Jahre geschuldet war, sei dahingestellt, jedoch lohnt eine nähere Betrachtung der Koselleck’schen Verhältnisbestimmung von Erfahrung und Erinnerung. Es wäre nicht nur vielversprechend, sondern angesichts der offenkundigen Schieflagen derzeit gängiger kultureller Erinnerungs- und Gedächtnistheorien auch schlichtweg überfällig, Begriffe wie Erlebnis, Erfahrung, Erinnerung, Erzählung und Erwartung (man könnte analog zu Kosellecks sieben P’s von den fünf E’s sprechen) zueinander in Beziehung zu setzen, was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, gleichwohl aber argumentativ anhand des Koselleck’schen Erfahrungskonzeptes zumindest ansatzweise durchgespielt werden soll. Bereits Edmund Husserl schrieb der Interdependenz von Erfahrung und Erwartung 1936 eine zentrale Bedeutung zu: »Ich weiß mich faktisch in einem generativen Zusammenhang, im Einheitsstrom einer Geschichtlichkeit, in der diese Gegenwart die menschheitliche und die ihr bewusste Welt historische Gegenwart einer historischen Vergangenheit und einer historischen Zukunft ist.«65 Diese Spannung findet man auch bei Koselleck, wenn er grundsätzlich feststellt, dass es keine »Geschichte gibt, ohne daß sie durch Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstituiert worden wäre«.66 Die Verschränkung einer historischen Gegenwart mit einer nicht weniger historischen Zukunft und einer ebensolchen Vergangenheit stellt ein Zeitgefüge dar, das bereits bei (dem von Koselleck sehr geschätzten) Novalis aufscheint. Bei ihm entlehnt Koselleck vermutlich die Annahme, dass Geschichte aus der geheimen »Verkettung des Ehemaligen und Künftigen« bestehe und sich somit aus Hoffnung und Erin-

65 Husserl, Edmund, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana, 6), Den Haag 21976, S. 256. 66 Koselleck, Reinhart, Erfahrungsraum und Erwartungshorizont – zwei historische Kategorien, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1996, S. 349–375, Zitat S. 351.

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nerung zusammensetze.67 Bekanntermaßen wandelt Koselleck das Begriffspaar Hoffnung und Erinnerung um. Aus Hoffnung wird bei ihm Erwartung, statt von Erinnerung spricht er von Erfahrung. Es lässt sich durchaus darüber streiten, ob diese begrifflichen Verschiebungen tragfähig sind. Bei Koselleck liest man, er bevorzuge den Erfahrungsbegriff, weil dieser seiner Meinung nach »tiefer greift« als Erinnerung: »Erfahrung ist gegenwärtige Vergangenheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden können«.68 Während nach diesem Verständnis Erinnern eher das Vergegenwärtigen als solches bezeichnet, ist mit Erfahrung der gegenwärtig-vorläufige Ertrag eines vergangenheitsbezogenen Deutungsprozesses gemeint. Das »Tiefer-greifen« bezieht sich somit auf eine unterstellte Differenz von Vergegenwärtigung und Verarbeitung zurückliegender Erlebnisse. Diese Unterscheidung ist jedoch insofern riskant, da die Beschäftigung mit Vergangenheit in einem zeitlich linearen Verständnis von Ereignis – Erfahrung – Erinnerung – Erzählung nicht aufgeht, sondern von einem Bearbeitungsprozess auszugehen ist, dem ein komplexes Aufschichtungs-, Verschachtelungs- und Umdeutungsgeschehen zugrunde liegt. Sinnvoll ergänzen lassen sich diese Überlegungen indes mit dem von Maurice Halbwachs reflektierten Wandel des Vergangenheitsbezuges durch variierende soziale Zugehörigkeiten.69 Demnach sind Gedächtnisse sozial konstituiert, weil sie verwoben sind in die verschiedenen Gruppen und Milieus, denen jeder einzelne angehört. Nach Halbwachs gibt es kein Gedächtnis »außerhalb derjenigen Bezugsrahmen, deren sich die in der Gesellschaft lebenden Menschen bedienen, um ihre Erinnerungen zu fixieren und wiederzufinden«.70 Wechselt dieser Rahmen oder verlassen wir eine bestimmte soziale Formation, gehen die relevanten Bezüge verloren und die Vergangenheitsbilder verblassen. Verändert sich eine Gruppe oder ein bestimmter Identifikationszusammenhang, dann treten bisher tradierte Geschichten in den Hintergrund und andere werden dem verfügbaren Repertoire hinzugefügt, solange sie der neuen sozialen Rahmung besser entsprechen. Bei diesem Prozess des fortgesetzten Überschreibens wird »das Wissen darum, was ursprünglich war, mindestens zweitrangig, wenn nicht ganz und gar überflüssig: die Wirklichkeit der Vergangenheit, eine unveränderliche Vorlage, der man zu entsprechen hätte, gibt es nicht mehr«.71 In diesem Sinne ist Erinnern »in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten und wird im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet, aus denen das Bild von ehemals schon recht verändert hervorgegangen ist«.72 Ein Erinnerungsbegriff, 67 Novalis, Heinrich von Ofterdingen, Erster Teil: Die Erwartung, in: Schulz, Gerhard (Hg.), Novalis Werke, München 31987, S. 197. 68 Koselleck, Erfahrungsraum, S. 354. 69 Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985. 70 Ebd., S. 121. 71 Halbwachs, Maurice, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003, S. 21. 72 Ebd., S. 55.

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der weniger identitätsstiftend aufgeladen ist, bekäme mit einem Aufschichtungskonzept, wie man es bei Halbwachs findet, den gesellschaftlichen Gebrauch von Geschichte schärfer in den Blick und könnte auf diese Weise auch Umarbeitungsprozesse einbeziehen, durch die zurückliegende Geschehnisse in altersspezifische Geschichtsnarrative transferiert werden. Denn genau diesen »Überschritt« gilt es ja als eine Form überindividueller Erfahrungsverarbeitung nachzuvollziehen. Im Spannungsgefüge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft reichert Koselleck jedenfalls die Hoffnungskategorie, die er von Novalis übernimmt, durch den bereits von Mannheim entwickelten Erwartungshorizont an, und zwar in erster Linie deswegen, weil er damit die wirkungsmächtige, handlungsauslösende Funktion und damit den Gegenwartsbezug von Erwartungshaltungen unterstreichen will. Erwartung ist für ihn »vergegenwärtigte Zukunft, sie zielt auf das Noch-Nicht, auf das nicht Erfahrene, auf das nur Erschließbare. Hoffnung und Furcht, Wunsch und Wille, die Sorge, aber auch rationale Analyse, rezeptive Schau oder Neugierde gehen in die Erwartung ein, indem sie diese konstituieren«.73 Also ebenso wie Erfahrung als gegenwärtige Vergangenheit aufgefasst wird, will Koselleck Erwartung als vergegenwärtigte Zukunft verstanden wissen. Die Interdependenz zwischen dem Erfahrungs- und Erinnerungsraum einerseits und dem Erwartungshorizont andererseits stellt nach dieser Logik eine Grundfigur für die Entstehung geschichtlicher Zeit dar. Allerdings sind Erwartung und Erfahrung keine spiegelbildlichen Ergänzungsbegriffe, denn die Präsenz der wirklichkeitsgesättigten Vergangenheit ist von anderer Qualität als die der phantasierten Zukunft. Sie haben »unterscheidbare Seinsweisen«74, die darin begründet liegen, dass retrospektiv sehr wohl das Bild eines Ganzen entworfen werden könne, während es prospektiv immer nur um einzelne Teile einer nie vollständig überschaubaren Zukunft ginge. Nicht zuletzt wegen dieser Ungleichheit entstehe hier ein Spannungsverhältnis. Nicht mehr die allmähliche Überführung früherer Erfahrungen in kommende Erwartungen, sondern der abrupte Wandel, die rasante Beschleunigung und allzu oft der radikale Bruch zum bisherigen Erfahrungsbestand charakterisieren fortan eine historische Phase, die Koselleck bekanntermaßen als »Neuzeit« bezeichnete. Zukunft ist nach diesem Verständnis anhand der erinnerten Erfahrungen nicht mehr unmittelbar ableitbar.

IV. Erfahrungswandel und Erinnerungsschichten? Facetten eines diffusen Aggregationsprozesses Insgesamt lässt sich anhand der Schriften von Koselleck aufzeigen, dass es in seinen Überlegungen zeitlebens darum ging, die individuelle wie kollektive Verarbeitung von Selbst- und Fremderfahrungen als Kernelement einer reflexiven Historik zu identifizieren und die symbolische wie auch narrative Darstellung dessen, was 73 Koselleck, Erfahrungsraum, S. 355. 74 Ebd.

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historisch geschehen ist, als eine spezifische Wissensform analytisch zu fassen. Generativität / Generation, Erfahrungswandel und Geschichtlichkeit waren dafür die entscheidenden Parameter, gleichwohl führte das nicht dazu, dass Koselleck durchgängig begrifflich sauber unterschied. Sein Generationenbegriff ist hierfür ein markantes Beispiel. Weder differenzierte er konsequent zwischen Generation, Generationseinheit und Generativität noch analysierte er systematisch das Verhältnis zwischen individuellem und kollektivem Erfahrungswissen. In der jeweils eigenen Erfahrung sei, so formulierte Koselleck 1976 recht allgemein, »durch Generationen oder Institutionen vermittelt«, immer auch »fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben«.75 Während Generation aufgrund des gleichzeitigen Erfahrungsgewinns vornehmlich als Synchronisierungsmechanismus diente, distanzierte sich Koselleck explizit »von der These einer Kollektiverfahrung«, da »alle Erfahrung als Primärerfahrung« gebrochen, segmentiert und unübertragbar sei.76 In der Folge kategorisierte er »alle späteren Kondensationsprozesse« (an diesem Punkt bemerkenswert konsequent) als sekundär. Der Übergang vom fragmentierten, pluralistischen, zufälligen und unübertragbaren »Erfahrungsraum« zu eben diesem sekundären, übergreifenden Erfahrungswissen besteht in Kosellecks Logik genau in jenem »Überschritt«, den er – und das macht die Sache nicht einfacher – zwar nicht durchgängig, aber seit etwa Mitte der 1990er Jahre mehr oder weniger regelmäßig als Erinnern bezeichnete. Die an sich unübertragbaren Primärerfahrungen müssten »hochaggregiert« werden zu einem »irgendwie sekundär festgestellten, institutionalisierten Erinnerungsraum«.77 Dass dieses »irgendwie« so nicht stehen bleiben kann, sondern als Wandlungsund Umarbeitungsprozess detailliert nachvollzogen werden will, veranlasste ihn u. a. in einem Vortrag anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar 1998 dazu, sich diesem Aspekt dezidierter zuzuwenden. Dazu muss man wissen, dass sich Koselleck zu diesem Zeitpunkt bereits zu mehreren geschichtspolitischen Debatten, wie der über die Neue Wache sowie über das geplante, aber damals noch nicht realisierte Holocaust-Denkmal in Berlin, öffentlich geäußert und sich der im angeheizten Geschichtsdiskurs kursierende Erinnerungsbegriff – anders noch als zehn Jahre zuvor – zunehmend in seine Texte eingeschlichen hatte. In der Sache blieb es indes dabei, dass Koselleck vor allem die Diskrepanz zwischen individueller Primärerfahrung und der im Nachhinein durch Wissenschaft, Justiz und Geschichtskultur geprägten Aufarbeitung des historisch Geschehenen herausstellte. Dass im Zuge dessen für die Erlebnisgeneration ständig Neues, »immer anderes als zuvor gewußt« zu Tage trete, sei für diese Umformung ebenso kennzeichnend wie der fehlende, körperliche wie emotionale Selbstbezug, der jeder sekundären 75 Koselleck, Erfahrungsraum, S. 354. 76 Koselleck, Diskontinuität, S. 214. 77 Ebd., S. 215. Hier benutzt Koselleck tatsächlich statt dem in seinen Schriften jahrzehntelang vorherrschenden »Erfahrungsraum« nun die Formulierung »Erinnerungsraum«, was vermutlich eine Anpassung an den allgemeinen Erinnerungs- und Gedächtnisboom der 1990er Jahre darstellte.

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Erfahrungsaneignung grundsätzlich anhafte.78 Am Beispiel der Transformation des Opferbegriffs nach 1945 erläutert Koselleck dann jenen Überschritt, durch den seiner Meinung nach »Erfahrung in Erinnerung« überführt wird.79 Selbst wenn man beiseitelässt, dass Koselleck zuvor immer wieder betont hatte, dass Erfahrung als gegenwärtige Vergangenheit begrifflich »tiefer-greift«80 und sich Erinnern allenfalls darauf beziehe, einverleibte Erfahrungen zu vergegenwärtigen, stiftet seine teils synonyme, teils inkonsistente Verwendung von Erfahrung und Erinnerung erhebliche Verwirrung und muss jedem auf Stringenz angewiesenen Leser schwer zu schaffen machen. Spätestens die von Koselleck 1998 dann konstatierte, mit jedem Erinnerungs-, Verarbeitungs- und Umdeutungsprozess verbundene »schleichende Diskontinuität« zwischen Selbst- und Fremderfahrung macht es dann unumgänglich, mindestens drei verschiedene, zeitlich wie thematisch variierende Bedeutungen von Erinnern in Kosellecks Werk zu unterscheiden. Zum einen verstand Koselleck Erinnern mehr oder weniger alltagssprachlich als einen Modus der individuellen Vergangenheitsbeschäftigung (intransitiv im Sinne von: sich erinnern). Strenggenommen, so stellte er vor allem in seinen öffentlichen Kommentaren zu geschichtspolitischen Debatten immer wieder klar, könne jeder nur das erinnern, was er (oder sie) auch selbst erlebt hat. Erinnern war für ihn nach dieser Logik sowohl ein psychischer Vorgang als auch eine anthropologisch gegebene Notwendigkeit, sich zum erlebten Leben selbst in Beziehung zu setzen. Dass ein solches Verarbeitungsgeschehen geradezu zwangsläufig soziale und damit kollektive Bezüge umfasst, sollte ja schon deswegen unstrittig sein, weil Erinnern zwar auch eine körperlich-emotionale Dimension aufweist, darüber hinaus aber ein symbolischer, in erster Linie ein sprachlicher Akt ist. Weitaus komplizierter stellt sich die Sache dar, wenn gefragt wird, welche Bedeutung dem Erinnern jenseits eines solchen individuellen Verarbeitungsmodus gelebter Vergangenheit zukommt. Koselleck verwendete das Wort Erinnern in diesem zweiten Sinne vor allem dann, wenn er sich mit der Sinn- und Identitätsstiftung des politischen Toten­kultes beschäftigte. Bereits in seinem erstem programmatischem Text dazu von 1979 in »Poetik und Hermeneutik« stellte er gleich zu Beginn fest, dass Denkmäler »mehr als nur die Erinnerung an die Toten« wachhalten, da über die »Erinnerung hinaus […] die Frage nach der Rechtfertigung dieses Todes beschworen« wird.81 In der gesamten nachfolgenden Argumentation geht es ihm dann allerdings nicht mehr im engeren Sinne um Erinnern, sondern um die Formensprache der politischen Sinnstiftung des gewaltsamen soldatischen Todes in der Neuzeit. Denkmäler verstand er als Erinnerungszeichen, deren genuine Funktion darin liege, Identifikationsstiftungen von und für die »Überlebenden« sinnlich erfahrbar 78 79 80 81

Koselleck, Diskontinuität, S. 215. Ebd., S. 219. Koselleck, Erfahrungsraum, S. 354. Koselleck, Reinhart, Kriegerdenkmale als Identitätsstiftungen der Überlebenden, in: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz (Hg.), Identität (Poetik und Hermeneutik VIII), München 1979, S. 255–276, Zitate S. 255 f.

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zu machen. Sie transportieren ästhetische Deutungs- und Sinnangebote der Stifter, die als politische Aussagen im Laufe der Jahre zwar verblassen können, ästhetisch jedoch überdauern und somit »länger währen als der Einzelfall«.82 Hier trennt Koselleck den symbolischen Identifikations- und Sinnstiftungsprozess begrifflich vom bloßen Erinnern an gefallene Soldaten. Während diese beiden Bedeutungskontexte noch relativ eindeutig voneinander abzugrenzen sind, wird es weitaus unübersichtlicher, wenn man Kosellecks Erinnern als Überschritt als dritte Variante genauer unter die Lupe nimmt. Grundsätzlich stehen diese und alle anderen Erinnerungsvarianten ja im Kontext seiner theoretischen Überlegungen, wie sich historisches Geschehen in Geschichte wandelt, und in diesem Rahmen reflektierte Koselleck auch die Umarbeitung von Primärerfahrungen zu sekundär verfügbarem Erfahrungswissen. Wenn die Historik die Lehre von den transzendentalen Bedingungen möglicher Geschichten ist und es keine »Geschichte gibt, ohne daß sie durch Erfahrungen und Erwartungen der handelnden oder leidenden Menschen konstituiert worden wäre«83, dann ließe sich vermuten, dass Erinnern eine, diesem übergeordneten, akkumulierenden Erfahrungswandel innewohnende Vollzugsweise darstellt, wobei ehrlicherweise hinzugefügt werden muss, dass Koselleck diese Verhältnisbestimmung selbst so nicht hergestellt hat. In seinem Aufsatz über »Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses« aus dem Jahr 2002 diskutiert er zwar die Differenz zwischen Primär- und Sekundärerfahrung anhand der drei Fragen: »Wer ist zu erinnern? Was ist zu erinnern? Wie ist zu erinnern?« und daran ließe sich eine solche Aus­legung, wie sie hier vorgeschlagen wird, zweifellos festmachen, gleichwohl erläutert er dann im nachfolgenden Text die Frage des Wie anhand von vier unterschiedlichen Erinnerungsformen, die er als moralisch, religiös, wissenschaftlich und ästhetisch charakterisiert.84 Angesichts der dabei mitschwingenden Transformationsdynamik sticht hier gleichwohl die für die genannten Praktiken eher unpassende und theoretisch auch nicht hinreichend begründete Ausweitung eines vormals eher konkreten Erinnerungsbegriffs hervor. Derart aufgeplustert droht das von Anderen vehement beschworene Erinnern nun sogar den jahrzehntelang bei Koselleck dominierenden und in der Sache weitaus ergiebigeren Erfahrungsbegriff nahezu vollständig zu verdrängen. Ob selbst Koselleck sich in den letzten Jahren dem enormen Sog des geschichts- und erinnerungskulturellen Redens nicht mal mehr begrifflich zu entziehen wusste, dem soll und muss an anderer Stelle nachgegangen werden. Immerhin hat er bis zuletzt das Nachleben vergangener Geschehnisse im Modus des Erinnerns als eine Herausforderung gesehen, die sich nicht auf eine 82 Ebd., S. 275. 83 Koselleck, Erfahrungsraum, S. 351. 84 Koselleck benutzt hier beispielsweise mit Bezug auf die moralische Beurteilung des Holocaust die Formulierung, dies sei »die erste Weise des Erinnerns«, wenige Absätze später spricht er statt von »Weise« von Möglichkeiten und Zugriffen des Erinnerns. Vgl. Koselleck, Reinhart, Formen und Traditionen des negativen Gedächtnisses, in: Knigge, Volkhard / Frei, Norbert (Hg.), Verbrechen erinnern. Die Auseinandersetzung mit Holocaust und Völkermord, München 2002, S. 21–32, Zitat S. 29.

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ursprüngliche Faktizität beziehen könne, sondern, wie es Maurice Halbwachs formuliert hat, »in sehr weitem Maße eine Rekonstruktion der Vergangenheit mit Hilfe von der Gegenwart entliehenen Gegebenheiten« ist und »im Übrigen durch andere, zu früheren Zeiten unternommene Rekonstruktionen vorbereitet« wird.85 Dass Koselleck eine solche Perspektive auf Erfahrungswandel und Erinnerungs­ dynamiken nicht mehr mit seinen theoretischen Arbeiten über »Zeitschichten« als »verräumlichende Metapher« für die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«86 zusammengeführt hat, ist zweifellos mehr als bedauerlich, gleichwohl fordert seine fragmentarisch gebliebene Theorie historischer Zeiten dazu auf, »die Frage des Wie jeden Tag neu« zu durchdenken.87

85 Halbwachs, Stätten der Verkündung, S. 55. 86 Koselleck, Reinhart, Einleitung, in: ders., Zeitschichten, S. 9–16, Zitat S. 9. 87 Koselleck, Negatives Gedächtnis, S. 32.

Dieter Langewiesche

Historische Anthropologie und Sprache bei Reinhart Koselleck. Geschichtliche Prognostik als Wiederkehr der Historia Magistra Vitae?

I. Kosellecks Programm einer geschichtswissenschaftlichen Prognostik Als Reinhart Koselleck 1967 die neuzeitliche Auflösung des Topos Historia Magistra Vitae diagnostizierte, blieb das nicht sein letztes Wort in der Frage, ob der Blick in die Vergangenheit zukunftsbelehrend sein könne. Schon damals dachte er über die Möglichkeit nach, mit neuer Begründung aus »vergangener Zukunft« die künftige Zukunft zu lesen. Er hatte eine »rationale Prognostik« vor Augen, die er der Geschichtsphilosophie mit ihren Heilserwartungen entgegenstellte.1 Wie eine solche »rationale Bedingungsprognose« gelingen könne, hatte er schon zwei Jahre zuvor erkundet, 1965 in seiner Studie zur Geschichtstheorie Lorenz von Steins.2 Zu den »Dauerstrukturen«, die Koselleck in Steins Analyse identifizierte, gehörte noch nicht die Sprache. Es waren wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen Preußens, aus denen Stein die »Wahrscheinlichkeit« in der Verfassungsentwicklung prognostiziert habe. Damit sei von Stein »kein politischer Wahrsager« geworden, denn er sagte nichts zu Art und Zeitpunkt einer Verfassungsreform. Er habe vielmehr »Hindernisse und Dringlichkeitsstufen« beschrieben, indem er »strukturelle Bedingungsaussagen« und »einmalige Faktoren« aufeinander bezog. Er habe das »Unmögliche« ausgegrenzt und zugleich die »geschichtliche Wirklichkeit« als etwas anerkannt, das stets mehr Möglichkeiten berge, als man gegenwärtig und auch in Zukunft wissen könne. Koselleck nannte diese Art der Prognose »elastisch«. Was bedeutet »elastisch«? Welche Art von Prognose aus der Geschichtsanalyse heraus hielt er für möglich? Das soll nun vor allem an seinen späteren Studien erörtert werden. Es geht mir um Koselleck als historischen Anthropologen, zu dem er über die Begriffsgeschichte und seiner Annäherung an eine Historik, die nicht in Hermeneutik aufgehe, ge1 Koselleck, Reinhart, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1979, S. 17–37, hier S. 28; ders., Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ebd., S. 38–66. 2 Ders., Geschichtliche Prognose in Lorenz v. Steins Schrift zur preußischen Verfassung, in: ebd., S. 87–104, hier S. 95. Alle weiteren Zitate S. 93 f., 103 (elastisch).

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worden ist. Eine überraschende Entwicklung. Denn als Begriffshistoriker hat er sich dem Sprachwandel gewidmet, an dem er Spezifika der Neuzeit aufwies. Seine Begriffsgeschichte spürte dem Wandel nach; als historischer Anthropologe suchte er nach metahistorischer Dauer. In seinem zweiten Aufsatzband »Zeitschichten. Studien zur Historik«, 2000 erschienen, ist seine Anthropologie bereits voll ausgeprägt. Wie früh er bereits in diese Richtung gedacht hatte, belegt ein Brief aus dem Jahre 1953. In ihm entwarf er in wenigen Strichen gegenüber Carl Schmitt als Gegenpol zum »resignierenden« Historismus eine begriffsgeschichtlich fundierte »Geschichtsontologie«, deren Aufgabe es sei, »den Geschichtsphilosophien das Wasser abzugraben«. Schon damals ging es ihm um eine Prognostik, die sich den »geschichtsphilosophischen Zwangsprophezeiungen« entziehe.3 Was er hier »geschichtsontologische Analyse« nannte, wurde später zur Anthropologie. Meine These lautet: Mit der historischen Anthropologie, wie Koselleck sie verstand, suchte er nach einer Möglichkeit, die Historie als magistra vitae neu zu begründen, indem er aus anthropologischen Strukturen die »Bedingungen möglicher Zukunft« ableitete.4 Also keine Hochrechnung der Vergangenheit entlang ideologisch begründeter Zukunftserwartungen  – das sei das Geschäft von Geschichtsphilosophien, wie sie auch den neuzeitlichen -ismen zugrunde lägen5 –, sondern eine Prognose aus Strukturen, die künftige Handlungsbedingungen erkennen lassen. Nicht aber Handlungsabläufe und erst recht nicht Ereignisse.

II. Diderots Revolutionsvorhersage als Vorbild für eine historische Prognostik Historische Strukturen mit den ihnen eigenen langen Zeitdimensionen, die sich in die Zukunft hineinziehen und deren Entwicklungsmöglichkeiten begrenzen, sind nicht per se anthropologisch. Für Koselleck bedeutete anthropologisch: in der 3 Brief Kosellecks an Carl Schmitt, Heidelberg 21.1.1953. Nachlass Koselleck, DLA Marbach, Konvolut: »Geschichtlichkeit«. Auf diesen Brief hat mich Manfred Hettling aufmerksam gemacht und mir eine Kopie zur Verfügung gestellt. Nun auch in Koselleck, Reinhart / Schmitt, Carl, Der Briefwechsel 1953–1983, hg. von Jan Eike Dunkhase, Berlin 2019, S. 9–17. 4 Koselleck, Reinhart, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 144– 157, hier S. 156 f. Mit meiner Frage nach dem historischen Anthropologen Koselleck knüpfe ich an einen Aufsatz von Stefan-Ludwig Hoffmann an: ders., Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen bei Reinhart Koselleck und Hannah Arendt, in: Joas, Hans / Vogt, Peter (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 171– 204. Eine andere Art von Prognostik als sie hier betrachtet wird ergibt sich in der Perspektive Kontingenzbewältigung. Vgl. mit Bezug auf Koselleck Scheller, Benjamin, Kontingenzkulturen – Kontingenzgeschichten, in: Becker, Frank / Scheller, Benjamin / Schneider, Ute (Hg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt a. M. 2016, S. 31–54. 5 Koselleck, Reinhart, Der Zufall als Motivationsrest in der Geschichtsschreibung, in: ders., Vergangene Zukunft, S. 158–175, hier S. 175. Die Bedeutung des Zufalls für seine Konzeption der Prognostik hat, soweit ich sehe, Koselleck nicht thematisiert. Dieses Problem wird hier nicht erörtert.

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gesamten Menschheitsgeschichte wiederkehrend – er nannte es »transzendent« –, ohne aber zur bloßen Wiederholung zu werden.6 Die Diskussionen über Anthropologie in den Fächern, die sich damit beschäftigen, nimmt er nicht auf. Wiederholungsstrukturen anthropologischer Art, wie sie Koselleck vor Augen hat, sind andere als zeitlich kürzer begrenzte, auf die neuzeitliche Begriffe verweisen, deren Bedeutung er uns erschlossen hat. Auch sie wirken strukturbildend in die Zukunft hinein, denn, so Koselleck, Begriffe sind »immer auch Vorgriffe in die Zukunft«.7 Wie sie in bestimmten Bereichen Zukunftsmöglichkeiten beeinflussen, hat er mehrfach am Begriff Bund in der deutschen Geschichte erläutert, ebenso am Begriff Bildung oder am modernen Revolutionsbegriff.8 Welche Art von Prognose möglich ist, wenn diese Zeitschicht, mittlere und auch längere Zeiträume umfassend, anthropologisch erweitert wird, hat Koselleck an Diderots Revolutionsvorhersage von 1780 erläutert.9 Damals, wenige Jahre vor der Französischen Revolution, habe Diderot deren Grundzüge vorhergesagt. In dessen Worten: Das Volk, erbittert »über seine lange Leidenszeit«, erhebt sich gegen den »Despotismus«, gerät jedoch im Willen zur Freiheit »aus der Sklaverei in die Anarchie«. »Die Nation ist jetzt nur noch eine von einem Haufen von Verbrechern und Bestochenen abhängige Masse.« Nun bedürfe es nur noch »eines geeigneten Augenblicks« und eines geeigneten Mannes, um sich dessen Herrschaft zu unterwerfen. Die »Treffsicherheit« Diderots, so Koselleck, beruhte »auf einer geschichtlichen Tiefenstaffelung, in die einmal ausformulierte historische Erfahrungen und ihre theoretischen Verarbeitungen eingegangen waren.«10 Mit Tiefenstaffelung meinte Koselleck ein zeitlich abgeschichtetes Reservoir an Erfahrungen, das historisch Gebildeten zur Verfügung steht. Auf Diderot bezogen: Er hatte den Putsch des schwedischen Königs Gustav  III. von 1772 und die anschließenden Reformen vor Augen, aber auch die Geschichte des römischen Bürgerkriegs, das Kreislaufmodell von Polybios und die Verfassungslehre bei Herodot, der im Streit der Perser über die künftige Verfassung Dareios begründen lässt, warum die Monarchie die beste aller möglichen Staatsformen sei.11 All diese 6 Koselleck, Reinhart, Zeitschichten, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 19–26, insb. S. 25 f. 7 Ders., Die Verzeitlichung der Begriffe, ebd. S. 77–98, hier S. 85. 8 Zu Bund und Bildung u. a. in: Koselleck, Reinhart, Hinweise auf die temporalen Strukturen begrifflichen Wandels, in: ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 86–98. Den ausführlichen Artikel »Bund, Bündnis, Föderalismus, Bundesstaat« im Band eins von Brunner, Otto / Conze, Werner / Koselleck, Reinhart (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 7 Bde. und 1 Registerband in zwei Teilbänden, Stuttgart 1972–1997 hat Koselleck allein verfasst. 9 Ders., Die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose, in: ders., Zeitschichten, S. ­203–221, hier S. 210–212; dort alle folgenden Zitate von Diderot. 10 Ebd., S. 212. 11 Herodot, Historien. Deutsche Gesamtausgabe, übersetzt von A. Horneffer, hg von J. W. Häussig, Stuttgart 41971, S. 219 f.

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historischen Rückgriffe sind auf bestimmte geschichtliche Ereignisse und Zeitphasen bezogen. Sie werden von Diderot theoretisch als Wiederholungsstrukturen gedeutet und würden dadurch prognosetauglich. Hätte ihm aber – so füge ich hinzu, Koselleck erwägt das nicht – bereits eine gelungene Form der Institutionalisierung von Demokratie als historische Erfahrung zur Verfügung gestanden, so hätte seine Prognose, der Freiheitswille des Volks müsse zwangsläufig vom Sturz des Despotismus über die Anarchie in die Einherrschaft führen, ihre historisch begründete Plausibilität eingebüßt. Diderot hätte nicht mehr das volle Möglichkeitspotential, das sein Geschichtswissen birgt, prognostisch ausgeschöpft. Es wäre eine historisch verkürzte und deshalb defiziente Zukunftsprognose gewesen. Koselleck entwickelt in dem Aufsatz, um den es hier geht,12 Kriterien für die Treffsicherheit historischer Voraussagen. Pointiert zusammengefasst: Je mehr Wiederholungsstrukturen, je tiefer sie zeitlich gestaffelt und je vielschichtiger sie sind, um so treffsicherer die Prognose. Von solchen Bedingungsprognosen, die mit der historischen Vielfalt und ihrer Vieldeutigkeit kalkulieren, grenzt er zwei weitere Typen ab, die Wunsch- und die Zwangsprognose. Auf sie gehe ich nicht ein, sie führen nicht zum Anthropologen Koselleck. In dem genannten Aufsatz spricht er zwar nicht von Anthropologie, doch mit Blick auf die zwei Prognosen, die im folgenden Abschnitt betrachtet werden, ruft er anthropologische Dauerstrukturen auf, die er in etlichen Studien eingehender untersucht hat. Um diese Dauerstrukturen geht es nun, und welche Bedeutung er hier der Sprache im Kontrast zu außer-sprachlichen Entwicklungen zumisst.

III. Thukydides’ Melier-Dialog als »alternative Bedingungsprognose«? In seinem Aufsatz über die unbekannte Zukunft und die Kunst der Prognose (1984/85) stellt Koselleck zwei Varianten der historisch-anthropologischen »Bedingungsprognose« vor. Das heißt Prognosen, die anthropologische Wiederholungsstrukturen in der Geschichte theoretisch erkennen, also auf einer Zeitebene von »gleichsam metahistorischer Dauer«13, und aus ihnen Möglichkeiten künftiger Entwicklungen ableiten. Die anspruchsvollste Variante haben wir schon an Diderots struktureller Bedingungsaussage kennengelernt. Hier sei es Diderot gelungen, die anthropologische »Dialektik von Herr und Knecht in eine politische Strukturaussage um[zu]münzen« und so die freiwillige Akzeptanz der Diktatur vorauszusagen.14 Die andere Variante nennt Koselleck »alternative Bedingungsprognose«.15 Er erläutert sie an der zweimaligen Unterwerfung der tschechoslowakischen Staats12 13 14 15

Koselleck, Unbekannte Zukunft. Ebd., S. 218. Ebd., S. 211, das folgende auf S. 219 f. Ebd., S. 216.

Historische Anthropologie und Sprache bei Reinhart Koselleck 

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führung vor militärisch überlegenen Machthabern im 20. Jahrhundert: 1939 Emil Hácha vor Hitler, 1968 Alexander Dubček vor der sowjetischen Führung. Hier erkennt Koselleck eine historische Erfahrung, die Thukydides an einem konkreten historischen Ereignis erstmals theoretisch als anthropologisch-metahistorische Wiederholungsstruktur ausformuliert habe – im Melier-Dialog seines Peloponnesischen Krieges. Koselleck beruft sich in etlichen Studien auf ihn. Thukydides lässt hier die Athener mit der anthropologischen Wiederholungsstruktur Macht argumentieren. Sie mahnen die Melier: »sucht das Mögliche zu erreichen, da ihr ebenso gut wie wir wisst, dass Recht im menschlichen Verkehr nur bei gleichem Kräfteverhältnis zur Geltung kommt, die Stärkeren aber alles in ihrer Macht Stehende durchsetzen und die Schwächeren sich fügen.«16 Die Melier schlugen diesen erfahrungsgesättigten Rat aus und suchten die Entscheidung im Krieg. Sie unterlagen, alle ihre Männer wurden getötet, alle Frauen und Kinder versklavt, ihr Land besiedelten die Sieger. Die Tschechoslowaken entgingen einem solchen Schicksal, weil ihre Staatsführung sich nicht wie die Melier entschied, sondern die Anthropologie der Macht hinnahm. Es wäre, so Koselleck, »unsinnig, hier eine lineare Wirkungslinie des Thukydides konstruieren zu wollen.« Doch er habe eine geschichtliche Erfahrungsstruktur formuliert, »die von metahistorischer Dauer ist und die jederzeit für politische Hochrechnungen genutzt werden kann.«17 Ist das so? Meine geschichtstheoretische Kritik werde ich im Schlussteil vortragen. Zunächst sei nur festgehalten: Der Melier-Dialog ruft eine Situation auf, in der die überlegene Macht verlangt, sich in Abhängigkeit zu begeben. Sie plant jedoch nicht kulturelle oder gar physische Vernichtung. Die vermeintliche anthro­ pologische Dauerstruktur erweist sich hier als eine historisch spezifische. Der tschechoslowakische Präsident Hácha konnte im März 1939 im Gespräch mit Hitler nicht wissen, ob dieser bei kampfloser Unterwerfung handeln würde wie es die Athener als historische Erfahrung aufriefen. Denn im 20. Jahrhundert ließ sich der Melier-Dialog nicht mehr als eine menschheitsgeschichtliche Erfahrung von »metahistorischer Dauer« entziffern. Das war aber schon so, als Diderot diesen Dialog prognostisch nutzte und auch schon als Thukydides ihn formulierte. Also keineswegs eine anthropologische Dauerstruktur. Und deshalb, wie Koselleck wähnt, prognosetauglich. Dazu gleich noch mehr. Zunächst will ich betrachten, welche Bedeutung Koselleck der Sprache für Wiederholungsstrukturen beimisst.

16 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, übersetzt u. hg. v. Helmuth Vretska u. Werner Rinner, Stuttgart 1966 u. 2000, S. 451–459, hier S. 452. 17 Koselleck, Unbekannte Zukunft, S. 220.

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IV. Ereignis – Dauer und Wiederholungsstrukturen – Sprache Sprache steht im Kern von Kosellecks Historik, aber er hat stets darauf bestanden, dass Geschichte sich im außer-sprachlichen Geschehen ereigne, das niemals vollständig zur Sprache gebracht werden könne. Die Differenz zwischen Geschichte als Ereignis und sprachlich dargestellter Geschichte sei unüberbrückbar. Das führe ich nicht weiter aus; Kosellecks Historik wird in anderen Beiträgen untersucht. Ich betrachte nur Aspekte, die auf seine Anthropologie hinführen.18 Historik nennt er in Auseinandersetzung mit Gadamers Hermeneutik die »Lehre von den Bedingungen möglicher Geschichte«. Hermeneutik hingegen sei das, »was man sprachlich ermöglichte und sprachlich vermittelte Geschichte nennen mag.« Historik verweist also für Koselleck auf »Handlungszusam­menhänge«, Hermeneutik auf »deren Verständnis«.19 Aber beide, Historik und Hermeneutik, vermögen das geschichtliche Geschehen nur sprachlich zu erfassen und zu analysieren. Doch anders als in hermeneutischen Fächern dienen in der Geschichtswissenschaft Texte nur als Weg zu einer »Wirklichkeit«, die »außertextlich« sei.20 Die immer nur perspektivische historiographische Annäherung an diese Wirklichkeit geschehe über Sprache und über Theorie. Texte werden zur historischen Quelle, indem sie durch Fragen historiographisch erschlossen werden. Doch ihre Aussagekraft bleibt begrenzt »Kein Quellentext enthält jene Geschichte, die erst mit Hilfe textlicher Quellen konstituiert und zur Sprache gebracht wird.« Dazu sei Theorie erforderlich. Welche Theorie hilfreich ist, hänge davon ab, welche Fragen an die Geschichte gestellt und welche geschichtlichen Zeiträume betrachtet werden. Theorien aus den Anthropologien oder Fächern, die professionell nach Anthropologie fragen, verwendete Koselleck nicht. Das kann nicht überraschen. Koselleck hat es generell abgelehnt, Theorien aus anderen Fächern zu übernehmen – etwa um aus der Geschichte eine historische Sozialwissenschaft zu machen, oder eine historische Kulturwissenschaft, oder was auch immer. Er scheute zudem die »Flugsanddünen reiner Methodendebatten«.21 Die Geschichtswissenschaft müsse ihre Untersuchungsobjekte von den temporalen Strukturen her erschließen. Der historischen Anthropologie, für die der späte Koselleck warb, traute er zu, »Schneisen in diese Richtung zu schlagen«. Sie sollte auch die übliche Periodisierung in unserem Fach aufbrechen, die »Zeitalter […] pluralisieren«, wie er es nannte, und den eurozentrischen Blick in die Welt überwinden.22 Er hat das selber nicht weiter ausgeführt, doch wir dürfen annehmen, dass die Anthropologie den 18 Vgl. dazu vor allem Hoffmann, Zur Anthropologie geschichtlicher Erfahrungen. 19 Koselleck, Reinhart, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten, S. 97–118, hier S. 99, 111, 112. 20 Ebd. S. 116. Das folgende Zitat S. 117. 21 Koselleck, Reinhart, Geschichte, Recht und Gerechtigkeit, in: ebd., S. 336–358, hier S. 337. 22 Ders., Wiederholungsstrukturen in Sprache und Geschichte, in: ders., Vom Sinn und Unsinn der Geschichte. Aufsätze und Vorträge aus vier Jahrzehnten, hg. von Carsten Dutt, Frankfurt a. M. 2010, S. 96–114, hier S. 99.

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späten Koselleck auch deshalb faszinierte, weil sie sich mit Dauer beschäftigen muss.23 Dauer und Wiederholungsstrukturen – sie rückte er ins Zentrum seiner Historik. Dauer, so sagte er 2003/04 im Gespräch über »Geschichte(n) und Historik«, sei ein »Aktionsmodus, der immer wieder einmalig ist, aber in der Summierung von Einmaligkeiten Wiederholungen enthält«. Aus Quellen sei diese Art von Dauer nicht zu erkennen. Das Vetorecht der Quellen, um Kosellecks vielzierte Formulierung aufzunehmen, die auch viele Theorieabstinenzler im Fach Geschichte erwärmt, ist hier also begrenzt.24 Um Strukturen langer Dauer aus strukturblinden Quellen zu erschließen, bedürfe es einer Theorie, die in der Geschichtswissenschaft nicht entwickelt worden sei.25 Auch von ihm nicht, wie er betonte.26 Aber Koselleck hat in einigen Aufsätzen drei »formale Grundbestimmungen« benannt, von denen er meinte, dass sie »alle menschlichen Geschichten in Bewegung setzen und somit die Zeitigung der Ereignisse hervortreiben«: Oben – Unten, Innen – Außen, Früher – Später. Sie seien »gleichsam natural vorprogrammiert«.27 Ich schmälere nicht Kosellecks Theorie-Leistung auf dem Wege zu einer anthro­ 23 Dazu schon: ders., Über die Theoriebedürftigkeit der Geschichtswissenschaft, in: ders., Zeitschichten, S. 298–316, hier S. 305. 24 Diese Formulierung hat Koselleck häufiger gebraucht; ders., Archivalien – Quellen – Geschichten, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 68–79, hier S. 78; im selben Band auch: ders., Liberales Geschichtsdenken, S. 198–227, hier S. 219; ders., Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, S. 80–95, hier S. 92 (Aussagesperren). Im Gespräch mit Dutt (vgl. Koselleck, Reinhart, Geschichte(n) und Historik, in: Dutt, Carsten / ders., Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013) argumentiert er mit der »Kontrollinstanz« der Quellenexegese gegen Hayden White. 25 Es gibt aber Versuche zu begründen, warum immer dann, wenn nach langen Geschichtslinien gefragt wird, die Kriterien des Untersuchenden ausschlaggebend sind und nicht die Quellen, die einer Vielzahl von Entwicklungslinien, auch konkurrierenden, zugeordnet werden könnten. So Alexander Gerschenkron: »At all times and in all cases continuity must be regarded as a set of tools forged by the historian rather than as something inherently and invariantly contained in the historical matter. To say continuity means to formulate a question or a set of questions and to address it to the material. […] It is the historian who by abstracting from differences and by concentrating on similarities establishes the continuity of events across decades or centuries filled with events that lack all pertinency to the continuity model. It is the historian who decides how far back the causal chain should be pursued and by his fiat creates its ›beginning‹ as he creates endogenous and exogenous events. And it is the historian’s own model in terms of which changes in the rate of historical change are defined.« Gerschenkron, Alexander, On the Concept of Continuity in History, in: Proceedings of the American Philosophical Society 106/3 (1962), S. 195–209, hier S. 208. 26 Koselleck, Reinhart, Geschichte(n) und Historik, in: Dutt, Carsten / ders., Erfahrene Geschichte S. 47–67, hier S. 55. Dieses Gespräch wurde 2003/04 geführt und 2005 noch von Koselleck redigiert (Vorwort Dutt). 27 Koselleck, Wiederholungsstrukturen, S. 103. Von diesen 3 Kategorien handeln etliche seiner Aufsätze. Vgl. ders., Historik und Hermeneutik, S. 101–110 (hier weiter aufgefächert in 5 Kategorien); ders., Geschichte(n) und Historik, S. 49 f.; ders., Sprachwandel und Ereignisgeschichte, in: ders., Begriffsgeschichten, S. 32–55, 35. Innen – Außen; dieses Oppositionspaar hat er ausdifferenziert in ders., Feindbegriffe, in: ebd., S. 274–284.

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pologisch fundierten Historik, wenn ich nun abschließend offene Fragen erörtere und womit er gescheitert ist.

V. Anthropologische Prognostik als Wiederkehr der Historia Magistra Vitae – Kosellecks Scheitern Typisch für Koselleck ist es, dass er seine drei Formalkategorien, in denen er eine »Anthropologie geschichtlicher Erfahrung« gespeichert sieht, nicht mit Theorieangeboten anderer Fächer begründet, auch nicht aus philosophischen. Koselleck entwickelte seine theoretischen Einsichten in die Anthropologie menschlichen Verhaltens in seinem Dauergespräch mit den Großen der europäischen Geistesgeschichte; nicht zuletzt in seinen Gesprächen mit Goethe. Bestätigt findet er bei Goethe auch, dass diese Oppositionspaare sich »ständig wiederholen, aber inhaltlich verschieden auffüllen« lassen. Und dass sie »jede Zielgerichtetheit« ausschließen.28 Geschichte grundsätzlich nicht teleologisch zu deuten, war für den philosophischen Historiker Koselleck eine Art intellektueller Rüstung gegen geschichtsphilosophische Versuchungen. Für ihn, der der »vergangenen Geschichte Daueraussagen«29 abgewinnen wollte, war diese Panzerung notwendig, weil die »Daueraussagen« Grundlage für eine historische Prognostik und somit für eine Wiederbegründung der Historie als magistra vitae sein sollen. Eine Wieder­ begründung ohne Geschichtsphilosophie und ohne -ismen. Wenn ich nichts in seinem Werk übersehe, hat Koselleck überall dort, wo er gelungene historische Prognosen vorführt und auch dort, wo er selber zum Prognostiker geworden ist, die drei formalen anthropologischen »Grundbestimmungen […], die alles menschliche Geschehen in Bewegung setzen«, stets inhaltlich gefüllt. Warum das notwendig war, ist nicht schwer zu erkennen. Oben – Unten, Innen  – Außen, Früher  – Später, diese formalen »Grundbestimmungen« rufen ein offenes, indifferentes Spektrum von Handlungsmöglichkeiten auf, das höchst unterschiedlich gefüllt werden kann und historisch auch gefüllt worden ist. Nehmen wir als Beispiel Oben – Unten. Für die treffsichere Prognose Diderots zieht Koselleck diese Formalkategorie heran und präzisiert sie, indem er sie einengend und präzisierend in »Herr und Knecht« übersetzt.30 Auch daraus lässt sich aber keine historisch fundierte Wahrscheinlichkeitsaussage für eine mögliche Zukunft gewinnen, denn der Herr kann den Knecht totschlagen oder ihm das Weiterleben ermöglichen. Das »Totschlagenkönnen« hat Koselleck in seiner Auseinandersetzung mit Gadamer und Heidegger ausdrücklich als anthropolo­ 28 Koselleck, Reinhart, Goethes unzeitgemäße Geschichte, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 286– 305, alle Zitate S. 298. 29 Ders., Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: ders., Begriffsgeschichten, S. 9–31, hier S. 23. 30 Dieses Gegensatzpaar hat Koselleck bereits in seinem Brief von 1953 (Anm. 3) prognostisch genutzt.

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gische Grundstruktur ausgewiesen.31 Beides, den Unterlegenen totschlagen oder ihn leben lassen, ist uns aus der Geschichte vertraut. Deshalb musste Diderot auf weitere Geschichtserfahrungen zurückgreifen. Sie beziehen sich auf bestimmte Ereignisse – den Staatsstreich Gustavs III., den Koselleck Revolution nennt32 – oder auf ein Geschehen, das schon in der Antike theoretisch als mögliche Wiederholungsstruktur gedeutet worden ist. Koselleck verwies auf Polybios, Thukydides und Tacitus. Aber diese Wiederholungsstrukturen sind nicht anthropologischmenschheitsgeschichtliche, sondern an bestimmte historische Bedingungen geknüpft. Sie erst überführen die anthropologische Struktur in menschliches Handeln, das situativ bestimmt ist. An dem von Koselleck oft herangezogenen Melier-Dialog habe ich das schon angedeutet. Dass die überlegene Macht von der anthropologischen Möglichkeit des Totschlagenkönnens im Krieg keinen Gebrauch macht, bindet der MelierDialog an die freiwillige Unterwerfung seitens des Schwächeren. Dass aber dessen Verzicht auf Verteidigung durch Krieg ebenfalls in Tod oder Vertreibung führen kann, wusste man schon in der Antike. Zu Diderots Zeiten kannte man neue Beispiele insbesondere aus der Geschichte der Kolonisierung. Und in der Zeit, als die tschechoslowakische Führung sich entscheiden musste, war es auch in Europa lebensgefährlich, sich auf den Melier-Dialog als prognosetaugliche Variante in der Dauerstruktur Oben – Unten, »Herr und Knecht« zu verlassen. Die Exil­regierung unter Beneš wählte einen anderen Weg. Nicht den der Melier, aber auch nicht den von den Athenern geforderten. Sie akzeptierte die Anthropologie der Macht, anerkannte aber nicht die Unterwerfung, die im Land vollzogen worden war. Sie setzte vielmehr auf eine Zukunft an der Seite kriegsmächtiger Verbündeter, ohne aber die eigenen Landsleute, die keinen Bündnispartner an ihrer Seite hatten, in einen Krieg zu treiben. Er hätte vielleicht deren Vernichtung bedeutet. Die Prognosestruktur des Melier-Dialogs musste also mit etlichen zeitspezifischen Möglichkeiten ausgefüllt werden, um sie auf die damalige Situation der Tschechoslowakei anzuwenden. Eine zynische Antwort auf dieses Problem, dass die historisch fundierte Bedingungsprognose nicht sicher zwischen den Möglichkeiten Totgeschlagenwerden und Überlebendürfen abwägen kann, wäre, mit Koselleck zu sagen: »die Geschichte lehrt eben alles, auch das Gegenteil.«33 Wer wollte daraus eine Prognose wagen? Koselleck hat sie gewagt, allerdings in der komfortablen Situation dessen, der nicht in existentieller Not die Zukunft prognostizieren musste, als er im Jahre 2000 auf »Das Zeitalter des Totalen« zurückblickte.34 Er ließ es im ausgehenden 19. Jahrhundert beginnen und suchte aus den Grundstrukturen des 20., wie er sie sah, eine Bedingungsprognose für das 21. abzuleiten. Es ist eine weltgeschicht31 32 33 34

Ders., Historik und Hermeneutik, S. 101. Ders., Unbekannte Zukunft, S. 211. Koselleck, Wiederholungsstrukturen, S. 109. Ders., Hinter der tödlichen Linie. Das Zeitalter des Totalen, in: ders., Sinn und Unsinn, S. 228–240, folgende Zitate S. 240.

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liche Betrachtung. Ob in ihr die anthropologischen Dauerstrukturen, die er aus der europäischen Geschichte und im ständigen Gespräch mit deren großen Denkern entwickelt hat, unverändert gelten, hat er nicht erörtert. Unklar ist, ob sie für ihn hier überhaupt eine Rolle spielten. Er prognostizierte nämlich nun ohne erkennbare theoretische Rückversicherung an seiner historischen Anthropologie. Koselleck erkannte im Rückblick auf das 20. Jahrhundert »drei strukturelle Problemfelder […], innerhalb deren und zwischen denen die kommenden Konflikte aufbrechen werden.« (1) Die Konkurrenz zwischen Marktwirtschaft und den Postulaten sozialer und individueller Menschenrechte; (2) die Notwendigkeit zu räumlich begrenzten übernationalen Zusammenschlüssen, um sich wechselseitig zu schützen; (3) die Konflikte, die von den Nationalstaaten weiterhin ausgehen werden. Man kann diese drei Problemfelder ohne weiteres Kosellecks anthropologischen Dauerstrukturen zuordnen, wenngleich sie hier nicht notwendig sind. Für diese ›strukturelle Problemprognose‹ genügt historisches Wissen über die Geschichte des 20. Jahrhunderts. Doch wenn wir in ihr Kosellecks historisch-anthropologische Prognostik aufsuchen wollen, so gilt es zu betonen: um diese drei »strukturellen Problemfelder« für die Prognose auszuwählen, bedarf es eines Wissens, das den formalen Strukturen von »gleichsam metahistorischer Dauer«35 nicht zu entnehmen ist. Man wird dieses Wissen vermutlich auch dem Primärerleben des Überlebenden im »Zeitalters des Totalen« zuschreiben dürfen. Manfred Hettling, Stefan-Ludwig Hoffmann und Reinhard Mehring analysieren es in diesem Buch als Kosellecks Forschungsprogramm, ich versuche, es mit Kosellecks Annäherung an eine anthropologische Historik zusammenzuführen. Als Bilanz ist festzuhalten: Die anthropologisch fundierte Historik, wie sie sich in Kosellecks Werk abzeichnet, bietet mit ihren formalen Dauerstrukturen keine Grundlage für eine historische Prognostik. Die Historie als magistra vitae hat er nicht mit neuer Begründung wieder in ihr verlorenes Amt einsetzen können. Hier ist er gescheitert. Ein außerordentlich anregendes Scheitern. Warum das Scheitern zu erwarten war, hat George H. Mead bereits 1929 in seiner Studie »The Nature of the Past« überzeugend vorweggenommen. Mit ihm hat sich Koselleck nach Ausweis der Register in seinen vier Aufsatzbänden nicht auseinandergesetzt. Vergangenheit ist bei Mead wie bei Koselleck ein außer-sprachliches Geschehen, das über die Sprache angeeignet wird. »Die Vergangenheit ist das, was geschehen sein muss, bevor es in der Erfahrung als eine Vergangenheit gegenwärtig ist.« Alles Künftige stehe in Kontinuität zur Vergangenheit, doch erst »wenn es tatsächlich auftaucht.« Denn die »Vergangenheit besteht aus den Relationen der früheren Welt zu einer auftauchenden Sache  – Relationen, die daher mit der Sache aufgetaucht sind.«36 Deshalb verändert die Zukunft unsere 35 Koselleck, Wiederholungsstrukturen, S. 103. 36 Mead, George Herbert, The Nature of the Past, in: Cross, John (Hg.), Essays in Honor of John Dewey, New York 1929, neu aufgelegt 1970, S. 235–242; Zitate nach der deutschen Ausgabe: Mead, George Herbert, Das Wesen der Vergangenheit, in: ders., Gesammelte Aufsätze. Bd. 2, hg. von Hans Joas, Frankfurt a. M. 1987, S. 337–346, alle Zitate S. 341, 345, 346.

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Wahrnehmung der Vergangenheit. Möglicherweise erkennen wir neue Wiederholungsstrukturen in der Geschichte oder zuvor nicht wahrgenommene Grenzen von Dauerstrukturen, die wir bisher kannten. Das Neue erschließt sich uns als Kontinuität oder als Bruch zur Vergangenheit jedoch erst, wenn es auftaucht. Auch wer Zukunftsmöglichkeiten aus anthropologisch-metahistorischen Dauerstrukturen abzuleiten sucht, bleibt – folgt man Mead – darauf angewiesen, dass sich das Künftige bereits abzeichnet. Sonst ließe sich der formalen Dauerstruktur keine einigermaßen verlässliche Bedingungsprognose abgewinnen, an der man sein Handeln ausrichten könnte. Wenn die Menschheitsgeschichte Totgeschlagenwerden und Lebenlassen gleichermaßen als anthropologische Möglichkeiten in konkreten Entscheidungssituationen ausweist, wird man allein daraus keine Pro­gnose zur Verminderung des Risikos, totgeschlagen zu werden, ableiten können. Es müssen andere Erfahrungen und anderes Wissen hinzukommen, um sich gegenüber einer unbekannten Zukunft, die beide Extremmöglichkeiten birgt, situativ rational verhalten zu können – rational im Sinne von Milderung des Risikos, die gegenwärtige Gefahr nicht zu überleben, indem man versucht, die Entwicklungsmöglichkeiten zu prognostizieren. Wer die Geschichte nicht auf ein Ziel zulaufen sieht, wird sich damit bescheiden müssen, die Zukunft erst dann in Kontinuitäten zur Vergangenheit einordnen zu können, wenn sie sichtbar wird. Mit Kant zu sprechen, der zu Kosellecks wichtigsten Gesprächspartnern auf dem Weg zu einer neuen Historik gehörte: Eine »wahrsagende Geschichtserzählung des Bevorstehenden in der künftigen Zeit« ist nur möglich, »wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum voraus verkündigt.«37 Anders gesagt: Wer Zukunft aus der Vergangenheit verlässlich voraussagen will, muss zur politischen Tat aufrufen, um die prognostizierte Zukunft herbeizuzwingen. Kosellecks Historik will eine solche Anleitung nicht bieten. Sie kennt kein Ziel der Geschichte. Auch deshalb kann sie die Historie als magistra vitae nicht wiederbeleben. Auch nicht in Form einer Bedingungsprognose aus anthropologischen Dauerstrukturen von »gleichsam metahistorischer Dauer«38.

37 Kant, Immanuel, Der Streit der philosophischen Fakultät mit der juristischen. Zweiter Abschnitt, in: ders., Werke in sechs Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. VI, Darmstadt 1966, S. 351. Zu Kants drei Varianten der Geschichtsprognose und seinem Vertrauen, der Mensch sei in der Lage, den Sinn der Menschheitsgeschichte a priori zu erkennen, sodass ihn die Geschichte belehre, ohne seine Lehrmeisterin zu sein, siehe Langewiesche, Dieter, Über Geschichte  a priori und die Machbarkeit von Geschichte als Fortschritt. Der Streit der Fakultäten, 2. Abschnitt, 7–10, in: Höffe, Otfried (Hg.), Immanuel Kant. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Berlin 2013, S. 157–174. 38 Koselleck, Wiederholungsstrukturen, S. 103.

Anhang

Reinhart Koselleck

Der Jakobinismus und die Französische Revolution (1950)1

Drei zukunftsträchtige Ereignisse kennzeichnen das 18. Jahrhundert als den Beginn der weltgeschichtlichen Epoche, in der wir heute stehen. Es ist dies erstens der Einbruch Russlands in die europäische Staatenwelt. Die Russen stehen um die 1 [Erläuterungen zur Textgestaltung: a) Von Koselleck wurde handschriftlich auf dem Titelblatt – wohl Jahre später – vermerkt: »Referat in Alfred Webers Wohnung 1948/49?«. Gehalten wurde das Referat aber im WS 1949/50. Am 7.1.1950 schrieb Alfred Weber eine Postkarte an Koselleck und bat ihn, »wegen Ihres nächsten Referates über Brinton« bei ihm vorzusprechen; sein Vater fragte in einem Brief (19.1.1950), »gestern war Dein Referat bei Alfred Weber, wie ist es Dir bekommen?«; NL Arno Koselleck, Privatarchiv Koselleck. b) Der Text liegt als Durchschlag einer Schreibmaschinenfassung vor. Zwei handschriftlich in den Text eingeschobene Seiten wurden in den Text kursiv integriert, ebenso wurden ­einige kürzere handschriftliche Ergänzungen Kosellecks kursiv gesetzt und kenntlich gemacht. Durchgestrichenes wurde nicht vermerkt. Abkürzungen (wie Jh., Franz., etc.) wurden stillschweigend aufgelöst, offensichtliche Tippfehler verbessert. Handschriftliche Korrekturen Kosellecks (Verbesserung von Tippfehlern, etc.) wurden ohne besondere Kennzeichnung erfasst. Da Kosellecks Schreibmaschine offenbar kein »ß« enthielt, wird entgegen der damaligen Schreibweise konsequent »ss« geschrieben, außer in den handschriftlichen Ergänzungen. c) Die Anmerkungen liegen handschriftlich vor, sie wurden von Koselleck nach den Seitenzahlen des Textes nummeriert (also etwa Seite 1, Anm. 1 bis 5; Seite 2, Anm. 1, Seite 3, Anm. 1, etc.); bei den beiden handschriftlichen Seiten steht der Anmerkungstext jeweils am Rand. Im erhaltenen Manuskript waren die Anmerkungsziffern handschriftlich eingefügt worden. Für am Rand notierte Anmerkungen und einzelne Endnoten des Manuskripts fehlen im Text vereinzelt die dazugehörigen Anmerkungsziffern. Da es sich in der Regel um Zitatnachweise handelt, wurden die Zitate und Belege überprüft und die Anmerkungsziffern im Text an der entsprechenden Stelle eingefügt, diese Ergänzungen durch die Herausgeber sind durch ein * am Beginn jeder Anmerkung gekennzeichnet. Für die leichtere Lesbarkeit wurden Kosellecks Endnoten in Fußnoten umgewandelt und einheitlich durchnummeriert. Anmerkungen der Herausgeber stehen in eckigen Klammern. d) Von Koselleck verwendete Abkürzungen wurden in die herkömmliche Zitierweise umgewandelt (bei der ersten Erwähnung vollständige Titelangabe, anschließend Kurztitel). Koselleck listete folgende Kürzel auf: CB Brinton, Craine, Europa im Zeitalter der Franz. Rev., Wien 1939. T Taine, Die Entstehung des modernen Fr., deutsch v. Katscher, Leipzig 1875, I, II/1 u. 2. Bou Bourgin, [Georges] Die franz. Rev. (Hartmanns Weltgeschichte […]), Stuttgart 1922. R Robespierre, Erinnerungen. Alle bibliographischen Angaben wurden vervollständigt, die Zitate zur Verifizierung der von uns zugeordneten Titel jeweils überprüft (in den handschriftlichen Ergänzungen stehen im Manuskript als Belegnachweise nur der Autorname und eine Seitenzahl am Rande).]

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Mitte des Jahrhunderts in Berlin und zu seinem Ausgang am Rhein, um seitdem als stetige Drohung des asiatischen Weltraumes auf den Nationalstaaten des »Erdteils« Europa zu lasten. Das zweite Ereignis ist die Emanzipation Amerikas, in dem sich 1776 die USA auch politisch als eine neue Welt konstituieren. Ein grosser französischer Historiker, Alexis de Tocqueville, erkannte im Jahre 1835 die säkulare Bedeutung dieser Vorgänge und stellte seine berühmte Prognose, dass in diesen beiden Mächten die Zentralisierung und Demokratisierung der Menschheit ihre Vollendung finden werde. Tocqueville durchschaute auch das dritte Ereignis: die Französische Revolution als religiösen Vorgang. »Die Französische Revolution«, sagt er, war zwar »eine politische und soziale Revolution«2, aber ihr Charakteristicum liegt darin, dass sie »mehr nach der Wiedergeburt des menschlichen Geschlechts als nach der Umgestaltung von Frankreich«3 trachtete. Sie bot in jeder Hinsicht »den Aspekt einer religiösen Umwälzung«4. Tocqueville analysiert sie mit dem Einbruch des Christentums in die antike Welt, und er sieht auch gleich den entscheidenden Unterschied, dass nämlich das Christentum auf ein Jenseits, die Französische Revolution aber auf »diese Welt«5 gerichtet sei. Diese Art von Diesseitsreligion kommt im 18. Jahrhundert zum Durchbruch. – Die Reformen Peters des Grossen legen den Grund für ihren Einzug in das ungeheure Potential des russischen Raumes; und so bezeichnet sich Lenin6 sinnvoll als den Testaments­ vollstrecker dieses Zaren. Mit dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg bemächtigt sie sich der nicht minder grossen Möglichkeiten des amerikanischen Kontinents. Durch die Französische Revolution schliesslich gibt sie auch ihrem Ursprungslande Europa das Gepräge. Es kann kein Zweifel sein, dass sich hier ein einheitlicher Impuls global auswirkt. »La moitié de la Révolution du monde est déjà faite; l’autre moitié doit s’accomplir«7, sagt Robespierre. »Die eine Hälfte der Weltrevolution ist bereits vollzogen, die andere Hälfte muss sich noch vollenden.« »Le globe«, der Erdball, ist gleichsam der metaphysische Erfahrungshorizont dieser Art von politischer Religion, die – im 18. Jahrhundert zum Ausbruch gekommen – heute nach Isolierung der Kirchenreligionen in zwei verschiedene Prägungen die Gestaltung eben dieser Erdkugel in Angriff nimmt. Für die Franzosen selber sind freilich die Ereignisse des letzten Jahrzehnts vor 1800 zu den historischen Konserven ihrer geistigen Verpflegung geworden, die zur Stillung ihrer nationalen und politischen Bedürfnisse herangezogen wurden. Die Revolution dient ihnen zur politischen Legitimierung oder – wenn auch vorzüglich nur vor der 4. Republik – zu gegenseitiger Diskriminierung. Die Revolution ist gleichsam die Linse, in der sich das politische Spektrum einer jeweiligen Situa­ 2 De Tocqueville, Alexis, Das alte Staatswesen und die Revolution, übers. von Arnold Boscowitz, Leipzig 1857, S. 22. 3 Ebd., S. 14. 4 De Tocqueville, Alexis, L’ancien Régime et la revolution, Frankfurt a. M. 1909, S. 6. 5 Ebd., S. 14. 6 Zitiert bei: Schnabel, Franz, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, Bd. II: Monarchie und Volkssouveränität, Freiburg 1949, S. 21 (ohne Quellenangabe). 7 * Garaudy, Roger (Hg.), Les orateurs de la revolution française, Paris 51946, S. 77.

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tion bricht. Die Stellungnahme auch der Historiker erhält so ihre eigentümliche Färbung. Für die einen ist die Revolution eine Böswilligkeit (Cochin) oder ein Missverständnis (Gaxotte), das entweder schon 1789 (Madelin) oder erst 1793 (Quinet) einsetzt; für die anderen ist sie ein politisches Ideal (Aulard), dem man sich – je nach der sozialen Haltung des Betrachters – schon 1789 oder wiederum erst 1793 (L. Blanc) angenähert habe. Sieht man von den lebensnahen (Michelet) aber romantisierenden Schilderungen (Carlyle, Lamartine) aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab, so teilen sich die Lager seit den Veröffentlichungen von Tocqueville und Taine in zwei grosse Gruppen. Der Ergebnisse des konservativliberalen Taine bedienten sich auch die Royalisten, Katholiken und Bonapartisten während sich die kleinbürgerlichen Radikalsozialisten und Sozialisten überhaupt auf Aulard oder Mathiez stützen.8 – Viele der Gegensätze werden in dem 1934 erschienen Werk des Harvarder Professors Crane Brinton »The decade of revolution« neutralisiert. Die aussenpolitischen Untersuchungen von Sybel und Sorel zieht er bei seinen Betrachtungen zu Hilfe und er rollt ein sinnvoll vereinfachtes Bild des Revolutionszeitalters vor uns ab. Seine entschiedenste These, mit der er auf Tocqueville zurückgreift und die er bereits in seiner Spezialuntersuchung ausgeführt hat (The Jacobins, New York 1930), betrifft die Jakobiner. Diese Männer, die der Revolution das charakteristische Gepräge gegeben haben, sind für Brinton Träger einer »aktiven Form von Religiosität«. Er sucht keine geistigen oder metaphysischen Quellen, rückt die Ereignisse auch nicht in grosse historische Zusammenhänge, sondern schliesst aus dem psychischen Habitus und der Selbstgewissheit, mit der die Jakobiner ihrem tugendhaften Ziel zusteuerten auf ihre »vollentwickelte […] Religion«9. Brinton ist Soziologe. »Geschichte muss heute soziologisch geschrieben werden«, sagt er, »aber vielleicht wird« die Geschichte »diese Mode ebenso überleben, wie sie andere Moden überlebt hat. Vielleicht gibt es doch noch etwas Tiefgründigeres als Moden«, fügt er hinzu. Dieses »vielleicht« gibt ihm eine eigentümlich unbeschwerte Sicherheit des Urteils. Er ist weniger auf Gründe aus, als dass er die Umwälzungen durch die Art seiner Schilderungen transparent macht. »Abstrakte Grundsätze und konkrete Gelüste« stehen ihm in dauernder Wechselwirkung. Die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Zusammenhänge belässt er – zumindest was die Kausalverhältnisse betrifft – in der erforderlichen Schwebe. Es ist die Aufgabe dieses Referates, die sozialen und wirtschaftlichen Wandlungen im revolutionären Frankreich zu schildern und auf Grund von Brintons Untersuchung das historische Agens der Jakobinerreligion aufzuzeigen. Die totale Verschuldung des Staates war zwingender Anlass für Louis XVI., die Reichsstände zur Neuordnung des Steuerwesens nach Versailles zu berufen. Bereits 1 ½ Monate nach ihrem Zusammentritt dekretierte der König die unter8 * Die Ausführungen stützen sich wesentlich auf die Einleitung von Peter Richard Rohden in dem Buch von Brinton, Crane, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, Wien 1939. 9 * Ebd., S. 425 [bei Brinton: »aktiver Religiosität«, S. 426].

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schiedlose Besteuerung aller Franzosen, d. h. das wesentliche10 wirtschaftliche Vorrecht der Privilegierten wurde für nichtig erklärt. Das Steuerbewilligungsrecht ging an die Stände über. Der 3. Stand aber war keineswegs gewillt, darin ihr einziges Recht zu sehen. Der 3. Stand und etwa ein Viertel der Privilegierten wünschten eine »Verfassung«. Die Fassade des Feudalstaates brach binnen kurzem zwischen den wirtschaftlichen Wünschen des Königs, die zugleich die seiner bürgerlichen Gläubiger waren, und den politischen Forderungen der Nationalversammlung, in der diese Gläubiger vertreten waren, zusammen. Und es sollte sich erweisen, dass auch das Königtum ohne seine feudale Verkleidung nicht mehr lebensfähig war. Die Hofpartei zeigte schon in der ersten Phase der revolutionären Entwicklung, in der es von 1789 bis 1792 darum ging, die neue Verfassung und Königtum zusammenzuschweissen, ihre gänzliche Unfähigkeit, den Kampf an einer Bürgerkriegsfront zu bestehen. Ihrem Vertreter im Parlament, dem Abbé Maury, mangelte jegliches politisches Programm.11 Die höfischen Zeitungen, z. B. die »Actes des Apotres« waren zwar geistreich und boshaft, aber nie gemein, somit unfähig in einer Situation, in der die öffentliche Meinung bereits einen Machtfaktor dar­ stellte.12 Die Neuwahlen zur Assembleé législative im Oktober 1792 brachten bereits keinen Royalisten mehr in das Parlament. Binnen 10 Monaten sollte das Königtum beseitigt sein. »Nicht an der Entschlussunfähigkeit« des tugendsamen und »begriffstutzigen Königs«, nicht an der Bosheit der Privilegierten ist das monarchische Experiment gescheitert«, stellt Brinton fest.13 Es scheiterte an den Aktivisten der Revolution. Von ihnen wird später die Rede sein. Zunächst soll der Zusammenbruch der bevorrechtigten Stände geschildert werden. Der 300.000 Köpfe zählende Adel ging keineswegs mit der Hofpartei konform, vor allem der Provinzadel verhielt sich weitgehend indifferent. Von den 300 Vertretern gehörten14 über 50 zu den Reformern, die unter sich wieder uneins waren in der Ein- oder-Zweikammerfrage. Der Adel erklärte am 4. August 1789 freiwillig – auf Antrag de Noailles hin, dem Schwager Lafayettes – seinen Verzicht auf die feudalen Vorrechte, und im November konnte deklariert werden: »In Frankreich gibt es keine Standesunterschiede mehr«. Dies bedeutete die Anerkennung des totalen Zusammenbruchs der französischen Verwaltung und Justiz, die vor allem in den unteren Instanzen noch an die Seigneurien gebunden war. – In den Durchführungsbestimmungen wurde streng zwischen den persönlichen und dinglichen Lasten unterschieden: erstere fielen ganz fort, letztere mussten aus Achtung vor dem heiligen Eigentum abgekauft werden (für den 20–25fachen Betrag der jährlichen Abgaben). Wenn die Bauern diesen Bestimmungen auch nicht nachkamen, so ist es doch bezeichnend für den zeitweise ruhigen Verlauf der Revolutionsjahre, dass faktisch erst im Oktober 1793 die letzten Feudalrechte gesetzlich 10 * [handschriftliche Einfügung, unsichere Lesart]. 11 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 62. 12 Ebd., S. 63. 13 Ebd. 14 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 47.

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abgeschafft wurden,15 indem alle (nunmehrigen) Pächter adligen Bodens das Eigentumsrecht zuerkannt hielten. Diesen anti-lehensrechtlichen Gesetzen liefen solche nebenher, die auch äusserlich die völlige Rechtsgleichheit herstellen sollten: Abschaffung aller Ehrenrechte, Ehrenzeichen und ähnlicher Dinge, die etwa mit der Gerichts- und Gutsherrlichkeit zusammenhingen. Im Juni 1791 wurde der Adelstitel selber abgeschafft, der König wurde »erblicher Vertreter der Nation«16. Und seit dem 1. August 1793 wurde jedes Haus, an dem ein Wappen sichtbar war, in den Besitz der Nation überführt. Durch die Wählbarkeit der Offiziere und die Einführung eigener Revolutionsheere verlor der Adel auch im Heereswesen entweder die Autorität oder den herkömmlichen Führungsanspruch überhaupt. Entscheidend für die Neugestaltung Frankreichs wurde die Emigration. Viele Adlige, unter ihnen begabte und gemässigte konstitutionelle Monarchisten, räumten schon vor dem Terror das Feld.17 Die wachsende Zahl der Emigranten verstärkte indirekt die Radikalisierung der Revolution. Sie wurden durch ihre Wühlarbeit an den europäischen Höfen in Frankreich diskriminiert, 1790 zu »Feinden der neuen Ordnung« erklärt, ihr Besitz seit dem Februar 1790 beschlagnahmt und dieser schliesslich seit Juli 1792 verkauft. Nach einer Art politischen Selbstmordes wurde also auch die ökonomische Grundlage den Privilegierten gänzlich entzogen. 2–300 Familien, schätzt Taine,18 waren zu Ende der Revolution nur mehr in dem Besitz ihres alten Grundbesitzes. Königstreue Elemente blieben dauernd am Werk; sie halfen 1793 in der Vendée, dem kulturell und wirtschaftlich zurückgebliebenem Gebiet südlich Nantes, den Aufstand entfesseln, der nie ganz unterdrückt werden konnte, aber gerade deshalb zur Verschärfung der Revolution beitrug. Die Vendée diente den Republikanern als stetes Schreckgespenst zur Rechtfertigung des Terrors. Nach dem Sturz der Jakobiner nahmen die Königstreuen in einigen Gegenden sogar das Heft wieder in die Hand; vor allem in Südfrankreich führten die royalistischen »Genossen Jesu« den weissen Gegenterror durch. Schon 1793 drohte in Paris eine bourbonische Reaktion, und 1797 neigten die Wahlergebnisse so bedenklich nach rechts, dass das Direktorium sich zu Zwangsmassnahmen genötigt sah. In diesen Jahren wirkte schon ein »ausgezeichnet organisierter klerikal-royalistischer Parteiapparat«, wie Brinton sagt, »der sich unter dem Namen der Instituts philantropiques verbarg«.19 Seine Hauptstütze waren die nach Frankreich zurückgekehrten Priester. Das Schicksal des Klerus war mit dem der Aristokraten eng verflochten, aber sowenig wie der Adel war der Klerus eine geschlossene politische Kampfgruppe, die klar auf einer konservativen Seite gestanden hätte. Die Geistlichkeit besass ein 15 Bourgin, Georges, Die Französische Revolution, Stuttgart 1922, S. 140 ff. 16 Taine, Hippolyte, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,1, übers. von L. Katscher, Leipzig [ca. 1875], S. 238. 17 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 64 (gegen Taine!). 18 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,1, S. 157. 19 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 355.

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Fünftel des Landes, bezog jährlich 123 Mill. Fr. Zehntabgaben und der Besitz im Werte von 4 Milliarden brachte eine jährliche Rente von 100 Mill. ein.20 Da die Verfassungsgebende Versammlung die Schulden der Monarchie in vollem Umfange anerkannte, die neuen Steuern aber nicht einkommen wollten, sah man sich nach einer neuen Geldquelle um. Die Gläubiger des Staates wollten befriedigt, die Staatsmaschine aber in Gang gehalten sein. Das Auskunftsmittel der Revolutionäre war die Einziehung der geistlichen Güter. Diese wurden am 3. Dezember 1789 der »Nation« zur Verfügung gestellt. Zunächst als Deckung der Staatsschulden gedacht, wurde in Paris damit begonnen, die Nationalgüter auch zu verkaufen, um Geld in die öffentlichen Kassen zu bekommen; eine Massnahme, die bald in ganz Frankreich zur Anwendung kam. Auf diese Art verwandelten sich die Assignaten, die gegen die alten Schuldscheine ausgegeben wurden und zunächst nur verzinsbare Schatzanweisungen waren, in ein allgemeines Umlaufgeld.21 (Die Gegner der Revolutionäre, Priester, Adlige und nicht zuletzt die Königin beteiligten sich anfangs beim Kauf der feilgebotenen Güter.) Es ist eine Ironie der Geschichte, dass gerade die ungeahnten Besitzumwandlungen, die sich aus der wohlbedachten Entmachtung der Kirche ergaben, die Urheber dieser Revolution auch in ein konservatives, ja zum Teil kirchliches Element des neuen Frankreich verwandeln sollten. Weit entfernt davon, den wirtschaftlich entwurzelten Klerus sich selbst zu überlassen, ging man 1790 daran, die römisch-katholische Kirche in eine Staatskirche umzuprägen; ein Prozess, dem Gallikaner und Jansenisten nicht unfreundlich gegenüberstanden. Die kirchliche Hierarchie gipfelte nun in Paris, wo ein Erzbischof mit dem Gehalt von 50.000 fr. residierte, während sich die Besoldung der übrigen Priester bis zu 1200 fr. abstufte. Mönchsgelübde verloren ihre zivilrechtliche Geltung; die meisten Klöster wurden geschlossen und die kirchlichen Wohlfahrtseinrichtungen vom Staat übernommen. Um Staat und Kirche restlos zu amalgamieren, wurden Ende 1790 alle Priester verpflichtet, den Verfassungseid zu schwören. Die Folge war ein heftiger Kampf, dessen Ergebnis noch heute das Gesicht von Frankreich prägt. 50–55 % der Priester weigerten sich, den Beamteneid zu schwören, und fortan gab es im ganzen Lande eine verfolgte romtreue und eine staatliche Paradekirche, die aber ebenfalls nicht die Religion der eigentlichen Revolutionäre vertrat. 1793 wurde auch ihren Vertretern das Tragen der Soutane verboten und die katholische Kirche wurde unterschiedslos zu einer »geächteten Sekte«22 gestempelt, ihre Priester, diese »Fanatiker« wurden wie »Freiwild gejagt und getötet; ihre gottesdienstlichen Handlungen in Wälder und Höhlen verbannt […]« Das entsprechende offizielle Gesetz erliessen die Jakobiner im November 1793. Indes fand die verfolgte Kirche Rückhalt bei den Frauen und vor allem bei der bäuerlichen Bevölkerung, die christlich blieb »in der tief eingewurzelten 20 Taine, Hippolyte, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 1, übers. von L. Katscher, Leipzig [ca. 1875], S. 53 ff. 21 Bourgin, Die Französische Revolution, S. 62 ff. 22 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 114.

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Routine des Alltags.«23 So setzte denn nach dem Sturz der Jakobiner bald der Rückschlag ein. Der Anstoss erfolgte in der Vendée, die sich 1795 die Kultfreiheit wiedererkämpft hatte. Die Kirchengebäude blieben anfänglich noch Staatseigentum, aber aus Klugheitsgründen, um keine weiteren Märtyrer mehr zu schaffen, sah man sich genötigt, allgemeine Glaubensfreiheit zu gewähren; freilich in der Hoffnung, dass im Laufe der Zeit der »katholische Aberglaube« schon verschwinden werde, wie sich der »Moniteur« ausdrückte.24 »So führte Frankreich im Jahre 1795 die Trennung von Staat und Kirche durch.« Laizismus und Katholizismus haben sich in der Revolution erstmalig auf der politischen Ebene konsolidiert. Durch die Darstellung des Schicksals der Privilegierten, ihrer wirtschaftlichen Ruinierung, ihrer vorübergehenden radikalen Terrorisierung und ihres schliesslichen Wiederauftauchens als konservatives Element auch in der Öffentlichkeit wurde gleichsam das negative Relief der Revolution aufgezeigt. Jetzt gilt es, die eigentlichen Träger der Revolution ins Auge zu fassen. Betrachtet man die Massnahmen der Konstituante, der Assemblée législative unter rein wirtschaftlichen Gesichtspunkten, so könnte es den Anschein haben, als wolle sich der homo oeconomicus Handelsfreiheit verschaffen, seinen Besitz erweitern und in der Verfassung die zugehörigen politischen Garantien erkämpfen. Wie berechtigt auch dieser Standpunkt an sich ist und wie sehr er auch zum Verständnis der letzten Revolutionsjahre beiträgt, nicht erklären kann er die Radikalisierung der Revolution, die ein unverkennbar modernes Gepräge trägt. »Von vorne herein standen sich im Parlament zwei Gruppen gegenüber wie sie sich im Laufe der Revolution immer und immer wieder« bildeten: 1. Eine unentschlossene vielgestaltige Gruppe, wohlmeinend, ohne feste Organisation und ohne inneren Halt, aber nicht ohne gewisse Neigung zu Winkelzügen, im grossen und ganzen gewillt, die Dinge so zu lassen wie sie waren; 2. »Auf der anderen Seite eine entschlossene Gruppe, in sich geeint durch ein bestimmtes Ziel und durch den Willen eine neue Ordnung aufzurichten, gut organisiert trotz einer gewissen Verwirrung an der Oberfläche.«25 Zu ihr gehörten die gewandtesten Taktiker und zugleich die wildesten Theoretiker. Es sind die Vertreter der radikalen Linken: Prieur de la Marne, Dubois-Crancé, Pétion, Robespierre, Männer die schon 1789 für das allgemeine Wahlrecht eintraten – kurz die Mitglieder des späteren Jakobinerklubs. »Es ist nun eigenartig zu sehen«, stellt Brinton fest, »wie wenig sich im ganzen Verlauf der Revolution die tatsächliche Zusammensetzung dieses Jakobinerklubs verändert hat.«26: Ein Drittel bis zur Hälfte setzte sich in den Wirren der Ereignisse durch und auch die neuen Mitglieder rekrutierten sich aus der gleichen Schicht. Sie ent-

23 24 25 26

Ebd., S. 76. Ebd., S. 334. * Ebd., S. 43. Ebd., S. 67.

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stammten durchweg27 »dem guten Bürgertum, dem sich bei steigender Radikalisierung der Revolution eine zusehens grössere Anzahl, aber niemals beherrschende »Gruppe« von Handwerkern zugesellte. An Hand der Steuertabellen aus dem Ancien Régime zeigt Brinton auf, »dass sie wesentlich wohlhabender waren, als der Durchschnitt ihrer Mitbürger«. Es sind begüterte und gebildete Geschäftsleute und Akademiker, die sich in den Sociétés de pensée über ganz Frankreich verteilt, schon lange zusammenfanden.28 Eine aktive Minderheit in Paris nun, die anfangs im club breton tagte, sich dann zur Gesellschaft der Verfassungsfreunde erweiterte und im Jakobinerkloster ihre Sitzungen hielt, diese Gruppe fing schon frühzeitig an, mit den literarischen Gesellschaften der grösseren Provinzstädte in Verbindung zu treten, die sich ihrerseits den Verfassungsfreunden, diesen fortschrittlichsten Parisern, angliederten. Ende 1790 existierten bereits an allen Orten Frankreichs diese Gesellschaften. Gemeinsame Vergnügungen, Ausflüge, Bezirksversammlungen, vor allem ein ständiger Schriftverkehr schweisste diese Gruppen zu einer engen Netzorganisation zusammen, die in ganz Frankreich eine aktive Tätigkeit im Sinne der Pariser Zentrale entfaltete. Entscheidend wurde ihr Einfluss auf die öffentlichen Wahlversammlungen, in denen ja seit dem Zusammenbruch des alten Beamtensystems im Herbst 1789 die lokalen Verwaltungen und Richter gewählt wurden.29 Diese radikale Minderheit plante von vorne herein die Einführung der Republik. (In dieser Hinsicht ist Brinton entschieden anderer Ansicht, der für die Erste Republik den »Ruhm der unbefleckten Empfängnis«30 in Anspruch nimmt). Diese Männer besassen eine Generallinie und waren mit Taine zu reden »entschlossen, dieselbe bis in die letzten Konsequenzen zur Anwendung zu bringen«.31 Hegel stellt einmal fest,32 dass der Sieg einer Partei sich darin anzeigt, dass sie sich spaltet. So auch hier: Die erste Spaltung erfolgte nach der Flucht des Königs vor der Wahl der Gesetzgebenden Versammlung (Juni 91)33. Wer jetzt noch für eine konstitutionelle Monarchie eintrat, musste aus dem Jakobinerklub weichen, und solche Leute fanden sich im Klub der Feuillants zusammen. Nach dem Sturz des Königtums zeigte sich wiederum, dass nicht alle berufen waren, das Volk zur Freiheit zu führen (Sept. 92). Wer die Septembermorde von 1792 verabscheute, wer nicht gewillt war, den König aufs Schafott zu schicken, der bewies, dass er kein Freund des Volkes war. Die Girondisten zogen sich aus dem Jakobi27 Ebd., S. 68. 28 * Cochin, Augustin, Les sociétés de pensée et la révolution en Bretagne (1788–1789), Paris 1925. 29 * Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,1, S. 261. 30 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 69. 31 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 158. 32 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, Phänomenologie des Geistes [im Ms. ohne Seitenangabe, vermutlich »eine Partei bewährt sich erst dadurch als die siegende (Hervorhebung im Original), dass sie in zwei Parteien zerfällt«, aus dem Kapitel »Die Wahrheit der Aufklärung«, Hamburg 61952, S. 408]. 33 * [Die drei Zeitangaben als handschriftliche Randergänzungen].

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nerklub zurück, trafen sich in eigenen Salons und verloren damit den Einfluss auf den »Parteiapparat« (Juni 93).34 Im Juni 1793 wurden sie gestürzt und mit dem Fortfall dieser Oppositionsgruppe schwand auch der letzte Schein einer parlamentarischen Regierung. Das Repräsentativsystem war durch die Parteiorganisation aufgesaugt worden. Die Führung schliesslich wurde noch in zwei aufeinanderfolgenden Schlägen von den supralinken Atheisten (Hébertisten) und den korrupten Gemässigten – kurz, von den Bösen – gesäubert und übrig blieb nur eine 4 Monate andauernde oppositionslose Regierung der Tugend. Zwei Momente sind entscheidend für den rasanten Erfolg dieser Gruppe von Aktivisten: ihr religiöses Sendungsbewusstsein und ihr Bündnis mit der Masse, die sie mit einer »frühreif anmutenden Fähigkeit«35 zu leiten wussten. Im ganzen Lande entstanden unter der Patenschaft der Jakobinerklubs die Volksgesellschaften, in denen sich schliesslich nur noch die Radikalen, nach Taines Schilderungen die Radauhelden, zusammenfanden. Die sociétés populaires zählten etwa 1/2 Million Mitglieder und bildeten gleichsam die Ortsgruppen, die Organe zur Verwirklichung der revolutionären Ideen. Schon 1789 berichtet ein Truppenbefehlshaber aus der Provence,36 dass hier »eine auf einheitlichen Grundsätzen beruhende und nach solchen geleitete Vereinigung« vorliege. »Man redet dem Volke ein, der König wünsche allgemeine Gleichheit […] So glauben denn diese Irregeführten, dem Willen des Königs zu entsprechen, wenn sie von ihren vermeintlichen Rechten Gebrauch machen.« Die zertrümmerte zentralisierte Staatsmaschinerie des Absolutismus wurde durch die revolutionäre Netzorganisation von unten herauf neu konstruiert. Die lokalen Wahlversammlungen nahmen dauernden Einfluss auf die von ihnen gewählten Beamten, Pfarrer und Richter, übten einen ständigen Druck auf diese aus, wenn sie nicht in ihrem Sinne handelten und schreckten dabei vor Brandstiftung, Erpressung und Mord nicht zurück. Bereits 1792 beherrschten die Radikalen das politische Kampffeld. Die 750 Mitglieder des Konvents verdankten ihre Würde nurmehr dem »Willen dieser entschlossenen radikalen Minderheit.«37 Die Gemässigten wurden verdrängt und von den 8 Millionen Wahlberechtigten der Franzosen wählten nur mehr knapp 2 Millionen. 1.801.908 stimmten für und nur 11.610 wagten es gegen die neue Verfassung zu stimmen.38 »An den Altar des Vaterlandes berufen, werden heute diejenigen, die Republikaner sein wollen, dem Namen nach bekannt werden, während jene, die die Republik nicht mögen, denunziert werden, ob sie nun reden oder schweigen.«39 Dies erklärte der Justizminister anlässlich der Wahlen. Die Verfassung trat freilich nicht mehr in Kraft. 34 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 216. 35 Ebd., S. 46. 36 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 32. 37 * Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 203 [Unterstreichung im Original mit rot]. 38 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 9. 39 Ebd., S. 11 (Gohier).

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»In Anbetracht des Zustandes, in welchem die Republik sich befindet, kann die Verfassung nicht durchgeführt werden«, erklärte St. Just.40 »Die Umwandlung der jakobinischen Netzorganisation in die Regierung einer französischen Republik«41 hatte sich vollzogen. Über die Ministerien schob sich als oberstes Organ der Wohlfahrtsausschuss, dem zur Seite trat der allgemeine Sicherheitsausschuss, das »Zentralorgan der revolutionären Polizei«42. Es kann kein Zweifel sein, dass uns der erste totalitäre Einparteienstaat entgegentritt. Sein modus vivendi ist der Terror. Im ganzen Lande wählten sich gegenseitig die Jakobiner in die Überwachungsausschüsse und Revolutionstribunale, einer Art ständiger Volksgerichtshof. Die einen wiesen den anderen die Feinde des Volkes zwecks Aburteilung zu. Der Terror vor dem Sturz des Königtums gleichsam illegitim, wird seit dem Frühjahr 1793 legitimiert und zunehmenden präzisiert, um in den Gesetzen des 22. Prairial II seine letzte und vollendete Prägung zu erfahren. 178 Revolutionsgerichtshöfe, darunter 40 Wandertribunale fällen im ganzen Lande Todesurteile.43 »Wozu das langsame Verfahren« ruft ein Kommissar aus. »Wohin sollen diese endlosen Verhöre führen? Wozu braucht ihr alle Einzelheiten zu wissen? Der Name, der Stand, der Tod: und der Prozess ist zu Ende.« Männer, Frauen, Kinder jeden Alters werden gerichtet ja mehr noch: die strafende Hand des Volkes verschonte nicht einmal die Gebäude der vernichteten Besitzer. Nach der Niederwerfung von Marseille, Bordeaux, Toulon und Lyon, die es gewagt hatten trotz der Zerschmetterung der Girondisten in Paris zu revoltieren, wurden die Häuser der Volksfeinde geschleift. In Toulon wurde für immense Geldsummen das gesamte Stadtinnere ausradiert. Die Städte müssen ihren Namen wechseln, denn »sie bekriegten die Freiheit«.44 1.200.000 Tote45 sind die Opfer dieses Despotismus der Freiheit gegen die Tyran­nei.46 Wer waren die Opfer? Couthon, ein Mann des Wohlfahrtsausschusses gibt die klassische Definition:47 »Als Volksfeinde48 sind anzusehen: Alle, die das Volk oder dessen Vertreter täuschen, um sie zu Schritten zu bewegen, die den Interessen der Freiheit zuwiderlaufen […] Alle, die das Volk zu entmutigen trachten, alle, die falsche Gerüchte ausstreuen, alle, die den Versuch machen, das Volk irrezuführen, dessen Aufklärung zu hintertreiben, die Sitten zu verschlechtern, das öffentliche Gewissen zu bestechen«, schliesslich, die es wagen, »die revolutionären oder republikanischen Prinzipien […] in der Entwicklung aufzuhalten.« Kraft dieser Formulierung war es freilich möglich, jeden zu treffen, mögen es auch vorzüglich Adlige, Priester, reiche Bourgeois und konservative Landsleute gewesen sein, die dem Gericht verfielen, die Urteile 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 58. Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S.105. Ebd., S. 223 [im Ms. 221]. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 366. Ebd., S. 48. Ebd., S. 372. Robespierre bei Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 275. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 200. * [Unterstreichung im Original rot].

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gründeten nicht nur in ökonomischen und sozialen Hass, sie wurzelten in einer tieferen Schicht, in dem religiösen Sendungsbewusstsein. Die historische Weltstunde teilte die Menschen in zwei Gruppen. Die Hälfte der Welt ist »in Finsternis getaucht, während die andere erleuchtet ist«, sagt ­Robespierre.49 »Das französische Volk scheint der übrigen Menschheit um 2000 Jahre voraus zu sein.« »Seht die französische Nation, die vorwärts schreitet […] um ihr Geschick und das der Welt zu regeln […]« Ja es scheint eine neue Rasse (une espèce differente) erstanden zu sein.« Die Freiheit der Welt wird zugleich ihr Werk und ihre Belohnung sein.«50 Sie ist gerecht und bekämpft die Verbrechen, sie ist republikanisch und zertrümmert die Krone, sie ist moralisch und nicht verderbt, sie lebt nach Prinzipien und nicht nach Gewohnheiten, sie verkörpert das Genie und keine Schöngeisterei.51 Die Kette dieser Dualismen ist unerschöpflich.52 An sich nichts Neues, liegt das Entscheidende darin, dass seit der Revolution das Böse in die Vergangenheit verwiesen, das Gute aber nunmehr und für die Zukunft auf Erden verwirklicht wird. Wer auf Seiten der Revolution ficht, erfüllt die »Wünsche der Natur«, vollzieht »die Bestimmung der Menschheit«53. Aus derartig religiösem Geschichtsglauben, der sich in die Begrifflichkeit einer politischen Mythologie kleidet, wird der Terror verständlich. Hier wird die »Milde« zum »Verbrechen der Menschheit«.54 (Robespierre) »Wir werden Frankreich eher in einen Leichenacker verwandeln als den Versuch aufgeben, es in unserem Sinne umzugestalten.« (Carrier)55 Neben den Terror tritt die Erziehung, eine Art irdische Erlösung. Terror und Gesinnungsschulung zeigen sich als siamesisches Zwillingspaar. »Ehe die Kinder ihren Eltern gehören, gehören sie der Republik.« (Danton)56 Erziehungspläne werden entworfen, die die gemeinschaftliche Ausbildung der Jugend auf die »Heiligen Gesetze der Gleichheit« gründen. Die Kinder sollen in Schulungsanstalten eingezogen, uniformiert und in Kompanien und Bataillonen gegliedert werden. Alljährlich findet ein grosses Manöver statt, und während der Erntezeit fungiert die Jugend als Landhilfe. (Saint Just)57 In Paris wurde eine solche spartanische »Marsschule« zur Wehrertüchtigung und politischen Schulung der 16 und 17 Jährigen bereits gegründet. (Die allgemeine kostenlose Volkserziehung und die Einführung der neuen Fach- und Realschulen wurzeln in dieser Zeit, sie kamen nur durch die Revolutionswirren nicht zur vollen Einsetzung.) Wenn auch die Erziehung vieler unter der Guillotine ein jähes Ende fand, so erwies sich doch ein 49 Garaudy, Les orateurs, S. 77 ff. (Robespierre). 50 * Merling, Konrad (Hg.)/Robespierre, [Maximilien de], Erinnerungen von ihm selbst, Berlin 1924, S. 313 (darin abgedruckter Aufsatz aus der Zeitung »Verteidiger der Verfassung«). 51 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 75 (Robespierre). 52 * [Handschriftliche Ergänzung am Rand]. 53 * Garaudy, Les orateurs, S. 75 (Robespierre). 54 Robespierre, Erinnerungen, S. 315. 55 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 76. 56 Ebd., S. 105. 57 Ebd., S. 120.

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penetranter Zwang zur Öffentlichkeit als fruchtbares Mittel zur Homogenisierung und »Wiedergeburt«. »Im System der nationalen Feste« erblickte Robespierre »die sanfteste Fessel der Brüderlichkeit und das wirksamste Mittel der Regeneration«.58 Ein Nationalagent erklärte:59 »Früher pflegten die Priester zu sagen, jedes Gemeindemitglied, das 3 Sonntage hintereinander die Messe versäumt, läuft Gefahr exkommuniziert zu werden. Nun lasst uns sagen: jedem Bürger, der nicht an unseren republikanischen Festen teilnimmt, soll die Anstellung verweigert, soll unsere Freundschaft und unser Vertrauen entzogen werden.« Der Kalender, der das neue Millennium eröffnete, sah gleich 6 Nationalfeiertage hintereinander vor. Sie waren geweiht dem Genie, der Arbeit, den edlen Handlungen, den Auszeichnungen, der Meinungsfreiheit und alle 4 Jahre der Republik. Der revolutionäre Kitsch überschwemmte das Land, die Mode wurde auf die schlichten Sans-culottes festgelegt, der einzige Schmuck war nur die Tugend und höchstens revolutionäre Abzeichen und Embleme. Die Theater wurden politisch und sittlich, das heisst also republikanisch überwacht und von den 500 Zeitungen, die in den letzten Jahren aus dem Boden geschossen waren, blieben nur wenige linientreue Blätter übrig. Die Massen wurden immer wieder versammelt und für Robespierre gab es kein »grossartigeres Schauspiel der Natur« als eine »grosse Volksversammlung«.60 Für den Konvent hätte er am liebsten ein Gebäude errichtet, das wenigstens 12000 Leute erfasste.61 Schliesslich entwickelte sich eine Fülle religiöser Riten, die sich aus volkstümlichem, antikem, puritanischem und katholischem Erbe integrierten. Rousseau wurde nach dem Absingen von Chorälen in frommen Gemeinden gelesen, die Verfassung und andere heilige Schriften von den Klubpredigern vorgetragen, und durch innere Épuration erweckten sich die Republikaner. Katholisch ist die Formulierung gewisser Glaubensartikel, die etwa lauten: »Ich glaube an die Freiheit, die keusche Himmelstochter« u. a. Den Gipfelpunkt erreichen diese Bräuche in den »Wundern der heiligen Guillotine«.62 So wenig wie sich die Bedeutung der französischen Revolution in der Umwandlung des absolutistischen Staates in einen absoluten Nationalstaat erschöpft, vielmehr in ihr eine latente Weltrevolution zu sehen ist, so wenig waren auch die Radikalisten bereit, die Revolution an den Staatsgrenzen enden zu lassen. »Wenn Du für die Sache der Revolution kämpfst, dann kämpfst Du zugleich für die Sache der übrigen Völker«, so schreiben Vergniaud und Condorcet63 im Januar 1792 in ihrer Revolutionszeitung. Im April des Jahres hatte der girondistische Flügel der Jakobiner den Krieg durchgesetzt; einen Krieg nicht mehr gegen fremde Staaten, sondern gegen feindliche Regierungsformen, einen Krieg nicht gegen fremde Völker, sondern gegen ihre Unterdrücker. 58 Garaudy, Les orateurs, S. 83. 59 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution. 60 Garaudy, Les orateurs. 61 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3. 62 * Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 273. 63 Ebd., S. 122.

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Die interne Bürgerkriegsfront sollte auf Europa ausgedehnt werden. Die inhumanisierende Wirkung des Totalitätsanspruchs liess denn auch nicht auf sich warten: die Gefangennahme von Hannoveranern, Engländern und Spaniern wurde verboten und der Seekrieg dehnte sich auch kraft Gesetzesbeschluss auf die neu­ tralen Schiffe aus.64 Auch in Innerfrankreich bot der Kriegszustand die geeignete Basis, auf der die revolutionäre Umwälzung vollzogen werden konnte. »[…] der Krieg ist unvermeidbar, um die Revolution zu vollenden«, stellt Isnard im Parlament Dez. 91 fest.65 Die Stellung eines Königs, der mit dem feindlichen Despoten versippt war, wurde unmöglich. Ferner wurde durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht diesem Korrelat des allgemeinen Wahlrechts ein schon 1789 gehegter Wunsch der Republikaner erfüllt. An Stelle der Identität von Christ und Bürger trat eine solche von Bürger und Soldat. Endlich folgten 1793 Massnahmen zu einer totalen Mobilmachung. Das Land wurde in 15 Lebensmittelbezirke aufgeteilt, die für die Verpflegung der 14 Revolutionsarmeen und Paris zu sorgen hatten. In Paris konnte das »Gleichheitsbrot« nur gegen Lebensmittelkarten erstanden werden. Zwangsanleihen und gestaffelte Besteuerung richteten sich gegen die Reichen, Neureichen und Kriegswucherer. Die Börse wurde geschlossen, Berg- und Hüttenwerke kamen unter staatliche Aufsicht, die Landarbeiter wurden zu Kompanien zusammengefasst, die Schuhmacher arbeiteten nurmehr für den Staat, und der Beschlagnahmungen war kein Ende. Alles Metallgeld wurde eingezogen, und die Kette der Gesetze zur Festlegung von Höchstpreisen wurde durch die Todesstrafe zusammengehalten.66 Diese Krisenmassnahmen entsprangen zwar nicht dem Herzen der meisten Hauptakteure, das Wirtschaftsideal der Jakobiner war ein Land freier Kleinbesitzer, ein »Gemüsehändler-Paradies«, in dem die Höchstrente, mit Robespierre zu reden, 3000 Francs betragen sollte. Man bemühte sich durch die Ventôse-Gesetze auf Kosten der Reichen und »Verdächtigen« auch der »tugendhaften Armut«67 zu ihrem Eigentum zu verhelfen. Wohl waren die »bürgerlichen« Revolutionäre mit derartigen Massnahmen nicht gerade einverstanden, aber der Totalitätsanspruch einer Bürgerkriegspartei kennt keine Grenzen. Ihren Nährboden fanden die meisten dieser Bestimmungen in Paris. Die herrschende Not in der Hauptstadt konnte nicht ignoriert werden, zu allerletzt von den Jakobinern, deren Macht sich gerade auf Paris stützte. Die Koinzidenz von hungernden Massen mit dem Willen einer Minderheit, die Republik der Tugend durchzuführen, trieb die Revolution in Paris immer eine Phase früher als im übrigen Frankreich voran. Die Stadt mit ihren 650.000 Einwohnern beherbergte nach Taines Schätzungen etwa 120.000 Notleidende und 64 Bourgin, Die Französische Revolution, S. 169. 65 * [Handschriftliche Ergänzung, die Aussage von Maximin Isnard im Parlament ist für den 5. Januar 1792 belegt]. 66 * Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 90. 67 * Ebd., S. 95 (Cirkular des Wohlfahrtsausschusses).

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Arbeitslose; Hungerrevolten und Protestkundgebungen gegen das Ansteigen der Preise fanden bereits vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung statt. Die darin liegenden Energien sollten politisch aktiviert werden. Propagandaredner und Revolutionspresse überfluteten die Stadt mit ihren Parolen. Die Pariser Wahlmänner – unter ihnen die späteren Jakobiner – beschlossen am 12. Juni 1789 die alte Stadtverwaltung zu stürzen und richteten als erste die Selbstverwaltung ein. Kurz darauf folgende analoge Aktionen in den Provinzstädten zeugen von dem organisierten Zusammenhang der »Patrioten«, die auch am 14. Juli den Sturm auf die Bastille entfachen halfen. Bereits im August sprach man im Palais Royal, dem Zentrum der Pariser Agitatoren, davon, dass der König nach Paris gehöre.68 Am 5. und 6. Oktober wurde, nicht ohne Geldverteilung,69 die direkte Aktion gestartet und der berühmte Zug der Weiber nach Versailles brachte die königliche Familie in die Hauptstadt ein. Die Nationalversammlung folgte, und von nun an vollzog sich keine Verhandlung, keine Abstimmung mehr, ohne dass das Volk von Paris von den Tribünen her eingegriffen hätte. 600 keineswegs schweigsame Zuhörer fanden hier ihre Tätigkeit. »Glücklicherweise sind die Galerien unbestechlich und stehen immer den Patrioten zur Seite«, schreibt Desmoulins in seiner Zeitung.70 »Sie gleichen den Volkstribunen, die den Beratungen des Senats auf einer Bank beiwohnten und ein Vetorecht hatten.71 Sie vertreten die Hauptstadt und glücklicherweise kommt die Verfassung angesichts der Batterien der Hauptstadt zustande.« Diese Batterien bezogen freilich ihre Munition von eben jenen Patrioten, die als Klubmitglieder in den Klubs und Volksgesellschaften dieselbe verteilten. Auch die 48 Pariser Sektionen, in denen die Männer der Selbstverwaltung, der Kommune gewählt wurden, verwandelten sich »allmählich in richtige politische Klubs«72, die das Parlament mit Forderungen, Bitt- und inoffiziellen Drohschriften überschütteten. »Schon im Frühjahr 1792 konnte kein Zweifel mehr« herrschen, dass die Führer der Sektionen »zum Sturz des Königtums« entschlossen waren.73 Zum Nationalfest des 14. Juli sammelten sich aus der Provinz kommend, ja aus Marseille herbeizitiert, patriotische Männer, die als »föderierte« Hilfstruppen in Paris verblieben. »Ihr seid nicht hergekommen, um der Hauptstadt und Frankreich ein leeres Schauspiel zu geben[…] Eure Sendung ist es, den Staat zu retten. Wir wollen endlich die Aufrechterhaltung der Verfassung sicherstellten […]«. Mit diesen Worten wurden sie von Robespierre empfangen.74 Nach einem fehlgeschlagenen Versuch rollten vom 1. bis zum 10. August die Ereignisse planmässig ab. Das ständige Aufgebot war bereits erlassen (und die Tagung der Sektionen für permanent erklärt worden). Die Wahlversammlung des théâtre français unter der Leitung 68 69 70 71 72 73 74

Ebd., S. 123. Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 97. Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3, S. 121. * [Handschriftliche Ergänzung Kosellecks am Rand: cf. Rousseau!]. Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 127. Ebd., S. 126 f. Robespierre, Erinnerungen, S. 287.

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Dantons dekretiert das allgemeine Wahlrecht; der Antrag zur Absetzung des Königs wird der assemblée législative überreicht und es folgt ein Ultimatum, dessen Frist am 9. August ablief. Im Falle der Weigerung würde sich das Volk erheben. Da die gewünschte Antwort ausblieb, schritten die Sektionen zur Tat. Zunächst wurde die gemässigte Kommune durch echte Republikaner besetzt, der Führer der Nationalgarde abgesetzt, die Tuilerien wurden erstürmt, und »die Monarchie war erledigt«.75 Vom 11. August an tragen die Schriftstücke der neuen Kommune das Datum »[…] vom ersten Jahre der Gleichheit«76 und der starke Mann der Sektionen – Danton – wurde vom Parlament als erster Minister Frankreichs bestätigt. Die politische Maschinerie der Pariser Selbstverwaltung diente den Radikalen als geeignetes Werkzeug, auf dem kürzesten Wege ihr Ziel, die französische Republik, zu erreichen. So erlebte denn auch Paris zuerst das Schauspiel der Schnellgerichtsverfahren, in denen die Exekutionen der Reaktionäre vom 10. August vollzogen wurden. Die Kommune blieb auch weiterhin eine geeignete Handhabe, die Opposition im Konvent, zu beseitigen. Die Methoden hatten sich perfektioniert. Am 30. Mai 1793 wurde der Alarmzustand für die Stadt ausgerufen, und zwei Tage später entfernten städtische Truppen die Girondisten von ihren Parlamentssitzen. Die Vertretung des Volkes wurde von der Pariser Zentrale korrigiert und der gesäuberte Konvent erklärte, die »Bürger von Paris hatten machtvoll zur Rettung der Freiheit beigetragen«77. Von nun an sassen die radikalen Jakobiner im Sattel und die Pariser Nebenregierung erübrigte sich. Ihre Befugnisse gingen an besondere Ausschüsse über, die dem Wohlfahrtsausschuss unterstellt wurden und die Kommune wurde zum reinen Verwaltungsorgan umgekrempelt. Das Gesetz von 1790, das die Selbstverwaltungsorgane »auf Grund ihrer Freiheit« ermächtigt hatte, »alle ihre Rechte und Gewalten immer selbst« und zwar möglichst immer »auszuüben«78 – das Gesetz erübrigte sich nun, da die Regierung mit dem Volk identisch war. Dieser Identifizierungsprozeß vollzog sich freilich nur durch die Beseitigung der eigentlichen Willensträger der Sektionen, der Danton und Hébert und ihrer Anhänger. Die ultraradikalen Sektionsgesellschaften wurden geschlossen und damit war einer der Keime zum Sturz der Diktatur gelegt. Am 9. Thermidor fand Robespierre bei den meisten der Pariser Viertel keinen Rückhalt mehr. Aber die Möglichkeit dieser Trennung beweist, daß Paris zwar das Sprungbrett, nicht aber die Sprungfeder zur Sektionsherrschaft darstellte. Den Klub hatte Robespierre noch am letzten Tage seiner Diktatur geschlossen auf seiner Seite, ein improvisiertes Exekutions-Komitee der Kommune ebenfalls, aber nicht mehr alle Sektionen, nicht mehr die Bürgerwehr, nicht mehr Paris; Paris war gespalten: die Nationalgarde der wohlhabenden Sektionen wurde vom Konvent (Barras) mobilisiert, denen sich die Dantonisten und Hébertisten anschlossen; die Truppen der anderen Sektionen gehorchten der gewohnten Führung, der Kommune, die in den entscheidenden Stunden zwar 75 Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 119. 76 Taine, Die Entstehung des modernen Frankreich, Bd. 2,3. 77 * Bourgin, Die Französische Revolution, S. 92. 78 Kropotkin, Pjotr Alexejewitsch, Die französische Revolution, Bd. 1, Leipzig 1909, S. 71.

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den Alarm schlug, im übrigen aber eine sonderbare Unfähigkeit bewies.79 Die letzte Auseinandersetzung vollzog sich somit – zum Kampf ist es gar nicht gekommen – zwischen Konvent und Kommune und endete mit dem Sieg der Volksvertretung, mit dem »Triumph der Legalität«80 – wie ein franz. Historiker meint. Die Spaltung von Paris, der Stadt, die vom Hunger verzehrt, durch die Höchstlöhne unzufrieden und durch die anwachsenden Opfer der Guillotine zermürbt war, bietet nur ein vordergründiges Bild. Auch in der Regierung selber war seit langem der Widerstand gewachsen gegen die faktische Führung durch Robespierre, der freilich kein Mann der Tat war. Im Wohlfahrtsausschuß häuften sich die Vorwürfe, er wolle ein zweiter Cromwell werden: »Wehe der Republik, in der der Verdienst eines einzelnen Mannes oder selbst seine Tugend notwendig werden sollte!« So Carnot, der große Organisator der Armee, der bei der Spaltung im Ausschuß auf der Seite gegen Robespierre und seine Helfer St. Just und Couthon stand. Auch der Sicherheitsausschuß war nicht gewillt, seine Befugnisse an dieses »Triumvirat« abzutreten. »Was ist das Mittel, dem Übel abzuhelfen?« fragt Robespierre in seiner letzten Rede  – »die Verräter zu bestrafen. Die Abteilungen des Sicherheitsausschußes zu erneuern, diesen Ausschuß zu säubern und ihn dem Wohlfahrtsausschuß zu unterstellen, den Wohlfahrtsausschuß selbst zu säubern«, um endlich die »Einheit der Regierung«81 herzustellen. Dieser Regenerationsprozeß der autoritären Führung sollte sich nicht mehr vollziehen, aber die Rede wurde das Fanal zum Handeln für alle, die sich bedroht fühlten. Am folgenden Tag ließ man Robespierre nicht mehr zu Wort kommen und in einer tumultuarischen Parlamentssitzung wird er mit 4 Komplizen verhaftet, was jene Auseinandersetzung zwischen Konvent und Kommune heraufbeschwor, von der bereits die Rede war. Weder im angsterfüllten Konvent, der seit dem 22. Prairial seine Indemnität eingebüßt hatte, noch in der Regierungsopposition waren indes die Männer, die den Sturz der Diktatur planmäßig vorbereitet hatten. Die Hauptakteure waren Kommissare, die aus den Provinzen zurückgerufen, sich nun trotz und wegen ihrer blutigen Arbeit zu verantworten hatten, d. h. das Schafott besteigen sollten. An ihrer Spitze Fouché, der hier das »Schulbeispiel einer politischen Intrige« inszenierte, um dem Tod zu entrinnen. »Noch wenige Tage«, schrieb er am 5. Thermidor, und »der Patriotismus wird über die Tyrannei triumphieren«82. Ganz unbeabsichtigt war die wirkliche Wende der Revolution nicht. Schlagartig zeigt sich das im öffentlichen Leben; die tugendsamen Sansculotten wurden von der Straße vertrieben und an ihre Stelle trat der vergnügungssüchtige, manirierte »Incroyable« mit seiner Regierungsopposition, der »merveilleuse«, der sich wieder – besonders mit blonden – Perücken schmückte. 79 80 81 82

Mathiez, Albert, La Révolution française, Bd. 3, Paris 1927, S. 220. Villat, Louis, La révolution et l’empire (1789–1815), Paris 1947, S. 290. Ebd., S. 288. Sieburg, Friedrich, Robespierre, Frankfurt a. M. 1935, S. 292.

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Sieht man von diesen äußeren Vorgängen ab und auch von dem eigentümlichen Charakter von Robespierre, diesem »Orakel der Jakobiner« – und sieht man ebenso ab von der seelischen Situation, in der sich jeder Mensch befand infolge eines MordTerrors, der sich in aller Öffentlichkeit vollzog, so sind zweifellos noch Gründe für die Peripatie der Revolution an anderer Stelle aufzuzeigen. Das ruhmlose Scheitern der Pariser Kommune weist uns darauf hin, daß es eine aktive Arbeiterschaft so wenig gab wie die aktiven Revolutionäre die Möglichkeit einer technischen Industrialisierung vor Augen hatten. Ihr ökonomischer Horizont blieb wesentlich auf die Landwirtschaft beschränkt. »Jeder Eigentümer«, meint St. Just, »der kein Handwerk ausübt und nicht dem Richterstand angehört, ist gehalten, von seinem 25. bis 50. Lebensjahr den Boden zu bebauen«.83 Der Pariser Arbeiter – soweit man von einem solchen schon sprechen kann84 – hatte im Ablauf der Revolution weniger eine schöpferische, als höchstens eine nützliche Rolle gespielt. Zwei Hungerrevolten im Jahre 1795 blieben ohne politische Führung und wurden leicht unterdrückt. Selbst unter den 65 Angeklagten, die sich an dem Putschversuch eines Babeuf beteiligt hatten, befanden sich nur 15 Arbeiter und diese wurden freigesprochen.85 Der letzte grosse Einsatz der Pariser Sektionen erfolgte am 5. Oktober 1795 und wurde diesmal von der Rechtsreaktion geleitet. Mit ihrer Unterwerfung schwindet die »letzte Spur politischer Betätigung«86 der Pariser Kommune, die 1830 wieder in Aktion trat. Das Primat des politischen Handelns war 1794 den Männern wieder zugefallen, die 1789 auch auf dem linken Flügel gestanden hatten. Die Nachthermidorianer waren Vertreter des »Laissez faire« und sie hatten mit dem Abbau des »Lehensstaates« bereits eine stattliche Reihe von Gesetzen durchgesetzt, die es nun zu erweitern und auszunützen galt. Im März 1790 waren die Zünfte beseitigt, die Leder-, Öl- und Eisensteuern aufgehoben und die Warenzölle abgeschafft worden. Im April wurde die Freiheit des Getreidehandels gewährt und ein Jahr später fielen die Mauthgelder, die Weg- und Brückenzölle fort. Alle Boden- und Industrieerzeugnisse wurden von jeder Auflage befreit. Im Juni 1791 wurden die Gesetze zur Handelsfreiheit erweitert, Fabrikationsvorschriften aufgehoben und die Lex Chapelier (gültig bis 1884)87 verbot Arbeiterkoalitionen und Streik unter Androhung hoher Strafen. Im Dezember 1791 folgte das Patentschutzgesetz. Was von diesen Gesetzen ausser Gültigkeit geraten war, wurde nach dem Sturz der Jakobiner wieder ausgenutzt (eine Ausserkraftsetzung war nämlich nie erfolgt). Die Börse öffnete wieder ihre Tore, der Handel mit der zunehmend einlaufenden Kriegsbeute blühte auf, die Höchstpreise schwanden und auch der Festkurs für die Assignaten. Dieser sank bis 1796 auf 1/400 seines Nennwertes und in dieser Zeit 83 84 85 86 87

Sieburg, Robespierre, S.195. Bourgin, Die Französische Revolution, S. 185. Ebd., S. 190. Ebd., S. 114. * [Handschriftlich am Rand].

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stiess der Staat die letzten Nationalgüter ab, ohne den Kurswert der Assignaten laufend zu berücksichtigen, was Spekulanten aller Art über Nacht zu reichen Leuten machte. Die Regierung aber dekretierte, dass die verkauften Güter »unter dem Schirm der Verfassungsurkunde, unter dem Schutz der Gesetze, unter die Bürgschaft der französischen Rechtlichkeit«88 gestellt seien. Politik war nicht mehr Religion, sie wurde ein Geschäft. Die Verfassung von 1795 mit ihrem Zensuswahlrecht und charakteristisch durch ihre Sicherungen gegen jede Machtkonzentration sollte den Geschäftsleuten einen weiten Spielraum schaffen. Das Direktorium verfolgte einen geraden Mittelweg und regierte, um diesen einzuhalten, wenn nötig, auch gegen die Verfassung. So wurden 1797 aus der Kammer 198 rechtsgerichtete Mitglieder ausgeschlossen und im folgenden Jahr 106 Abgeordnete nicht zugelassen, da die Wahlen zu jakobinisch ausgefallen waren. Brinton sieht in dieser Direktorialzeit das Vorspiel zum »Juste Milieu«, das – wie er meint – durch den Einbruch Napoleons nur verzögert worden sei […].89 Mit dem Sturz der Jakobinerdiktatur war das Experiment des totalen Gesinnungsstaates beendet. Ein Grund für diese Wende nach 1794 liegt sicher in der Entwicklung, die die französische Landwirtschaft während der Revolutionsjahre durchgemacht hatte, und die das Gros der Bauernschaft in ein sekuriertes und konservatives Element verwandelte. Etwa 20–22 Millionen von 26 Millionen Franzosen waren auf dem Lande beschäftigt.90 Die Hälfte der Bauern besass eigenen Boden, von dem allein sie aber nicht leben konnte. Lohn- und Heimarbeit sicherten den Lebensunterhalt. Die andere Hälfte verteilte sich auf Grossgrundbesitzer und Landarbeiter. Die revolutionäre Ideologie hatte 1789 noch kaum Eingang bei der Landbevölkerung gefunden, und die Jakobiner bemühten sich durch Spezialzeitungen und Missionare, das flache Land aufzuklären.91 Die bäuerlichen cahiers waren noch »frei von politischer Metaphysik«, und alle Einzelbeschwerden zusammengenommen liefen zwar auf die Abschaffung der Feudalbestimmungen, nicht aber auf Beseitigung der Monarchie hinaus. Im Sommer 1789 überflutete eine grosse Psychosewelle das Land: die »Grosse Furcht vor den Räubern« ergriff viele, wenn auch nicht alle Distrikte Frankreichs, was Brinton gegen Taines These einer allgemeinen Jacquerie betont. Die Gerüchte von den Räubern mochten lanciert sein, die Ausschreitungen, Morde und Zerstörungen von Schlössern aber waren nicht organisiert.92 Mit der im August erfolgten Aufhebung der Lasten waren die Bauern prinzipiell zufrieden gestellt. Aber sie sollten durch die Entwicklung der Revolution noch viel profitieren. Zunächst konnten sie durch den Ankauf der Kirchengüter ihren Landbesitz vergrössern, und unter der Jakobinerregierung wurden auch die Gemeindeländereien in Privatbesitz überführt (10. Juni 1793), aber die Tagelöhner 88 89 90 91 92

Ebd., S. 159 (Gesetz 13. Ther. IV Art. 374 IV 1795), [im Ms. Gesetz 30. Ther.]. Brinton, Europa im Zeitalter der französischen Revolution, S. 397. Ebd., S. 71 (Levasseur, Pierre Émile, La population française, Bd. 1, Paris 1888, S. 217, 286). Ebd., S. 74. Ebd., S. 90 ff.

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und Landarbeiter kamen nicht in den Besitz von eigenem Grund. Wer sich durch Hilfe von Genossenschaften Boden verschafft hatte, wurde sogar gezwungen, diesen wieder zu verkaufen (Gesetz vom 24. Juni 1793). Und die letzten Massnahmen der Jakobiner zugunsten der Armen traten nicht mehr in Kraft. Die gesamte Besitzverschiebung, die 12–20 % des Volksvermögens93 betroffen hat, kam hauptsächlich nur dem »begüterten Mittelstand« in den Städten und den sozial ähnlich situierten wohlhabenden Bauern zugute. Aber Weiterverkäufe von Ländereien, die Spekulanten und Geschäftstüchtige erworben hatten, verhalfen auch den Kleinbesitzern zur Selbständigkeit. So vollendete sich jener Prozess, »der schon in der Feudalzeit begonnen hatte, und der Frankreich zu einem Land von selbstständigen Kleinbesitzern und freien Pächtern machte«, in dem die »Wirtschaftsverfassung der Geldwirtschaft angepasst«94 wurde. Diese Gesellschaftsstruktur blieb im kommenden Jahrhundert wesentlich erhalten, sie überstand gleichsam kraft ihres Eigengewichtes alle Regierungsformen, die sich einander jagten, aber nie mehr den totalen Charakter der Jahre 1793 und 1794 annehmen sollten. Um so erstaunlicher bleibt das Phänomen des Jakobinismus, dieser politischen Religion. Die Präsenz des 18. Jahrhunderts wird in ihm manifest.95 Hinter ihm birgt sich die Frage auch unserer Zukunft.

93 Ebd., S. 109. 94 Ebd., S. 207. 95 * [Handschriftlich ergänzt].

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Reinhard Blänkner, Jg. 1951, Dr. phil., em. Prof. für Neuere Geschichte und Kulturgeschichte, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Veröffentlichungen u. a.: »Absolutismus«. Eine begriffsgeschichtliche Studie zur politischen Theorie und zur Geschichtswissenschaft in Deutschland 1830–1970, Frankfurt a. M. 20112; Hg. (mit Wolfgang de Bruyn), Salons und Musenhöfe. Neuständische Geselligkeit in Berlin und in der Mark Brandenburg um 1800, Hannover 2009; Hg., Heinrich von Kleists Novelle Die Verlobung in St. Domingo. Literatur und Politik im globalen Kontext um 1800, Würzburg 2013. Harald Bluhm, Jg. 1957, Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen u. a.: (mit Axel Rüdiger), Von der Philosophie- zur Sozial- & Wirtschaftsgeschichte. Zwei Varianten des Exzerpierens bei Marx, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 43 (2020), S. 276–294; Neubestimmungen des Liberalismus bei Alexis de Tocqueville, John Stuart Mill und Karl Marx, in: Karsten Fischer / Sebastian Huhnholz Hg., Liberalismus: Traditionsbestände und Gegenwartskontroversen, Baden-Baden 2019, S. 21–46; Three Strategies of Criticizing Liberalism and Their Continued Relevance, in: Kai Marchal / Carl K. Y. Shaw Hg., Carl Schmitt and Leo Strauss in the Chinese Speaking World, Lanham / Boulder / ​ New York / London 2017, S. 17–36. Bettina Brandt, Jg. 1968, Dr. phil., Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld. Veröffentlichungen u. a.: ›Politik‹ im Bild? Überlegungen zum Verhältnis von Begriff und Bild, in: Willibald Steinmetz Hg., »Politik«. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt a. M. / New York 2007, S. 41–71; Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010; Hg. (mit Britta Hochkirchen), Reinhart Koselleck und das Bild, Bielefeld 2021. Christof Dipper, Jg. 1943, Dr. phil., em. Prof. für Neuere und Neueste Geschichte an der Technischen Universität Darmstadt. Veröffentlichungen u. a.: Reinhart Kosellecks Konzept ›semantischer Kämpfe‹, in: Forum interdisziplinäre Begriffsgeschichte 5 (2016), S. 32–41; Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten«, in: Historische Zeitschrift 270 (2000), S. 281–308; Begriffsgeschichte, Sozial­geschichte, begriffene Geschichte. Reinhart Koselleck im Gespräch mit Christof Dipper, in: Neue Politische Literatur 43 (1998), S. 187–205.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Manfred Hettling, Jg. 1956, Dr. phil., Prof. für Neuere und Neueste Geschichte, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen u. a.: Hg. (mit Jörg Echternkamp), Gefallenengedenken im globalen Vergleich. Nationale Tradition, politische Legitimation und Individua­ lisierung der Erinnerung, München 2013; Hg. (mit Tino Schölz), »Bürger« und »shimin«. Wortfelder, Begriffstraditionen und Übersetzungsprozesse im Deutschen und Japanischen, München 2014; Hg. (mit Richard Pohle), Bürgertum. Bilanzen, Perspektiven, Begriffe, Göttingen 2019. Britta Hochkirchen, Jg. 1982, Dr. phil., Akademische Rätin a. Z. am Arbeitsbereich Historische Bildwissenschaft / Kunstgeschichte an der Universität Bielefeld, Teil­ projektleiterin im Sonderforschungsbereich 1288 »Praktiken des Vergleichens«. Veröffentlichungen u. a.: Bildkritik im Zeitalter der Aufklärung. Jean-Baptiste Greuzes Darstellungen der verlorenen Unschuld, Göttingen 2018; Hg. (mit Bettina Brandt), Reinhart Koselleck und das Bild, Bielefeld 2021. Sebastian Huhnholz, Jg. 1980, Dr. phil., Institut für Politikwissenschaft, LeibnizUniversität Hannover. Veröffentlichungen u. a.: Fiskus – Verfassung – Freiheit. Politisches Denken der öffentlichen Finanzen von Hobbes bis heute, Baden-Baden 2018; Von Carl Schmitt zu Hannah Arendt? Heidelberger Entstehungskontexte und bundesrepublikanische Liberalisierungsschichten von Reinhart Kosellecks »Kritik und Krise«, Berlin 2019. Ulrike Jureit, Jg. 1964, Dr. phil., Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Veröffentlichungen u. a.: Magie des Authentischen. Das Nachleben von Krieg und Gewalt im Reenactment, Göttingen 2020; Generationenforschung, Göttingen 20172; Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012. Steffen Kluck, Jg. 1980, Dr. phil., Institut für Philosophie, Universität Rostock. Veröffentlichungen u. a.: Hg. (mit Martin Großheim) Phänomenologie und Kulturkritik. Über die Grenzen der Quantifizierung, Freiburg / München 2014; Patho­ logien der Wirklichkeit. Ein phänomenologischer Beitrag zur Wahrnehmungslehre und Ontologie der Lebenswelt, Freiburg / Münchnen 2014; Gestaltpsychologie und Wiener Kreis. Stationen einer bedeutsamen Beziehung, Freiburg / München 2008. Kocka, Jürgen, Jg. 1941, Dr. Dr. h. c. mult., em. Prof. für Geschichte der industriellen Welt, Freie Universität Berlin; Fellow am Kolleg »Arbeit und Lebenslauf in der Globalgeschichte« (Re:work), Humboldt Universität zu Berlin; und am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Veröffentlichungen u. a.: Geschichte des Kapitalismus, München 20173; Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015; Historians and the Future, Uppsala 2020.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Dieter Langewiesche, Jg. 1943, Dr. Dr. h. c., em. Prof., Universität Tübingen. Veröffentlichungen u. a.: Vom vielstaatlichen Reich zum föderativen Bundesstaat. Eine andere deutsche Geschichte, Stuttgart 2020. Der gewaltsame Lehrer. Europas Kriege in der Moderne, München 2019. Neurohistorie. Ein neuer Wissenschaftszweig? Berlin 2017. Reinhard Mehring, Jg. 1959, Prof. Dr., Abteilung Politikwissenschaft, Pädagogische Hochschule Heidelberg. Veröffentlichungen u. a.: Die neue Bundesrepublik. Zwischen Nationalisierung und Globalisierung, Stuttgart 2019; Thomas Manns philosophische Dichtung. Vom Grund und Zweck seines Projekts, Freiburg 2019; Landwehrkanal. Philosophische Novelle, Freiburg 2019. Richard Pohle, Jg. 1980, Dr. phil., wiss. Mitarbeiter, Institut für Geschichte, MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg. Veröffentlichungen u. a.: Platon als Erzieher. Platonrenaissance und Antimodernismus in Deutschland (1890–1933), Göttingen 2017; Im Fegefeuer des bürgerlichen Charakters. Preußische Hauslehrer zwischen akademischem Proletariat und dem »Himmel des Amtes«, in: Manfred Hettling u. Richard Pohle Hg., Bürgertum. Bilanzen, Perspektiven, Begriffe, Göttingen 2019, S. 137–165; Platonische Staatsbildung nach 1919 – auch ein Aufbruch zur Demokratie?, in: Jahrbuch für Historische Bildungsforschung 25 (2019), S. 62–86. Wolfgang Schieder, Jg. 1935, Dr. phil., Dr. h. c., em. Prof. für Neuere und Neueste Geschichte, Universität zu Köln. Veröffentlichungen u. a.: Mythos Mussolini. Deutsche in Audienz beim Duce, München 2003; Adolf Hitler. Politischer Zauberlehrling Mussolinis, Berlin 2017; Karl Marx. Politik in eigener Sache, Darmstadt 2018. Peter Tietze, Jg. 1981, M. A., Doktorand am Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen. z. Z. Gastforscher am Institut für Ideengeschichte an der Uni Stockholm. Veröffentlichungen u. a.: »Zeitwende«: Richard Koebner und die Historische Semantik der Moderne, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 13 (2014), S. 131–165; »Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit«. Richard Koebners und Reinhart Kosellecks Historische Semantikforschungen zwischen Historismus und Posthistoire, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte, hg. v. Ernst Müller 5/2 (2016), S. 6–22; Von der Ostforschung zur Historischen Semantik. Richard Koebner, ein deutsch-jüdischer Pionier der Begriffsgeschichte, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte (67/1) 2019, S. 31–72. Tobias Weidner, Jg. 1977, Dr. phil, Leiter der Informations- und Dokumentationsstelle Ethik in der Medizin (IDEM) am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Göttingen.

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

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Veröffentlichungen u. a.: The Human Gaze: Photography after 1945, in: Johannes Paulmann Hg., Humanitarianism & the Media. 1900–2015, Oxford / New York 2018, S. 151–181; Begriffsgeschichte und Politikgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft (44) 2018, S. 29–53; Die Geschichte des Politischen in der Diskussion, Göttingen 2012; Die unpolitische Profession. Deutsche Mediziner im langen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2012. Monika Wienfort, Jg. 1961, apl. Prof. Dr., wiss. Mitarbeiterin, Humboldt-Universität zu Berlin. Veröffentlichungen u. a.: Patrimonialgerichte in Preußen. Ländliche Gesellschaft und bürgerliches Recht 1770–1848/49, Göttingen 2001; Der Adel in der Moderne, Göttingen 2006; Geschichte Preußens, München 2008; Verliebt, Verlobt, Verheiratet. Eine Geschichte der Ehe seit der Romantik, München 2014; Monarchie im 19. Jahrhundert, Berlin 2019.