Regionalpolitische Konzepte und Strukturwandel ländlicher Räume: Eine Analyse am Beispiel des oberen Altmühltals [1 ed.] 9783428490103, 9783428090105

Die Diskussion über die Eigenheiten und Probleme des räumlichen Strukturwandels und die Möglichkeiten seiner Beeinflussu

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Regionalpolitische Konzepte und Strukturwandel ländlicher Räume: Eine Analyse am Beispiel des oberen Altmühltals [1 ed.]
 9783428490103, 9783428090105

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HELMUT SCHÖN

Regionalpolitische Konzepte und Strukturwandel ländlicher Räume

Volkswirtschaftliche Schriften Begründet von Prof. Dr. Dr. h. c. J. Broermann t

Heft 472

Regionalpolitische Konzepte und Strukturwandel ländlicher Räume Eine Analyse am Beispiel des oberen Altmühltals

Von

Helmut Schön

Duncker & Humblot • Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schön, Helmut: Regionalpolitische Konzepte und Strukturwandel ländlicher Räume: eine Analyse am Beispiel des oberen Altmühltals / von Helmut Schön. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Volkswirtschaftliche Schriften; H. 472) Zug!.: Bonn, Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-09010-1

D98 Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0505-9372 ISBN 3-428-09010-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 9

Geleitwort Die Beschäftigung mit den Eigenheiten und Problemen des strukturellen Wandels unterschiedlicher Gebietskategorien und den Möglichkeiten seiner Beeinflussung hat in der Wissenschaft eine lange Tradition. Besonders der ländliche Raum stand dabei oft im Mittelpunkt des Interesses, da man seine Zukunft durch die in urbaneren Gebieten ablaufenden Prozesse ständig als bedroht empfand. Neue Aktualität hat dieser Themenkomplex durch die jüngsten Veränderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen - insbesondere im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Prozeß der europäischen Integration sowie den Reformen der europäischen Agrar- und Regionalpolitik erhalten. Vor diesem Hintergrund unternimmt es der Verfasser der vorliegenden Studie, einen Beitrag zur IdentifIkation regionaler Entwicklungspotentiale und Entwicklungsrestriktionen zu leisten. Dabei legt er den Schwerpunkt auf die Analyse struktureller Entwicklungsprozesse und deren Beeinflussung durch regionalpolitische Maßnahmen. Im ersten Teil der Untersuchung wird die regionalpolitische Diskussion aus der Sicht der Theorie umfassend aufgearbeitet und im Hinblick auf Entwicklungsstrategien fUr den ländlichen Raum fortgefUhrt. Der zweite Teil beinhaltet eine empirische Analyse fUr das obere Altmühltal, das eine der Modellregionen der Gemeinschaftsinitiative LEADER bildet und daher fUr die Untersuchung kleinräumiger Anpassungsprozesse unter dem Einfluß neuerer regionalpolitischer Konzepte besonders geeignet ist. Die Ergebnisse der Studie verdeutlichen die prinzipiellen Möglichkeiten der neuen Förderkonzepte ebenso wie deren Grenzen und bestehende AusgestaltungsdefIzite. Dem Bayerischen Staatsministerium fUr Ernährung, Landwirtschaft und Forsten gilt der Dank fUr die fInanzielle Unterstützung, durch welche die Anfertigung dieser Studie erst ermöglicht wurde. Ferner ist allen Beteiligten vor Ort zu danken, die durch ihre stete Gesprächsbereitschaft und engagierte Mitarbeit bei den Befragungen einen wesentlichen Beitrag zu ihrem Gelingen geleistet haben. Bonn, im Januar 1997

Prof Dr. Ernst Berg

Vorwort Die vorliegende Arbeit entstand während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl ftlr Angewandte Landwirtschaftliche Betriebslehre der TU-München Weihenstephan und an der Professur ftlr Produktionsund Umweltökonomie des Instituts ftlr Landwirtschaftliche Betriebslehre der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn. Da die Anfertigung einer Dissertation nicht ohne Unterstützung, sei sie fachlicher, materieller, technischer aber vor allem auch menschlicher Art, möglich ist, möchte ich die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle all denen zu danken, die zum Gelingen der Arbeit beigetragen haben. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. E. Berg ftlr die Überlassung des Themas, rur die fachliche Betreuung aber auch ftlr den gewährten Freiraum während meiner Tätigkeit als Mitarbeiter an seinem jeweiligen Lehrstuhl in Weihenstephan und Bonn. Ebenso bedanke ich mich bei Herrn Prof. Dr. H. Karl ftlr die Übernahme des Korreferates. Dem Bayerischen Staatsministerium ftlr Ernährung, Landwirtschaft und Forsten danke ich ftlr die finanzielle Unterstützung. Ohne diese wäre die vorliegende Forschungsarbeit nicht möglich gewesen. Allen Mitarbeitern der Professur ftlr Produktions- und Umweltökonomie sei rur die kollegiale Zusammenarbeit gedankt. Insbesondere ist dies gerichtet an Herrn Dipl.-Ing. agr. Hans-Theo Simons ftlr die technische Unterstützung bei der Erstellung von Graphiken und bei der Lösung von EDV-Problemen jeglicher Art und an Herrn Dipl.-Ing. agr. Peter Schlieper ftlr die anregenden Diskussionen und die freundschaftliche Arbeitsatmosphäre. Zusätzlich gebOhrt mein Dank allen, die durch ihre kritische Durchsicht des Manuskriptes bei der Erstellung der vorliegenden Arbeit mitgewirkt haben. Darüber hinaus danke ich den Mitarbeitern der 5b-Entwicklungsgruppe Mittelfranken, insbesondere Herrn ROhI und Herrn Wittemann von der Entwicklungsprojekt Interessengemeinschaft Schönbronn e.V., die es durch ihre Gesprächsbereitschaft ermöglichten, einen Einblick in die Komplexität der praktischen Probleme regionaler Entwicklungsarbeit zu erlangen. Dieser Dank gilt auch den Landwirten in der Region und ihrer Interessenvertretung sowie den außerlandwirtschaftlichen Unternehmen, die durch ihre Mitarbeit an den

8

VOIwort

Befragungen die erfolgreiche Durchfilhrung der Untersuchung erst ermöglichten. Der letzte - aber keineswegs der geringste - Dank geht an Bärbel, die ihren Beitrag zur vorliegenden Arbeit gewiß unterschätzt. Bonn, im Januar 1997

Helmut Schön

Inhaltsverzeichnis I.

Einleitung .......................................................................................................... 19

1.1 1.2 1.3 2.

Problemstellung ................................................................................................. 19 Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung ....................................................... 21 Empirisches Analysemodell und Datengrundlage ............................................. 25 Situation ländlicher Räume und politische Bestrebungen zum Abbau räumlicher Disparitäten ..................................................................................... 28 Situation ländlicher Räume ........................ :...................................................... 28

2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2

Anmerkungen zum Begriff "Iändlicher Raum" .................................................. 28 Problemfelder ländlicher Regionen ................................................................... 31 Zukünftige Chancen und Risiken aus der Sicht außerlandwirtschaftlicher Unternehmen ..................................................................................................... 37 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik ........................................ 41

2.2.1 2.2.2

Begründung und Zielsetzung regional politischen Handeins ............................. 42 Die Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik ............................................. 45

2.2.3

Die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" als zentrales Element deutscher Regionalpolitik ................................ 52

2.3

Die Europäische Regionalpolitik als neue politische Rahmenbedingung rur Entwicklungsbestrebungen im ländlichen Raum ............................................... 63

2.3.1

Die Reform der Strukturfonds von 1988 als Ausgangspunkt neuer regionalpolitischer Aktivitäten rur den ländlichen Raum ............................................... 64 2.3.1.1 Rechtliche Grundlagen und Ausgestaltung ........................................................ 64 2.3.1.2 Umsetzung des Ziels 5b in der Hundesrepublik unter besonderer Berücksichtigung Bayerns ............................................................................................ 69 2.3.2 Die Gemeinschaftsinitiative LEADER als kleinräumig orientiertes Entwicklungskonzept. ........................................................................................ 75

2.3.3 3. 3.1 3.1.1

Kritische Anmerkungen zur Europäischen Regionalpolitik ............................... 81 Neuere Konzepte und Strategien rur den ländlichen Raum ............................... 87 Konzeptionelle Änderung ländlicher Entwicklungsförderung ........................... 87 Ansätze und deren Ursachen ............................................................................. 87

3.1.2

Das endogene Entwicklungspotential- eine Worthülse? ................................... 93

3.1.3

Konzepte endogener Entwicklung - Alternative oder Ergänzung traditioneller Regionalpolitik? .................................................................................... 100

3.1.4

Exkurs: Das österreich ische Programm zur Förderung eigenständiger Regionalentwicklung ....................................................................................... 108

10 3.2 3.2.1 3.2.2 4. 5. 5.1 5.1.1 5.1.2 5.1.3 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.3 5.3.1 5.3.2 5.3.3 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3

Inhaltsverzeichnis Institutionelle und instrumentelle Anforderungen ........................................... Neue Institutionen als Träger regionaler Entwicklung .................................... Instrumentelle Anforderungen und notwendige Verfahrensinnovationen ........................................................................................................... Regionalpolitische Konzepte und Instrumente: ein ResUmee .......................... Strukturanalyse und Standorteigenschaften des oberen AltmUhltals ............... Die Region im Kontext .................................................................................... Der raumordnungspolitische Rahmen ............................................................. Die Region im naturräumlichen Kontext unter BerUcksichtigung ökologischer Probleme ............................................................................................. Die Region im gesamtwirtschaftlichen Kontext .............................................. Demographische Entwicklung ......................................................................... Quantitative und strukturelle Veränderung und ihre Bestimmungsfaktoren ............................................................................................................ Siedlungsstruktur und Funktionsverlust der Fläche als Wohnraum ................

112 112 120 130 136 136 136 141 144 147 148 158

Demographische Entwicklungsperspektiven ................................................... 160 Wirtschaftsstruktur, Wirtschaftsstandort und Arbeitsmarkt ............................. 166 Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit.............................................................. 166 Verflechtung des oberen AltmUhltals im Arbeitsmarkt und Struktur des regionalen Arbeitsplatzangebotes ................................................ 175 Der Wirtschaftsstandort oberes AltmUhltai aus der subjektiven Sicht privater Unternehmen ...................................................................................... 187 Situation und Entwicklung der Landwirtschaft ............................................... 194 Produktionsstruktur ......................................................................................... 195 Größenstruktur und Einkommenspotential der Betriebe .................................. 197 Außerlandwirtschaftliche Erwerbskombinationen ........................................... 201

5.4.3.1 Allgemeine Anmerkungen zur Mehrfachbeschäftigung in der Landwirtschaft ................................................................................................. 20 I 5.4.3.2 Entwicklung der Haupt- und Nebenerwerbslandwirtschaft ............................. 204 5.4.3.3 Altersstruktur und Ausbildung der Betriebsleiter unter BerUcksichtigung der außerlandwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit.. ............................................. 210 5.4.4 Perspektiven der Agrarstrukturentwicklung ................................................. ,.. 214 6. Die räumliche Dimension struktureller Entwicklung....................................... 220 6.1 Methodische Vorbemerkungen ........................................................................ 221 6.1.1 Faktorenanalyse ............................................................................................... 221 6.1.2 Clusteranalyse .................................................................................................. 225 6.2 Faktoren und Gruppen ..................................................................................... 228 6.2.1 Faktoren und ihre räumliche Ausprägung........................................................ 228 6.2.2 Unterschiedliche kommunale Entwicklungstypen ........................................... 243

Inhaltsverzeichnis 7. 7.1 7.2 8.

11

Die Konzeption der LEADER-Initiative oberes AltmUhltal unter BerUcksichtigung des strukturellen Kontextes ................................................. 251 Zusammenfassende Beurteilung der strukturellen Rahmensituation ............... 251 Die LEADER-Initiative oberes AltmUhltal aus konzeptioneller Sicht... .......... 257 Zusammenfassung ........................................................................................... 268

Literatur- und Quellenverzeichnis................................................................................ 273

Tabellenverzeichnis Tabelle I

Regionale Entwicklungstrends ländlicher Regionen vor dem Hintergrund der Verwirklichung des Binnenmarktes ............................ 36

Tabelle 2

Vergleich der Anteile der öffentlichen Ausgaben an den Gesamtausgaben im Rahmen der Sb-Programme .............................................. 72

Tabelle 3

Kennzahlen zur Förderung nach Ziel Sb in Bayern ............................... 73

Tabelle 4

Zuordnung der Gemeinden im Altmühleinzugsgebiet nach Gebietskategorien des Landesentwicklungsprogramms ...................... 139

Tabelle 5

Beurteilung der Region als landwirtschaftlicher Produktionsstandort unter naturräumlichen Gesichtspunkten ................................ 143

Tabelle 6

Wirtschaftlicher Wachstumsprozeß im überregionalen Vergleich ...... 145

Tabelle 7

Struktur und nominales Wachstum der Bruttowertschöpfung im überregionalen Vergleich ............................................................... 146

Tabelle 8

Entwicklung der Wohnbevölkerung im überregionalen Vergleich ..... 149

Tabelle 9

Altersstruktur im überregionalen Vergleich ........................................ 155

Tabelle 10

Intraregionale Verteilung und Veränderung der Bevölkerung nach Ortsgrößenklassen zwischen den Volkszählungen 1970 und 1987 ..... 159

Tabelle 11

Erwerbstätigkeit nach Wirtschaftsabteilungen .................................... 168

Tabelle 12

Struktur und Entwicklung der Arbeitslosigkeit.. ................................. 171

Tabelle 13

Entwicklung des Erwerbspersonenpotentials bis 2010 ....................... 173

Tabelle 14

Beschäftigtenstruktur und Beschäftigtenentwicklung ......................... 179

Tabelle 15

Modellgleichungen der Shift-Analyse ................................................. 181

Tabelle 16

Struktur- und Standorteffekte der Beschäftigtenentwicklung von 1970 bis 1987 ............................................................................... 183

Tabelle 17

Regionalisierte Prognose nichtlandwirtschaftlicher Arbeitsplätze ...... 187

Tabelle 18

Relative Veränderung der landwirtschaftlichen Betriebe im überregionalen Vergleich .................................................................... 198

Tabelle 19

Entwicklung der landwirtschaftlichen Betriebsgrößenstruktur ........... 199

Tabelle 20

Verteilung der Betriebe nach Standardbetriebseinkommen im überregionalen Vergleich .................................................................... 201

Tabelle 21

Entwicklung der sozioökonomischen Betriebsgrößenstruktur ............ 207

Tabelle 22

Außerlandwirtschaftliche Erwerbstätigkeit in unterschiedlichen Haushaltstypen nach Betriebsgrößenklasse ......................................... 210

Tabellenverzeichnis

13

Tabelle 23

Altersstruktur der befragten Betriebsleiter im oberen Altmühltal ....... 211

Tabelle 24

Ausbildung der Betriebsleiter differenziert nach Altersklassen und nach außerbetrieblicher Erwerbstätigkeit ..................................... 213

Tabelle 25

Hofnachfolgesituation der Betriebe ..................................................... 215

Tabelle 26

Entwicklungsabsichten der Betriebsleiter nach Erwerbstyp und Größenklasse ....................................................................................... 217

Tabelle 27

Verwendete Variablen in der Faktorenanalyse .................................... 222

Tabelle 28

Quadrierte Faktorladungen der ausgewählten Faktoren ...................... 229

Tabelle 29

Eigenwerte und erklärte Varianz der extrahierten Faktoren und interpretierten Faktoren ....................................................................... 243

Tabelle 30

Ausgewählte Diversifizierungsbestrebungen landwirtschaftlicher Betriebe und Teilnahme an den LEADER-Bewirtschaftungsvereinbarungen im oberen Altmühltal.. ............................................... 260

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1

Komponenten des empirischen Analysemodells und ihre Wirkungszusammenhänge .................................................................................... 26

Abbildung 2

Circulus vitiosus der Fehlentwicklung ländlicher Regionen ................. 35

Abbildung 3

Gebietsabgrenzung der 5b-Regionen und der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in Bayern ............ 70

Abbildung 4

Strukturierung des Entwicklungspotentials ........................................... 97

Abbildung 5

Der intermediäre Bereich als Handlungsfeld neuer Institutionen ........ 113

Abbildung 6

Die räumliche Lage des oberen Altmühltals in Bayern ....................... 13 7

Abbildung 7

Intraregionale Differenzierung der Bevölkerungsdichte ..................... 149

Abbildung 8

Eintlußfaktoren auf die Bevölkerungsentwicklung ............................. 150

Abbildung 9

Regionale Differenzierung des Bevölkerungswachstums 1970 bis 1987 ............................................................................................... 151

Abbildung 10 Verteilung der Wanderungsgewinne zwischen 1989 und 1991 .......... 152 Abbildung II Intraregionaler Vergleich der Altersstruktur ....................................... 157 Abbildung 12 Bevölkerungsprognose 1991 bis 2010 ................................................ 164 Abbildung 13 Pendlervertlechtung der Gemeinden im oberen Altmühltal ................ 176 Abbildung 14 Subjektive Einschätzung ausgewählter Standortfaktoren .................... 189 Abbildung 15 Vergleich der subjektiven Einschätzung der Standortfaktoren nach GrUndungsjahr ............................................................................ 192 Abbildung 16 Räumliche Differenzierung F I: Hauptberufliche Landwirtschaft ....... 231 Abbildung 17 Räumliche Differenzierung F2: Attraktivität als Wohnort .................. 233 Abbildung 18 Räumliche Differenzierung F3: Landwirtschaftliche Betriebsaufgabe ................................................................................................ 234 Abbildung 19 Räumliche Differenzierung F4: Außerlandwirtschaftliche Arbeitsplätze ................................................................................................... 236 Abbildung 20 Räumliche Differenzierung F5: Bedeutung kleiner Milchviehbetriebe................................................................................................ 238 Abbildung 21 Räumliche Differenzierung F6: Natürlicher GrUnlandstandort ........... 239 Abbildung 22 Räumliche Differenzierung F7: Kommunale Finanzkraft ................... 240 Abbildung 23 Räumliche Differenzierung F8: Arbeitsplätze im Bereich Dienstleistung ..................................................................................... 241 Abbildung 24 Räumliche Differenzierung F9: Relative Bevölkerungsdynamik ........ 242

Abbildungsverzeichnis

15

Abbildung 25 Dendrogramm der Clusteranalyse ....................................................... 245 Abbildung 26 Räumliche Differenzierung des Klassifizierungsergebnisses .............. 247 Abbildung 27 Faktormittelwerte der identifizierten Gruppen .................................... 248

Abkürzungsverzeichnis Assocation Europeene d'Information sur le Developpement Local Akademie für Raumforschung und Landesplanung Artikel Arbeitsgemeinschaft Wirtschaftsschwacher Randregionen Deutschlands AWRD AVP Agrarstrukturelle Vorplanung Arbeitsstättenzählung AZ Bundesautobahn BAB BAF Bergland-Aktionsfonds BfLR Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung BIP Bruttoinlandsprodukt Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung Bay. LSDV Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau BMBAU Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten BMELF Bay. STMLU Bayerisches Staatsministerium für Landesentwicklung und Umwe1tfragen Bay. STMELF Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Bay. STREG Bayerische Staatsregierung Bruttowertschöpfung BWS Europäischer Ausrichtung- und Garantiefonds für die Landwirtschaft EAGFL Europäischer Fonds für regionale Entwicklung EFRE Europäische Gemeinschaft, - Union EG/EU Entwicklungsprojekt Interessengemeinschaft Schönbronn EPIG Europäischer Sozialfonds ESF Europäische Wirtschaftsgemeinschaft EWG Förderprogramm eigenständige Regionalentwicklung FER Gemeinschaftliches Förderkonzept GfK Grundgesetz GG Gesellschaft mit beschränkter Haftung GmbH GRW Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit GTZ Hektar ha Landwirtschaftliche Betriebe mit überwiegend betrieblichen Einkommen HB Institut für Raumplanung, Universität Dortmund IRPUD Institut für landwirtschaftliche Betriebslehre der Universität Bonn ILB Liaison entre Actions de Developpement de I'Economie Rurale LEADER Landesentwicklungsprogramm LEP Landwirtschaftliche Nutzfläche LF Ländliches Regionalprogramm LRP Million Mio. Milliarde Mrd. A.I.D.E.L ARL Art.

Abkürzungsverzeichnis NB ÖAR

ÖBB ÖBV OP ÖPNV PPP ROG SARO SRU Tsd. VER VO VZ WR

Landwirtschaftliche Betriebe mit überwiegend außerbetrieblichen Einkommen Österreichische Arbeitsgemeinschaft rur eigenständige Regionalentwicklung Österreichischer Bauernbund Österreichische Bergbauernvereinigung Operationelles Programm Öffentlicher Personen Nahverkehr Privat Public Partnership Raumordnungsgesetz Sachverständigenrat rur Raumordnung Rat der Sachverständigen fiir Umweltfragen Tausend Verein eigenständiger Regionalentwicklung Verordnung Volkszählung Wachstumsrate

Abkürzungen in den Abbildungen rur die Gemeinden im oberen Altmühltal arb aur bec buc bur brk col den ges her leu mer om sch wie wie win wol

2 Schön

Arberg Aurach Bechhofen Buch a. Wald Burgoberbach Burk Colmberg Dentlein a. Forst Geslau Herrieden Leutershausen Merkendorf Ombau Schillingsfiirst Weidenbach Wieseth Windelsbach Wolframs-Eschenbach

17

1. Einleitung

1.1 Problemstellung Es ist unbestritten, daß wirtschaftliche Aktivitäten dispers im Raum geschehen und daß wirtschaftliche Entwicklungsprozesse sowohl räumliche als auch strukturelle Veränderungen nach sich ziehen, wenn nicht sogar als Bedingung voraussetzen. Damit sind sie und die folglich entstehenden räumlichen Disparitäten zunächst einmal nur eine unabdingbare Konsequenz marktwirtschaftlieher (Re-) Allokationsprozesse, innerhalb derer sich neue Güter-, Marktund Sektorstrukturen herausbilden (Herdzina, 1993, S.4). Betrachtet man den Strukturwandel unter räumlichen Gesichtspunkten, so würden sektorale Strukturveränderungen nur dann keine regionalen Wirkungen zeigen, wenn alle SekI toren gleichmäßig im Raum verteilt wären. Da dies nicht der Fall ist, können somit durch diese Prozesse in allen Raumkategorien, d.h. sowohl in den urbanen Zentren als auch in den ländlichen Regionen ökonomische, ökologische und soziale Externalitäten durch die strukturellen Veränderungen entstehen, die aus gesellschaftspolitischer Sicht als problematisch eingestuft werden. Insbesondere die Probleme der Raumkategorie des "ländlichen Raumes", deren Ursachen und die möglichen Entwicklungskonzepte und Maßnahmen zur Lösung, sind ein Themengebiet, welches in der wissenschaftlichen und in der politischen Diskussion eine lange Tradition hat und periodisch immer wieder neu aufgegriffen wird. Die Ursache für diese andauernde Aktualität sah v. Malchus (1974, S. 11) schon vor 20 Jahren darin, daß "die Zukunft des ländlichen Raumes ständig als bedroht empfunden wird". Vor diesem Hintergrund und in Verbindung mit den strukturellen Veränderungen der politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa ist auch die momentane Aktualität dieses Themenkomplexes zu sehen. Zu den wichtigsten Rahmenbedingungen gehört der fortschreitende europäische Integrationsprozeß in Verbindung mit der Erweiterung der EU durch den Beitritt Österreichs und der beiden skandinavischen Staaten Schweden und

Zu den volkswirtschaftlichen Erscheinungsformen des Strukturwandels und seiner begrifflichen Eingrenzung vgl. Henrichsmeyer. 1972. S. 13. 2"

20

1. Einleitung

Finnland, ebenso wie die Vereinigung der beiden deutschen Staaten, die einerseits zu einem großräumigen Wohlstandsgefälle innerhalb der Bundesrepublik Deutschland und andererseits zu einer plötzlichen Veränderung der räumlichen Lage vieler deutscher Regionen filhrte. Daneben stellen die politischen und wirtschaftlichen Liberalisierungsbestrebungen der Staaten Oste uropas und der GUS-Staaten in Verbindung mit dem Transformationsprozeß ihrer Wirtschafts systeme, der zu einer verstärkten Einbindung in die westeuropäische Arbeitsteilung filhren wird, eine Herausforderung filr die zukünftige Entwicklung in den Teilräumen der Bundesrepublik dar. Nicht zu vernachlässigen sind desweiteren groß- und kleinräumige Umweltund Ressourcenprobleme, die zukünftig eine immer größere Bedeutung 2 erlangen. Neben diesen veränderten allgemeinen Rahmenbedingungen erhält der Themenkomplex der Entwicklungsperspektiven ländlicher Räume zusätzliche Aktualität durch neuere politische Aktivitäten, die speziell diese Raumkategorie betreffen. Hierzu gehören einerseits die Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik in Verbindung mit dem fortschreitenden Strukturwandel in der Landwirtschaft, andererseits die neuen regionalpolitischen Aktivitäten, die von der supranationalen Ebene der Europäischen Union ausgehen. Basierend auf der Reform der Strukturfonds sind diese Förderaktivitäten filr den ländlichen Raum ein fester Bestandteil der nationalstaatlichen Regionalpolitiken geworden. Zu diesen Entwicklungsbestrebungen gehört auch die Gemeinschaftsinitiative LEADER, die kleinräumige Problemsituationen und damit verbunden integrierte Entwicklungskonzeptionen filr ländliche Regionen von "lokaler Dimension" unter besonderer Berücksichtigung des "Eigenpotentials" in den Mittelpunkt stellt (Kommission EG, 1994, S.44). Als eine solche kleinräumig abgegrenzte Projektregion filr lokal angepaßte Entwicklungsbestrebungen im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative LEADER wurde das obere Altmühltal ausgewählt. J Um exemplarisch kleinräumige strukturelle Anpassungsprozesse vor dem Hintergrund regionalpolitischer Anstrengungen zu analysieren, dient es als Untersuchungsregion filr die vorliegende Arbeit. Berücksichtigt man die Zielsetzung der Gemeinschaftsinitiative LEADER, im oberen AltmUhltal die regionalen Entwicklungspotentiale durch integrierte Fördermaßnahmen zu aktivieren, sind dafilr als Grundlage detaillierte Kennt-

2

Zu den Herausforderungen der neunziger Jahre ftir die Regionalpolitik vgl. ARL, 1992, S. 32; ebenso Hahne/Maier, 1993, S. 2. J Synonym zur Bezeichnung "oberes AItmühItal" wird ftir die Untersuchungsregion ebenfalls die Bezeichnung "Altmühleinzugsgebiet" verwendet.

1.2 Zielsetzung und Aufbau

21

nisse sozioökonomischer Entwicklungsprozesse notwendig. Diese können sich durch den integrierten Ansatz nicht nur auf den landwirtschaftlichen Bereich beschränken, sondern es müssen durch die komplexen Zusammenhänge räumlicher Entwicklungsprozesse ebenso die demographischen und die außerlandwirtschaftlichen Veränderungen berücksichtigt werden, um eine problemorientierte kleinräumige Informationsgrundlage für lokal angepaßte Aktivitäten zu schaffen. Mit der auf spezifische regionale Potentiale ausgerichteten Zielsetzung unter Berücksichtigung der Partizipation lokaler Entwicklungsgruppen als Träger der Entwicklungsbestrebungen im Rahmen der Gemeinschaftsinitiative LEADER spiegelt sich aber auch ein konzeptioneller Wandel der praktischen Regionalpolitik wider, der sich stärker in Richtung einer Regionalpolitik "von unten" orientiert. Damit werden zusätzlich eine Reihe von Fragen nach den notwendigen instrumentellen und konzeptionellen Änderungen der praktizierten Regionalpolitik im ländlichen Raum aufgeworfen.

1.2 Zielsetzung und Aufbau der Untersuchung Die übergeordnete Zielsetzung der vorliegenden Untersuchung ist, einen Beitrag zu leisten, regionale Entwicklungspotentiale oder aber auch Entwicklungsrestriktionen im oberen Altmühltal zu identifizieren. Dabei soll weniger auf die regionalen Standorteigenschaften und die Ressourcenausstattung eingegangen werden, sondern vor allem auf strukturelle Entwicklungsprozesse, da diese einerseits Hinweise liefern auf die lokalen Standorteigenschaften und damit auf die bisherige Nutzung vorhandener Entwicklungspotentiale. Andererseits sind sie aber auch die Informationsgrundlage, um Aussagen über zukünftig zu erwartende Veränderungen in der Region zu machen. Damit dient eine solche Regionalanalyse zur Messung räumlicher Disparitäten und auch als Informationsbasis, den politischen Handlungsbedarf vor dem Hintergrund der vorhandenen politischen Leitbilder zu rechtfertigen. Zusätzlich soll den konzeptionellen und instrumentellen Fragen zur Ausgestaltung einer Regionalpolitik zur Aktivierung "endogener Potentiale" nachgegangen werden, wie sie durch die Grundkonzeption der LEADER-Initiative aufgeworfen werden. Zur Einführung in die komplexe Thematik der Entwicklungsprozesse in ländlichen Räumen werden zunächst die veränderten Rahmenbedingungen und die daraus zu erwartenden Entwicklungstendenzen und damit auch die neuen Herausforderungen für diese Raumkategorie diskutiert. Als Einstieg in die Problematik dienen einige grundSätzliche Anmerkungen zu dem häufig undifferenziert und pauschal problematisierten Begriff des "ländlichen Raumes". Die Notwendigkeit einer "begrifflichen Standortbestimmung" erscheint vor allem

22

1. Einleitung

dann notwendig zu sein, wenn man die Probleme und Entwicklungskonzepte ft1r den ländlichen Raum diskutiert, wie es in der vorliegenden Untersuchung der Fall ist. Auf der Basis dieser allgemeinen Situationsanalyse ländlicher Räume werden die theoretischen Erklärungsansätze räumlicher Disparitäten vor dem Hintergrund der praktischen regionalen Wirtschafts- und Strukturpolitik, wie sie in der Bundesrepublik Anwendung fmden, umrissen. Der Schwerpunkt liegt bei der Ausgestaltung der europäischen Regionalpolitik, die die politische Grundlage der Gemeinschaftsinitiative LEADER bildet. Daneben fmden sich im konzeptionellen Ansatz von LEADER eine Reihe von Elementen, die Bestandteil neuerer regionalpolitischer Konzepte sind, die eine stärkere Orientierung des regionalpolitischen Instrumentariums an dem "endogenen Entwicklungspotential" fordern. Von diesen konzeptionellen Neuerungen ausgehend wird zunächst der Begriff des "endogenen Entwicklungspotentials" näher eingegrenzt, um darauf aufbauend unterschiedliche Konzepte endogener Entwicklungsstrategien zu diskutieren. Damit soll einerseits die theoretische Grundlage geschaffen werden, die LEADER-Initiative konzeptionell einordnen zu können, und andererseits lassen sich durch diese Betrachtung notwendige institutionelle und instrumentelle Änderungen der praktischen Entwicklungspolitik ft1r den ländlichen Raum ableiten, wie sie vor dem Hintergrund von Entwicklungskonzeptionen, die das "endogene" Entwicklungspotential in den Mittelpunkt stellen, notwendig sind. Ausgehend von dieser theoretischen Diskussion unterschiedlicher Entwicklungskonzeption und deren institutionellen und instrumentellen Anforderungen beinhaltet der zweite Abschnitt der Untersuchung eine empirische Analyse der strukturellen Situation im oberen Altmühltal. Unter Berücksichtigung der Zielsetzung der LEADER-Initiative regional und lokal angepaßten Entwicklungsbestrebungen zu ilirdern, und der Zugrundelegung der Hypothese, daß gerade Entwicklungsdispariäten auf sehr kleinräumiger Maßstabsebene in den ländlichen Räumen eine stärkere Bedeutung erlangen und damit angepaßte Konzepte erfordern, sind nicht nur die regionalen Entwicklungsprozesse im interregionalen Kontext von Interesse, sondern es sind insbesondere Informationen über die kleinräumigen strukturellen und funktionalen intraregionalen Verflechtungen und Anpassungsprozesse notwendig. Nur mit einer solchen differenzierten Betrachtung können die spezifischen ökonomischen und demographischen Zusammenhänge aufgezeigt werden, die wiederum als Grundlage dienen können, individuell auf lokale Besonderheiten ausgerichtete Entwicklungskonzepte zu entwerfen. Entsprechend der erläuterten

1.2 Zielsetzung und Aufbau

23

Notwendigkeit, die Region oberes Altmühltal sowohl einer interregionalen als auch einer differenzierten intraregionalen Analyse zu unterziehen, finden sich diese beiden Komponenten auch im empirischen Teil der Untersuchung wieder. Insgesamt lassen sich im empirischen Teil zwei größere Abschnitte unterscheiden: Im ersten wird versucht anhand von ausgewählten Indikatoren zu den regionalen demographischen, landwirtschaftlichen und außerlandwirtschaftlichen Entwicklungsprozessen und damit zur Ist-Situation deskriptiv-analytisch die wichtigsten strukturellen Unterschiede und Anpassungsprozesse sowohl im inter- als auch im intraregionalen Kontext herauszuarbeiten. Zudem werden Aussagen über die zukünftige Entwicklung anband quantitativer Modelle und Befragungsergebnisse getroffen. Inhaltlich gliedert sich dieser Teil der empirischen Analyse in drei Unterabschnitte. Zunächst werden Kennziffern zur demographischen Entwicklung analysiert, da diese die allgemeinsten Indikatoren zur Charakterisierung der Lebensbedingungen und indirekt den Bewertungsmaßstab ftlr die Attraktivität eines Raumes darstellen. Auf dieser Analyse aufbauend wird die zukünftige Bevölkerungsentwicklung prognostiziert, um daraus Rückschlüsse auf sich abzeichnende demographische Probleme und auf das Erwerbspersonenpotential zu ziehen, das unter Arbeitsmarktgesichtspunkten das Angebot an Arbeitskräften determiniert. Darauf aufbauend werden Indikatoren zur wirtschaftlichen Entwicklung unter Arbeitsmarktgesichtspunkten im oberen Altmühltal betrachtet. Ausgehend von einer Verflechtungsanalyse der Untersuchungsregion im regionalen Arbeitsmarkt durch Pendlerbeziehungen ist die Entwicklung der Nachfrage der außerIandwirtschaftlichen Wirtschaftsbereiche nach Arbeitskräften ein Kernelement dieses Abschnitts. Mit Hilfe der Shift-Analyse soll dabei insbesondere der Frage nachgegangen werden, inwiefern die langfristige Entwicklung auf die Struktur der Nachfrage oder auf den Standort zurückzuftlhren ist. Ergänzt wird sie durch eine Prognose der außerlandwirtschaftlichen Arbeitsplatzentwicklung. Da man nicht alle wichtigen Standortfaktoren anband statistischer Kennziffern messen kann und die Bedeutung solcher Kenngrößen nicht nur branchenspezifisch differiert und qualitative Aspekte unberücksichtigt blieben, erfolgt zusätzlich eine Darstellung der subjektiven Einstufung der Untersuchungsregion als Wirtschaftsstandort aus der Sicht von in der Region ansässigen Unternehmern. Den Abschluß des deskriptiv-analytischen Abschnitts der Untersuchung bildet die Analyse der strukturellen und sozioökonomischen Situation der landwirtschaftlichen Betriebe und des Agrarstrukturwandels. Der Bedarf an Informationen zu diesem Bereich ist neben seiner hohen Bedeutung im oberen

24

I. Einleitung

Altmühltal durch die regionalpolitischen Anstrengungen begründet, die insbesondere rur das obere Altmühltal agrarsektororientierte Maßnahmen in Fonn von Diversifizierungsbestrebungen der landwirtschaftlichen Produktion beinhalten. Dabei wird ebenfalls nicht nur auf sekundärstatistische Daten zurUckgegriffen, sondern es werden auch die Daten einer Primärerhebung verwendet, insbesondere um Aussagen über den zukünftig ablaufenden sozioökonomischen Strukturwandel in der Region machen zu können. Der zweite Abschnitt des empirischen Teils versucht die komplexen Entwicklungsprozesse innerhalb der Untersuchungsregion in den Mittelpunkt zu stellen. Ausgehend von der Überlegung, daß eine deskriptiv-analytische Untersuchung anband eindimensionaler Indikatoren nicht ausreicht, um die Komplexität und Vielfalt räumlicher Strukturen und deren Interdependenzen im Zusammenhang mit einer problemorientierten Identifizierung unterschiedlicher Entwicklungsmuster abzubilden, werden mit Hilfe multivariate Analysemethoden kleinräumige Teilregionen mit ähnlichen strukturellen Entwicklungsprozessen und damit vergleichbaren Ausgangspositionen und Entwicklungspotentialen rur die in der Region zukünftig stattfindenden Anpassungsprozesse identifiziert und zu Gruppen zusammengefaßt. Eine solche intraregionale Differenzierung "homogener" Teilräume stellt somit einen Kompromiß dar zwischen der zunehmenden Bedeutung lokaler Besonderheiten sowie individuellen Struktunnerkmalen bei zunehmender Disaggregation der räumlichen Betrachtungsebene und den Gemeinsamkeiten des sich vollziehenden Strukturwandels in den Gemeinden der Untersuchungsregion bzw. den sich abzeichnenden Entwicklungstendenzen. Analog zum ersten Abschnitt des empirischen Teils werden bei der Klassifizierung der Gemeinden demographische, agrar- und wirtschaftsstrukturelle Indikatoren verwendet, wobei der Schwerpunkt auf der Verwendung von Kennziffern aus dem Bereich der landwirtschaftlichen Entwicklung liegt. Dabei werden die im ersten Teil detailliert beschriebenen Kennziffern durch eine Reihe weiterer Merkmale zur Charakterisierung der Raumstruktur aus den verschiedenen Bereichen ergänzt. Verwendung finden dabei sowohl Strukturgrößen als auch Wachstumsraten, um damit den dynamischen Prozessen in der Untersuchungsregion gerecht zu werden. Die unterschiedlichen Entwicklungstypen werden am Ende dieses Abschnittes vertiefend im Hinblick auf die zu erwartenden Entwicklungsprozesse eingeordnet. Vor dem Hintergrund der strukturellen Situation erfolgt zum Abschluß der Untersuchung eine Darstellung der Gemeinschaftsinitiative LEADER, wie sie im oberen Altmühltal umgesetzt wird. Im Mittelpunkt stehen dabei vor allem organisatorisch-institutionelle Fragen, wie sie sich aus der theoretischen Diskussion der Förderung endogener Potentiale ergeben.

1.3 Empirisches Analysemodell und Datengrundlage

25

1.3 Empirisches Analysemodell und Datengrundlage Das Analysekonzept des empirischen Teils der vorliegenden Untersuchung wird vor allem durch die Zielsetzung geprägt, eine interdisziplinäre Betrachtung der regionalen Entwicklungsprozesse und strukturellen Situation im oberen AltmUhltal wiederzugeben, um damit verbunden inter- und intraregionale disparitäre Entwicklungen aufzuzeigen. Entsprechend dieser Zielsetzung mUssen die Systemkomponenten des Analysemodells so gewählt sein, daß sowohl ökonomische (landwirtschaftliche und außerlandwirtschaftliche) als auch demographische Komponenten und deren Interdependenzen berUcksichtigt werden. Eine solche interdependente Verflechtung ergibt sich, wenn man den Arbeitsmarkt als zentrales Element auffaßt und davon ausgehend die Entwicklung des Angebots und der Nachfrage nach Arbeitskräften analysiert. Somit ist, trotz der inhaltlichen Schwerpunktbildung auf die strukturellen Veränderungen im Agrarbereich, der Arbeitsmarkt als Bindeglied zwischen demographischer und ökonomischer Entwicklung als eine zentrale Größe der empirischen Untersuchung aufzufassen (Abbildung 1). Die empirischen Ergebnisse basieren sowohl auf sekundärstatistischem Material als auch auf primärerhobenen Daten, die durch das Institut filr landwirtschaftliche Betriebslehre der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn im Rahmen eines Forschungsprojektes im Auftrag des Bayerischen Staatsministeriums rur Ernährung, Landwirtschaft und Forsten erhoben wurden. Da es sich bei der Untersuchungsregion weder um eine Verwaltungseinheit noch um eine abgegrenzte Arbeitsmarktregion oder eine sonstige Einheit der Raumbeobachtung handelt und somit keine aggregierten Daten vorliegen, ist es für die sekundärstatistische Datenauswertung notwendig, die Analyseebene bis auf die kommunale Ebene in der Region zu disaggregieren. Dies hat aber quantitative und qualitative Konsequenzen auf das zur Verrugung stehende Datenmaterial. Zum einen ist grundsätzlich die Datenverrugbarkeit eingeschränkt, aber zum anderen mUssen auch bei vorhandenen Daten Einschränkungen gemacht werden. Dies betriill vor allem die Aktualität des verwendeten Datenmaterials, da viele Rohdaten nur für die Zeitpunkte der Volks- und Arbeitsstättenzählungen zur Verrugung stehen. Bei den durchgeruhrten Primärerhebungen handelt es sich um Befragungen von Betriebsleitern landwirtschaftlicher und außerlandwirtschaftlicher Unternehmen. Die Notwendigkeit der Ergänzung sekundärstatistischer Quellen durch Primärerhebungen ergibt sich aus pragmatischen GrUnden aus den genannten quantitativen und qualitativen Mängeln statistischer Daten, die durch regelmäßige statistische Erhebungen erfaßt werden und zum anderen durch die spezifische Fragestellung des Forschungsprojektes nach den kleinräumigen

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1. Einleitung

Entwicklungsprozessen und regionalen Standorteigenschaften des oberen Altmühltals als Wirtschafts standort im landwirtschaftlichen und außerlandwirtschaftlichen Bereich.

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Abbildung I Komponenten des empirischen Analysemodells und ihre Wirkungszusammenhänge

In der Befragung der landwirtschaftlichen Betriebsleiter wurden Daten erhoben, die eine Bewertung der sozialen und ökonomischen Situation der Betriebsleiterfamilien und somit quantitative Aussagen über den zukünftigen autonomen und ökonomisch motivierten landwirtschaftlichen Strukturwandel zulassen.

1.3 Empirisches Analysemodell und Datengrundlage

27

Methodisch erfolgten die Befragungen anhand standardisierter Fragebögen, die filr den landwirtschaftlichen Bereich von den Ortsobmännern des Bayerischen Bauernverbandes an die Landwirte in ihrem Verantwortungsbereich verteilt und wieder eingesammelt wurden. Insgesamt konnten mit dieser Methode die Angaben von 1011 landwirtschaftlichen Betrieben ausgewertet werden. Die Analyse der Struktur und Entwicklung der außerlandwirtschaftlichen Wirtschaftsstruktur wird durch die Ergebnisse einer Befragung gewerblicher Unternehmen in Form von standardisierten Interviews ergänzt, die im Rahmen des Forschungsvorhabens durchgefilhrt wurden. Zielpersonen waren dabei Personen, die einen maßgeblichen Einfluß auf die Unternehmensentscheidungen haben, wie Z.B. Geschäftsfilhrer oder auch Inhaber. Kernelement dieser Befragung ist die Bewertung des oberen Altrnühltals als Wirtschafts standort durch Einstufung von Standortfaktoren durch die ortsansässigen Unternehmer. Der Grund filr die Notwendigkeit einer Ergänzung der Analysen der wirtschaftsstrukturellen Entwicklung auf der Basis sekundärstatistischen Datenmaterials liegt darin, daß das Angebot an Arbeitsplätzen durch standortspezifische Besonderheiten bedingt sein könnte, die sich einer Quantifizierung durch die vorhandenen amtlichen Statistiken entziehen. Selbst bei vorhandenen Daten würde sich durch die empirische Analyse keine Rangfolge limitierender Engpaßfaktoren erstellen lassen, da der Grad der Ausprägung eines Indikators keinen eindeutigen Rückschluß auf den spezifischen Grad der Limitierung zuläßt. Desweiteren lassen sich durch die subjektive Einschätzung der außerlandwirtschaftlichen Unternehmer, die als Träger privatwirtschaftlicher Investitionen die Entwicklung des Arbeitsplatzangebotes entscheidend beeinflussen, Rückschlüsse auf die spezifischen Besonderheiten des oberen Altrnühltals und damit auf mögliche Ansatzpunkte filr lokal angepaßte Entwicklungskonzepte machen. Zusammenfassend soll diese Befragung vor allem dazu dienen, die bereits vorhandenen quantitativen Indikatoren durch qualitative Aussagen von Unternehmern zu ergänzen, um auf die Stärken und Schwächen des oberen Altrnühltals als Standort filr wirtschaftliche Aktivitäten schließen zu können. Insgesamt liegen den Ergebnissen dieser Erhebung die Antworten von 37 Unternehmen in 12 Gemeinden mit 2430 Beschäftigten in der Region zugrunde.

2. Situation ländlicher Räume und politische Bestrebungen zum Abbau räumlicher Disparitäten 2.1 Situation ländlicher Räume 2.1.1 Anmerkungen zum Begriff "ländlicher Raum"

Trotz einer nicht überschaubaren Anzahl von Veröffentlichungen, Programmen und Initiativen, die den ländlichen Raum betreffen, bereitet die Abgrenzung dieser Raumkategorie und die inhaltliche Interpretation des Begriffes immer wieder Schwierigkeiten. So reicht das Spektrum der Differenzierungsansätze von Negativabgrenzungen im Sinne des ländlichen Raumes als Gebiet außerhalb von Verdichtungsräumen über strukturelle Versuche bis hin zu funktionalen Abgrenzungen. Aus diesem Grund soll nicht ein weiterer Versuch einer Definition dieser Raumkategorie unternommen werden, wie es schon in einer Reihe wissenschaftlicher Arbeiten getan wurde, sondern nur die Problematik, die mit der Verwendung des Begriffes "ländlicher Raum" verbunden ist, 4 dargestellt werden. Falls jemals das traditionelle Bild des ländlichen Raumes in Verbindung mit dem Bild "des Lebens auf dem Lande" und dem vereinfachten Bild prosperierender Zentren mit ihren "urbanen Lebensweisen" zugetroffen hat, so gehört es bereits heute oder wird in Zukunft in vielen Regionen der Vergangenheit angehören. Konnte man den ländlichen Raum früher noch durch die hohe Bedeutung des Agrarsektors und durch eine geringen Bevölkerungsdichte hinreichend abgrenzen, so haben der industriegesellschaftIiche Entwicklungsprozeß und die damit verbundenen volkswirtschaftlichen Verflechtungen in den vergangenen Jahrzehnten dazu geführt, daß sich die Trennschärfe zwischen Stadt und Land in vielen Regionen aufgelöst hat (Ort, 1987, S. 298). Neben der Auflösung der Unterschiede zwischen Zentren und Peripherie brachte der Strukturwandel mit sich, daß ländliche Räume heute eine Vielzahl von neuen Funktionen erfüllen. Muß man aus historischer Sichtweise den

Für einen Überblick vgl. GEWOS, 1979, S. IOff.; ebenso Phillip, 1994, S. 13.

2.1 Situation ländlicher Räume

29

ländlichen Räumen eine relativ hohe Autarkie zuordnen, so hat der Entwicklungsprozeß dazu gefilhrt, daß sie heute in großräumige Vernetzungszusammenhänge eingebunden sind, die wiederum mit divergierenden Funktionsentwicklungen der einzelnen Teilräume verbunden sind. Es finden sich eine Vielzahl von ländlichen Räumen, die im Rahmen dieser Entwicklung entweder durch ihre geringe Entfernung zu größeren Verdichtungsräumen oder durch ihre verkehrstechnisch günstige Lage oder andere Standortfaktoren einen deutlichen ökonomischen Aufschwung als gewerblicher Standort und/oder eine Aufwertung als Wohnstandort erfahren haben. Reizvol1e natürliche Standorteigenschaften filhrten dazu, daß sich Teilräume durch eine Veränderung des Freizeitverhaltens und eine Zunahme der räumlichen Mobilität der Bevölkerung zu Naherholungs- und Fremdenverkehrsgebieten entwickelt haben. Daneben werden aber auch Regionen dem Begriff "ländlicher Raum" zugeordnet, die zwar einen Rückgang ihrer Funktionsvielfalt hinnehmen mußten, dieser aber nicht durch neue Funktionen aufgefangen werden konnte (Hahne/Maier, 1993, S. 1). Insgesamt filhrt der ablaufende Strukturwandel dazu, daß die Heterogenität der Raumstruktur insgesamt zunimmt, so daß einerseits viele Regionen (auch zwischen den Zentren und Verdichtungsräumen) mit neuen Problemlagen, aber auch mit neuen Entwicklungsmöglichkeiten zur Überwindung ökonomischer und sozialer Disparitäten konfrontiert sind. 5 Für andere Regionen dagegen läßt sich eine Stabilisierung oder Verschärfung bestehender Problemlagen feststellen (Mose, 1993, S. 19). Desweiteren ist durch die räumlichen Abgrenzungsschwierigkeiten die Frage des räumlichen Maßstabs von entscheidender Bedeutung, da sich zusätzlich die Heterogenität durch die Veränderung der Maßstabsebene bei der räumlichen Analyse erhöht. Es besteht somit eine latente Gefahr, daß bei großräumiger Differenzierung räumlicher Einheiten, d.h. bei der Wahl eines zu großen Maßstabes positive (negative) Entwicklungen nachgewiesen werden können, sich aber bei der Verlagerung auf eine kleinere Maßstabsebene intraregionale Probleme verschärft (entschärft) haben und dieses nicht erkannt wird. 6 Es entstehen aber Disparitäten innerhalb der Zentren genauso wie innerhalb peripherer ländlicher Regionen. Diese intraregionalen Disparitäten zwischen

Vgl. ebenfalls Herdzina, 1994, S. 2. Exemplarisch kann man das Phänomen der Wanderungsbewegungen anfUhren, da bei diesen je nach Maßstabsebene intraregionale demographische Veränderungen nivelliert werden. Vgl. Phillip; 1994, S. 10.

30

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

prosperierenden und entwicklungsschwachen ländlichen Gebieten auf einer sehr disaggregierten kleinräumigen Maßstabsebene spielen oft eine größere Rolle, als es der Gegensatz zwischen Zentren und Peripherie im großräumigen Maßstab zu erklären vermag (Mose, 1993, S.32). Durch Verringerung des Maßstabes erhöht sich zwar die Heterogenität der Raumstruktur, aber es können individuelle Charakteristika und lokale Besonderheiten kleinerer räumlicher Einheiten aufgedeckt werden, die im Rahmen der Beurteilung der Problemsituation und der Entwicklungsmöglichkeiten bei einem zu großen Maßstab und einem entsprechend angepaßten Beurteilungsschema filr die regionale Situation nicht berücksichtigt werden wUrden. Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit dem Begriff "ländlicher Raum" erscheint insbesondere wichtig, da er in vielen Diskussionen undifferenziert als ein homogenes Gebilde behandelt wird. Es bleibt festzuhalten, daß die Komplexität der Raumstruktur und die ihrer dynamischen Veränderungen zu einer wichtigen Erkenntnis fUhren muß, nämlich, daß es den ländlichen Raum nicht gibt und "daß er [der ländliche Raum] regionalpolitisch weder eine homogene Raumkategorie noch ein regionalpolitisches Problemgebiet an sich ist" (Ort, 1987, S.298). "Was es gibt, ist eine Vielzahl von regionalen und lokalen Besonderheiten,,7 (Lohkamp-Himmighojen, 1990, S. 10). Der Begriff "ländlicher Raum" sagt somit nichts über seine Entwicklungschancen aus und kann deshalb auch nur als ein Oberbegriff verstanden werden, unter dem eine Reihe von Teilräumen subsumiert werden, die sich in ihrer spezifischen strukturellen und funktionalen Situation unterscheiden und letztendlich auch in ihren Entwicklungsproblemen, -möglichkeiten und -chancen. Auch wenn diese Feststellung nicht neu ist, gewinnt sie doch immer wieder an Bedeutung, vor allem aber dann, wenn man über Probleme im ländlichen Raum und Entwicklungsstrategien fUr den ländlichen Raum diskutiert. Der Grund liegt in der latenten Gefahr, daß die Vorstellung über einen strukturschwachen Einheitsraum dazu fUhren könnte, falsche Rückschlüsse zu ziehen und auf einheitliche Entwicklungsmuster und -konzepte zu schließen. Das könnte aber zur Konsequenz haben, daß man sich einerseits auf "nicht passende Strukturmuster" beschränkt und andererseits individuelle Entwicklungschancen ausläßt (Herdzina, 1994, S. 3).

Dies ist eine allgemeine Feststellung und läßt sich entsprechend auf Zentren und Verdichtungsräume und somit auf die gesamte Raumstruktur übertragen.

2.1 Situation ländlicher Räume

31

2.1.2 Problemfelder ländlicher Regionen

Obwohl im vorangegangenen Abschnitt im Grundsatz festgestellt wurde, daß es den "ländlichen Raum" als homogenes Gebilde und somit auch als Problemregion nicht gibt, lassen sich neben den oft vorhandenen naturräumlichen Standort- und Lagenachteilen dennoch Problemfelder benennen, mit denen ländliche Regionen in unterschiedlichem Maße konfrontiert sind. Wie aus der Begriffsdiskussion deutlich wird, kann eine solche Problemskizze nur überblickartig konzipiert sein, da sie weder filr jede Region noch in der gleichen Wirkungsrichtung und -intensität zutreffen und somit keine allgemeine Gültigkeit haben kann. Zielsetzung ist vielmehr, die Breite des Problemspektrums und damit die Komplexität der Entwicklungsprobleme zu verdeutlichen. Ein wichtiges Problemfeld, das in der Diskussion über die Situation ländlicher Räume immer wieder angeftihrt wird, ist die demographische Entwicklung mit ihren Konsequenzen. Waren ländliche Räume durch den Industrialisierungsprozeß bis in die 60er Jahre traditionelle Abwanderungsgebiete, insbesondere von Arbeitskräften, die durch Agrarstrukturwandel freigesetzt wurden, so muß man unter demographischen Gesichtspunkten die Problembereiche heute weiter differenzieren. Man kann zwar noch immer das "traditionelle" Problem der Landflucht in vielen peripheren Regionen identifizieren, hierzu gehören Z.B. im europäischen Kontext große Teile Zentralspaniens, Portugals oder Irlands, aber auch Teile der neuen Bundesländer und vereinzelte Landkreise in peripheren Lagen der alten Bundesländer. Doch hat das Abwanderungsproblem heute in zweierlei Hinsicht stärker selektiven Charakter. Einerseits sind nicht alle Räume mit diesem Problem konfrontiert, da viele ländliche Regionen starke Wanderungsgewinne verzeichnen, was in einem engen Zusammenhang zu sehen ist mit der gestiegenen "Attraktivität des Lebens auf dem Lande" in Verbindung mit einem Anstieg der Nachfrage nach "konsumnaher" Landnutzung und einer positiven wirtschaftlichen Entwicklung vieler ländlicher Regionen8 (Ort, 1987, S. 306). Anderseits wird trotz teilweise positiver Wanderungssalden, die sich primär auf ältere Bevölkerungsschichten konzentrieren, in vielen ländlichen Regionen der Bundesrepublik das Problem der Abwanderung jüngerer und höher qualifizierter Bevölkerungsschichten immer wieder festgestellt (Lohkamp-Himmighojen, 1990, S.15). Daraus folgt ein Verlust an Humankapital mit seinen negativen Konsequenzen rur die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung, der die Regionen

Ort (1987, S. 309) weist im Zusammenhang mit der positiven wirtschaftlichen Entwicklung ländlicher Regionen auf die Wirkungen der Regionalpolitik hin.

32

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

besonders trifft, die noch immer von einer absoluten Verringerung der Bevölkerung durch Wanderungsverluste betroffen sind. Dieses Problem der sozialen Erosion in Verbindung mit dem Problem der Überalterung wird in einzelnen Regionen noch verstärkt durch den Zuzug älterer Bevölkerungsschichten, die sich im Rahmen der Altersruhesitzwanderung in Regionen mit einer hohen natürlichen Attraktivität niederlassen. 9 Thematisch sehr nahe verwandt mit der Altersruhesitzwanderung ist die fortschreitende Beanspruchung der Landschaft durch Freizeit- und Erholungsaktivitäten. Viele ländliche Räume sind heute wichtige Fremdenverkehrs- oder Naherholungsräume für städtische Bevölkerungsschichten. Diese Entwicklung stellt für viele Regionen eine Chance für die wirtschaftliche Entwicklung dar, doch lassen sich auch eine Reihe ehemaliger ländlicher Regionen identifizieren, die heute schon unter den Folgen des Tourismus leiden. In Extremfiillen werden die ländlichen Regionen mit den Konsequenzen des Massentourismus (z.B. die Zerstörung von alter Bausubstanz, ökologische Folgen durch Zerstörung von Ökosystemen oder durch die extreme Verkehrsbelastung, wie es in diesem Zusammenhang im oft exemplarisch angeführten Alpenraum der Fall ist) konfrontiert (Mose, 1993, S. 24). Ausgehend von geringen Bevölkerungsdichten in Verbindung mit einer dispersen Siedlungsstruktur und der demographischen Entwicklung (GeburtenrUckgang, Überalterung, Wanderungsbewegungen) gehört die ausreichende Versorgung mit Infrastruktureinrichtungen in zumutbarer Entfernung ebenfalls zu den traditionellen Problembereichen des ländlichen Raumes. Hinsichtlich der Versorgung der Bevölkerung mit öffentlichen Infrastruktureinrichtungen ist für die Bundesrepublik von einem relativ hohen Standard auszugehen, und es sind nur noch in Teilbereichen räumliche Disparitäten festzustellen, wobei durch das höhere Nachfragepotential in den Zentren grundsätzlich von einem differenzierteren Angebot pro Flächeneinheit auszugehen ist (Schroers, 1995, S. 32). Trotz eines bemerkenswerten Abbaus von Defiziten läßt sich für viele Regionen die Auslastungsproblematik in Verbindung mit der Bereitstellung einer zeitgemäßen Infrastrukturausstattung nicht von der Hand weisen, da sich seit Jahren für bestimmte Bereiche massive Rationalisierungs- und Zentralisierungstendenzen abzeichnen. 'o Die latente Gefahr der relativen Unterversorgung gilt sowohl für öffentliche Infrastruktureinrichtungen als auch für eine Reihe von privatwirtschaftlichen Versorgungseinrichtungen, da einerseits damit zu rechnen ist, daß die Bereit-

9 10

Typische Beispiele sind Teilregionen des Alpenraumes. Vgl. Paesler, 1987, S. 40. Zur Bedeutung der Infrastruktur fiir den ländlichen Raum vgl. Mönicke, 1994.

2.1 Situation ländlicher Räume

33

stellungskosten rur öffentliche Infrastruktureinrichtungen steigen oder aber sie durch den Rückgang bzw. die Stagnation der Einnahmen nicht mehr fmanziert, oder aber durch den geringen Auslastungsgrad politisch nicht mehr gerechtfertigt werden können, was wiederum durch die weitverbreitete Finanzschwäche 11 der Gebietskörperschaften in ländlichen Räumen verstärkt wird. Andererseits ziehen sich z.B. Einzelhandelsgeschäfte oder kleinere Handwerksbetriebe bei nicht rentabler Geschäftslage aus der "Fläche" zurück, bzw. durch das geringe Nachfragepotential ist nicht damit zu rechnen, daß sich durch private Investitionen das Dienstleistungsangebot zukünftig verbessern wird (Schroers, 1995, S. 33). Als das eigentliche Kemproblem fUr viele ländliche Regionen muß man die als traditionell einzustufende Arbeitsmarktproblematik in Verbindung mit der sektoralen Wirtschaftsstruktur anfUhren. In einem großräumigen empirischen Vergleich sekundärstatistischer Daten zwischen den "ländlich geprägten Regionen", wie sie von der Bundesanstalt fUr Landeskunde und Raumordnung ausgewiesen werden, und den übrigen Teilregionen, die in der laufenden Raumbeobachtung Verwendung finden, identifiziert Lohkamp-Himmighojen (1990, S. 43) folgende Merkmale mit dem Hinweis auf die Heterogenität der Raumstruktur als wesentliche Problemfelder der Arbeits- und Beschäftigungssituation im ländlichen Raum: 12 - eine noch immer starke Bedeutung der Land- und Forstwirtschaft als Erwerbszweig, - ein ausgeprägtes Berufspendlerturn, das auf einen Mangel an außerlandwirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten zurUckzufUhren ist, - ein demographisch bedingter Druck auf Arbeitsmärkte im ländlichen Raum, der durch den agrarstrukturellen Wandel erhöht wird, wodurch es in vielen ländlichen Regionen trotz positiver Beschäftigungsentwicklung nicht zu einer Entspannung des Arbeitsmarktes kommt, 13 - oft ein Mangel an qualifizierten Arbeitsplätzen und Vielseitigkeit des Arbeitsplatzangebots, der wiederum in einem geringeren Lohnniveau zum Ausdruck kommt,

11

Diese Problematik dürfte allerdings auch fUr einen Großteil von Gebietskörgerschaften in Verdichtungsräumen zutreffen. Vgl. ebenfalls Phillip, 1994, S. 30. Die BjLR unterscheidet zwischen Ländlichen Regionen, Regionen mit Verdichtungsansätzen und Regionen mit großen Verdichtungsräumen. Als Abgrenzungsmerkmale dienen die Bevölkerungsdichte, das Vorhanden sein von Städten über 100.000 Einwohner und die Entfernung zu Verdichtungsräumen. Vgl. BjLR, 1992, S. Ilff. 13 Vgl. ebenfalls Tönnies, 1987, S. 137. 3 Schön

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2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

ein unterdurchschnittliches Qualifikationsniveau der Ausbildungsplätze im Zusammenhang mit Angebotsdefiziten bei einer gleichzeitigen hohen Nachfrage, - tendenziell eine insgesamt höhere Arbeitslosigkeit mit sehr starken intraregionalen Disparitäten zwischen den ländlich geprägten Regionen und einer stärkeren Ausprägung der Jugendarbeitslosigkeit und der saisonalen Arbeitslosigkeit. Mit den Arbeitsmarktproblemen hängt auch der weiter fortschreitende Bedeutungsverlust der Landwirtschaft als ökonomische Basis filr die Mehrzahl der Bevölkerung in den ländlichen Regionen zusammen. Obwohl der Anteil der Land- und Forstwirtschaft an der Bruttowertschöpfung im Bundesdurchschnitt insgesamt kaum mehr als 1 % beträgt und die Anzahl der Erwerbstätigen in diesem Sektor auf rund 3 %14 im frUheren Bundesgebiet gesunken ist, ist die Bedeutung der Landwirtschaft filr viele ländliche Regionen zwar nicht mehr der bestimmende, aber immer noch ein wichtiger ökonomischer Faktor. Dies gilt insbesondere, wenn man den vor- und nachgelagerten Bereich und den steigenden Anteil der Nebenerwerbsbetriebe in die Betrachtung mit einbezieht. Für die Zukunft wird sich durch sinkende Einkommenserwartungen im landwirtschaftlichen Bereich und durch die Problematik der Hofnachfolgesituation der strukturelle Anpassungsprozeß durch einen Rückgang der Zahl landwirtschaftlicher Betriebe weiter fortsetzen. Damit lassen sich verschiedene Problemfelder identifizieren. Zum einen das klassische Problem der Verschärfung demographischer bzw. infrastruktureller Probleme in Verbindung mit den arbeitsmarktspezifischen Problemen als Folge des Agrarstrukturwandels. Diese Problematik trifft vor allem in den Regionen zu, in denen die in der Landwirtschaft tätige Bevölkerung noch einen signifikanten Anteil an der Bevölkerung hat, d.h. primär in den dUnn besiedelten Regionen, und nicht in den Regionen, die durch Suburbanisierungsprozesse in den vergangenen Jahren schon eine starke Veränderung ihrer Sozial- und Wirtschaftsstruktur erfahren haben (Berg, 1992, S. 67). Stellt man die bisherigen Ausfilhrungen zur Arbeitsplatzproblematik in ländlichen Regionen im Zusammenhang mit den strukturellen Veränderungen im Agrarsektor und deren Wirkungen auf Bevölkerung und Infrastrukturauslastung stark vereinfacht graphisch dar, so ergeben sie die in Abbildung 2 dargestellten Wirkungszusammenhänge.

14

Vgl. BMELF, 1993, S. 13fT.

2.1 Situation ländlicher Räume

35

Unterauslastung von Infrastruktureinrichtungen ' - - - - - - - 1 Überalterung der Bevölkerung ~_ _ _ _ _....J

Abbildung 2 Circulus vitiosus der Fehlentwicklung ländlicher Regionen (Bauer, 1979, S. 16)

Dieser exemplarisch nur auf die Landwirtschaft bezogene Konfliktbereich zwischen Ökonomie und Ökologie ist ebenfalls in einem Problemfeld kleinräumiger und großräumiger Umwelt- und Ressourcenprobleme einzuordnen, die eine wichtige Rahmenbedingung filr die räumliche Entwicklung und damit rur die zukünftige Regionalpolitik darstellen (ARL, 1992, S. 32). So muß man unter räumlichen Gesichtspunkten feststellen, daß die ländlichen Regionen eine ökologische Ausgleichsfunktion leisten und damit einen maßgeblichen Beitrag zur Regenerationsflihigkeit des Gesamtökosystems. In diesem Zusammenhang läßt sich eine steigende Tendenz einer "Problemüberwälzung" von den Zentren auf die Peripherie feststellen. Tönnies (1987, S. 137) konstatiert in diesem Zusammenhang eine zunehmende Gefahr, "daß die Zentren sich auf Kosten der Funktionsflihigkeit der ökologischen Potentiale ländlicher Regionen sanieren, entsorgen (Sondermüll, Abwässer, Luftverunreinigung) und versorgen (z.B. Trink- und Brauchwasser)".

Schmals und Voigt (1986, S.7) sehen in dieser Entwicklung sogar eine modeme Fortsetzung der historischen Orientierung an städtische Lebensverhältnisse und damit der gesellschaftlichen Benachteiligung ländlicher Räume, die in der Regel "dann im Blickpunkt der Öffentlichkeit' erscheinen, wenn sie als Regenerationsräume rur ökologisch uberlastete Metropolen, als Erholungszonen rur Jreizeitsuchende Städter, als Auffangbecken rur sozialschwache Bevölkerungsgruppen oder als Standort rur militärische Einrichtungen und geflihrliche-technologisch nicht gebändigte - Großinfrastrukturanlagen benötigt

36

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

werden". Zu den obigen Ausftlhrungen zur Definition des Begriffes und der Problemfelder ländlicher Räume ist abschließend noch einmal festzuhalten, daß diese nicht rur alle Räume gleichermaßen zutreffen und bei einer Regionalisierung einzuschränken, aber auch in Einzelfällen auf weitere Bereiche auszudehnen sind. Auf der Basis der regionalen Gliederung der Bundesforschungsanstalt rur Landeskunde und Raumordnung werden rur die ländlich geprägten Regionen die in Tabelle 1 dargestellten großräumigen Entwicklungstrends und Wirkungen des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses erwartet. Sie stellen den Rahmen dar, innerhalb dessen sich Entwicklungsbestrebungen zur Verbesserung der Situation ländlicher Räume orientieren müssen. Tabelle J Regionale Entwicklungstrends ländlicher Regionen vor dem Hintergrund der Verwirklichung des Binnenmarktes Regionale Entwicklungstrends

Wirtschaft

Beobachtete Auswirkungen des europäischen Binnenmarktes Zunehmende funktionale Differenzie- Abnehmende Attraktivität als rung und disparitäre Entwicklung industrielle Ausweichzwischen ländlichen Räumen: periphere standorte durch wachsende ländliche Regionen stagnieren und Konkurrenz ost- und südeubIeiben hinter der wirtschaftlichen ropäischer Standorte. ErwarEntwicklung zurück. Im Einzugsbereich tung sinkender Zuweisungen von Verdichtungsräumen profitieren aus RegionaIfonds. Umfangländliche Regionen von "spiIl-overreiche FlächenstiIlegungen Effekten". Die wirtschaftliche Struktur und Umstrukturierung landschaftlich attraktiver Regionen landwirtschaftlicher Betriebe verändert sich durch die Zunahme von aufgrund von SubventionsZweitwohnungen bzw. Freizeit- und kürzungen. Regionale Erholungsnutzungen. Wirtschaftlich Spezialisierungen landwirtbegründete Bemühungen zum Erhalt schaftlicher Produkte nehmen militärischer Standorte werden an Bedeutung weiter zu. verstärkt.

Das Technologiegefiille zwischen den Keine Auswirkungen festTechnologie/ Agglomerationen und den ländlichen stell bar. Forschung und Regionen hat sich vergrößert. Die ländlichen Regionen haben bislang nicht Entwicklung vom Dezentralisierungspotential der neuen Kommunikationstechnologien profitieren können. Verkehr

Verkehrstechnische Erschließung durch Verstärkte Anstrengungen zur leistungsfllhige Schnellstraßen weitge- Anbindung an überregionale hend abgeschlossen. Sinkende BedieVerkehrsnetze. nungsqualität des öffentl. Nahverkehrs.

2.1 Situation ländlicher Räume

Umwelt

Wohnen

Raum- und Siedlungsstruktur

37

Keine unmittelbaren AusSteigende Boden- und Grundwasserwirkungen feststellbar. belastungen durch die Intensivlandwirtschaft. Zunehmend negative "spillover"-Effekte der Verdichtungsräume: Grundwasserentnahme, Belastungen des Naturraumpotentials (Wälder, Seen, Gebirge, etc.) durch Freizeit- und Erholungsaktivitäten. Ländliche Siedlungen, insbesondere im Hinterland der Verdichtungsräume, übernehmen immer häufiger Wohnfunktionen rur verdrängte Haushalte. Die funktionale Veränderung der Raum- und Siedlungsstruktur von ländlichen Räumen im Hinterland der Verdichtungsräume nimmt zu. Steigende Anforderungen an öffentlich~ Infrastruktur. Steigendes Interesse an Flächen rur Projekte, die in Verdichtungsräumen keine breite Akzeptanz mehr finden.

Erste Anzeichen rur die Entwicklung grenzüberschreitender Wohnungsmarkte (in den an der westlichen Grenze gelegenen Regionen).

Quelle: BMBAU, 1992, S. 126

2.1.3 Zukünftige Chancen und Risiken aus der Sicht außerlandwirtschaftlicher Unternehmen Zeitlich parallel und inhaltlich eng mit den politischen Rahmenbedingungen verflochten, zeichnen sich mittel- bis langfristige gesamtwirtschaftliche Entwicklungstendenzen ab, die hinsichtlich ihres Einflusses auf kleine und mittlere Unternehmen, welche überwiegend die Wirtschaftsstruktur ländlicher Räume kennzeichnen, nicht ohne Risiken und Wirkungen bleiben werden. Erleichtert durch die Liberalisierung innerhalb Europas werden bestehende externe Flexibilisierungsstrategien von Unternehmen im Zusammenhang mit globalsourcing-Bestrebungen erleichtert und geilirdert und somit die Internationalisierung der Unternehmensnetzwerke verstärkt. 15 Im Rahmen dieses Prozesses wird es zur Internationalisierung der Produktion und zur Globalisierung betrieblicher Beschaffungs- und Absatzmärkte kommen (BMBA U, 1994, S. 56).

15

Zu neueren Unternehmenskonzepten im Rahmen ökonomischer und technologischer Umstrukturierung und Rationalisierung vgl. Läpple, 1989, S. 222.

38

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Somit wird sich fUr viele Unternehmen der Wettbewerb zunehmend von der nationalen auf eine internationale Ebene verlagern. Die erwarteten Konsequenzen daraus sind einerseits, daß es durch die Integration der Märkte und die Erhöhung der Freizügigkeit zu dynamischen Prozessen kommt, die insgesamt zu einer Gesamtwohlfahrtssteigerung fUhren. 16 Andererseits besteht die Gefahr, daß es durch die Verstärkung des Wettbewerbs zwischen den Unternehmen im Zusammenhang mit der erhöhten Mobilität der Produktionsfaktoren ebenfalls zu einer Verschärfung des Standortwettbewerbs zwischen den Regionen kommen kann. Damit könnte es zu räumlichen Ressourcenreallokationen kommen, die leistungsschwächere Regionen aufgrund ihrer Wirtschaftsstruktur und ihrer geänderten Erreichbarkeitsverhältnisse besonders negativ treffen könnten. Neben dieser Entwicklung, die durch das Vorantreiben der europäischen Integration politisch gewollt ist, lassen sich ft1r die Unternehmen die Herausforderung neuer Formen zwischenbetrieblicher Arbeitsteilungen und die VerkUrzung der Produktlebenszyklen konstatieren (Klemmer, 1994, S. 11). Die Veränderung der zwischenbetrieblichen Arbeitsteilung läßt fUr die Zukunft immer stärkere Liefer-Empfangs-Verflechtungen insbesondere zwischen Zulieferbetrieben und Großindustrie erwarten. Ursache ist die verstärkte Anwendung logistikorientierter Fertigungskonzepte (Just-in-Time-Produktion), die eine produktionssynchrone Lieferung von Teilkomponenten verlangen und somit eine Auslagerung der Teilfunktionen Lagerhaltung und Transport auf die Zulieferer zu Folge haben. Damit wirkt diese Entwicklung tendenziell in Richtung einer Standortverlagerung der Zulieferindustrie, d.h. einer Arbeitsplatzkonzentration an wenigen Standorten verbunden mit einem Abbau von Arbeitsplätzen an den bisherigen Standorten (Häfner et al., 1993, S. 11). Daneben läßt sich im Rahmen neuerer Rationalisierungsbestrebungen seit längerem die Reduktion von Fertigungstiefen feststellen und damit eine Konzentration der Unternehmen auf ihre "Kernproduktion" (Läpple, 1989, S. 222). Diese Entwicklung des "Co-makerships" fUhrt zu steigenden Anforderungen an die Qualität der Produkte und an die informationstechnische Integration (EDV-Vernetzung) zwischen den Unternehmen. Damit mUssen aber auch die Qualifikation und Managementfllhigkeiten steigen. Insgesamt sind mit dieser Entwicklung fUr die Zukunft höhere Sach- ebenso wie höhere Humankapitalinvestitionen fUr die Unternehmen, insbesondere fUr Zulieferbetriebe, zu erwarten (Klemmer, 1994, S. 16).

16

Zu den potentiellen gesamtwirtschaftlichen Vorteilen der Marktintegration im Rahmen der Vollendung des Binnenmarktes vgl. Checchini, 1988, S. 131.

2.1 Situation ländlicher Räume

39

Durch den technischen Fortschritt werden Anstrengungen zur Produktdiversifizierung und die Entwicklung und Einfilhrung neuer Produkte am Markt beschleunigt. Durch die Veränderungen der Informationstechnologien erhöht sich die Diffusionsgeschwindigkeit von Information und technischem Wissen, so daß sich die potentiellen Anpassungsgeschwindigkeiten der Unternehmen an veränderte Marktsituationen erhöhen. Dies hat aber zur Folge, daß sich ebenfalls die Zeitspannen zur Amortisation von Entwicklungsaufwendungen zunehmend verringern und somit ein erhöhter Innovationswettbewerb zwischen den Unternehmen entsteht (Klemmer, 1994, S. 15). Da "sowohl die kleineren als auch die größeren Unternehmen in den Agglomerationsräumen innovativer sind als die entsprechenden Unternehmen in den ländlich-peripheren Gebieten", dUrfte diese Entwicklungstendenz im Kontext der erweiterten Märkte potentiell negative räumliche Wirkungen zu Ungunsten der ländlichen Regionen haben 17 (Irseh, 1990, S. 64). Die Ursache rur das unterschiedliche Innovationspotential in den jeweiligen Teilräumen und damit den Wettbewerbsvorteil rur die Zukunft der Unternehmen in den Zentren sieht Irsch in den unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen. In den Zentren kommen verstärkt Wettbewerbsparameter wie z.B. Produktdifferenzierung und Serviceleistungen zum Tragen, die in stärkerem Maße innovatives Handeln voraussetzen und somit eine bessere Anpassung dieser Unternehmen an den sich abzeichnenden Entwicklungsprozeß beinhalten. 18 Eine weitere, oft festgestellte Entwicklungstendenz, die nicht ohne räumliche Wirkung bleiben wird, ist die fortschreitende Tertiärisierung der Wirtschaftsstruktur, die sich nicht nur durch die Zunahme der Beschäftigten im Dienstleistungsbereich (externe Tertiärisierung) bemerkbar macht, sondern auch durch eine "interne Tertiärisierung" mit steigenden Dienstleistungsanteilen in den Produktionswerten (Klemmer, 1994, S. 12). Im Zusammenhang mit der Diskussion um regionalwirtschaftliche Disparitäten wird vor dem Hintergrund der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung zur modernen Dienstleistungsgesellschaft insbesondere der Besatz mit hochwertigen Dienstleistungsangeboten in unternehmensnahen Bereichen als eine zentrale Determinante regionaler Wirtschaftskraft angesehen. Dieser steht wiederum in engem Zusammenhang mit dem Grad der Agglomeration der Raumstruktur, da sich die höherwertige Tertiärisierung regionaler Wirtschafts systeme primär in den Agglomerations-

17

Diese Feststellung gilt nach Irsch (1990, S. 63f.) rur alle Branchen, mit Ausnahme des Fremdenverkehrs. In dieser Branche sind es kleinere Unternehmen im Agglomerationsraum und größere Unternehmen in den ländlichen Räumen, die sich durch ein größeres Innovationspotential auszeichnen. 18 Vgl. ebenfalls Phillip, 1994, S. 56.

40

2. L!l.ndliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

räumen vollzieht (Kunz, 1991, S. 588). Nicht zuletzt dürften Konzentrationsprozesse innerhalb der Unternehmensstrukturen zu einer ständig steigenden Bedeutung von Kapitalgesellschaften bei einem Bedeutungsverlust von traditionell durch den Eigentümer geruhrten Unternehmen ruhren. Dies legt die Hypothese nahe, daß unabhängig von ökonomischen Gründen es zur einer geringeren "Verwurzelung" der Unternehmen kommen kann und damit tendenziell zu einer höheren Mobilität der Unternehmen und somit zu einer geringeren Krisenanfälligkeit von Standorten (Häfner et al., 1993, S. 12). Aus den genannten wirtschaftlichen Entwicklungstrends läßt sich durch deren Komplexität und die Heterogenität der Wirtschaftsstruktur unter räumlichen Gesichtspunkten keine eindeutige Schlußfolgerung ziehen. Es ist damit zu rechnen, daß die ländlichen Räume in den hochindustrialisierten Ländern, wie z. B. der Bundesrepublik Deutschland, durch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Verbindung mit den Veränderungen der politischen Rahmenbedingungen zunehmend einer doppelten Konkurrenz ausgesetzt sind. Ausgehend von einem vereinfachten Zentren-Peripherie-Modell wird sich die Konkurrenz gegenüber den Zentren verstärken, die sich schon heute durch ein höheres Technologie-, Innovations- und Dienstleistungspotential auszeichnen. Durch die zunehmende Internationalisierung der Produktion sowie der Absatz- und Beschaffungsmärkte wird sich aber zusätzlich die Konkurrenz auf die internationalen Ebene' insbesondere mit den sogenannten Niedriglohnländern verstärkt verlagern, so daß längerfristig nicht mit zunehmenden Standortverlagerungen aus den Agglomerationsräumen in die ländlichen Räume zu rechnen ist. Dies trifft vor allem in Bereichen der traditionellen Industrieproduktion zu, die sich in Länder verlagern wird, die sich durch komparative Kostenvorteile im Bereich der Lohn- und Lohnnebenkosten, der Bodenkosten und zunehmend durch die verstärkte Regelungsdichte im Umweltbereich durch geringe Umweltkosten auszeichnen (Ewers/Weltmann, 1980, S. 391). Zusammenfassend läßt sich aus der Sicht der Einzelunternehmen auf jeden Fall die Notwendigkeit einer Anpassung der Organisationsstrukturen der Unternehmen selbst in Verbindung mit neuen Kooperationsformen und der Verstärkung der Humankapitalinvestitionen ableiten. Dies dürfte insbesondere rur kleinere und mittlere Unternehmen, die die Wirtschaftsstruktur der Peripherie charakterisieren, eine besondere Herausforderung bedeuten.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

41

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik Eine Beurteilung der praktizierten Regionalpolitik vor dem Hintergrund der ihr zugrunde liegenden Konzeptionen kann nur anhand einer detaillierten Analyse ihrer Instrumente und Maßnahmen erfolgen. Da eine solche Analyse zum einen die Gesamtzielsetzung der Untersuchung verfehlen und zum anderen auch den Rahmen sprengen würde, erfolgt in den nachfolgenden Abschnitten eine konzeptionelle Diskussion der praktizierten politischen Aktivitäten zum Abbau regionaler Disparitäten. Sie beschränkt sich primär auf qualitative Aspekte und soll vor allem dazu dienen, neuere regionalpolitische Entwicklungskonzepte und die regionalpolitischen Aktivitäten der EG rur den ländlichen Raum einordnen und beurteilen zu können. Da es in einer Gesellschaft nicht nur wirtschaftliche, sondern auch kulturelle, ökologische oder soziale Ziele gibt, können sich raumwirksame politische Aktivitäten nicht nur auf die wirtschaftlichen Aspekte beschränken. Diese gesamtgesellschaftlichen Vorstellungen finden sich in den Grundsätzen der Raumordnungspolitik wieder (Eckey, 1978, S. 52).19 Allerdings bietet die Literatur keine einheitliche Abgrenzung zwischen Raumordnungspolitik, Regionalpolitik, regionaler Wirtschaftspolitik und regionaler Strukturpolitik. Einerseits finden sich Begriffsabgrenzungen, bei denen zum einen Raumordnungspolitik und Regionalpolitik als übergeordnete Politikbereiche synonym verwendet werden. Wegen ihres ausschließlichen Bezug auf die wirtschaftlichen Aktivitäten innerhalb bestimmter Regionen einer Volkswirtschaft werden zum anderen regionale Wirtschaftspolitik und regionale Strukturpolitik gleichgesetzt und der Raumordnungspolitik bzw. der Regionalpolitik untergeordnet. 20 Daneben findet sich aber auch die Differenzierung zwischen Raumordnungspolitik und den übrigen genannten Begriffen, die in diesem Zusammenhang synonym verwendet werden. 21 Dabei wird die Regionalpolitik als explizit räumlich ausgerichteter Bereich der allgemeinen Strukturpolitik und damit als Partialbereich der Wirtschaftspolitik aufgefaßt und somit dieser untergeordnet (Mönicke, 1994, S. 35). Das Verhältnis zur Raumordnungspolitik wird dabei offen gelassen und statt dessen die Beziehung zu den allgemeinen wirtschaftspolitischen Zielen hervorgehoben. Auch das Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der

19 20 21

Zur inhaltlichen Ausgestaltung der Raumordnungspolitik vgl. Kap. 2.2.2. Vgl. ebenfalls Eckey, 1978, S. 52. Vgl. Buttleret al., 1977, S. 114f.

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2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

regionalen Wirtschaftsstruktur", welches die gesetzliche Grundlage rur die regionale Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik darstellt, gibt keine Antwort auf diese grundsätzliche Fragestellung. So heißt es zu den allgemeinen Grundsätzen in § 2 Abs. 1, daß die Fördermaßnahmen "mit den Grundsätzen der allgemeinen Wirtschaftspolitik und den Zielen und Erfordernissen der Raumordnung und Landesplanung übereinstimmen" sollen. 22 Mit dieser Formulierung wird offen gelassen, welchen Zielen im Konfliktfall der Vorrang eingeräumt wird (Suntum v., 1981, S. 16). Somit stellt die Regionalpolitik im Sinne regionaler Wirtschaftspolitik den spezifisch räumlich bezogenen Teil der Wirtschaftspolitik als auch die wirtschaftliche Dimension der Raumordnung dar, wobei sowohl die Raumordnungspolitik als auch die Wirtschaftspolitik wiederum als Teilbereiche der Gesellschaftspolitik aufzufassen sind (Scharff, 1993, S. 16). Entsprechend dieser inhaltlichen Verflechtung wird in den nachfolgenden Kapiteln sowohl auf die Raumordnungspolitik als auch auf die Regionalpolitik im engeren Sinne, d.h. auf die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" , eingegangen.

2.2.1 Begründung und Zielsetzung regionalpolitischen Handeins Regionale Disparitäten sind zunächst die Begleiterscheinung und Folge struktureller Veränderungen einer Volkswirtschaft und rur gewünschte Wachstums- und Allokationsprozesse notwendig und damit nicht prinzipiell negativ zu beurteilen. Gleichzeitig werden aber die Ergebnisse marktwirtschaftlicher Anpassungsprozesse nicht als befriedigend empfunden. Folglich sind regionale Disparitäten, d.h. das Auseinanderfallen von der gesellschaftlichen Realität und dem angestrebten Idealzustand bzw. dem gesellschaftlichen Zielsystem, die Grundlage und der entscheidende Anlaß ftlr regionalpolitische Aktivitäten (Eckey, 1978, S. 32). Ausgehend davon, daß die Regionalpolitik in einem gesellschaftspolitischen Zusammenhang eingebettet und entsprechend auch den gesellschaftspolitischen Grundwerten verpflichtet ist, hängt die Bewertung räumlicher Disparitäten und auch der Einsatz regionalpolitischer Instrumente entscheidend von den jeweiligen gesellschaftspolitischen Leitbildern ab. Das Leitbild in der Bundesrepublik läßt sich mit den Begriffen Rechtsstaat und soziale Marktwirtschaft umschreiben und beinhaltet die Grundwerte "Frieden, Freiheit, Sicherheit,

22

Vgl. Deutscher Bundestag, 1995, S. 145.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

43

Gerechtigkeit und Wohlstand" (Giersch, 1961, S. 68).23 Auch wenn die Grundwerte auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau formuliert sind, läßt sich daraus ableiten, daß es die Möglichkeit von Zielkonflikten gibt. Auf der Basis dieser potentiellen Zielkonflikte lassen sich zwei unterschiedliche Begründungsansätze für regionalpolitische Aktivitäten des Staates identifizieren. Zum einen gibt es den außerökonomischen Ansatz, der davon ausgeht, daß die marktwirtschaftlichen Allokationsmechanismen prinzipiell funktionieren und gute ökonomische Ergebnisse liefern (Wohlstand), aber gesellschaftspolitische Grundanliegen, die vor allem einen verteilungspolitischen Hintergrund haben, nicht erreicht werden und somit ein "korrigierendes Eingreifen des Staates erforderlich" machen (Fürst et al., 1976, S. 6). Bei diesem Begründungsansatz kommt zum Ausdruck, daß der Marktmechanismus nur zur Verfolgung derjenigen Ziele geeignet ist, die ökonomisch begründet sind, und durch die außerökonomische Zielsetzung die marktwirtschaftlichen Ergebnisse einer Revidierung bedürfen (Eckey, 1978, S. 34). Der zweite rein ökonomische Begründungsansatz führt die Notwendigkeit regionaler Strukturpolitik auf ein Marktversagen zurück, welches zu einer ineffizienten Allokation der Ressourcen insbesondere unter räumlichen Gesichtspunkten führt (Schroers, 1995, S. 36). Begründet wird die begrenzte Koordinierungs- und Lenkungsfunktion des Marktes vor allem durch effizienzmindernde Einflüsse externer Effekte und durch die begrenzte Mobilität der Produktionsfaktoren. 24 Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß den beiden Begründungsansätzen die Erkenntnis gemeinsam ist, daß räumliche Disparitäten in unterschiedlichen Ausprägungen bestehen, so daß der regionalpolitische Handlungsbedarf seine politische Rechtfertigung durch interregionale Disparitäten findet, die die Realisation gesellschaftspolitischer Werte und wirtschaftspolitischer Zielvorstellungen beeinträchtigen (Scharf!, 1993, S. 19). Letztendlich bezeichnet dann der Begriff regionale Wirtschaftspolitik nichts anderes als ein sich veränderndes politisches Einverständnis, das als Grundlage politischer Handlungen dient (Buttier et al., 1977, S. 115). Eine Ableitung konkreter politischer Maßnahmen aus einem gesellschaftspolitischen Leitbild kann nur durch die Zwischenschaltung eines Zielsystems geschehen, das eine Mittlerfunktion zwischen Leitbild und spezifischen 23

VgL ebenfalls Eckey, 1978, S. 67; Suntum v, 1981, S. 26. Zu einer detaillierten Darstellung des ökonomischen Begründungsansatz vgL Fürst et aL, 1976, S. 8f.; ebenso Eckey, 1978, S. 35ff. 24

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2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Handlungszielen einnimmt und damit die spezifischen Maßnahmen legitimiert (Suntum V., 1981, S. 27). Sowohl in der wissenschaftlichen regionalpolitischen Diskussion als auch in den Grundsätzen der praktizierten Regionalpolitik werden das Wachstums-, Stabilitäts- und das Ausgleichsziel genannt. In den Grundsätzen der regionalen Wirtschaftspolitik wird dem Wachstumsziel eine exponierte Stellung zugeordnet. Die Regionalpolitik als Wachstumspolitik hat im Grundsatz die Aufgabe, durch eine Optimierung der räumlichen Faktorallokation den volkswirtschaftlichen Output zu maximieren (Eckey, 1978, S. 68). Begründet wird die Notwendigkeit einer wachstumsorientierten Regionalpolitik dadurch, daß durch externe Effekte und eine begrenzte Mobilität der Produktionsfaktoren eine suboptimale räumliche Faktorallokation besteht und daß diese durch eine politische Intervention effizienter gestaltet werden kann als bei einer ausschließlichen Allokation der Produktionsfaktoren über den Marktmechanismus (Schroers, 1995, S.37). Für die ländlichen Räume bedeutet das Wachstumsziel und sein ökonomischer Begrundungsansatz somit, daß sie in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Gesamtentwicklung so einzuordnen sind, daß sie einen maximalen Beitrag zum gesamtwirtschaftlichen Wachstum leisten (Bauer, 1979, S. 9). Das Stabilitätsziel regionaler Strukturpolitik "hat vor allem eine Reduzierung der konjunkturellen und strukturellen Anflilligkeit von Regionen zum Inhalt" (Deutscher Bundestag, 1994b, S. 7). Da sich sowohl konjunkturelle als auch strukturelle Krisen vor allem in regionalen Unterschieden in den Erwerbsmöglichkeiten, d.h. Arbeitslosigkeit, zeigen, ist mit einer stabilitätsorientierten Regionalpolitik die Forderung nach einer Sicherung von Arbeitsplätzen verbunden25 , die in "erster Linie durch eine Auflockerung einseitiger Strukturen" erreicht werden soll (Deutscher Bundestag, 1994b, S. 7). Auf den ländlichen Raum übertragen beinhaltet diese Zielsetzung, daß durch regional politische Maßnahmen eine sektoral ausgewogene Wirtschaftsstruktur geschaffen werden soll, um die negativen Folgen konjunktureller Schwankungen und der ablaufenden strukturellen Anpassungsprozesse zu verringern. Zwar steht hinter der Zielsetzung, durch Diversifizierung der sektoralen Wirtschaftsstruktur ein ausgeglichenes Wachstum in den Teilräumen zu schaffen, ein ökonomischer Begründungsansatz und eine starke Verflechtung zum Wachstumsziel, doch enthält das Stabilitätsziel auch eine außerökonomische Begründungskomponente, da bei einer ausgewogenen Wirtschaftsstruktur die sozialen Kosten, die durch ablaufende Anpassungsprozesse der Wirtschaftsstruktur entstehen, nicht ungleich auf einzelne Regionen verteilt sind. Folglich

25

Vgl. Suntum,

V.,

1981, S. 42; Eckey, 1978, S. 74ff.; Butt/er et al., 1977, S. 125.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

45

läßt sich das Stabilitätsziel ebenfal1s der gesel1schaftspolitisch motivierten Zielsetzung des Ausgleichsziels zuordnen (Scharff, 1993, S. 28). Die ausgleichspolitische Zielsetzung regionaler Strukturpolitik stel1t das Bindeglied zum Leitziel der Raumordnungspolitik dar, nämlich der Schaffung gleichwertiger Lebens- und Arbeitsbedingungen in al1en Teilräumen des Bundesgebietes, welches man auf das Gerechtigkeitspostulat "nach Wahrung einheitlicher Lebensverhältnisse" des Grundgesetzes zurückfUhren kann. 26 Zum Ausdruck kommt diese Zielsetzung in der praktizierten regionalen Strukturpolitik insbesondere durch die Abgrenzung von Fördergebieten. Erreicht werden sol1 es vor al1em durch eine "Verminderung der interregionalen Unterschiede hinsichtlich der Möglichkeiten der Einkommenserzielung und der Ausstattung mit Arbeitsplätzen" (Deutscher Bundestag, 1994b, S. 7). Das Wachstums- und das Stabilitätsziellassen sich primär als ökonomische Zielsetzungen interpretieren, die bei einem funktionsfähigen Markt durch ihn realisiert werden können, wobei das Stabilitätsziel auch eine außerökonomische Komponente beinhaltet. Das Ausgleichsziel ist dagegen rein gesel1schaftspolitischer Natur und somit außerökonomisch motiviert und folglich normativer Art. Zusammenfassend läßt sich daher festhalten, daß regionalpolitische Maßnahmen grundsätzlich in einem Spannungsfeld zwischen al10kativen und distributiven Zielen stehen und man nicht von einem logisch konsistenten Zielsystem sprechen kann, das sich auch entsprechend operationalisieren läßt. 27 Für die praktische Regionalpolitik besteht dadurch ein grundsätzlicher Bedarf an Reduktion dieser Komplexität (Herdzina, 1993, S. 31).

2.2.2 Die Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik Der zeitliche Ursprung der Raumordnungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland in der heutigen Form liegt in den 50er Jahren. Zwar machte der Bund erst 1965 von seiner Rahmenkompetenz Gebrauch und erließ das Bundesraumordnungsgesetz, doch gingen dem Gesetz ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium und ein Gutachten des 1955 eingesetzten Sachverständigenausschusses fUr Raumordnung (SARO) voraus, wobei insbesondere das SARO-Gutachten einen entscheidenden Einfluß auf die Ausgestaltung des Gesetzes hatte und damit die Vorstel1ung eines Leitbildes der Raumordnung auf der Basis der Prinzipien des

26 27

Vgl. Art. 72 Abs. 2 GG; ebenso § 2 ROG. Zur Operationalität der jeweiligen Ziele vgl. Suntum V., 1981, S. 33fT.

46

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Grundgesetzes Eingang in die praktische Raumordnungspolitik gefunden hat. 2s Im Bundesraumordnungsgesetz fmden sich diese Prinzipien teils explizit in den Aufgaben und Leitvorstellungen (§ 1 ROG) und teilweise implizit in den Grundsätzen der Raumordnungspolitik wieder (§ 2 ROG). Sowohl das Leitbild als auch seine nähere Umschreibung durch die Grundsätze der Raumordnungspolitik sind wenig konkret und bieten daher einen breiten Raum ftlr Interpretationen. Wegen ihrer geringen Operationalisierbarkeit wird das entworfene Leitbild von Kritikern oft als (ausfUllungsbedUrftige) Leerformel bezeichnet. Ebenso die genannten Grundsätze (Ziele) selbst sind wegen den gebrauchten allgemeinen Formulierungen als raumpolitisches Beurteilungskriterium von Maßnahmen wenig geeignet. Trotz dieser geringen Operationalität, die sich aufgrund des gesellschaftspolitischen Anspruchs in einer übergeordneten Stellung der raumordnungspolitischen Ziele in einem hierarchischen Zielsystems zwangsläufig ergibt, lassen sich dennoch funktionale Gründe ft1r die Verwendung von "leerformelhaften" FOmlulierungen finden. Brösse (1974, S. 28ff.) fUhrt in diesem Zusammenhang an: - die Funktion der Ziele, die komplexe Problematik der Raumordnung zum Ausdruck zu bringen, da operationale Ziele nur einen begrenzten Bereich der Realität erfassen können, - die Interessensausgleichs- und Koordinierungsfunktion der Ziele, da operationale Ziele bei dem vorhandenen Pluralismus von Zielvorstellungen der Träger raumordnungspolitischer Maßnahmen zu Zielkonflikten fUhren müssen und diese bei leerformelhaften Zielen am einfachsten zur Übereinstimmung zu bringen sind, - die "systemtragende Funktion" der Ziele, die eine Ableitung tieferstehender Ziele verlangt, - die Funktion der Ziele, Ermessens- und Entscheidungsspielräume zu setzen, um zum einen den kompetenten Fachpolitiken einen eigenen Entscheidungsspielraum zu schaffen und um eine Starrheit des Zielsystems zu vermeiden, damit die AnNassung im Zeitablauf an gesellschaftliche Zielvariationen ermöglicht ist.

28

Vgl. einfilhrende Begritfsabgrenzung. Zur Entwicklung der Raumordnungspolitik vor 1965 vgl. Werner, 1991, S. 3ff. Zur Entwicklung nach 1965 und den NovelIierungen des ROG vgl. Hübler, 1991, S. 32ff.; Mönicke, 1994, S. 40ff. 29 Vgl. ebenfalls Eckey, 1978, S. 103.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

47

Durch den Wunsch, gleichwertige Lebensbedingungen in allen Teilräumen der Bundesrepublik zu schaffen, steht insgesamt das Ausgleichsziel im Vordergrund raumordnungspolitischer Aktivitäten. Auf den ländlichen Raum übertragen verbindet Schuster (1990, S. 2) die Schaffung gleichwertiger Lebensund Arbeitsbedingungen mit folgenden Forderungen: - Verbesserung der wirtschaftlichen Leistungsfahigkeit und Schaffung ausreichender Erwerbsmöglichkeiten, - Gewährleistung einer gleichwertigen wohnortnahen Versorgung, - Realisierung des Erschließungskonzeptes bei der Ausstattung mit flächenerschließender Infrastruktur, - Erhaltung und Wiederherstellung der natürlichen Lebensgrundlagen. Als Strategiekonzept zur Erreichung des Leitbildes hat sich in den letzten Jahren das Konzept der ausgeglichenen Funktionsräume herausgebildet, welches auch mit dem Begriff einer Raumordnungspolitik des mittleren Weges bezeichnet wird. Gatzweiler (1983, S. 27) interpretiert dieses Konzept als "ein Zielsystem der Raumordnung, das Mindestansprüche an Umweltqualität, Wirtschaftsstruktur und Infrastruktur sowie die Gestaltung der Siedlungs- und Sozialstruktur stellt". Durch den Bezug auf die Schaffung und Erhaltung von Mindeststandards ist das Konzept als Komprorniß zwischen Wachstumsziel auf der einen Seite und den gesellschaftlichen Vorstellungen auf der anderen Seite zu interpretieren. Die Kompetenz für die Raumordnungspolitik auf der Bundesebene liegt beim Bundesministerium für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau und erstreckt sich vor allem auf die Festlegung der inhaltlichen Leitvorstellungen, die Abstimmung von Programmen und Plänen der Länder und die Abstimmung raumbedeutsamer Planungen der Bundesressorts (Phillip, 1994, S. 210). Daneben ist die Bundesregierung nach § 11 ROG verpflichtet, in vierjährigen Abständen einen Raumordnungsbericht vorzulegen, der die räumlichen Entwicklungstendenzen und die raum wirksamen Maßnahmen des Bundes analysiert und aufzeigt. Als räumliche Diagnoseeinheiten dienen dabei Raumordnungsregionen. Diese sind großräumig (kreisscharf) abgegrenzte Analyseeinheiten, die das oberzentrale Standortsystem der Bundesrepublik und die dazugehörigen Einzugsbereiche annähern und in den alten Bundesländern an Aussagen der Landesplanung und damit länderscharf abgegrenzt sind. In den neuen Bundesländern wurden von der Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung Analyseregionen abgegrenzt. Dabei wird zwischen Regionen mit großen Verdichtungsansätzen, mit Verdichtungsansätzen und ländlich geprägten

48

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Regionen, die zusätzlich noch nach "gering besiedelten, peripher gelegenen Regionen" differenziert werden, unterschieden. Diese Regionen werden zu Analysezwecken auf der Kreisebene weiter differenziert. Dabei werden neben den ländlichen Regionen, die in verdichtete Kreise und ländliche Kreise unterschieden werden, sowohl in den Regionen mit großen Verdichtungsräumen als auch in den Regionen mit Verdichtungsansätzen ländliche Kreise ausgewiesen, um damit den spezifischen strukturellen Problemen ländlicher Räume in dem jeweiligen unterschiedlichen Umfeld ihrer gesamträumlichen Lage gerecht zu werden. 30 Nach § 5 Abs. 1 ROG werden die Länder dazu verpflichtet, "fiir ihr Gebiet übergeordnete Programme und Pläne" aufzustellen. Damit kommt den Bundesländern im Prinzip die gleiche Aufgabe zu wie der Bundesebene, wobei sich keine einheitliche Zuordnung von Zuständigkeiten fiir die "Landesplanung" in den verschiedenen Bundesländer feststellen läßt. Die eigentliche Konkretisierung und Umsetzung der allgemeinen räumlichen Entwicklungsziele erfolgt auf der regionalen Ebene der Regionalplanung. Der Einfluß der Kommunen beschränkt sich auf die Bauleitplanung. Als Planungsinstrumente lassen sich auf der Basis geometrischer Grundformen in vereinfachter Form drei Kategorien unterscheiden (Kistenmacher, 1991, S. 27): - punktförmige Instrumente, zu denen Zentrale Orte und Schwerpunktkonzepte verschiedener Art gehören, wie z.B. auch die Vorgabe von Gemeindefunktionen, - linienhafte Instrumente, insbesondere Achsensystem als landesplanerische Vorgabe rur großräumige Verkehrsplanung oder in Form von schienenorientierten Siedlungsachsen als Ordnungskonzepte fiir Ballungsräume, - flächenorientierte Instrumente, insbesondere Vorranggebiete. Das Modell der punkt-zellularen Raumorganisation (Zentrale Orte) ist als allgemeines Leitbild der Raumorganisation anerkannt. Es findet in allen Flächenstaaten der Bundesrepublik Anwendung und bildet das "Grundgerüst" ftlr den flächendeckenden systematischen Ausbau der Versorgungsinfrastruktur in jeweils zumutbarer Entfernung (Kistenmacher, 1991, S. 32). Die theoretische

30

Vgl. BjLR, 1992, S. 8ff. Insgesamt werden 97 Analyseregionen unterschieden, wovon 75 in den alten Bundesländern liegen.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

49

Grundlage des Modells ist im Kern eine Standortlehre des tertiären Sektors, die auf Christaller zurückgeht, der versucht eine Systematik der zentralen Funktionen (private und öffentliche Dienstleistungen) zu entwerfen. 31 Träger dieser Funktionen sind die zentralen Orte, in denen sich wirtschaftliche, soziale und kulturelle Institutionen konzentrieren (Müller, 1969, S. 25). Wesentlicher Bestandteil der Überlegungen ist, daß Dienstleistungen im allgemeinen nicht kontinuierlich produzierbar, nicht speicherbar und nicht transportierbar sind, so daß Produktion und Absatz in der Regel räumlich und zeitlich zusammenfallen. Weil aber die Anbieter von Dienstleistungen an Produktionsstätten gebunden sind und die wirtschaftliche Leistungserstellung von der Zahl der Nachfrager abhängig ist, können sie nicht ubiquitär, sondern nur räumlich konzentriert erstellt werden. Entsprechend übernimmt der Ort, an dem die Leistungen erbracht werden, Versorgungsfunktionen ftlr das Umland, und die Nachfrager müssen die Entfernung zwischen Wohnort und Produktionsstätte überwinden (Fürst et al., 1976, S. 78). Das raumbildende Potential einer Dienstleistung wird demnach durch die Bereitschaft der Nachfrager determiniert, rur die jeweiligen Güter und Dienste die Distanz zum Ort der Leistungserstellung zu überwinden. Der Zentralitätsgrad eines Ortes ist nun davon abhängig, wieviel verschiedene Güter und Dienste das Angebot am Ort umfaßt und wie hoch die Reichweite des Gutes ist, das gerade noch kostendeckend produziert werden kann (Schar.tJ, 1993, S. 53). Damit entwickeln sich je nach Bedeutung der Güter und räumlicher Reichweite ihres Absatzgebietes sich mehrere Arten Zentraler Orte, die nach ihrem "Bedeutungsüberschuß" arbeitsteilig hierarchisch gestuft sind (Fürst et al. 1976, S. 78). Der Grundgedanke des normativen Planungsmodells besteht nun darin, daß Siedlungskerne nicht nur die eigene Bevölkerung versorgen, sondern darüber hinaus die Ortschaften in den Verflechtungsbereichen der Siedlungskerne. Je nach Versorgungsfunktion wird dabei nach Ober-, Mittel-, Unter- und Kleinzentrum unterschieden, wobei diese Differenzierung durch die Bundesländer als Träger der Raumordnungspolitik teilweise modifiziert wurde. Grundlage sowohl rur die Einstufung eines Ortes in die zentralörtliche Hierarchie als auch als Zielgröße rur die Entwicklung eines Ortes innerhalb dieses Systems sind normativ vorgegebene Kriterien, die sich vor allem auf die Infrastrukturausstattung und auf die Bevölkerung beziehen. Faktisch ist das Konzept der Zentralen Orte in der Raumordnungspolitik somit vergleichbar mit einem normativen Verteilungsmodell (knapper) staatlicher Investitionen (Kunst, 1985, S. 87).

31

Vgl. Christaller, 1968. Zur Theorie der Zentralen Orte und ihrer Weiterentwicklung vgl. Schätzt, 1992, S. 69ff.; Eckey, 1978, S. 63f.; Fürst et al., 1976, S. 77ff. 4 Sch1ln

50

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Das Achsenkonzept als Modell der linearen Raumorganisation ist ein weiteres nonnatives Modell der Raumordnungspolitik, welches vergleichbar mit dem zentralörtlichen Modell Leitbildfunktion fUr die Raumordnungspolitik erlangt hat. Im Gegensatz zur punktuellen Raumorganisation fehlt es der Achsenkonzeption in der praktizierten Raumordnungspolitik an einer entsprechenden theoretischen Fundierung. Im Vordergrund bestehender Erklärungsansätze steht die Erreichbarkeit und damit die Rolle der Verkehrserschließung fUr die Entwicklung bandfönniger Verdichtungen und BUndelungen (Kistenmacher, 1976, S. 9). Der Grundgedanke des Achsenkonzeptes ist die Organisation der Siedlungsstruktur nach den Bedürfnissen des gebündelten Verkehrs, wobei Verkehr als Instrument des Leistungsaustausches als wesentliches Kennzeichnen moderner Gesellschaften betrachtet wird. Da die Bandinfrastruktur (Infrastruktur in den Bereichen Verkehr, Transport und Kommunikation) um so wirtschaftlicher ist, je größer die Nachfrage ist, soll durch "Einflidelungs-" und "Haltepunkte" Nachfrage erzeugt werden (Kunst, 1985, S. 94). Somit ist die Siedlungsverdichtung entlang der Achsen ein mittelbares Ziel der Achsenkonzeption, bei der im Gegensatz zur punktuellen Konzeption zwar auch die Versorgungsfunktion eine Rolle spielt, aber nicht im Mittelpunkt steht. Sondern es ist die Effizienz und damit Wirtschaftlichkeit der Infrastrukturinvestitionen (Brösse, 1975, -So 82). Ausgehend von der BegrOndungsschwäche, den methodischen Mängeln und den bisherigen Erfahrungen mit der Achsenkonzeption konstatiert Kistenmacher (1991, S.36) insgesamt eine "begrenzte instrumentelle Leistungsflihigkeit" und eine "nonnative Überfrachtung" bei der Ausweisung von Achsensystemen als Instrument zur siedlungsstrukturellen Entwicklung. Als Ergänzung zu den punkt- und linienorientierten Instrumenten ist die Ausweisung von Vorranggebieten ein weiteres wichtiges Planungs instrument der Raumordnungspolitik. Durch die flächenbezogene Denkweise wird im Gegensatz zu den übrigen Planungskonzeptionen die Art der Raumnutzung explizit in das Funktionsmodell mit einbezogen. Der Grundgedanke besteht in einer Übertragung des Prinzips der Arbeitsteilung auf Flächen und Raumfunktionen und basiert damit auf der theoretischen Grundlage komparativer Vorteile (Kunst, 1985, S. 100)32. Insbesondere soll durch die Ausweisung von Vorranggebieten eine funktionale Arbeitsteilung zwischen dichter besiedelten Gebieten und Freiräumen geschaffen werden (BMBAU, 1975, S. 4). Damit steht im Vordergrund der Ausweisung von Vorranggebieten der "vorsorgende Schutz

32

V gl. ebenfalls Bröse, 1974, S. 84.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

51

von Naturraumpotentialen und Freiraumfunktionen sowie deren Koordination" (Kistenmacher, 1991, S.39). Als solche Vorrangfunktion kommen nach dem 33 Bundesraumordnungsprogramm: - die land- und forstwirtschaftliche Produktion, - die Nutzung ftlr Freizeit und Erholung, - die Freihaltung von Flächen durch störende Nutzung ftlr die Wassergewinnung und Grundwasserschutz, - die Sicherung von Gebieten mit besonderen ökologischen Ausgleichsfunktionen - und die Sicherung und Gewinnung von Rohstoffen in Betracht. Bei einer Nutzungskonkurrenz von Räumen durch das Vorhandensein "mehrerer Begabungen" bedeutet die Zuordnung einer Vorrangfunktion, daß andere Funktionen nur so weit ausgeübt werden können, als die zugewiesene Funktion nicht beeinträchtigt wird. Durch die Ausweisung von Vorranggebieten, insbesondere unter dem Aspekt der ökologischen Ausgleichsfunktion, ergibt sich somit das Problem der Einschränkung der wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten ftlr die betroffenen Räume, d.h. eine Benachteiligung der Bevölkerung in diesen Räumen und damit ein Konflikt zwischen Wachstums- und dem Ausgleichsziel. Vor diesem Hintergrund ist auch das Konzept des "ausgeglichenen Funktionsraumes" zu sehen, den man als eine räumliche Einheit interpretieren kann, innerhalb dessen sich Vorranggebiete gegenseitig ergänzen (Kunst, 1985, S. lOl). Es wird deutlich, daß im Aufgabengebiet der Raumordnungspolitik nicht nur ökonomische Aspekte zum Tragen kommen, und sie somit nicht mit räumlich ausgerichteter Wirtschaftspolitik gleichzusetzen ist, sondern nahezu alle Politikbereiche durch die raumordnungspolitische Zielsetzung tangiert werden. Der Stellenwert der Raumordnungspolitik liegt somit vor allem in der überregionalen und fachübergreifenden Koordination von raumbedeutsamen Planungen der unterschiedlichen Ressorts. In dieser Aufgabe liegt aber auch das prinzipielle Dilemma der Raumordnungspolitik, da neben den klaren raumordnungspolitischen Aufgaben und der Trägerverteilung es vor allem an Kompetenzen und Handlungsmöglichkeiten fehlt, um die raumordnungspolitischen Zielsetzungen in wirksames

33



Vgl. BMBAU, 1975, S. 4 sowie Kistenmacher, 1991, S. 41.

52

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Handeln umsetzen zu können. Vor diesem Hintergrund vergleichen Woifund Roesler (1991, S. 716) die Rolle der Raumordnungspolitik mit einem Schiedsrichter, der - "seine eigentlichen Ziele im Interessenkonflikt der verschiedenen beteiligten Bundes-, Landes- und RegionalsteIlen kaum einbringen konnte, - von allen Raumnutzern gleichermaßen fUr die Realisierung ihrer Zielvorstellungen umworben wird - und der praktisch über keine klassischen Durchsetzungsinstrumente verfUgt, mit denen er seine Zielvorstellungen einer ausgeglichenen Raumentwicklung hätte realisieren können". Mit diesem Vergleich wird deutlich gemacht, daß die Einflußmöglichkeiten der Raumordnungspolitik auf die Raumentwicklung vor allem indirekter Art sind. Sieht man von dieser indirekten Art der Einflußnahme einmal ab, so wird Regionalpolitik im Sinne der regionalen Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik zwar nicht nur, aber vor allem durch die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" betrieben.

2.2.3 Die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" als zentrales Element deutscher Regionalpolitik Auch wenn es bereits in der Zeit vor 1945 in Deutschland regional gezieite staatliche Maßnahmen gegeben hat, so hat die Regionalpolitik mit einer primär ökonomischen Zielsetzung ihren Ursprung in den 50er Jahren. Damals bestand die vordringlichen Aufgabe darin, die Situation in den kriegsbedingten Notstandsgebieten zu verbessern; seit 1969 fmdet sie durch eine Änderung des Grundgesetzes in Form der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" Anwendung. Nach Art. 91a Abs. 1 GG ist die regionale Wirtschaftsilirderung eine Aufgabe der Länder, an der der Bund bei der Rahmenplanung und der Finanzierung (50 %) mitwirkt. Die nähere Bestimmung und damit die inhaltliche Ausgestaltung fUr die GRW erfolgt durch das Gesetz über die Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" vom 6.10.1969.

34

Suntum v, \98\, S. \8f. nennt in diesem Zusammenhang das "üsthilfegesetz" von \93\ und den Erlaß über die Reichsstelle rur Raumordnung von 1933.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

53

Als Ziel der Gemeinschaftsaufgabe wird darin in § 1 Abs. 1 "die Förderung der gewerblichen Wirtschaft bei Errichtung, Ausbau, Umstellung oder grundlegenden Rationalisierung von Gewerbebetrieben" und die "Förderung des Ausbaus der Infrastruktur, soweit es ftlr die Entwicklung der gewerblichen Wirtschaft erforderlich ist", genannt. Die Maßnahmen werden nach § 1 Abs.2 in Gebieten durchgeftlhrt, "deren Wirtschaftskraft erheblich unter dem Bundesdurchschnitt liegt oder erheblich darunter abzusinken droht oder in denen Wirtschaftszweige vorherrschen, die vom Strukturwandel in einer Weise betroffen oder bedroht sind, daß negative Rückwirkungen auf das Gebiet in erheblichem Umfang eingetreten oder absehbar sind". In diesem Zusammenhang werden als räumliche Problemkategorien im Dreiundzwanzigsten Rahmenplan der GRW (Deutscher Bundestag, 1994b, S. 6) - "das Gebiet der neuen Bundesländer einschließlich Berlin-Ost, die einen gravierenden Umstrukturierungsprozeß von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft zu bewältigen haben, - ländliche Gebiete, in denen ein ausgeprägter Mangel an gewerblichen Arbeitsplätzen im allgemeinen und hochwertigen Arbeitsplätzen im besonderen besteht, - Gebiete mit meist relativ hohem Industriebesatz, aber wenig diversifizierter Industriestruktur, die von strukturellen Anpassungsprozessen der vorherrschenden Wirtschaftszweige betroffen oder bedroht sind" genannt. Im Vordergrund der GRW steht die Unterstützung der regionalen Investitionstätigkeit durch direkte Investitionsanreize in Form von Investitionszuschüssen, Darlehen, Zinszuschüssen und Bürgschaften ftlr die Unternehmen und durch indirekte Anreize durch die Förderung des Ausbaus von wirtschaftsnahen Infrastruktureinrichtungen. Daneben wurde das Förderspektrum der GRW im Vierundzwanzigsten Rahmenplan um die Aufuahme von "integrierten regionalen Entwicklungskonzepten" als regionalpolitisches Instrument und um zeitlich befristete "Modellvorhaben" (bis 1998), die im Rahmen einer "Testphase zur Erprobung neuer Fördermöglichkeiten" und damit ftlr eine eventuelle Gesetzesänderung dienen sollen, ergänzt (Deutscher Bundestag, 1995, S. 15).35 Zu den Modellvorhaben gehört die Ergänzung der Förderung gewerblicher Investitionen um nicht-investive Maßnahmen. Dabei ist die Beteiligung der Gemeinschaftsaufgabe an Länderprogrammen in den Bereichen Beratung,

35 Für eine dauerhafte Einfllhrung der "Modellvorhaben" müßte eine Gesetzesänderung erfolgen, da das Gesetz über die GRW bisher nur die Förderung von Investitionen zuläßt.

54

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Schulung, Humankapitalbildung sowie Forschung und Entwicklung vorgesehen. Desweiteren ist es das Vorhaben, das die Möglichkeit beinhaltet, nicht-investive Maßnahmen im Bereich der notwendigen Planungs- und Beratungsleistungen bei Infrastrukturprojekten und bei der Erarbeitung der geforderten Entwicklungskonzepte finanziell zu unterstützen (Deutscher Bundestag, 1995, S. 14).36 Verantwortlich fllr den Vollzug der GRW ist der von Bund und Ländern gebildete Planungsausschuß, wobei die eigentliche DurchfUhrung dem Verantwortungsbereich der Länder unterliegt. Der Aufgabenbereich des Planungsausschusses erstreckt sich vor allem auf die vertikale Koordination der regionalen Wirtschaftspolitik. Zu seinen Aufgaben gehören insbesondere die Abgrenzung der Fördergebiete nach einem einheitlichen Verfahren, die Aufstellung eines Rahmens rur die Auswahl der Schwerpunktorte innerhalb der Fördergebiete, die Festlegung der Förderziele und der Fördermaßnahmen sowie die einheitliche Regelung über Voraussetzung, Art und Intensität bei den jeweiligen Maßnahmen (Deutscher Bundestag, 1994, S. 13). Die Fördergebietsabgrenzung wurde zuletzt 1993 vom Planungsausschuß überprüft. Neben den neuen Bundesländern, die insgesamt als Fördergebiet eingestuft wurden, erfolgte die Abgrenzung der Gebietskulisse in den alten Bundesländern auf der räumlichen Basis der 166 Arbeitsmarktregionen anband eines Gesamtindikators, der sich aus vier multiplikativ verknüpften und gewichteten Einzelindikatoren (durchschnittliche Arbeitslosenquote: 40 %, durchschnittlicher Bruttojahreslohn pro Kopf der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten: 40 %, komplexer Infrastrukturindikator und Prognosewert der Arbeitsplatzentwicklung: jeweils 10 % Gewichtung) zusammensetzt (Zarth, 37 1991, S. 551). Neben der räumlichen Differenzierung bei gleichzeitiger Konzentration (Schwerpunktprinzip) der Fördermittel ist ein weiterer Grundsatz der GRW die sachliche Schwerpunktbildung (FörderungsWÜTdigkeit). Als besonders llirderungswürdig werden im Rahmen der GRW Investitionen angesehen, von denen ein Primäreffekt ausgeht, d.h. sie müssen durch "Schaffung von zusätzlichen Einkommensquellen das Gesamteinkommen in dem Wirtschaftsraum unmittelbar und auf Dauer nicht unwesentlich erhöhen". Dies ist dann der Fall, wenn "überwiegend Güter hergestellt oder Leistungen erbracht werden, die [... ] überregional abgesetzt werden" (Deutscher Bundestag, 1995, S. 33).

36 37

.. Zu den Anderungen praktizierter Regionalpolitik vgl. ebenfalls Kapitel 2.4.1. Zur Abgrenzungsproblematik vgl. ebenfalls Kap. 2.3.3.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

55

Zusammenfassend läßt sich aus den Ausftlhrungen zum programmatischen Inhalt der Gemeinschaftsaufgabe die GRW als ein Instrument charakterisieren, mit dem versucht wird, durch eine zeitlich begrenzte Förderung von Investitionen mit Hilfe von direkten (Investitionszuschüsse) und indirekten (Infrastrukturllirderung) Anreizmitteln in festgelegten Räumen die Ziele der Regionalpolitik zu erreichen. Es wird davon ausgegangen, daß durch die Mobilisierung von Kapital über den Export der produzierten Güter Arbeitsplätze in den getbrderten Regionen geschaffen und damit interregionale Disparitäten abgebaut werden können. Da die wirtschaftliche Entwicklung einer Region von einer Vielzahl interner und externer Einflußfaktoren abhängig ist, und daher auch immer aufgrund der interregionalen Verflechtungen, insbesondere in hochentwickelten IndustriegeseIlschaften, im gesamtwirtschaftlichen und großräumigen Kontext zu sehen ist, ist es bis heute nicht gelungen, diese in eine einzige operationale Entwicklungstheorie zu integrieren. J8 Analog zu diesem theoretischen Problem lassen sich auch in der Konzeption der GRW Elemente identifizieren, die sich an unterschiedliche theoretische Grundlagen anlehnen. Ausgehend von der Fördergebietsabgrenzung, die im Grunde auf einer räumlichen Abgrenzung von Versorgungs bereichen basiert und in der Theorie der Zentralen Orte ihren Ursprung hat, fmdet sich in der sachlichen Schwerpunktbildung durch die Bevorzugung von exportorientierten Industrien zunächst ein starkes Element der Export-Basis-Theorie. Entsprechend ihrem Ursprung in der Keynesianischen Schule besagt die Grundthese dieser Theorie, daß das wirtschaftliche Wachstum einer Region entscheidend vom überregionalen Absatz, d.h. von den Exporten aus der Region zur Befriedigung der zusätzlichen extraregionalen Nachfrage, abhängig ist (Richardson, 1970, S.53). Gemäß der Kernaussage kommt es durch die Steigerung der regionsinternen Produktion ftlr die regionsexterne Nachfrage zu einer direkten Einkommenserhöhung, d.h. zum sogenannten Primäreffekt. Das wiederum fUhrt zu einer Steigerung des intraregionalen Konsums und somit werden weitere Sekundäreffekte ausgelöst und insgesamt wird ein Multiplikatoreffekt erzielt (Eckey, 1978, S. 95). Bei der theoretischen Herleitung werden die gesamten Produktionsaktivitäten einer Region eingeteilt in solche, die Güter ftlr den Export aus der Region produzieren (basic activities) und diejenigen Produktionsaktivitäten, die Güter rur den regionalen Markt fertigen (nonbasic activities). Die exportierten Güter

38

Für einen Überblick über die verschiedenen wachstums- und entwicklungstheoretischen Ansätze und deren inhaltlichen Schwerpunkte vgl. Schätzl, 1992, S. 129ff.

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2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

erzeugen in der Region Einkommen, die teilweise aus der Region in Fonn von Gewinntransfers bzw. Ausgaben fiir Importe des Exportsektors abfließen. Das verbleibende Exporteinkommen wird - sofern es nicht gespart - fiir regionale Güter ausgegeben. Das durch die Nachfrage des Exportsektors im nonbasicBereich entstehende Einkommen wird analog zum Exporteinkommen wieder fiir Importe von außerhalb der Region und fiir lokale Güter und Dienste verwendet, so daß es im non basic-Bereich zur Entstehung von zusätzlichen Einkommen kommt und damit insgesamt ein Multiplikationsprozeß induziert wird (Fürst et al., 1976, S. 50). Daneben läßt sich die räumliche Schwerpunktbildung auf entwicklungs- und wachstumspoltheoretische Ansätze zurückfiihren, die im Gegensatz zur Theorie der Zentralen Orte sich nicht dem "Strukturaspekt" widmen, sondern den "Prozeßaspekt" in den Vordergrund stellen (Böventer v. et al., 1982, S. 83). Es handelt sich dabei nicht um eine geschlossene Theorie sondern es besteht eine Vielzahl von Polarisationshypothesen, die als Reaktion und Kritik zu den Gleichgewichtstheorien aufgestellt wurden. Ihre grundsätzliche Gemeinsamkeit besteht in der Vorstellung, daß wirtschaftliches Wachstum als ungleichgewichtiger, sich selbstverstärkender Prozeß abläuft und zur Polarisation illhrt. Mit diesem "Prinzip der zirkulären Verursachung kumulativer Prozesse" steht diese Hypothese im scharfen Gegensatz zur herkömmlichen neo klassischen Wachstumstheorie (Scharff, 1993, S. 56). Ausgehend von unvollkommenen Märkten werden je nach theoretischen Ansatz verschiedene Mechanismen angenommen, die die Polarität fördern. Unter Anfiihrung der jeweiligen Autoren differenziert Krieger-Boden (1995, S. 199):39 - "polarisierende Verflechtungsbeziehungen der im Zentrum siedelnden Unternehmen mit Zulieferern und Abnehmern (Perroux, 1948), - Multiplikatoreffekte und Akzeleratoreffekte, durch welche ein einmal dominierendes Zentrum laufend neue Impulse erhält (Paelinck, 1965; Boudeville, 1966),

- Entzug von Produktionspotential aus dem Hinterland zugunsten des Zentrums, wo Produktionsfaktoren produktiver eingesetzt werden (Myrdal, 1957; Hirschmann, 1958; Kaldor, 1970), - selektive Diffusion von Wissen und Innovation, die das Zentrum begUnstigt (Pottier, 1963; Hägerstrand, 1953; Lasuen, 1973)".

39

Vgl. ebenfalls Buttler et al., 1977, S. 80-92; ebenso Schätzl, 1992, S. 151ff.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

57

Der Grundgedanke der Verwendung des Wachstumspolkonzeptes in der Regionalpolitik ist, daß durch Wachstumsimpulse in Zentren die in räumlicher Nähe liegenden Wirtschaftseinheiten durch bestehende Input-Output-Beziehungen zu einem höheren Aktivitätsniveau angeregt werden. Durch Rückkopplungsprozesse wird dies verstärkt, so daß "im Idealfall ein selbsttragender, sich in der Gesamtregion ausbreitender Wachstumsprozeß in Gang gesetzt wird" (Böventer v. et al., 1982, S.84). Die Wirksamkeit des Wachstums filr eine Region hängt von der Struktur und Beschaffenheit des Pols und von der Art und Intensität der durch das wirtschaftliche Wachstum der Zentren ausgelösten zentripetal wirkenden Entzugseffekte (backwash effects) und den zentrifugal wirkenden Ausbreitungseffekte (spread effects) ab (Schätz!, 1992, S. 156). Durch die Abhängigkeit der Wirkung vom Grad der Interaktion, d.h. von der Verflechtung zwischen den Zentren untereinander bzw. zwischen Zentren und Peripherie, kommt in diesem Zusammenhang der Theorie der Zentralen Orte die Funktion zu, Standort- und WachstumspoItheorie zu verbinden, um der Polarisationstheorie eine "standorttheoretische Absicherung" zu geben (Butt!eret al., 1977, S. 91). Auch wenn die neoklassische Wachstumstheorie zu gegensätzlichen Aussagen kommt wie die skizzierten Polarisationstheorien, die in der regionalpolitischen Diskussion und Praxis eine große Rolle spielen, ist davon auszugehen, daß die "neoklassische Doktrin" die Regionalpolitik in der Bundesrepublik stark beeinflußt (Schätz!, 1992, S. 137). Das neoklassische Wachstumsmodell beruht auf der Grundhypothese, daß interregionale Unterschiede der Faktorentlohnung bzw. der Wertgrenzprodukte der Produktionsfaktoren sich durch Faktorwanderung der mobilen Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital angleichen und es zu einem ausgeglichenen optimalen gesamtwirtschaftlichen Wachstum kommt. Folglich sind weder wachstumsmotivierte noch distributionsorientierte staatliche Eingriffe notwendig (Krieger-Boden, 1995, S.201). Dennoch läßt sich der Einsatz der angebotsorientierten RealkapitalfOrderung einschließlich der Förderung (wirtschaftsnaher) Infrastruktur als Instrument zum Abbau interregionaler Disparitäten auf die neoklassische Wachstumstheorie zurUckfilhren. Dies ist scheint dann sinnvoll zu sein, wenn man annimmt, daß die Mobilität des Produktionsfaktors Arbeit geringer ist als die des Kapitals oder sie nicht wesentlich beeinflußt werden kann oder soll. D.h. insbesondere unter der Maßgabe des normativ begründeten Ausgleichsziels kann die Realkapitalbildung in Problemregionen gefördert werden, um dadurch negative Konsequenzen des Marktmechanismus in Form von Abwanderung der Arbeitskräfte (passive Sanierung) zu vermeiden (Scharff, 1993, S. 61). "Am einfachsten [ist dies] über die Subventionierung der Kosten der Produktionsfaktoren möglich" (Eckey, 1978, S. 94).

58

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß sich in der praktizierten Regionalpolitik unterschiedliche theoretische Ansätze zur Erreichung der regionalpolitischen Ziele wiederfinden. Dies ist aber nicht nur ein theoretisches Problem, sondern vor allem ein Dilemma ftlr die praktische Regionalpolitik, da die Handlungsanweisungen der Theorien ftlr die Politik sich zwar oft ergänzen, aber auch zum Teil widersprüchlich sind. Die Folge ist, daß sich die praktische Politik aus "kompatiblen bzw. kompatibel erscheinenden Theoriebausteinen zusammensetzt", was zu einer Vermischung unterschiedlicher Instrumente ftlhrt, die sich teilweise durch Inkonsistenzen auszeichnen (ScharjJ, 1993b, S. 11). Berücksichtigt man die Richtung der Entwicklungsimpulse, die von den "Zentren in die Peripherie" verlaufen, wird sie von Kritikern auch als "Entwicklungspolitik von oben" oder eine "zentrengestützte Diffusionspolitik" charakterisiert (Hahne, 1985, S. 21) Die Beurteilung der GRW ist in der Literatur nicht einheitlich und teilweise sehr widersprüchlich, was vor allem darauf zurückzuftlhren ist, daß die Möglichkeiten eng begrenzt sind, die Wirkungen der Gemeinschaftsaufgabe von gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen zu isolieren und damit die zentrale Frage nach dem "with-without"-Vergleich eindeutig zu beantworten. Neben der methodischen Frage, die eng verknüpft ist mit der Datenproblematik, kommen zudem unterschiedliche Gewichtungen des Ausgleichs- bzw. des Wachstumsziels zum Tragen, so daß die Bewertungen und Verbesserungsvorschläge "von der Forderung nach Abschaffung über eine Dezentralisierung und Regionalisierung, eine stärkere räumliche Konzentration, eine Veränderung der Fördertatbestände, instrumentelle Verbesserungsvorschläge bis hin zu einer stärker zentral-wachstumspolitischen Ausrichtung oder einer eindeutigen Verlagerung auf die Ausgleichspolitik" reichen (Ewringmann et al., 1986, S. 36). Von dieser Feststellung ausgehend sollen daher ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit einige wichtige Kritikpunkte angeftlhrt werden, die sich aus der skizzierten Grundkonzeption der praktizierten Regionalpolitik ableiten lassen, wie sie zum Teil auch in der Praxis vorzufinden und ftlr die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung relevant sind. Die grundlegende Voraussetzung ftlr den Abbau regionaler Disparitäten ist die Messung derselbigen. Für die politische Umsetzung bedeutet dies die Abgrenzung von ilirderungswürdigenl-bedürftigen Regionen. Bemessungsgrundlage bei der GRW ftlr die Trennung ist ein Gesamtindikator, mit Hilfe dessen die Arbeitsmarktregionen aufgereiht und anhand eines Schwellenwertes, der auf der Basis eines Bevölkerungsplafonds (ftlr 1994 bis 1996 22 %)40 ermittelt wird, aufgeteilt werden. 41

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

59

Die Kritik an der Gebietsabgrenzung hat Tradition seit es die Gemeinschaftsaufgabe gibt. Sie richtet sich vor allem gegen die verwendeten Indikatoren und deren Gewichtung, so daß sowohl die Abgrenzungskriterien als auch ihre individuellen Gewichtungen bzw. die Art der Verknüpfung im Zeitablauf immer wieder geändert wurden, was letztendlich auf theoretische Defizite bei der Ableitung von Indikatoren und auf die mangelnde Konkretisierung regionalpolitischer Ziele zurückzuftlhren ist (Ewringmann et al., 1986, S. 236). Unabhängig von der Detailkritik am Aussagegehalt der jeweiligen Indikatoren läßt sich festhalten, daß sie primär ausgleichsorientiert sind und die wachstumspolitische Zielsetzung der Regionalpolitik nur bedingt berücksichtigt ist. Doch selbst unter dem Aspekt einer Ausgleichsorientierung der Gemeinschaftsaufgabe dürfte durch die Heterogenität der Raumstruktur, insbesondere unter dem Blickwinkel kleinräumiger Entwicklungsprozesse in ländlichen Räumen, eine problemorientierte Abgrenzung anband eines Gesamtindikators nicht oder nur bedingt möglich sein. So ist es auch nicht verwunderlich, daß bei den letzten Gebietsabgrenzungen in einem zweiten diskretionären Schritt jeweils kleinere Regionen im Rahmen eines Gebietsaustausches mit besonderen strukturpolitischen Problemen in das Fördergebiet aufgenommen wurden. 42 Trotz des hohen Aufwandes und der stetigen Bemühung von seiten der Wissenschaft dürfte es sich durch die letztendlich politische Entscheidung der Gebietsausweisung um eine Kompromißentscheidung handeln, da man davon ausgehen kann, daß "Besitzstandswahrung" und "Gleichbehandlung" einen nicht unerheblichen Einfluß bei der Ausweisung der Gebietskulisse haben (Beckenbach, 1988, S. 35). Die angeftlhrte Nicht-Berücksichtigung entwicklungsorientierter Indikatoren bei der Gebietsabgrenzung wird relativiert durch die bevorzugte Förderung von Schwerpunktorten. Bei der Kritik an dieser Vorgehensweise lassen sich zwei unterschiedliche Ansatzpunkte unterscheiden. Ohne die grundsätzliche Kritik an

40

Bei der Festlegung fand zum ersten Mal eine Vorabvereinbarung zwischen Bund, Ländern und der EG-Beihilfenkontrolle statt. Zum Konflikt zwischen nationaler Re~:onalpolitik und den regionalpolitischen Aktivitäten der EG vgl. Kap. 2.3.3. Zur Auswahl der Indikatoren und der detaillierten Vorgehensweise bei der Neuabgrenzung vgl. Zarth, 1991, S. 539ff. 42 Vgl. Deutscher Bundestag, 1995, S. 9; ebenso Zarth, 1991, S. 551.

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2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

der theoretischen Grundlage zu berUcksichtigen,43 wird bei Ausgestaltung der GRW-Rahmenplanung kritisiert, daß die darin festgelegte räumliche Konzentration im Sinne entwicklungstheoretischer Notwendigkeiten nicht ausreichend sei, so daß die "Anzahl der [... ] ausgewiesenen Schwerpunkte vielmehr dem Schwerpunktprinzip widerspreche" (Towara, 1986, S. 24). Selbst bei der Akzeptanz der theoretischen und politischen Implikation des Konzeptes der Schwerpunktorte liegt somit ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis in der Regionalpolitik vor. Dies dürfte wiederum nicht nur den Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung wachstumspoltheoretischer Aussagen zuzuschreiben sein, sondern ebenfalls als Folge einer Kompromißlösung politischer Verhandlungen interpretiert werden. Weitere Kritik an der Anwendung des Prinzips der Schwerpunktorte richtet sich gegen die Diskriminierung anderer Gemeinden durch die Bevorzugung der jeweiligen Schwerpunktorte und damit verbunden gegen die möglichen negativen Konsequenzen (backwash effects) , insbesondere rur kleinere Gemeinden in den ländlichen Räumen, die durch die polarisierten Entwicklungsprozesse hervorgerufen werden. Angeftlhrt wird in diesem Zusammenhang die Widersprüchlichkeit, daß auch in den peripheren Regionen, d.h. eben in jenen Regionen, die von den negativen Konsequenzen der Entwicklung in den Ballungszentren betroffen sind, ein auf agglomerativen Strukturen basierender Entwicklungsprozeß initiiert werden soll, der letztendlich der "Ausgangspunkt aller regionalpolitischen Interventionen ist" (Beckenbach, 1988, S. 36). Damit läßt sich aus der Sicht kleiner Gemeinden in ländlichen Räumen einwenden, daß die Förderung von Schwerpunktorten die gleichen negativen Effekte hat, die auch als Folge der Abwanderung in Verdichtungsräume stattfinden, und damit bei kleinräumiger Betrachtung die "Peripherie" innerhalb des ländlichen Raumes geschwächt wird. Da die regionale Strukturpolitik im Grunde genommen nur an der Förderung der Investitionstätigkeit und damit nur an der Mobilisierung eines Produktionsfaktors, nämlich am Kapital ansetzt, wird immer wieder Effizienz des Mitteleinsatzes, d.h. die Gefahr von Mitnahmeeffekten und die Förderung von nur bedingt rentablen Investitionen, als Kritikpunkt angefilhrt. 44 Mitnahmeeffekte entstehen dann, wenn die Investitionen auch ohne Förderung allein aufgrund anderer Investitionsmotive getätigt werden. So wird von den Kritikern

43 Zur einer zusammenfassenden Kritik vgl. Hahne, 1985, S. 24f. 44

Nicht berücksichtigt sind bei dieser Kritik die Änderungen im Vierundzwanzigsten Rahmenplan bezüglich der möglichen Förderung von nicht-investiven Maßnahmen.

2.2 Traditionelle Regionalpolitik in der Bundesrepublik

61

vor allem bezweifelt, daß die finanzielle Unterstützung überhaupt eine wesentliche Determinante rur die unternehmerische Investitionsentscheidung sei. 45 Dies dürfte vor allem bei Betriebserweiterungen oder Rationalisierungsinvestitionen in Frage gestellt werden, insbesondere dann, wenn kein Rechtsanspruch auf die Förderung besteht, wie im Fall der Gemeinschaftsaufgabe, da diese eher durch die konjunkturelle Entwicklung bestimmt werden als durch Investitionszulagen, die dann lediglich als "Liquiditätshilfe" betrachtet werden können (Towara, 1986, S. 35). Ist die fmanzielle Förderung dennoch ein Leitmotiv ftlr die Investitionsentscheidung, so besteht zusätzlich die Beftlrchtung, daß erst durch die fmanzielle Unterstützung des Staates die entsprechende Rentabilität einer Investition erreicht wird und dadurch die Gefahr von Erhaltungssubventionen rur nichtwettbewerbsfithige Unternehmen (Sektoren) besteht und/oder Unternehmen mit geringen Zukunfts chancen am Markt unterstützt werden (Schar.fJ, 1993, S. 81). Die Konsequenz daraus ist eine höhere Konjunkturanfitlligkeit und damit' eine geringere Persistenz der geschaffenen Arbeitsplätze. Selbst bei einer Steigerung der Investitionstätigkeit durch die Regionalförderung hängt der Beschäftigungseffekt, der die eigentliche Zielgröße ist, aber letztendlich davon ab, ob der Outputeffekt der Investition den durch die veränderte Faktorpreisrelation einsetzenden Substitutionseffekt übersteigt (Asmacher/Schalk, 1989, S. 135). Doch auch bei posItiven Outputeffekten stellt sich die Frage nach der Qualität der geschaffenen Arbeitsplätze. Wegen des oft fehlenden Arbeitsmarkts rur hochqualifizierte Arbeitskräfte, vor allem in ländlichen Regionen, ist davon auszugehen, daß eine selektive Wirkung von der Förderung ausgeht, da Investitionen induziert werden, die ohne ein entsprechendes Potential an Humankapital auskommen können. Daneben werden Investitionen begünstigt, die einerseits ubiquitär zu realisieren sind und andererseits bei einem hohen Kapitalanteil eine kurze Abschreibungsdauer haben, was ebenfalls in Richtung minderqualifizierter Arbeitsplätze wirkt, da dies vor allem ft1r Zweigbetriebe bzw. rur solche Produktionen gilt, die in der Reifephase des Produktionslebenszyklus stehen (Hahne, 1985, S. 23). In eine ähnliche Richtung weist die Kritik an der Orientierung der GRW am Export-Basis-Konzept. Zwar bezieht sich die Förderung nicht ausschließlich auf

45

V gl. Ewringmann et al., 1986, S. 34.

62

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Unternehmen des produzierenden Gewerbes46, doch ist davon auszugehen, daß durch die Forderung eines Primäreffektes, sich gef()rderte Investitionen vornehmlich auf diesen Bereich beschränken und damit zum einen wesentliche Bereiche aus der Regionalf6rderung herausfallen und zum anderen der Entstehung gering qualifizierter Arbeitsplätze zusätzlicher Vorschub geleistet wird. So fordert die Arbeitsgemeinschaft Wirtschaftsschwacher Randregionen Deutschlands (A WRD, 1994, S. 39) in einer Stellungnahme die PrUfung, ob der Primäreffekt als Fördervoraussetzung in seiner bisherigen Ausprägung überhaupt noch aufrecht erhalten werden kann, da es notwendig sei, vor allem der Bedeutung des Handwerks und auch der Dienstleistungsunternehmen fUr die Wirtschaft im ländlichen Räumen stärker gerecht zu werden. Es lassen sich aber nicht nur Kritikpunkte an der konzeptionellen und instrumentellen Ausgestaltung der praktizierten Regionalpolitik anftlhren, sondern auch kritische Anmerkungen hinsichtlich der Organisation und institutionellen Ausgestaltung machen. Wie bereits bei der Kritik zur Gebietsabgrenzung und Festlegung der Schwerpunktorte dargestellt, lassen sich Ineffizienzen der Gemeinschaftsaufgabe auf ablaufende politische Entscheidungsprozesse zurUckftlhren, die maßgeblich dadurch beeinflußt werden, daß die Mittel limitiert sind und die Länder versuchen möglichst viele Mittel an sich zu ziehen. Dadurch entsteht ein gewisses Konfliktpotential, was dazu fUhrt, daß statt sachlich begründeter Entscheidungen vielfach eine Strategie der Konfliktminimierung dominiert (Suntum v., 1981, S.57).47Schließlich stehen hinter der Kritik an der praktizierten Regionalpolitik die bisher erzielten Ergebnisse, die man selbst aus einer positiven Betrachtungsweise nur als Teilerfolge bezeichnen kann, da es bisher nicht gelungen ist, in vielen zurUckgebliebenen Regionen Entwicklungsprozesse in Gang zu setzen, die zur Stabilisierung der Situation oder gar zu einem Abbau der Disparitäten fUhrten. Asmacher und Schalk (1989, S. 139) halten dagegen, daß viele Fehlentwicklungen in den Förderregionen nicht auf ein Versagen der regionalen Strukturpolitik zurUckzuftlhren sind, sondern ihre Ursachen in globalen Fehlentwicklungen haben. Zudem kann die GRW durch das begrenzte Mittelvolumen und die rein angebotsorientierten Ausrichtung nicht das leisten, was oft an Wirkungen von ihr erwartet wird.

46

Vgl. Deutscher Bundestag, 1995, S. 152; Positivliste im Vierundzwanzigsten Rahder Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur. Vgl. ebenso Towara, 1986, S. 44ff.

me~plan

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

63

Damit läßt sich sowohl aus der Kritik als auch aus dem positiven Urteil unter BerUcksichtigung bestehender Problemfelder ländlicher Regionen der Schluß ziehen, daß fUr einen Abbau räumlicher Disparitäten grundsätzlich zusätzlicher Handlungsbedarf besteht. Die Integration der Fachpolitiken (Agar-, Umwelt-, Arbeitsmarkt-, Bildungspolitik), die sich der eigentlichen Regionalpolitik entziehen, aber dennoch die räumlichen Gegebenheiten wesentlich strukturieren, in die regionalpolitischen Konzeptionen könnte einen wichtigen Beitrag leisten, regionale Problemsituationen zu entschärfen.

2.3 Die Europäische Regionalpolitik als neue politische Rahmenbedingung f"ür Entwicklungsbestrebungen im ländlichen Raum In den vorherigen Kapiteln wurden die Entwicklungsperspektiven und die Problemfelder ländlicher Regionen ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit dargestellt, wie sie sich als Rahmensituation fUr die zukünftige Entwicklung abzeichnen und durch die Darstellung der "traditionellen" Regionalpolitik in der Bundesrepublik ergänzt. UnberUcksichtigt blieben dagegen bisher neuere regional politische Aktivitäten fUr den ländlichen Raum auf der europäischen Ebene, wie sie in den letzten Jahren in der Praxis Anwendung fmden. Diese haben aber besondere Bedeutung, da sie einerseits den politischen Handlungsspielraum der nationalen Ebene (Bund) und durch den iliderativen Aufbau der Bundesrepublik zunehmend auch den der untergeordneten Ebenen (Länder oder Regierungsbezirke) bestimmen und damit Einfluß nehmen auf die nationalstaatlichen und länderspezifischen Aktivitäten zum Abbau regionaler Disparitäten. Andererseits gehen von ihr durch eigene Förderprogramme und Initiativen neue Impulse durch den verstärkten Mitteleinsatz und die konzeptionellen Änderungen in Verbindung mit verfahrenstechnischen Neuerungen bei der praktischen Umsetzung der Förderaktivitäten fUr die Entwicklung ländlicher Regionen aus.

64

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

2.3.1 Die Reform der StrukturConds von 1988 als Ausgangspunkt neuer 48 regionalpolitischer Aktivitäten für den ländlichen Raum 2.3.1.1 Rechtliche Grundlagen und Ausgestaltung

Durch die Beschlüsse zur EintUhrung des Europäischen Binnenmarktes sind die Entwicklungen der regionalpolitischen Aktivitäten der EG in den vergangenen Jahren vor dem Hintergrund einer Beschleunigung der "europäischen Integration" zu sehen. In diesem Zusammenhang müssen zum einen die Disparitäten zwischen den Staaten in der Gemeinschaft, die Rahmen der EG-Erweiterung der Gemeinschaft durch den Beitritt der Länder Griechenland (1981), Spanien und Portugal (1986) erheblich zugenommen haben und andererseits die Reformen der Gemeinsamen Agrarpolitik seit den Gipfelbeschlüssen von 1988 gesehen werden. Zwar brachten die Unterzeichnerstaaten der Römischen Verträge schon 1957 in der Präambel die Absicht zum Ausdruck, "ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und den Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringern", doch eine ausdrückliche regionalpolitische Zielsetzung erfuhr die EG erst durch die im Februar 1986 verabschiedete Einheitliche Europäische Akte. Das soll aber nicht bedeuten, daß die Gemeinschaft vorher nicht regionalpolitisch aktiv war. Ausgangspunkt regionalpolitischer Aktivitäten war 1975 die Schaffung des Europäischen Fonds tUr regionale Entwicklung (EFRE). Er war im Gegensatz zu den beiden anderen Fonds in den Römischen Verträgen nicht vorgesehen und wurde erst im Rahmen der EG-Erweiterung auf der Basis des Art. 235 EWGVertrag (Generalermächtigung, Erlaß von Vorschriften tUr unvorhergesehene Fälle) eingerichtet. Durch den EFRE sollen produktive Investitionen und Verbesserungen der Infrastruktur, die zur wirtschaftlichen Entwicklung beitragen, gefördert werden, um damit regionale Ungleichgewichte auszugleichen.

48

Die nachfolgenden Ausführungen betreffen primär die Reform der Strukturfonds für den Zeitraum 1988 bis 1993 und dabei vor allem Bereiche, die den "ländlichen Raum" betreffen. Für die weitere Programmperiode von 1994 bis 1999 bleiben die Grundsätze der Reform von 1988 prinzipiell erhalten. Änderungen im Bereich der 5bFörderung (Entwicklung des ländlichen Raumes) betreffen in erster Linie die Kriterien rur die Gebietsabgrenzung und die Aufstockung der Finanzmittel.

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

65

Bei den anderen Strukturfonds handelte es sich zum Zeitpunkt der Reform von 1988 um den: - Europäischen Sozialfonds (ESF), - Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds rur die Landwirtschaft, Abteilung Ausrichtung (EAGFL, Abt. Ausrichtung). Die rechtliche Grundlage fiir den Europäischen Sozialfonds bilden die Artikel 123ff. des EWG-Vertrages. Nach Art. 123 hat der ESF den Zweck, die "berufliche Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Mobilität der Arbeitskräfte zu llirdern sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktions systeme insbesondere durch berufliche Bildung und Umschulung zu erleichtern". Gefördert werden v.a. Maßnahmen zur Berufsausbildung und zur Ein- und Wiedereingliederung von Arbeitnehmern. Der Europäische Ausrichtungs- und Garantiefonds rur die Landwirtschaft (EAGFL) hat als rechtliche Grundlage Art. 40 Abs. 4 EWGVertrag. Die Abteilung Ausrichtung hat ihre Arbeit allerdings erst 1964 aufgenommen. Finanziert werden Maßnahmen zur Anpassung und Verbesserung der Produktionsbedingungen, der Erzeugung, der Vermarktung und des Absatzes in der Landwirtschaft (Ekelmans/Smeets, 1990, S. 9). Verstand sich die EG-Regionalpolitik in den 70er Jahren primär als ein Instrument zur Stützung nationaler Regionalpolitik, so hat sie sich sukzessiv von den nationalen Aktivitäten abgekoppelt und zu einem eigenständigen Politikbereich entwickelt (Malchus V., 1993, S.58). Dies wird besonders deutlich an den Ergänzungen des am I. Juli 1987 in Kraft getretenen geänderten EWG-Vertrages von 1957. In Art. l30a hat sich die EG zum Ziel gesetzt, "die Unterschiede im Entwicklungsstand der verschiedenen Regionen und den Rückstand der am stärksten benachteiligten Gebiete, einschließlich der ländlichen Gebiete, zu verringern". Es ist offensichtlich, daß von seiten der EG der Verringerung der regionalwirtschaftlichen Disparitäten eine zentrale Bedeutung bei der Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts der Gemeinschaft beigemessen wird. In Art. 130b EG-Vertrag werden die Wege genannt, mit denen die Ziele in Art. l30a verwirklicht werden sollen, nämlich durch die Koordination der nationalstaatlichen Wirtschaftspolitiken und durch die Unterstützung der Gemeinschaft mit Hilfe der Strukturfonds, der Europäischen Investitionsbank und der sonstigen vorhandenen Finanzierungsinstrumente. 49

5 Schön

66

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Bis 1988 haben die drei Strukturfonds prinzipiell getrennt gehandelt, was auf die bis dorthin bestehende Funktion der Fonds als jeweilige Instrumente verschiedener Gemeinschaftspolitiken zurUckzufilhren ist. sO Die Umsetzung der Zielvorgaben durch die Ergänzungen des EWG-Vertrages erfolgte 1988 formalrechtlich durch die Reform der Strukturfonds mit der Verabschiedung von filnf Verordnungen, die auf Vorschlag der EG-Kommission am 1.1.1989 in Kraft getreten sind und Gültigkeit bis Ende 1993 hatten und mit Beschluß vom 20.7.1993 zum 1.1.1994 filr weitere sechs Jahre in ihren Grundzügen beibehalten werden. 51 Im Mittelpunkt der Reform von 1988 stand die schrittweise reale Verdopplung der Mittel der Strukturfonds von 1989 bis 1993 und ihre gezielte Ausrichtung auf filnf vorrangige Aufgabenbereiche, um durch größere Konzentration eine größere Effizienz der Mittel sowohl funktional als auch räumlich zu erreichen. Unter funktionalen Gesichtspunkten ist die Konzentration der Mittel auf die Problembereiche Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit (Ziel 3), Erleichterung der Eingliederung der Jugendlichen in das Erwerbsleben (Ziel 4) und die Anpassungsllirderung der Agrarstruktur (Ziel 5a) zu sehen. Neben der Zielsetzung der Förderung der Entwicklung und der strukturellen Anpassung strukturschwacher Regionen (Ziel J) und des Strukturwandels in den Regionen mit stark überalterter Industrie (Ziel 2) wird der Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes (ZieI5b) eine hohe Priorität im Rahmen der räumlichen Konzentration der Strukturpolitik zugeordnet. Ein weiterer inhaltlich wichtiger GesichtspuDkt der regionalpolitischen Neuorientierung ist der Übergang von der Einzelprojektllirderung zur mehrjährigen Programmplanung. Dabei soll durch eine aufeinander abgestimmte Intervention der Strukturfonds im Rahmen von integrierten Entwicklungsprogrammen die Effizienz des Mitteleinsatzes erhöht werden. Diese Programme

49 Zu einer ausfilhrlichen Darstellung der Finanzierungsinstrumente der EU vgl. Waniek, 1992, S. 39f.; ebenso Schwerdtfeger, 1992, S. 76ft'. Zur Erweiterung des regionalpolitischen Instrumentariums durch die Beschlüsse von Maastricht von 1992 zur Einrichtung eines Kohäsionsfonds vgl. Art. 130d EG Vertrag. so Vgl. Ginderacher V., 1989. SI Dabei handelt es sich um eine Rahmenverordnung (VO EG 2052/88), eine Durchfilhrungsverordnung (VO EG 4253/88) sowie jeweils um eine fondsspezifische Verordnung (EG VO 4254-56/88).

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

67

sollen nach dem Grundsatz der Partnerschaft erarbeitet, durchgefUhrt, bewertet und finanziert (Additionalität der Mittel) werden. Bei Ziel 1 und Ziel 5b erfolgt die Finanzierung der Programme durch eine Kombination aus allen drei Strukturfonds. Bei Ziel 2 ist der EAGFL Abt. Ausrichtung nicht beteiligt. Bei den Zielen, die eine funktionale Konzentration auf bestimmte Problembereiche (Ziel 3, 4 und 5a) beinhalten erfolgt die Finanzierung je nach Ziel aus einem Fonds und unterliegt keiner räumlichen Einschränkung. Der Grundsatz der Partnerschaft, der in den offiziellen Publikationen der Kommission immer wieder hervorgehoben wird, ist als eine Reaktion auf die Kritik an der mangelnden Abstimmung zwischen den verantwortlichen Stellen bei der Förderpolitik in den 80er Jahren zu sehen. Dieses Grundprinzip soll durchgehend von der Planung bis hin zur Bewertung der Aktionen Anwendung finden, um eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen der Kommission und den gef()rderten Mitgliedstaaten und den von ihnen bezeichneten Regionalbehörden zu erreichen. Da bei der Planung der Maßnahmen auch Institutionen aus Wirtschaft und Gesellschaft miteinbezogen werden sollen, erstreckt sich die Intention des Grundsatzes nicht nur auf eine "amtliche Partnerschaft", sondern geht darüber hinaus und schließt eine "private Partnerschaft" mit ein (Schwerdtfeger, 1992, S. 83). Eng verbunden mit dem Prinzip der Partnerschaft ist der Grundsatz der Kohärenz und die Zusätzlichkeit der Mittel. Mit diesem Grundsatz sollen die Fördermaßnahmen der unterschiedlichen politischen und administrativen Ebenen besser koordiniert und deren Eigenverantwortlichkeit sichergestellt werden. Letzteres impliziert aber, daß die EG die von den Mitgliedstaaten und Regionen vorgeschlagenen Programme lediglich mitfmanziert und nicht durch eigene regionalpolitische Maßnahmen ersetzt. Entsprechend dürfen die Maßnahmen der Mitgliedstaaten dem Ausgleichsziel der Gemeinschaft nicht widersprechen (Döring, 1993, S. 50). Durch die Anwendung der genannten Prinzipien und den damit verbundenen Übergang zur Programmplanung war eine Veränderung des Interventionsverfahrens der Strukturfonds notwendig, welches nachfolgend kurz dargestellt wird. Für die Gebietsabgrenzung zur Ausweisung der Förderregionen nach Ziel 5b wurden für die Programmperiode von 1989 bis 1993 folgende Kriterien zugrunde gelegt (Bay. STMELF, 1991, S. 11): - hoher Anteil der in der Landwirtschaft beschäftigten Personen an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen, - niedriges Agrareinkommen, ausgedrückt als landwirtschaftliche Bruttowertschöpfung je landwirtschaftlicher Arbeitseinheit,

S*

68

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

- niedriger sozioökonomischer Entwicklungsstand, beurteilt nach dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Für die Gebietsabgrenzung der Programmperiode 1994 bis 1999 wurden die Kriterien dahingehend flexibilisiert, daß als maßgebendes Kriterium ein niedriges Bruttoinlandsprodukt pro Kopf und daß mindestens zwei von drei weiteren Kriterien erftUlt sein müssen. Dabei handelt sich es um die beiden, die auch bereits 1989 Anwendung fanden, und das Kriterium einer geringen Bevölkerungsdichte oder eine starke Tendenz zur Abwanderung (Agrarbericht, 1994, S. 111). Auf der europäischen Ebene fUhrte diese Neuabgrenzung zu einer Erhöhung des Flächenanteils in den von der 5b-Förderung betroffenen Staaten von 17,9 % auf 26,6 %. Für die ländliche Entwicklung stehen in diesen Gebieten in der mittelfristigen Finanzplanung der EU bis 1999 knapp 6,3 Mrd. ECU zur Verfügung, wovon 1,23 Mrd. ECU auf die 5b-Gebiete in der Bundesrepublik Deutschland entfallen. 52 Nicht berücksichtigt sind bei der 5b-Förderung die neuen Bundesländer, da diese zunächst im Rahmen eines Sonderprogramms zur strukturellen Entwicklung gefOrdert bzw. durch die Beschlüsse vom 20.7.1993 mit Wirkung zum 1.1.1994 zu Ziel I Regionen erklärt wurden. 53 Nach der Festlegung der Gebietskulisse und deren Genehmigung erstellen die nationalen oder die von ihnen beauftragten Stellen Gebietsentwicklungspläne und übermitteln diese zur Prüfung hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Gemeinschaftspolitik an die Kommission. Neben einer regionalen Problemanalyse sollen die Pläne Angaben über Entwicklungsziele, Entwicklungsstrategien und zu finanzierende Förderschwerpunkte und eine entsprechende Finanzierungsübersicht enthalten. Auf der Basis der Pläne wurden durch die Mitgliedstaaten Gemeinschaftliche Förderkonzepte (GFK) erstellt, die wiederum durch die Kommission genehmigt werden müssen. Die wichtigsten Angaben der GFK sind die Interventionsschwerpunkte der strukturpolitischen Instrumente, die Interventionsformen, ein indikativer Finanzierungsplan mit Angaben über Interventionshöhe, Laufzeit, Finanzierungsquellen (nationale und private), Angaben über die Mittel der Vorbereitung, Durchführung und Anpassung der Maßnahmen und die Vorgehensweise zur Begleitung und Bewertung der Verfahren.

52

Vgl. Agra-Europe 4/94, Europa-Nachrichten S. 13. Zur ausfilhrlichen Darstellung der Integration der neuen Bundesländer in die Strukturpolitik der EU vgl. Schwerdtfeger, 1992, S. 162ft'. 53

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

69

Die konkrete Umsetzung der Gemeinschaftlichen Förderkonzepte, die nur den konzeptionellen und den finanziellen Rahmen abgrenzen, erfolgt durch die Erarbeitung von Operationellen Programmen (OP) und deren Genehmigung durch die Kommission. In diesen Programmen werden entsprechend den Gemeinschaftlichen Förderkonzepten die Finanzmittel auf Unterprogramme und einzelne Maßnahmen und Projekte aufgeteilt. Nicht zuletzt ist ein wichtiges Element der Reform der Strukturfonds die strengere Begleitung und Bewertung der Pläne und Maßnahmen, um die Effizienz des verstärkten Mitteleinsatzes zu gewährleisten.

2.3.1.2 Umsetzung des Ziels 5b in der Bundesrepublik unter besonderer Berücksichtigung Bayerns Die Gebietsabgrenzung nach den genannten Kriterien führte für die Programmperiode von 1989 bis 1993 in den alten Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland dazu, daß 21,4 % der Fläche und 7,4 % der Bevölkerung verteilt auf 49 Landkreise von der Kommission als förderungswürdig nach Ziel Sb anerkannt wurden. Den größten Anteil an der 5b-Gebietskulisse hatte der Freistaat Bayern mit einem Flächenanteil von 45 % und einem Bevölkerungsanteil von 44,3 %, gefolgt von Niedersachsen mit Werten von 20,6 % und 21,1 %. Nach der Neuabgrenzung fallen mit 9,50 Mio. ha in der Bundesrepublik 38 % der Fläche der alten Bundesländer und in Bayern mit 4,01 Mio. ha 57 % des Staatsgebietes in die Kategorie der ländlichen Regionen nach Ziel Sb. Damit hat Bayern einen Anteil von 42 % der Fläche an den Sb-Gebieten in den alten Bundesländern (Abbildung 3).54

Planket und Schrader (1991, S. 13ff.) charakterisieren die Ausgangslage in den Sb-Regionen der Bundesrepublik, wie sie in der ersten Programmperiode ausgewiesen wurden, im Vergleich zum jeweiligen Landesdurchschnitt anhand einer Reihe von sozioökonomischen und demographischen Indikatoren. Zusammengefaßt lassen sich folgende regionale Grundzüge erkennen, die aber nicht für alle Regionen im gleichen Maße zutreffen: - relativ geringe Bevölkerungsdichte mit unterschiedlichen Entwicklungstendenzen hinsichtlich der Wanderungsbewegungen,

54

Zur detaillierten Verteilung der Flächen und Einwohner auf die jeweiligen Bundesländer in der Programmperiode 1989 bis 1993 vgl. Schrader, 1991, S. 64; ebenso Agarbericht, 1992, S. 114. Für die Periode 1994 bis 1999 vgl. Agrarbericht, 1995, S. 116.

70

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Fördergebiete der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur"

und der EG-Strukturfonds (Ziel -2· und Ziel-Sb· Gebiete) Stand 1. 1. 1994

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Stand 1. 1. 19'94

Maßstab 1 :2000000 20

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1994 - 1996

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Ziel-Sb-Gebiete (ländliche Gebiete) 1994 - 1999

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ZieJ-2-Gebiete (Industriegebiete mit rOckläufIQer

Entwicklung) 1994 - 1996



..

Orte bis zu '8 % Subventionswert Doppelortf! sind durch

Verbindungslinien gekennzeichnet

Orte bis zu 15 % Subventionswert

Die Gemeinde MaMlcus. lkr. Kulmbach, ist nur mit den Ortslel\en Mainleus und Hornschuchshausen Teil des GA-Gebiets.

Abbildung 3 Gebietsabgrenzung der 5b-Regionen und der Gemeinschaftsaufgabe ..Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" in Bayern (Bay. STMLU, 1994)

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

71

- relativ niedrige Gesamtwirtschaftskraft, - hohe Erwerbstätigenanteile in der Landwirtschaft und geringe Anteile im Dienstleistungssektor, - teilweise höhere Einkommen aus der Landwirtschaft als im Landesdurchschnitt, - höhere Arbeitslosenquoten bei einem gleichzeitigen Mangel an beruflicher Qualifikation der Beschäftigten.

Am 6. Juni 1990 hatte die EG-Kommission formell acht Gemeinschaftliche Förderkonzepte ftlr die Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Durch diese Genehmigung wurden ftlr Fördermaßnahmen nach Ziel 5b insgesamt 525 Mill. ECU rur die Bundesrepublik von der Gemeinschaft zur VerfUgung gestellt. Dabei entfielen rund 70 % der Mittel auf die flächenstarken Bundesländer Bayern (49 %) und Niedersachsen (21 %). In der Bundesrepublik Deutschland hat man die Maßnahmen in den GFK von 1989 bis 1993 zu vier prioritären Entwicklungsachsen zusarnmengefaßt: 1. Diversifizierung, Neuausrichtung und Anpassung der Land- und Forstwirtschaft, einschließlich Fischerei und Gartenbau,

2. Entwicklung und Diversifizierung der nichtlandwirtschaftlichen Sektoren und Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur, 3. Entwicklung der Humanressourcen durch Maßnahmen der beruflichen Bildung, 4. Umweltschutz, Naturschutz und Landschaftspflege. Im europäischen Kontext werden je nach Mitgliedsland und Gemeinschaftlichem Förderkonzept weitere Entwicklungsschwerpunkte genannt, die bei den deutschen in den o.g. Achsen integriert sind, wie z.B. Tourismus, Forstwirtschaft oder Ausbau der Infrastruktur." Im Vergleich des Mitteleinsatzes auf die verschiedenen Entwicklungsachsen zwischen den europäischen und den deutschen Schwerpunkten der Förderung liegt der Schwerpunkt im europäischen Durchschnitt auf der Entwicklungsachse Diversifizierung der Land- und Forstwirtschaft, gefolgt von den nichtlandwirtschaftlichen Sektoren und der Entwicklung der Humanressourcen (Tabelle 2).

" Vgl. Ekelmans/Smeets, 1990, S. 25; ebenso Plankel/Schrader, 1991, S. 22ft".

72

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten Tabelle 2 Vergleich der Anteile der öffentlichen Ausgaben an den Gesamtausgaben im Rahmen der Sb-Programme in v.H. (erste Periode)

Schwerpunkte

Bundesrepublik Deutschland

Achse 1 Land- und Forstwirtschaft Achse 2: Nichtlandwirtschaftliche Sektoren Achse 3 Humanressourcen Achse 4: Umwelt Tourismus b)

Bayerna)

lEG Länder mit Sb Gebietenc )

28,0

27,2

37,3

30,9

33,9

21,1

16,4

23,0

16,1

24,7

15,9

11,9

Sonstige Schwerpunkteb)

-

-

10,6 3,0

Insgesamt

100,0

100,0

100,0

Quelle: Schrader, 1991, S. 51; eigene Berechnung nach Bay. STMELF 1991, S.21; a) Ohne bereits bestehende Verpflichtungen; b) In Prioritätsachsen 1 und 2 der Bundesrepublik Deutschland enthalten; c) Ohne Portugal, Griechenland und Irland ' Die bereitgestellten Mittel wurden im Förderzeitraum bis zum Jahresende 1993 mit bewilligungsreifen Vorhaben unterlegt, deren Finanzierung bis Ende 1995 abgewickelt sein muß. Insgesamt wurden für die erste Programmphase bis Ende 1993 Entwicklungsrnaßnahmen in Höhe von 1,6 Mrd. ECU veranschlagt, woran sich die EU je nach Maßnahmen mit 30 bis 50 % beteiligt. 56 Für die Periode von 1994 bis 1999 stellt die EU insgesamt 1,23 Mrd. ECU in der Bundesrepublik für die Förderung des ländlichen Raumes nach Ziel 5b bereit. Auf Bayern entfallen 561 Mio. ECU, was einem Anteil von knapp 46 % der EU-Mittel für die förderungswürdigen ländlichen Räume in den alten Bundesländern entspricht (Tabelle 3).57

56

57

Vgl. Agrarbericht, 1991, S. 100. Vgl. Agrarbericht, 1995, S. 116.

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

73

Tabelle 3 Kennzahlen zur Förderung nach Ziel Sb in Bayern

Bayern

Bundesrepublik Deutschland Programmperiode

Programmperiode

1989/93

1994/99

1989/93

1994/99

Zahl der Einwohner (Mio.)

4,440

7,725

2,030

3,525

Flächenumfang (Mio. ha)

5,25

9,50

2,40

4,01

Finanzvolumen EU (Mio. ECU)

525

1.230

230

561

davon aus dem ... in %

EFRE

44,8

38,6

42,1

37,0

EAGFL, Abt. Ausrichtung

37,0

42,5

34,5

42,0

ESF

18,1

18,8

23,4

21,0

Quelle: Wüst, 1994, S. 12; eigene Berechnung nach Agrarbericht, 1991, S. 100 sowie Agrarbericht 1995, S. 116

Neben der deutlichen räumlichen Ausdehnung der Fördergebiete und der damit verbundenen Aufstockung des Gesamtmitteleinsatzes zeigt sich sowohl im Bundesdurchschnitt als auch in Bayern eine relative Verschiebung der fondsspezifischen Mittelherkunft. Karnen die Mittel der EU für die Förderung der 5b-Gebiete in der ersten Periode noch überwiegend aus dem EFRE und flossen somit überwiegend in den Bereich der außerlandwirtschaftlichen Strukturförderung, so läßt sich für die Periode von 1994 bis 1999 feststellen, daß eine relative Verstärkung des Mitteleinsatzes im Bereich Landwirtschaft erfolgt. Das Operationelle Programm für die erste Programmperiode in Bayern wurde im September 1990 eingereicht und am 4.12.1990 von der Kommission genehmigt. Die Gesamtkoordination unterliegt dem Bayerischen Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten. Das Ministerium hat ebenfalls die Verantwortung für die einzelnen Subprogramme (Entwicklungsachsen) mit Ausnahme des Schwerpunktes "Entwicklung und Anpassung der außerlandwirtschaftlichen Sektoren", die ausschließlich beim Bayerischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Verkehr und Technologie liegt. Bei den Achsen "Entwicklung menschlicher Ressourcen" und "Umweltschutz, Naturschutz und Landschaftspflege" sind zusätzlich die entsprechenden Fachministerien involviert (Achse 3: Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung bzw. - für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst;

74

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Achse 4: Bayerisches Staatsministerium filr Landesentwicklung und Umweltfragen). Die Abstimmung von Einzeimaßnahmen und die eigentliche DurchfUhrung ist den jeweiligen Bezirksregierungen übertragen, wobei die Entscheidung über einen Förderantrag ressortspezifisch entsprechend der Kofinanzierungszuständigkeit erfolgt (Bay. STMELF 1991, S. 18). Diese werden entsprechend der Kompetenzverteilung von den Fachbehörden wie z.B. den Ämtern rur Landwirtschaft, Flurbereinigungsdirektionen oder den Naturschutzbehörden unterstützt. Für die fachübergreifende Umsetzung der Maßnahmen, die aus dem EAGFL und ESF finanziert werden, d.h. vor allem Maßnahmen im Bereich der "Diversifizierung der Landwirtschaft", wurden in den betroffenen ftlnf Regierungsbezirken der ersten Programmperiode auf Regierungsebene durch die Bildung von Fachkräfteteams, die sich teilweise aus der Verwaltung rekrutierten oder fachspezifisch neu eingestellt wurden, Entwicklungsgruppen geschaffen, die einerseits als Beratungsstelle, aber auch als Koordinierungsstelle zu anderen landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen Institutionen Aktivierungsarbeit leisten sollen (Bay. STMELF, 1991, S. 19). Neben einer Reihe von neuen Fördertatbeständen, insbesondere im Bereich der Schaffung neuer Einkommensalternativen rur Landwirte, ist diese institutionelle Änderung eine wichtige Innovation in der praktischen Umsetzung des 5b-Programms in Bayern. In den meisten Bereichen der Einzelrnaßnahmen stimmen die einzelnen Fördermöglichkeiten mit denen überein, die bereits vor dem Inkrafttreten der Operationellen Programme existierten. Dies ist insbesondere filr die Entwicklungsachse "Diversifizierung der außerlandwirtschaftlichen Wirtschaftsstruktur", aber auch filr die übrigen Achsen der Fall. Dies gilt aber nicht nur filr Bayern, sondern filr die Bundesrepublik insgesamt. Die Ursache hierftlr liegt insbesondere in traditionell vorhandenen Instrumentarien regionaler Wirtschaftspolitik wie z.B. der GRW oder der sektoralen Strukturpolitik im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und Küstenschutz" auf Bundesebene bzw. in beiden Bereichen vorhandenen länderspezifischen Programmen. Entsprechend flossen auch die Mittel aus den Strukturfonds in den 5b-Gebieten in der Bundesrepublik in der ersten Programmperiode überwiegend filr zusätzliche Maßnahmen der Gemeinschaftsaufgaben "Verbesserung der Agrarstruktur und Küstenschutz". Förderschwerpunkte waren dabei u.a. Maßnahmen der Dorferneuerung, Verbesserung des land- und forstwirtschaftlichen Wegenetzes, Flurbereinigung, wasserwirtschaftliche Maßnahmen und zusätzlich landschaftspflegerische Maßnahmen und Ausbau der touristischen Infrastruktur (Agrarbericht, 1994, S. 111). Diese Übereinstimmung gilt ebenfalls für die Maßnahmen nach Ziel 5a zur Beschleunigung der Anpassung der Agrarstruktur, bei denen sich die EU mit

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

75

Mitteln aus dem EAGFL Abt. Ausrichtung an den Fördennaßnahmen beteiligt, die den Bedingungen der Effizienzverordnung entsprechen und überwiegend Bestandteil der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Agrarstruktur und Küstenschutz" sind. Dazu gehören insbesondere die Investitionsförderung in landwirtschaftlichen Betrieben, die Förderung der Niederlassung von Junglandwirten, die Ausgleichszulage, Maßnahmen zur Verbesserung der Vennarktung und Verarbeitung land- und forstwirtschaftlicher Erzeugnisse und die Förderung der Gründung von Erzeugervereinigungen (BMELF, 1994, S. 14). Sowohl die Maßnahmen nach Ziel 5a als auch nach Ziel 5b werden sich für die zweite Programmperiode im Grundsatz nicht ändern und werden vor allem zur Verstärkung des nationalen Instrumentariums sektoraler Struktur- bzw. regionaler Wirtschaftspolitik eingesetzt. 58 Unter institutionellen Gesichtspunkten vollzieht sich somit sowohl die Agrarstrukturpolitik als auch die regionale Strukturpolitik innerhalb drei verschiedener, aber dennoch sich überschneidenden institutionellen Rahmen: der Europäischen Strukturfonds, den Gemeinschaftsaufgaben und den spezifischen Ländennaßnahmen (BMELF, 1994, S. 13).

2.3.2 Die Gemeinschaftsinitiative LEADER als kleinräumig orientiertes Entwicklungskonzept Neben der Förderung im Rahmen der Operationellen Programme kann die Kommission nach Art. 11 der Durchführungsverordnung (VO-EG 4253/88) in eigener Verantwortung die Initiative ergreifen, um die mit den Mitgliedstaaten im Rahmen der GFK vereinbarten Aktionen durch Gemeinschaftsinitiativen zu ergänzen. Gemeinschaftsinitiativen sind aus der Sicht der Kommission spezifische strukturpolitische Instrumente, um Aktionen zu unterstützen, die zur Lösung von Problemen mit besonderer Bedeutung für die Gemeinschaft beitragen. Als ihr zusätzlicher Nutzen gegenüber den anderen von den Strukturfonds finanzierten Aktionen werden von der Kommission folgende charakteristische Eigenschaften hervorgehoben (Kommission EG, 1994, S. 7):

58

Vgl. BMELF, 1994b, S. 27; Deutscher Bundestag, 1995, S. 28.

76

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

- "die Förderung der transnationalen, grenz übergreifenden und interregionalen Zusammenarbeit, - das von unten nach oben aufgebaute ansetzende Durchführungskonzept und - das Sichtbarwerden der Gemeinschaftsaktionen vor Ort". Bereits vor der Reform der Strukturfonds von 1988 gab es in der Durchführung befindliche Gemeinschaftsprogramme (STAR, VALOREN, RESIDER, RENEVAL), für die im Rahmen der Reform bis 1993 ein Betrag von 1,7 Mrd. ECU zur Verfügung gestellt wurde. 59 Auf der Basis von Art. 11 der Durchführungsverordnung wurden 1990 zusätzlich 3,8 Mrd. ECU für weitere 12 Gemeinschaftsinitiativen bis 1994 bereitgestellt.6() Am 15.6.1994 hat die Kommission die Leitlinien für die zweite Phase bis 1999 genehmigt, nach denen für die Zeit von 1994 bis 1999 in der Gemeinschaft 13 Gemeinschaftsinitiativen mit einem Finanzierungsrahmen von insgesamt 13,45 Mrd. ECU zur Anwendung kommen. Davon werden zunächst 1,6 Mrd. ECU als Reserve zurückgehalten und "nach Maßgabe der Erfahrungen bei der Durchführung, der Entwicklung der Ereignisse und des finanziellen Gleichgewichtes zwischen den Mitgliedstaaten aufgeteilt" (Kommission EG, 1994, S. 9). Bei den 13 Initiativen handelt es sich teilweise um neu konzipierte, aber auch um welche, die bereits in der ersten Reformphase eingeführt wurden und bis 1999 teilweise als eigenständige Initiativen fortgesetzt werden bzw. zu einer neuen zusammengefaßt wurden. 61 Auf die Gemeinschaftsinitiative LEADER (Liaison entre Actions de Developpement de I'Economie Ruraler, die auf Beschluß der Kommission vom 15.3.1991 mit einer Laufzeit bis Ende 1994 eingeführt und 1994 durch Beschluß der Kommission bis 1999 unter dem Namen LEADER 11 leicht modifiziert wurde, entfielen sowohl in der ersten Phase mit 442 Mio. ECU und mit 1,4 Mrd. ECU in der zweiten Phase rund 10 % der Mittel, die für alle Gemeinschaftsinitiativen zur Verfügung standen. 63 Sie blieb in den Grundzügen unverändert und ist neben der Förderung ländlicher Regionen im Rahmen der

59

6() Vgl. Schwerdtfeger, 1992, S. 99. Vgl. Kommission EG, 1993, S. 63. 61 Vgl. Kommission EG, 1994, S. 8. 62 "Verbindung zwischen Aktionen zur Entwicklung der ländlichen Wirtschaft"

(Assocatioll Europeene d'lnformation sur le Developpement Local, A.E.I.D.L., 1993,

S.20). 63 Vgl. A.E./.DL, 1993, S. 20; Agra-Europe, 1994b, S. 6.

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

77

Operationellen Programme nach Ziel5b (und auch Ziel 1) eine weitere förderpolitische Aktivität der Europäischen Gemeinschaft, die explizit die Förderung der Entwicklung des ländlichen Raumes zur Zielsetzung hat, sich aber durch ihre konzeptionelle Ausgestaltung von den "traditionellen" regionalpolitischen Instrumenten unterscheidet. Das übergeordnete Ziel, das von seiten der Gemeinschaft für die LEADER angestrebt wird, ist die Erarbeitung neuartiger Lösungen mit exemplarischem Wert für alle ländlichen Gebiete unter optimaler Integration der sektoriellen Maßnahmen. Damit soll es den ländlichen Aktionsträgern und Gebieten ermöglicht werden, das eigene Potential im Rahmen eines Gesamtkonzeptes zur Entfaltung der ländlichen Entwicklung besser zu nutzen (Kommission EG, 1994, S.44). Die Gebietskulisse für den Einsatz VOn Mitteln im Rahmen der LEADER-Initiative umfaßt grundSätzlich alle Ziel 1- und Ziel-5b-Gebiete. Innerhalb dieser Regionen sollen Entwicklungsgruppen gefördert werden, die lokal verwurzelt sind und eine Entwicklungskonzeption für ein ländliches Gebiet von lokaler Dimension vorlegen (Kommission EG, 1991, S. 34). Ergänzt wurde der Kreis der potentiell Begünstigten in LEADER 11 durch die Einbeziehung von anderen kollektiven Aktionsträgern im ländlichen Raum (z.B. Industrie- und Handelskammer, Genossenschaften, Unternehmenszusammenschlüsse, Gemeindeverbände usw.), sofern deren thematisch ausgerichtete Arbeit (thematischer Schwerpunkt der LEADER-lI Konzeption) in das lokale Entwicklungskonzept paßt (Kommission EG, 1994, S.45). Der kleinräumige regionale Bezug wird anhand einer Bevölkerungsobergrenze für die betreffende Region mit einem Richtwert von 100.000 Einwohnern angegeben. Inhaltlich liegen die Förderschwerpunkte der LEADER-Initiative primär auf innovativen Maßnahmen mit Model/charakter zur Erschließung des Eigenpotentials. Damit sind, im Gegensatz zu den Programrnaßnahmen nach Ziel 5b, klassische Förderobjekte im Bereich der Infrastrukturausstattung nur in Ausnahmen zulässig. Sowohl in LEADER (I) als auch in LEADER-lI lassen sich drei verschiedene Förderbereiche differenzieren, wobei in den jeweiligen Leitlinien nicht nur unterschiedliche Formulierungen verwendet werden, sondern auch eine etwas geänderte Schwerpunktbildung vorliegt (Kommission 64 EG, 1994, S. 46):

64

Um den aktuellen Stand der Förderkonzeption der LEADER-Initiative darzustellen, orientieren sich die nachfolgenden Ausführungen an der Einteilung der Leitlinie zur Durchführung von LEADER 11.

78 I.

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten Erwerb von Fachwissen

Dieser Maßnahmenbereich zielt auf die Unterstützung der ländlichen Entwicklungsgruppen selbst ab. Neben regionalen Analysen gehört dazu insbesondere die technische Hilfe der ländliche Entwicklungsgruppe, um die lokale Bevölkerung für LEADER zu sensibilisieren, um Partnerschaften aufzubauen, lokale Entwicklungskonzepte zu erarbeiten oder aber auch Finanzierungsquellen zu erschließen. 2. Programme zur ländlichen Entwicklung, die folgende inhaltlichen Schwerpunkte umfassen: - Urlaub auf dem Bauernhof, - Berufliche Fortbildung und Einstellungsbeihilfen, - Kleinbetriebe, Handwerk und Nachbarschaftshilfe, - Örtliche Erschließung und Vermarktung heimischer Erzeugnisse der Landund Forstwirtschaft, - Erhaltung und Verbesserung der Umweltqualität und - die jeweilige technische Unterstützung, wobei auch die Betriebskosten für die Projektdurchführung einschließlich technischer Ausrüstung für die Projektgruppe enthalten sind. Auch wenn bereits in LEADER I durch die allgemeine Zielformulierung der Gemeinschaftsinitiative der innovative Modellcharakter der Maßnahmen betont wurde, so wird sowohl der Innovationsgrad der Projektmaßnahmen als auch der Modellcharakter als Auswahlkriterium für die Förderungswürdigkeit im Rahmen von LEADER-li besonders hervorgehoben. Als Referenzsystem zur Beurteilung des Innovationsgrades werden von der Kommission die Operationellen Programme der GFK für die jeweiligen Gebiete zugrunde gelegt, von denen sich die Maßnahmen in LEADER-li unterscheiden müssen, um zu vermeiden, daß die zusätzlichen Mittel der Gemeinschaftsinitiative nur zur Finanzierung der "ohnehin laufenden Arbeiten [... ] im ländlichen Raum" verwendet werden (Kommission EG, 1994, S. 46). Eingeschränkt wird die Forderung nach einem hohen Innovationsgrad, wenn es sich bei den Projektmaßnahmen um ein grenzüberschreitendes Gemeinschaftsprojekt handelt. Die Forderung nach innovativen Maßnahmen und dem Modellcharakter der Maßnahmen einschließlich des Aspektes der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ist im direkten Zusammenhang mit der dritten Förderkomponente im Rahmen des LEADER-Konzeptes zu sehen.

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

79

3. Vernetzung Die Vernetzung der Projekte soll vor dem Hintergrund des modellhaften Charakters der Projektmaßnahmen dazu dienen, die Diffusionsgeschwindigkeit von Innovationen durch den Austausch von Erfahrungen und Ergebnissen zwischen den Entwicklungsgruppen zu erhöhen. Diese Komponente erhält im Rahmen der Neuauflage der Gemeinschaftsinitiative LEADER-lI einen höheren Stellenwert, als es in der ersten Version der Fall war. Da sich die Vernetzung nicht nur auf die regionale oder nationale Ebene beschränken soll, sondern mit der LEADER-Initiative eine Vernetzung der ländlichen Entwicklungsgruppen insbesondere auf der europäischen Ebene erfolgen soll, werden die lokalen Initiativen im Rahmen von LEADER-lI verpflichtet aktiv an diesem Netz mitzuwirken, und sie müssen sich zur Informationsweitergabe verpflichten. Dazu wurde schon im Rahmen der ursprünglichen Konzeption von LEADER eine Koordinierungsstelle in Brüssel eingerichtet, die für das "Betreiben" des Netzwerkes verantwortlich ist. Im Rahmen der Neuauflage der Gemeinschaftsinitiative wurde das Netzwerk zusätzlich durch eine Europäische 6S Beobachtungsstelle für Innovation und ländliche Entwicklung ergänzt. Der verfahrenstechnische Ablauf für die Projektgenehmigung durch die Kommission ist in der Grundkonzeption identisch mit der Programmförderung (z.B. nach Ziel 5b) und basiert auf der Erarbeitung von Operationellen (LEADER-) Programmen, die im Rahmen der "Partnerschaft" durch die Kommission genehmigt und gemeinsam mit den Mitgliedstaaten finanziert werden. Neben dem Innovationswert und dem Modellcharakter der Maßnahmen wird nach der offiziellen Darstellung der Kommission bei der Verhandlung der Operationellen Programme von LEADER 11 mit den nationalen Stellen vor allem darauf geachtet, daß das Programm auf die lokale Ebene ausgerichtet und eine Mitwirkung der örtlichen Bevölkerung gewährleistet ist. Damit soll sicher gestellt werden, "daß das Programm nicht am "grünen Tisch" entwickelt wurde, sondern eine innovative Strategie zur Entwicklung des endogenen Potentials verfolgt und sich dabei auf konkrete Bedürfnisse und auf Projekte stützt, die die Menschen vor Ort und lokale Aktionsträger erarbeitet haben, um die wirtschaftliche Lage des betreffenden Gebiets bzw. Sektors zu verbessern" (Kommission EG, 1994, S. 49). Auf der Basis der von der Kommission initiierten Gemeinschaftsinitiative LEADER I wurden auf der europäischen Ebene 217 lokale Aktionsgruppen gegründet, wovon 127 auf Ziel-l- und 90 Initiativen auf Ziel-5b-Regionen

6S

Vgl. Kommission EG, 1994, S. 48.

80

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

entfallen. In den Ziel-I-Gebieten machen die LEADER-Gebiete 27,2 % und in den 5b-Regionen 38 % der Fläche aus. Für die Bundesrepublik wurden für die erste Programmperiode 13 LEADERKonzepte von der Kommission genehmigt. Für deren Durchführung beteiligt sich die Kommission mit einem Anteil von max. 28 % an den Maßnahmen und stellte insgesamt 23,8 Mill. ECU (EAGFL Abt. Ausrichtung 8,2 Mill., EFRE 15,2 Mill.) in Form von Globalzuschüssen zur Verfügung. 66 Analog zur Förderung nach Ziel 1 und Ziel 5b wurden auch die Mittel für LEADER 11 in der Bundesrepublik deutlich aufgestockt. In der Periode bis 1999 stehen für LEADER-Projekte in den neuen Bundesländern (Ziel-I-Regionen) 81 Mio. ECU und in den 5b-Regionen 93 Mio. ECU aus den Strukturfonds zur Verfügung, wobei die relative Mittelverteilung auf die jeweiligen Bundesländer entsprechend der Verteilung 5b-Förderung ist, d.h. der größte Anteil (46 %) der Mittel steht für Projekte in Bayern zur Verfügung. 67 In Bayern wurden in der ersten Programmperiode drei LEADER-Initiativen ins Leben gerufen, wovon eine die Initiative "oberes Altmühltal" ist. Zu deren Umsetzung wurden die Beratungs- und Koordinierungsstellen der 5b-Förderung durch zusätzliches Personal ergänzt, das speziell für die Umsetzung der LEADER-Konzepte innerhalb der jeweiligen 5b-Regionen konzipierten Programmaßnahmen zuständig ist. Damit besteht in Bayern eine sehr enge Verflechtung zwischen der Umsetzung der Gemeinschaftsinitiativen und der Förderung des ländlichen Raumes nach Ziel 5b der Reform der Strukturfonds. Für die zweite Programmperiode wurde in Bayern der bisher praktizierte Ansatz insofern modifiziert, daß nicht mehr räumlich eingegrenzte "Projektgebiete" innerhalb der 5b-Gebiete speziell für LEADER vorgesehen sind, sondern die gesamte Gebietskulisse der 5b-Förderung für Maßnahmen in Frage kommt. Bei diesem "projektorientierten" Ansatz werden neben technischen Innovationen als Auswahlkriterium für förderungswürdige Projekte im Operationellen Programm für LEADER-lI insbesondere ein hohes Engagement der Projektträger und eine intensivere Beteiligung der Bevölkerung vor Ort gegenüber der 5b-Förderung hervorgehoben. Bei der Voraus wahl möglicher Projekte wurde im Antrag insbesondere auf die Erfahrungen der 5b-Entwicklungsgruppen zurückgegriffen. 68 Damit kann die LEADER-Initiative als eine Ergänzung traditioneller Förderpraxis interpretiert werden.

66

67 68

Vgl. Agrarbericht, 1993, S. 125. Vgl. Agrarbericht, 1995, S. 117. Vgl. Bay. STMELF, I994b, S. 3.

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

81

2.3.3 Kritische Anmerkungen zur Europäischen Regionalpolitik Die vorangegangenen Abschnitte befaßten sich primär mit den politischen Änderungen. Sie beschreiben die inhaltlichen Schwerpunkte und den Verfahrensablauf der Strukturförderung, wie er von der europäischen Regionalpolitik praktisch gefordert wird und wie die Umsetzung in der Bundesrepublik (insbesondere Bayern) erfolgt. Dabei sind die gemachten Ausführungen sehr stark an die offiziellen Darstellungen der EG-Kommission und der zuständigen nationalen Stellen angelehnt, ohne sie prinzipiell kritisch zu hinterfragen, was aber angesichts ihrer Tragweite angebracht ist. Neben der Schaffung einer informativen Grundlage über die Bedeutung der europäischen Regionalpolitik sollte diese Darstellung vor allem dazu dienen, konzeptionelle Änderungen gegenüber traditionellen Förderpraktiken, wie sie insbesondere im Rahmen der LEADER-Initiative in die praktische Förderpolitik Einzug genommen haben, zu verdeutlichen. Dazu gehören der integrierte Ansatz durch die Entwicklung von sektorübergreifenden Programmen und die Umsetzung der Initiativen durch eine Konzeption "von unten" genauso wie die Zielsetzung der Förderung der eigenen (endogenen) Entwicklungspotentiale. Durch die Reform der Strukturfonds und deren Umsetzung in den Nationalstaaten in Form von Operationellen Programmen und Gemeinschaftsinitiativen ist die europäische Ebene neben den nationalen Institutionen zu einer festen Instanz in der Regionalpolitik geworden, deren Einfluß sich im Laufe einer fortschreitenden europäischen Integration noch verstärken wird. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Einflußnahme der EG auf nationale Förderpolitiken durch die Beihilfenkontrolle der (Art. 92-94 EG-Vertrag), die eine wettbewerbsverfälschende nationale Beihilfenpolitik verhindern soll, und damit einen großen Wirkung auf die Ausgestaltung der deutschen Förderpolitik hat, wie sie Z.B. in Form der "Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" praktiziert wird. Von diesem Sachverhalt ausgehend und unter Berücksichtigung einer grundsätzlich positiven Bewertung der Zielsetzung, die regionalen Disparitäten innerhalb der Gemeinschaft abzubauen, sollen dennoch einige kritische Anmerkungen zur konzeptionellen Ausgestaltung einer europäischen Regionalpolitik gemacht werden. Im Mittelpunkt der Reform steht die Konzentration des Mitteleinsatzes auf die genannten Ziele und damit auf die "Problernregionen". Der zentrale Baustein für ein solches interventions politisches Konzept ist eine problemorientierte Abgrenzung des jeweiligen Aktionsraumes. Dadurch wird es notwendig, sich mit der Frage nach der räumlichen Bezugsebene und den Kriterien und Grenzwerten, nach denen Regionen als "krank" und damit förderungswürdig/ -bedürftig oder als "gesund" eingestuft werden, zu beschäftigen. Betrachtet man 6 Schön

82

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

die räumlich orientierten Zielsetzungen, so werden nur drei Problemtypen differenziert (strukturschwache, ländliche und altindustrielle ), was einer problemorientierten Abgrenzung, aufgrund der Vielfalt und Komplexität der Entwicklungsprobleme ländlicher und strukturschwacher Regionen, nicht entspricht, und es sich somit nur um eine apriori Festlegung potentieller Problemregionen handeln kann (Gräber, 1991, S. 559). Analog zu der sehr allgemeinen Differenzierung der Problemtypen zeigen sich durch die zugrunde gelegten Kriterien erhebliche diskretionäre Spielräume bei der Einteilung in "gesunde" und "kranke" Regionen. Diese unterscheiden sich zudem von den Indikatoren, die rur die Abgrenzung der Fördergebiete der Bund-Länder Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" Anwendung finden, wo ein überwiegend deterministisches Modell mit multiplikativer Verknüpfung auf der Basis standardisierter gewichteter Indikatorwerte verwendet wird. Zwar sind Abstriche an der theoretischen Konsistenz und Stringenz in den verschiedenen Regionsabgrenzungen aus politischen Gründen verständlich, da sie auch als Ergebnis des politischen "bargaining-Prozesses" zu interpretieren sind, doch erschweren sie einerseits die Transparenz und andererseits die Akzeptanz bei den Akteuren in den Regionen, die nicht in den Genuß von Fördermitteln kommen (Gräber, 1991, S. 559).69Das Ergebnis der Anwendung unterschiedlicher Indikatoren zur räumlichen Differenzierung und der diskretionären Spielräume zeigt sich im Falle der Bundesrepublik Deutschland darin, daß eine räumliche Diskrepanz zwischen den llirderungswUrdigen bzw. bedürftigen Regionen nach der Einschätzung der EG und denen im Rahmen der deutschen Regionalpolitik besteht. 70 Durch die Flexibilisierung der Abgrenzungsmaßstäbe fllr die Programmperiode bis 1999 bei der Gebietsabgrenzung ftir die 5b-Förderung wird der Eindruck verstärkt, daß die Funktion der Strukturfondsmittel als "Verhandlungsmasse" zwischen den Nationalstaaten an Bedeutung gewinnt. So konnte die Bundesregierung "nach schwierigen und langwierigen Verhandlungen mit der Europäischen Kommission" eine Ausweitung der Gebietskulisse rur die 5bFörderung um 75 % gegenüber der abgelaufenen Förderperiode erreichen

69

Zur ausfllhrlichen Darstellung der Bedeutung der europäischen Regionalpolitik als "Verhandlungsmasse" zwischen den Nationalstaaten vgl. Waniek, 1992, S. 26ff. 70 Vgl. zu den Unterschieden der Förderregionen in Bayern vgl. Abbildung 3. Ebenso weichen die benachteiligten Gebiete der "Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der Agrarstruktur und Küstenschutz" von den f1lrderungswürdigen Gebieten nach Ziel 5b ab. V gl. BMELF, 1994b, S. 34.

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

83

(Agrarbericht, 1995, S. 116). Allerdings sind flexible Abgrenzungskriterien vor dem Hintergrund des "bargaining" nicht unbedingt positiv aus der Sicht der Länder zu beurteilen, da durch die Ausweisung von Fördergebieten durch das Prinzip der Kofinanzierung der Programmaßnahmen auch bei den Ländern und Kommunen ein erheblicher Teil an Finanzmitteln gebunden wird. Im Zusammenhang mit einer großzügigen Gebietsausweitung und den Kofinanzierungsregeln besteht zudem die Problematik, daß z.B. fmanzschwache Kommunen in strukturschwachen Räumen, insbesondere bei Infrastruktunnaßnahmen, nicht die notwendigen Mittel aufbringen können und die eigentliche Zielregion nicht erreicht wird. Sowohl das Problem des Mangels an zusätzlichen finanziellen Mitteln in den strukturschwachen Regionen als auch die Inflation der Fördergebietskulisse insgesamt legt den Schluß nahe, daß die Gefahr besteht, daß der Grundsatz der Refonn, Schwerpunkte regionalpolitischen Handeins in den Problemregionen zu bilden, konterkariert wird. Es ist aber nicht nur eine Frage der Finanzierung, sondern es ergeben sich grundsätzlich Konflikte mit der Beihilfenaufsicht der EG in den Gebieten, die nicht übereinstimmen. So sind aus der Sicht der Bundesrepublik nur in den Gebieten Regionalbeihilfen von Bund und Ländern zulässig, die im Rahmen der Gemeinschaftsaufgabe über einen innerstaatlichen Förderstatus verftlgen. Auf der anderen Seite stößt eine Ausweitung der Fördergebietskulisse der GRW an die durch die Beihilfenkontrolle festgelegte Obergrenze, so daß es im Regelfall zu einer einseitigen Anpassung der nationalen Gebietskulissen dadurch kommt, daß bisher ilirderflihige Regionen zur Kompensation aus der Regionalförderung des betreffenden Mitgliedstaates fallen (Döring, 1993, S. 67). Diese Diskrepanzen bestehen aber nicht nur in den Gebietsabgrenzungen, sondern auch hinsichtlich des förderpolitischen Instrumentariums. So beschränkt sich die regionale Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik vor allem auf die Unterstützung gewerblicher Investitionen bzw. unternehmensnaher Infrastruktur und ist daher viel enger gefaßt als die Förderkataloge der Gemeinschaft. Will nun ein Mitgliedstaat keine Fördennittel verlieren, so muß er sein Instrumentarium entsprechend anpassen. Damit besteht neben der Gefahr der räumlichen Fehlallokation die zusätzliche Gefahr von Ineffizienzen im Einsatz öffentlicher Mittel, da das Budget der kofinanzierenden Staaten begrenzt ist und Mittel ftlr "unerwünschte" Maßnahmen bereitgestellt werden müssen und diese den "gewünschten" nationalen Fördennaßnahmen fehlen (Döring, 1993, S. 68). Eine gewisse Anpassung des GRW-Instrumentariums fand in diesem Zusammenhang durch die Aufnahme von nicht-investiven Maßnahmen in das Förderspektrum im Rahmen von Modellvorhaben in der Bundesrepublik bereits statt.

84

2. Ländliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

Damit stellt sich aber die Frage, welche Entscheidungsebene (EG, Bund, Länder) grundsätzlich regionale Disparitäten angemessener beurteilen kann, anband welcher Indikatoren dies geschehen soll und mit welchen Instrumenten die Disparitäten abgebaut werden sollen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Beurteilungskriterien der nationalstaatlichen Regionalpolitik deterministischer sind als die der EG. Somit stellt sich aber die grundsätzliche Frage, ob diese Vorgehensweise mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist, das unter Berufung auf den fOderalistischen Aufbau der Bundesrepublik als "deutsche Mitgift" in Art. 3b in den Maastrichter Vertrag Einzug gefunden hat (Siedentopf, 1995, S. 8). Die Schwierigkeiten bei der Abgrenzung und der Wahl der Instrumente verdeutlicht die grundsätzliche Problematik der Kompetenzverteilung zwischen den beteiligten Ebenen im Rahmen der praktizierten Politik zum Abbau der regionalen Disparitäten in der Gemeinschaft. Damit stellt sich auch die Frage nach der Effizienz der Organisationsstruktur einer europäischen Regionalpolitik. Waniek (1992, S. 135) beurteilt diese zusammenfassend vor dem Hintergrund eines fOderalistischen Referenzsystemes als "ökonomisch nicht gerechtfertigt überzentralisiert", da regionalpolitische Instrumente durch ihre räumliche Begrenztheit nur in Ausnahmeflillen externe Effekte haben, die über die Grenzen der Mitgliedsländer wirken und durch einen ordnungspolitischen Rahmen der supranationalen Ebene abzudecken sind. Daruber hinaus sei das Prinzip der fiskalischen Äquivalenz auch auf der nationalstaatlichen Ebene schon gewährleistet und somit ist eine übergeordnete Hierarchiestufe nicht erforderlich. Als notwendig sieht er dagegen die Ordnungs- und Koordinierungsfunktion der EG im Rahmen der Beihilfenaufsicht an. Verbunden mit dieser Zentralisierung entstehen ebenfalls zusätzliche nicht gerechtfertigte Verwaltungs- und Entscheidungskosten, denen keine zusätzlichen Effizienzgewinne gegenüberstehen. Sichtbar wird dieses kritische Urteil am deutlichsten durch den mit der Reform verbundenen Ablauf des Genehmigungsverfahrens. Die Kommission begründet den Verfahrensablaufmit der aus Art. 130b EG-Vertrag abgeleiteten Koordinierungsfunktion bei einer gleichzeitigen beabsichtigten Beteiligung der betroffenen Gebietskörperschaften durch das "Prinzip der Partnerschaft". Er ist daher von der Intention einer problemorientierten zielgerechten Regionalpolitik positiv einzustufen. Die Konsequenz ist aber ein mehrstufiges, kompliziertes und zeitraubendes Genehmigungsverfahren (Entwicklungspläne, GFK, OP), welches mit einem hohen Verwaltungsaufwand verbunden ist und deshalb auch in Verbindung mit der "ungenügenden Flexibilität bei notwendigen Anpassungen und Umschichtungen" von den zuständigen Behörden kritisiert wird. Zusätzlich wird dieser Verwaltungsaufwand durch die Flut von Gemeinschaftsinitiativen verstärkt (Hermann, 1992, S. 5). Nicht zuletzt dürfte die Vielzahl von EG-Förderbestimmungen und deren Detaillierungsgrad einer

2.3 Europäische Regionalpolitik als politische Rahmenbedingung

85

einfachen Planung und einer effizienten Umsetzung von Maßnahmen auf regionaler Ebene entgegen stehen. Es läßt sich feststellen, daß die EG die Kompetenz in der Regionalpolitik an sich zieht, und die Handlungsspielräume der Mitgliedstaaten beschnitten werden. Bezieht man diesen Sachverhalt auf den Gestaltungsspielraum der Bundesrepublik Deutschland, so ist dieser heute schon sehr eingeschränkt. Damit ist aber der Grundsatz der Partnerschaft auf keinen Fall gleichzusetzen mit dem Subsidiaritätsprinzip. Dieser ist vielmehr als Ergebnis der praktischen Erfahrung zu interpretieren, daß strukturpolitische Maßnahmen vor allem dann erfolgversprechend sind, wenn es gelingt, die Betroffenen sowohl in die Planung als auch in die Umsetzung mit einzubeziehen. Damit könnte sich die "Partnerschaft" aber auch als ein "Trojanisches Pferd" europäischer Zentralisierung erweisen (Meyer v., 1991, S. 448). So lassen sich neben den genannten Kritikpunkten im Falle der Bundesrepublik Deutschland durch ihren fOderalistischen Aufbau zusätzlich auch verfassungsrechtliche Bedenken an einer europäischen Regionalpolitik in der praktizierten Form anmerken. Diese richten sich auf zwei inhaltliche Bereiche: einerseits gegen die direkten Kontakte zwischen der Kommission und Gebietskörperschaften unterhalb der nationalstaatlichen Ebene, die bis zur regionalen und lokalen Ebene reichen und damit nicht der fOderativen Systematik des Grundgesetzes entsprechen. In diesem lliderativen System ist der Partner einer Gebietskörperschaft immer nur die untergeordnete oder die übergeordnete Ebene (Waniek, 1992, S. 153). Durch die vertikale Verlagerung von Entscheidungsbefugnissen auf die supranationale Ebene kommt es durch ein "falsch verstandenes Prinzip der Partnerschaft" unter Mißachtung des Subsidiaritätsprinzips somit zu einer Beschneidung der Entscheidungskompetenzen des Bundes, aber auch der Bundesländer (Hermann, 1992, S. 5). Da aber das EG-Recht keinen grundsätzlichen Schutz der nationalen Verfassungsstruktur der Mitgliedstaaten beinhaltet, "sind die Chancen der deutschen Länder bei der Abwehr des Eindringens der Kommission in ihre eigenen Kompetenzbereiche jedoch eher gering" (Döring, 1993, S. 71). Andererseits ist in diesem Zusammenhang auch die Beihilfenaufsicht nicht unbedenklich, da sie bei der Beurteilung der FördeTWÜrdigkeit von Regionen am Gemeinschaftsdurchschnitt es den wirtschaftsstärkeren Mitgliedstaaten erschwert, regionale Disparitäten auf nationaler Ebene entsprechend ihren präferierten Vorstellungen abzubauen und somit gegen das Subsidiaritätsprinzip verstößt (Waniek, 1992, S.153). Vor dem Hintergrund der skizzierten Mängel an den eingesetzten Instrumenten, um das angestrebte Ausgleichsziel zu erreichen, wird als Altemativvor-

86

2. LäJ:Idliche Räume und Bestrebungen zum Abbau von Disparitäten

schlag diskutiert, die europäische Regionalpolitik durch einen ungebundenen Finanzausgleich zu ersetzen, um damit die Effizienz zu erhöhen. Innerhalb eines solchen Systems würden anband eines festzulegenden Verteilungsschlüssels die Mittel auf die einzelnen Mitgliedstaaten verteilt und der supranationalen Ebene würde die Festsetzung des ordnungspolitischen Rahmens zufallen, um einen Subventionswettlauf zu verhindern (Waniek, S. 172f.). Damit würden die Verfahrensabläufe beschleunigt und Verwaltungskosten sowohl bei den Empfängern als auch auf der Ebene der Gemeinschaft gesenkt. Unabhängig von Sinnhaftigkeit, der Praktikabilität und der politischen Durchsetzbarkeit eines solchen Systems'\ bliebe auch bei einem solchen Verfahren die eigentliche Frage nach geeigneten Konzepten und Instrumenten zum Abbau regionaler Disparitäten offen, da Entwicklungsdefizite nicht nur durch finanzielle Ressourcentransfers auszugleichen sind.

71 Zu den funktionalen Unterschieden zwischen nationalen Haushalten und EUHaushalt vgl. Folkers. 1995, S. 90fT.

3. Neuere Konzepte und Strategien für den ländlichen Raum 3.1 Konzeptionelle Änderung ländlicher Entwicklungsförderung 3.1.1 Ansätze und deren Ursachen Nachdem im vorherigen Kapitel neue Initiativen praktischer Regionalpolitik zum Abbau regionaler Disparitäten von seiten der EG in ihren Grundzügen vorgestellt wurden, soll im nachfolgenden Abschnitt auf der konzeptionellen Ebene der Grundgedanke einer Regionalpolitik für den ländlichen Raum "von unten" aufgegriffen werden, wie sie sich insbesondere in der Grundkonzeption und Zielsetzung der LEADER-Initiative, aber auch eingeschränkt im Prinzip der "Partnerschaft" wiederfindet. Ein Kernelement ist dabei der explizite Bezug auf die Bedeutung der Förderung endogener Entwicklungspotentiale, ohne ,dabei den Begriff näher zu spezifizieren, um dadurch eine Stabilisierung und Verbesserung der Situation ländlicher Regionen zu erreichen. Auch in einem von den EU Mitgliedstaaten gemeinsam mit der Kommission erarbeiteten Grundsatzpapier zu den "Grundlagen einer Europäischen Raumentwicklungspolitik" wird als Ziel nationaler als auch europäischer Raumordnungsmaßnahmen die Förderung des endogenen Entwicklungspotentials in peripheren Regionen genannt, um Engpässe abzubauen und damit Abhängigkeit von Transferzahlungen zu verringern (BMBAU, 1995, S.20). Mit dem Begriff des Entwicklungspotentials verbunden wird, insbesondere im Rahmen der LEADER-Initiative, den in den Regionen vorhandenen Institutionen und Initiativen sowie deren spezifischen Interessen und Zielvorstellungen, als eine wichtige Voraussetzung für die Errnöglichung regionaler Entwicklung, ein besonderes Gewicht beigemessen. 72 Diese Betonung gilt aber nicht nur für die politischen Bestrebungen auf der europäische Ebene, sondern auch für regionalpolitisch besonders relevante Politikbereiche in der Bundesrepublik Deutschland. So wird als Handlungs-

72

Vgl. Kommission EG, 1988, S. 37ff. und Kommission EG, 1994, S. 20ff.

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3. Neuere Konzepte und Strategien für den ländlichen Raum

richtlinie für die zukünftige nationale Regionalpolitik die "Stärkung regionaler Eigenkräfte" durch den "Ausbau regionaler Entwicklungskonzepte" unter Berücksichtigung des endogenen Entwicklungspotentials gefordert. So sind "die positiven Erfahrungen mit der Erarbeitung regionaler Entwicklungskonzeptionen fortzuführen, um die besonderen Vorzüge und Potentiale der Regionen herauszuarbeiten und weiterzuentwickeln sowie gleichzeitig regionale Engpässe und Schwachstellen abzubauen" (BMBAU, 1993, S.26). "Es ist deshalb wünschenswert, daß die formalisierte Regionalplanung durch regionale Initiativen und regionale Aktionsprogramme auf breiter Front ergänzt und abgestützt wird" (BMBAU, 1993, S. 22). Doch nicht nur auf Bundesebene, sondern auch auf Landesebene werden ähnliche Formulierungen gebraucht. Im Landesentwicklungsprogramm Bayern heißt es dazu beispielhaft (Bay. STMLU, 1994, S. 183): "Eine Aufgabe der Landesentwicklung ist es, dazu beizutragen, Bayern in seinen Teilräumen in ihrer Vielfalt und Eigenart zu bewahren. Diese Zielsetzung gewinnt vor dem Hintergrund zunehmenden regionalen Selbstbewußtseins und wachsender Wertschätzung regionaler Identitäten immer mehr an Bedeutung. Verbunden damit ist die Überzeugung, daß die Entwicklung der Teilräume verstärkt aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln vorangetrieben werden soll. [... ] Diese Eigenarten sollen für die Landesentwicklung nicht nur erhalten, sondern auch als Entwicklungskomponenten eingesetzt werden". "Damit stellt die Stärkung der regionalen Potentiale .und Eigenkräfte selbst ein vorrangiges Raumordnungsziel dar. Der Bund kann hier zwar maßgeblich Voraussetzungen und Verbesserungen im infrastrukturellen Bereich und bei den ökonomischen Rahmenbedingungen leisten, die Anstöße zur. weiteren Raumentwicklung müssen jedoch von den Regionen selbst getragen werden" (BMBAU, 1994, S.5). Doch nicht nur im Bereich der Raumordnungspolitik, sondern auch im Bereich der Wirtschaftsförderung soll den regionalen Komponenten verstärkt Rechnung getragen werden. So war sich der Planungs aus schuß (für regionale Wirtschaftsstruktur) einig, "daß die Eigenverantwortung der kommunalen Selbstverwaltung für die regionale Entwicklung gestärkt und die Entwicklung "von unten" stärker als bisher unterstützt werden soll" (Deutscher Bundestag, 1995, S. 14). Ansatzweise instrumentalisiert werden die neuen Ansätze in der praktizierten nationalen Regionalpolitik vor allem durch die in der Beschreibung der GRW erwähnten Einführung von integrierten regionalen Entwicklungskonzepten als Instrument der Regionalpolitik und den beiden Modellvorhaben, die eine Förderung von nicht-investiven gewerblichen Investitionen und nicht-investive Maßnahmen zur Vorbereitung und Durchführung von Infrastrukturprojekten

3.1 Konzeptionelle Änderung ländlicher Entwicklungsförderung

89

und die Förderung rur die Erarbeitung der geforderten Entwicklungskonzepte vorsehen. 73 Neben einer konzeptionellen Änderung sind diese Maßnahmenbereiche auch eine Anpassung an das europäische regionalpolitische Förderinstrumentarium. Damit zeigen sich in der praktischen Regionalpolitik in den letzten Jahren Ansätze eines konzeptionellen Wandels der traditionellen Vorstellung, regionale Disparitäten alleine "von oben" durch externe fmanzielle Wachstums impulse abbauen zu können. Die politische Ebene greift mit diesen Bestrebungen Vorstellungen auf, die seit dem Anfang der 80er Jahre verstärkt in Fonn einer Vielzahl unterschiedlicher Partialansätze und Politikkonzepte unter dem Begriff "endogene (eigenständige) Entwicklungsstrategien" kontrovers diskutiert werden. Somit ist diese Änderung ursächlich nicht den Refonnbestrebungen der Politik zuzuordnen. Sie ist vielmehr als eine Reaktion auf eine regionalpolitische Diskussion zu interpretieren, die auf regionaler Ebene ihren Ursprung hatte und mit einem gewissen "time-lag" die nationale (Bund, Länder) und die übergeordnete europäische Ebene erreicht hat. Offen bleibt allerdings, inwiefern man die Konzepte, tatsächlich umsetzen will, oder nur durch die Verwendung von Teilelementen diese isoliert voneinander funktionalisiert und dadurch sehr stark verengt (Mose, 1993, S. 29). Dies gilt insbesondere rur Entwicklungskonzepte, die sich eher dem Begriff der "eigenständigen" Regionalentwicklung zuordnen lassen. Diese Zweifel werden vor allem durch die zunehmende Zentralisierung der Entscheidungskompetenz auf der europäischen Ebene verstärkt, die im Grundsatz einer Regionalpolitik "von unten" entgegen steht, da die Delegation von Planungsaufgaben nach unten zwar eine gewisse "Bürgernähe" mit sich bringt, doch die Entscheidungsbefugnis über die Umsetzung der Planungsergebnisse letztendlich "nach oben" verlagert wurde. 74 Ein zentrales Anliegen der Konzepte "endogener Entwicklungsstrategien" ist es, die Entwicklungsmöglichkeiten, insbesondere peripherer ländlicher Räume, durch die Nutzung und Aktivierung interner, intraregionaler, regionseigener, oder endogener Potentiale zu verbessern. Obwohl diese Ansätze nicht neu sind, haben sie dennoch aufgrund der Ernüchterung über die Erfolge einer auf externe Wachstumsimpulse und Steuerung von "von oben" abgestellten Wachstumspolitik sowie der Verringerung der Spielräume interregionaler

73

Zur programmatischen Ausgestaltung der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur" vgl. Kap. 2.2.3. 74 Zur Kritik an der europäischen Regionalpolitik vgl. Kap. 2.3.3.

90

3. Neuere Konzepte und Strategien rur den ländlichen Raum

Ressourcentransfers eine Aufwertung in wissenschaftlichen und politischen Diskussionen erfahren (Tönnies, 1987, S. 151). Allein durch die sprachliche Vielfalt der verwendeten Attribute des Begriffes "Entwicklungspotential" wird deutlich, daß es sich nicht um ein einheitliches Konzept handelt. Eine Gemeinsamkeit ist, daß die Überwindung der Unterentwicklung einer Region und der interregionalen Disparitäten primär über die Nutzung des (endogenen) Entwicklungspotentials, und nicht wie bisher über exogene Wachstumsimpulse durch die alleinige Mobilisierung von Produktionsfaktoren aus anderen Regionen, erreicht werden soll. Neben der Kritik an der Effizienz der traditionellen Regionalpolitik7S , die trotz der fortschreitenden Heterogenisierung der Raumstruktur erst in jüngster Zeit eine Differenzierung der traditionellen Handlungsansätze erfahren hat, und der allgemein verbreiteten Auffassung, daß in Zukunft die Möglichkeiten des Ressourcentransfers (staatlicher) und die Mobilisierung des privaten Kapitals in strukturschwache Regionen nicht steigen, sondern tendenziell geringer werden, ist die Entstehung und die anhaltende Diskussion um eine entwicklungspotentialorientierte Regionalpolitik auch vor dem Hintergrund sich ändernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen zu sehen. 76 Ohne den Anspruch, dieses komplexe Phänomen ausreichend zu behandeln, lassen sich einige grundsätzliche Forderungen und Entwicklungstendenzen erkennen, die ihren Ursprung im Protest und in der Kritik unterschiedlichster sozialer Bewegungen und Gruppierungen an den Wertvorstellungen der Industriegesellschaft haben. Zwar haben sich die radikalen Forderungen in vielen Bereichen abgenutzt und konnten sich zunehmend gesellschaftlich etablieren, bzw. wurden sogar von den "etablierten" Organisationen adaptiert, doch haben die Forderungen dadurch nichts an ihrer Brisanz eingebüßt (Roth/Rucht, 1987, S. 10). Dazu gehören vor allem die Forderungen nach (Hahne/Maier, 1993,

S.83):

- einer besseren Überschaubarkeit von Lebensräumen, - einer Erhaltung einer intakten ökologischen, sozialen und kulturellen Umwelt, - ganzheitlichen Ansätzen und dem Einsatz sanfter Technologien,

7S

Zur Kritik an der traditionellen Regionalpolitik vgl. Kap. 2.2.3. Zum Zusammenhang zwischen gesellschaftlichen Veränderungen und eigenständiger Regionalpolitik vgl. die ausruhrliche Darstellung von Mose 1993, S. 31 ff.; ebenso Tönnies, 1987, S. 152. 76

3.1 Konzeptionelle Änderung ländlicher Entwicklungstbrderung

91

- mehr Partizipation der Bevölkerung und - dezentraler Entscheidungsfindungen. Nicht zuletzt müssen in der aktueIlen Diskussion um neue regionalpolitische Ansätze in der Regionalpolitik auch regionalistische Bewegungen in vielen Teilen Europas mit einbezogen werden. Ihre Protesthaltung richtet sich unter einer aktueIlen politischen Entwicklungsbetrachtung gegen die Vereinheitlichungstendenzen des Binnenmarktes und steIlt die "Dominanz einer homogenisierten Einheitskultur" in Frage (Hahne, 1987, S. 404). Als geeignete Strategie, um den empfundenen drohenden Verlust an ethnischer und kultureIler Identität zu verhindern, wird dabei die Forderung einer politischen und ökonomischen Stärkung der regionalen Ebene in der europäischen Politik entgegengesetzt (Bu/lmanniEissel, 1993, S. 4). Mit dem Hinweis darauf, daß die Übergänge zwischen unterschiedlichen Begründungsansätzen und historischen Wurzeln fließend sind und sich damit. entsprechende Überschneidungen und Berührungspunkte ergeben, differenziert Mose (1993, S. 38f.) in Anlehnung an Danielzyk (1992) drei unterschiedliche Argumentationslinien rur die Forderung nach einer entwicklungspotentialorientierten (eigenständigen) Regionalpolitik "von unten": I. eine funktional begründete, 2. eine normativ begründete und 3. eine legitimatorisch begründete Argumentationslinie. Ausgehend von der Kritik an der bisherigen Effizienz der Regionalpolitik sind es primär die funktionalen Gründe, die dazu ftlhrten, daß sich in der Praxis der Förderansätze konzeptioneIle Änderungen ergaben. Dabei geht die Initiative der Maßnahmen von der staatlichen Instanz aus. Durch die Verlagerung von politischen Entscheidungen "nach unten" soIl im Rahmen von verschiedenen Initiativen und Programmen durch Aktivierung "endogener Potentiale" eine Steigerung der regionalen Wettbewerbsflihigkeit erzielt werden. 77 Damit steht hinter dieser Argumentationslinie die Nutzung komparativer Vorteile und somit eine Übertragung des Konzeptes des außenwirtschaftlich begründeten Theorems der komparativen Kostenvorteile auf die Regionalpolitik. Die Regionalisierung der politischen Entscheidung durch die neuen Programme ist dabei als Antwort

77

Als Beispiel ließe sich die LEADER-Initiative anfUhren.

92

3. Neuere Konzepte und Strategien für den ländlichen Raum

auf die zunehmende Komplexität des Problems und die Gefahr zunehmender Disparität der Raumstruktur zu interpretieren. Bezieht man die gesellschaftlichen Veränderungen mit ein, läßt sich eine normativ begründete Argumentationslinie fiir eine Regionalpolitik "von unten" ableiten. Bei den Forderungen handelt es sich um dezentral orientierte Handlungsansätze regionaler Basisbewegungen, die primär die Stärkung der regionalen Eigenständigkeit (Autonomie) in den Mittelpunkt stellen und als Fernziel einen gesamtgesellschaftlichen Umbau haben. Durch ganzheitliche Ansätze, unter Berücksichtigung einer weitgehend regionalen Selbstbestimmung, sollen dabei sowohl ökonomische als auch sozio-kulturelle und ökologische Aspekte bei der Umsetzung einbezogen und vor allem verstärkt intraregionale Wirtschaftskreisläufe initiiert werden. Aus der Sicht der Entwicklungstheorien steht hinter der Argumentationslinie die Übertragung von polarisationstheoretischen Zentren-Peripherie Modellen und den z.T. als ideologisch einzustufenden dependenztheoretischen Überlegungen auf die regionalpolitische Diskussion in den industrialisierten Ländern, die ihren Ursprung auf der internationalen Ebene haben. Es gibt im internationalen Kontext keine geschlossene "Theorie der Abhängigkeit", doch läßt sich als Kernthese dieser Ansätze festhalten, daß Unterentwicklung nicht das Ergebnis interner Verursachungsfaktoren sei. Vielmehr werden sie auf externe, exogene Faktoren durch das System der internationalen (Handels-) Beziehungen zurückgefilhrt, die den Industrieländern Vorteile und den Entwicklungsländern Nachteile bringen. Nach Auffassung der Dependenztheoretiker ist die Wirtschaftsstruktur der Entwicklungsländer nur auf die Bedürfnisse der Industrieländer ausgerichtet, so daß das bestehende Handelssystem durch strukturelle Abhängigkeiten der Entwicklungsländer (Peripherie) von den hochentwickelten Industrieländern (Zentren), gekennzeichnet ist (Wagner et al. 1989, S. 73).78 Sie leiten daraus die Notwendigkeit ab, diese Abhängigkeit durch Dissoziation und selektive Abkopplung zu vermindern, um so eine eigenständige Entwicklung zu erreichen (Borner/Weber, 1990, S. 160).79 Dies soll durch Mobilisierung vorhandener Potentiale, Importsubstitution und Ausrichtung der Produktion auf die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung (intraregionale Wirtschaftskreisläufe) verwirklicht werden (Scharff, 1993, S. 153).

78 Vgl. z.B. Gattung, 1980, S. 29ff. 79

Vgl. ebenfalls Hahne, 1985, S. 37ff.; Tönnies, 1987, S. 156.

3.1 Konzeptionelle Änderung ländlicher Entwicklungsförderung

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In Analogie dazu wird für eine eigenständige Regionalentwicklung eIne stärkere Vernetzung der "ökonomischen, politischen, soziokulturellen und ökologischen Potentiale" und eine intraregionale Integration von regionaler Produktion und Konsumption als Strategie vorgeschlagen (Hahne, 1984, S. 34). Die dritte Argumentationslinie, die eine verstärkte Nutzung endogener Potentiale fordert, betrifft die finanziellen Ressourcen. Es ist nämlich davon auszugehen, daß nicht zuletzt auch zunehmende Finanzprobleme zentralstaatlicher Institutionen einen Einfluß auf die verstärkte Diskussion um das "endogene Potential" haben dürften. Dabei wird eine Aufwertung der regionalen Potentiale als eine fiskalische Entlastungsstrategie angesehen, um sich der ausgleichspolitischen Verantwortung legitim zu entziehen, ohne das regionalpolitische Instrumentarium zu modifizieren. so Die Konsequenz daraus wäre, daß die regionalen Ebenen zentralstaatliche Aufgaben in "Selbsthilfe" übernehmen müssen. Nach den drei Argumentationsrichtungen stellt sich die Forderung nach einer verstärkten Förderung des "endogenen Entwicklungspotentials" zusammenfassend entweder als "Ergänzung", als "Alternative" oder aber auch als "Rückzug" zur bzw. aus der zentralen Regionalpolitik dar (Schätzl, 1992, S. 150).

3.1.2 Das endogene Entwicklungspotential eine Worthülse? Ausgehend von den unterschiedlichen Ursachen und Motiven, eine Förderung endogener Entwicklungspotentiale (Entwicklungsstrategien) zu verfolgen, ist es notwendig den Begriff weiter einzugrenzen, als es bisher erfolgt ist. Der Auslöser vieler in der Vergangenheit geführter Diskussionen über das "regionale Entwicklungspotential" war der Aufsatz von Giersch (1964) "Das ökonomische Grundproblem der Regionalpolitik" , der damit einen Begriff in die regionaltheoretische Diskussion einführte, der bis heute kontrovers diskutiert wird. Bei seiner Definition geht Giersch von einem produktionstheoretischen Ansatz aus und setzt Regionen mit Unternehmen gleich. Er definiert das Entwicklungspotential "als jene maximale zusätzliche Nettoausbringung, die mit Hilfe kapazitätsausweitender Investitionen erzeugt werden könnte, ohne daß

so

Stiens (1984, S. III) hebt hervor, daß dies die falsche Intention und Interpretation einer entwicklungspotentialorientierten Regionalpolitik ist.

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3. Neuere Konzepte und Strategien für den ländlichen Raum

die Grenzproduktivität des eingesetzten Kapitals unter das herrschende Zinsniveau sinkt". So lassen sich "die Entwicklungschancen [... ] am besten an der Produktivität alternativer in sich wohl geführter Investitionspläne ablesen" (Giersch, 1964, S. 396). Im Zentrum seiner Überlegungen steht die Frage nach der Konzeption einer Regionalpolitik, die zu einer ökonomisch optimalen Allokation der "Produktionskräfte" im Gesamtraum und damit zu einem Maximum des Sozialprodukts bzw. zu einem möglichst großen gesamtwirtschaftlichen Wachstum führt (Spehl et al., 1981, S. 241). Aufgrund dieser Zielsetzung wird deutlich, daß dieser Definitionsansatz auf eine interregionale Anwendung des Begriffes Entwicklungspotential gerichtet ist. Es wird dabei als Instrument verwendet, um die Förderungswürdigkeit von Regionen unter dem Gesichtspunkt des gesamtwirtschaftlichen Nutzens abzuschätzen. Als Indikator für das "für und wider" einer Investition wird, in Analogie zum Unternehmen, die Durchschnittsproduktivität des einzusetzenden Kapitals benutzt. Es handelt sich somit nicht um einen Definitionsansatz, der sich mit intraregionalen nicht ausgeschöpften bzw. ungenutzten Ressourcen befaßt und damit verbunden mit regional vorhandenen Produktionskapazitäten und den daraus resultierenden Entwicklungsmöglichkeiten. Vielmehr ist es ein Ansatz, der das momentane Erscheinungsbild in den Vordergrund stellt und das Entwicklungspotential als "Output-Größe" behandelt und durch die Abwägung von Investitionsentscheidungen prinzipiell auf eine Kapazitätsausweitung gerichtet ist. Grundsätzlich steht bei diesem Ansatz die optimale Faktorallokation im Raum sowie die gesamtwirtschaftliche Rentabilität von regionalen Investitionsentscheidungen und nicht der Abbau regionaler Disparitäten im Mittelpunkt (Strassert, 1984, S. 23). Die Konsequenz einer Anwendung des Begriffes nach Giersch ist, daß man die passive Sanierung von Regionen mit geringer Rentabilität von öffentlichen Investitionen hinnehmen würde, um die gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt zu erhöhen. Geht man allerdings davon aus, daß die gesamtwirtschaftliche Produktionssteigerung die negativen Konsequenzen in "unrentablen" Regionen überkompensiert, könnte man diese Nachteile durch entsprechende Finanztransfers ausgleichen (Scharf!, 1993b, S. 25). Einen ersten Versuch, den Ansatz von Giersch zu operationalisieren, um das regionale Entwicklungspotential quantitativ zu erfassen, stellt die empirische Arbeit von Biehl und Mitarbeitern im Zusammenhang mit der Gemeinschaftsaufgabe "Verbesserung der Regionalen Wirtschaftsstruktur" dar (Biehl et al., 1975). In Analogie zum interregionalen Ansatz von Giersch soll die Arbeit von Biehl dazu dienen, die Regionen zu identifizieren, die aufgrund einer schlechten

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Ressourcenausstattung mittelfristig in ihrer regionalen Entwicklung gehemmt sind. 81 Definiert wird dabei das Entwicklungspotential als "dasjenige Pro-KopfRegionalprodukt, das eine Region bei optimaler Nutzung aller ihr zur VerfUgung stehenden Ressourcen erzielen kann" (Biehl et al., 1975, S. 14). Als eine Erweiterung des Ansatzes von Giersch und somit als ein entscheidender Unterschied kann dabei die explizite Einbeziehung regional vorhandener Ressourcen angesehen werden, unabhängig davon, ob sie tatsächlich genutzt oder latent vorhanden sind (Spehl et al. , 1981, S.244). Die Bestimmungsfaktoren des Entwicklungspotentials, d.h. diejenigen Ressourcen, die Potentialcharakter haben und damit das Entwicklungspotential limitieren, zeichnen sich nach Biehl durch geringe Immobilität im Sinne von Standortgebundenheit, geringe Substituierbarkeit, geringe Teilbarkeit und ihre Polyvalenz aus. Dabei wird unter Polyvalenz im Gegensatz zur Mon