Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess: Grundlagen, Strukturen und Eigenarten des europäischen und interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems [1 ed.] 9783428550401, 9783428150403

Der regionale Menschenrechtsschutz hat sich zu einer einflussreichen dritten Schutzebene zwischen nationalem Grundrechts

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Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess: Grundlagen, Strukturen und Eigenarten des europäischen und interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems [1 ed.]
 9783428550401, 9783428150403

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Schriften zum Völkerrecht Band 224

Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess Grundlagen, Strukturen und Eigenarten des europäischen und interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems

Von

Johann Justus Vasel

Duncker & Humblot · Berlin

JOHANN JUSTUS VASEL

Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess

Schriften zum Völkerrecht Band 224

Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess Grundlagen, Strukturen und Eigenarten des europäischen und interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems

Von

Johann Justus Vasel

Duncker & Humblot · Berlin

Der Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Hamburg hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0582-0251 ISBN 978-3-428-15040-3 (Print) ISBN 978-3-428-55040-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-85040-2 (Print & E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist im April 2015 eingereicht und im Sommersemester 2016 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Hamburg als Dissertation angenommen worden. Sie befindet sich im Wesentlichen auf dem Sach- und Literaturstand ihrer Einreichung. Mein großer Dank gilt zuvorderst meinem Doktorvater Professor Dr. Markus Kotzur, LL.M. (Duke Univ.), für seine hervorragende Anleitung, seinen ermutigenden Zuspruch und seine stete Hilfsbereitschaft. Herrn Professor Dr. Stefan Oeter gebührt herzlicher Dank für die Erstellung des profunden Zweitgutachtens und die Leitung des anregenden, facettenreichen Disputationsgespräches. Ganz besonders dankbar bin ich ferner Herrn Professor Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, der die Entwicklung meiner Arbeit kontinuierlich stimuliert und mein (rechts)wissenschaftliches Denken vom ersten Tag des Studiums an nachhaltig geprägt hat. Seinem Seminar und seiner leidenschaftlichen pädagogischen Widmung verdanke ich wohl mehr, als mir gegenwärtig bewusst sein kann. Zudem möchte ich Herrn Professor Dr. Andreas Zimmermann, LL.M. (Harvard), für die äußerst lehrreiche und inspirierende Zeit am MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam danken, die mir vielfältige Einblicke in die Völkerrechtswissenschaft eröffnet hat. Schließlich schulde ich Thomas Streinz, LL.M. (NYU), großen Dank für zahllose kritisch-konstruktive Gespräche, die Substantielles zur Arbeit beigetragen haben. Wissenschaftliche Arbeit ist stets mit Ungewissheit verbunden. Originalität und Fortschritt stellen sich selten ohne Wagnis und Ausdauer ein. Ich danke meinen Eltern, die mich über all die Jahre stets unterstützend und vertrauensvoll begleitet haben. New York City, im Sommer 2016

Johann Justus Vasel

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Vorbemerkung zur Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methodikfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Paradigmenwechsel, Inkommensurabilität, Methodenanarchismus? . . . . 2. Pluralisierung der Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der kulturwissenschaftliche Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Pragmatismus, Präpositivität und Postpositivität des positiven Menschenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Narration und normative Kraft des (Menschen)rechtsschutzes . . . . . .

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Erster Teil Grundlagen und Entwicklungslinien des regionalen Menschenrechtsschutzes A. Ideengeschichtliche Ursprünge der Menschenrechte in der iberischen Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Begrenzung und Bedeutung des Spanischen Zeitalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Conquista und Coloniaje – Europäische Expansion in Lateinamerika . . . . . III. Das menschen- und völkerrechtliche Vermächtnis der spanischen Spätscholastik als Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Legitimationsdiskurs und Oppositionsbestrebungen – die Schule von Salamanca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Inkurs: Menschenrechtliche Perspektiven und Positionen im Werk Las Casas’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Politische Selbstbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Bedeutung und Bewertung von Las Casas’ menschenrechtlichen Positionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Conclusio: Das iberische Zeitalter als Kristallisationspunkt des Menschenund Völkerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Entwicklungsstufen des Menschenrechtsschutzes – die drei (Vor)stufen zum regionalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Präpositive Universalität: Naturrechtliche Begründungen . . . . . . . . . . . . . . . . II. Positivität und politische Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 1. Nordamerikanische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Französische Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Universalität und Positivität: Das internationale Rechtsschutzsystem der Vereinten Nationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die universalen Menschenrechtspakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Die „vierte Stufe“ – regionaler Menschenrechtsschutz als „Mezzanin“ . . . . . 68

Zweiter Teil Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem im Entwicklungs- und Strukturvergleich A. Entwicklungskontext des interamerikanischen und des europäischen Menschenrechtsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. (Vor)rechtlich-politische Entwicklungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die „janusköpfige“ panamerikanische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lateinamerikanische Ausprägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Nordamerikanische Ausprägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Paneuropäische Bewegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich und Bedeutung der Vorformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Systemische Entstehungsfundamente der Menschenrechtsschutzsysteme . . . 1. Die Organisation Amerikanischer Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Organisation und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aufgabenspektrum und Funktionen der OAS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Europarat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entstehung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Organisation und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aufgaben und Aktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vergleich und Bewertungen der regionalen menschenrechtlichen Fundamente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten des interamerikanischen und des europäischen Menschenrechtsschutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Amerikanische Erklärung über die Rechte und Pflichten des Menschen von 1948 – interamerikanische Säule des Schutzsystems . . . . . . . . a) Inhalt, Umfang und Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtlicher Status und normative Verbindlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 2. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 – lateinamerikanische Säule des Schutzsystems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 . . . . . . . . . . . . . . . II. Amerikanische und Europäische Menschenrechtskonvention im Vergleich . 1. Materiellrechtlicher Gehalt der Konventionstexte im Textvergleich . . . . . a) Präambel, Portalnorm, Rechtswirkungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Bürgerliche und politische Garantien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die Entwicklungs- und Brückennorm der zweiten bzw. zur dritten Generation der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Modusnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Pflichten des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Ergänzungen und Modifikationen – Zusatzprotokolle . . . . . . . . . . . . . 2. Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Europäische und die Interamerikanische Menschenrechtskommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Europäische und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . bb) Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte . . . . . . . 3. Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Individualbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Staatenbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gutachten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Vorläufige Schutzmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Vorortuntersuchungen, Länder- und Sachberichte . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Resümee des Struktur- und Entwicklungsvergleichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dritter Teil Die Auswirkungen und Eigenarten des regionalen Menschenrechtsschutzes A. Souveränitätsverlust durch regionalen Menschenrechtsschutz? . . . . . . . . . . . I. Historischer und inhaltlicher Umriss des Souveränitätsprinzips . . . . . . . . . . . 1. Interne Souveränität – staats- und verfassungsrechtliche Dimension . . . . 2. Externe Souveränität – völkerrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prinzip mit axiomatischem und elastischem Charakter . . . . . . . . . . . . . . . II. Das ambivalente Verhältnis von regionalem Menschenrechtsschutz und Souveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis 1. Souveränität als Konstruktionselement des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Allgemeine Relativierungsphänomene staatlicher Souveränität durch regionalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Hierarchie und Bindungswirkung der Konventionen als spezifische Relativierungsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Rang- und Wirkungsfragen der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der Rang der EMRK im Recht der Vertragsparteien . . . . . . . . . . . bb) Exkurs: Das Verhältnis von EMRK und Grundgesetz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – vom osmotischen Verständnis zur Dialogisierung beider Rechtsordnungen . . . . . . . . b) Rang- und Wirkungsfrage der AMRK – Control de Conventionalidad aa) Der Ursprung der Control de Conventionalidad . . . . . . . . . . . . . . . bb) „Brückenbildung“ zwischen den Rechtsordnungen . . . . . . . . . . . . cc) Konventionskontrolle als Aktivverpflichtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Konkrete Auswirkungen, Bestätigung und Investitur der Control de Conventionalidad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ee) Fazit zur Control de Conventionalidad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Resümee: Lösungsansätze des Souveränitätskonflikts im regionalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Souveränitätserosion und Souveränitätstransformation . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Vertikalisierung der „praktischen Konkordanz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entstehung von Infrakonventionalität und Suprakonstitutionalität . . .

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes? . . . . . . . . . . . I. Einführung zum Konstitutionalisierungsgedanken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Verfassungsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Projektion auf das Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Konstitutionalisierungserscheinungen in der EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Materiellrechtliche, institutionelle und instrumentelle Parallelen zum staatlichen Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Selbstkonstitutionalisierung durch Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Vorbereitung und Affirmation des Konstitutionalisierungsbegriffes durch die Rechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Konstitutionalisierungserscheinungen in der AMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Strukturverwandtheit mit dem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konstitutionalisierungbekenntnisse in der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . IV. Zweifel an Verfassungscharakter und Verfassungsbedürftigkeit der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verfassbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassbarkeit des Überstaatlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Verfassbarkeit des Sektoralen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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2. Verfassungscharakter der regionalen Menschenrechtsregime . . . . . . . . . . a) Rangproblematik und Revisionsbarrieren als Hindernis . . . . . . . . . . . . b) Funktionsdefizite . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Inkurs: Funktionsvergleich mit der Europäischen Union als regionalem Rechtsregime . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fehlende Verfassungsbedürftigkeit regionaler Menschenrechtsregime . . V. Resümee: Konstitutionelle Elemente im regionalen Menschenrechtsschutz – Regionaler Menschenrechtsschutz als konstitutionelles Element im Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes? . . . . . . . . . . I. Supranationalität: Entwicklung und Kriterien eines europarechtlich vereinnahmten Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Supranationalität im regionalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Supranationale Elemente und Tendenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) „Acquis conventionnel“ und Ausstrahlungswirkungen als supranationale Spurenelemente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Akzessorische Supranationalität durch Beitritt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Supranationalisierung als autokatalytischer Prozess . . . . . . . . . . . . . . . 2. Notwendigkeit und Gebotenheit von Supranationalität . . . . . . . . . . . . . . . . III. Resümee: Supranationale Splitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Subsidiarität – Charakterisierungsversuch eines janusköpfigen Prinzips . . . 1. Ursprung und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Funktion und Wirkung – Paradoxon und Janusköpfigkeit . . . . . . . . . . . . . II. Latenz und Potenz – Subsidiaritätselemente im regionalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Subsidiaritätselemente im europäischen Menschenrechtsschutzsystem . . a) Funktionale Strukturmerkmale der EMRK als Subsidiaritätselemente b) Materielle Subsidiaritätselemente in der Rechtsprechungscharakteristik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subsidiaritätselemente im interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenergebnis und Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips . . . . . . . . . III. Die Zweifelhaftigkeit des subsidiären Charakters der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Uneindeutigkeit und Relativität der Subsidiaritätselemente . . . . . . . . . . . . 2. Das asymmetrische Selbstverständnis der Konventionsorgane – Paradoxe Subsidiaritätsbekundungen in der Jurisdiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtsvergleichender Exkurs: Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis a) Subsidiarität als Kompetenzregulativ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Subsidiarität als Begrenzungsprinzip der Kompetenzdrift . . . . . . . . . . c) Ergebnis: Interventions- und Integrationscharakter als Differenz . . . . 4. Begrenzte Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips aufgrund von Eigenart, Auftrag und Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes . . a) Eigenart und Auftrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Resümee: Emanzipation vom Subsidiaritätsprinzip und subsidiäre Residuen

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E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Legitimationsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Legalität und Legitimität des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . 2. Legitimationsschwierigkeiten des regionalen Menschenrechtsschutzes . . a) Potenzierung der „counter-majoritarian difficulty“ durch regionalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Forcierte „Justizialisierung“ durch regionalen Menschenrechtsschutz II. Entgrenzungstendenzen des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . 1. Entgrenzung durch konventionsspezifische Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Auslegungsmethoden des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Auslegungsmethoden des IAGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfortbildung und Rechtskreation als Entgrenzungsphänomene . . . . a) Grenzverlust in der Praxis des EGMR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Grenzverlust in der Praxis des IAGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Fazit: Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit von Entgrenzung . . . . . . . . . . . III. Legitimationsmöglichkeiten: Elemente zur Rechtfertigung des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die allgemeine Legitimationsgrundlage der Rechtfertigung von Judicial Review und Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Spezifische Legitimationselemente des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Legitimation aus der dem Verfassungsrecht eigentümlichen Schwäche aa) Die historische Legitimation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das „Identitäts- und Konfusionsdilemma“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Legitimation aus Distanz und Interesselosigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) „Veil of ignorance“ und „veil of distance“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Interesselosigkeit und pouvoir neutre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Input- und Output-Legitimation, Individualismus und Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Legitimation aus Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) „Least dangerous“ und „non-dangerous“ branch . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Ausblick: Legitimation durch Referendum? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

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IV. Resümee: Die Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes im Spannungsverhältnis mit Demokratie und Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . 312 F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . I. Einordnungs- und Beschreibungsproblem des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess . . . . . . . . . . . . . 1. Derivativ-synkretistischer Charakter im Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Emanzipationsprozess zum Gebilde sui generis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Auswirkungen der Emanzipation auf das umliegende Recht – Liquidisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Fragmentierung und Konstitutionalisierung als Emanzipationsprozess? . III. Komplementarität als Entwicklungsprinzip des regionalen Menschenrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Komplementarität als Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Begriff und Idee der Komplementarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die Unterscheidung von Subsidiarität und Komplementarität – Konditionalität und Konjunktionalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Komplementarität als „Textstufe“ im Völkerstrafrecht . . . . . . . . . . . . . 2. Der komplementäre Charakter des regionalen Menschenrechtsschutzes . a) Kongruenzen zwischen völkerstrafrechtlichem Komplementaritätsgrundsatz und regionalem Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Komplementaritätselemente der Konventionssysteme . . . . . . . . . . . . . 3. Funktion und Leistung der Komplementarität im entwickelten regionalen Menschenrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Ausblick: Regionaler Menschenrechtsschutz als Element des „ewigen Friedens“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376

„Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between contracting States. It creates over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the Preamble, benefit from a ,collective enforcement‘.“ ECHR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, No. 5310/71, Rn. 239.

„The American Convention and the other human rights treaties are inspired by a set of higher common values (centered around the protection of the human person), are endowed with specific supervisory mechanisms, are applied as a collective guarantee, embody essentially objective obligations, and have a special character that sets them apart from other treaties. The latter govern mutual interests between and among the States Parties and are applied by them, with all the juridical consequences that follow therefrom for the international and domestic legal systems.“ IACHR, 24.09.1999, Ivcher-Bronstein v. Peru, Serie C No. 54, Rn. 42.

Einleitung I. Vorbemerkung zur Untersuchung Ursprung der Schrift ist ein Erklärungsdefizit für etwas, das seit mehr als einem halben Jahrhundert existiert: der regionale Menschenrechtsschutz. Trotz der vielgestaltigen Auseinandersetzung mit einzelnen Facetten des Gegenstandes in Kommentaren, Lehrbüchern, Dissertationen, Festschriften und unzähligen Aufsätzen ist es ausgeblieben, den besonderen Charakter des regionalen Menschenrechtsschutzes, seine Eigenständigkeit und Eigenheiten zu ergründen, geschweige denn eine grundlegende Theorie dazu zu formulieren. Indes kommt das gänzlich Eigene des regionalen Menschenrechtsschutzes bereits in den eingangs zitierten Rechtsprechungspassagen deutlich zum Ausdruck. Die Konventionssysteme werden vom klassischen Völkervertragsrecht unterschieden („Unlike international treaties of the classic kind“) und als etwas Darüberhinausgehendes („more than mere reciprocal engagements“) qualifiziert, dem offenbar ein übergeordneter Status zukommt („over and above“). Auch ist der Urteilspassage zu entnehmen, dass es nicht die Signatarstaaten sind, die dieses System mit seiner objektiven Verpflichtungswirkung („objective obligations“) in Existenz setzen, sondern das Konventionssystem selbst („It creates“). Der soweit ersichtlich einzige Beschreibungsversuch dieser Besonderheiten des regionalen Menschenrechtsschutzes ist ihre Qualifizierung als „Konstitutionalisierungsprozess“ 1, die zwar zutreffend bestimmte Konstitutionalisierungserscheinungen identifiziert, dabei aber gleichzeitig konstitutionelle Defizite verkennt und im Ergebnis dem besonderen Charakter des regionalen Menschenrechtsschutzes nicht gerecht wird.2 Das hiernach zu konstatierende Theoriedefizit mag verschiedene Ursachen haben: Sprachliche Hürden, die Außerstaatlichkeit des Gegenstandes, seine inkrementelle Entstehung, sein synkretistisches Wesen, der rechtsprechungsgeprägte Charakter des Konventionsrechts. Der Wunsch, dieses Defizit zu überwinden, gab – neben der Frage nach Unterschieden und Gleichartigkeit der bestehenden effektiven regionalen Menschenrechtsschutzsysteme – einen entscheidenden Impuls für die nachfolgende Untersuchung. Übergeordnete Frage ist also, was regionaler Menschenrechtsschutz in seinem Selbststand ist, was ihn abgrenzt und un1 C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), S. 961 ff. 2 Hierzu ausführlich Dritter Teil B.

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terscheidet von anderen Formen des Menschenrechtsschutzes, was ihn ausmacht, worauf er sich gründet und wie er sich rechtfertigen lässt. Hieran gemessen mag die vorliegende Untersuchung in ihren einzelnen Teilen zuweilen unvollständig anmuten. Eine umgreifende Theorie des regionalen Menschenrechtsschutzes zu entwerfen, sprengte nicht nur den Rahmen einer Dissertationsschrift, sondern überforderte auch einen einzelnen Verfasser, ist ein Projekt für viele. Die Systeme sind zu vielgestaltig, zu komplex. So wäre es anmaßend zu glauben, sämtliche Fragekreise bündig beantwortet und ausgearbeitet zu haben. Es handelt sich eher um Theorieelemente als um ein abgeschlossenes Theoriegebäude. Das Thema „Menschenrechte“ verlangt zunächst nach einer gewissen Grundsätzlichkeit. Dem will der erste Teil in Gestalt eines primär rechtshistorischen und rechtsphilosphischen Zugriffes Rechnung tragen. Die Arbeit ist dabei von der Erkenntnis geleitet, dass sich die Verwirklichung und Gewährleistung von Menschenrechten nicht in der Herausbildung des positiven Rechts erschöpfen. Zwar ist die Positivierung der Menschenrechte zweifelsohne eine neue Entwicklungsstufe, eine neue Qualität. Zugleich wird aber deutlich, dass dies keineswegs ein hermetisch-exklusiver Endpunkt ist, sondern auch die Positivierung hintergehbar bleibt, ohne Geschichtlichkeit und Kontext nicht auskommt, normativ geschwächt wäre. Positivität allein vermag für die Menschenrechte lediglich Halt zu bieten. So bleibt eine Vergegenwärtigung und Versicherung über Ursprung, Entwicklung und Eigenart der Menschenrechte auch jenseits der Positivität fruchtbar. Darauf folgt im zweiten Teil ein Vergleich des interamerikanischen und europäischen Menschenrechtsschutzsystems. Die Gegenüberstellung dieser am weitesten ausdifferenzierten und kulturell-historisch verbundenen Systeme verspricht nicht nur tiefere Erkenntnisse der jeweiligen Gemeinsamkeiten und Besonderheiten, sondern zeigt auch Rezeptionsprozesse und noch unausgeschöpfte Rezeptionspotentiale auf. Der dritte Teil behandelt normative Fragen des regionalen Menschenrechtsschutzes und versucht sich an dessen Einordnung. Analysiert werden zunächst die Bedingungen und Auswirkungen der Konventionssysteme, an die sich die Beschäftigung mit drei wesentlichen Charakterisierungsversuchen anschließt. Hierauf folgt eine Auseinandersetzung mit den Rechtfertigungsproblemen der Konventionssysteme. Der dritte Teil schließt mit einer Deutung des Entwicklungsprozesses des regionalen Menschenrechtsschutzes hin zu einer Rechtsmaterie sui generis.

II. Methodikfragen 1. Paradigmenwechsel, Inkommensurabilität, Methodenanarchismus? Erkenntnis und Erkenntnismöglichkeit sind nicht nur vom Betrachtungsgegenstand abhängig, sondern ebenso von Vorverständnis, Selbstverständnis und Me-

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thodenwahl3. Sie sind untrennbar miteinander verbunden, sind interdependent. Während Vorverständnis und Selbstverständnis nur bedingt änderbar sind, einer gewissen Starre unterliegen, ist das Verhältnis von Methode und Erkenntnis flexibel. Weder der Gegenstand soll die Methode erzwingen, noch die Methode die Erkenntnis des Gegenstandes einengen oder begrenzen. Vielmehr sind der Rechtswissenschaft als primär hermeneutischer Disziplin eine Vielzahl an „Wegen“ und Formen der Annäherung inhärent. Dieses Methodenpotenzial gilt es insbesondere für den nachfolgend fokussierten Bereich der Menschenrechte auszuschöpfen. Auch angesichts der Internationalisierung des Rechts erscheint eine Öffnung geboten. Wenn Recht überhaupt jemals exklusiven Charakter aufwies – was äußerst zweifelhaft ist – hat es diesen im Zuge der Internationalisierung verloren. Die Rechtswirklichkeit lässt sich nicht länger als kohärentes System fingieren, das auf Axiomen basiert, die nach deduktiver Methodik verlangen, und sich durch diese erschließen ließe. Vielmehr ist das Recht globalisierungsbedingt Auf- und Umbrüchen unterworfen. Das Paradigma der „offenen Staatlichkeit“ 4 gibt davon vorsichtiges Zeugnis. Die einzelnen Rechtsordnungen sind dermaßen Durchformungen und Überlagerungen ausgesetzt, dass nicht nur ihre Einheitlichkeit in Frage gestellt ist, sondern auch die allgemeinen Kollisionsregeln die daraus resultierenden Widersprüche nicht mehr befriedigend aufzulösen vermögen. Der Prozess der Globalisierung hat eine Rechtswirklichkeit hervorgebracht, die mehr von Vielseitigkeit und Widersprüchen als von Einheitlichkeit gekennzeichnet ist. Realität wandelt und verschiebt sich in einem radikalen Ausmaß und mit ihr die (temporären) Beschreibungswahrheiten in ungemeiner Geschwindigkeit5. Was einst als apodiktische Erkenntnis galt, ist nur noch modifiziert oder bedingt wahr. Das nicht mehr linear, sondern exponentiell wachsende Wissen verdrängt Vorhandenes. Vorhandenes Wissen einschließlich bestimmter Axiome „zerfällt“ also gewissermaßen, unterliegt einer Halbwertszeit. Diese variiert in den unterschiedlichen Wissenschaftsfeldern und auch innerhalb der hier relevanten Rechtswissenschaft. Für die in den Blick genommenen Bereiche des Staats- bzw. Verfassungsrechts einerseits sowie des Völkerrechts andererseits ergeben sich gänz-

3 Grundlegend H.-G. Gadamer, Wahrheit und Methode, 5. Aufl. 1986, S. 281 ff.; wegweisend für die Rechtswissenschaft J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1972; ders., Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956. 4 K. P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 14. P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26. 5 Dazu anschaulich aus der Szientometrie S. Arbesman, The Half-Life of Facts: Why Everything We Know has an Expiration Date, 2012. Aus der Literatur treffend, Gallileo Galilei, in: B. Brecht, Leben des Galilei, Erster Akt, S. 8 f.: „Aber jetzt heißt es: da es so ist, bleibt es nicht so. Denn alles bewegt sich, mein Freund.“ sowie „Denn wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel.“

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lich unterschiedliche Halbwertszeiten6: Während zunächst zentrale Aussagen und Strukturen des Verfassungsrechts in den letzten Jahrhunderten in ihren Grundfesten erhalten geblieben sind, sich lediglich evolutionär fortentwickelt haben, unterlag das Völkerrecht einem revolutionären und fundamentalen Wandlungsprozess, einer „kopernikanischen“ bzw. „anthropozentrischen Wende“ 7. Einige Kernaussagen können kaum mehr Gültigkeit beanspruchen, etliche Prinzipien sind einer Relativierung ausgesetzt8. Paradigmen, die vor der traumatischen Zäsur des Zweiten Weltkriegs Jahrhunderte lang Geltung hatten, sind überholt9. Die Veränderungen haben in geringer Zeit ein solches Ausmaß erreicht, dass sich ein Paradigmenwechsel diagnostizieren lässt10. Diese Revolution des Völkerrechts11 wirkt jedoch auf andere Rechtsgebiete zurück, erfasst nunmehr auch das Staatsund Verfassungsrecht. So diagnostiziert K. Hesse treffend, das Verfassungsrecht lebe „von dem Gedankengut einer Welt, die nicht mehr die unsere ist und die, wie wir immer deutlicher sehen, in den tiefen Wandlungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts ihren Untergang gefunden hat. Über ihre Grundlagen, bislang als gesichert geltende Bestandteile der Staats- und Verfassungslehre, ist die Geschichte hinweggegangen. Den bekannten Tatbestand jener Wandlungen umschreibe ich hier mit den geläufigen Stichworten: Funktionswandel moderner Staatlichkeit, Internationalisierung oder auch Globalisierung, Europäisierung.“ 12

6 Im kontinentaleuropäischen Recht dürfte das Zivilrecht die längste Halbwertszeit aufweisen. Römische Rechtsgrundsätze gelten auch nach 2000 Jahren noch im heutigen BGB oder im ABGB. 7 M. Kotzur, Die anthropozentrische Wende – menschenrechtlicher Individualschutz im Völkerrecht, in: M. Sachs/H. Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat. Festschrift für Klaus Stern zum 80. Geburtstag, 2012, S. 811 ff. Ferner A. Peters, Jenseits der Menschenrechte. Die Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht, 2014. 8 Früh und grundlegend, W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964. 9 Für eine Änderung der Methode aufgrund der Internationalisierung des Verfassungsrechts plädiert auch R. Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 572, der aufgrund der Konstitutionalisierungstendenzen den Übergang von der induktiven zur deduktiven Methode vorschlägt. 10 Dazu grundlegend T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976. Dessen Theorie greift auf N. R. Hanson, Patterns of Discovery: An Inquiry into the Conceptual Foundations of Science, 1958 und L. Fleck, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache, 9. Aufl. 1980, zurück. Für das Völkerrecht eine „stille Revolution“ konstatierend, E. Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, 1997. 11 Treffend A. Peters, Jenseits der Menschenrechte. Die Rechtstellung des Individuums im Völkerrecht, 2014, S. 485: „Die Zeit ist reif für das subjektive internationale Recht.“ 12 K. Hesse, Die Welt des Verfassungsstaates – Einleitende Bemerkungen zum Kolloquium, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 11 ff. und 13.

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Inhalt und Identität des öffentlichen Rechts im Allgemeinen verändern sich also fundamental13. Es wandelt sich aber nicht nur dieses, sondern auch seine über- bzw. untergeordneten Grundlagen. Als Konsequenz tritt Inkommensurabilität14 auf. Vorhanden-Verändertes ist also nicht mehr ohne weiteres erfassbar und führt zuweilen zu „Gewissheitsverlusten“ 15. Die Verwerfungen und Inkonsistenzen verlangen nach einer neuen und begründen eine geänderte Architektur16. Diese tektonischen Verschiebungen sind auf dem Gebiet des regionalen Menschenrechtsschutzes besonders sichtbar. Das hat seinen Grund darin, dass diese Materie sowohl dem Staats- als auch dem Völkerrecht entstammt, sich aber von beiden Ursprüngen gleichermaßen emanzipiert. Souveränität und Konstitutionalität als Grundfesten des Staatsrechts erscheinen durch das Völkerrecht gewandelt. Gleichzeitig verändert sich das Völkerrecht durch den Transformationsprozess des Staatsrechts seinerseits17. Mit der Terminologie T. S. Kuhns hat der regionale Menschenrechtsschutz die „normalwissenschaftliche Phase“ 18 einer „inhärenten Innovation“ verlassen, dass heißt, Regeln und Richtlinien zur Lösung bestehender Probleme sind nicht ohne weiteres aus den bisherigen Paradigmen ableitbar, bewegen sich nicht mehr in diesen, sondern berühren diese selbst. Damit beginnt eine Phase, in der die gegenwärtigen Probleme und Entwicklungen nicht mehr in bisherige Theoriegebilde eintragbar sind. Neue Phänomene lassen sich nur begrenzt mit tradierter Methodik begreifen und beschreiben, klassische Modelle versagen19. Der Befund fundamentaler Veränderung dieser „Grenzmaterie“ zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht zeitigt besagte Inkommensurabilität und erfordert eine methodische Öffnung, um dem sich ra13 D. Grimm, Das öffentliche Recht vor der Frage nach seiner Identität, 2012. Dazu auch M. Ruffert, Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004. 14 Dazu T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, S. 159 ff. 15 Allgemein in methodologischer Hinsicht dazu G. Haverkate, Gewißheitsverlust im juristischen Denken, 1977, der sich kritisch mit der Autonomie der Rechtswissenschaft auseinandersetzt. 16 Diesem Gegenstand widmet sich auch A. Cassese (Hrsg.), Realizing Utopia: The Future of International Law, 2012. 17 Zweifelsohne herrscht gerade in weiten Teilen der deutschen Staatsrechtslehre weiterhin eine „staatszentrierte Orthodoxie“ vor, die sich nur sehr zögerlich der „postnationalen Wirklichkeit“ gegenüber öffnet, so M. Steinbeis, Man kann nicht dauernd die halbe Welt für verfassungswidrig erklären, in: FAZ Nr. 105 vom 07.05.2013, S. 26. 18 Dazu T. S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 2. Aufl. 1976, Kapitel II, III und IV. 19 Zur veränderten Methodik in der Rechtswissenschaft, die auch Nachbarwissenschaften mit einbezieht, Normen nach Zweck, Funktion, Wirklichkeits- und Folgenberücksichtigung begreift, was vormals als unwissenschaftlich gegolten hätte, P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsgerichtlichen Entscheidungspraxis, in: P. Badura/ H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band 1, 2001, S. 333.

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pide wandelnden Gegenstand noch gerecht werden zu können. Veränderte Realität verlangt veränderte Methoden. Konsequent wies bereits W. Friedmann auf das Erfordernis eines neuen und geweiteten Zugangs, einer veränderten Methodik hin: „The changes in the dimensions of international law require a corresponding reorientation in its study; neither the international lawyer trained in the classical methods of international law and diplomacy nor the corporation, tax, or constitutional lawyer are equipped to handle this subject without cooperation with each other, and with economists and political scientists. International law is becoming a more and more complex and many-sided subject.“ 20

Nachfolgende Untersuchung nimmt deshalb Anleihen an der Position P. Feyerabends21. Dieser folgert aus dem Umstand, dass Wissenschaft kein von Kohärenz und Konsistenz geprägtes Ganzes, sondern in sich brüchig ist22, einen „Methodenanarchismus“. Ihm folgend wird der Abbau des Dogmatismus, die prinzipielle Offenheit der Methoden und die Annahme, dass keine „feste Wertigkeit“ unter ihnen besteht, geteilt, um dem komplexen „Labyrinth von Wechselwirkungen“ 23 gerecht(er) zu werden. Anders als nach Feyerabends Standpunkt wird nachfolgend jedoch kein „Methodenanarchismus“ praktiziert24, sondern lediglich eine „Weitung“, eine methodische und disziplinäre Pluralisierung vorgenommen, die sich aber gemessen an tradierter Rechtswissenschaft zuweilen als „methodischer Ungehorsam“ ausnimmt. In Anlehnung an P. Feyerabends berühmtes Dictum „anything goes“, lässt sich für den hier beschrittenen Weg konstatieren: „many things go“. Das gilt aufgrund der Eigenart der Jurisprudenz als normativer Wissenschaft gerade nicht nur für den „context of discovery“, sondern auch für den „context of justification“.25 20

W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964, S. 70. Dazu jüngst auch H. C. Röhl und A. v. Arnauld, Öffnung der öffentlich-rechtlichen Methode durch Internationalität und Interdisziplinarität: Erscheinungsformen, Chancen, Grenzen, VVDStRL 74 (2015), S. 7 ff. bzw. S. 39 ff. 21 Grundlegend, P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1986. 22 P. Feyerabend führt in seiner Autobiographie „Zeitverschwendung“ von 1997, S. 190 aus, „Die Welt und das heißt: auch die Welt der Wissenschaft ist eine komplexe und zersplitterte Entität, die durch Theorien und einfache Regeln nicht erfaßt werden kann.“, und folgert „Außerdem gibt es nicht nur einen Zugang zum Wissen, die Wissenschaft, sondern viele solcher Zugänge. (. . .) Die Wissenschaft selbst mit ihren unterschiedlichen Strategien, Ergebnissen und metaphysischen Einsprengseln ist nicht konsistent. Sie ist selbst eine Collage, nicht ein System.“, S. 193 f. 23 H. Butterfield, The Whig Interpretation of History, 1965, S. 25; G. W. F. Hegel, Philosophie der Geschichte, Bd. 9, in: E. Gans (Hrsg.), 1837, S. 9, zitiert nach P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1986, S. 14. 24 So noch der Titel der Erstausgabe, P. Feyerabend, Against Method. Outline of an Anarchistic Theory of Knowledge, 1975, die Feyerabend in seiner Autobiographie mehr als „Collage“ bezeichnet, vgl. ders., Zeitverschwendung, 1997, S. 189 ff. 25 Zu dieser Unterscheidung grundlegend der logische Empirist H. Reichenbach, Experience and Prediction, 1938.

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2. Pluralisierung der Methoden a) Der kulturwissenschaftliche Ansatz Ausdruck dieser Multidisziplinarität und der Pluralisierung der Methoden ist primär der „kulturwissenschaftliche Ansatz“. Für das Recht im Allgemeinen und die Menschenrechte im Besonderen – aufgrund ihres metaphysisch-transzendentalen Kerns – gilt das Paradigma „Recht durch und aus Kultur“ 26. Diese Einsicht reift daraus, dass die positivrechtliche Verbürgung, das Formen, Formulieren und Erreichen einer rechtlichen „Textstufe“ 27 weder Ausgangspunkt noch Schlusspunkt eines langen kulturgeschichtlichen Sozialisations- und Entwicklungsprozesses ist, sondern gewissermaßen lediglich dessen Durchgangsstadium bildet. Gerade die Menschenrechte finden Ursprung und Erklärung erst in dem kulturellen „Ringen“ um das Recht, nicht in der formalen Gewährleistung selbst. Sie können erst aus diesem Erstreiten28, aus ihrer spezifischen Entwicklungsgeschichte realitätsbezogen und realitätsprägend verstanden und angewendet werden. Die Menschenrechte sind Ergebnis jahrhundertelanger politischer, sozialer und kultureller Wachstumsprozesse. Wie kaum ein anderes Rechtsgebiet trägt ihre Entstehung kontrafaktischen Charakter. Sie wurden gerade dann am vehementesten eingefordert, wenn die gesellschaftlichen Missstände am größten waren. Sie sind primär als Antithese der tatsächlichen Verhältnisse entstanden und zu verstehen. So lassen sich etwa die Freiheitsrechte in erster Linie aus den autoritären und obrigkeitsstaatlichen Gesellschaftsstrukturen erklären, die sozialen und ökonomischen Grundrechte aus dem Kontext des Pauperimus und der industriellen Revolution und die Kollektivrechte maßgeblich aus dem Zerfall von Staaten und Gesellschaften im Zuge der Dekolonialisierung sowie der erkannten „globalen Dimension“ einiger Gegenwartsprobleme. Das Normative entsteht erst als Reaktion, gründet sich auf einen polaren Gegensatz. Keinesfalls soll mit dieser Feststellung der seit D. Hume etablierte Dualismus von Sein und Sollen aufgehoben werden. Gleichwohl wird aber deutlich, dass Recht eben nicht naturhaft vorgegeben ist29, sondern einem kulturellen Entwicklungshorizont entstammt, Ergebnis konkreter Umweltbedingungen in Zeit und Raum ist, sogleich aber versucht, normativ diesen Kontext zu übersteigen und zukünftige Realität zu prägen 26 Dazu P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997, S. 9 ff. Grundlegend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998. 27 P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: J. Jekewitz/K. H. Klein u. a. (Hrsg.), Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung: Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag, 1989, S. 555 ff. Ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. 28 Treffend R. v. Jhering, Der Kampf ums Recht, 8. Aufl. 2003, S. 5 „Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder wichtige Rechtssatz hat erst denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, sowohl das Recht eines Volkes wie das des Einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft für seine Behauptung voraus.“ 29 P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1997, S. 17.

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oder vorzuzeichnen. Das erfordert einen „geöffneten“ Zugriff 30, der auch den Hintergrund einbezieht. Maßgeblich und anleitend ist daher die „Kontextthese“ 31, die versucht, das Wechselwirkungsverhältnis zwischen (Rechts)text und Kontext fassbar zu machen. Aufgrund der Globalisierung der Probleme und deren rechtlicher Lösung, der Transzendenz des nationalen Rechtsraumes, ist aber nicht nur der Hintergrund, sondern auch das Umliegende miteinzubeziehen. In Folge dessen ist die Erweiterung der klassischen vier Auslegungsmethoden nach F. C. Savigny um die Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode32 notwendig und geboten. Berührungspunkte weist dieser kulturwissenschaftlich geleitete Methodenrelativismus, die Einbeziehung des strenggenommen Außerrechtlichen, auch mit der Strömung des legal realism33 auf. In dessen Tradition nimmt es Anleihen am Behaviorismus und einem empirical turn34. Anders als der Rechtsrealismus ist die eingenommene Perspektive aber nicht strikt antimetaphysisch, trennt Moral und Recht nicht scharf voneinander ab, sondern begreift Metaphysik insbesondere im Bereich der Menschenrechte als ein wirkmächtiges Faktum. Mögen metaphysische Ableitungszusammenhänge der Menschenrechte nicht nachweisbar oder irreal sein, der Glaube an diese ist eine Realie, eine Tatsache, die es zu berücksichtigen gilt. Ähnlich wie Fiktionen erlangen sie qua ihrer Annahme eine tatsächlich-reale Dimension. Die methodologische Öffnung in Gestalt des kulturwissenschaftlichen Ansatzes und der Kontextorientierung steht dem Verständnis der Jurisprudenz als „reiner“ Normwissenschaft im Sinne von H. Kelsens „Reiner Rechtslehre“ diametral gegenüber. Ein solches Verständnis verspricht zwar dogmatische Klarheit und Eindeutigkeit, diese sind jedoch nur durch das Ausblenden tieferer Begründungsschichten möglich. Isolation der Disziplin und exklusive Methodik bewirken Präzision und Erkenntnisklarheit – aber um den Preis von Erkenntnistiefe

30 Zu „Offenheit des Menschenrechtsbegriffes“ auch M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 12 ff. 31 Begriffsbildend und vertiefend P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 44 ff., 50 f. 32 Hierzu P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff. 33 Früh und maßgeblich, O. W. Holmes Jr., The Common Law, 45. Aufl. 1923, S. 18 mit dem Diktum „The life of the law has not been logic; it has been experience“. In der jungen Strömung des „New Legal Realism“, dazu H. Erlanger u. a., Is it Time for a New Legal Realism?, Wisconsin Law Review 2 (2005), S. 335 ff. sowie T. J. Miles/ C. R. Sunstein, The New Legal Realism, University of Chicago Law Review 75 (2008), S. 831 ff., scheint aufgrund des „bottom-up approach“ auch eine Nähe zur „Offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ im Sinne P. Häberles auf. 34 G. Shaffer/T. Ginsburg, The Empirical Turn in International Legal Scholarship, American Journal of International Law 106 (2012), S. 1 ff.

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und -weite35. Eine derartige Restriktion der rechtswissenschaftlichen Analyse reduzierte die Rechtswissenschaft allgemein auf eine relativ unfruchtbare Rechtssatzwissenschaft. Die sehr begrenzte Aussagekraft des Rechts- bzw. Gesetzespositivismus gilt insbesondere für den Bereich der Menschenrechte. Derlei Ansätze werden dem extensiven Schutzgehalt der Menschenrechte und ihrem gesteigerten Abstraktionsniveau nicht gerecht. Neben dem besonderen Charakter der Menschenrechte spricht für eine multidisziplinäre und methodische Öffnung36 auch, dass ihre Positivierung noch ein verhältnismäßig junges Phänomen ist, diese – global betrachtet – erst im Werden begriffen ist. Oftmals fehlen effektive Durchsetzungsmechanismen in Form von Zwang und Befehl, weshalb sie zuweilen als sehr politisches, „unvollständiges“ Recht37 verbleiben. Sie weisen mithin eine größere Nähe zu moralischen und sozialen Normen auf und bedürfen schon deshalb einer interdisziplinär orientierten Methodik. b) Pragmatismus, Präpositivität und Postpositivität des positiven Menschenrechts Der Umstand, dass die Geschichte der Menschenrechte weitgehend durch Präpositivität gekennzeichnet ist und ihre Kodifizierung – zumal im internationalen Kontext – eine jüngere Erscheinung darstellt, offenbart, dass die Menschenrechte ohne ihre Vergangenheit, ohne die Versicherung ihrer Historie, nicht auskommen. Gemäß dem zuvor skizzierten kulturwissenschaftlichen Ansatz erschließt sich der Inhalt des positiven, gesetzen Rechts erst unter Einbeziehung seiner Entwicklung hin zur „Textstufe“ (P. Häberle) und seines Kontextes. Das Umliegende ist miteinzubeziehen, weil Positivität nur eine bestimmte Form meint und einen fixen, verfahrensförmig erreichten, von der jeweiligen historischen Mehrheit legitimierten Bezugs- und Orientierungspunkt darstellt. Schon deshalb kann die geschichtliche und philosophische Reflexion dieses Gegenstandes nicht einfach unter Verweis auf die erfolgte Positivierung der Menschenrechte an die Grundlagenbereiche der (Rechts)wissenschaft verwiesen werden.

35 Prägnant P. Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 1986, S. 31 f.: „Es ist also klar, dass der Gedanke einer festgelegten Methode oder einer feststehenden Theorie der Vernünftigkeit auf einer allzu naiven Anschauung vom Menschen und seinen sozialen Verhältnissen beruht. Wer sich dem reichen, von der Geschichte gelieferten Material zuwendet und es nicht darauf abgesehen hat, es zu verdünnen, um seine niedrigen Instinkte zu befriedigen, nämlich die Sucht nach geistiger Sicherheit in Form von Klarheit, Präzision, „Objektivität“, „Wahrheit“, der wird einsehen, dass es nur einen Grundsatz gibt, der sich unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertreten läßt. Es ist der Grundsatz: Anything goes.“ 36 Zur Notwendigkeit multidisziplinärer Analyse, M. Kotzur, Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutzes, 2001, S. 17. 37 Der Begriff „unvollständiges Recht“ geht auf D. Schindler zurück, der damit allerdings das Völkerrecht bezeichnete.

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Der retrospektive Blick auf die Präpositivität, also die geschichtliche Bedingtheit des Rechts, ist für den Inhalt des Rechts überaus bedeutsam, er ist für dessen Verständnis aber nicht erschöpfend. Der positive Normtext wird nämlich gleichermaßen von Prä- und Postpositivität umschlossen. Während Präpositivität die vorrechtliche Entstehungsgeschichte einer Norm meint und Positivität die gesetzte Norm bezeichnet, die regelmäßig auch das Reservoir dieser Vorgeschichte bildet, sei mit dem Begriff der Postpositivität die Veränderung des Sinngehaltes der gesetzten Norm im Laufe der Zeit beschrieben, die durch Interpretation, Anwendung, Fortentwicklung, Kommentierung und Dogmatisierung erfolgt38. Mit Postpositivität sei damit ein Phänomen umschrieben, das sich deutlich in der Entwicklung einer jeden Rechtsordnung abzeichnet: die Anwendung und gleichzeitige Überschreitung des Normtextes durch Auslegung39. Postpositivität bezeichnet also jenes Hinausreichen und Hinausgreifen, dass sich nicht aus der textlichen Grundlage selbst ergibt. Es umfasst das vom Zeitpunkt der Positivierung an sich durch „Möglichkeitsdenken“ bzw. „pluralistisches Alternativendenken“ 40 entwickelnde nachpositive Recht. Entgegen der herkömmlichen Interpretationslehre, die auf eine „Explikation der im Gesetz immer schon enthaltenen, aber bislang noch unentdeckten und eingeschlossenen Substanz“ 41 durch die anerkannten Auslegungsmethoden zielt, beschreibt Postpositivität eine evolutive Deutung des hermeneutischen Problems, dass der Wortlaut oftmals keinen Aufschluss über die Bedeutung gibt und reale Maßstäbe nicht präexistent sind42. K. Hesse konstatiert treffend: „Wo nichts Eindeutiges gewollt ist, kann kein wirklicher, sondern allenfalls ein vermuteter oder fiktiver Wille ermittelt werden

38 Dieser dreidimensionalen Perspektive auf das Recht entspricht gewissermaßen auch die Gliederung dieser Arbeit. Der erste Teil widmet sich den rechtshistorischen und rechtphilosophischen Grundlagen, hat die Präpositivität zum Gegenstand. Der zweite Teil beschäftigt sich in Form eines Normtextvergleichs der Konventionssysteme mit dem positiven Recht. Der dritte Teil schließlich gilt Phänomenen und Konsequenzen dessen, was sich als Postpositivität begreifen lässt. 39 In Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention wird dies besonders augenscheinlich und schon im Verständnis der Konvention und durch den Kanon der Auslegungsmethoden expliziert: Sie sei ein living instrument, autonom auszulegen und dynamisch-teleologisch zu interpretieren. Gestützt auf dieses Vorverständnis entwirft der Gerichtshof gänzlich neue Menschenrechte und Grundfreiheiten. Dies erfolgt im Übrigen, obwohl mit den Zusatzprotokollen ein Instrument zur positivrechtlichen Ergänzung zur Verfügung steht. Gleiches gilt für die Rechtsprechung bzw. Rechtsfortbildung des interamerikanischen Systems. Zu den Implikationen und Konsequenzen dieser Praxis eingehend Dritter Teil, E. II. 40 So in Anlehnung an R. Musil und E. Bloch, P. Häberle, Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 3 ff. 41 J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 29. 42 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 2 Rn. 56 f.

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(. . .)“ 43, weshalb juristische Interpretation stets „schöperischen Charakter“ trage und sich der Inhalt der Norm erst in dessen Auslegung vollende44. Die Interpretation des positiven Rechts lässt sich also aufgrund der „Instabilität des Textes“ und der „Nichtexistenz feststehender Bedeutungen“ 45 ohnehin nur sehr bedingt und mit zunehmendem Zeitabstand zur Verkündung immer weniger „auf den ursprünglichen, objektivierten Willen des historischen Gesetzgebers zurückführen“ 46. Jedenfalls hat sich das interpretierte Recht vom Rechtstext, der lex scripta, „abgelöst und Eigenleben gewonnen“ 47. Dieses als Postpositivität bezeichnete „Eigenleben“ tritt dabei umso deutlicher hervor, je fragmentarischer und abstrakter die Rechtsordnung gefasst ist. Sie offenbart sich deshalb vor allem in der für die nachfolgende Untersuchung relevanten, regelungsarmen Materie des Verfassungsrechts und des Völkerrechts, die „keine eindeutigen Maßstäbe“, sondern lediglich „unvollständige Anhaltspunkte für die Entscheidung“ bereithalten48. Denn: „Die höchste Norm der Rechtsordnung ist zugleich die inhaltsärmste“ und im Hinblick auf „Regelungsdichte und Regelungssubstanz (. . .) dem einfachen Recht (. . .) unterlegen“ 49. Das heute geltende und wirksame Recht trägt weitgehend postpositiven Charakter, zentrale Aussagen und Inhalte finden sich schlichtweg nicht im Normtext50. Vielmehr entstammt der Inhalt des Rechts maßgeblich einer interpretatorischen und konstruktiven Leistung51. „Der an sich karge Text wird von üppigen Deutungen überlagert, die in dem Maße, in dem sie

43 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 2 Rn. 56. 44 So K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 2 Rn. 60. 45 So S. Fish, Gibt es einen Text in diesem Kurs?, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 35. 46 J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 29. Überdies ist das auf die Pandektenwissenschaft des 19. Jahrhunderts zurückgehende Willensdogma sehr fragwürdig und wird dem heutigen Rechtsverständnis kaum mehr gerecht. So K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 2 Rn. 55 ff. 47 J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 29. 48 So in Bezug auf das Verfassungsrecht K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 2 Rn. 56. 49 J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 43. 50 Es wäre etwa naiv zu behaupten, dass die ca. 22.000 Wörter des Grundgesetztextes oder die rund 4.500 Wörter der Europäischen Menschenrechtskonvention allein die durch sie konstituierten Rechtsordnungen in ihrer Gänze widerspiegelten, geschweige denn abschließend wiedergäben. 51 Diese Leistung entsteht im Übrigen nicht unter strengem Rückgriff auf den anerkannten Methodenkanon, der für Recht und Rechtspraxis ebenfalls sehr unzureichend ist, vgl. mit Rechtsprechungsbeispielen K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 2 Rn. 57 ff.

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akzeptiert werden, den Wortlaut verdecken (. . .)“ 52. So wird deutlich, dass der Wortlaut der Norm vielfach nicht die Grenze der Auslegung bildet, sondern deren Ausgangspunkt. Der Normtext ist nur der „Anker“ des Rechts, dessen „Kette“ immer länger wird. Die damit entstehende Kluft zwischen ursprünglichem Normbefehl und später beigelegtem Inhalt, die zu wenig eingestanden und wissenschaftlich reflektiert wird, meint Postpositivität. Sie ist deshalb auch kein Neologismus für Überpositivität53, sondern ist hiervon grundlegend zu unterscheiden. Ihr geht es nicht um den naturrechtlichen und damit der staatlichen Konstruktion von Recht vorausgehenden Gehalt der Menschenrechte, deren Unveräußerlichkeit und Unverletzlichkeit. Postpositivität hat deshalb auch in nur sehr geringem Maße mit der jahrhundertelangen und bis in die Gegenwart andauernden54 Kontroverse zwischen Naturrechtslehre und Rechtspositivismus zu tun55. Sie will nicht die Machtlosigkeit des Positivismus gegenüber „ungerechtem Recht“ nachweisen und steht auch nicht für die naturrechtliche Anerkennung etwas Unverfügbarem im Recht. Vielmehr beschreibt sie die Machtlosigkeit des gesetzen Rechts im Gegensatz zum geschöpften Recht durch Auslegung und Anwendung. Postpositivität zielt deshalb nicht auf den Zerfall des Positivimus, sondern deutet – wenn überhaupt – auf einen „dritten Weg“ jenseits von Naturrecht und Positivismus hin56. In erster Linie beschreibt Postpositivität aber den Umstand, dass das durch Rechtsanwendung geschöpfte Recht den Normtext quantitativ und qualitativ um ein Vielfaches übersteigt, sich also die Masse des angewandten Rechts dem Sinn nach nicht allein dem Normtext entnehmen lässt. Sie will demnach vor einer Überhöhung der Bedeutung der Textform warnen. Das gilt es einzugestehen und rechtswissenschaftlich zu reflektieren. In ihr spiegelt sich auch das Radbruchsche Diktum, nach dem der Normanwender das Gesetz besser verstehen kann als dessen Schöpfer57. Anders als nach

52 J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte, Bd. II, 2006, § 26 Rn. 76. 53 Dazu J. Isensee, Positivität und Überpositivität der Grundrechte, in: Handbuch der Grundrechte II, 2006, § 26. 54 Vgl. etwa W. Maihofer (Hrsg.), Naturrecht oder Positivismus?, 3. Aufl. 1981; N. Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, 1989; E.-J. Lampe, Grenzen des Rechtspositivismus, 1988. 55 Diese zusammenfassend A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: A. Kaufmann/W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Aufl. 2011, S. 72 ff. 56 Der Postpositivität lässt sich im Hinblick auf Positivismus und Naturrecht letztlich nur eine Relativierungswirkung entnehmen, die aber beide gleichermaßen betrifft, weil sie beide Richtungen einbeziehen, aber auch ignorieren kann. Zur Idee eines „dritten Weges“ unter anderen Vorzeichen A. Kaufmann, Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, in: A. Kaufmann/W. Hassemer/U. Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage 2011, S. 89 ff. in Anknüpfung an G. Radbruchs Rechtsphilosophie. Dazu auch S. Grote, Auf der Suche nach einem „dritten Weg“: die Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns, 2006.

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G. Radbruchs Auffassung gründet sich dieses „bessere Verstehen“ nach der postpositivistischen Deutung aber nicht darauf, dass das Gesetz klüger sei als seine Verfasser und sich durch Interpretation ein objektiver Sinn der Norm ermitteln ließe58, sondern auf einer konstruktiven Leistung der Normanwender zur Lösung des jeweiligen Rechtsproblems. Der Inhalt des positiven Rechts ergibt sich letztlich nicht aus dem Normtext, sondern aus der Rechtsanwendung. Er entsteht aus einem situativen „Das ist so“ oder „So ist es“, aus einem „Doing What comes Naturally“ 59. Insofern knüpft diese postpositivistische Lesart an den antifundamentalistischen Neopragmatismus von S. Fish an. Danach ist Recht nicht abgeleitetes Produkt einer vorgefundenen (Rechts)ordnung, von festgelegten, unüberwindbaren Prinzipien und Abstrakta, sondern wird erst aus dem Moment heraus gegründet. „Das Recht möchte formal sein“ 60, es ist es aber nicht. Es wird situationsbedingt immer neu geschaffen, improvisiert, stets neu ausgehandelt und erfunden. Rechtsentscheidung und Rechtsschöpfung erfolgen pragmatisch und damit (oftmals) antiessentialistisch und irrational. Die Hoffnung, dass der Formalismus des Rechts dessen Autonomie und Integrität garantiere, ist also eine Chimäre. Spätestens im Moment der Anwendung und damit der Auslegung des Rechts, verliert das Recht seine Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit61. Um es mit den provokanten Worten R. A. Posners auszudrücken, ist „legal reasoning“ als „practical reasoning“ zu verstehen und so wird zurückgegriffen auf „a grab bag that includes anectode, introspection, imagination, common sense, empathy, imputation of motives, speaker’s authority, metaphor, analogy, precedent, custom, memory „experience“, intuition, and induction (. . .)“ 62.

Das erst durch Interpretation geschaffene Recht ist damit eben nicht das Produkt einer „in sich selbst geschlossenen algorithmischen oder mechanischen Kalkulation“ 63. Der Bezug auf den positiven Normtext fungiert demnach oftmals mehr zur Verschleierung des Umstandes, dass das neu erzeugte Recht auf Rhetorik beruht, bereits erster Bestandteil dieser ist64. Insofern gilt das Talleyrand 57 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe der 3. Aufl. von 1932, 2. Aufl. 2003, S. 107. 58 G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Studienausgabe der 3. Aufl. von 1932, 2. Aufl. 2003, S. 107. 59 S. Fish, Doing What Comes Naturally, 1989. 60 S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 112 ff. 61 S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 112. 62 R. A. Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 73. 63 S. Fish, Beinahe Pragmatismus: die Rechtslehren von Richard Posner, Richard Rorty und Ronald Dworkin, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 202. 64 Dazu S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 153 ff. kulminierend in dem Diktum: „Das

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zugeschriebene Diktum „La parole a été donnée á l’homme pour déguiser sa pensée“ 65. Das in der Anwendung erzeugte Recht kann, aber es muss nicht notwendigerweise seinen Rückhalt in der positiven Norm finden. Es reicht, dass es so scheint. Insofern versteht sich diese evolutive Deutung des Rechts faktisch wie normativ als eine Absage an den im US-amerikanischen Rechtsdiskurs viel diskutierten und etwa von A. Scalia prononciert vertretenen „Textualismus“ bzw. „Originalismus“ 66, der eine „rule of the dead“ zur Konsequenz hätte67. Das Recht ist überwiegend nicht präexistent formal, sondern das, was Recht werden soll, wird erst noch formalisiert. Dass dies möglich ist, liegt an zwei von R. A. Posner aufgezeigten signifikanten Unterschieden des Rechts zu anderen Wissenschaftsbereichen. Zum einen zielt Recht primär nicht auf Erkenntnis, sondern auf Rechtfertigung, zum anderen basiert es nicht auf Wahrheit, sondern ganz maßgeblich auf Autorität 68. Erste Ansätze einer Postpositivität und eine vorsichtige Ermächtigung zu dieser finden sich in der Soraya-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgesprochen, auch wenn die Ausführungen primär das Schließen der Lückenhaftigkeit der positiven Rechtsordnung zum Gegenstand haben69. Postpositivität Recht ist zugleich total rhetorisch und damit befasst, seine eigene Rhetorizität auszulöschen.“, a. a. O. S. 156. 65 „Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen“, so C.-M. de Talleyrand in Anlehnung an einen Ausspruch in Voltaires Fabel „Der Kapaun und das Masthuhn“. 66 A. Scalia/B. A. Garner, Reading Law. The Interpretation of Legal Texts, 2012. Die Autoren erblicken im vorherrschenden „purposivism“ und dem Konstruktivismus eine Gefährdung der Rechtssicherheit, der Gleichbehandlung, des demokratischen Prozesses und des Systems der „checks and balances“. 67 J. Rubenfeld, The Moment and the Millenium, George Washington Law Review 66 (1998), S. 1085 ff., insbesondere S. 1104 f. 68 Vgl. R. A. Posner, The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 73 ff. und 79 ff. In Konsequenz dessen stellt R. A. Posner fest: „We come to see law as an uneasy compromise between science, where inquiry is sovereign, and theology, where authority is sovereign.“, a. a. O., S. 91. Die Vertreter eines strikten Gesetzespositivismus oder des „Textualismus“ verkennen diese Axiome bzw. nehmen keine Differenzierung zwischen Erkenntnis und Rechtfertigung bzw. Wahrheit und Autorität vor. Sie versuchen den „wahren“ Willen des Gesetzgebers zu ermitteln, gründen die Autorität auf diesen historischen Willen und rechtfertigen aus ihm den Inhalt der Norm. Im Ergebnis führt dies zu einer „rule by the dead“. Dazu etwa J. Rubenfeld, The Moment and the Millenium, George Washington Law Review 66 (1998), S. 1085 ff., insbesondere 1104 f. Kritisch dagegen F. H. Easterbrook, Textualism and the Dead Hand, George Washington Law Review 66 (1998), S. 1119 ff. 69 BVerfGE 34, 269: „Die traditionelle Bindung des Richters an das Gesetz, ein tragender Bestandteil des Gewaltenteilungsgrundsatzes und damit der Rechtsstaatlichkeit, ist im Grundgesetz jedenfalls der Formulierung nach dahin abgewandelt, dass die Rechtsprechung an „Gesetz und Recht“ gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG). Damit wird nach allgemeiner Meinung ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt. Die Formel hält das Bewusstsein aufrecht, dass sich Recht und Gesetz zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig decken. Das Recht ist nicht mit der Gesamtheit

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hingegen meint weit mehr als die damit maßgeblich skizzierte richterrechtliche Rechtsfortbildung. Sie erschöpft sich nicht in der Bewältigung planwidriger Regelungslücken durch Analogien, Umkehrschlüsse und teleologischer Reduktion. Vielmehr meint sie ganz grundsätzlich, dass Rechtsanwendung stets Rechtsschöpfung bedeutet. Gleichwohl erfolgt dieses konstruierende und damit letztlich auch rechtsetzende Moment nicht contra legem70, sondern lediglich praeter legem. Schließlich kann das postpositiv gereifte und gebildete Recht – quasi dialektisch – den Weg zur Positivität finden. Sofern es eine neue „Textstufe“ 71 erreicht, ist Postpositivität zugleich auch Präpositivität. Ist damit also gesichert, dass sich das geltende und wirksame Recht keineswegs im formalen, positiven Recht erschöpft, sondern weit darüber hinausgreift und schon deshalb die Einbeziehung und Beschäftigung mit dem, was jenseits des Normtextes liegt, geboten ist, verbleibt die weitere Frage nach den Bedingungen der Geltung des Rechts, dessen Umschlagen in Normativität. c) Narration und normative Kraft des (Menschen)rechtsschutzes Die Positivierung des Rechts ändert lediglich den formalen Status. Ehemals Vorrechtliches erhält damit formale Wirksamkeit, normativen Anspruch, aber noch nicht normative Kraft. Ob sich diese einstellt, eine Norm für ihre Adressader geschriebenen Gesetze identisch. Gegenüber den positiven Satzungen der Staatsgewalt kann unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, dass seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag; es zu finden und in Entscheidungen zu verwirklichen, ist Aufgabe der Rechtsprechung. Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinnes auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen, ein Zustand, der als prinzipielles Postulat der Rechtssicherheit vertretbar, aber praktisch unerreichbar ist. Richterliche Tätigkeit besteht nicht nur im Erkennen und Aussprechen von Entscheidungen des Gesetzgebers. Die Aufgabe der Rechtsprechung kann es insbesondere erfordern, Wertvorstellungen, die der verfassungsmäßigen Rechtsordnung immanent, aber in den Texten der geschriebenen Gesetze nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangt sind, in einem Akt des bewertenden Erkennens, dem auch willenhafte Elemente nicht fehlen, ans Licht zu bringen und in Entscheidungen zu realisieren. Der Richter muss sich dabei von Willkür freihalten; seine Entscheidung muss auf rationaler Argumentation beruhen. Es muss einsichtig gemacht werden können, dass das geschriebene Gesetz seine Funktion, ein Rechtsproblem gerecht zu lösen, nicht erfüllt. Die richterliche Entscheidung schließt dann die Lücke nach den Maßstäben der praktischen Vernunft und den fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der Gemeinschaft.“ (Hervorhebungen durch den Verfasser). 70 Dazu J. Neuner, Die Rechtsfindung contra legem, 2. Aufl. 2005. Ebenso K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 360 ff. 71 P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: J. Jekewitz/K. H. Klein u. a. (Hrsg.), Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung: Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag, 1989, S. 555 ff. Ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992.

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ten also Geltung beansprucht, ist eine davon getrennte Frage. Geltung und formale Wirksamkeit fallen nicht notwendig in eins. G. Jellinek konstatiert pointiert: „Eine Norm gilt dann, wenn sie die Fähigkeit hat, motivierend zu wirken, den Willen zu bestimmen. Diese Fähigkeit entspringt aber aus der nicht weiter ableitbaren Überzeugung, daß wir verpflichtet sind, sie zu befolgen. Die Positivität des Rechtes ruht daher in erster Linie immer auf der Überzeugung von seiner Gültigkeit. Auf dieses rein subjektive Element baut die ganze Rechtsordnung auf.“ 72

Recht beruht also letztlich auf psychologischen Elementen, einer „psychischethischen“ Fähigkeit, sich verpflichtet zu fühlen73. Jenseits eines hier nicht weiter in den Blick zu nehmenden kognitionswissenschaftlichen forum internum, dass sich nur unter Zuhilfenahme der Neurobiologie aufschlüsseln lässt, liegt diese Verpflichtungswirkung nach der hier eingenommenen, am Pragmatismus orientierten Perspektive maßgeblich in der Rhetorizität des Rechts und in überzeugenden Narrativen begründet. Dies gilt insbesondere für das Verfassungsund Völkerrecht, deren Autorität aufgrund der ihnen eigentümlichen Durchsetzungsschwierigkeiten ganz maßglich auf „Persuasivität“ beruht74. Exemplarisch für die eminente Bedeutung der Narration im Recht ist die jüngst ergangene kontroverse Entscheidung des EGMR, die das Burkaverbot Frankreichs für zulässig erklärt hat. So erfolgt die durch den EGMR für zulässig erkannte Rechtfertigung des in die Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK) und das Recht auf Privatheit (Art. 9 EMRK) eingreifenden Gesetzes maßgeblich unter Rückgriff auf die besondere Geschichte und kulturelle Identität Frankreichs. In dem vom EGMR zitierten Bericht, der dem Verbotsgesetz voranging, heißt es, die Praxis, eine Burka zu tragen, sei „at odds with the values of the Republic“, wie sie in der Maxime „liberty, equality, fraternity“ zum Ausdruck komme75. Ferner führt das „explanatory memorandum“ zu der Gesetzesgrundlage aus: „France is never as much itself, faithful to its history, its destiny, its image, than when it is united around the values of the Republic: liberty, equality, fraternity. Those values form the foundation-stone of our social covenant; they guarantee the cohesion of the Nation; they underpin the principle of respect for the dignity of individuals and for equality between men and women. These are the values which have today been called into question by the development of the concealment of the face in public places, in particular by the wearing of the full veil.“ 76 72

G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1929, S. 333 f. Vertiefend dazu J. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, S. 355 f. und m.w. N. zum „Grundaxiom“ von G. Jellineks psychologischer Rechtsgeltungslehre. 74 R. A. Posner sieht für Recht bzw. dessen Autorität „force“ und „persuasion“ als maßgebliche Elemente an, ders., The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 83. 75 ECHR, 01.07.2014, S.A.S. v. France, No. 43835/11, Rn. 17. 76 ECHR, 01.07.2014, S.A.S. v. France, No. 43835/11, Rn. 25. 73

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Dieses Beispiel belegt, dass der Rekurs auf soziologische und ethische, also vorrechtliche und stricto sensu außerrechtliche77 Aspekte, der Rechtfertigung und Rechtserzeugung dienlich ist. Vor allem wenn sich die Rechtsordnung über die textliche Grundlage hinausentwickelt und sich Postpositivität ausbildet, ist es notwendig, das Recht durch eine Begleitnarration zu unterlegen, um besagte normative Kraft zu stärken. Das postpositiv überformte Recht im Allgemeinen und das nur sehr begrenzt mit Zwang durchsetzbare Verfassungs- und Völkerrecht im Besonderen erfordern deshalb Narrativität als eine Form der Versicherung des Rechts78. Narrationen beglaubigen den Rechtsinhalt, messen ihm Bedeutung bei79. Die Erzählung ist es, die überzeugt und erzeugt. Narration versichert also nicht nur die Menschenrechte in ihrer positivierten Gestalt, trägt und radiziert sie, stiftet persuasive Kraft, sondern wirkt auch konstruktiv. So erweist sich Narration als Vehikel, den Horizont des Vorgefundenen zu verlassen, die „normative Kraft des Faktischen“ 80 zu überwinden. Narrative sind es, die neben Symbolen und Zeichen eine Integrationsfunktion im Sinne R. Smends erfüllen können. Sie bilden nicht nur das „Sinnreservoir“ des Rechts, sondern können zur Bildung kollektiver Identitäten beitragen. Da der Mensch ein homo narrans ist, liegt in der Narration eine der „letzten psychologischen Quellen des Rechtes“ 81. Ein Narrativ82 ist also ein Amalgam, in dem retrospektive und prospektive Elemente miteinander verknüpft sind, das sich zugleich aus Ängsten und Hoffnungen, Erfahrungen und Erwartungen speist. Er ist ein in die Zukunft gerichteter Deutungs- oder Interpretationsversuch, der Sinngebung zur Aufgabe hat,

77 Treffend für das Recht insgesamt G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1929, S. 350 „Die moderne Jurisprudenz steht in der Art ihrer Ablehnung aller Ideen, die ein Recht neben oder über dem positiven Recht behaupten, auf der Stufe derer, welche die Religionen in die wahren und die falschen einteilt, was sicherlich das historische Verständnis der Gesamtheit der religiösen Erscheinungen unmöglich macht. Was der modernen Rechtswissenschaft mangelt und durch die bloße Konstatierung der Positivität allen Rechtes nicht ersetzt werden kann, ist eine in die Tiefe dringende Lehre von den rechtserzeugenden Kräften.“ 78 Einer der erfolgreichsten Narrative ist jener zur Integration Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, das auch die jüngsten Widrigkeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise überstanden hat. 79 Vgl. U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 82. 80 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1929, S. 338. Den Ursprung dieser sieht Jellinek in einer „weiter nicht ableitbaren Eigenschaft unserer Natur, kraft welcher das bereits Geübte physiologisch und psychologisch leichter reproduzierbar ist als das Neue.“, vgl. ders., ebd. 81 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1929, S. 337. 82 A. Koschorke, Wahrheit und Erfindung: Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, 2012. Für die Rechtswissenschaft etwa G. Frankenberg, Human Rights and Narratives of Justification, Vortrag auf der Jahrestagung des Exzellenzclusters, 2009, abrufbar unter http://www.normativeorders.net/en/news/headlines/37-veranstaltungen/jahres konferenzen/245-panel-iii-human-rights-as-justification-narrative zuletzt abgerufen am 25.08.2014.

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durch den sich Kultur bildet und der Kultur verarbeitet. Solcherlei Narrationen entstehen oftmals aus extremen geschichtlichen Ereignissen, existentiellen Kollektiverfahrungen. Sie können ihren Ursprung gleichermaßen in Vernichtung und Verwüstung83 wie jener auf dem europäischen Kontinent zur Mitte des 20. Jahrhunderts oder aber in historischer Ungebrochenheit von Freiheit und Gleichheit wie in Nordamerika seit mehr als 200 Jahren haben. Narrative enthalten zugleich Elemente des Glaubens und des Mythos. Nicht zuletzt deshalb finden sich narrative Elemente besonders in den Präambeln von Verfassungen, Konventionen und Deklarationen. Solche sind auf allen drei Ebenen des Grund- und Menschenrechtsschutzes erkennbar. Exemplarisch sei auf die Präambel der UN-Charta verwiesen, in der vom „Glauben an die Grundrechte des Menschen“ die Rede ist. Auch in der Präambel der EMRK findet sich eine Bekräftigung des „tiefen Glaubens an diese Grundfreiheiten“. Schließlich weist das deutsche Grundgesetz eine nominatio dei auf, indem im Verfassungsvorspruch auf die „Verantwortung vor Gott und den Menschen“ Bezug genommen wird. Deutlich wird damit nicht nur, dass das positive Recht die Narration einzufangen versucht, sich dieser bedient, sondern insbesondere, dass das Recht seine normative Kraft letztlich vom Glauben an das Recht ableitet. Die Macht des Rechts ist weniger Derivat der ratio, sondern vielmehr des Mythos. Grund hierfür ist, dass der Mensch als anthropologisches Datum einen Hang zu Mythen hat84. Das Glauben ist stärker als das Erkennen, das Erzählen einprägsamer als das Verstehen und die Geschichte(n) bildender als die Fakten. Dies liegt darin begründet, dass die meisten Dinge außerhalb der Erfahrung des Menschen liegen, Erkenntnis real-begrenzt ist und der Rationalität nur eine geringe motivierende Kraft zukommt. Der logos verbirgt sich deshalb häufig im mythos85. Für den Menschenrechtsschutz im Allgemeinen bestehen drei maßgebliche Begleitnarrationen: Die der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, also eine Befriedungsnarration, die von besonderer Wirkmächtigkeit ist, eine die nationalen bzw. staatlichen Grenzen überwindende Narration der Integration, und schließlich ein mit diesen verbundener Narrativ der Universalität der Menschenrechte. Die ersten beiden Begleitnarrationen beanspruchen ohne weiteres auch Geltung für den zu untersuchenden regionalen Menschenrechtsschutz. Im Hinblick auf den dritten wesentlichen Narrativ unterscheiden sich hingegen regionaler und uni83

Vgl. M. Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World, 1971, S. VII. Insofern haftet der Entmythologisierung auch etwas Gefährliches an. Entmythologisierung ist einerseits assoziiert mit wissenschaftlichem Fortschritt und erweist sich zugleich bezogen auf die Mobilisierung normativer Kraft als Rückschritt. Der Vernunft ist insofern eine gewisse Schwäche eigentümlich, wie E. Cassirer in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ aufgezeigt hat. 85 Dazu grundlegend Sokrates Dialog in Platons Gorgias, Rn. 527 ff. Zum Verhältnis von Mythos und Logos in der Entwicklungsgeschichte der griechischen Philosophie W. Nestler, Vom Mythos zum Logos, 2. Aufl. 1942. 84

Einleitung

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verseller Menschenrechtsschutz voneinander. Regionaler Menschenrechtsschutz trägt den Universalitätsnarrativ zwar mit, wie etwa in der Bezugnahme auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in der Präambel der EMRK deutlich wird, ist aber angesichts seiner räumlichen Begrenztheit letztlich Ausdruck der Kontingenz der Menschenrechte. Der erst durch Einbeziehung des Umliegenden erfassbare Gehalt der Menschenrechte und die Notwendigkeit einer normativen Kraft stiftenden Narration erfordern demnach gleichermaßen mindestens eine kursorische Beschäftigung mit den rechtsgeschichtlichen und rechtsphilosophischen Grundlagen, bevor das positive Recht des regionalen Menschenrechtsschutzes in den Blick genommen werden kann.

Erster Teil

Grundlagen und Entwicklungslinien des regionalen Menschenrechtsschutzes Menschenrechtsgeschichte dient dem Verständnis und der Interpretation des geltenden Menschenrechtsschutzes in seiner „historisch-politischen Bedingtheit“ 1. Eine Untersuchung dieser „Bedingtheiten“ zeigt, dass die ideengeschichtlichen Ursprünge des Menschenrechtsschutzes zugleich universell, regional und national sind. Universell sind die Vorläufer der Menschenrechtsidee in dem Sinne, dass nahezu jeder Kultur dieser Grundgedanke vertraut ist. Sie sind ein „Urthema gesellschaftspolitischer Thematik“ 2. Dem liegt die Einsicht zugrunde, dass der Mensch nicht mit sich allein lebt, sondern mit anderen und diese Beziehung zu anderen Subjekten zwangsläufig die Frage nach seinen Rechten und Pflichten aufbringt3. Aus der Gemeinschaft und dem Miteinander folgt die Erfahrung der Verletzlichkeit und als Entsprechung die Trias von Schutzbedürftigkeit, Schutzwürdigkeit und Schutzfähigkeit4 jedes Einzelnen. Diese Universalität im Ursprung ist es, aus der sich jener Universalitätsnarrativ speist, der seine deutlichste Formulierung zur Mitte des 20. Jahrhunderts in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte erfahren hat. Zugleich ist die Menschenrechtsidee aber dahingehend regional, dass jeder Kulturkreis seine kulturellbedingt eigene, typische Menschenrechtsgeschichte aufweist, deren Grundlagen meist moralphilosophischer und religiöser Art sind. Schließlich ist sie national in dem Sinne, dass Grundund Menschenrechte zunächst sehr deutlich in einem national-staatlichen Rahmen artikuliert worden sind, sich in diesem Kontext bis heute die effektivsten Instrumente und Institutionen zu ihrem Schutz finden. Die denkbaren Ausgangspunkte einer geschichtlichen Darstellung der Menschenrechte sind daher mannigfaltig. Gemeinhin beginnt die Abhandlung der Menschenrechtsgeschichte mit den philosophischen Schulen der griechischen Antike, gefolgt von biblischen Büchern und der Schöpfungsgeschichte, die dem Menschen als Ebenbild Gottes eine besondere Stellung zuweist. Alternativ lässt

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E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 1958, S. 15. F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt Bd. I, 1974, S. 25. W. Heidelmeyer (Hrsg.), Die Menschenrechte, 3. Aufl., 1982, S. 11. Dazu K. P. Fritzsche, Menschenrechte, 2. Aufl., 2009, S. 19.

1. Teil: Grundlagen des regionalen Menschenrechtsschutzes

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sich auch am Grunddokument bürgerlicher Freiheit5, der Magna Charta Libertatum6 (1215) oder der Bill of Rights (1689) als erster förmlicher Menschenrechtserklärung anknüpfen, die als Vorläufer der nordamerikanischen und französischen demokratischen Revolution wirkten7. Für den ersten Ansatzpunkt spricht das dort entstandene humanistische Fundament und die deutlichen Bezugnahmen auf den universellen Gehalt der Menschenrechte, für letzteres der Aspekt der rechtlichen Positivierung. Während die letztgenannte, primär angloamerikanisch-französische Entwicklungslinie für die nationale Ebene, also das moderne Verfassungsrecht mit seinen grundrechtlichen Verbürgungen, zweifelsohne von eminenter Bedeutung ist8, gilt es für die Genealogie der Grund- und Menschenrechte in universaler und regionaler Hinsicht die Perspektive noch einmal zu weiten9. Insbesondere ihre überstaatliche Geltung

5 G. Stourzh, Die Begründung der Menschenrechte im englischen und amerikanischen Verfassungsdenken des 17. und 18. Jahrhunderts, in: E.-W. Böckenförde/R. Spaemann (Hrsg.), Menschenrechte und Menschenwürde, Historische Voraussetzungen – säkulare Gestalt – christliches Verständnis, 1987, S. 78 ff. 6 Kritisch K. Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, § 20 Rn. 968, der darauf aufmerksam macht, dass die Magna Charta von 1215 lediglich die Rechte der Ritter stärkte und ebenfalls auf den angloamerikanischen Entwicklungsstrang verweist. 7 Diese als wichtigste Etappen ausweisend etwa T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 1. Vielfach wird verengend allein auf die angloamerikanisch-französische Tradition abgestellt. Überraschend spricht selbst W. Brugger „nur“ von einer zweihundertjährigen Menschenrechtsgeschichte. Ders., Stufen der Begründung von Menschenrechten, Der Staat 31 (1992), S. 25. Insgesamt ist anzumerken, dass diese chronologischen Entwicklungsschemata von den Frühformen der Menschenrechte in Antike und Christentum über die angloamerikanischen und französischen Verfassungskämpfe des 17. bzw. 18. Jahrhunderts, die im 19. Jahrhundert maßgeblich durch die Gewerkschaftsbewegung ergänzte soziale Dimension der Menschenrechte und dem zur sukzessiven Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau führenden feministischen Einfluss im 20. Jahrhundert bis hin zur Gründung der Vereinten Nationen Ausdruck einer kritisch zu betrachtenden „retrospektiven Teleologie“ sind. Eine solche retrospektiv-teleologische Konstruktion und Systematisierung von Geschichte birgt stets das Risiko von historischen Fehldeutungen dergestalt, dass gegenwärtige Überzeugungen in die Dokumente der Vergangenheit hineininterpretiert und zuweilen als das exklusive Produkt eines bestimmten Kulturkreises deklariert bzw. „kulturgenetisch vereinnahmt“ werden. So hellsichtig H. Bielefeldt, Ideengeschichte(n) der Menschenrechte, in: N. Janz/T. Risse (Hrsg.), Menschenrechte – Globale Dimension eines universellen Anspruchs, 2007, S. 179 f. und 184. Es ist daran zu erinnern, dass der „rekonstruktive Charakter“ einer jeden Ideengeschichte leichthin die Vielzahl der Entwicklungsstränge und menschenrechtlichen Rückbezüge verdecken mag. Kritisch verdeutlichen sollte man sich deshalb, dass auch die europäisch-amerikanische, linear-organisch anmutende Entwicklungsgeschichte eher als ein „konflikthaft verlaufender gesellschaftlicher Lernprozess“ zu begreifen ist, ebd. S. 180. 8 Dazu W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl., 2014, § 1 Rn. 10. 9 Für ein enges, offenbar erst bei J. Locke beginnendes Verständnis der Grundrechte beispielhaft ist E. Forsthoff, Grundrechte, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie Bd. III, 1974, S. 922 ff., wie H. F. Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, 1987, S. 15, feststellt.

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1. Teil: Grundlagen des regionalen Menschenrechtsschutzes

und ihr (quasi)universeller Anspruch erklären sich nicht erschöpfend mit Verweis auf die Entwicklung des Verfassungsstaates im 18. Jahrundert, sondern liegen dieser voraus. Nachfolgend wird deshalb ein anderer, dem angloamerikanischfranzösischen Entwicklungsstrang zeitlich vorgelagerter und bisher wenig untersuchter10 Aspekt der Menschenrechtsgenese in den Blick genommen, der die Kultur- und Rechtskreise der beiden in Teil 2 und 3 untersuchten regionalen Menschenrechtsschutzsysteme miteinander verbindet und ein bedeutendes Teilfundament der Menschen- und Völkerrechtsgeschichte darstellt: die spanische Spätscholastik. In diesem Epochenkontext finden sich jene prägenden Elemente und Ursprünge der Vorbedingungslosigkeit und Überstaatlichkeit der Menschenrechte artikuliert, aus denen sich die Narrative der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte, des universellen Anspruchs und der regionalen Integration speisen.

A. Ideengeschichtliche Ursprünge der Menschenrechte in der iberischen Epoche I. Begrenzung und Bedeutung des Spanischen Zeitalters Mit dem Spanischen Zeitalter11 ist eine Völkerrechtsepoche der frühen Neuzeit gemeint, die von 1492 bis 1648 reicht. Sie wird eingerahmt durch die beiden wichtigsten, diese Epoche charakterisierenden und nachhaltig prägenden Ereignisse. Beginn und Ausgangspunkt bilden die Entdeckung der überseeischen Gebiete seit 149212 und die nachfolgende Gründung des ausgedehnten Kolonialreiches in Amerika. Begrenzt und beendet wird die politisch-geistige Vormachtstellung des spanisch-habsburgischen Weltreiches und damit die iberische Epoche durch den Westfälischen Frieden von 1648, in dem sich das Ende des Erosionsprozesses der religiösen Einheit des Okzidents in Form von Reformation und Gegenreformation manifestiert. Diese beiden Prozesse – der externe in Form räumlicher Expansion und der interne in Form des Ringens um die religiöse Konformität – geben dem spanischen Zeitalter sein Gepräge und beeinflussen entscheidend das neuzeitliche Völker- und Menschenrecht. Der zwischen dem Expansionsbeginn und dem Westfälischen Frieden liegende Zeitkorridor der spanischen Machtbildung und des Machtzerfalls lässt sich in drei 10 Dies schon feststellend L. Gschwend/C. Good, Die spanische Conquista und die Idee der Menschenrechte im Werk des Bartolomé de Las Casas, ZRG 2009, S. 217. 11 Diese Bezeichnung als „Spanisches Zeitalter“ geht auf W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 163 ff. und W. Preiser, History of the Law of Nations: Ancient Times to 1648, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law II, 1995, S. 722 ff., S. 738 ff. zurück. 12 Zugleich wird im übrigen mit dem Sieg in Granada die Pyrenäenhalbinsel gänzlich von der maurischen Herrschaft befreit.

A. Ideengeschichtliche Ursprünge der Menschenrechte

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Entwicklungsstufen gliedern, die den Regentschaften Karls I. (Kaiser Karls V.), Philipps II. und des Herzogs von Olivarez zugeordnet werden können13. Es war zunächst die durch Glaubenseinheit und frühe nationale Einheit (1469) begründete Vormachtstellung Spaniens im europäischen Staatengefüge, die die immense außenpolitische Aktionsfähigkeit ermöglichte14. Unter Karl V. wurde diese Machtkonzentration durch die Verbindung Spaniens mit dem habsburgischburgundischen Reich und die Kaiserwahl (1519) noch verstärkt. Diese Hegemonie Spaniens zeitigte zweierlei Konsequenzen: Zum einen basiert darauf die überseeische Kolonisation des 16. Jahrhunderts, die in die erstmalige Berührung und Verbindung zwischen europäischem und (latein)amerikanischem Kontinent mündete und durch die gewaltige Ausdehnung der christlich-okzidentalen Machtsphäre15 jenes kulturell-politische Beziehungsgeflecht schuf, das bis heute nachwirkt. Zum anderen reagierten die anderen europäischen Staaten auf die spanische Machtkonzentration und territoriale Expansion, indem sie sich enger zusammenschlossen. Hierin liegt der Ursprung des bis heute wirkmächtigen Gedankens des europäischen Gleichgewichts16. Zugleich beginnt aber mit der Reformation im Jahre 1517 die religiöse Einheit des Okzidents und damit eine tragende Säule der spanischen Hegemonie zu erodieren. Das Spanische Zeitalter ist somit auch gekennzeichnet durch Schisma und Glaubenskriege innerhalb der res publica christiana17. Unter Philipp II. kommt es dann zur Trennung des spanischen Reiches in einen österreichischen und einen spanisch-niederländischen Teil. Dieser Machtverlust wird zwar partiell kompensiert durch die Vereinigung mit Portugal (1580) und seinen überseeischen Gebieten in Indien und Brasilien, jedoch ist der Zenit der iberischen Hegemonie überschritten. Maßgeblich zum Niedergang beigetragen haben gegen Ende des 16. Jahrhunderts das Vereinigte Königreich Großbritannien und die Niederlande, die unter Negation der päpstlichen Autorität samt der die Monopolkolonialisierung legitimierenden Bullen zunehmend selbst als Akteure der Kolonisation auftraten18. Gaspar de Guzmán, Herzog von Olivarez, versuchte mittels Beendigung der Misswirtschaft, Stärkung der Zentralgewalt und eines Reformprogramms die Macht zu erhalten. Die Ressourcenknappheit und die Verwicklungen Habsburgs 13

W. Windelband, Die auswärtige Politik der Großmächte, 5. Aufl. 1942, S. 65 f. W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 165. 15 K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 28 II 2. 16 K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 28 II 1. 17 Dazu ausführlich J. Engel, Von der spätmittelalterlichen respublica christiana zum Mächte-Europa der Neuzeit, in: J. Engel/T. Schieder (Hrsg.), Handbuch der europäischen Geschichte Bd. 3, Die Entstehung des neuzeitlichen Europa, 4. Aufl. 1994, S. 1 ff. 18 K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 28 II 2. 14

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in den Dreißigjährigen Krieg (1618–1648) belasteten aber zu schwer. Die Friedensverträge von Münster und Osnabrück (Westfälischer Friede) von 1648 beenden schließlich nicht nur die innereuropäischen Konflikte und schaffen mit der Bekräftigung grundsätzlicher Parität der christlichen Konfessionen eine wichtige Grundlage des Ius Publicum Europaeum19, sondern beseitigen auch endgültig die spanische Vormachtstellung und leiten den Beginn des nachfolgenden Französischen Zeitalters ein. Insgesamt ist das Spanische Zeitalter als rechtsgeschichtlich ungemein fruchtbare Epoche anzusehen. Reformation, Renaissance und Humanismus formten einen Entwicklungskontext, der dem wissenschaftlichen Diskurs die zunehmende Befreiung aus den kirchlichen Dogmen ermöglichte20 und entscheidende Impulse gab21. Schließlich ist mit dem iberischen Zeitalter auch der Beginn des atlantischen Sklavenhandels untrennbar verbunden. Die christlichen Seemächte forcierten diesen, um in den lateinamerikanischen Gebieten, in denen die Urbevölkerung durch Konflikte, Zwangsarbeit und Infektionskrankheiten dezimiert war, über ausreichende Arbeitskräfte zu verfügen. Dieser Umstand ist für die weitere Menschenrechtsgeschichte von eminenter Bedeutung.

II. Conquista und Coloniaje – Europäische Expansion in Lateinamerika Den Beginn der iberischen Expansion22 markieren die Entdeckungen von C. Columbus. Nach den Bahamainseln (1492) folgten Jamaika, Haiti und Kuba 19 Begründend Abbé Gabriel Bonnot de Mably mit seiner Schrift „Le Droit Public de l’Europe, fondé sur les traités“ aus dem Jahr 1748. 20 Auch wenn dabei eine stärkere Bindung der spanischen Vertreter der Spätscholastik an die katholische Kirche als die der protestantischen Völkerrechtsklassiker (A. Gentili, H. Grotius) nicht zu verkennen ist. 21 So fallen in die spanische Epoche richtungsweisende Theorien und Deutungen des neuzeitlichen Staates wie die von N. Machiavelli, der mit seinen Thesen zu Macht und Machterhalt die Idee der Staatsraison prägte oder J. Bodin, der in seinen Les six Livres de la République das bis heute wesentliche Prinzip der Souveränität ausarbeitete (dazu Teil 3 A.). Die gesellschaftlichen Entwicklungen und die Staatenpraxis erfuhren ebenso eine theoretische Reflexion. So ist H. Grotius’ im Exil entstandenes Werk De iure belli ac pacis libri tres auch als Reaktion auf die vorherrschende Praxis der Staatsverträge zur Regelung zwischenstaatlicher Angelegenheiten zu verstehen, das ausgeprägte Gesandtschaftwesen dieser Zeit erfährt eine Auseinandersetzung in A. Gentili’s Schrift De legationibus libri tres und der Revisionsdiskurs über die aus dem Mittelalter tradierte Lehre vom bellum iustum wird unter anderem von protestantischen Reformern wie M. Luther und P. Melanchthon mitgeführt. Begünstigende Fortschrittsfaktoren dieser Epoche waren u. a. die Erfindung des Buchdrucks und eine gemeineuropäische Verständigungsmöglichkeit durch die lingua franca Latein. 22 Grundlegend dazu in historischer Perspektive W. Reinhard, Geschichte der europäischen Expansion, Bd. I, 2009; H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006,

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(1511). Beträchtlichen Zugewinn bedeuteten die Eroberung des Azteken-Reiches in Mexiko durch H. Cortez (1519–1521) und des Inka-Reiches durch F. Pizarro (1531–1534), das neben dem Hochland von Peru und Bolivien Teile des heutigen Kolumbien und Chile umfasste und nun zum weitausgedehnten spanischen Vizekönigreich Peru wurde23. Zu diesem Zeitpunkt erfolgt ein Paradigmenwechsel: Die bisherige Periode der Conquista weicht der Coloniaje. War bis dahin die iberische Expansion geprägt gewesen von ungeordneter, tendenziell willkürlicher Exploration und Exploitation der überseeischen Gebiete durch einzelne Seefahrer und Abenteurer, herrschte nunmehr eine organisierte, staatliche Kolonialpolitik einschließlich umfassender Gesetzgebung vor24. Diese koloniale Ausdehnung war von Beginn an gepaart mit der christlichen Mission – Handelsmonopol und Missionsmonopol waren ineinander verschränkt25. Die rechtliche Legitimationsgrundlage der europäischen Expansion in Übersee liegt primär in den päpstlichen Lehnsedikten von 1493, insbesondere in dem in der Bulle Inter caetera von Papst Alexander VI. ausgesprochenen Appell, „dass die barbarischen Völker unterworfen und zum wahren Glauben geführt werden“ (barbaricae nationes deprimantur et ad fidem ipsam reducantur) sollen und die entdeckten Gebiete den belehnten Monarchen zustehen (donamus, concedimus, assignamus)26. Obgleich die juristische Bedeutung und Tragweite des Inter caetera-Edikts damals wie heute umstritten ist27, sahen sich die spanischen Konquistadoren daraus faktisch als legitimiert und verfügungsberechtigt an. Zugleich enthielt die Bulle Inter caetera auch das allgemeine Verbot, in die Kolonialsphäre einzudringen, womit die Negation der Meeres-, Handels- und Schifffahrtsfreiheit verbunden war, so dass die ausschließliche iberische Seeherrschaft aufrecht erhalten werden konnte. Neben diesem Erwerbstitel finden sich aber auch die aus dem römischen Recht entstammende occupatio bellica, Kolonial- oder Unterwerfungsverträge und das Recht auf christliche Intervention und Mission als weitere Rechtstitel. Insgesamt hat die überwiegend gewaltsam erfolgte Evangelisierung und Kolonialisierung Lateinamerikas die vorhandenen Hochkulturen Lateinamerikas weitgehend zerstört, der Urbevölkerung christliche Vorstellungen oktroyiert und damit ein fremdes kulturelles Fundament geschaffen.

S. 11 ff.; S. Rinke, Geschichte Lateinamerikas. Von den frühesten Kulturen bis zur Gegenwart, 2010, S. 22 ff. 23 Vgl. K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 28 II 2. 24 A. Rein, Die europäische Ausbreitung über die Erde, 1931, S. 127. 25 K.-H. Ziegler, Völkerrechtliche Aspekte der Eroberung Lateinamerikas, ZNR 23 (2001), S. 1. 26 K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 29 IV 1a). 27 So W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 277 f.

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III. Das menschen- und völkerrechtliche Vermächtnis der spanischen Spätscholastik als Reaktion 1. Legitimationsdiskurs und Oppositionsbestrebungen – die Schule von Salamanca Christliche Mission und gewaltsame Kolonisation in Übersee provozierten grundsätzliche Fragen des Völker- und Menschenrechts28. Diese bildeten den zentralen Erörterungsgegenstand der Moraltheologie des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts. Die politische Bedeutung Spaniens fand somit eine geistige Entsprechung, deren Anliegen es war, den rechtlichen Status von iberoamerikanischen Staaten und Völkern zu analysieren. Während der methodische Zugriff im Zeitalter der Kreuzzüge ins Heilige Land und der fast siebenhundertjährigen iberischen Reconquista primär theologisch geprägt war und daher die Thematik im engen Zusammenhang mit religiösen Dogmen erörtert wurde, prägten den Diskurs im Spanischen Zeitalter zunehmend auch juristische Ansätze und Perspektiven29. In der Auseinandersetzung mit den indianischen Ureinwohnern ist erstmals eine Überlagerung der bloßen Stigmatisierung des Anderen, Fremden, „Ungläubigen“ außerhalb der Res Publica Christiana in Form von Versachlichung und Rationalisierung erkennbar. Die diesen Diskurs tragende Oppositionsbewegung formierte sich ganz überwiegend als Reaktion auf die rücksichtslose Ursurpation Lateinamerikas und setzte sich sowohl aus Praktikern in Form von Missionaren und Bischöfen als auch aus Gelehrten an den spanischen Universitäten zusammen30. Kern dessen bildet die „Schule von Salamanca“, zu der vor allem die Dominikaner Francisco de Vitoria (ca. 1483–1546), Domingo de Soto (1494–1560), Melchior Cano (1509–1560), der Franziskaner Alfonso de Castro (1495–1558) und der Jesuit Francisco Suárez (1548–1617) gehörten. Auf sie geht nicht nur die Lehre von einer universellen Völkergemeinschaft zurück31, sondern sie leisteten auch eine kritische Reflexion der Kolonialisierung. Von zentraler Bedeutung für die Menschenrechtsgeschichte sind vor allem die beiden Vorlesungsniederschriften (relectiones) Francisco de Vitoria’s „De Indis 28

K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 31 II 1. Dennoch blieben auch in dieser Epoche die Protagonisten noch die Moraltheologen. Die These, dass die spanischen Moraltheologen die tatsächlichen Begründer des neuzeitlichen Völkerrechts sind, ist vielfach bestritten worden. Vgl. K. Ziegler, Völkerrechtliche Aspekte der Eroberung Lateinamerikas, ZNR 23 (2001), S. 5 mit Verweis auf A. Nussbaum, A Concise History of the Law of Nations, 2. Aufl. 1954, S. 296 ff. 30 J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, S. 210 f. 31 Vgl. A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 32 unter anderem mit Verweis auf J. Soder, Die Idee der Völkergemeinschaft, 1955, S. 52 ff., S. 80 ff.; D. Dörr, Die „Wilden“ und das Völkerrecht, VRÜ 24 (1991), S. 374 ff.; U. Matz, Vitoria, in: H. Maier/H. Rausch/H. Denzer (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. I, 6. Aufl. 1986, S. 222 ff.; A. Verdross, Die Würde des Menschen als Grundlage der Menschenrechte, EuGRZ 1977, S. 208. 29

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recenter inventis“ (Von den kürzlich entdeckten Indianern) und „De iure belli Hispanorum in barbaros“ (Vom Recht des Krieges der Spanier gegen die Barbaren), die sich mit den durch die Eroberung Lateinamerikas provozierten Fragen beschäftigten, ob die päpstliche Schenkung Alexanders VI. durch die Bulle Inter caetera rechtmäßig war, es sich um einen bellum iustum handelte und wie die Rechtsstellung der Indianer einzuordnen sei. In diesem Legitimationsdiskurs der Coloniaje positioniert sich Vitoria durchaus kritisch. Nach seiner Auffassung hat der Papst mit der Schenkung überseeischer Gebiete seine Befugnis überschritten. Kein Mensch – weder Papst noch Kaiser – könne eine solch weitreichende Herrschaft beanspruchen. Zudem umfasse seine Aufgabe nicht die Ausübung staatlicher oder zeitlicher Macht; vielmehr käme ihm allein spirituelle Prävalenz zu. Gegenüber der zweiten Legitimationsfigur der Kolonialisierung führt Vitoria aus, dass es durchaus einen bellum iustum ex utraque parte geben könne, also einen beiderseits gerechten Krieg und nur zur Verteidigung als ultima ratio Waffengewalt angewendet werden dürfe. Ferner relativierte er unter naturrechtlicher Begründung die angebliche Inferiorität der Indios, indem er von der Gleichberechtigung aller Menschen ausgeht32 und spricht ihnen gemäß den Feststellungen des Konzils von Konstanz (1514) sogar das nicht verwirkbare Recht auf Eigentum zu. Darüber hinaus postulierte er elementare Schranken auch im Krieg gegen Ungläubige, wonach es etwa nicht erlaubt ist, Frauen und Kinder zu töten33. Hier zeichnet sich deutlich Vitorias Vermächtnis ab: Während bis dahin überwiegend dem Naturrecht allein objektive Bedeutung beigemessen worden war, sprach Vitoria ihm auch den Charakter von subjektiven Rechten zu34. Durch die dem Rechtsinhaber eingeräumte Verfügungs- und Bestimmungsmacht (facultas) subjektivierte sich der Begriff des Rechts, verband sich mit der Idee der Freiheit und bildete das Fundament moderner Menschenrechte35. Aus diesen basalen Überlegungen und Argumentationsfiguren – und nicht erst aus dem Kontext der Verfassungsentwicklungen des 18. Jahrhunderts – speisen sich jene Narrative der vorbedingunglosen, jedem Menschen zukommenden und damit universalen Rechte, die bis in die Gegenwart Wirkung entfalten. Neben Vitoria beschäftigen sich aber auch andere Autoren mit der Rechtsstellung der Indios. So ist sie auch zentraler Gegenstand der Schriften De libertate 32 Siehe etwa R. Grawert, Francisco de Vitoria. Naturrecht – Herrschaftsordnung – Völkerrecht, Der Staat 39 (2000), S. 116 f.; H. F. Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, 1987, S. 58 ff. 33 Vgl. m.w. N. K.-H. Ziegler, Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 2007, § 31 II 2. 34 C. Starck, Die philosophischen Grundlagen der Menschenrechte, in: P. M. Huber/ M. Brenner/M. Möstl (Hrsg.), Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel, Festschrift für Peter Badura, 2004, S. 562 f. 35 E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 354 f.

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indorum und Tractatus de bello contra insulanos von Juan de la Peña (1513– 1565), der das spanische Verhalten in Übersee massiv kritisiert. Francisco Suárez, dessen Œuvre überwiegend religiöse Problematiken zum Gegenstand hat, verdankt die Völkerrechtswissenschaft die bedeutsame Differenzierung des ius gentium in zwischenstaatliches (inter se) und innerstaatliches Recht (intra se). Sein Denken erweist sich allerdings insoweit als reaktionär, als dass er Vitoria’s Lehre vom bellum iustum ex utraque parte ablehnt. Eine Relativierung dieser im Grundsatz fortschrittlichen Überlegungen ist darin zu sehen, dass sowohl Francisco de Vitoria als auch Francisco Suárez letztlich ein Recht auf notfalls auch gewaltsame Missionierung vertraten36 und – da mangels Berührung der Eingeborenen mit Europa die mittelalterliche Strafkriegstheorie nicht mehr passte – eine die Kolonisationsbestrebungen legitimierende neue Konstruktion schufen37. Anderes gilt allerdings für Bartolomé de Las Casas, der zunächst noch an der spanischen Eroberung Kubas zwischen 1512 und 1514 durch Diego Velázquez de Cuéllar teilgenommen hatte38. Er lehnte dieses Vorgehen und etwaige Rechtstitel entschieden ab. Bartolomé de Las Casas ist es auch, der – soweit rekonstruierbar – erstmals den Begriff der Menschenrechte (derechos humanos) in der Geschichte der Neuzeit verwendete39. 2. Inkurs: Menschenrechtliche Perspektiven und Positionen im Werk Las Casas’ Bartolomé de Las Casas gilt als bedeutender Protagonist der Menschenrechte40 in dieser Zeit, weshalb er auch als „Anwalt der Unterdrückten“ bezeich36

A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 33. W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984, S. 241 ff. 38 Dazu A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 34 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Kurzgefaßter Bericht von der Verwüstung der Westindischen Länder, 2006 und J. Meier, Bartolomé de Las Casas, die Kommunität des Predigerordens in Santo Domingo und die untergegangenen Völker der Karibik, in: J. Meier/A. Langenhorst (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, 1992, S. 28 ff. Allgemein sind die Rolle und das Verdienst von Bartolomé de Las Casas aus rechtswissenschaftlicher Perspektive bisher nur unzureichend gewürdigt worden. Als tiefere Analyse erweist sich allein L. Gschwend/C. Good, Die spanische Conquista und die Idee der Menschenrechte im Werk des Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 126 (2009), S. 217 ff., an der sich der nachfolgende Inkurs maßgeblich orientiert. 39 A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 33 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Traktat über die Indiosklaverei, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 3/1, 1996, S. 82; dazu auch L. Gschwend/C. Good, Die spanische Conquista und die Idee der Menschenrechte im Werk des Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 126 (2009), S. 236. 40 Kaum eine andere Kolonialmacht hat – zeitgleich zu den eigenen Bestrebungen – Selbstkritik von solcher Rücksichtslosigkeit hervorgebracht. Dennoch galt Las Casas 37

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net worden ist41. Las Casas hat nicht nur den Begriff Menschenrechte (derechos humanos) geprägt, soweit dies heute noch rekonstruierbar ist, sondern auch eine nähere Erläuterung von Inhalt und Herkunft der Menschenrechte versucht. In seinem erst posthum erschienenen „Traktat über die königliche Gewalt“ entwickelt er Begriff und Herkunft der Menschenrechte, indem er Freiheit und Gleichheit als bürgerliche Rechte deklariert und unter Rückgriff auf die Institutionen des Gaius ihren Ursprung auf die Gründung des Staates zurückführt42. Zu ihrer weiteren Begründung verweist er auch auf die Vernunft, das Naturrecht und das Gebot der Liebe43. a) Gleichheit Ein zentraler Aspekt in Las Casas’ Schriften ist die Gleichwertigkeit und Gleichartigkeit von Spaniern und Indios. Besonders bemerkenswert ist, dass sich Las Casas in seiner 1550 entstandenen „Kurzen apologetischen Geschichte“, aber auch in der „Geschichte Westindiens“ und anderen Schriften, an einer konkreten, geradezu empirischen Beweisführung der Ebenbürtigkeit der Indios mit den Kolonialisten versucht44. Seine anthropologischen Untersuchungen45 münden unter lange Zeit als Schande der Nation und wurde wenig beachtet, wenn nicht sogar totgeschwiegen. In Spanien galt sein Werk sehr lange als kritisch, und man bewertete seine Berichte oftmals als Teil der „leyenda negra“ (J. Juderías), der „Schwarzen Legende“ von der besonderen Grausamkeit der Spanier. So versuchte Ramon Menendez Pidal sogar zu beweisen, dass Las Casas geisteskrank gewesen sein müsse. Während des Franco-Regimes versuchte man ihn als jüdisch zu diffamieren. Die sog. „Schwarze Legende“ zeitigte so weitreichende Auswirkungen, dass sie selbst in den Werken der Weimarer Klassik präsent ist, wie an dem Trauerspiel Egmont von J. W. Goethe und F. Schillers Drama Don Carlos deutlich wird. Die Spanienfeindlichkeit ist auch bis in die bildende Kunst vorgedrungen wie an den Illustrationen des Kupferstechers Theodor de Bry deutlich wird. 41 So etwa M. Gillner, Bartolomé de Las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents: das friedensethische Profil eines weltgeschichtlichen Umbruchs aus der Perspektive eines Anwalts der Unterdrückten, 1997. 42 So L. Gschwend/C. Good, Die spanische Conquista und die Idee der Menschenrechte im Werk des Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 126 (2009), S. 237. 43 A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 33 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Traktat über die Indiosklaverei, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/1, 1996, S. 82; M. Sievernich, Einleitung: Las Casas und die Sklavenfrage, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 3/1, 1996, S. 64. 44 Um die vorherrschende Geringschätzung der indianischen Kultur zu entkräften, enthalten seine Ausführungen ein erhebliches Maß an kasuistischem Material aus allen Facetten des gesellschaftlichen Lebens, das geeignet ist, über alle kulturellen Grenzen hinweg die Gleichheit der altamerikanischen Eingeborenen vermöge ihrer Fähigkeiten und Charakterzüge unter Beweis zu stellen. 45 Las Casas schreibt den Indios (idealisierend) bestimmte Attribute wie etwa Treue, Geduldigkeit, Harmlosigkeit, Bescheidenheit, Demut, Sanftmut, Friedlichkeit zu und trägt so auch zur Entstehung des Bildes vom „edlen Wilden“ bei, das vor allem in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts bei J.-J. Rousseau, Chateaubriand und K. May

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Rückgriff auf Cicero und Thomas von Aquin in der Annahme einer wertmäßigen Einheit des Menschengeschlechts46. Alle Menschen seien gleichermaßen von Gott erschaffene Vernunftwesen, die aufgrund ihrer Gottesebenbildlichkeit mit identischen Fähigkeiten und Eigenschaften versehen seien. Auch das christliche Gebot der Nächstenliebe verlange Gleichberechtigung und gegenseitigen Respekt. Obgleich es sich bei den Indios um Heiden handele, seien sie – so Las Casas – als gleichartig anzusehen und zu respektieren. Er bezieht damit einen diametralen Standpunkt zu der unter anderem von Juan Ginés de Sepúlveda prononciert vorgetragenen These, die amerikanischen Eingeborenen seien minderwertige Wesen (sog. homunculi) und damit als natürliche Sklaven zu klassifizieren47. b) Freiheit Auch die lascasanischen Äußerungen zur Freiheit sind bemerkenswert, wenngleich eine deutliche Vorrangigkeit der Gleichheit erkennbar ist. Denn die Freiheit folgt für Las Casas erst aus der schöpfungsbedingten Gleichheit und Ebenbildlichkeit Gottes. Die gleiche Natur aller Menschen veranlasst Las Casas in seinem „Traktat über die königliche Gewalt“, gestützt auf Decretum Gratiani D. 1, c. 7, festzustellen, dass alle Menschen von Geburt an frei seien48. Nach seinem Verständnis gibt es aufgrund dieser schöpfungsbedingten Gleichheit keine irdische Macht, die berechtigt sei, die Freiheit der Menschen ohne deren eigenes Verschulden zu beschränken49. eine Rezeption erfahren hat, so L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 239. 46 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 242 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Kurze apologetische Geschichte, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 2, 1995, S. 376 ff. 47 J. G. de Sepúlveda konstatiert, dass die Versklavung im Zuge der Encomienda heilsbringend sei, da diese die Indios von Barbaren in zivilisierte Menschen verwandele, vgl. J. Bordat, Gerechtigkeit und Wohlwollen – Das Völkerrechtskonzept des Bartolome de Las Casas, 2006, S. 50. Diese das Zivilisationsrecht der spanischen Krone legitimierende Argumentation Sepúlveda’s basiert maßgeblich auf dem aristotelischen Barbarenbegriff und dem daran anknüpfenden thomistischen Naturrecht, demgemäß es innerhalb eines Volkes „geborene Untertanen“ gibt und das Herrenvolk legitimiert sei, über die weniger Vernunftbegabten zu herrschen und zu verfügen. Vgl. zur Legitimation der Sklaverei durch Naturrecht nach Thomas, H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1990, S. 66. 48 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 243 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Traktat über die königliche Gewalt, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/ 2, 1997, S. 197. 49 E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 371. Auch A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 33 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Das achte Heilmittel, Neunter Vernunftgrund, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2, 1997, S. 121.

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Sein Freiheitsverständnis konkretisiert Las Casas dahingehend, dass dem Menschen als einem vernunftbegabten Wesen zwangsläufig Entscheidungs- und Willensfreiheit zuzuerkennen sei50. Er greift damit den aufklärerischen Positionen des 18. Jahrhunderts vor. Aus dem freien Willen wiederum deduziert Las Casas die Freiheit über die eigene Person und diejenige, über eigene Güter verfügen zu können51. Er bereitet somit nicht nur den Boden für die persönliche Freiheit, sondern auch für die Privatautonomie und das Privateigentum52. So konstatiert er in Bezug auf letzteres, dass niemand befugt sei, einem anderen Menschen – ganz gleich ob Christ oder Heide – etwas wegzunehmen53. In diesen Ausführungen scheint aufgrund der von Religionszugehörigkeit unabhängigen Gewährleistung des Eigentums jenes Menschenrecht auf, welches von G. Jellinek später als das „Urgrundrecht“ bezeichnet worden ist: die Religionsfreiheit. Zwar erkennt auch Las Casas die Evangelisierung der lateinamerikanischen Ureinwohner als Hauptaufgabe und Legitimationsgrund der Kolonialisierung an, doch darf nach seinem Verständnis die christliche Missionierungspflicht nur mit friedlichen Mitteln (violentia persuasiva), also durch die „Überzeugung des Verstandes sowie durch Anlockung, Motivierung und Ermahnung des Willens“ 54, erfüllt werden55. Nach Las Casas muss „es der freien Willensentscheidung eines jeden überlassen bleibe(n), zu glauben oder nicht.“ 56. Folglich verurteilt er die gewaltsame Missionierung der indigenen Bevölkerung als mit dem christlichen Gebot der Nächstenliebe unvereinbar57. Ferner ist nach seinem Verständnis die 50 A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 33 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Einige Rechtsprinzipien, Drittes Prinzip, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. III/1, 1996, S. 47; Bartolomé de Las Casas, Traktat über die königliche Gewalt, Vier Prinzipien, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 3/2, 1997, S. 197. 51 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 243 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Traktat über die königliche Gewalt, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/ 2, 1997, S. 198. 52 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 243 f. 53 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 245 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Das achte Heilmittel, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl, Bd. 3/2, 1997, S. 96. 54 Bartolomé de Las Casas, Die einzige Art der Berufung aller Völker zum Christentum, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 1, 1994, S. 126. 55 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 248. 56 Bartolomé de Las Casas, Traktat über die königliche Gewalt, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2, 1997, S. 201. 57 Las Casas stellt u. a. fest, dass die „Herren“ der Indios selbst keine fundierten Kenntnisse des christlichen Glaubens aufwiesen, vgl. G. Gutiérrez, Gott oder das Gold. Der befreiende Weg des Bartolomé de Las Casas, 1990, S. 56. und sieht die Eingeborenen zu Papageien herabgewürdigt, indem man sie ohne ausreichende Schulung Gebete

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Strafe für die Ungläubigen dem „letzten Gericht“ vorbehalten58, wodurch er gewaltsame Missionierungsbestrebungen delegitimiert. Schließlich ist in Las Casas’ dezidiertem Interesse an den indianischen Naturreligionen eine deutliche Respektsbekundung zu erkennen59. Irritierend und mit seinem Freiheitsverständnis im Widerspruch, erscheinen indes die Aussagen Las Casas’ im Hinblick auf die Sklaverei. Zwar konstatiert er in Auseinandersetzung mit dem aristotelischen Barbarenbegriff, dass die Indios nicht „Sklaven von Natur“ aus bzw. „geborene Untertanen“ sein könnten, doch gibt die 1516 von ihm verfasste Schrift „Memorial de remedios para las indias“, in der er die Substitution der weniger belastbaren Indios durch afrikanische Sklaven empfiehlt60, Anlass, an der Glaubhaftigkeit seiner menschenrechtlichen Position zu zweifeln. Zumindest revidiert Las Casas diese irritierend-inkonsequente Empfehlung an den spanischen König einige Dekaden später, spricht von ihr als einem unklugen „Rettungsmittel“ 61 der indigenen Bevölkerung, fürchtet aufgrund seiner früheren Aussagen das göttliche Gericht62 und deklariert die Versklavung von Afrikanern gleichermaßen als inakzeptabel. Schließlich folgert er: „Alle Indios, die im Westindien des Ozeanischen Meeres von seiner Entdeckung an bis heute zu Sklaven gemacht wurden, sind unrechtmäßig versklavt worden“ 63. Seine Ablehnung und vehemente Kritik gegenüber dem Sklavenhandel gründet er unter anderem auf den römisch-rechtlichen Grundsatz des neminem laedere, die menschliche Vernunft, das christliche Gebot der Nächstenliebe, das kanonische Recht und auf Passagen aus dem Corpus Juris Civilis sowie auf

sprechen lasse, J. Höffner, Christentum und Menschenwürde – Das Anliegen der spanischen Kolonialethik im Goldenen Zeitalter, 1947, S. 149, zitiert nach L. Gschwend/ C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 247. 58 Bartolomé de Las Casas, Traktat über die königliche Gewalt, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2, 1997, S. 201. 59 Diese reicht soweit, dass er selbst die Praxis der Menschenopfer versucht, als Form der hingebungslosen Gottesverehrung zu erklären und zu rechtfertigen, vgl. L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 247. 60 Dazu M. Sievernich, Las Casas und die Sklavenfrage, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/1, 1996, S. 65 f. und M. Gillner, Bartolomé de Las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents, 1997, S. 38, zitiert nach L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 245. 61 Nach H. M. Enzensberger ist Las Casas damit Opfer seines taktischen Geschicks geworden, ders., Las Casas oder Ein Rückblick in die Zukunft, S. 144 in: Deutschland, Deutschland unter anderm. Äußerungen zur Politik, 1967, S. 123 ff. 62 Bartolomé de Las Casas, Geschichte Westindiens, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 2, 1995, S. 281 63 Bartolomé de Las Casas, Traktat über die Indiosklaverei, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/1, 1996, S. 67.

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Schriften von Bartolus de Saxoferrato und Baldus de Ubaldis64. Nach Las Casas ist bereits aufgrund des evidenten und eklatanten Verstoßes gegen das neminem laedere-Prinzip die gesamte Versklavung der lateinamerikanischem Ureinwohner unrechtmäßig65. c) Politische Selbstbestimmung Bemerkenswert sind auch die Ausführungen Las Casas’ zur Selbstbestimmung der indigenen Bevölkerung. In seiner staatsphilosophischen Schrift „Dreißig Rechtssätze“ von 1552 geht er von einem natürlichen Recht der Völker aus, frei und unabhängig eine eigene Herrschaft zu etablieren, weshalb den Indios Verwaltung und Jurisdiktion grundsätzlich zu überlassen seien66. Die Unterwerfung der indigenen Bevölkerung ist ausweislich Las Casas’ „Traktat über die Schätze Perus“ aus dem Jahre 1562 nur in Form eines Unterwerfungsvertrages legitim, also durch freiwillige Zustimmung des Volkes67. Nach dieser kontraktualistischen Vorstellung folgen daraus bestimmte Garantien und Schutzverbürgungen der spanischen Krone gegenüber den Indios, während diese im Gegenzug zu Treue, Gehorsam und Tributzahlung verpflichtet werden68. Sein von (vertragstheoretischer) Selbstbestimmung geprägtes Verständnis basiert dabei nicht nur auf der bereits skizzierten natürlichen Freiheit, sondern auch auf dem von ihm in zahlreichen Exkursionen beobachteten hohen Zivilisationsgrad der Indigena69.

64 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 237. 65 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 237 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Traktat über die Indiosklaverei, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/1, 1996, S. 67. Vgl. zu Las Casas’ Position zur Beendigung der Sklaverei auch M. Gillner, Entwicklung und Defizite der Menschenrechte, JCSW 39 (1998), S. 151 ff. 66 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 251 mit Verweis auf M. Delgado, Universalmonarchie, translatio imperii und Volkssouveränität bei Las Casas. Das prozesshafte Entstehen einer politischen Theorie zwischen Mittelalter und Neuzeit, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/1, 1996, S. 170. 67 M.w. N. L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 250. 68 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 250 f. mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Das achte Heilmittel, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2, 1997, S. 98 und Bartolomé de Las Casas, Traktat über die zwölf Zweifelsfälle, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2, 1997, S. 279 ff. Ebenso M. Gillner, Bartolomé de Las Casas und die Eroberung des indianischen Kontinents, 1997, S. 130. 69 Vgl. L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 249.

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Pointiert konstatiert Las Casas hinsichtlich politischer Selbstbestimmung und Souveränität in seinem Traktat „Einige Prinzipien zur Behandlung der westindischen Frage“ von 1552: „Alle Nationen und Völker, wie ungläubig sie auch immer sein mögen, die Länder und unabhängige Reiche besitzen, die sie von Anfang an kultiviert und bewohnt haben, sind freie Völker, die dem Recht nach keinen Höheren neben sich anerkennen außer den ihren. Ihr Oberer oder ihre Oberen haben die volle Macht und die Rechte des höchsten Fürsten in ihren Reichen, wie sie jetzt der Kaiser im Reiche hat70.“

Obgleich Las Casas’ fortschrittliche Perspektiven71 im Kontext anderer seiner Schriften zuweilen kritisiert und relativiert scheinen72, ist er dennoch Verfechter einer Beschränkung des Legitimationsargumentes der päpstlichen Schenkung und der translatio imperii-Lehre, begreift sie als eine potestas spiritualis, auf die Evangelisierung reduziert und tritt für eine naturrechtlich begründete Volkssouveränität ein73. Die päpstliche Herrschaft über die Ungläubigen besteht danach nur in potentia und könne sich ausschließlich im Falle einer freiwilligen Hinwendung zum christlichen Glauben in eine Herrschaft in actu transformieren; erst dann werde aus dem ius ad rem ein ius in re74. Bis zu einer solchen freiwilligen Bekehrung und einem zwangfreien Unterwerfungsvertrag sei jede Herrschaft und Verfügung über die indigene Bevölkerung unrechtmäßig75. Gewissermaßen zur Sicherung der Selbstbestimmtheit und Souveränität der Ureinwohner Lateinamerikas und zur Sanktion etwaiger Verstöße postuliert Las Casas ein bemerkenswert weit verstandenes individuelles Widerstandsrecht gegen tyrannische Herrschaft76.

70 Bartolomé de Las Casas, Einige Rechtsprinzipien zur Behandlung der westindischen Frage, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/1, 1996, S. 50. 71 Vgl. auch J. Bordat, Gerechtigkeit und Wohlwollen – Das Völkerrechtskonzept des Bartolomé de Las Casas, 2006, S. 127. 72 Beispielhaft ist Las Casas’ kurz zuvor im Jahre 1549 verfasstes „Traktat zur Begründung der souveränen kaiserlichen Herrschaft und des universalen Fürstenamtes der Könige von Kastilien und León über Westindien“, in dem er den Anspruch der spanischen Krone auf den gesamten Globus, gestützt auf päpstliche Schenkung, behandelt. 73 M. w. N. L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 251. 74 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 251 f. 75 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 252 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Traktat über die Schätze Perus, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/1, 1996, S. 296. 76 So L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 252 mit Verweis auf Bartolomé de Las Casas, Traktat über die zwölf Zweifelsfälle, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2 1997, S. 353; ders., Das achte Heilmittel, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2 1997, S. 126.

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Nach seiner Auffassung gilt, dass man gegenüber einem Tyrannen „kein Wort, kein Gehorsam und kein Gesetz einzuhalten braucht“ 77. d) Bedeutung und Bewertung von Las Casas’ menschenrechtlichen Positionen Die Begründung und Bedeutung von Freiheit und Gleichheit des Menschen sind bei Bartolomé de Las Casas durch Immanenzorientierung und individualistisch-empirischen Charakter geprägt. Obgleich noch aristotelisch-thomistisch verankert, markieren sie nicht zuletzt wegen ihrer oftmals kasuistischen Argumentation ein transitorisches Stadium hin zu den rationaleren Begründungen der Menschenrechte im Zeitalter der Aufklärung. So sind seine menschenrechtlichen Thesen und Folgerungen gerade in ihrer empirischen Beweisführung innovativ, wenngleich nicht revolutionär – schließlich hatte schon Johannes Duns Scotus um 1300 die Sklaverei und die von Thomas von Aquin tradierte Konzeption einer bedingten Ungleichheit der Menschen als naturrechtswidrig zurückgewiesen78. Auch ist in den lascasanischen Schriften keine kohärente Menschenrechtstheorie zu erkennen. Sein Œuvre enthält keine dezidierte Ausarbeitung oder Aufzählung subjektiver Abwehr- und Schutzrechte. Vielmehr sind seine Ausführungen als humanistisch-naturrechtlich motivierte, auf der Scholastik aufbauende79 Reaktionen, auf das selbst miterlebte und empfundene Unrecht gegenüber der indigenen Bevölkerung Südamerikas im Zeitalter der Conquista zu begreifen. Sein Vermächtnis liegt daher primär in einer Art Realitätsreflexivität, in dem starken, kontrafaktischen, wirklichkeitsorientierten Fordern nach Anerkennung von Menschenwürde, Religionsfreiheit und Selbstbestimmung der Indigenas sowie der Abschaffung der Sklaverei in der Neuen Welt80. Diese Artikulation der Unge77 Bartolomé de Las Casas, Das achte Heilmittel, in: M. Delgado (Hrsg.), Bartolomé de Las Casas, Werkauswahl Bd. 3/2, 1997, S. 126. 78 L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 246. 79 Las Casas musste einsehen, dass die gesamte spanische Spätscholastik ebenso wie die christliche Naturrechtslehre maßgeblich auf dem Aristotelismus basierten und folglich seine Thesen nur dann Widerhall finden und Wirklichkeit gewinnen konnten, sofern und soweit er seine Argumentation mit der aristotelischen Philosophie in Einklang brachte. Vgl. dazu A.-E. Pérez Luño, Die klassische Spanische Naturrechtslehre in fünf Jahrhunderten, 1994. 80 Beispielhaft ist etwa, dass es sich bei seinem Gleichheitspostulat nicht um eine rationale Begründung handelt, sondern um eine genuin theologisch-christliche. Zudem relativiert Las Casas mit seinen Beschreibungen den Universalitätsanspruch der Menschenrechte dadurch, dass ihr Geltungsgrund offenbar vielmehr in der Friedsamkeit, Sittsamkeit und Harmlosigkeit der Indios als in der menschlichen Wesenhaftigkeit ea ipsa gesehen wird, vgl. L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA, 2009, S. 239. Ähnliches gilt auch für die bei ihm identifizierbare frühe Form der Religionsfreiheit. Er konzediert diese nur jenen Ungläubigen, die entweder nicht über die erforderlichen kognitiven Fähigkeiten und die Bildung zum

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rechtigkeitserfahrung ist es, aus der sich die wirkmächtigen Narrative der Universalität und Unverbrüchlichkeit der Menschenrechte maßgeblich speisen und die letztgenannten ihre normative Kraft gewinnen. Gleichwohl nimmt sich Las Casas’ Werk damit mehr als eine Grundlegung der Menschenrechte, als eine Art „Kolonialethik“ aus, die – wäre sie implementiert worden – viel Unheil vermieden hätte81. Im Ergebnis lässt sich sein Wirken somit in erster Linie als strategisch-politisch motiviert und weniger abstrakt-theoretisch qualifizieren. Las Casas als „Anwalt der Unterdrückten“ oder „Ankläger des Völkermordes“ zu bezeichnen, ist somit weitaus zutreffender als in ihm – bei aller Anerkennung – einen Begründer des modernen Menschenrechtsverständnisses zu sehen.

IV. Conclusio: Das iberische Zeitalter als Kristallisationspunkt des Menschen- und Völkerrechts Die Kritik der Oppositionsbewegung an den iberischen Kolonialisierungs- und Missionierungsbestrebungen hat, wie dargestellt, zwei Dimensionen82: Zum einen zielt sie auf die primär völkerrechtliche Fragestellung, ob die iberischen Mächte überhaupt legitime Usurpationsansprüche auf die überseeischen Gebiete hatten und zentriert sich in dieser Hinsicht um das Souveränitätsprinzip und das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Sie leitet aus naturrechtlichem Denken ein Recht jedes Volkes auf Selbstorganisation der politischen Ordnung und Unabhängigkeit ab83. Die Konstituierung und Legitimierung von Herrschaftsgewalt durch das Volk bildet als Konsequenz zugleich die Grundlage einer „Völkerrechtsgemeinschaft als Gemeinschaft unabhängiger, einander gleichgeordneter politisch Verständnis des Christentums verfügen oder bisher von diesem gänzlich unberührt geblieben sind. Im Ergebnis ist Las Casas’ Verständnis der Religionsfreiheit auch insofern wenig innovativ, als dass bereits Wilhelm von Ockham im 14. Jahrhundert, basierend auf der Accurischen Glosse konstatierte, dass niemand wahrhaft zur Annahme des christlichen Glaubens gezwungen werden könne. Das novum ist vielmehr in der politischen Forderung nach Verwirklichung und Implementation der Glaubensfreiheit zu erkennen, vgl. L. Gschwend/C. Good, Die Idee der Menschenrechte bei Bartolomé de Las Casas, ZRG KA 2009, S. 249. Insofern weist es dann doch über die etwa zur gleichen Zeit (1555) im Augsburger Religionsfrieden für das Deutsche Reich wirksam vereinbarte Form und Formel der Religionsfreiheit „cuius regio, eius religio“ hinaus. 81 In diesem Zusammenhang ist auf die maßgeblich von F. Fanon und E. W. Said begründete Strömung der „postcolonial studies“ hinzuweisen, die disziplinübergreifend die Konsequenzen von Kolonialismus und Imperialismus analysiert. Dazu etwa R. J. C. Young, Postcolonialism: An Historical Introduction, 2001, zu Las Casas inbesondere S. 73 ff.; ferner A. Loomba, Colonialism/Postcolonialism, 2005; I. Kerner, Postkoloniale Theorie zur Einführung, 2011. 82 So schon J. Fisch, Die europäische Expansion und das Völkerrecht, 1984, S. 211, der aber die beiden Aspekte voneinander trennt. 83 E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 396.

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verfasster Völker“ 84. Folgerichtig wird aufgrund dieser Vorstellung eines ius gentium, das die eigenständigen und unabhängigen politischen Gemeinschaften verbindet, zuweilen auch Francisco de Vitoria und nicht Hugo Grotius als „Vater des Völkerrechts“ bezeichnet85. Zum anderen hat die Kritik – als Kehrseite bzw. Grundlage dieser völkerrechtlichen Konzeption – den menschenrechtlichen Aspekt des Umgangs und der Behandlung der Indios zum Gegenstand. Es ist zunächst die Begegnung mit dem Fremden, bisher Unbekannten, die neue Fragestellungen aufwarf und eine ungemein fruchtbare Dynamik zeitigte86. Weiterhin sind es die evidenten und massiven Unrechtserfahrungen der Conquista, die eine theoretische Reflexion in der Spätscholastik provozieren und somit erste Elemente des Menschenrechtsschutzes produzieren87. So sind in der spanischen Spätscholastik erstmals deutliche Ansätze einer Zuweisung unverbrüchlicher Rechte im Sinne eines status negativus zu erkennen, die an die Qualität des Menschseins anknüpfen und damit vorpolitisch und vorbehaltlos zu gewährleisten sind. In diesem Zusammenhang werden mit dem Sklavereiverbot, dem Rassendiskriminierungsverbot, der persönlichen Freiheit, der Religionsfreiheit und dem Eigentumsrecht sowie einem Widerstandsrecht, das diese Garantien und eine legitime, naturrechtlich gebundene Herrschaftsgewalt sichern sollte, gewissermaßen die „Kerntatbestände für die moderne Menschenrechtsproblematik“ 88 freigelegt und der erste große, perspektivgebende Menschenrechtsdiskurs der europäischen Geschichte entfesselt89, an den die Menschenrechtsnarrative der Gegenwart anknüpfen.

84 E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 397. 85 So E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 365. 86 Beide europäischen Expansionsprozesse – im 16./17. Jahrhundert nach Südamerika, im 17./18. Jahrhundert nach Nordamerika – hatten deshalb Quantensprünge der Menschenrechtsentwicklung zur Konsequenz und lassen sich gewissermaßen als Katalyse begreifen. 87 Relativierend ist jedoch anzumerken, dass sich die Menschenrechtswirklichkeit durch diese theoretischen Entwicklungsschübe kaum veränderte. Zwar führte der aufgezeigte Legitimationsdiskurs 1537 unter Papst Paul III. zur gegen die Sklaverei gerichteten Bulle Sublimus Dei und 1542 unter Kaiser Karl V. zum Erlass der „Leyes Nuevas“, die die Indios unter den Schutz der spanischen Krone stellten. Diese wurden jedoch nicht exekutiert und 1545 wieder aufgehoben, vgl. A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Auflage 2010, S. 33 mit Verweis auf F. Hafner/A. Loretan/C. Spenlé, Naturrecht und Menschenrecht: Der Beitrag der Spanischen Spätscholastik zur Entwicklung der Menschenrechte, in: F. Grunert/K. Seelmann (Hrsg.), Die Ordnung der Praxis. Neue Studien zur Spanischen Spätscholastik, 2001, S. 143. 88 Vgl. F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt Bd. I, 1974, S. 79. 89 Vgl. W. Schmale, Archäologie der Grund- und Menschenrechte in der Frühen Neuzeit – ein deutsch-französisches Paradigma, 1997, S. 287, 442.

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Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die „öffentliche Philosophie“ 90 der spanischen Spätscholastik in Bezug auf die Grund- und Menschenrechte91 drei wesentliche Errungenschaften hervorgebracht hat: Erstmals trat mit dem aus der Vernunft abgeleiteten Naturrecht und der Unterschiedlosigkeit zwischen Europäern und Indios ein universalistischer Anspruch von Freiheitsrechten und Gleichheit der Menschheit auf. In diesem Kontext tritt auch die für spätere kontraktualistische Begründungsmodelle wegweisende Idee eines Urzustandes der Freiheit des Menschen deutlich hervor92. Weiteres novum bildete die von Francisco de Vitoria postulierte Idee des subjektiven Charakters der Grundrechte. Schließlich haben Naturrechtslehre und spanische Spätscholastik – ungeachtet der theologischen Rückbindung – die Säkularisierung und Rationalisierung der menschenrechtlichen Idee und Rechtbegründung zumindest eingeleitet93. Insgesamt erweist sich als charakteristisch, dass die völkerrechtlichen und menschenrechtlichen Problemkomplexe und ihre Lösungsversuche, bedingt durch die jähe europäische Expansion, relativ unvermittelt und unerwartet auftreten, so dass von einer Emergenz oder besser noch Fulguration94 völker- und menschenrechtlicher Prinzipien in der Epoche der spanischen Spätscholastik gesprochen werden kann. Schließlich verbinden die beiden Fragekreise einerseits den europäischen mit dem lateinamerikanischen Kulturraum und andererseits Völkerrecht mit Menschenrecht. So zeigt sich, dass Menschenrechte und Völkerrecht – im 90 E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 344. 91 Dazu H. F. Köck, Der Beitrag der Schule von Salamanca zur Entwicklung der Lehre von den Grundrechten, 1987. 92 E.-W. Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie, 2. Aufl. 2006, S. 396. 93 A. Haratsch, Die Geschichte der Menschenrechte, 4. Aufl. 2010, S. 34 mit Verweis auf W. Reinhard, Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: H. Frenske/D. Mertens/W. Reinhard/K. Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, 2003, S. 302; U. Bermbach, Widerstandsrecht, Souveränität, Kirche und Staat: Frankreich und Spanien im 16. Jahrhundert, in: I. Fetscher/H. Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3, 1985, S. 150 f.; K. Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/1, 1988, S. 73; H. Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 10. Aufl. 2005, S. 95 f.; R. Grawert, Francisco de Vitoria. Naturrecht – Herrschaftsordnung – Völkerrecht, Der Staat, 39 (2000), S. 118, 124; S. Meder, Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 2008, S. 244 f. Kritisch zu dieser These hingegen W. G. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 1984 S. 177 und 228. 94 Der Zoologe und Ethologe K. Lorenz verwendet den Begriff Fulguration (von lat. „fulgur“ Blitz) als Beschreibung für die unerwartete Entstehung von neuen Eigenschaften, die ihrerseits nicht aus den bestehenden Eigenschaften der einzelnen Elemente prognostizierbar waren. Der Verwendung des Begriffes „Emergenz“ stand er indes kritisch gegenüber, da dieser suggeriere, dass etwas bereits Existentes, bisher Verborgenes nun lediglich identifizierbar geworden sei. Ob es sich bei den Menschenrechten um etwas Vorfindliches oder eine Neuerscheinung handelt, ist maßgeblich davon abhängig, ob man eine naturrechtliche oder positivistische Interpretation der Menschenrechtsgehalte vornimmt.

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eigentlichen Sinne als ius gentium verstanden – sich nicht unabhängig voneinander entwickelt haben und nicht isoliert zu verstehen und zu denken sind. Im Gegenteil: Die Strukturprinzipien und Entwicklung des Völkerrechts sind mit der Menschenrechtsgeschichte vielfältig verwoben und interdependent. Die Europäische Rechtsgeschichte95 des orbis christianus erweist sich damit zugleich als ein prägender Bestandteil lateinamerikanischer Rechtsgeschichte und universeller Völker- wie Menschenrechtsentwicklung. Aus diesen Gründen kann das spanische Zeitalter als ein Schnitt- und Kristallisationspunkt betrachtet werden.

B. Entwicklungsstufen des Menschenrechtsschutzes – die drei (Vor)stufen zum regionalen Menschenrechtsschutz Sofern sich Geschichte überhaupt – trotz ihres ungebrochen-prozesshaften Charakters – zur Verdeutlichung bestimmter Entwicklungen periodisieren oder unterteilen lässt, werden nach tradiertem Verständnis die drei nachfolgenden Entwicklungsstufen des Menschenrechtsschutzes unterschieden96. Nach dem hier zugrundegelegten Verständnis ist neben der bereits skizzierten spanischen Spätscholastik als Bestandteil der ersten Stufe präpositiver Universalität und über die beiden weiteren „klassischen“ Entwicklungsstufen der nationalstaatlichen Positivität und der positivierten Universalität hinaus noch eine weitere neue Qualität und damit eine vierte eigene Stufe in der Menschenrechtsentwicklung identifizierbar, die nachgezeichnet und der wissenschaftlichen Darstellung der Menschenrechtsgeschichte hinzugefügt werden soll. Zum Verständnis und zur Einordnung dieser weiteren Entwicklungsstufe des Menschenrechtsschutzes ist eine kursorische Darstellung ihrer Vorbedingungen in Form der nordamerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und der Französischen Revolution unabdingbar. Dies schon deshalb, weil aus ihnen viele Prinzipien und Wesensmerkmale entstehen, die für die Konstruktion, die Funktion und das Verständnis der im Folgenden näher zu analysierenden regionalen Menschenrechtsschutzsysteme erforderlich sind. In ihnen finden auch spätere Narrative ihre Grundlage.

I. Präpositive Universalität: Naturrechtliche Begründungen Die Evolutionslinie der Menschenrechte, ausgehend von den antiken Spurenelementen und mittelalterlichen Vorformen bis hin zu den skizzierten Entwicklungsschüben im iberischen Zeitalter, lassen sich allesamt als ein Zustand präpo95 Vgl. dazu H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004; U. Wesel, Geschichte des Rechts in Europa, 2. Aufl. 2010. 96 Zu den Stufen menschenrechtlicher Entwicklung vgl. neben anderen K. P. Fritzsche, Menschenrechte, 2. Aufl. 2009, S. 26.

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sitiver, maßgeblich naturrechtlich begründeter bzw. so gedeuteter Universalität klassifizieren. Trotz unterschiedlicher Ausprägungen haben alle Thesen und Postulate dieses weitgefächerten Kultur- und Zeitraumes vielzählige Gemeinsamkeiten. Zum einen lassen sich in den Begründungszusammenhängen die wissenschaftlichen Teildisziplinen der Philosophie, der Jurisprudenz und der Theologie nicht trennscharf scheiden, sondern sind ineinander verwoben. Zum anderen lassen sich die Begründungsansätze alle gleichermaßen als Naturrecht klassifizieren. Normativer Fluchtpunkt ist ganz überwiegend die Annahme, dass allen Menschen im Naturzustand, also unter Absehung von den zufällig entstandenen gesellschaftlichen und kulturellen Verhältnissen, gleichermaßen bestimmte grundlegende Rechte zukommen97. Menschenrechte sind nach dieser naturrechtlichen Begründung also wahrhaft „universelle“ Rechte – sie kommen jedem gleichermaßen von Natur aus zu, sind ihrer Idee und ihrem theoretischen Anspruch nach unveräußerlich und unverletztlich. Die Verwirklichung der Natur- bzw. Menschenrechte blieb indes defizitär. Sie wurden nur sporadisch in die Realität übersetzt. Die Menschenrechte verblieben zu diesem Zeitpunkt Ideen, bloße Forderungen und gewannen keine Wirklichkeit98. Gleichwohl ist bereits ihr Bedeutungsgehalt fixiert. Aufgrund ihres Universalitätsanspruches weisen sie einen kategorial anderen Status auf als alle anderen „Rechte“ und bilden einen die weitere Entwicklung prägenden Narrativ.

II. Positivität und politische Wirklichkeit Mit der nordamerikanischen und der französischen Revolution erfährt die Rechtsrealität eine paradigmatische Änderung. Die Menschenrechte werden erstmals formalisiert und auf eine „Textstufe“ (P. Häberle) gebracht. Mit dieser rechtlichen Positivität erreicht die Entwicklung der Menschenrechte eine neue zweite Entwicklungsstufe, erlangen die Menschenrechte im eigentlichen Sinne Legalität. 1. Nordamerikanische Revolution Nicht nur für den nationalstaatlich-verfassungsrechtlichen Grundrechtsschutz, sondern auch für den sich aus diesem Kontext entwickelnden und daraus Strukturelemente entlehnenden regionalen Menschenrechtsschutz ist die nordamerikanische Revolution von grundlegender Bedeutung. Wie schon in der spanischen Spätscholastik entspringen die entscheidenden menschenrechtlichen Fortschrittsschübe aus Spannungen zwischen europäischer Macht und überseeischen Kolonien, diesmal jedoch im Kontext des englischen Zeitalters zwischen britischer Krone und den nordamerikanischen Kron-, Eigen97 98

C. Menke/A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 13. C. Menke/A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 13.

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tümer- und Freibriefkolonien. Invers zur iberischen Epoche und dem von spanischen Gelehrten geführten Legitimations- und Menschenrechtsdiskurs entsteht in Nordamerika die Ausformung und Ausarbeitung von Menschen- bzw. Verfassungsrecht im Zuge der Emanzipation vom englischen Mutterland. Anders als in der iberischen Epoche geht sie daher maßgeblich von den Kolonien aus und nicht von den Kolonisierenden. Der Widerstand der Kolonisten gegen die englische Krone mündete in die maßgeblich von bzw. unter T. Jefferson ausgearbeitete99 und auf dem zweiten Kontinentalkongress verabschiedete Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776. In der vielzitierten Passage des zweiten Absatzes werden bereits Gleichheit, unveräußerliche Menschenrechte wie Leben, Freiheit und Streben nach Glückseligkeit als evidente Wahrheiten formuliert und zu deren Absicherung das Prinzip der Volkssouveränität und ein Widerstandsrecht etabliert. Diese Rechte erinnern in ihrem Gehalt an die bereits in der spanischen Epoche eingeforderten Garantien. Als Grundlage treten zum einen deutlich Vernunft- und Naturrecht, insbesondere die staatstheoretischen Theorien J. Lockes zu Tage, zum anderen wird mit der Bezugnahme auf einen Schöpfer und dessen Geschöpfe eine religiöstranszendentale Begründung bemüht, die ihrem Wesen nach bereits aus dem spanischen Zeitalter bekannt erscheint. Überhaupt weist die nordamerikanische Freiheitsbewegung ein stark religiöses Fundament auf, das einen integrativen Appellcharakter schafft – sie ruht auf dem amerikanischen Protestantismus100. Aufklärung und Religion gehen hier eine enge Symbiose ein101. Revolutionär und bis heute prägend102 ist die Überzeugung, dass der Schutz der Menschenrechte die Grundlage und den Zweck des Staates bilden, dass Staatlichkeit von den Bürgern konstituiert wird und allein um ihretwillen existent ist103. Zentrale Bedeutung für die Menschenrechtsgeschichte kommt sodann dem Erlass der verschiedenen „Bills of Rights“ in den ehemaligen Kolonien zu, beginnend mit jener aus Virgina im Jahre 1776104, die aber sogleich Nachformungen und -ahmungen in Pennsylvania, Maryland und North Carolina fand. Auch sie 99 Vertiefend dazu, P. Maier, American Scripture. Making the Declaration of Independence, 1997, S. 98, die aber auch zeigt, dass nicht T. Jefferson, sondern ein Ausschuss im Wesentlichen die Ausarbeitung vornahm. 100 Zentral dazu G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1919, S. 57. 101 Dies hat Ausdruck in der passenden Formel gefunden, die Amerikaner hätten im achtzehnten Jahrhundert ihre Aufklärung von der Kanzel gelernt, vgl. D. Grimm, Europäisches Naturrecht und amerikanische Revolution, Ius Commune, Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte 3 (1970), S. 123. 102 Vgl. etwa Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 1 des Verfassungsentwurfs von Herrenchiemsee. 103 So W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl. 2014, § 2 Rn. 24. 104 Dazu G. Stourzh, Die Konstitutionalisierung der Individualrechte, JZ 1976, S. 397 ff.

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tragen, ebenso wie die Postulate der spanischen Spätscholastiker, dialektischen Charakter, können als „große Antithese zu den rechtlichen und sozialen Verhältnissen der alten Welt“ 105, als Anknüpfungspunkt eines Narrativs der Veränderung und Verbesserung verstanden werden, normieren ähnliche Grundrechte wie die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und sind als erste umfassende Positivierung von modernen Grundrechten überhaupt zu verstehen106. Allerdings ist dieser Konstitutionalisierungsprozess durch die konkreten politischen Verhältnisse respektive wirtschaftlichen Interessen der amerikanischen Siedler geprägt. Dies zeichnet sich deutlich an den Widerstandsbewegungen gegen den Stamp Act und an der Boston Tea Party-Bewegung ab. Maßgebliches Motiv bildete der „Besitzindividualismus des weißen, in der Mehrheit puritanischen Bürgertums“ 107. Gleichheitsrechten kam keine zentrale Bedeutung zu, die schwarze Bevölkerung wurde weitestgehend ausgegrenzt und die Sklaverei aufrechterhalten. Im Zuge der Positivierung und Realisierung der Menschenrechte wurde das ursprüngliche Narrativ der universellen, unveräußerlichen Menschenrechte, die den Menschen kraft ihres Menschseins zukommen, also relativiert bzw modifiziert. Die erste Verfassung, die dann Organisationsrecht und grundrechtliche Verbürgungen in einem Dokument zusammenführt, ist die bis heute geltende Verfassung von Pennsylvania. Hier liegt der Ursprung für den seither eingeforderten und bekräftigten Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie bzw. Volkssouveränität108. Auch die im Frühjahr 1787 ausgearbeitete Bundesverfassung griff für die bundesstaatliche Organisation der USA den Gedanken der Volkssouveränität als Legitimation von Staatsgewalt auf und schrieb zudem eine ausdrückliche Gewaltenteilung (checks and balances) fest. Das zunächst bestehende Defizit an grundrechtlichen Gewährleistungen wurde durch die von J. Madison vorgeschlagene Federal Bill of Rights auf dem ersten Kongress 1789 behoben. Die 12 Zusatzartikel (Amendmends) definieren bis heute den Kernbestand grundrechtlicher Verbürgungen und können als klassischer Grundrechtskanon verstanden werden109. 105 H. Hattenhauer, Geistesgeschichtliche Grundlagen des deutschen Rechts, 4. Aufl. 1996, Rn. 70. 106 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl. 2014, § 2 Rn. 25. 107 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl. 2014, § 2 Rn. 27. 108 Dieser hat auch in den Dokumenten des Europarates Niederschlag gefunden, vgl. Präambel der Satzung des Europarates, Absatz 3; Präambel EMRK, Absatz 5 und die Eingriffstatbestände der Art. 8–11 II EMRK. 109 Bemerkenswert ist, dass es gerade die Anti-Federalists als Gegner der Verfassung waren, die das Fehlen eines Grundrechtskataloges monierten. Ob darin wahrhaftes Eintreten für den grundrechtlichen Schutz zu sehen ist oder ob es nur eine taktische Überlegung war, um eine effektive Zentralgewalt zu verhindern, ist umstritten.

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In der nordamerikanischen Revolution werden aber noch zwei weitere Elemente geschaffen, die für das Gelingen des Typus Verfassungsstaat und damit auch für den regionalen Menschenrechtsschutz wesentlich sind. Zum einen die Vorrangig- und normative Höchstrangigkeit der Verfassung und der Bill of Rights (paramount law), zum anderen die Sicherung dieser Bindungswirkung durch das richterliche Prüfungsrecht (judicial review), also einer Letztentscheidungskompetenz, die erstmals in dem berühmten, von J. Marshall abgefassten Urteil in der Rechtssache Marbury vs. Madison 1803 Realität geworden ist. Sie wird prozessual am augenscheinlichsten durch die Normenkontrolle und Verwerfungskompetenz des höchsten Gerichtes. Hintergrund dafür bilden die Einsicht und Erfahrung, dass auch die Legislative Unrecht schaffen kann, so dass sowohl die Gestaltungsmacht der Exekutive als auch die der Legislative zu beschränken sei110. Auch und gerade die Minorität innerhalb einer demokratisch verfassten Gesellschaft ist judikativ vor dem Diktat der Mehrheit zu schützen. Diese Einsicht und die darauf basierende Konzeption von Gerichtsbarkeit ist nicht nur Schlüsselelement nahezu jedes Verfassungsstaates, sondern auch ein zentrales Element des regionalen Menschenrechtsschutzes111. 2. Französische Revolution Der französischen Revolution und insbesondere ihrer zentralen Schöpfung in Gestalt der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte kommt ebenfalls eine tragende Rolle für die Menschenrechtsgeschichte im Allgemeinen und die Entwicklung hin zum regionalen Menschenrechtsschutz im Besonderen zu. Im Gegensatz zu den menschenrechtlichen Errungenschaften im spanischen Zeitalter und der nordamerikanischen Unabhängigkeitbewegung nimmt sie ihren Ausgangspunkt allerdings nicht in einem transatlantisch-subordinativen Interessenkonflikt zwischen europäischer Macht und ihren Kolonien, sondern ist maßgeblich durch innere politische Auseinandersetzungen motiviert. Es waren die gesamtgesellschaftlichen, innerstaatlichen Missstände, die zum Zusammentreffen der Generalstände im Mai 1789 und der sich anschließenden Selbstdeklaration als verfassungsgebende Nationalversammlung (Assemblée Nationale Constituante) führten. Mit der Egalisierung des Abstimmungsmodus in diesem Gremium erfolgte auch sogleich eine „Auswechselung des Legitimationsprinzips von Herrschaft“ 112 und somit die Fundamentbildung der Demokratie. Der Sturm auf die den monarchischen Absolutismus symbolisierende Bastille am 14. Juli 1789 und der zunehmende politische Druck in Form von Aufständen in ganz Frankreich führten

110

Siehe W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl. 2014, § 2 Rn. 43. Vgl. dazu Dritter Teil E. III. 112 D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776–1866. Vom Beginn des modernen Verfassungsstaats bis zur Auflösung des Deutschen Bundes, 1988, S. 24. 111

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sodann zur Abschaffung der Feudalherrschaft samt aller Vorrechte des Adels und insbesondere zum Auftrag an den Verfassungsausschuss, in Anlehnung an die amerikanische Bill of Rights eine Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte zu entwerfen113. Diese, maßgeblich von den „Menschenrechtsarchitekten“ La Fayette und Sieyès geprägte, formell wie inhaltlich mit der nordamerikanischen Bill of Rights verwandte Deklaration, basiert auf den theoretischen Vorarbeiten Charles de Montesquieu (1689–1755), insbesondere seiner in „De L’Esprit des Lois“ (1748) skizzierten Lehre von der Gewaltenteilung, Voltaires (1694–1778) Forderung nach Abschaffung der Sklaverei, jeglicher ständischer Privilegien und der Gewährleistung von Menschenrechten sowie Jean-Jacques Rousseau’s (1712– 1778) Legitimation von Staatlichkeit aus dem Gesellschaftsvertrag in „Du Contrat Social“ (1762). Das Verdienst dieser Deklaration in der Menschenrechtsgeschichte liegt primär in dem erstmals erhobenen, bis heute ausstrahlenden universalen Anspruch im Verbund mit positiviertem Charakter. Durch diese Verknüpfung von Positivität, Universalität und Rationalität erweist sie sich gegenüber den zwar universalen, aber maßgeblich religiös begründeten menschenrechtlichen Forderungen der spanischen Spätscholastik ebenso überlegen wie den gleichfalls auf Schöpfung und Schöpfer als normativen Fluchtpunkt zurückgreifenden Menschenrechtsverbürgungen der nordamerikanischen Bill of Rights114. In diesem antiklerikalen, wenn nicht sogar religionsfeindlichen Zug und der Entfaltung der Menschenrechte aus einem säkularen Humanismus liegt die radikale Neuerung. Sodann bekräftigt sie die Vorstaatlichkeit der Grund- und Menschenrechte und erklärt diese zum Legitimitätsmaßstab von Herrschaft. Andererseits sind die Grundrechte nach der französischen Erklärung insofern defizitär, als dass sie in erster Linie als Programmsätze zu begreifen sind, nicht hingegen als unmittelbar bindende, justiziable Rechtsnormen. Somit blieb die Herausbildung von richterlichem Prüfungsrecht und Vorrangigkeit der Verfassung auch aus115. Eine weitere Differenz ist darin zu sehen, dass sich die französische Erklärung, bedingt durch die Intention, die Feudalordnung mit all ihren Privilegierungen abzuschaffen, im Vergleich zu ihrer amerikanischen Schwestererklärung – trotz unzweifelhafter Präponderanz der Freiheitsgewährleistung (vgl. Art. 1, 2, 4, 5, wo113

W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl. 2014, § 3 Rn. 59. Vgl. zum universellen Anspruch W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Auflage 2014, § 3 Rn. 62. Der Verzicht der französischen Deklaration auf Begründungszusammenhänge von Menschenrechten und Religion ist bereits dadurch indiziert, dass die Präambel auf eine invocatio Dei verzichtet und die Erklärung lediglich unter den „Schutz des allerhöchsten Wesens“ gestellt wird. Auch findet sich die Religionsfreiheit lediglich als Subkategorie in Art. 10 und in Form eines Diskriminierungsgebotes normiert. 115 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Auflage 2014, § 3 Rn. 62. 114

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hingegen die Gleichheit in der Aufzählung der unverzichtbaren Menschenrechte in Art. 2 ausbleibt) – durch eine stärkere Gewichtung der Gleichheitsforderung auszeichnet116. Dennoch wurde Gleichheit als ein gegenüber der Freiheit untergeordnetes Recht angesehen und vermutlich eher als ein Staatsorganisationsprinzip aufgefasst (vgl. etwa Art. 6)117. Dieses Vorrangigkeitsverhältnis von Freiheit zur Gleichheit, der Umstand, dass weite Bevölkerungskreise de facto nicht dieser Rechte teilhaftig wurden und die zentrale Bedeutung der Eigentumsgarantie, die als „natürliches und unverzichtbares“ (vgl. Art. 2), „unverletzliches und geheiligtes“ (vgl. Art. 17) Menschenrecht deklariert wird, verleihen der französischen Erklärung den bereits durch den Titel indizierten „bürgerlichen Charakter“ 118 im negativen Sinne einer Aus- und Abgrenzung. Als unzulänglich erweist sich die französische Erklärung auch insofern, als dass bereits in dem amerikanischen Katalog der Freiheitsrechte enthaltene zentrale Garantien wie die Versammlungsund Vereinigungsfreiheit oder etwa das Petitionsrecht fehlen. Diese wurden allerdings durch die (kurzlebige) französische Verfassung vom 3. September 1791 ergänzt. Hingegen sind in ihr die für nachfolgende Deklarationen und Konventionen bedeutsamen, heute zum unverzichtbaren Kernbestand von Rechtsstaatlichkeit bzw. rule of law zählenden Figuren des Verhältnismäßigkeitsprinzips, des Bestimmtheitsgrundsatzes und des Parlamentsvorbehalts angelegt (vgl. Art. 17), die heutzutage dogmatisch als sog. Schranken-Schranken klassifiziert werden. Schließlich hat sie in Art. 6 mit dem demokratischen Prinzip der Volksvertretung und dem implizierten allgemeinen Wahlrecht119 zwei wesentliche Strukturbedingungen moderner Verfassungsstaatlichkeit etabliert. Insgesamt kann die französische Erklärung – trotz partieller Defizite – als ungemein wirkmächtig angesehen werden und ist richtigerweise von dem französischen Historiker J. Michelet als „Credo eines neuen Zeitalters“ bezeichnet worden120.

116 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl 2014, § 3 Rn. 63. Allgemein zum Vergleich der amerikanischen mit der französischen Deklaration, J.-D. Kühne, Die französische Menschen- und Bürgerrechtserklärung im Rechtsvergleich mit den Vereinigten Staaten und Deutschland, JöR 39 (1990), S. 1 ff. 117 W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Auflage 2014, § 3 Rn. 66. 118 So W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Auflage 2014, § 3 Rn. 67. 119 Wenngleich anzumerken ist, dass nach der auf diese Erklärung folgende französische Verfassung vom 3. September 1791 das aktive Wahlrecht in Anlehnung an die amerikanische Formel „no taxation without representation“ an die Zahlung einer Steuer geknüpft wurde, so dass nur etwa die Hälfte der über 25 Jahre alten Männer wahlberechtigt war. Bekanntermaßen blieb diese Verfassung aber ohnehin nicht einmal ein Jahr in Kraft. Die erste allgemeine Wahl – wenngleich ohne Frauenwahlrecht und mit einer geringen Wahlbeteiligung von lediglich 10% – erfolgte dann zur Bildung eines neuen Verfassungskonventes im Jahr 1792. 120 Zitiert nach W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Auflage 2014, § 3 Rn. 69.

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Eine Konversion des Verhältnisses von Freiheit und Gleichheit erfolgte dann mit der kriegsbedingt neu geschaffenen Verfassung des Jahres I bzw. von 1793. Das von den Jakobinern ausgearbeitete stärker egalitäre Dokument nennt in Art. 2 die Gleichheit nunmehr an vorderster Stelle. Auch wird die Eigentumsgarantie in ihrem Stellenwert relativiert (vgl. Art. 16). Revolutionär ist zudem die Deklaration sozialer Rechte (vgl. Art. 21 f.) – ein Phänomen, dass erst wieder in den modernen Grundrechtsverbürgungen wie etwa der EU-Grundrechtecharta aufgegriffen wird. Schließlich verschiebt sich die Legitimationsgrundlage dahingehend, dass die Souveränität der Nation durch die des Volkes ersetzt wird und erstmals eine Direktwahl – wenn auch nur der männlichen Bevölkerung – eingeführt wird. Organisationsrechtlich ist der deutliche Vorrang der Legislative gegenüber Judikative und Exekutive augenscheinlich. Allerdings trat diese Verfassung nie in Kraft. Sie wurde unmittelbar nach ihrer Annahme aufgrund der schwachen, in Krisenzeiten zu wenig handlungsfähigen Exekutive bis zu Friedenszeiten suspendiert. Im Kontext der weiteren Entwicklung, die maßgeblich geprägt war durch die Schreckensherrschaft Robbespieres und die Militärdiktatur unter Napoleon, wurden zwar noch die Verfassung des Jahres III (Direktorialverfassung), die Verfassung des Jahres VIII (Konsulatsverfassung) und die Charte Constitutionelle verabschiedet. Sie alle sind aber als reaktionär zu klassifizieren und weisen keine Menschenrechtselemente auf, die für die nachfolgende Menschenrechtsentwicklung konstruktiv wären. Instruktiv und legitimationsstiftend sind diese Geschehnisse aber insoweit, als der rapide Verfassungs- und Gesellschaftswandel mit den damit verbundenen Instabilitäten und Gefährdungslagen retrospektiv die Notwendigkeit und die Vorzugswürdigkeit eines Menschenrechtsschutzes jenseits des Nationalstaates offenbart. Viele der revolutionären Forderungen und Errungenschaften in der Erklärung von 1789 erodierten binnen weniger Jahre. Bereits in der Verfassung aus dem Jahre III wird der Begriff der Menschenrechte durch „Rechte innerhalb der Gesellschaft“ ersetzt, Gleichheitsrechte auf die formale Gleichheit vor dem Gesetz reduziert, soziale Rechte und das Widerstandsrecht fehlen gänzlich, als Souverän wird nicht mehr das Volk angesehen, sondern lediglich die französischen, steuerzahlenden Bürger121. Die Verfassung aus dem Jahre VIII weist mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung, dem Petitionsrecht und der individuellen Freiheit im Schlussteil nur noch einen Grundrechtstorso auf. Die maßgeblich von B. Constant geprägte Charte Constitutionelle von 1814 hat zwar noch einmal immense Wirkkraft entfaltet, ist jedoch das Stereotyp einer Verfassung konstitutioneller Monarchie und markiert die endgültige, bereits in der Begrifflichkeit angelegte Entfremdung und Entfernung von den revolutionären Menschenrechtsideen der frühen französischen Erklärungen.

121

W. Frotscher/B. Pieroth, Verfassungsgeschichte, 13. Aufl. 2014, § 3 Rn. 86.

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III. Universalität und Positivität: Das internationale Rechtsschutzsystem der Vereinten Nationen 1. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte Die dritte Stufe der Grundrechtsentwicklung beginnt mit der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, der menschenrechtlichen „Stunde Null“. Konkreter Impuls für die Erschaffung der posttraumatischen, modernen Menschenrechtsordnung war vor allem die noch zu Kriegszeiten (1941) von dem amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelt gehaltene Rede über die vier Grundfreiheiten des Menschen – Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit sowie Freiheit von Furcht und Not122 ebenso wie die von W. Churchill und F. D. Roosevelt deklarierte Atlantic-Charta. Einmal mehr wird an dieser Genese deutlich, dass sich Menschenrechte als Antwort auf systematische Unrechtserfahrungen begreifen lassen123, deren normative Kraft maßgeblich von einem sich gleichzeitig ausbildenden Narrativ getragen bzw. verstärkt wird. Es ist diesen in ihrer Missachtungstiefe singulären, zäsurbildenden Unrechtshandlungen geschuldet, dass ungeachtet der damaligen ideologischen Gegensätze und der Heterogenität der Staatengemeinschaft mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) vom 10. Dezember 1948 eine bedeutende menschenrechtliche Kodifikation gelang124. Diese maßgeblich durch R. Cassin, C. Malik, P. Chang, E. D. Roosevelt und V. M. Koretsky125 geprägte 122 Vgl. A. N. Holcombe, Human Rights in the Modern World, 1948. Die Formulierung von Freiheit von Furcht und Not hat später in dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche soziale und kulturelle Rechte in der Präambel eine Textstufe gefunden, vgl. „das Ideal freier menschlicher Wesen, die sich der Freiheit von Furcht und Not erfreuen . . .“. 123 So auch W. Brugger, Stufen der Begründung von Menschenrechten, Der Staat 31 (1992), S. 21. 124 Dem Vorgehen lag ein Dreischritt aus Deklaration, Konvention und Implementation zugrunde. So das damalige Mitglied der Menschenrechtskommission C. Malik, siehe M. Moskowitz, Human Rights and World Order, 1959, S. 51. Hintergrund für den Beschluss einer zunächst nicht bindenden Deklaration war, dass man die Zustimmung der Majorität der Staaten erlangen wollte. Bereits die Charta der Vereinten Nationen deutet den – im Unterschied zur Satzung des Völkerbundes – grundlegenden Wandel an, dem einzelnen Subjekt eine zentrale Position zuzuweisen und die Orientierung der Staatengemeinschaft auf den bis dahin völkerrechtlich mediatisierten Menschen hin (vgl. Art. 1 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1, lit. b, Art. 55 lit. c, Art. 62, Art. 76 lit. c). Dennoch verbleibt der Staat nach Konzeption und Inhalt der Charta souveräner Garant der Menschenrechte. Grund für den vorläufigen Verzicht auf die unmittelbare Errichtung eines wirksamen Menschenrechtsschutzsystems war die Befürchtung der Alliierten, auch für die eigenen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen zu werden, vgl. T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 26, die exemplarisch für die Sowjetunion die Gulags, für die USA die Rassendiskriminierung und für Großbritannien und Frankreich die koloniale Vergangenheit anführen. 125 Hinzuweisen ist auf die neueren Erkenntnisse, die nicht allein den Friedensnobelpreisträger R. Cassin oder E. Roosevelt als spiritus rector, sondern vielmehr C. Malik

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1. Teil: Grundlagen des regionalen Menschenrechtsschutzes

„neue Magna Charta der Welt“ 126 bildet das Fundament für ein globales Rechtsschutzsystem, das sukzessive völkerrechtliche Institutionen und Mechanismen außer- bzw. oberhalb der einzelnen Staaten entwickelt und etabliert, die die Menschenrechtslage innerhalb der jeweiligen Staaten kontrollieren sollen127. Die maßgeblich durch R. Cassin geprägte Struktur der Erklärung basiert dabei auf vier Säulen, deren Abfolge mit der historischen Erscheinung und Durchsetzung der Rechte korrespondiert und den Titeln „dignity, liberty, equality, and brotherhood“ zugeordnet werden können128. Der Beschluss dieser Deklaration ist in ihrer „welt- und geistesgeschichtlichen Bedeutung“ 129 gar nicht zu überschätzen, zeichnet sich mit ihr doch in mehrfacher Hinsicht ein Paradigmenwechsel ab. Die Menschenrechte erhalten dadurch einen grundlegend anderen Status. Die im Zeitalter des Naturrechts philosophisch postulierten und sodann in den einzelnen Staaten positivierten Garantien werden nun aus dem exklusiv-hermetischen Aufgabenkreis des Staates herausgelöst und zum Gegenstand eines internationalen Rechtssystems, dessen institutioneller Koordinations- und Konstitutionsrahmen die Vereinten Nationen sind130. Dieser Rückgriff auf primär verfassungsrechtliches, angloamerikanisches und französisches Menschenrechtssubstrat ist es, der es erlaubt, diesen Entwicklungsprozess nicht als Fulguration, sondern als Menschenrechtsemergenz zu bezeichnen. Das vorhandene Fundament wurde rekombiniert und zu einer „Textstufe“ zusammengeführt, die erstmals auf internationaler Ebene zu verorten ist. Vereinfacht ist die Erklärung vom Dezember 1948 deshalb auch als Projektion der französischen Erklärung von 1789 auf die internationale Staatengemeinschaft beschrieben worden131.

und P. Chang als zentrale Autoren ausweisen, siehe J. Morsink, The Universal Declaration of Human Rights, 2000, S. 29. 126 G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 2. Aufl. 1978, S. 120. 127 C. Menke/A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 14. 128 Die erste Säule besteht aus den ersten beiden Artikeln und enthält die jedem menschlichen Individuum zukommende Würde. Die zweite Säule umfasst die Art. 3 bis 19 und garantiert die erste Generation von Freiheitsrechten. In der dritten Säule (Art. 20 bis 26) zusammengefügt finden sich politische, soziale und ökonomische Rechte. Mit Art. 27 und 28 wird eine vierte Säule ergänzt, die die Rechte der sog. dritten Generation deklariert und die in ihrer Entstehung mit nationaler und kommunaler Solidarität als Produkt der Entwicklungen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie der Dekolonialisierung assoziiert werden. Bemerkenswert ist die Möglichkeit, die Rechte nach Art. 29 Ziff. 2 einzuschränken, da diese in Wortlaut und Struktur jener der EMRK in den Art. 8 bis 10 Abs. 2 sehr ähnlich sind. 129 F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt Bd. I, 1974, S. 538. 130 Vgl. C. Menke/A. Pollmann, Philosophie der Menschenrechte, 2007, S. 14. 131 So F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt Bd. I, 1974, S. 539.

B. Entwicklungsstufen des Menschenrechtsschutzes

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Konkret ist damit jener Prozess eingeleitet, der das Individuum zum Mittelpunkt internationaler Beziehungen erklärt, dieses zum „Dominator“ des menschenrechtlich neu ausgerichteten Völkerrechts macht132 und in dessen Folge es seither neben der Entität des Staates zumindest partielle Völkerrechtssubjektivität gewinnt. Mit dieser Statuswandlung vom Objekt zum Subjekt des Völkerrechts erfüllt sich, was in epistemischer wie ethischer Hinsicht mit dem homo mensuraSatz des Protagoras begann: der Mensch wird zum Maß- und Mittelpunkt133. Zugleich bedeutet es einen Bruch mit tradierten völkerrechtlichen Prinzipien. Menschenrechtsschutz ist nicht mehr alleiniger Bestandteil des innerstaatlichen Rechts und steht unter dem Vorbehalt der domaine réservé, sondern wird internationalisiert, erlangt auch außerstaatliche Relevanz. Weiterhin ist mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte eine Universalisierung und Generalisierung in dem Sinne vorgenommen, dass fast ausnahmslos alle Staaten bzw. Völker ausnahmslos jedem Menschen die beschriebenen Menschenrechte zuerkennen134. Mit ihr erfolgt zumindest die textliche Einlösung einstiger naturrechtlicher Vorstellungen universeller Menschenrechte. Die bisher metaphysisch-abstrakte Universalität wird in einem einzelnen autoritativen Dokument fixiert und somit auch der Narrativ der Universalität konkretisiert. Ferner weist sie einen geweiteten Kreis der Verpflichtungsadressaten auf, indem sie an „alle einzelnen und alle Organe der Gesellschaft“ appelliert (vgl. Präambel Absatz acht AEMR). Sodann fungiert die AEMR als Bezugspunkt für alle regionalen Konventionen135. Auch enthält die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte neben bürgerlichen und politischen Rechten wirtschaftliche136, soziale und kulturelle sowie kollektive Rechte und führt diese unteilbar zusammen. Zudem etabliert sie nicht nur Menschenrechte, sondern auch Menschenpflichten. Wenngleich der Erklärung keine Rechtsverbindlichkeit zukommt, sie nur deklaratorischen Charakter trägt bzw. als sogenanntes „soft law“ anzusehen ist, so hat innerstaatliches Recht und Unrecht mit ihr dennoch einen außerstaatlichen Maßstab erhalten. Ferner ist umstritten, ob die Erklärung nicht zumindest in Teil-

132

F. Ermacora, Menschenrechte in der sich wandelnden Welt Bd. I, 1974, S. 532. Dazu auch H. Welzel, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, 4. Aufl. 1962, S. 12, der diesen Hauptlehrsatz des Protagoras als Motto für die gesamte Naturrechtslehre begreift. 134 F. Ermacora, Menschenrecht in der sich wandelnden Welt Bd. I, 1974, S. 532 f. Allerdings ist anzumerken, dass es Staaten gibt, die nicht den Vereinten Nationen beigetreten sind. Somit lässt sich der status quo besser als Tendenzuniversalität beschreiben. 135 Vgl. die Präambel der EMRK sowie die der AMRK. 136 Die Aufnahme sozioökonomischer Rechte geht maßgeblich auf lateinamerikanischen Ursprung zurück. Es war der Chilene H. Santa Cruz, der darauf drängte. Hierin vermag sehr früh bereits die besondere Sensibilität gegenüber wirtschaftlichen Freiheitsformen auf diesem Kontinent erkannt werden. 133

66

1. Teil: Grundlagen des regionalen Menschenrechtsschutzes

elementen als Völkergewohnheitsrecht angesehen werden kann bzw. in Form allgemeiner Rechtsgrundsätze Verbindlichkeit besitzt137. Wenigstens einige Ausformungen und Derivate, die vor eklatanten Menschenrechtsverletzungen schützen sollen, sind als zwingendes Völkerrecht (ius cogens) mit partieller erga omnesWirkung zu klassifizieren138. 2. Die universalen Menschenrechtspakte Große Bedeutung kommt sodann dem zweiten Schritt der Verwirklichung in Form der beiden 1966 verabschiedeten menschenrechtlichen Pakte zu, die, gestützt auf Art. 56 UN-Charta, trotz sich verhärtender ideologischer Antagonismen verabschiedet werden konnten. Der Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbürgR) ist dabei inhaltlich weitestgehend identisch mit jenen Rechten aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte139. Zur Implementierung schreibt Art. 2 des Paktes nicht nur sogenannte „obligations of conduct“ (Verhaltenspflichten) vor, sondern auch „obligations to result“ (Ergebnispflichten), nach denen die Staaten alle gebotenen Maßnahmen zur Umsetzung der Rechte treffen müssen. Die Respektierung dieser Menschenrechtsverpflichtungen überwacht ein unabhängiger, aus Sachverständigen und Experten bestehender Menschenrechtsausschuss. Zur Durchsetzung der Garantien stehen nach dem Pakt das Staatenberichtsverfahren und das Staatenbeschwerdeverfahren bereit, wovon allein das Berichtsverfahren obligatorischen Charakter trägt. Die Möglichkeit zur Individualbeschwerde wurde hingegen erst mit dem 1. Fakultativprotokoll geschaffen. Trotz dieses neu geschaffenen Individualbeschwerdeverfahrens140, das den Menschenrechtsausschuss berechtigt, Empfehlungen auszuwerfen und neuerdings auch Auskunft über ihre Realisierung zu verlangen sowie gegebenenfalls Anordnungen vorsorglicher Maßnahmen zu treffen141, verbleibt die prozessuale Ausgestaltung insgesamt Ausdruck der weiterhin vorherrschenden Staatszentriertheit des Schutzsystems. Das Primat staatlicher Souveränität offenbart sich 137 M. Nettesheim, Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und ihre Rechtsnatur, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/2, 2009, S. 191 ff. 138 Dazu K. Doehring, Völkerrecht, 2. Aufl. 2004, § 20 Rn. 988 ff. 139 Partiell weist er aber auch darüber hinaus, wie etwa in Art. 27, oder bleibt hinter dem Schutz zurück, wie beispielsweise in Bezug auf das Asylrecht, das Staatsangehörigkeitsrecht oder auch das Recht auf Eigentum. Letzteres birgt im Übrigen eine bemerkenswerte Parallele zur EMRK, die ebenfalls erst in dem 1. Zusatzprotokoll, nicht aber in der Konvention selbst, eine Verbürgung des Eigentumsrechtes enthält. Ebenso besteht eine Ähnlichkeit zu den Derogationsmöglichkeiten nach Art. 4 des Paktes und denen der EMRK. 140 Dazu N. Weiss, Überblick über die Erfahrungen mit Individualbeschwerden unter verschiedenen Menschenrechtsabkommen, AVR 2004, S. 142 ff. 141 T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 37.

B. Entwicklungsstufen des Menschenrechtsschutzes

67

schließlich auch darin, dass der Menschenrechtsausschuss keine Kompetenz hat, eigenhändig Untersuchungen in den Staaten vorzunehmen. Zentrale Bedeutung kommt sodann dem zweiten zur Konkretisierung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedeten UNO-Pakt, dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturell Rechte (IPwskR), zu. Er reichert das internationale System um die soziale Dimension an. Allerdings statuiert er im Unterschied zum IPbürg gemäß Art. 2 Abs. 1 lediglich Verhaltenspflichten („obligations of conduct“), nach denen die Staaten gehalten sind, die aufgeführten Rechte zu realisieren. Grund für die Ausgestaltung als programmatische, nicht unmittelbar anspruchsbegründende Rechte (promotional rights) ist mitunter, dass die Gewährleistung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte im Gegensatz zu der abwehrrechtlichen Dimension nur selten in Form einer schlichten staatlichen Inaktivität verwirklicht werden können. Vielmehr bedarf es zur Gewährleistung dieser Leistungsrechte meist der Errichtung einer ressourcenintensiven Infrastruktur. Kontrollmechanismus für die sukzessive Umsetzung ist ebenfalls ein periodisches Staatenberichtsverfahren, dessen Adressat ein durch den Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) nach Art. 17 des Paktes geschaffener unabhängiger Ausschuss ist. Jüngst ist auch hier ein Fakultativprotokoll angenommen worden, das die Einführung eines Individualbeschwerdeverfahrens vorsieht und den Rechten des UNO-Paktes II mehr Durchsetzung verleihen soll142. Die beiden erst zehn Jahre später nach der Ratifikation durch 35 Staaten in Kraft getretenen UN-Pakte bilden gemeinsam mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte die sogenannte „International Bill of Rights“ 143. Aber auch darüber hinaus sind im Rahmen der UN zahlreiche Spezialverträge mit menschenrechtlichen Bezügen und Inhalten abgeschlossen worden, wie etwa zum Schutz vor Völkermord, Folter oder von Flüchtlingen, gegen Rassendiskriminierungen sowie Diskriminierungen von Kindern, Frauen und Behinderten144. Im Ergebnis lässt sich konstatieren, dass die Menschenrechte auf dieser dritten Entwicklungsstufe zugleich Positivität und Universalität erreicht haben, wenngleich letztere mehr den Charakter eines Postulats, einer Behauptung oder eines Narrativs trägt, als dass sie eingelöste Wirklichkeit ist. Ungeachtet dessen ist die 142 Das Fakultativprotokoll ist bislang (Stand 2013) lediglich von 15 Staaten ratifiziert worden. 143 Vgl. etwa L. Henkin, The International Bill of Rights: The Universal Declaration and the Convenants, in: R. Bernhardt/J. A. Jolowics (Hrsg.), International Enforcement of Human Rights, 1987, S. 1 ff.; L. Henkin, The International Bill of Rights: The Convenant on Civil and Political Rights, 1981. Begriffsbildend wohl schon der US-Präsident H. S. Truman, vgl. G. Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 2. Aufl. 1978, S. 120. 144 Einen Überblick gewährend T. Bürgenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 44 ff.

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1. Teil: Grundlagen des regionalen Menschenrechtsschutzes

Selbstbindung des Staates zum Schutz und Respekt der Grundrechte nach innen in Gestalt des Verfassungsstaates jedenfalls durch eine völkervertragliche Form der Selbstbindung nach außen ergänzt worden, der damit Elemente der Fremdbindung inhärent sind und diese Rechte sukzessive objektivieren bzw. „universalisieren“. Dieser Prozess der „Universalisierung“ und Internationalisierung lässt sich – bei aller kulturellbedingten Begrenztheit – zweifellos als „stille Revolution“ des Völkerrechts begreifen145, die das „Zeitalter der Menschenrechte“ 146 einleitet und das Völkerrecht kraft Menschenrechtsdominanz in ein neuzeitliches „Recht der Völker“ 147 transformiert.

C. Die „vierte Stufe“ – regionaler Menschenrechtsschutz als „Mezzanin“ Zwischen der verfassungsrechtlichen zweiten und der universalen dritten Entwicklungsstufe hat sich aber noch eine weitere Ebene des Menschenrechtsschutzes herausgebildet. Als „Mezzanine“ zwischen nationalem Grundrechtsschutz und internationalem Menschenrechtsschutz entstanden als vierte Entwicklungsstufe die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme148. Dazu zählen neben der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 die Amerikanische Menschenrechtskonvention aus dem Jahre 1969149 und die rund eine Dekade später ratifizierte Afrikanische Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker von 1981150. Schließlich hat im Jahre 2004 auch der Rat der Arabischen Liga eine Charta der Menschenrechte angenommen, die 2008 in Kraft getreten ist151. Mit der Herausbildung der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme hat der Staat nunmehr endgültig seine Alleinzuständigkeit in Sachen Menschenrechtsschutz 145 E. Klein, Menschenrechte. Stille Revolution des Völkerrechts und Auswirkung auf die innerstaatliche Rechtsanwendung, 1997. 146 N. Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte: Ist Toleranz durchsetzbar?, 2. Aufl. 2007. L. Henkin, The Age of Rights, 1990. 147 J. Rawls, Das Recht der Völker, 2002. 148 Dazu allgemein D. Shelton/P. G. Carozza, Regional Protection of Human Rights, 2. Aufl. 2013; W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz – Dokumente samt Einführungen, 2009. 149 Früh J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986; H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Aufl. 2007. 150 Vertiefend M. Ssenyonjo (Hrsg.), The African Regional Human Rights System, 2011; M. Hansungule, The African Charter on Human Rights and Peoples Rights, African Yearbook of International Law, 2000, S. 265 ff.; U. O. Umozurike, The African Charter on Human and Peoples’ Rights, 1997; C. Meyer, Menschenrechte in Afrika: Regionaler Menschenrechtsschutz als Herausforderung an menschenrechtliches Universalitätsdenken, 2013. 151 Dazu H. J. Sandkühler, Menschenrechte in der arabischen Welt. Zur Einleitung in den Themenschwerpunkt, MRM 1 (2012), S. 5 ff.

C. Regionaler Menschenrechtsschutz als „Mezzanin‘‘

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verloren, und es ist eine ergänzte, veränderte Architektur des Grund- und Menschenrechtsschutzes entstanden, die Staatlichkeit von allen Seiten einhegt und auf den Menschen hin orientiert: diese basiert maßgeblich auf den drei Säulen des nationalen, internationalen und regionalen Schutzes. Dass diese regionalen Menschenrechtsschutzsysteme als eine eigene Verwirklichungsstufe der Menschenrechtsentwicklung begriffen werden können, zeigt sich nicht nur anhand der sie von internationalen Rechtsschutzmechanismen unterscheidenden räumlichen Geschlossenheit152, sondern vor allem in ihrer Effektivität. Das „mezzanine“ Schutzgebilde der regionalen Konventionen vermag ein Defizit auszugleichen, das zwischen zweiter und dritter Entwicklungsstufe entstanden ist. Dieses Defizit liegt darin begründet, dass der nationale, verfassungsrechtliche Grundrechtsschutz zwar positiviert und effektiv, aber auf das Nationale begrenzt ist respektive der Staat über die Einhaltung seiner Grundrechtsbindung selbst wacht. Umgekehrt ist der internationale Menschenrechtsschutz zwar positiviert und durch über- bzw. außerstaatliche Überwachung gekennzeichnet, erweist sich aber häufig als relativ ineffektiv. Demgegenüber verbindet der regionale Menschenrechtsschutz das suprastaatliche Element mit einer der innerstaatlichen Ebene vergleichbaren Effektivität. Die erhöhte Durchsetzbarkeit gewinnt der regionale Menschenrechtsschutz in erster Linie durch die in ihm verankerte Möglichkeit der Individualbeschwerde und eines gerichtsförmigen Verfahrens. Gegenüber dem Schutzmechanismus nach den UN-Pakten ergibt sich damit ein qualitativer Sprung. Schließlich war in diesen zunächst allein das die staatliche Souveränität nicht durchdringende Berichtssystem obligatorisch und auch die Staatenbeschwerde bedeutete nur eine gewisse, intensitätsgeringe Kontrolle von außen. Die Individualbeschwerdeverfahren hingegen verbleiben fakultativ und sind nicht gerichtsförmig ausgestaltet. Der gesteigerte Verbindlichkeits- und Verpflichtungsgrad des regionalen Menschenrechtsschutzes, der seine Qualität als vierte Stufe begründet, lässt sich aber nicht nur auf die aus dem staatlichen Rahmen und damit aus dem skizzierten Entwicklungskontext des Verfassungsstaates im Zeitalter der amerikanischen und französischen Revolution stammenden Instrumente und Institutionen zurückführen, sondern auch noch auf einen weiteren Umstand: Dem universalen Menschenrechtsschutz ist eine Weite eingeschrieben, der seine Wirkmächtigkeit unabdingbar relativiert. Eine effektive Sicherung der Menschenrechte wird nämlich um so eher gelingen, je homogener die Grundordnungen und Grundwerte sowie die kulturellen Vorbedingungen der Vertragsstaaten ausgestaltet sind. Auch wenn eine Konvergenz in dem universalen System der internationalen „Bill of Rights“ erkennbar ist, sind die soziokulturellen, rechtlich-politischen und materiellen Bedingungen nach wie vor äußerst divergent und von unterschiedlichen „Men-

152

Vgl. J. Meyer-Ladewig, EMRK-Handkommentar, 3. Aufl. 2011, Einleitung Rn. 1.

70

1. Teil: Grundlagen des regionalen Menschenrechtsschutzes

schen-“ 153 und „Weltbildern“ durchprägt. Anderes gilt hingegen für die regionalen Menschenrechtskonventionen, deren Signatarstaaten eine gewisse Homogenität aufweisen und weitestgehend die materiellen Voraussetzungen zur Gewährleistung stabiler nationaler politischer Ordnungen sowie eines funktionierenden Grundrechtsschutzes erfüllen154. In ihnen sind die Bedingungen für einen praktikablen Kompromiss zwischen Konvergenz und Kontingenz der Menschenrechte gegeben. Der regionale Menschenrechtsschutz bildet damit nicht nur in räumlicher Hinsicht ein Mezzanin zwischen universaler und nationaler Ebene, sondern auch inhaltlich im Hinblick auf den Schutzgehalt der Menschenrechte. Er ermöglicht einen Kompromiss zwischen universalem Anspruch der allgemeinen Menschenrechte und den nationalen, kulturell vorgeprägten Grundrechten.

153

Hierzu grundlegend, P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl.

2008. 154 Insofern mag der oben beschriebenen Conquista trotz aller Brutalität perspektivisch ein Positivum entnommen werden: Mit ihr hat der lateinamerikanische Raum eine – wenn auch gewaltsam verordnete – gemeinsame kulturelle, politische und sprachliche Grundlage bzw. Konvergenz erhalten, die einen suprastaatlichen Menschenrechtsschutz weitaus einfacher realisierbar erscheinen lässt als etwa auf dem stark heterogenen afrikanischen Kontinent.

Zweiter Teil

Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem im Entwicklungs- und Strukturvergleich Im nachfolgenden zweiten Teil sollen Strukturen und Wesensmerkmale der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme aufgezeigt werden. Dies erfolgt durch Vergleich des interamerikanischen Menschenrechtssystems mit seinem europäischen Pendant. Dabei werden gleichermaßen Kongruenzen und Divergenzen hinsichtlich Genese, vertraglicher Grundlagen, institutioneller Struktur und instrumenteller Sicherung sowie Reformmöglichkeiten aufgezeigt. Vielfach sind Analogien erkennbar, die ein tieferes Selbst- und Fremdverständnis erst ermöglichen und Potentiale der Veränderung und Ergänzung beider Systeme eröffnen. Dabei sind Darstellung und Vergleich beider menschenrechtlicher Schutzsysteme allerdings nicht als eine Art umfassender „Konkordanzkommentar“ zu verstehen1. Vielmehr geht es um eine Analyse von grundlegenden Gemeinsamkeiten und Unterschieden, struktureller Überlegen- und Unterlegenheit der beiden Mechanismen2. Synoptisch werden typische Strukturen regionaler Menschenrechtsgebilde in Entstehung, Entwicklung und Gegenwart dargestellt. Schließlich dient dieser vergleichende Querschnitt der beiden am weitesten ausgebildeten regionalen Menschenrechtsschutzsysteme der Vergewisserung und Vorbereitung dogmatischer Fragestellungen im dritten Teil.

1 Eine aktuelle Übersicht und Kommentierung der mittlerweile umfassenden Rechtsprechung des IACHR bietet N. E. Yaksic/C. L. García, Digesto de Jurisprudencia de la Corte Interamericana de Derechos Humanos (Enero de 1984–febrero de 2012), 2012. 2 Früh hat J. A. Frowein zwar nicht die Systeme in Gänze, wohl aber EMRK und AMRK miteinander verglichen, J. A. Frowein, Die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention – Ein Vergleich, EuGRZ 1980, S. 442 ff. Ebenfalls früh dazu T. Buergenthal, Las Convenciones Europea y Americana: Algunas Similitudes y Diferencias in: OEA (Hrsg.), La Convención Americana sobre Derechos Humanos, 1980, S. 179 ff. Einen weiterreichenden, allerdings primär politikwissenschaftlichen Vergleich der beiden Schutzsysteme unternimmt A. G. Mower, Regional Human Rights – A Comparative Study of the West European and Inter-American Systems, 1991. Auch die deutsche „Pionierschrift“ von J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte von 1986 enthält partiell rechtsvergleichende Elemente. Einzelne Aspekte des regionalen Menschenrechtsschutzes beleuchtet auch D. Shelton/P. G. Carozza (Hrsg.), Regional Protection of Human Rights, 2. Aufl. 2013. Daran soll im Folgenden angeknüpft, diese Studien fortgesetzt, aktualisiert und in einen größeren Rahmen eingeordnet werden.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

A. Entwicklungskontext des interamerikanischen und des europäischen Menschenrechtsschutzsystems I. (Vor)rechtlich-politische Entwicklungslinien In der Entwicklungsgeschichte des regionalen Menschenrechtsschutzes im interamerikanischen und europäischen Raum sind vielfach Parallelen erkennbar. Eine erste Entwicklungsparallele besteht bereits weit vor den verrechtlichten und institutionalisierten regionalen Schutzsystemen. Auf beiden Seiten des Atlantiks gehen den Schutzmechanismen politische Einigungsbestrebungen in Form von panamerikanischer bzw. paneuropäischer Bewegung voraus. 1. Die „janusköpfige“ panamerikanische Bewegung Als Vorläufer des interamerikanischen Systems lässt sich die panamerikanische Einigungsbewegung ausmachen. Sie ist in zwei Phasen und Formen zu unterteilen, die sich in geographischer und ideologischer Hinischt unterscheiden, denen aber ein reaktiver Zug gemein ist, in dem Sinne, dass beide Ausprägungen auf historische Entwicklungen reagierten. Außerdem bestehen Gemeinsamkeiten in rechtlicher Hinsicht: Das völkerrechtliche Interventionsverbot und das Selbstbestimmungsrecht der Völker fungierten jeweils als wirkmächtige Topoi. a) Lateinamerikanische Ausprägung Die erste Ausprägung des Panamerikanismus ist lateinamerikanischer Natur, umfasst also Mittel- und Südamerika. Ihr liegen Unabhängigkeits- und Separationsbestrebungen bzw. -kriege zu Grunde, die etwa ab 1810 beginnen und wesentlich mit dem Unabhängigkeitskämpfer Simon Bolivar verbunden sind. Geleitet von der Überzeugung, dass eine Föderation lateinamerikanischer Staaten das wirksamste Mittel gegen die weitere Einflussnahme der europäischen Kolonialmächte bildete, kam es auf seine Initiative hin 1826 zum ersten panamerikanischen Kongress in Panama3, zu dem die unabhängigen iberoamerikanischen Staaten und die USA4 eingeladen waren. Auf diesem Kongress wurde ein „Unions-, Allianz- und ewiger Föderationsvertrag“ zwischen Kolumbien5, Mexiko, Peru und Zentralamerika ausgearbeitet6. 3

D. Shelton (Hrsg.), Regional Protection of Human Rights, 2008, S. 68. Die Regierung der USA reagierte allerdings nur zögerlich, und ihr Gesandter kam niemals an. Er starb auf dem Weg nach Panama. 5 Das damalige Kolumbien umfasste die heutigen Staaten Ecuador, Panama und Venezuela. 6 Vgl. A. H. Fried, Panamerika. Entwicklung, Umfang und Bedeutung der zwischenstaatlichen Organisationen in Amerika, 1918. 4

A. Entwicklungskontext

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Anliegen und Inhalt des mangels Ratifikation niemals in Kraft getretenen Vertrages sind in hohem Maße innovativ. In ihm ist der Vorläufer einer erst ein Jahrhundert später realisierten Friedensgemeinschaft souveräner Staaten zu erkennen, die bereits im 19. Jahrhundert einen ständigen Gerichtshof, permanente Staatenkongresse und für bestimmte Sachbereiche eine obligatorische Schiedsgerichtsbarkeit zu kreieren versuchte7. Mit dem Verbot des Sklavenhandels in Art. 27 beinhaltete der Föderationsvertrag auch ein erstes menschenrechtliches Element, das heute längst als völkerrechtliches jus cogens anzusehen ist. Über diese Grundlage für eine überstaatliche regional-völkerrechtliche Gemeinschaft hinaus markiert die Befreiung durch S. Bolivar aber auch den Beginn einer Nachformung des Konstitutionalismus Nordamerikas in Lateinamerika, die sich ab der Jahrhundertmitte durch Rezeption liberaler und föderalistischer Ideen noch verstärkte8. Wenngleich diese im Ergebnis wenig Erfolg zeitigte und überwiegend in caudillismo mündete9, der primär formalpolitische Prozess der Staatsgründung noch nicht mit einer erfolgreichen Staatsbildung einherging und einer Konsolidierung bzw. Stabilisierung harrte10, liegen in diesen Seperations- und Konstitutionalismusbewegungen verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Aspekte nah beieinander. Dem Gründungskongress folgten weitere Zusammenkünfte, allesamt mit dem Motiv, einer europäischen Rückeroberung vorzubeugen. Exemplarisch für dieses Bestreben, europäische Übergriffe zu unterbinden, ist die von C. Calvo 1868 in seinem Werk „Derecho internacional teóretico y práctico de Europa y América“ begründete sogenannte Calvo-Doktrin11, der ein interamerikanischer Einigungsimpuls entnommen werden kann. Zusammenfassend lässt sich die von den mittel- und südamerikanischen Staaten ausgehende, gegen europäische Abhängigkeit gerichtete konföderative Dimension des Panamerikanismus als Integration durch Emanzipation beschreiben. Ebenso wie sich die iberoamerikanischen Unabhängigkeitsbewegungen lediglich

7 J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 4. 8 H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006, S. 436 ff. 9 So B. Ackerman, The Rise of World Constitutionalism, Virgina Law Review 83 (1997), S. 771. 10 H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006, S. 389 ff. 11 Die Doktrin betrifft zwar im Kern die Rechtsstellung von Ausländern bzw. Investitionsverträge und erklärt in diesen Fällen die Rechtsordnung vor Ort für zuständig. Hinter dieser Relativierung des diplomatischen Schutzrechtes steht aber eine allgemeine Skepsis bzw. Absage an Interventionen und Einmischung Europas in innere Angelegenheiten der lateinamerikanischen Staaten, basierend auf den sich herausbildenden Prinzipien der souveränen Gleichheit und Immunität der Staaten. Die Calvo-Doktrin und der mit ihr begründete National Treatment Standard fanden zunächst Aufnahme in einer Vielzahl lateinamerikanischer Verfassungen, konnten sich aber letztlich nicht durchsetzen.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

nach außen gegen die europäische Imperialherrschaft konzentrierten, jedoch nach innen – anders als die amerikanische und französische Revolution – keine radikale Neugestaltung der Gesellschaft vornahmen und somit „unvollendete Revolutionen“ blieben12, erschöpft sich auch der lateinamerikanische Panamerikanismus in einer nach außen gerichteten antikolonialen Stoßrichtung. b) Nordamerikanische Ausprägung Die andere Ausformung des Panamerikanismus trägt primär interventionistische bzw. hegemoniale nordamerikanische Züge. Motiv und Gestalt dieser Integrationserscheinung waren vorwiegend merkantiler Art, lagen in der Erschließung von Rohstoff- und Absatzmärkten. Eine gleichberechtigte Föderation war nicht angestrebt. Diese Form des Panamerikanismus steht in einem engen zeitlich-inhaltlichen Zusammenhang mit der durch den US-Präsidenten J. Monroe erklärten Isolierung Nordamerikas gegenüber Europa und der Gegnerschaft zu europäischen Interventionen und Kolonialbestrebungen in ganz Amerika. Mit dieser als Monroe-Doktrin bezeichneten Erklärung aus dem Jahre 1823 sind geschichtlich paradigmatische Veränderungen verbunden13: Unternommen ist damit zunächst der Versuch einer Teilung in zwei Sphären – neue und alte Welt –, die Kreation Amerikas verstanden als „westliche Hemisphäre“ unter Rückgriff auf Vorstellungen A. v. Humboldts und T. Jefferson sowie die Beendigung der Kolonialisierungsbestrebungen europäischer Mächte („Amerika den Amerikanern“). Gewährleistet und abgesichert werden diese durch die Verankerung des Gebotes der Nichteinmischung und eine Berechtigung zum Eingriff der USA auf dem gesamten Kontinent im Falle der Missachtung dieser Grundsätze14. In ihr ist deshalb auch die ideolo-

12

So H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006, S. 339 ff. Die Monroe-Doktrin wurde zunächst zugunsten der lateinamerikanischen Staaten durch die Drago-Doktrin aus dem Jahre 1902 dergestalt fortentwickelt, dass es europäischen Staaten untersagt ist, auf amerikanischem Territorium zur Eintreibung von öffentlichen Schulden zu intervenieren. Hintergrund bildeten die Bestrebungen, Schulden Venezuelas von Seiten Deutschlands, Italiens und des Vereinigten Königreichs einzutreiben, gegen die sich der argentinische Außenminister L. M. Drago wandte, vgl. M. Herz, The Organization of American States, 2011, S. 8. Die Drago-Doktrin ist völkerrechtlich auch insofern bedeutsam, als dass sie auf der Haager Friedenskonferenz von 1907 diskutiert wurde und zum „Zweiten Haager Abkommen betreffend die Beschränkung der Anwendung von Gewalt bei der Eintreibung von Staatsschulden“ (Drago-Porter-Konvention) führte. 14 Exemplarisch für die Implementation dieser Doktrin ist das Eingreifen der USA in einem Grenzkonflikt zwischen Venezuela und Britisch-Guayana (1899), die Unterstützung Panamas im Streit mit Frankreich und Großbritannien um den Panamakanal (1903) sowie Kubas, der Philippinen und Puerto Ricos im Unabhängigkeitskampf gegen Spanien, B. Horwitz, The Transformation of the Organization of American States, 2010, S. 18. 13

A. Entwicklungskontext

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gische Grundlage des US-amerikanischen Interventionismus in Lateinamerika zu erblicken15. Prägend verantwortlich für den weiteren „Integrationsprozess“ war vor allem der US-Außenminister J. G. Blaine, unter dem es zu einer Ausweitung und Vergrößerung des Einflusses der Vereinigten Staaten auf dem amerikanischen Kontinent kam. Auf seine Initiative geht auch die erste interamerikanische Konferenz in Washington (1889/1890) zurück, die von Beginn an alle Staaten Amerikas umfasste, den Begriff Panamerikanismus kreierte16 und entscheidenden Impuls für die weitere amerikanische Einigungsbewegung gab. Am 14. April 1890 – bis heute als Panamerikanischer Feiertag begangen17 – wurde die International Union of American Republics begründet, der das Commercial Bureau of American Republics als Sekretariat zur Sammlung und Verbreitung von Handelsinformationen diente18. Darin sind die ersten institutionellen Vorläufer der schließlich auf der neunten Konferenz 1948 gegründeten und für das heutige System maßgeblichen Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) in Bogotá erkennbar. Die periodisch abgehaltenen Konferenzen und die aus dieser verstetigten Zusammenarbeit geschaffenen Institutionen bilden den Ursprung für eine sukzessive, wenngleich nicht lineare Zusammenführung19 der panamerikanischen Staaten und eine Ausweitung der Tätigkeitsschwerpunkte über die Wirtschaftspolitik hinaus20. Bemerkenswert ist, dass von Anfang an auch menschenrechtliche Fragen Gegenstand der Zusammentreffen waren. So wurden politische Rechte, die Rolle der Frau und soziale Rechte ausgiebig diskutiert und verschiedene Resolutionen verabschiedet21. Symbolischen Ausdruck findet der weitere Einigungsprozess in der Gründung des Pan American Sanitary Bureau (1902), der Inter-American Commission for Women (1928) und dem Inter-American Indian Institute (1940). Von herausgehobener Bedeutung war auch die vierte Internationale Konferenz der Amerikanischen Staaten von 1910, die die International Union of American Republics in 15

So H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006, S. 709 f. J. B. Lockey, Pan-Americanism. Its Beginnings, 1926, S. 2. 17 Vgl. vertiefend zur Bedeutung von Feiertagen, P. Häberle, Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. 18 M. Nowak, Einführung in das internationale Menschenrechtssystem, 2002, S. 207. 19 Es ist den beständigen Interventionen Nordamerikas in Lateinamerika geschuldet, dass dem frühzeitigen regionalen Demokratisierungs- und Integrationsprozess kein größerer Erfolg beschieden war und es immer wieder zu autoritären Regimen kam, so B. Horwitz, The Transformation of the Organization of American States, 2010, S. 19. 20 Nicht durchsetzen konnten sich die ambitionierten Pläne, eine Zollunion und eine Inter-American Monetary Union zu gründen. Hingegen war dem Vorhaben, das metrische System und Urheberrechte zu gewährleisten, partiell Erfolg beschieden, siehe B. Horwitz, The Transformation of the Organization of American States, 2010, S. 18. 21 J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 7 ff. 16

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

die Union of American Republics und das Commercial Bureau of American Republics in die Panamerican Union transfomierte. Die interamerikanische Kooperation entwickelte sich nachfolgend immer weiter und gab schließlich auch den Anstoß für die Normierung regionaler Systeme in der Charta der Vereinten Nationen22. Hintergrund dieser Entwicklung bildete die Ablösung der Außenpolitik vom sog. Roosevelt-Corollary („The Doctrine of the Big Stick“) aus dem Jahre 190423, das die isolationistische Außenpolitik durch einen neuzeitlichen Imperialismus24 ersetzte und die politisch-militärische sowie ökonomische Überlegenheit Nordamerikas zum Ausdruck gebracht hatte, durch die sogenannte Good Neighbor Policy von F. D. Roosevelt (1933). Abbild und Ausdruck dieser außenpolitischen Zäsur im Jahre 1933 ist die Konvention von Montevideo, die von nahezu allen amerikanischen Staaten unterzeichnet wurde und die Rechte und Pflichten der Staaten definiert, darunter jenes der Staatengleichheit, der non-intervention und der friedlichen Streitbeilegung25, die bis heute zu den Grundfesten des OASSystems gehören. Weitere Schritte hin zu einer Annäherung Nord- und Südamerikas aufgrund von Sicherheitsaspekten waren die Inter-American Conference for the Maintenance of Peace in Buenos Aires (1936), die Deklaration von Lima auf der achten Lima-Konferenz, dem zweiten Außenministertreffen in Havana (1940) und dem dritten dieser Art in Rio de Janeiro (1942)26. Der Wandel der Beziehung von Konfrontation und Konflikt zu Respekt und Kooperation basierte also zunächst auf Verteidigungs- und Sicherheitsaspekten, später auch auf dem einenden Ziel, einen Loyalitätsbund gegen den aufstrebenden Nationalsozialismus zu erwirken. Die Bemühungen mündeten in die Schaffung des Inter-American Board of Defense (1942) und zweier wesentlicher Resolutionen auf der Inter-American Conference on Problems of War and Peace bzw. Conference of Chapultepec in Mexiko 1945. Resolution VIII trägt den Titel Reci22 M.w. N. J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 7. 23 Dieses sprach den USA explizit eine Schiedsfunktion zu und begründete ein Interventionsrecht für inneramerikanische, „chronische“ Konflikte. 24 Im Zuge dessen kam es auch zu Eroberungsversuchen durch Söldner und andere private Akteure. Frühes und berühmtestes Beispiel ist William Walker, der in den 1850iger Jahren Mexiko, Nicaragua, Honduras, Guatemala und Costa Rica einnehmen wollte. Die „imperialistischen“ Tendenzen prägten das Verhältnis zwischen Nord- und Lateinamerika und wirken bis heute nach. 25 Bedeutung haben die Konferenzbeschlüsse auch insofern, als dass die Jellineksche Lehre der drei konstitutiven Staatselemente erweitert wurde um die Fähigkeit, in die Beziehung mit Staaten zu treten („Souveränität nach außen“ bzw. Völkerrechtsunmittelbarkeit). 26 Dazu B. Horwitz, The Transformation of the Organization of American States, 2010, S. 20 f.

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procal Assistance and American Solidarity und hat die Sicherheitsfragen des Kontinents zum Gegenstand, Resolution IX Reorganization, Consolidation and Strenghtening of the Inter-American System sieht weitreichende Reformen des Inter-Amerikanischen Systems vor, die Vorarbeit und Grundlage der Gründungskonferenz der OAS in Bogotá bildeten27. Unter dem Eindruck des zweiten Weltkrieges reifte auch die politische Erkenntnis eines Zusammenhanges zwischen Menschenrechten und Frieden. Vor diesem Hintergrund wurde auf besagter Konferenz von Mexiko das Erfordernis bindender Menschenrechte und eines internationalen Schutzsystems artikuliert sowie der Interamerikanische Juristenausschuss mit der Aufgabe betraut, eine Amerikanische Erklärung der Menschenrechte und -pflichten auszuarbeiten28. Die internationale Überwachung der Menschenrechte sollte die bis dahin nationale nordamerikanische Intervention zum Schutz der Menschenrechte verdrängen und so Menschenrechtsschutz souveränitätsschonend gewährleisten29. Die panamerikanische Bewegung hat schließlich mit der Transformation der Panamerikanischen Union in die Organisation Amerikanischer Staaten den bis heute gültigen, wenn auch modifizierten institutionellen Rahmen des interamerikanischen Systems gefunden. Dessen Gründungsdokument ist die OAS-Charta von 1948, die 1951 in Kraft trat30. Im Ergebnis lässt sich der lateinamerikanische Panamerikanismus als Reaktion auf den europäischen Kolonialismus und Imperialismus begreifen, während der nordamerikanische Panamerikanismus zunächst einer sich ausbildenden, bedrohliche Züge annehmenden US-amerikanischen Einflussnahme entspringt, die aber dann von einer inneramerikanischen Kooperation abgelöst wird. 2. Paneuropäische Bewegung Ebenso wie auf dem amerikanischen Kontinent haben auch in Europa die Einigungsbewegungen eine lange Tradition. Die abstrakte politische Idee Europas reicht mindestens bis in das 13. Jahrhundert zurück31. 27 Eingehend dazu M. S. Canyes, The Inter-American System and the Conference of Chapultepec, American Journal of International Law, 39 (1945), S. 504 ff. 28 J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 8. 29 J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 8 f. 30 C. G. Fenwick, The Organization of American States: the Inter-American Regional System, 1963, S. 81 31 Vgl. dazu eingehend R. H. Foerster, Europa: Geschichte einer politischen Idee, 1967. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es nicht erst W. Churchill, sondern bereits V. Hugo war, der anlässlich seiner Rede vor dem Pariser Friedenskongress 1849 von den „Vereinigten Staaten von Europa“ sprach. Dies unterstreicht oben vorgetragene,

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Für die vorliegend relevante Thematik der Formation regionalen Menschenrechtsschutzes ist bemerkenswert, dass die panamerikanische Bewegung in Europa eine konkrete Rezeption und Nachahmung gefunden hat. In Reaktion auf den ersten Weltkrieg als die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gründete R. N. Coudenhove-Kalergi die Paneuropäische Union. Seine Ideen sind im 1923 erschienenen, visionären Buch „Paneuropa“ niedergelegt, dessen Titel bereits an A. H. Fried’s32 Werk „Panamerikanismus“ von 1918 angelehnt ist. Auch die amerikanische Devise aus dem Kontext der Monroe-Doktrin griff er auf und projizierte sie auf Europa: „Europa den Europäern“. Im Unterschied zur amerikanischen Bewegung richtete sich die Paneuropäische Union allerdings primär gegen die Gegenwartsphänomene zur Zeit ihrer Entstehung: Nationalismus, Militarismus und Protektionismus. Zentrale Vorstellung war deshalb ein verfasstes und geeintes Europa, das sich auf Friedenssicherung und Prosperität durch Freihandel gründet. Wegen dieser Kernziele der Friedenssicherung und des gemeinsamen Binnenmarktes wird die paneuropäische Bewegung entwicklungsgeschichtlich auch nicht als Vorgänger des Europarates, sondern eher als Vorform der Europäischen Union begriffen33. Der Beitrag dieser Bewegung erschöpft sich jedoch nicht in den wirtschaftlichpazifistischen Motiven. Aus dem Verständnis als Wertegemeinschaft folgerte R. N. Coudenhove-Kalergi eine herausgehobene Stellung des Individuums, die in den enumerativ aufgeführten persönlichen und sozialen Rechten des Verfassungsentwurfes vom 25.04.1944 zum Ausdruck kommt und welche angesichts ihrer Fortschrittlichkeit eine nähere Betrachtung verdienen. In Abschnitt IV widmet er diesen nicht weniger als 18 der insgesamt 95 Artikel (Art. 19 bis 36)34. Darunter finden sich beginnend mit einem universellen Gleichheitsbekenntnis in Art. 19 im Wesentlichen die heute anerkannten Freiheits-, Gleichheits- und justiziellen Rechte. Enthalten sind klassische Verbürgungen wie das Recht auf Meinungs-, Religions-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 20 ff.) ebenso wie auch das pluralismusgeleitete, fortschrittliche Recht auf Gebrauch der eigenen Muttersprache (Art. 26)35. Hinzu treten die sozialen Rechte des Abschnitts V

dem kulturwissenschaftlichen Ansatz geschuldete These, dass in der Kunst eine größere Sensibilität für gesamtgesellschaftliche Veränderungen vorherrscht und durch ihre Repräsentanten oftmals die Primärartikulation erfolgt. 32 Dazu K. Schlichtmann, Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried (1864–1921), JöR 60 (2012), S. 105 ff. 33 Wenngleich begrifflich das System des Europarates als „pan-europäisches Rechtssystem“ verstanden worden ist, vgl. F. Benoit-Rohmer/H. Klebes, Das Recht des Europarates – Auf dem Weg zu einem paneuropäischen Rechtssystem, 2006. 34 Der Verfassungsentwurf vom 25.04.1944 findet sich abgedruckt als Anhang in: C. Pernhorst, Das paneuropäische Verfassungsmodell des Grafen Richard N. Coudenhove-Kalergi, 2008. 35 Dazu vertiefend C. Pernhorst, Das paneuropäische Verfassungsmodell des Grafen Richard N. Coudenhove-Kalergi, 2008, S. 205 ff.

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(Art. 38 bis 44). Sie enthalten zwar sehr weitreichende und fortschrittliche Bestimmungen36, verbleiben aber im Gegensatz zu den persönlichen Rechten als dem Nationalstaat zur Ausgestaltung überlassene Verpflichtungen und gleichen damit eher abstrakt wirkenden Staatszielbestimmungen als Individualrechten. Sie sind weder vor den nationalen Gerichten noch vor dem obersten Gericht der Union einklagbar (vgl. Art. 37 i.V. m. Art. 90). Dennoch erweist sich der Entwurf in grund- und menschenrechtlicher Hinsicht damit als avantgardistisch. Das gilt auch für den Umstand, dass er Elemente der Internationalisierung oder Regionalisierung aufweist. Dies offenbart etwa Art. 37 des Entwurfes von 1944, nach dem die Mitgliedsstaaten gehalten sind, die Grundrechte in ihre nationalen Verfassungen zu inkorporieren und mittels nationaler Behörden und Gerichte deren Durchsetzung zu garantieren. Sodann sollten Berufungen gegen die nationalen Judikate bei einem europäischen Obersten Gerichtshof der Union möglich sein (Art. 37 i.V. m. Art. 90). Bemerkenswert ist auch, dass R. N. Couldenhove-Kalergi nach dem Entstehen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (1948) gänzlich auf menschenrechtliche Ausführungen verzichtete und gemäß der Anlage 2 Nr. 1 A des Aktionsplanes von Interlaken schlichtweg deren Aufnahme in eine europäische Verfassung proklamierte37. Darin ist im Hinblick auf den Menschenrechtsschutz nicht nur eine überaus innovative Öffnung der regionalen Ordnung oder deren Ein- bzw. Unterordnung in das internationale System zu erblicken, sondern geradezu deren Substitution durch ein sich ausbildendes universales Menschenrechtssystem. Für ein eigenständiges regionales Menschenrechtsschutzsystem verbliebe danach kein Raum. 3. Vergleich und Bedeutung der Vorformen In der Gegenüberstellung der beiden überwiegend politischen, vorrechtlichen Einigungsbewegungen wird zunächst deutlich, dass dem aus dem 19. Jahrhundert stammenden Panamerikanismus Vorbildwirkung zukommt, die sodann im 20. Jahrhundert in Europa eine Rezeption erfahren hat. Die Pionierrolle Amerikas erschöpft sich aber nicht in der Einigungsbewegung als solcher, sondern gilt zunächst auch für die konkrete Ausarbeitung menschenrechtlicher Dokumente und die Gründung von Institutionen38. 36 So finden sich neben obligatorischen Sozialversicherungssystemen die Unterstützung von Witwen und Waisen (Art. 38), ein Stipendiensystem für besonders Begabte (Art. 39), der Arbeitsschutz (Art. 40) und der Konsumentenschutz (Art. 41) normiert. 37 Vgl. C. Pernhorst, Das paneuropäische Verfassungsmodell des Grafen Richard N. Coudenhove-Kalergi, 2008, S. 207. 38 Sie hat mit der Amerikanischen Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen vom 02.05.1948 noch vor den Bemühungen im Rahmen der Vereinten Nationen (10.12.1948) und im Europarat (04.11.1950) konkreten Ausdruck und Niederschlag gefunden. Auch die OAS als institutionelle Konsequenz ist älter als der Europarat, die ers-

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Die Rezeption der amerikanischen Einigungsbewegung erfolgte in Europa allerdings unter geändertem Vorzeichen. Bestand das zentrale Motiv im amerikanischem Raum in dem Schutz gegen auswärtige, insbesondere europäische Einflussnahme, in der Abwehr „externer“ Bedrohungen und zum Zweck der kollektiven Verteidigung bzw. Erlangung von politischer Selbstbestimmung und Unabhängigkeit, standen in Europa die Gegnerschaft zu Nationalismus und Militarismus im Mittelpunkt. Die panamerikanische Bewegung ist auf die Begründung des souveränen Nationalstaates, die paneuropäische Bewegung auf dessen Begrenzung ausgerichtet. Während erstere Bewegung eine Reaktion auf externe Bedrohungen für die Region ist, findet letztere ihren Grund in einer internen Gefahrenlage der Region. Ein weiterer bedeutsamer Unterschied der beiden Vorformen ist in dem unterschiedlichen Verrechtlichungs- bzw. Institutionalisierungsprozess zu erblicken. Die im heutigen OAS-System mündende interamerikanische Bewegung erscheint das Produkt eines nicht unbedingt linearen, aber doch kontinuierlichen Prozesses zu sein39. Wenngleich die globale Instabilität und Bedrohungslage seit Mitte der dreißiger Jahre einen entscheidenden Einigungsimpuls gaben, erklärt sich seine Entstehung entwicklungsgeschichtlich nicht von einem einzelnen, konkreten historischen Fluchtpunkt aus, sondern multikausal. Während das interamerikanische System eine weit verzweigte institutionelle und instrumentelle Entwicklungsgeschichte aufweist, entstammt der Europarat letztlich einem singulären Entwicklungsimpuls, hat jedenfalls einen sehr viel konkreteren historischen Ursprung in Gestalt der Reaktion auf totalitäre Herrschaftsregime und das Ende des Zweiten Weltkrieges40. Somit lässt sich in Anlehnung an einen constitutional moment (B. Ackerman)41 ein conventional moment42 identifizieren, der Anknüpfungspunkt te, wenn auch ineffektive Gerichtsbarkeit – die Corte di Cartagena – ist weitaus früher entstanden als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte. 39 Dies bekräftigt beispielsweise auch C. G. Fenwick, The Organization of American States, 1963, S. 3, „But all this was only possible because the new organization was already an established institution, with a long record of common political principles and ideals“. 40 Bemerkenswerterweise sind der Zweite Weltkrieg und die mit ihm verbunden Greueltaten trotz der Eindeutigkeit, anders als etwa im Grundgesetz, nicht in der Satzung des Europarates als Bezugs- und Ausgangspunkt aufgegriffen worden. Dies hat seinen Grund vermutlich in dem von Anbeginn transnationalen Charakter und dem Versuch, die Bundesrepublik Deutschland nicht zu „brandmarken“. Aufgrund dieses sehr konkreten historischen Ursprungs ist die EMRK als Kernstück des Europarates auch genuin antithetischer, abwehrrechtlicher Natur, auf Freiheit hin orientiert. Demgegenüber ist das interamerikanische System nicht radikal-freiheitlich dem status negativus verpflichtet, sondern greift vor allem die langen historischen und bis in die Gegenwart reichenden Ungleichheitserfahrungen der amerikanischen Kontinente auf und ist erkennbar stärker egalitär ausgerichtet (zu diesen Unterschieden unten Teil 2, B. II.). 41 B. Ackerman, We the People: Foundations, 1991, sowie We the People: Transformations, 1998. Kritisch dazu M. J. Klarmann, Constitutional Fact/Constitutional Fiction: A Critique of Bruce Ackerman’s Theory of Constitutional Moments, Stanford Law Re-

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für eine Begleitnarration bildet, seine Legitimität verstärkt und den in ihm ausgearbeiteten Verträgen in besonderem Maße normative Kraft verleiht43. Auch strukturell ist ein sich bis heute fortsetzender Unterschied in der Entwicklungsgeschichte dieser Vorformen erkennbar: Während das europäische System – bei allen signifikanten Differenzen und der lange Zeit existenten Trennung in Ost- und Westeuropa – letztlich in sich geschlossen ist und aus dieser Geschlossenheit heraus sukzessive erweitert worden ist, kennzeichnet das amerikanische System einen bereits in der Janusköpfigkeit der Einigungsbewegung deutlich identifizierbaren „Bruch“, eine kulturell-historische Divergenz zwischen Nord- und Lateinamerika, die sich bis in die Gegenwart in einem zweigeteilten System innerhalb der OAS fortsetzt: Während der angelsächsisch geprägte Norden Amerikas ohne obrigkeitliche Residuen, als eine „freie“ Nation aus Immigranten auf Grundlage des Puritanismus und eingedenk parlamentarischer Traditionen gegründet wurde, basiert Mittel- und Südamerika auf der streng hierarchischen Ordnung des iberischen Weltreiches44. Der amerikanische Kontinent repräsentiert somit auf eine spezifische Weise bis heute zwei verschiedene geographische Teile und Epochen Europas: Nordamerika reflektiert in enger geschichtlicher Verbundenheit das englisch-französische Völkerrechtszeitalter und den Konstitutionalismus, dessen Bestrebungen die erste und zweite Stufe in der Menschenrechtsentwicklung ausmachen und als Emergenz der Menschenrechte begriffen werden können45. Mittel- und Südamerika hingegen sind geprägt durch die vorangegangene, bereits skizzierte spanische Völkerrechtsepoche, die einerseits den bedeutsamen Ausgangspunkt der menschenrechtlichen Entwicklung bildet, andererseits aber menschenrechtlich nur fulgurativen, unausgereiften Charakter tragen46 und ein schwächeres Entwicklungsfundament darstellen. Die signifikant unterschiedlichen sprachlichen, religiösen, kulturellen und entwicklungsgeschichtlichen Vorbedingungen zeitigen also einen „Riss“ zwischen Nordund Südamerika, der auch der panamerikanischen Bewegung immanent ist und bis heute nachwirkt. Die „interamerikanische Integration“ ist insoweit eher Idee view 44 (1992), S. 759 ff. Dazu in Bezug auf das Völkerrecht M. Kotzur, „Constitutional Moments“ in globaler Perspektive – eine völkerrechtliche Spurensuche, JöR 62 (2014), S. 445 ff. 42 Der Begriff „conventional“ ist insofern – seiner ursprünglichen Bedeutung entsprechend – als „conventio“, als zeremonielle Zusammenkunft bzw. als ein förmlicher Akt des sich Verbindens, zu verstehen. 43 Gleichwohl haben beide Systeme charismatische „maximal leader“ als Vordenker einer „politischen Redefinition“ wie etwa S. Bolivár und R. N. Coudenhove-Kalergi, aber auch W. Churchill, C. de Gaulle und A. De Gasperi, R. Schuman, P.-H. Spaak und E. Bevin. Vertiefend zu der Bedeutung solcher „maximal leader“ B. Ackerman, The Rise of World Constitutionalism“, Virgina Law Review 83 (1997), S. 787 ff. 44 O. C. Stoetzer, Panamerika – Idee und Wirklichkeit, 1964, S. 10 f. 45 Vgl. dazu bereits Teil 1. 46 Siehe Teil 1.

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und Ideal geblieben, wenngleich die panamerikanische Bewegung bis hin zu den vielgestaltigen und intensiven Gegenwartsbemühungen der OAS versucht, diese immer noch existente, regionale „Ungleichzeitigkeit“ 47 integrativ zu überwinden oder zumindest zu relativieren. Im Ergebnis geben beide Einigungsbewegungen jenseits aller Unterschiedlichkeit Zeugnis von der Notwendigkeit und prägenden Kraft historischer Vorformen für die nachfolgend errichteten regionalen Menschenrechtsschutzsysteme48. So findet auch die heutige Afrikanische Union (AU) ihren Ursprung nicht nur in der Organisation für Afrikanische Einheit (OAE) von 1963, die wiederum auf den Ideen und der Arbeit der Casablanca-Gruppe aufbaut, sondern bereits im Panafrikanismus49. Funktion der vorrechtlichen, politischen Bewegungen ist es, zunächst eine erste räumliche Eingrenzung vorzunehmen und insoweit die geographisch-politische Grundlage für regionale Menschenrechtsräume zu definieren. Weiterhin geben sie ein erstes, im Konkretisierungsgrad freilich variierendes, thematisches Programm für die späteren Organisationen vor, indem sie zentrale Themenkomplexe wie Menschenrechte, Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit in den überstaatlichen Diskurs einführen. Auch bedeutende Prinzipien wie das der souveränen Gleichheit der Staaten (Art. 2 Nr. 1 UN-Charta), der friedlichen Streitbeilegung (Art. 2 Nr. 3 UN-Charta) und der territorialen Integrität und der NichtIntervention (Art. 2 Nr. 4 und Nr. 7 UN-Charta) bilden sich im multilateralen Zusammenhang heraus und durchprägen diesen. Ferner schaffen sie überhaupt erst das kollektive Bewusstsein bzw. die Sensibilität für die Erforderlichkeit transnationaler Überwachung menschenrechtlichen Schutzes und staatlicher Kooperation in den damit untrennbar verbundenen Sachbereichen. Schließlich beginnen sie mit der Relativierung etatistischer Elemente und staatlicher Souveränitätsvorbehalte, die überstaatlichen Schutzinstrumenten mit Ein- bzw. Durchgriffsmöglichkeiten prinzipiell entgegenstehen. Damit leisten sie eine eminent wichtige, unerlässliche Vorarbeit für die Gründung eines stabilen regionalen Institutionengeflechts und der Akzeptanz bzw. effektiven Wirkungsweise von dessen Instrumenten. 47 Begriffsbildend, aber mit anderem Inhalt E. Bloch, Erbschaft dieser Zeit, 1985, wieder aufgegriffen durch den Historiker E. J. Hobsbawm und den Soziologen R. Albrecht. Für das Recht der EU etwa D. Thym, Ungleichzeitigkeit und europäisches Verfassungsrecht, 2004. 48 In diese Richtung auch C. G. Fenwick, The Organization of American States, 1963, S. 3. 49 Auch dieser geht historisch weit zurück bis auf das Jahr 1900, in dem die erste panafrikanische Konferenz in London stattfand. Die dem Panafrikanismus zugrundeliegenden Motive waren die Gegnerschaft zu Rassismus und Imperialismus, der „afrikanischen Diaspora“ und schließlich die Dekolonisation. Mithin verbanden sich in dieser Bewegung ebenfalls menschenrechtliche Motive mit primär völkerrechtlichen Prinzipien wie dem der Selbstbestimmung und der Unterbindung von Interventionen.

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II. Systemische Entstehungsfundamente der Menschenrechtsschutzsysteme 1. Die Organisation Amerikanischer Staaten a) Entstehung und Entwicklung Ihren konkreten Ursprung fand die OAS50 auf der neunten interamerikanischen Konferenz der Außenminister 1948 in Bogotá51 mit der OAS-Charta als Gründungsdokument52. Zusammen mit dem zeitgleich verabschiedeten Pakt von Bogotá (Treaty of Peaceful Resolution of Conflicts) und dem ein Jahr zuvor verabschiedeten Rio-Pakt (Inter-American Treaty of Reciprocal Assistance) entstand jene Trias von Verträgen, auf denen das System beruht. Die politische Zusammenarbeit erhielt eine völkerrechtliche Grundlage und einen institutionellen Rahmen53. Die OAS-Charta als für diese konstitutives, bis heute zentrales Dokument trat 1951 in Kraft und ist mehrfach novelliert worden, so durch das Protokoll von Buenos Aires (1967)54, das Protokoll von Cartagena de Indias (1985), das Protokoll von Washington (1992) und das Protokoll von Managua (1993). Betrachtet man die Geschichte der OAS, ist eine gewisse Dynamik auffällig. Der anfängliche, maßgeblich vom zweiten Weltkrieg ausgehende Integrationsimpuls wurde bald konterkariert durch die kommunistische Bedrohung und den Kalten Krieg. Selbstbestimmung und demokratische Konsolidierung wichen erneut unilateraler Interventionspolitik auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Der bipolare Ideologiekontext führte abermals zu einer Phase, die gekennzeichnet war durch hegemonielle Ansprüche der Vereinigten Staaten in der westlichen Hemisphere. So reduzierten die USA unter Bruch mit tradierten interamerikanischen Prinzipien die OAS auf ein Instrument ihrer außenpolitischen Ziele, insbe50 Grundlegend zur OAS, C. G. Fenwick, The Organization of American States, 1963; G. Kutzner, Die Organisation der Amerikanischen Staaten, 1970; V. P. Vaky/ H. Munoz, The Future of the Organization of American States, 1993. D. Sheinin, The Organization of American States, 1995. 51 Bei prozesshafter Betrachtung ist dies eher als ein Teilschritt einer weiter reichenden Entwicklungsgeschichte angesehen worden, der mit der ersten panamerikanischen Konferenz 1823 beginnt. Dadurch bekäme die OAS den Status der ältesten internationalen Organisation überhaupt – noch vor dem Internationalen Telegraphenverein (1868) und dem Weltpostverein (1874), so J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 11. 52 Weiterhin wurde auch die Amerikanische Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen, die Inter-American Convention on the Granting of Political and Civil Rights to Women und die Inter-American Convention for Granting Equal Rights to Women zu diesem Zeitpunkt verabschiedet. 53 Vgl. J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 11. 54 Die Reform ist Reaktion auf die wachsenden Spannungen zwischen den USA und Lateinamerika, so M. Herz, The Organization of American States, 2011, S. 15.

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sondere zur Durchsetzung ihrer Containment-Politik55. Auch der Dekolonialisierungsprozess in den 1960er Jahre bedeutete aufgrund von Kontroversen um die Mitgliedschaft der nunmehr unabhängigen Staaten mehr eine Herausforderung denn eine Stärkung und Stabilisierung des interamerikanischen Systems56. Positiver hingegen nimmt sich die Periode der 1970er Jahre aus. In dieser Zeit entsteht mit der 1969 verabschiedeten und 1978 in Kraft getretenen Amerikanischen Menschenrechtskonvention und der Gründung des Menschenrechtsgerichtshofes der Kern des heutigen interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems57. Die letzte Dekade des „Kalten Krieges“ ist wiederum gekennzeichnet durch eine Missachtung der OAS und ihrer Regeln seitens der USA, die sich in der unilateralen Positionierung zugunsten des Vereinigten Königreichs im Falkland-Konflikt sowie in Interventionen in Grenada (1983) und Panama (1989) manifestiert58. Als Ausdruck dessen kann schließlich auch der „indirekte“, ökonomische Interventionismus der USA in Gestalt forcierter wirtschaftsliberaler Strukturreformen (Washington Consensus) als Reaktion auf die lateinamerikanische Schuldenkrise gewertet werden, der eine wirtschaftliche Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten zur Konsequenz hatte. Mit dem Ende des Kalten Krieges setzt dann aber eine Phase der Redefinition der zuweilen durch hegemonialen und instrumentellen Aktivitäten und Misstrauen geprägten inneramerikanischen Beziehungen ein, die auch für die OAS positive Folgen zeitigt. So weichen die Konflikte und Spannungen zwischen Nord- und Lateinamerika einem weitgehenden Konsens, und die Tätigkeitsbereiche der OAS erweitern sich auf wirtschaftliche59, umweltpolitische, flüchtlingspolitische und drogenpolitische60 Fragestellungen. Neue Sachbereiche wie etwa Technologie und Wissenschaft, Tourismus und Bildungsaspekte treten hinzu61. 55 Beispielhaft dafür ist die Isolationspolitik gegenüber Kuba, die im Rahmen der OAS ausgetragen wurde und 1962 in deren Suspendierung endete. Derzeit finden Wiederaufnahmebemühungen statt; erst seit 2009 ist jene Resolution nicht mehr in Kraft. Anschaulich sind auch diverse Interventionen der USA wie etwa in Argentinien und Peru (1962), Ecuador, Guatemala und Honduras (1963) und in der Dominikanischen Republik (1965), die ex post seitens der OAS versucht worden sind zu legitimieren und Akzeptanz oder Billigung fanden, B. Horwitz, The Transformation of the Organization of American States, 2010, S. 24. 56 Dieser begann mit Trinidad und Tobago sowie Jamaica 1967 und Barbados 1969, während Belize und Guyana aufgrund von Grenzstreitigkeiten erst 1991 Mitgliedschaft erlangen konnten, M. Herz, The Organization of American States, 2011, S. 15. 57 Dazu ausführlich sogleich unter Teil 2, B. I. 2. und II. 58 M. Herz, The Organization of American States, 2011, S. 16. 59 Mittelpunkt dessen bildet der Freihandel, was zur Gründung der Free Trade Area of the Americas (FTAA) 1994 in Miami führte. Ferner ist die Inter-American Development Bank (IDB) und die Economic Commission for Latin America and the Carribean (ECLAC) zu nennen. 60 Verdeutlicht wird diese durch die Gründung des Inter-American Drug Abuse Control Committee (CICAD). 61 M. Herz, The Organization of American States, 2011, S. 20.

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Der lange Zeit existente und perpetuierte „asymmetrische Regionalismus“ zwischen Nord- und Lateinamerika beginnt sich allmählich aufzulösen und führt zu einer Transformation des gesamten OAS-Systems62. Neben dieser thematischen und kompetenziellen Erweiterung und der zunehmenden politischen Integration kommt es auch zu einer geographischen Expansion, indem 1990 Kanada und 1991 Belize und Guyana der OAS beitreten, die schließlich alle 35 Staaten des amerikanischen Kontinents umfasst. b) Organisation und Struktur Die organisatorische Struktur der OAS mit ihrer Vielzahl an Organen ist in Kapitel VIII der OAS-Charta niedergelegt. Hauptorgan ist die Generalversammlung (Kapitel IX, Art. 54–60), in der gemäß dem Prinzip der souveränen Gleichheit jeder Staat mit einer Stimme repräsentiert ist (Art. 56). Sie tagt grundsätzlich jährlich (Art. 57), kann aber auch außerordentlich einberufen werden (Art. 58). Zum in Art. 54 enthaltenen Aufgabenkatalog gehören unter anderem allgemeine Maßnahmen sowie die Festlegung der Politik der OAS, die Bestellung und Bestimmung der anderen Organe, das Budgetrecht und die Sicherstellung der internen wie externen Koordination. Die Generalversammlung entscheidet grundsätzlich mit der absoluten Mehrheit ihrer Mitglieder (Art. 59). Die Zusammenkunft der Außenminister (Art. 61 ff.) dient als konsultatives Organ, das im Falle dringender Probleme oder aus allgemeinem Interesse der amerikanischen Staaten zusammentritt. Dies erfolgt auf Verlangen eines der Mitgliedsstaaten (Art. 62) oder im Falle eines Angriffs auf das amerikanische Territorium (Art. 65), weshalb die Zusammenkunft der Außenminister zugleich ein Organ des Inter American Treaty of Reciprocal Assistance (IATRA) ist. Der Ständige Rat, Kapitel XII Art. 80 bis 92, setzt sich aus einem Repräsentanten pro Mitgliedsstaat im Rang eines Botschafters zusammen (Art. 80). Ihm anvertraut ist unter anderem die Bildung von ad-hoc Kommissionen (Art. 86), Streitbeilegung unter den Mitgliedstaaten (Art. 84 f.) sowie die Wahrnehmung aller Maßnahmen, die Generalversammlung oder Außenministerkonferenz an ihn herantragen (Art. 82). Besondere Aufmerksamkeit verdient auch der Interamerikanische Rat für Integrale Entwicklung (Kapitel XIII, Art. 93 ff.), dem die Aufgabe zukommt, für eine bessere Kooperation der Mitgliedstaaten zu sorgen, um extreme Armut zu bekämpfen und für wirtschaftlichen, sozialen, wissenschaftlichen, kulturellen und technischen Fortschritt zu sorgen (Art. 94 f.). Er gibt Zeugnis vom hohen Stellenwert der Egalität und sozialen Gerechtigkeit im interamerikanischen Raum. Das Interamerikanische Juristenkomitee (Art. 99 ff.) besteht aus elf Juristen und 62 Diese These untersuchend B. Horwitz, The Transformation of the Organization of American States, 2010, S. 29 ff.

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unterstützt die OAS in rechtlicher Hinsicht, insbesondere im Prozess der Weiterentwicklung der Verträge und der Kodifikation. Zentrales und permanentes Organ der OAS ist das Generalsekretariat, das alle ihm durch die Charta und andere interamerikanische Verträge übertragenen Aufgaben wahrnimmt (Art. 107). Ihm kommt u. a. die Aufgabe zu, die wirtschaftliche, soziale, kulturelle und wissenschaftliche Verbindung aller amerikanischen Staaten zu verstärken und insbesondere die Armut zu bekämpfen (Art. 111). Die interamerikanische Menschenrechtskommission schließlich ist – anders als der Interamerikanische Gerichtshof – ebenfalls ein Hauptorgan der OAS (Art. 106). Sie unterstützt einerseits die OAS auf konsultative Art, andererseits hilft sie bei der Verbreitung und Überwachung der Einhaltung der Menschenrechte. Neben diesen Organen bestehen zahlreiche weitere Räte, Komitees und Agenturen, die Zeugnis geben von dem weiten Aufgabenspektrum der OAS63. Auch tagen seit 1994 in etwa vierjähriger Abfolge64 die Staats- und Regierungschefs der OAS-Staaten, um die weitere Entwicklungsrichtung der OAS festzulegen. c) Aufgabenspektrum und Funktionen der OAS Die OAS ist ein intergouvernementales Forum, bildet den Prototyp einer regionalen Organisation nach Kapitel VIII der UN-Charta65 und ist auch als „Völkerbund sui generis“ (O. C. Stoetzer) bezeichnet worden. Die Aufgaben der OAS finden sich in Art. 2 der Charta definiert und lassen sich vier Säulen zuordnen: Demokratie, Menschenrechte, Entwicklung und Sicherheit. Dem letztgenanntem Aspekt dienen der bereits erwähnte Pakt von Bogotá, der ein ausdifferenziertes Regime zur friedlichen Streitbeilegung enthält, und der Rio-Pakt, der ein System der kollektiven Sicherheit und ein Verteidigungsbündnis etabliert66. Die Aufgabe des Schutzes und der Förderung demokratischer Strukturen durch die OAS hat vor allem in jüngerer Zeit an Bedeutung gewonnen. Mit dem Proto63 So etwa das Inter-American Defense Board, Inter-American Committee against Terrorism, Inter-American Telecommunications Commission, Inter-American Committee on Ports, Inter-American Institute of Geography and History, Inter-American Institute for Cooperation on Agriculture, Inter-American Drug Abuse Control Commission, Pan American Health Organization, Inter-American Committee on Natural Disaster Reduction, Inter-American Children’s Institute, the Inter-American Institute for Human Rights, Inter-American Indian Institute und die Inter-American Commission of Women. 64 1994 in Miami, 1998 in Santiago de Chile, 2001 in Quebec City, 2005 in Mar del Plata, 2009 in Port of Spain. 65 M. Herdegen, Völkerrecht, 13. Auflage, 2014, § 44 Rn. 1. 66 B. Horwitz, The Transformation of the Organization of American States, 2010, S. 22.

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koll von Cartagena von 1985 hat dieses Ziel auch Eingang in die OAS-Charta gefunden (vgl. Art. 2 lit. b) und zur Ausarbeitung der 2001 durch die Generalversammlung angenommenen Inter-Amerikanischen Demokratiecharta geführt67. Der Schutz der Menschenrechte nimmt in der OAS-Charta selbst, trotz der bereits früh auf den Panamerikanischen Konferenzen diskutierten Menschenrechtsfragen, nur einen geringen Raum ein. Die Charta inkorporiert weder die Amerikanische Menschenrechtsdeklaration von 1948 noch enthält sie einen expliziten Verweis auf diese und ist somit im Wesentlichen ein organisationsrechtliches Dokument geblieben68. Nur rudimentär und allenfalls mit Programmsatzcharakter finden sich vereinzelte menschenrechtliche Bestimmungen wie etwa in der Präambel, in Art. 3 Abs. 1, Art. 17 und Art. 45. Den Menschenrechtsschutz gewährleistet primär das 1969 geschaffene interamerikanische Menschenrechtsschutzsystem in Gestalt der auch als „Pakt von San José“ bezeichneten Amerikanischen Menschenrechtskonvention. Gleichwohl bleibt die OAS-Charta für die Entwicklung des Menschenrechtsschutzes neben der Menschenrechtskonvention bedeutsam: Historisch, weil sich auf dieser Grundlage das interamerikanische System entfaltet hat; bis in die Gegenwart, weil die Charta auch für jene OAS-Staaten gilt, die die AMRK nicht ratifiziert haben; institutionell, weil die interamerikanische Menschenrechtskommission ein Hauptorgan der OAS ist. 2. Der Europarat a) Entstehung und Entwicklung Die seit dem Mittelalter abstrakt existente Idee von einem sich immer enger zusammenschließenden Europa und die paneuropäische Bewegung gewannen in Reaktion auf die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges konkrete Form. Zunächst gründeten sich zahlreiche private transnationale Bewegungen mit dem Bestreben, eine Zusammenführung der europäischen Völker zu erwirken und eine Einigung des Kontinents zu erzielen. Diese fanden sich 1947 in dem „Internationalen Komitee zur Koordinierung der Bewegung für die Einheit Europas“ zusammen69. Auf dessen Initiative geht der 1948 abgehaltene Haager Kongress zurück, der „den wichtigsten und stärksten zur Gründung des Europarates hinführenden Kraftstrom“ darstellt70. 67 Auf Basis dieser ist es im Juli 2009 zur Suspendierung Honduras in Übereinstimmung mit Art. 21 der Demokratiecharta gekommen. Mittlerweile ist Honduras allerdings im Zuge einer von der Generalversammlung mit nur einer Gegenstimme verabschiedeten Resolution wieder aufgenommen worden. 68 Auch der Vorschlag des Außenministers von Uruguay, einen multilateralen Interventionsmechanismus zur Wahrung der Menschenrechte zu schaffen, setzte sich nicht durch, vgl. A. Schreiber, The Inter-American Commission on Human Rights, 1970, S. 15 ff. 69 K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956, S. 10 f. 70 So K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956, S. 11.

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Die daraus resultierende „Europäische Bewegung“ setzte die Ausarbeitung von Ideen fort. Protagonist war insbesondere W. S. Churchill, der anknüpfend an R. N. Coudenhouve-Kalergis paneuropäische Vision weitreichende politische Integrationsideen entwarf 71. Frühzeitig – bereits 1943 – formulierte er in einer Radioansprache an die Nation das Bedürfnis eines „Council of Europe“ 72, dem die Aufgabe zukäme, die noch zu gründenden Vereinten Nationen als Universalorganisation regional zu entlasten und zu unterstützen. In seiner berühmten Züricher Rede vom September 1946 weitete er diese Idee aus und appellierte „a kind of United States of Europe“ zu schaffen. Die sich immer deutlicher abzeichnende Bedrohung durch Sowjetrussland führte schließlich zu einem ersten für die weitere Entwicklung nicht unbedeutenden europäischen Zusammenschluss in Gestalt des Brüsseler Paktes vom März 194873, der allerdings primär ein militärisches Bündnis darstellte. Am 5. Mai 1949 kam es dann mit dem Vertrag von London zur Gründung des Europarates. Die Zahl der Mitglieder ist von ehemals zehn auf mittlerweile 47 Staaten angewachsen, wodurch die gemäß Art. 4 der Satzung geographisch auf Europa beschränkte Organisation nunmehr einen Rechtsraum von etwa 820 Millionen Menschen umfasst74. Zweifelsohne bringt diese an sich begrüßenswerte Erweiterung auch Probleme mit sich. Einige der beigetretenen Staaten weisen hinsichtlich menschenrechtlicher Standards, Demokratie und rechtsstaatlicher Strukturen immense Defizite auf. Einerseits birgt die Mitgliedschaft im Europarat die Chance, diese Defizite zu identifizieren und zu sanktionieren. Andererseits wird der europäische Maßstab im Hinblick auf Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit dadurch faktisch uneinheitlich und droht zu erodieren oder „gebeugt“ zu werden. Es besteht die Gefahr, dass „gespaltenes Recht“ 75 erzeugt wird, das die normative Kraft des Rechts beschädigt. Aber nicht nur räumlich, sondern auch inhaltlich hat sich der Europarat weit entwickelt und auf vielen verschiedenen Feldern Tätigkeit entfaltet. So sind insgesamt mehr als 200 Konventionen auf wirtschaftlichem, sozialem, kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet (vgl. Art. 1 lit. b der Satzung) entstanden.76 Auf-

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U. a. hatte dieser auch den Vorsitz der United Europe Movement inne. In dieser Radioansprache spricht W. Churchill ergänzend i. Ü. auch von einem „Council of Asia“. 73 Die Bedeutsamkeit dieses Paktes zeigt sich schon daran, dass die Präambel große Ähnlichkeit mit der Satzung des Europarates aufweist. Sie bestimmt die bis heute gültigen Axiome des Europarates in Form von Menschenrechten, Demokratie und Herrschaft des Rechts, vgl. jeweils Abs. 3. 74 So umfasst er mit Ausnahme des Kosovo, des Vatikans und Belarus alle europäischen Staaten 75 So E. Klein/S. Schmahl, in: W. Graf Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Auflage, 2013, Rn. 247. 76 Übersicht über die Konventionen des Europarates unter http://conventions.coe.int. 72

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grund dieses umfassenden Programms ist der Europarat als die aktivste und effektivste Regionalorganisation bezeichnet worden77. b) Organisation und Struktur Dem Europarat liegt ein intergouvernementales Organisationskonzept zu Grunde. Gemäß Art. 10 seiner Satzung ist der Europarat organisatorisch durch das Ministerkomitee und die Beratende Versammlung konzipiert. Wenngleich die Organisationsstruktur überwiegend mit dem tradierten Modell anderer internationaler Organisationen übereinstimmt, ist hierin doch eine Besonderheit zu erkennen. Mit der Konzeption der Beratenden Versammlung ist erstmalig ein parlamentarisch-demokratisches Element innerhalb einer internationalen Organisation eingeführt worden78. Neben das Ministerkomitee als Vertretung der Regierungen der Mitgliedsstaaten (vgl. Art. 14 der Satzung) tritt eine Repräsentation der Völker, die sich aus den nationalen Parlamenten konstituiert (Art. 25 der Satzung). Damit wird der Demokratisierung als einem der Fundamentalziele des Europarates auch institutionell Rechnung getragen79. Weitere Besonderheit ist die Teilhabe der Regionen und Gemeinden, die zunächst in der 1961 gegründeten „Ständigen Konferenz der Gemeinden und Regionen Europas“, später im Kongress der Gemeinden und Regionen Europas, Niederschlag gefunden hat und Ausdruck des Subsidiaritätsgedankens ist. Schließlich ist anlässlich des 50-jährigen Bestehens des Europarates 1999 das Amt des Menschenrechtskommissars kreiert worden. Der durch die Parlamentarische Versammlung für eine einmalige Amtszeit von sechs Jahren gewählte unparteiliche und unabhängige Kommissar hat keine justizielle oder quasi-exekutivistische Funktion, sondern dient allein der allgemeinen Verbreitung, Förderung und dem Schutz der Menschenrechte etwa durch Erziehungsmaßnahmen80. Mangels klarer Kompetenzen kommt ihm vor allem eine Beratungs- und Informationsfunktion zu81.

77 E. Klein/S. Schmahl, in: W. Graf Vitzthum/A. Proelß (Hrsg.), Völkerrecht, 6. Aufl. 2013, Rn. 245. 78 Diese Bestrebungen gehen schon auf die ersten Entwürfe vor der Haager Resolution insbesondere von belgisch-französischer Seite zurück, die eine direkte Wahl der Abgeordneten durch die europäischen Völker vorsahen, siehe K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956, S. 14. 79 Konsequenterweise hat diese „Parlamentarisierung“ das Ministerkomitee dazu verleitet, 1994 den Beschluss zu fassen, zukünftig den Begriff der Parlamentarischen Versammlung anstatt der Beratenden Versammlung zu verwenden. 80 Eingehend geregelt ist das Amt in Resolution (99) 50 des Ministerkomitees vom 07.05.1999. 81 T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale Instrumente, Institutionen, 2010, S. 190.

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c) Aufgaben und Aktivitäten Die Aufgaben und Ziele des Europarates finden sich in Kapitel I, Art. 1 seiner Satzung niedergelegt. Hiernach hat er die Aufgabe, einen engeren Zusammenschluss unter seinen Mitgliedern zu verwirklichen, deren Grundsätze und Ideale zu wahren, zu fördern und schließlich sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt zu begünstigen. Wenngleich neben dem Schutz und der Förderung der Menschenrechte in Art. 1 Ziff. b) ein breites Spektrum an Aufgaben expliziert ist, das Wirtschaft, soziales Leben, Kultur, Wissenschaft, Rechtspflege und Verwaltung gleichermaßen umfasst, hat sich seine Aktivität seit jeher besonders auf den Bereich der Menschenrechte konzentriert. So hat die überwiegende Mehrzahl der mehr als 200 im Rahmen des Europarates verabschiedeten Konventionen den Menschenrechtsschutz zum Gegenstand. Dadurch wird „Europa ohne Zweifel zu dem Kontinent, in dem das Netz menschenrechtlicher Verbürgungen am dichtesten geknüpft ist.“ 82. Exemplarisch seien neben der noch detaillierter zu analysierenden EMRK als erstem völkerrechtlichem Vertrag, der Menschenrechte kodifizierte und ein Kontroll- bzw. Durchsetzungsinstrumentarium enthält83, die folgenden Instrumente genannt: Die Europäische Sozialcharta (1961)84, das Europäische Übereinkommen zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) (1987)85 sowie zahlreiche Übereinkommen zum Min-

82 E. Klein, 50 Jahre Europarat – Seine Leistungen beim Ausbau des Menschenrechtsschutzes, AVR 39 (2001), S. 123. 83 W. Strasser, 45 Jahre Menschenrechtsinstitutionen des Europarates – Bilanz und Perspektiven, in: U. Holz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, 2000, S. 126. Zu deren Entstehung früh, K. J. Partsch, Die Entstehung der europäischen Menschenrechtskonvention, ZaöRV 15 (1954), S. 631 ff. sowie jüngeren Datums, F. Brinkmeier, Die Entstehungsgeschichte der Europäischen Menschenrechtskonvention – Bedeutung für den europäischen Einigungsprozeß, MRM Themenheft 2000, S. 21 ff. 84 European Social Charta vom 18.10.1961, in Kraft getreten am 26.02.1965, revidierte Fassung vom 03.05.1996, in Kraft getreten am 01.07.1999, BGBl. 1965 II, S. 1261 und BGBl. 1965 II, S. 1122. Dazu N. Weiß, Wirkung und Mängel der Europäischen Sozialcharta, in: Jahrbuch Menschenrechte, Bd. 5 (2003), S. 305 ff.; ferner X. Neubeck, Die Europäische Sozialcharta und deren Protokolle: Einfluß und Bedeutung der sozialrechtlichen Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta auf das deutsche Recht und auf das Recht der Europäischen Union, 2002. 85 European Convention for the Prevention of Torture and Inhumane and Degrading Treatment or Punishment vom 26.11.1987, in Kraft getreten am 01.02.1989, BGBl. 1990 II, S. 247 und BGBl. 2008 II, S. 854. W. S. Heinz, Zur Arbeit des Europäischen Antifolterausschusses des Europarats, in: A. Zimmermann (Hrsg.), Folterprävention im völkerrechtlichen Mehrebenensystem, 2011, S. 81 ff.; R. Kicker, The European Committee for the Prevention of Torture and Inhuman or Degrading Treatment or Punishment, in: G. de Beco (Hrsg.), Human Rights monitoring mechanisms of the Council of Europe, 2011, S. 43 ff.

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derheitsschutz86, die Konvention über Menschenrechte und Biomedizin (1997)87 sowie die Konvention gegen Menschenhandel (2005)88. Neben den Menschenrechten kommt der Verbreitung und Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie große Aufmerksamkeit zu. 3. Vergleich und Bewertungen der regionalen menschenrechtlichen Fundamente Augenscheinlich ist, dass OAS und Europarat intergouvernemental strukturierte Fundamente und Foren für eine Vielzahl an Koordinationsbereichen darstellen. Als solche weisen sie weitreichende Übereinstimmungen, aber auch signifikante Unterschiede auf. Erste wesentliche Differenzen offenbaren sich bereits im Entstehungszeitpunkt. Die OAS ist älter als der Europarat und damit die älteste regionale Organisation überhaupt. Auch reicht ihre Vorgeschichte deutlich weiter zurück. Gleichwohl sind Wirkung und Entwicklung der OAS – anders als die des Europarates – lange Zeit durch die Interessen des mächtigsten Mitgliedstaates, respektive durch die Vereinigten Staaten, gehemmt bzw. instrumentalisiert worden. Ein Gleichklang besteht insofern, als dass für beide Organisationen das Ende des Kalten Krieges eine Zäsur markiert. Während die OAS nachfolgend aber ihre Aktivitäten sachlich-inhaltlich bedeutend ausgeweitet hat, erweiterte sich der Europarat vor allem geographisch. Ferner besteht auch ein Unterschied in dem Entstehungsmotiv. Die Gründung des Europarates erklärt sich primär aus jenem „trostlosen Chaos“ 89, des Elends und der Hoffnungslosigkeit, in dem sich Europa nach dem Ende des zweiten Weltkrieges befand, erklärt sich also letztlich aus einem singulär-historischen Moment. Zwar mag der Gründungsakt der OAS letztlich auch auf die globale menschenrechtliche Katastrophe zur Mitte des 20. Jahrhunderts rückführbar sein. Insgesamt ist die Entwicklungsgeschichte jedoch vielfältig verzweigt und konkretisiert sich institutionell früher als die des europäischen Pendants. Weiterhin unterscheiden sich die beiden Organisationen hinsichtlich ihrer Aktionsfelder und der Aktionsvielfalt. Zwar besteht Kongruenz hinsichtlich der 86 Etwa die Europäische Charta der Regional- und Minderheitensprachen, Charter for Regional or Minority Languages vom 05.11.1992, in Kraft getreten am 01.03.1998 oder das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten, Framework Convention for the Protection of National Minorities vom 01.02.1995, in Kraft getreten am 01.02.1998. 87 Convention on Human Rights and Biomedicine vom 04.04.1997, in Kraft getreten am 01.12.1999. 88 Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Being vom 16.05.2005, in Kraft getreten am 01.02.2008, BGBl. 2012 II, S. 1107. 89 K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956, S. 9.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

Ziele des Menschenrechtsschutzes, der Wahrung und Entwicklung demokratischer Strukturen, von Rechtsstaatlichkeit und der Förderung wirtschaftlicher Prosperität, doch sind Aktionsradius und Kompetenzbereich der OAS in gewisser Hinsicht weitreichender, weshalb sie auch als „Völkerbund sui generis“ (C. O. Stoetzer) bezeichnet worden ist. So umfasst die OAS mit dem Rio-Pakt bzw. Inter-American Treaty of Reciprocal Assistance (TIAR) von Anbeginn ein kollektives Sicherheits- und Verteidigungssystem. Im Gegensatz dazu sind „Fragen der nationalen Verteidigung“ für den Europarat nach Art. 1 lit. d) seiner Satzung explizit ausgenommen. Dem liegt in erster Linie kein antibellizistischer Reflex zugrunde, sondern die politische Gesamtarchitektur Europas. Neben dem Europarat bestehen mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE), der North Atlantic Treaty Organization (NATO) und der Europäischen Union (EU) drei weitere Organisationen. Während die EU mit ihren 28 Mitgliedsstaaten primär wirtschaftliche Ziele verfolgt und den höchsten Integrationsgrat aufweist, ist der militärische und strategische Aufgabenbereich vor allem der NATO zugewiesen. Aufgrund dieser Funktionsteilung fallen Verteidigungsaspekte ebenso wie eine enge wirtschaftliche Kooperation und Integration der Staaten von vornherein aus dem Bereich des Europarates heraus90. Aufgrund dieser Einbettung in ein Organisationenensemble und Institutionengefüge hat sich der Europarat vornehmlich des Schutzes der Menschenrechte angenommen und sich als Organisation auf dem Gebiet der „soft security“ profiliert. Während der Europarat insgesamt die höhere Dichte an Abkommen und Konventionen aufweist, zeichnet sich die OAS durch die Weite ihrer Aufgaben aus. Da die OAS neben Verteidigungsaspekten aufgrund der strukturellen Schwäche des North American Free Trade Agreement (NAFTA) noch stärker wirtschaftliche und soziale Politiken beinhaltet, ist sie eine echte Querschnittsorganisation. Gegensätze zwischen europäischer und interamerikanischer Organisation bestehen auch in geographischer Hinsicht. Während die OAS mittlerweile alle Mitglieder des amerikanischen Kontinents umfasst und gewissermaßen über eine natürliche Finalität verfügt, scheint die räumliche Integration des Europarates nahezu grenzenlos zu sein. Zwar statuiert Art. 4 der Satzung, dass die Mitgliedschaft nur europäischen Staaten offen steht, doch zeigen etwa der Beitritt Russlands in räumlicher und die Mitgliedschaft muslimischer Länder in religiös-kultureller Hinsicht, dass dies Kriterium sehr weit auszulegen ist. Überspitzt formuliert erscheint prinzipiell jedes Land auf der eurasischen Platte mitgliedsfähig91. Neben strukturellen Unterschieden wie etwa der „demokratischen“ Säule in Gestalt der Parlamentarischen Versammlung des Europarates und der Einbindung 90 M. Bond, Council of Europe – Structure, history and issues in European Politics, 2012, S. 6, mit Hinweis auf ein Diktum des ehemaligen Generalsekretärs des Europarates T. Davis „The EU is concerned with the standard of living, while the Council of Europe is concerned with the quality of life.“ 91 Der Unterschied zur EU wird aus Art. 49 EUV deutlich.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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der Regionen und Gemeinden, die in der OAS keine Parallele finden, weisen beide Regionalorganisationen schließlich eine gänzlich anders geartete Entwicklungsgeschichte auf. Zwar bestand bis zum Ende des bipolaren Ideologiekonfliktes 1990 die Gemeinsamkeit der Teilung bzw. des „Risses“ innerhalb der Regionen in West- und Osteuropa bzw. Nord- und Südamerika. Gerade die inneren Verhältnisse unterschieden sich jedoch seit jeher grundlegend. So ist die Geschichte der OAS maßgeblich durch die Dominanz der Supermacht USA, hegemonielle und instrumentelle Bestrebungen92 und ein insgesamt asymmetrisches Kräfteverhältnis gekennzeichnet. Demgegenüber scheint der Europarat – in Ermangelung einer solchen Supermacht – maßgeblich von dem Prinzip der Gleichheit der Staaten geprägt zu sein und hat sich zu keinem Zeitpunkt und von keiner Seite politisch vereinnahmen lassen. Gemein ist beiden schließlich, dass sie jeweils jenes gouvernementale Fundament bilden, auf dem sich nicht nur staatliche Souveränität relativiert und gemeinsame Überzeugungen und Werte herausbildeten, sondern konkrete Konventionen, Institutionen und Instrumente zum Schutz des Einzelnen entwickeln ließen. Inbegriff dessen sind die beiden regionalen Menschenrechtsschutzsysteme.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten des interamerikanischen und des europäischen Menschenrechtsschutzsystems Als Ausgangspunkt der Beschreibung und des Vergleichs der Schutzmechanismen soll zunächst ein kursorischer Überblick zu den Menschenrechtsschutzsystemen gewährt werden. Daran schließt sich eine vergleichende Darstellung der positivrechtlichen bzw. textlichen Grundlagen der beiden Konventionssysteme an. Schwerpunkt und Fokus liegen dabei zunächst auf den materiellen Garantien. Die jeweiligen Schutzorgane werden samt ihres Regelungsregimes unter „Institutionen“ dargestellt, Aspekte der Durchsetzung und des Verfahrens werden als „Instrumente“ behandelt.

I. Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem im Überblick Das interamerikanische Menschenrechtssystem basiert auf zwei separaten Menschenrechtstexten, der Amerikanischen Deklaration der Rechte und Pflichten von 1948 einerseits und der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969 andererseits. Beide Vertragswerke sind jedoch nicht hermetisch voneinan92 Dazu in geschichtlicher Perspektive, H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006, S. 708 ff.

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der getrennt, sondern stehen in Interaktion und überlagern sich, funktionieren in praxi häufig als ein einheitliches Gebilde. 1. Die Amerikanische Erklärung über die Rechte und Pflichten des Menschen von 1948 – interamerikanische Säule des Schutzsystems a) Inhalt, Umfang und Bedeutung Die Amerikanische Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen ist am 2. Mai 1948 auf der neunten Panamerikanischen Konferenz in Bogotá verabschiedet worden. Die Deklaration ist in mehrfacher Hinsicht von herausragender Bedeutung. Schon zeitlich liegt sie sowohl der regionalen Europäischen Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 als auch der universellen „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ vom 10. Dezember 1948 voraus und bildet damit die erste internationale Menschenrechtsdeklaration überhaupt. Aber auch inhaltlich weist die Erklärung Besonderheiten und Eigenarten auf, die besondere Aufmerksamkeit verdienen. Das erste Kapitel umfasst zunächst 27 Rechte des Menschen und schließt in Art. 28 mit einer Begrenzungsklausel ab, die Anleihen an den kategorischen Imperativ nimmt und als weitere Begrenzungstatbestände die Sicherheit aller, das Gemeinwohl und den Fortschritt der Demokratie benennt. Die 27 Garantien enthalten dabei sowohl bürgerliche und politische Rechte als auch wirtschaftliche, soziale und kulturelle Verbürgungen. Indem sie zwischen diesen nicht rigide differenziert, wie es sonst spätestens seit der Verabschiedung der beiden UN-Menschenrechtspakte üblich geworden ist, liegt der Deklaration ein holistisches Verständnis der Menschenrechte zu Grunde. Besonders hervorzuheben und fortschrittlich sind etwa ein Recht auf besonderen Schutz von Müttern und Kindern in Art. VII, ein Recht auf Gesundheitsschutz und Sozialansprüche in Art. XI, das Recht auf Teilnahme am kulturellen Leben aus Art. XIII, das auch ein Recht auf Schutz des geistigen Eigentums einschließt und das Recht auf Freizeit aus Art. XV, das Recht auf Nationalität aus Art. XIX und das Asylrecht aus Art. XXVII. Sieht man von dem Fehlen eines Folterverbots ab93, besteht damit ein umfassender und moderner Menschenrechtskatalog. Eine weitere Eigenheit der Amerikanischen Deklaration von 1948 besteht darin, dass sie über die Rechte im ersten Kapitel hinaus im zweiten Kapitel auch Pflichten normiert. Bereits die Präambel konstatiert deren Notwendigkeit: „The fulfillment of duty by each individual is a prerequisite to the rights of all. Rights and duties are interrelated in every social and political activity of man. While rights exalt individual liberty, duties express the dignity of that liberty.“

93 So auch T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 301.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Insgesamt stehen den 27 Rechten des ersten Kapitels im zweiten Kapitel deshalb zehn Pflichten gegenüber, die sowohl bürgerlich-politische als auch wirtschaftlich-soziale Züge tragen. So bestehen etwa Verpflichtungen gegenüber der Gemeinschaft und der Gesellschaft in Art. XXIX und Art. XXXIV, ein wechselseitiges Verpflichtungsverhältnis zwischen Kindern und Eltern, Art. XXX, die Pflicht zu wählen in Art. XXXII, und das Recht zu beachten und zu befolgen, Art. XXXIII, Steuern zu zahlen nach Art. XXXVI und zu arbeiten, Art. XXXVII. Wenngleich zweifelhaft ist, ob diesen Pflichten tatsächliche Rechtsrelevanz zukommt oder ob es sich lediglich um reine „Rechtsornamentik“ handelt94, ist die Deklaration damit eines der wenigen menschenrechtlichen Dokumente, das die Korrelation von Rechten und Pflichten aufgreift und ausführt. b) Rechtlicher Status und normative Verbindlichkeit Die Erklärung sieht weder instrumentellen noch institutionellen Schutz für die niedergelegten Rechte und Pflichten vor, erschöpft sich also in der bloßen Deklaration95. Damit korrespondiert auch, dass ihr als Konferenzbeschluss und nach Intention ihrer Autoren keine rechtliche Bindungswirkung zukommen sollte96. Dieser Umstand legt einen Vergleich mit der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (AEMR) nahe, so dass das Verhältnis zwischen der Amerikanischen Deklaration und der Amerikanischen Konvention jenem zwischen der Allgemeinen Menschenrechtserklärung und den UN-Menschenrechtspakten gleicht97. Gleichwohl erfolgte frühzeitig in der Geschichte des interamerikanischen Systems ein Wandel des normativen Status der Deklaration98, der insbesondere von 94 D. Shelton, Mitglied der Interamerikanischen Menschenrechtskommission und Professorin an der George Washington University, versicherte in einem Interview mit dem Verfasser im November 2012 in Washington D.C., dass die Pflichten bislang in der Rechtsprechung keine Bedeutung erlangt haben. T. Buergenthal, ehemaliger Präsident des Interamerikanischen Gerichtshofes und Professor an der George Washington University äußerte in einem Interview in Washington D.C. mit dem Verfasser ebenfalls im November 2012, dass die Pflichten aufgrund der Anfälligkeit für eine Instrumentalisierung auch in Zukunft keine Rolle spielen sollten. 95 Wenngleich auf selbiger Konferenz der Interamerikanische Juristenausschuss mit der Ausarbeitung einer Satzung für den zukünftigen Interamerikanischen Gerichtshof beauftragt worden ist, der aber letztlich erst sehr viel später, nämlich 1978, geschaffen worden ist. 96 Siehe dazu T. Buergenthal, The Revised OAS Charter and the Protection of Human Rights, American Journal of International Law 69 (1975), S. 828 und 829 f. 97 C. M. Cerna, Reflections on the Normative Status of the American Declaration of the Rights and Duties of Man, University of Pennsylvania Journal of International Law 30 (2009), S. 1211 ff. 98 Dazu. auch T. Buergenthal, The American Human Rights Declaration: Random Reflections, in: K. Hailbronner/G. Ress/T. Stein (Hrsg.), Staat und Völkerrechtsordnung. Festschrift für Karl Doehring, 1989, S. 133 ff.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

der Interamerikanischen Kommission forciert wurde. Einen ersten normativen Anknüpfungspunkt dafür bietet die Präambel der Deklaration, die betont, dass der Menschenrechtsschutz zum „principal guide of an evolving American law“ werden soll. Sodann ermächtigte Art. 2 des Statuts von 1960 die Interamerikanische Kommission dazu, die darin enthaltenen Verbürgungen als autoritatives Material anzuerkennen99. Nachdem die Interamerikanische Menschenrechtskommission durch die in Gestalt des Protokolls von Buenos Aires (1967) geänderte OAS-Charta eine vertragliche Grundlage erhalten hatte, begann sie in ihrer Rechtsprechung der Amerikanischen Deklaration Bindungswirkung zuzusprechen. Sie argumentierte dabei, dass die Deklaration durch die Chartaänderung gewissermaßen „mitratifiziert“ oder inkorporiert worden sei, da sie zu diesem Zeitpunkt das einzig existente Menschenrechtsdokument des interamerikanischen Systems bildete, auf das man Bezug nehmen könne100. Die Kommission entwickelte diese Position erstmals in dem auf die berühmte Entscheidung des US Supreme Court „Roe v. Wade“ 101 reagierenden Urteil im Fall „Baby Boy“ 102 und bestätigte dies in dem die Todesstrafe gegen Jugendtäter betreffenden Fall „Roach“ 103. Art. 1, Art. 19 und Art. 20 des Kommissionsstatuts enthalten bis

99 Vgl. W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz, Bd. 1/2, 2009, S. 647. 100 C. M. Cerna, Reflections on the Normative Status of the American Declaration of the Rights and Duties of Man, University of Pennsylvania Journal of International Law 30 (2009), S. 1212 f. 101 Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973). 102 IACHR, 06.03.1981, Baby Boy Case, Case 2141, Report No. 23/81 inbesondere Rn. 15 ff.: „The international obligation of the United States of America, as a member of the Organization of American States (OAS), under the jurisdiction of the Inter-American Commission on Human Rights (IACHR) is governed by the Charter of OAS (Bogotá, 1948) as amended by the Protocol of Buenos Aires on February 27, 1967, ratified by United States on April 23, 1968. As a consequence of articles 3 i, 16, 51 e, 112 and 150 of this Treaty, the provisions of other instruments and resolutions of the OAS on human rights, acquired binding force. Those instruments and resolutions approved with the vote of U.S. Government, are the following: American Declaration of the Rights and Duties of Man (Bogotá, 1948), Statute and Regulations of the IACHR 1960, as amended by resolution XXII of the Second Special Inter-American Conference (Rio de Janeiro, 1965), Statute and Regulations of IACHR of 1979–1980. Both Statutes provide that, for the purpose of such instruments, the IACHR is the organ of the OAS entrusted with the competence to promote the observance and respect of human rights. For the purpose of the Statutes, human rights are understood to be the rights set forth in the American Declaration in relation to States not parties to the American Convention on Human Rights (San José, 1969). (Articles 1 and 2 of 1960 Statute and article 1 of 1979 Statute).“ 103 IACHR, 22.09.1987, Roach v. USA, Case 9647, Report No. 3/87 inbesondere Rn. 49: „The Statute provides that, for the purpose of such instruments, the IACHR is the organ of the OAS entrusted with the competence to promote the observance of and respect for human rights. For the purpose of the Statute, human rights are understood to be the rights set forth in the American Declaration in relation to States not parties to the American Convention on Human Rights (San José, 1969).“

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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heute diese Differenzierung hinsichtlich jener Staaten, die die Amerikanische Menschenrechtskonvention ratifiziert haben, und der anderen Mitgliedstaaten der OAS, auf die lediglich die Amerikanische Deklaration Anwendung findet. Schließlich wendet die Kommission auf jene Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, zuweilen beide Vertragswerke an104. In praxi fungiert die Deklaration deshalb für sämtliche OAS-Organe als verbindlicher Grundlagentext. Auch der Gerichtshof hat sich mit der Frage nach der Verbindlichkeit der Deklaration in einem Gutachten aus dem Jahre 1989 beschäftigt105 und eine Klärung vorgenommen, indem er sie letztlich als Konkretisierung, als „authoritative interpretation“ der fundamentalen Rechte des Individuums nach Art. 3 (l) der OAS-Charta qualifizierte: „(. . .) for the member states of the Organization, the Declaration is the text that defines the human rights referred to in the Charter . . . The Declaration is for these States a source of international obligations related to the Charter of the Organization“.

Gleichwohl trat er der Ansicht der Kommission entgegen, es handele sich bei der Deklaration um einen „treaty“. Er spricht ihr zwar einen „legal effect“ zu, konkretisiert aber nicht dessen Natur und Bindungswirkung106. Im Hinblick auf die Anwendbarkeit führt der Gerichtshof aus, dass die Interamerikanische Menschenrechtskommission als Hauptorgan der OAS ohnehin beide Texte – also die Deklaration von 1948 und die Konvention von 1948 – zu beachten hätte. Weiterhin folgerte er aus der Bezugnahme auf die Amerikanische Menschenrechtsdeklaration von 1948 im dritten Absatz der Präambel der Amerikanischen Menschenrechtskonvention von 1969 und Art. 29 d) a. F. der Konvention, dass die Deklaration auch durch ihn herangezogen werden könne. Gleichwohl ist damit noch nicht eindeutig festgestellt, dass es sich um subjektive, durchsetzbare Individualrechte handelt. Primär die Praxis der Kommission, aber auch die Position des Gerichtshof sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, sie verstießen mit der Annahme einer auf die Ratifikation der OAS-Charta gegründeten Bindungswirkung gegen tragende Prinzipien des Völkerrechts, wie sie sich auch in der Wiener Vertragsrechtskonvention wiederfinden107. Der Schluss auf die Verbindlichkeit der Deklaration in Ermangelung eines durch alle OAS-Staaten ratifizierten, verbindlichen Menschenrechtsdokuments ist bei nüchterner Betrachtung auch wenig 104 Kritisch dazu C. M. Cerna, Reflections on the Normative Status of the American Declaration of the Rights and Duties of Man, University of Pennsylvania Journal of International Law 30 (2009), S. 1236 f. 105 IACHR, 14.07.1989, OC-10/89, Series A, No. 10, Rn. 45 ff. 106 IACHR, 14.07.1989, OC-10/89, Series A, No. 10, Rn. 47: „That the Declaration is not a treaty does not, then, lead to the conclusion that it does not have legal effect“. 107 So etwa C. M. Cerna, Reflections on the Normative Status of the American Declaration of the Rights and Duties of Man, University of Pennsylvania Journal of International Law 30 (2009), S. 1213.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

überzeugend. Die Deklaration wäre lediglich ein „default instrument“, ihre normative Kraft nur aus einem „legal lack“, einem Defizit, erklärt worden. Im Ergebnis verkörpert und enthält die Deklaration von 1948 – obgleich einst rechtlich unverbindliche Resolution – nunmehr den autoritativen menschenrechtlichen Gehalt der OAS-Charta und beansprucht für alle 35 Mitgliedsstaaten der OAS Verbindlichkeit, während die Konvention von 1969 lediglich für jene Staaten gilt, die die AMRK ratifiziert haben. Aufgrund dessen ist die Deklaration nicht nur ein lateinamerikanisches, sondern ein wahrhaft interamerikanisches Menschenrechtsdokument. 2. Die Amerikanische Menschenrechtskonvention von 1969 – lateinamerikanische Säule des Schutzsystems Die Amerikanische Menschenrechtskonvention vom 22. November 1969, auch „Pakt von San José“ genannt, ist im Jahre 1978 nach Erreichen der erforderlichen Ratifikationsanzahl in Kraft getreten. Sie stellt die zentrale, materielle Grundlage des interamerikanischen Menschenrechtssystems dar und erschöpft sich nicht in der Formulierung von Menschenrechten, sondern beinhaltet überdies ein konkretes Durchsetzungsinstrumentarium. Mittlerweile haben 25 der 35 OAS-Mitgliedsstaaten die Konvention ratifiziert, und nur vereinzelt ist es zu Aufkündigungen, Suspendierungen und Ausschlüssen gekommen108. Die sich in drei Teile gliedernde Konvention statuiert zunächst die staatliche Schutz- und Umsetzungsverpflichtung sowie die einzelnen Menschenrechtsgarantien (Art. 1 bis 32). Diese umfassen nicht nur Freiheits- und Gleichheitsrechte wie etwa das Recht auf Leben (Art. 4 AMRK), das Recht auf menschliche Behandlung (Art. 5 AMRK), das Verbot der Sklaverei (Art. 6 AMRK), das Recht auf persönliche Freiheit (Art. 7 AMRK) und die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit in Art. 15 und 16 AMRK, sondern auch Justizrechte wie etwa das Recht auf ein faires Verfahren in Art. 8 AMRK und das Recht auf Kompensation (Art. 10 AMRK) sowie wirtschaftliche und soziale Rechte in Art. 17, 19 und 26 AMRK.

108 So kündigte Trinidad-Tobago den Pakt im Jahre 1998. Im darauf folgenden Jahr 1999 reagierte Peru unter dem Regime von A. Fujimori auf die vom Interamerikanischen Gerichtshof entschiedene Rechtssache Castillo Petruzzi mit der Kündigung der AMRK, wobei der tatsächliche Grund in der drohenden Verurteilung der Regierung in den Verfahren Ivcher Bronstein und Constitutional Court Case zu vermuten ist, vgl. W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 650. Zudem ist Kuba durch die Resolution VI vom 31.01.1962 durch die OAS von der Konvention ausgeschlossen worden, verblieb aber als Mitgliedsstaat den Menschenrechten verpflichtet und der Kommission unterworfen. Seit Juni 2009 sind Verhandlungen wieder aufgenommen worden, durch die Kuba die vollwertige Mitgliedschaft in der OAS wiedererlangen soll.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Im Anschluss an die Menschenrechtsformulierungen finden sich im zweiten Teil (Art. 33 bis 73) Regelungen zu den Organen in Form der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (Art. 34 ff.) und des Interamerikanischen Gerichtshofs (Art. 52 ff.) sowie die Definition der Schutzmechanismen in Gestalt von Individualbeschwerde (Art. 44 AMRK) und Staatenbeschwerde (Art. 45 AMRK). Der dritte Teil schließlich befasst sich mit allgemeinen Bestimmungen und Übergangsregelungen (Art. 74 bis 82). 3. Die Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 Die am 4. November 1950 unterzeichnete und am 3. September 1953 in Kraft getretene europäische Menschenrechtskonvention bildet den Kern des regionalen europäischen Menschenrechtsschutzsystems. Gehörten dieser weltweit ersten verbindlichen internationalen Menschenrechtskonvention einst lediglich die 10 Gründungsstaaten an, ist die Zahl der Signatarstaaten auf nunmehr 47 angewachsen. Die Mitgliedschaft im Europarat verpflichtet nach Art. 3 der Satzung des Europarates zur Ratifikation der Konvention. Die von der EMRK geschützten „Menschenrechte und Grundfreiheiten“ kommen nach Art. 1 EMRK jedem zu, sind also nicht abhängig von der Nationalität, so dass potentiell jede der Hoheitsgewalt der Vertragsstaaten unterstehende Person beschwerdeberechtigt ist. Die materiellen Garantien der EMRK sind in Abschnitt I niedergelegt und umfassen zunächst klassische Freiheitsrechte wie das Recht auf Leben (Art. 2 EMRK), das Folterverbot (Art. 3 EMRK), das Verbot von Sklaverei und Zwangsarbeit (Art. 4 EMRK), das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) sowie das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Art. 9 EMRK), das Recht auf Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK) und das Recht auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 11 EMRK). Ferner sind auch justizielle Rechte geschützt wie etwa Freiheit und Sicherheit (Art. 5 EMRK) und das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 EMRK). Abschnitt II normiert in den Art. 19 ff. EMRK Struktur und Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) mit Sitz in Straßburg. Außerdem sind in diesem Abschnitt die verschiedenen Verfahren, die zum EGMR führen, niedergelegt. Abschnitt III enthält in den Art. 52 ff. EMRK allgemeine Bestimmungen. Schließlich bestehen mittlerweile 14 Zusatzprotokolle, die den ursprünglichen Bestand der Konvention maßgeblich ergänzt und das System zum Teil grundlegend reformiert haben109.

109

Dazu vertiefend unter Zweiter Teil B. II. 1. f).

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

II. Amerikanische und Europäische Menschenrechtskonvention im Vergleich 1. Materiellrechtlicher Gehalt der Konventionstexte im Textvergleich a) Präambel, Portalnorm, Rechtswirkungsnorm Schon ein Vergleich der Präambeln zeigt bemerkenswerte Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Ein Gleichklang zwischen AMRK und EMRK besteht darin, dass beide auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 verweisen (vgl. erster Erwägungsgrund der EMRK bzw. dritter Erwägungsgrund der AMRK). Dennoch unterscheiden sich beide Konventionen hinsichtlich des Geltungsgrundes des Menschenrechtsschutzes. So konstatiert die AMRK im zweiten Erwägungsgrund: „Recognizing that the essential rights of man are not derived from one’s being a national of a certain state, but are based upon attributes of the human personality, and that they therefore justify international protection in the form of a convention reinforcing or complementing the protection provided by the domestic law of the American states (. . .)“

Mit dieser Feststellung, dass die Menschenrechte nicht von der Staatsangehörigkeit abhängig sind, sondern aus dem Menschsein als solchem resultieren, liefert die AMRK anders als die EMRK einen konkreten, in das Naturrecht verweisenden Geltungsgrund der Menschenrechte. Zugleich legitimiert sie mit diesem vorstaatlichen bzw. von Staatlichkeit losgelösten Begründungszusammenhang der Menschenrechte einen überstaatlichen Menschenrechtsschutz. Schließlich definiert die AMRK hierdurch den Zweck und die Wirkungsform bzw. den Implementationsmodus des regionalen Menschenrechtsschutzsystems, indem sie dessen komplementären110 und verstärkenden Charakter hinsichtlich des innerstaatlichen Schutzes benennt. Während die Präambel der EMRK über die der AMRK insoweit hinausgeht, dass sie den größeren Bedeutungs- und Funktionszusammenhang von Menschenrechten, Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden herstellt (vgl. vierter Erwägungsgrund), nimmt die amerikanische Konvention schon im Vorspruch eine Konkretisierung der Vielgestaltigkeit der Menschenrechte vor. Klingt bereits im ersten Erwägungsgrund die sog. zweite Dimension der Menschenrechte an, indem der persönlichen Freiheit („personal liberty“) die soziale Gerechtigkeit („social justice“) als Korrelat an die Seite gestellt wird, erfahren diese Rechte insbesondere im vierten Erwägungsgrund eine Betonung. In Anlehnung an F. D. Roosevelts Rede über die „Four Freedoms“ 111 werden hier als Grundlage des „freedom 110

Dazu vertiefend unten Dritter Teil F. III. So F. D. Roosevelt, der in seiner Rede vom 06.01.1941 vor dem amerikanischen Kongress die vier Grundfreiheiten benennt: Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit, das 111

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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from fear and want“ die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte an prominenter Stelle, nämlich vor den bürgerlichen und politischen Rechten genannt. Auch im letzten Erwägungsgrund finden die wirtschaftlichen und sozialen Rechte erneut Erwähnung. Damit ist ein grundlegender Unterschied der AMRK zur europäischen Konvention bereits vorgezeichnet: Die EMRK ist nicht zuletzt durch ihren konkreten historischen Entstehungskontext inhaltlich auf die Menschenrechte der sog. ersten Dimension beschränkt, weist insofern ein Defizit hinsichtlich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Garantien auf. Sie ist eine primär abwehrrechtliche, im status negativus verbleibende, weitestgehend freiheitsorientierte Konvention, während die AMRK auch starke Egalitätsmomente aufweist. Die den materiellen Garantien vorangestellten Portalnormen der beiden Konventionen zeigen zunächst große Übereinstimmung, definieren den Geltungsbereich ratione materiae und ratione personae. Ähnlich wie in Art. 1 EMRK verpflichten sich die Staaten gemäß Art. 2 AMRK auf die Achtung aller niedergelegten Rechte und Freiheiten im Hinblick auf die ihnen unterstehenden Personen. Allerdings fällt bei näherer Betrachtung ein bezeichnender Formulierungsunterschied auf. Während im europäischen Text nüchtern bemerkt wird, dass die Staaten die nachfolgenden Rechte und Freiheiten zusichern („shall secure“) und damit trotz der unstreitig unmittelbaren und objektiven Verpflichtungswirkung impliziert wird, dass die Staaten den Bürgern Rechte zuerkennen, Rechte gewissermaßen konzediert werden, ist im interamerikanischen Text von der Respektierung und Sicherstellung der vollen Gewährleistung der Garantien die Rede („to respect“ . . . „to ensure“)112. Damit tritt ein wesentlicher Antagonismus amerikanischer und europäischer Grund- bzw. Menschenrechtsverständnisse deutlich zu Tage: Während in Europa – und insbesondere in Deutschland – eingedenk der historisch-sukzessiven Entwicklung der Menschenrechte aus absolutistischen Verhältnissen heraus gewissermaßen ein Verständnis derivativer, subordinativ gewährter Freiheiten und Rechte vorherrscht, mit dem das insbesondere in Deutschland nach wie vor dominante präkonstitutionelle Staatsverständnis113 korrespondiert, werden diese vor allem im US-amerikanischen Raum typischerweise als Recht auf Schutz vor sozialer Not („freedom from want“) und das Recht ohne Angst zu leben („freedom from fear“). 112 In der Formulierung „undertake to respect“ ist gleichwohl auch eine gewisse Schwächung angedeutet, indem damit nur eine „mittelbare Verpflichtung“, die Rechte zu verschaffen, gemeint sein könnte. Eine solche ist für die EMRK etwa von Vertragsparteien verworfen worden, vgl. dazu J. A. Frowein/W. Peukert (Hrsg.), EMRK-Kommentar Art. 1 Rn. 2; U. Karpenstein/F. C. Meyer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 2012, Art. 1 Rn. 3. 113 Beispielhaft J. Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 13 Rn. 1: „Verfassung ist nicht zu verstehen ohne Staat. Dieser ist ihr Gegenstand und ihre Voraussetzung“.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

vorbedingungslos, also vorstaatlich und vorpolitisch begriffen114. Dem entspricht auch das Verständnis, dass der Staat erst Produkt der Verfassung ist, es – mit den Worten P. Häberles – nur soviel Staat geben kann, wie die Verfassung konstituiert115. In concreto: Während die AMRK die Verpflichtung der Staaten auf die Menschenrechtsgarantien in den Mittelpunkt stellt, (vgl. schon den Kapiteltitel „General Obligations“), geht die EMRK invers von einer Zusicherung bzw. einem Zugeständnis der Rechte von Seiten der Staatlichkeit gegenüber dem Individuum aus116. Die Adressierung ist also genau spiegelbildlich. Nach amerikanischem Verständnis sind die Schutzbereiche orginär vorhanden, im europäischen Kontext werden diese erst durch die hoheitliche Ordnung „verfasst“. Ferner ist mit der Formel „to ensure“ in Art. 2 AMRK nicht nur negativ der Respekt vor den Rechten geboten, sondern eine positive Verwirklichungspflicht niedergelegt117. Der Gerichtshof hat sodann auch eine sehr weite Interpretation dieser Gewährleistungspflicht vorgenommen118. Zwar begründet auch die EMRK positive Handlungspflichten119, doch sind diese richterrechtliches Produkt und finden keinen Niederschlag im Konventionstext. Dieser Abschnitt weist aber noch ein weiteres Charakteristikum der AMRK auf: Im Gegensatz zur EMRK wird bereits an vorderster Stelle in Art. 1 AMRK die allgemeine Verpflichtung der Staaten auf die Menschenrechtsgarantien mit einem starken Egalitäts- und Antidiskriminierungsgebot verbunden, indem diese ohne Unterschied hinsichtlich Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer Meinung oder Weltanschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, ökonomischen Status, Geburt oder sozialer Herkunft zu gewährleisten sind. Diese Aufzählung an Differenzierungskriterien mit Diskriminierungspotential ähnelt stark dem Diskriminierungsverbot in Art. 14 EMRK und anderen Katalogen von Diskriminierungsmerkmalen120. Dass in der AMRK dies aber bereits an exponierter Stelle in Art. 1 AMRK steht, deutet auf bestehende Diskriminierungs114 Der fundamentale Unterschied beruht auf dem Umstand, dass Amerika sich als eine „nation of immigrants“ entwickelt hat, deren Urmotiv das Verlangen nach Freiheitlichkeit bildet; Freiheit ist deshalb Vorbedingung dieses „nation building“. 115 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 620. 116 Dieser fundamentale Unterschied kommt auch darin zum Ausdruck, dass in der EMRK anders als in der AMRK von den „High Contracting Parties“ die Rede ist. Hierdurch wird vornehmlich gegenüber Staatlichkeit, nicht gegenüber dem Individuum, Respekt und Achtung bekundet. 117 Dies ähnelt und erinnert an die Formulierung des Grundgesetzes, das in Art. 1 Abs. 1 die Aussage enthält, dass die Menschenwürde „zu achten und zu schützen“ sei. 118 IACHR, 29.06.1988, Velasquez Rodriguez v. Honduras, Series C No. 4, Rn. 159 ff. 119 U. Karpenstein/F. C. Meyer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 2012, Art. 1 Rn. 5. 120 Begründend mag auch die zeitliche Nähe zur Entstehung der UN-Rassendiskriminierungskonvention (CERD) von 1965/1969 sein.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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probleme hin, hat stark integrativen Charakter, zeugt vielleicht nicht von einer Präponderanz der Gleichheit gegenüber der Freiheit, aber zumindest von einer starken Egalitätsorientierung der Konvention. Auch Art. 2 AMRK enthält einen signifikanten Unterschied zur EMRK. Hier findet sich eine explizite Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer Regionalkonvention auf das innerstaatliche Recht normiert. Der Artikel kreiert die Pflicht, die nationale Rechtsordnung durch legislative und andere Maßnahmen dergestalt auszuformen, umzuformen und anzupassen, dass die Garantien der Konvention effektiv verwirklicht werden. Eine solche positive Pflicht mit direkter Bezugnahme auf gesetzgeberische und exekutive Aktivität zur innerstaatlichen Ausgestaltung lässt die EMRK missen. Mit dieser proaktiven Rechtswirkungsnorm der AMRK wird das schwerwiegende Defizit, dass der Konvention in einigen Ländern nicht Gesetzes- bzw. Verfassungsrang eingeräumt wird und folglich vor den nationalen Gerichten keine Berufung möglich ist – wie es im europäischen Konventionssystem zuweilen bestand121 –, vermieden122. Die Rechtsprechung hat Bedeutung und Umfang des mit „Domestic Legal Effect“ betitelten Art. 2 AMRK näher konkretisiert123. Damit ist gesetzgeberische Aktivität in zwei Richtungen aufgegeben: Zum einen sind bestehende konventionswidrige und hinderliche Regeln zu beseitigen, zum anderen sind neue Regeln und Verfahren zu kreieren, um der Effektivität der Konvention Geltung zu verleihen124. b) Bürgerliche und politische Garantien Im folgenden zweiten Kapitel der AMRK (Art. 3 bis 25 AMRK) bzw. in Abschnitt I EMRK (Art. 2 bis 14 EMRK) sind sodann die bürgerlichen und politischen Rechte enumerativ aufgeführt. Eine Vielzahl der Garantien gehört zum klassischen Kanon der Grund- und Menschenrechte, so dass eine weitgehende Identität der Konventionen im Kernbestand unverkennbar ist. Diese reicht etwa 121 Zu Rang und Bedeutung der EMRK H. Keller/A. Stone Sweet, A Europe of Rights. The Impact of the ECHR on National Legal Systems, 2008; T. Giegerich, Wirkung und Rang der EMRK in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten, in: O. Dörr/ R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar Bd. 1, 2. Aufl. 2013, Kapitel 2, S. 57 ff. 122 Vereinzelt ist in der Formulierung des Art. 2 AMRK aber auch eine Schwäche erkannt worden, weil auf Umsetzungspflichten der Staaten Bezug genommen wird und daraus der Rückschluss auf mangelnde direkte Anwendbarkeit zulässig sein könnte. So früh und deshalb spekulativ, J. A. Frowein, Die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention – Ein Vergleich, EuGRZ 1980, S. 442, allerdings auch mit Anerkenntnis und Verweis auf Art. 25 AMRK, der diese Interpretation relativiert. 123 So etwa in den Entscheidungen IACHR, 02.09.2004, Juvenile Reeducation Institute v. Paraguay, Series C, No. 112; IACHR, 18.09.2003, Bulacio v. Argentina, Series C, No. 100; IACHR, 28.02.2003, Five Pensioners v. Peru, Series C No. 98. 124 IACHR, 05.02.2001, The Last Temptation of Christ (Olmedo Bustos et al.) v. Chile, Series C, No. 73.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

vom Recht auf Leben über die Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und Versammlungsfreiheit bis hin zum Recht auf menschliche Behandlung. Auffällig ist zunächst, dass noch vor dem Recht auf Leben in Art. 4 AMRK das zweite Kapitel der AMRK in Art. 3 mit dem Recht, eine juristische Person zu sein, eingeleitet wird125. Eine entsprechende Norm fehlt in der EMRK. Die ganz allgemeine und grundsätzliche Anerkennung des Einzelnen als Rechtssubjekt verbleibt in der EMRK eine unausgesprochene conditio sine qua non des Menschenrechtsschutzes. Bemerkenswert ist sodann eine Divergenz der beiden Konventionen hinsichtlich der fundamentalsten Garantie, des Rechts auf Leben. Diese in Art. 4 AMRK niedergelegte Verbürgung ist insbesondere hinsichtlich der Ausnahmetatbestände und Zulässigkeitskriterien deutlich weniger exakt als die Parallelnorm Art. 2 Abs. 2 EMRK. Hingegen enthält Art. 4 Abs. 1 S. 2 AMRK eine präzise Aussage zum Beginn des Lebens126, die der EMRK fehlt. Signifikante Unterschiede bestehen auch hinsichtlich der Normierung der Todesstrafe. Sie erhält in Art. 4 Abs. 2 AMRK eine grundsätzliche Begrenzung, die sodann – ähnlich wie in Europa – eine sukzessive sich fortsetzende Einschränkung in den Zusatzprotokollen erfahren hat. Auch die Rechtsprechung hat eine restriktive Handhabung der Todesstrafe forciert. So hat der Interamerikanische Menschenrechtsgerichtshof mehrfach entschieden, dass Gesetze, die eine verbindliche Todesstrafe regeln, dann konventionswidrig sind, wenn sie nicht wenigstens die gerichtliche Prüfung vorsehen, ob dies in Anbetracht der Tatumstände zwingend nötig ist127. Art. 4 Abs. 3 AMRK sieht zudem vor, dass die Abschaffung der Todesstrafe absoluten Charakter trägt respektive eine Wiedereinführung konventionsbedingt verhindert ist128. Von besonderer Bedeutung sind sodann die sozialen Beschränkungsfaktoren der Todesstrafe in Art. 4 Abs. 5 AMRK, die keine Entsprechung in der EMRK finden. Danach ist die Todesstrafe für Personen, die zum Zeitpunkt der Begehung unter 18 Jahre oder über 70 Jahre alt waren, sowie für schwangere Frauen kategorisch ausgeschlossen. Auch hier zeigt sich eine soziale Ausprägung 125 Hintergrund für die Aufnahme in die AMRK bilden vermutlich die defizitären rechtsstaatlichen Strukturen im interamerikanischen Kontext, denen vor allem ein Mangel an Zuerkennung und Anerkennung als Rechtsperson zu Grunde liegt. Möglicherweise ist aber auch die abolitionistische Vergangenheit ein entscheidender Faktor. 126 Hintergrund bildet die in diesen Schutzbereich einzuordnende Abtreibungsproblematik, die im Einklang mit einem ganz überwiegend katholischen kulturellen Kontext einer richterlichen Prüfung unterworfen werden soll, vgl. J. A. Frowein, Die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention – Ein Vergleich, EuGRZ 1980, S. 443. 127 IACHR, 21.06.2002, Hilaire, Constantine and Benjamin et al. v. Trinidad and Tobago, Series C, No. 94; IACHR, 15.09.2005, Raxcacó Reyes v. Guatemala, Series C No. 133; IACHR, 20.11.2007, Boyce et al. v. Barbados, Series C, No. 169. 128 Ob dies rechtspolitisch sinnvoll ist, mag bestritten werden, führt die Irreversibilität doch dazu, dass eine Primärabschaffung erschwert wird.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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der AMRK129. Bemerkenswerterweise priviligiert Art. 4 Abs. 4 AMRK politische Täter. Dies hängt unmittelbar mit den zum Entstehungszeitpunkt der AMRK noch existenten Militärregierungen und der massiven politischen Verfolgung und Repression oppositioneller Kräfte im interamerikanischen Raum zusammen130. Als interessant erweist sich weiterhin der differenzierte Regelungskomplex des Art. 5 AMRK, der als Recht auf eine menschliche Behandlung betitelt ist und vornehmlich bestimmte strafverfahrensrechtliche Grundsätze garantiert. Vergleichbares findet sich partiell in Art. 5 EMRK, dem Recht auf Freiheit und Sicherheit. Zu beachten ist auch, dass die spanische Textfassung von dem „Derecho a la Integridad Personal“ spricht, also nicht wie der englische Titel „Right to Humane Treatment“ eine konkrete Behandlungsform vorschreibt, sondern unmittelbar auf die Person verweist, das Subjekt in den Mittelpunkt stellt131. „Persönliche Integrität“ scheint zudem semantisch einen weiteren Schutzbereich zu umschreiben als „menschliche Behandlung“. Ferner betont Art. 5 Abs. 2 AMRK – ebenfalls geprägt durch die politischen Missstände, Repressionen und Übergriffe diktatorischer Regime und die Inhaftierung Unschuldiger – im Besonderen die Pflicht zu Respekt und menschenwürdiger Behandlung Inhaftierter. Weitgehender Gleichklang besteht hinsichtlich der Normierung der Freiheit der Person in Art. 7 AMRK und Art. 5 EMRK. Schon der Konnex von Freiheit und Sicherheit ist ihnen gemein, wobei sich insgesamt die Regelungen zur Festnahme in der EMRK präziser und restriktiver ausnehmen. Dies gilt insbesondere in Hinblick auf einen weiten Ermessensspielraum des nationalen Gesetzgebers in der AMRK, wohingegen die EMRK abschließend die sechs Ausnahmetatbestände enumeriert. Die stärkere soziale Prägung der AMRK offenbart sich sodann in Art. 7 Abs. 7 S. 1, der eine Freiheitsbeschränkung aufgrund von Schulden untersagt. Art. 8 AMRK regelt ebenso wie Art. 6 EMRK das Verfahrensgrundrecht eines fairen Prozesses. Die Garantie des interamerikanischen Systems reicht aber zumindest textlich in verschiedenen Aspekten weit über jene der EMRK hinaus 129 Dieser Ausschluss der Todesstrafe für Minderjährige ist von der Interamerikanischen Kommission auch in den Normgehalt des Rechts auf Leben in Art. 1 der Amerikanischen Deklaration von 1948 hineininterpretiert worden, so dass sich auch für die USA ein Verbot ergibt. Dieses Vorgehen hat zuweilen heftige Kritik ausgelöst, vgl. B. T. Gravdal, The Inter-American Commission on Human Rights’ quixotic and unjustifies expansion of its authority and the American Declaration of the Rights and Duties of Man: The Case of Michael Domingues, Southwestern Journal of Law and Trade in the Americas 11 (2005), S. 257 ff. 130 Zu diesem Hintergrund etwa S. Rinke, Geschichte Lateinamerikas – Von den frühesten Kulturen bis zur Gegenwart, 2010, S. 108 ff.; H.-J. König, Kleine Geschichte Lateinamerikas, 2006, S. 666 ff. 131 Allgemein zu dem damit verbundenen Problem der Auslegung, M. A. Benavides Casals, Die Auslegungsmethoden bei Menschenrechtsverträgen, 2010.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

bzw. führt einzelne Aspekte, die in der EMRK erst richterrechtlich entstanden sind, bereits im Normtext. So findet sich in Art. 8 Abs. 2 lit. d) AMRK das Recht des Angeklagten, mit seinem Verteidiger frei und vertraulich zu kommunizieren. Art. 8 Abs. 2 lit. g) enthält explizit das Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen. Weitreichend ist schließlich die durch Art. 8 Abs. 2 lit. h) etablierte Notwendigkeit einer zweiten Instanz. Eine solch tief in die nationalen Strukturen der Justiz eingreifende Regelung enthält die EMRK – dem Text nach – nicht. Vorgaben für die konkrete Organisation des Gerichtswesens und insbesondere den Instanzenzug fehlen. Hinsichtlich des Rückwirkungsverbotes von Strafgesetzen, niedergelegt in Art. 9 AMRK und Art. 7 EMRK, erweist sich das europäische Modell als fortschrittlicher. Die europäische Norm ist insoweit äußerst völkerrechtsfreundlich, indem sie in Absatz zwei eine Ausnahme für jene Verbrechen enthält, die gegen allgemeine Prinzipien der Völkergemeinschaft verstoßen132. Sodann verdient Art. 10 AMRK besondere Beachtung, der als eigenständige Norm ein Kompensationsrecht für Justizirrtümer verbürgt. Ein solch allgemeines und eigenständiges Entschädigungsrecht gegen fehlerhafte Judikate fehlt in der EMRK. Art. 11 AMRK enthält Bestimmungen zum Schutz der Privatsphäre und ähnelt hinsichtlich der Schutzbereiche Privat- und Familienleben, Korrespondenz und Wohnung dem Art. 8 EMRK. Allerdings stellt er im ersten Absatz den Schutz der Ehre und der Würde voran und ergänzt im zweiten Absatz noch die Reputation einer Person. In konsequenter Folgerung zu dieser auf die Außenwirkung und das gesellschaftliche Ansehen gerichteten Freiheit findet sich in Absatz drei ein allgemeines Recht auf Schutz vor Eingriffen, das vom Wortlaut her offensichtlich nicht auf staatliches Handeln beschränkt ist133. Damit enthält dieses Menschenrecht, das in besonderer Weise Bedrohungen durch private Akteure ausgesetzt ist, eine explizite Schutzpflichtendimension. Art. 12 AMRK verbürgt mit der Gewissens- und Religionsfreiheit eines der Urgrundrechte134. Es ist weitestgehend in Übereinstimmung mit Art. 9 EMRK ausgestaltet, allerdings wird in Absatz vier eine Einschränkung mit Eingriffsbefugnissen zugunsten der Erziehungsberechtigten aufgeführt. Weiterhin wird im Unterschied zur EMRK die Gedankenfreiheit nicht im Verbund mit der sachlich naheliegenden Gewissensfreiheit geschützt, sondern in den Zusammenhang mit der Meinungsfreiheit in Art. 13 AMRK gestellt. 132 Hintergrund für das Fehlen einer solchen Regelung mag die Existenz von Militärdiktaturen zum Entstehungszeitpunkt der AMRK sein. 133 So auch J. A. Frowein, Die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention – Ein Vergleich, EuGRZ 1980, S. 446. 134 So die umstrittene These G. Jellineks, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Ein Beitrag zur modernen Verfassungsgeschichte, 3. Aufl. 1919.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Anders als die Meinungsfreiheit in der EMRK verbietet Art. 13 Abs. 2 AMRK explizit die Vorzensur135. Ein weiterer wesentlicher Unterschied liegt darin, dass Art. 13 Abs. 1 AMRK anders als Art. 10 Abs. 1 EMRK sich nicht nur in dem Recht auf Verbreitung von Meinungen erschöpft, sondern auch das Recht, persönliche Informationen zu bekommen („to seek“), schützt, was in Lateinamerika auch als habeas data-Doktrin bekannt ist136. Hervorzuheben ist auch, dass die Meinungsfreiheit ausweislich Art. 13 Abs. 3 AMRK gegen indirekte, also mittelbare Eingriffe von staatlicher wie nichtstaatlicher Seite geschützt wird („indirect methods“, „private controls“). Damit bereitet jedenfalls der Konventionstext den Weg für eine staatliche Schutzpflicht, wenn nicht sogar eine unmittelbare Drittwirkung der AMRK. Besonderes Augenmerk verdient schließlich der fünfte Absatz von Art. 13 AMRK. Diese an Art. 20 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte angelehnte Bestimmung137 enthält die gesetzgeberische Verpflichtung, kriegerische Propagandamaßnahmen und das Schüren von Hass sowie Aufstachelungen und Rassismus zu inkriminieren. Auch in diesem Zusammenhang findet sich die häufig in der AMRK verwendete Formel, die auf die Diskriminierungsmerkmale Rasse, Hautfarbe, Religion, Sprache oder nationaler Abstammung abzielt und besonderer Ausdruck der Gleichheitsorientierung der AMRK ist. Die durch Art. 13 AMRK geschützte Meinungsfreiheit umfasst ebenso wie im europäischen System in Art. 10 EMRK auch andere Medien und insbesondere die Pressefreiheit, unterliegt aber in Lateinamerika jedenfalls in praxi vielerorts erheblichen Beschränkungen138. Grund hierfür ist die zu geringe Konkurrenz unter den Medien sowie das extensive „desacato“, also der Schutz vor Beleidigungen, der mit dem Recht, Journalisten anzuzeigen, korreliert und oftmals kritische Berichterstattung unterbindet.

135 Zu dieser einzigartigen Norm hat der IACHR Ausführungen dargetan in IACHR, 05.02.2001, The Last Temptation of Christ (Olmedo Bustos et al.) v. Chile, Series C, No. 73. Dieses ausdrückliche Verbot der Vorzensur hat seinen Ursprung in den typischen Gefährdungslagen und Gefährdungswahrscheinlichkeiten in den Signatarstaaten des interamerikanischen Systems durch die Militärdiktaturen zum Entstehungszeitpunkt der Konvention. 136 Dazu L. Burgorgue-Larsen, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Úbeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights, Case Law and Commentary, 2011, Rn. 21.14 ff., S. 543 ff.; Grundsatzurteil in diesem Zusammenhang bildet IACHR, 19.09.2006, Claude Reyes et al. v. Chile, Series C, No. 151. Zur Habeas Data-Doktrin, D. García Belaunde, El Habeas Data y su Configuracíon Normativa, Liber amicorum Héctor Fix-Zamudio Bd. 1, 1998, S. 715 ff.; H. Quiroga Lavié, Habeas Data, 2001. 137 J. A. Frowein, Die Europäische und die Amerikanische Menschenrechtskonvention – Ein Vergleich, EuGRZ 1980, S. 447. 138 Textlich ist sie in nahezu allen amerikanischen Staaten verbürgt und weist eine durchaus respektvolle Tradition auf. So entstammt das erste Pressegesetz Costa Ricas dem Jahre 1835.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

Als innovativ ist insbesondere Art. 14 AMRK anzusehen, der ein Recht auf Widerspruch oder Richtigstellung („Right of Reply“/„Derecho de Rectificación o Respuesta“) enthält und keine Entsprechung in der EMRK findet. Diese Garantie der Erwiderung und Korrektur erscheint insbesondere aufgrund der besonderen Grund- und Menschenrechtsgefährdungen durch moderne Kommunikations- und Massenmedien fortschrittlich und geboten. Art. 15 AMRK enthält wie auch Art. 11 EMRK die Versammlungsfreiheit als lex fundamentalis für ein demokratisches Gemeinwesen. Ein Unterschied zwischen beiden Konventionsgarantien ist in erster Linie darin zu erkennen, dass die AMRK – vermutlich aufgrund faktisch bestehender Violenzen im interamerikanischen Raum – ein explizites Bewaffnungsverbot im Text führt139. Die in der EMRK mit der Versammlungsfreiheit in einer Norm zusammengeführte Vereinigungsfreiheit findet sich im Text der AMRK gesondert in Art. 16. Anders als in der EMRK sind hier die Gewerkschaften nicht ausdrücklich erwähnt; stattdessen sind diverse Vereinigungsmotive und -zwecke aufgeführt. Art. 17, 18 und 19 AMRK knüpfen an das Recht auf Privatheit in Art. 11 AMRK an, erweitern und differenzieren diese aber. Das Recht auf Ehe, welches in Art. 12 der EMRK noch gesondert garantiert ist, findet sich in der AMRK in die Norm zum Schutz der Familie integriert, vgl. Art. 17 Abs. 2 AMRK. Anders als in der EMRK wird in der amerikanischen Konvention die wirksame Ehe ausdrücklich an den freien Entschluss und das volle Einverständnis der Partner geknüpft140. Absatz vier dieser Garantie enthält mit der staatlichen Pflicht, für ein gleichberechtigtes Verhältnis der Ehepartner zu sorgen, ein ausgestaltungsbedürftiges besonderes Gleichheitsgebot, was sich als ebenso fortschrittlich erweist wie Satz zwei dieses Absatzes, der im Falle der Scheidung das Wohl der Kinder in den Vordergrund rückt141. Zusätzlich dazu ist in Absatz fünf die Gleichstellung ehelicher und nichtehelicher Kinder geregelt – eine moderne Bestimmung, die so explizit nicht Eingang in die EMRK gefunden hat142. Im Hinblick auf gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften ist der Wortlaut von EMRK und AMRK gleichermaßen offen. Die Formulierung „men and women“ billigt beiden Geschlechtern ein Recht zu und beschränkt die Ehe jedenfalls semantisch nicht auf

139 Ob hierin aufgrund des Tatbestandsmerkmales „friedlich“ ein Pleonasmus zu erkennen ist, sei dahingestellt. 140 Dies vermag auf die in diesem Kulturkreis lange vorherrschende und immer noch nachwirkende Tradition zurückzuführen zu sein, dass die Eltern über Ehepartner und Eheschluss befinden. 141 Dieses Gebot musste die EKMR im Adoptionsfall X vs. United Kingdom No. 7626/76 vom 11.07.1977 erst „richterrechtlich“ schöpfen. 142 Die Rechtsprechung hat dies allerdings beginnend mit dem Fall Marckx implizit zum Ausdruck gebracht. Auch ist ein solches Gleichheitsrecht wohl aus Art. 14 i.V. m. Art. 8 EMRK ableitbar.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

109

heterosexuelle Partnerschaften143. Im Unterschied zur EMRK enthält die AMRK in Art. 18 ferner das Recht auf einen Namen. Innovativ ist auch Art. 19 AMRK, der die Rechte des Kindes garantiert und Familie, Gesellschaft und Staat als Verantwortungstrias hierfür benennt. Art. 20 AMRK144 normiert mit dem Anspruch auf Nationalität ebenfalls ein basales, wesentliches Recht, dass im Sinne von H. Arendt als „Recht auf Rechte“, als ein Anspruch darauf, überhaupt Mitglied einer politischen Gemeinschaft zu sein145, bezeichnet werden kann. Eine solche Fundamentalgarantie bildet erst die Grundlage des menschenrechtlichen Schutzes und wirkt nicht zuletzt dem (völkerrechtlichen) Problem der Staatenlosigkeit entgegen. So wirkt die Verbürgung auch in zwei Richtungen: Einerseits gewährleistet sie ein „minimal measure of legal protection in international relations“ und andererseits „protection of the arbitrary deprivation of his nationality“ 146. Insbesondere mit der subsidiär ausgestalteten Verleihung der Staatsangehörigkeit durch den Staat des Geburtsortes in Art. 20 Abs. 2 geht die AMRK weit über andere Menschenrechtsverträge hinaus und schränkt das aus der staatlichen Souveränität abgeleitete Recht auf autonome Regelung der Staatsangehörigkeit147 substantiell ein. Im interamerikanischen Raum hat das Recht auf Staatsangehörigkeit bzw. Nationalität vor allem im Kontext illegaler (Massen)immigration von Wanderarbeitern und Flüchtlingen Bedeutung erlangt, die – bzw. deren Nachkommen – teilweise bewusst durch staatliche Rechtsakte rechtlos gestellt worden sind148. Eine dem Art. 20 AMRK vergleichbare Norm fehlt in der EMRK149, obgleich hier die Ver143 Gleichwohl übt sich der EGMR in judicial self-restraint und gewährt den Staaten eine margin of appreciation. Dazu EGMR, 24.06.2010, Schalk and Kopf v. Austria, No. 30141/04 Rn. 96 ff. Zu diesem Komplex insgesamt P. Johnson, Homosexuality and the European Court of Human Rights, 2012. Die AMRK hat die vom EGMR praktizierte Zurückhaltung auf eine „Textstufe“ (P. Häberle) gebracht, indem sie in Art. 17 Abs. 2, 2. Hs. auf die innerstaatlichen Regeln verweist, diese aber wiederum im Wege eines Diskriminierungsverbotes einschränkt. 144 Diese Garantie verfügt im interamerikanischen Raum über einen frühen Vorläufer in der Pan-American Convention on the status of naturalized citizens who resume residence in their country of origin vom 13.08.1906, vgl. A. Úbeda de Torres, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Úbeda de Torres, The Inter-American Court of Human Rights, 2011, Rn. 22.01, S. 658. Ferner findet sie sich auch in Art. 19 der Amerikanischen Deklaration von 1948 und Art. 15 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. 145 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 4. Aufl. 1995, S. 452 ff. 146 IACHR, 08.09.2005, Girls Yean and Bosico v. Dominican Republic, Series C, No. 130, Rn. 139. 147 Vgl. dazu den berühmten Nottebohm-Fall, ICJ, 06.04.1955 Nottebohm (Liechtenstein v. Guatemala) ICJ Reports, 1955, S. 4. Vertiefend A. N. Makarov, Das Urteil des Internationalen Gerichtshofes im Fall Nottebohm, ZaöRV 16 (1955), S. 407 ff. 148 So etwa in Bezug auf Haitianer in der Dominikanischen Republik in der Entscheidung IACHR, 08.09.2005, Girls Yean and Bosico v. Dominican Republic, Series C, No. 130. 149 Elemente des Schutzbereiches finden sich allerdings in Art. 8 und 14 EMRK.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

triebenenproblematik und die Neuordnung Europas nach dem zweiten Weltkrieg ebenso Anlass und Notwendigkeit gegeben hätten. Ferner weist die AMRK in Art. 21 anders als die EMRK bereits in der Konvention selbst das Recht auf Eigentum auf150. Ganz im Sinne der starken sozialen Ausprägung der AMRK enthält Art. 21 als Annex zur Eigentumsgarantie die Möglichkeit zur Beschränkung durch soziale und gesellschaftliche Belange. Ferner findet im Unterschied zur EMRK ein Entschädigungsrecht Erwähnung. Absatz drei schließlich ergänzt in Übereinstimmung mit der stärkeren sozialen Ausrichtung der AMRK die Eigentumsgarantie um die gesetzgeberische Pflicht, vor Wucher und Ausbeutung zu schützen. Art. 22 AMRK gewährleistet die Freizügigkeit der Person. Dieses Recht fand nicht unmittelbar Aufnahme in die EMRK, sondern war erst Gegenstand des 4. Zusatzprotokolls von 1963. Der Schutzumfang der AMRK ist hier grundsätzlich weiter und umfasst in Absatz sieben auch das Recht auf Asyl. Ein derartiges Recht fehlt in der EMRK gänzlich, obwohl ein solches gerade im europäischen Kontext aufgrund der Exilierung im Zusammenhang mit Nationalsozialismus und Faschismus von besonderer Relevanz gewesen wäre. Art. 22 Abs. 8 AMRK untersagt sodann die Abschiebung im Falle einer drohenden Gefahr für Leben oder Freiheit, sofern die Motive rassischer, nationaler, religiöser, sozialer oder politischer Art sind. Erneut zeigt sich in der Aufzählung dieser Gründe im Gegensatz zur EMRK der stark egalitäre Charakter der AMRK. Im Umfang weiter gefasst erscheint diese Bestimmung auch dadurch, dass es anders als bei Art. 3 EMRK unerheblich ist, ob die Gefahr von staatlichen Organen ausgeht. Beachtung verdient auch Art. 23 AMRK, der das Recht verbürgt, am politischen Prozess teilzunehmen („Right to Participate in Government“ bzw. „Derechos Políticos“). Dieser umfasst das Recht auf freie, gleiche und geheime Wahlen und Abstimmungen in periodischen Abständen. Eine solche Garantie enthält die EMRK selbst nicht. Sie setzt lediglich eine „wahrhaft demokratische politische Ordnung“ voraus, wie aus der Präambel ersichtlich ist. Im Text der EMRK erscheint der Demokratiebegriff sodann im Rahmen der Schrankenregelung in den Absätzen zwei der Art. 8 bis 10 EMRK. Ein genuines Wahlrecht ist erst durch Art. 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK eingefügt worden, weil bei 150 Bei der Ausarbeitung der EMRK hingegen konnte man sich trotz der langen Tradition dieses Grundrechts (maßgeblich ist schon das Verständnis von J. Locke, der im Gegensatz zu T. Hobbes davon ausgeht, dass die Selbsterhaltung des Menschen nicht in kriegerischen Handlungen, sondern in persönlicher Arbeit begründet ist, so J. Habermas, Naturrecht und Revolution, in: C. Menke/F. Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte, 2011, S. 120 mit Verweis auf J. Locke, Two Treaties of Civil Government, II, c. V, 27.) nicht zu einer Aufnahme in den Konventionstext entschließen. Es herrschte zwar Einigkeit, dass der Eigentumsschutz Eingang finden sollte, über Inhalt und Umfang bestand jedoch Dissens. So wurde die Eigentumsgarantie erst später durch das erste Zusatzprotokoll in den Schutzmechanismus eingefügt.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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der Unterzeichnung der Konvention über die genaue Form der Ausgestaltung noch keine dahingehende Verständigung erzielt werden konnte. Dennoch ist hier – zumindest auf semantischer Ebene – ein fundamentaler Unterschied auszumachen. Während Art. 23 AMRK ausgehend vom Subjekt ein Wahlrecht formuliert, ist in Art. 3 des ersten Zusatzprotokolls zur EMRK eine Pflicht statuiert. Adressat ist dort allerdings nicht das Individuum, sondern sind die Hohen Vertragsparteien respektive die Staaten. Dies gab zunächst Anlass, die Norm als objektives Recht, als institutionelle Garantie zu klassifizieren. Die Rechtsprechung des EGMR hat dieses Recht allerdings mit der Zeit transformiert. Ferner enthält Art. 23 AMRK auch den Zugang zum öffentlichen Dienst, vgl. Art. 23 I lit. c) AMRK. Schließlich ist Art. 23 AMRK inhaltlich sehr viel weiter gefasst als die Garantie im europäischen Zusatzprotokoll. Als besonders fortschrittlich erweist sich die AMRK auch in Hinblick auf den Gleichheitssatz: Während die EMRK in Art. 14 lediglich ein an die anderen Konventionsgarantien anknüpfendes und damit sachlich beschränktes, akzessorisches Gleichheitsgebot postuliert, hat die AMRK einen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz in Art. 24 inkorporiert. Das europäische System weist zwar in Art. 5 des siebten Zusatzprotokolls einen besonderen Gleichheitssatz für die Ehe auf und ergänzte im 12. Zusatzprotokoll, welches 2005 in Kraft trat, mit Art. 1 einen allgemeinen Gleichheitssatz. Jedoch wird dieses Zusatzprotokoll nur mit großer Zurückhaltung von den Staaten ratifiziert151. Die letzte Norm des zweiten Kapitels der AMRK garantiert mit Art. 25 die Rechtsbehelfsmöglichkeiten, ähnlich wie dies auch in Art. 13 EMRK erfolgt ist. Die Regelung in der amerikanischen Konvention erweist sich aber als deutlich detaillierter, wenngleich inhaltlich nicht weitreichender. c) Die Entwicklungs- und Brückennorm der zweiten bzw. zur dritten Generation der Menschenrechte Das dritte Kapitel der AMRK trägt den Titel „Wirtschaftliche, Soziale und Kulturelle Rechte“ und besteht nur aus einem einzigen Artikel. Auffällig ist zunächst, dass Art. 26 AMRK besonders „weich“ formuliert ist („undertake to adopt measures (. . .) with a view to achieving progressively“). Entgegen ihrer Be-

151 Derzeit hat nur eine geringe Anzahl der 47 Signatarstaaten das Protokoll ratifiziert. Gründe hierfür mögen die Befürchtungen einer weitreichenden quasiverfassungsgerichtlichen Stellung des EGMR sein sowie die Ungewissheit über eine mögliche Drittwirkung des Art. 1 des 12. Zusatzprotokolls, vgl. C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Auflage, 2012, § 26 Rn. 25 ff., die im übrigen darauf hinweisen, dass die Vorzüge des Gleichheitsgrundsatzes aus dem Zusatzprotokoll gegenüber dem Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK sich auf den Wegfall der Akzessorietät und die Ausweitung des sachlichen Anwendungsbereiches auf sämtliche in den Rechtsordnungen der Signatarstaaten enthaltene Rechte beschränken.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

zeichnung („Rights“) scheint die Norm somit keine subjektive Rechtsgarantie zu enthalten, sondern den Staaten lediglich eine allgemeine „fortschrittliche Entwicklung“ ohne rechtliche Bindungswirkung aufzugeben. Der normative Anknüpfungspunkt des Art. 26 AMRK ist jedoch jüngst durch den Gerichtshof in Form des Regressionsverbotes justiziabel gemacht worden152. Erwähnenswert ist zudem, dass Erziehung und Wissenschaft in den in Art. 26 AMRK aufgeführten Rechtskanon der zweiten Generation Eingang gefunden haben153. Ferner verweist Art. 26 AMRK auf die reformierte OAS-Charta. Schließlich hat der innovative Art. 26 AMRK im Jahre 1999 mit dem Inkrafttreten des an der Europäischen Sozialcharta von 1961 orientierten, sechs Garantien umfassenden Zusatzprotokolls von San Salvador eine Konkretisierung, Erweiterung und nicht zuletzt rechtliche Verbindlichkeit erfahren. Mit Art. 26 enthält die AMRK im Unterschied zur EMRK wenigstens eine Art „Staatszielbestimmung“, eine „Brückennorm“ zu den Rechten der zweiten und dritten Generation. In der EMRK fehlt bislang sowohl eine solche Verweisnorm etwa auf die später entstandene Europäische Sozialcharta als auch jegliche Aussagen zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten. Erneut zeigt sich, dass die EMRK ausschließlich abwehrrechtlich konzipiert ist. d) Modusnormen Im vierten Kapitel der AMRK finden sich in den Art. 27 bis 31 jene Regelungen, die eine Konvention erst operationabel werden lassen. Dabei handelt es sich um Normen zur Suspendierung, Anwendung und Interpretation der materiellen Garantien. Art. 27 AMRK enthält zunächst die Möglichkeit, im Notstand Rechte zu suspendieren154, wie dies auch in Art. 15 EMRK vorgesehen ist. Besonderes Merkmal der amerikanischen Fassung ist, dass abermals die Gleichheitsformel bemüht wird, wonach diese Maßnahmen unter dem Vorbehalt stehen, nicht eine Diskriminierung zu intendieren. Auch ist der Kanon der nicht derogierbaren Rechte – nicht zuletzt aufgrund des insgesamt weiteren Schutzbestandes der AMRK – nicht so eng gefasst wie in Europa. Im Besonderen trägt der letzte Halbsatz in Art. 27 Abs. 2 AMRK zur Weitung des nichtderogierbaren Normbestandes bei, der alle „judicial guarantees“ einschließt, die für den Schutz der enumerierten Rechte „essential“ sind155. 152 Vgl. dazu L. Burgorgue-Larsen, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Úbeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights, Rn. 24.01 ff., S. 613. 153 Wissenschaftsfreiheit findet sich in der EMRK nicht explizit gewährleistet. 154 Vertiefend dazu C. Grossman, A Framework for the Examination of States of Emergency under the American Convention on Human Rights, American University Journal of International Law and Politics, 1986, S. 35 ff.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Beachtenswert ist auch Art. 28 AMRK, der eine Föderalklausel enthält, die auf Drängen der USA mit ihrer stark föderalistischen Struktur eingefügt worden ist156. Eine solche, auf die innerstaatlichen Strukturen eingehende, Rück- und Umsicht gebietende Norm fehlt in der EMRK vollständig, obgleich auch in Europa einige Staaten eine föderale Tradition und Struktur aufweisen. Art. 29 und 30 AMRK schließlich betreffen die Interpretation und Beschränkung der Normen und finden grundsätzlich eine Entsprechung in Art. 17 und 18 EMRK. e) Pflichten des Menschen Eine weitere Besonderheit der AMRK findet sich in Art. 32, der das fünfte und in diesem Teil letzte Kapitel bildet. Dem Titel nach regelt er das Verhältnis zwischen Rechten und Pflichten. In Absatz eins enthält er eine dem Subsidiaritätsgedanken folgende „Verantwortungstrias“ jedes Individuums seiner Familie, der Gemeinschaft und der Menschheit gegenüber. Sodann beschränkt Absatz zwei die Rechte jeder Person durch die Rechte anderer, die Sicherheit aller und Erfordernisse des Gemeinwohls in einer demokratischen Gesellschaft. Eine vergleichbare Regelung des Verhältnisses zwischen Rechten und Pflichten und eine Normierung von „Verantwortungsbereichen“ des Einzelnen finden sich in der abwehrrechtlich ausgerichteten EMRK nicht. Auch die Schranken in Absatz zwei des Art. 32 AMRK unterscheiden sich signifikant von jenen der EMRK, regelt diese die jeweiligen Beschränkungsmöglichkeiten doch abschließend im Verbund mit und in konkretem Bezug zu den einzelnen Garantien. f) Ergänzungen und Modifikationen – Zusatzprotokolle Die AMRK hat über die Zeit zwei Ergänzungen in Gestalt von Zusatzprotokollen erhalten. Das bereits erwähnte Protokoll von San Salvador hat wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zum Gegenstand und trat 1999 in Kraft. Es enthält eine Fülle von Zusicherungen, die an die sozialen Normen der Konvention anknüpfen, diese fortschreiben und etwa den Schutz besonders schwacher Gesellschaftsmitglieder bezwecken, wie die Rechte des Kindes (Art. 16), der Älteren (Art. 17) und der Behinderten (Art. 18). Zudem findet sich unter den Garantien das Recht auf eine gesunde Umwelt (Art. 11), das Recht auf Gesundheit (Art. 10), der sozialen Sicherheit (Art. 9), das Recht auf Arbeit (Art. 6) sowie gerechte Arbeitsbedingungen (Art. 7). Als innovativ erweist sich auch Art. 14,

155 Der Gerichtshof hat dazu Stellung bezogen in dem Gutachten IACHR, 30.01. 1987, OC-8/87, Series A, No. 8 und ausgeführt, dass dazu sämtliche habeas corpusRechte gehören. 156 M.w. N. T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 285.

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der das Recht auf Kultur normiert sowie das Recht auf Bildung und Erziehung (Art. 13). Ferner enthält es das Recht der Vereinigungsfreiheit (Art. 8) und das Recht auf Streik (Art. 8 Abs. 1 lit. b). In Übereinstimmung und Einklang mit der AMRK weist das Zusatzprotokoll von San Salvador typische Merkmale auf, die es von den europäischen Protokollen unterscheiden. So ist in Art. 1 und Art. 2 ebenso wie in der amerikanischen Konvention zunächst die Umsetzungspflicht erfasst. Art. 3 enthält in bekannter Formel abermals die staatliche Pflicht, die nachfolgenden Rechte ohne Diskriminierung zu gewährleisten. Das daneben bestehende Protokoll, welches die Abschaffung der Todesstrafe normiert, hat weitaus weniger Rückhalt im interamerikanischen System erhalten, weist lediglich acht Ratifikationen auf und trat 1993 in Kraft. Im Gegensatz zu dieser sehr begrenzten Ergänzung der AMRK ist die EMRK bislang durch insgesamt 14 Zusatzprotokolle ergänzt bzw. reformiert und revidiert worden. Unter den zahlreichen Änderungsprotokollen ist insbesondere das 11. Zusatzprotokoll hervorzuheben, welches den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als alleiniges, ständiges Schutzorgan errichtet hat. Durch die ergänzenden Zusatzprotokolle sind zahlreiche weitere Garantien hinzugekommen, wie etwa das Recht auf Eigentum, das Wahlrecht und das Recht auf Bildung (1. Zusatzprotokoll), das Verbot der Todesstrafe (6. und 13. Zusatzprotokoll) und ein Diskriminierungsverbot (12. Zusatzprotokoll). Die derzeit noch nicht in Kraft getretenen Zusatzprotokolle 15 und 16 sehen abermals Reformen des europäischen Konventionssystems zur Erhöhung der Verfahrenseffizienz vor. Danach wird unter anderem das Subsidiaritätsprinzip normiert, die Beschwerdefrist auf vier Monate verkürzt, das Merkmal „beträchtlicher Nachteil“ neu gefasst und ein Vorlagerecht der höchsten nationalen Gerichte zum EGMR begründet. 2. Institutionen Nicht nur die materiellen Garantien der beiden Konventionen weisen Parallelen auf, sondern auch die zu ihrem Schutz errichteten Institutionen. Nachfolgend soll deshalb die institutionelle Schutzarchitektur beider Systeme auf Divergenzen und Konvergenzen hin untersucht werden. a) Die Europäische und die Interamerikanische Menschenrechtskommission Der seit 1954 bestehenden Europäischen Menschenrechtskommission kam bis zur strukturellen Reform der EMRK mit dem 11. Zusatzprotokoll von 1998, die den ständigen Gerichtshof schuf und die Kommission abschaffte157, eine bedeu157 Zu dem ehemaligen System und dessen Reform ausführlich V. Schlette, Das neue Rechtschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention. Zur Reform des Kontrollmechanismus durch das 11. Protokoll, ZaöRV 56 (1996), S. 905 ff.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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tende Funktion zu. Im damaligen Schutzsystem aus der Trias von Kommission, Ministerkomitee und Gerichtshof nahmen sich ihre Mitglieder158 gemäß Art. 19 a. F. ebenso wie der Gerichtshof der Aufgabe an, die „Einhaltung der Verpflichtungen, welche die Hohen Vertragsschließenden Teile in dieser Konvention übernommen haben, sicherzustellen“. Ihr oblag es zunächst, die Zulässigkeit der Beschwerden zu prüfen. Im Zuge dessen wurden vor allem jene Klagen ausgeschieden, die nicht fristgerecht eingereicht worden waren, das Gebot der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges nicht eingehalten hatten, deren Sachgegenstand nicht vom Schutzbereich der Konvention erfasst worden war oder die aus anderen Gründen offensichtlich unzulässig waren159. Sofern eine solche Unzulässigkeit nicht vorlag, bemühte sich die Kommission um ein „friendly settlement“ (Art. 28 a. F.). Wenn dieser gütlichen Einigung kein Erfolg beschieden war, setzte die Kommission ihre Tatsachenfeststellung fort und fertigte gemäß Art. 31 a. F. einen Bericht („report“/„rapport“) an. Neben den betroffenen Vertragsstaaten oblag der Kommission auch das Recht, den Gerichtshof wegen einer möglichen Konventionsverletzung anzurufen (vgl. Art. 48 a. F.), nicht jedoch dem Beschwerdeführer selbst. Sofern dieses nicht innerhalb einer Drei-Monatsfrist erfolgte, entschied das Ministerkomitee über das Vorliegen einer Verletzung. Die Menschenrechtskommission als über lange Zeit wesentliches Schutzorgan in der Architektur der EMRK galt als Ausdruck eines „progressiven Kompromisses“ 160 im Ringen um eine gerichtliche Kontrolle und ist aufgrund des gerichtsförmigen Verfahrens, ihrer Objektivität und Unabhängigkeit als „quasi-judicial“ und als „first instance European constitutional body“ qualifiziert worden161. Auch wenn die Kommission mit der Einrichtung des EGMR als permanenten Gerichtshof durch das 11. Zusatzprotokoll von 1998 abgeschafft ist, verbleibt ihre Entscheidungspraxis insbesondere in Zulässigkeitsfragen bis heute relevant. Anders als die Europäische Menschenrechtskommission geht die Entstehung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission nicht auf die Amerikanische Konvention oder die OAS-Charta zurück, sondern auf eine Außenminister158 Die Zusammensetzung der Kommission glich weitestgehend jener des Gerichtshofes. So gehörten auch die Mitglieder der Kommission in ihrer persönlichen Eigenschaft an, wurden in dieses Amt auf Zeit gewählt, und die Anzahl der Kommissionsmitglieder entsprach derjenigen der Vertragsstaaten, vgl. Art. 20 ff. EMRK a. F. 159 Vgl. dazu E. Fribergh/M. E. Villiger, The European Commission of Human Rights, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 605 ff. insbesondere 610 ff. 160 W. Strasser, 45 Jahre Menschenrechtsinstitutionen des Europarats – Bilanz und Perspektiven, in: U. Holtz (Hrsg.), 50 Jahre Europarat, 2000, S. 126. 161 E. Fribergh/M. E. Villiger, The European Commission of Human Rights, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 618 f.

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konferenz im Jahre 1959.162 Das Gründungsdokument der Interamerikanischen Menschenrechtskommission163 stellt die Resolution VIII dar, die zur Einrichtung eines juristischen Schutzsystems, bestehend aus Konvention als verbindlicher Grundlage und Kommission sowie Gerichtshof, ermächtigt. Während Konvention und Gerichtshof allerdings erst sehr viel später Wirklichkeit erlangten, wurde eine aus sieben Mitgliedern bestehende Kommission unmittelbar 1960 eingesetzt164. Gleichwohl bestand sie somit ohne positivrechtliches Fundament in der OAS-Charta oder eine sonstige vertragliche Grundlage, weshalb sie auch als „autonome Einheit“ bezeichnet wurde165. Ungeachtet dieses Mangels an einem robusten Mandat und obgleich sie anders als die Europäische Menschenrechtskommission ursprünglich nur zur allgemeinen Förderung und nicht als ermittelndes und sanktionierendes Schutzorgan konzipiert worden war, übte die Kommission durch dynamische und denkbar weiteste Interpretation des Gründungsstatuts fortan weitreichende Schutzaktivitäten aus166. Diese „Kompetenzarrogation“ 167 der Kommission erfuhr erst auf der Konferenz von Rio de Janeiro im Jahr 1965 durch die Resolution XXII eine nachträgliche Legitimation, die sowohl eine allgemeine Beschäftigung mit Menschenrechtsfragen als auch eine besondere in Form eines sachlich begrenzten Individualbeschwerdesystems – nämlich nur für bestimmte Rechte, die „preferred rights“ 168 – in Statut und Verfahrensordnung 162 Deren Hintergrund bildete die einsetzende kubanische Revolution gegen den Diktator F. Batista und die davon ausgehenden Unruhen, dazu A. Schreiber, The InterAmerican Commission on Human Rights, 1970, S. 27ff. 163 Dazu aus deutscher Perspektive früh, C. Tomuschat, Die interamerikanische Menschenrechtskommission, ZaöRV 28 (1968), S. 531 ff. 164 In der Begründung nimmt die Resolution auch explizit Bezug auf den sich entwickelnden Menschenrechtsschutz im Rahmen des Europarates, so dass eine unmittelbare Rezeption erfolgt ist. 165 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 264. 166 So verlieh ihr Art. 9 des Statuts zunächst nur die Kompetenz, Berichte anzufertigen und Empfehlungen auszusprechen. Aus Art. 9 lit. b) des Statuts von 1960 entnahm sie sodann aber durch autonome und dynamische Auslegung die Befugnis, nicht nur allgemeine Empfehlungen über die Verwirklichung der in der Amerikanischen Erklärung von 1948 niedergelegten Menschenrechte abzugeben, sondern diese auch gegenüber einzelnen Staaten auszusprechen. Ferner nahm sie – obgleich nicht meritorisch zuständig – auch Individualbeschwerden entgegen und nutzte diese als zentrale Informationsquelle zur Erstellung von Länderberichten. Dazu W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 647. Gestützt auf Art. 11 lit. c) des Statuts führte sie schließlich auch „Vorort-“ bzw. „sur place“-Untersuchungen durch, vgl. G. Nacimiento, Die Amerikanische Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen, 1997, S. 66 ff. Zur Entstehung der Interamerikanischen Menschenrechtskommission unter Hinweis auf die geradezu revolutionären ersten Statutsentwürfe vertiefend, J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 16 ff. 167 W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 648. 168 Hierzu zählen das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Art. 1), Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 2), Religionsfreiheit (Art. 3), Meinungsfreiheit (Art. 4), der Schutz gegen Freiheitsentzug (Art. 25) und das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 26).

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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fixierte169. Seither nahm die Kommission damit sowohl exekutive als auch judikative Funktionen wahr170. Obgleich die Kommission bis zum Inkrafttreten des Protokolls von Buenos Aires (1967) im Jahre 1970, das sie als Hauptorgan der OAS verankerte, lediglich eine Art „para-vertragliches Organ“ 171 war, ist schon diese Phase von bedeutender Aktivität geprägt172. Dieser Statuswandel führte zu einem Rollen- und Funktionsdualismus: Zum einen war die Kommission nunmehr integraler Bestandteil der OAS und mit dem Mandat versehen, zu bewachen, zu schützen und zu beraten (vgl. Art. 51 und 112 I OAS-Charta a. F. bzw. Art. 53 und 106 n. F. OAS-Charta). Zum anderen sollte sie aber auch als Organ der noch nicht in Kraft getretenen Amerikanischen Menschenrechtskonvention („Pakt von San José“) dienen (vgl. Art. 112 II OASCharta a. F., Art. 106 II OAS-Charta n. F.). Dieser Funktionsdualismus als OASOrgan und Konventionsorgan sorgt einerseits für eine institutionelle „Spaltung“ der Kommission, andererseits bildet sie damit das verbindende Element zwischen dem ursprünglichen Schutzregime auf Basis der „Amerikanischen Erklärung über die Rechte und Pflichten des Menschen“ (1948), der neu geschaffenen „Amerikanischen Menschenrechtskonvention“ (1969) und der OAS als Fundament. Diese „Rollenspaltung“ der Kommission korreliert zwangsläufig mit einer Divergenz der materiellrechtlichen Prüfungsmaßstäbe. Während gegenüber den Signatarstaaten der „Amerikanischen Menschenrechtskonvention“ (1969) deren Inhalt Verbindlichkeit beansprucht, sind die weiteren Mitgliedsstaaten der OAS lediglich an die Garantien aus der „Amerikanischen Erklärung über die Rechte und Pflichten des Menschen“ (1948) gebunden. Die Kompetenzen der Kommission gegenüber sämtlichen OAS-Staaten folgen aus Art. 41 a) bis e) und g), jene spezifischen gegenüber den Konventionsstaaten ergänzend aus Art. 41 f) und 44 bis 51 der AMRK. Das Kommissionsstatut von 1979, das bis heute Gültigkeit besitzt, trägt dieser Doppelzuständigkeit ebenfalls in Art. 1 Abs. 2 und den Art. 18 ff. Rechnung. Die Zusammensetzung der Kommission bestimmt sich heute nach den Art. 34 ff. AMRK. Ausweislich Art. 34 AMRK besteht die Menschenrechtskommission aus sieben Mitgliedern, die durch die Hauptversammlung der OAS (Art. 36) auf die Amtszeit von vier Jahren gewählt werden. Die Amtszeit kann einmalig verlängert werden (Art. 37). Dabei gilt, dass keine Nation doppelt vertreten sein darf (vgl. Art. 37 Abs. 2) und die Kommission alle Mitgliedsstaaten 169

W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 648. Vgl. J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 24 f., die zudem auch noch legislative Tätigkeiten erkennt. 171 Begriffsbildend J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 26. 172 Dazu etwa R. K. Goldman, History and Action: The Inter-American Human Rights System and the Role of the Inter-American Commission on Human Rights, Human Rights Quarterly 31 (2009), S. 867 ff. 170

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der OAS repräsentieren soll (Art. 35). Die ordentliche Tagungsperiode ist auf eine Dauer von maximal acht Wochen beschränkt und findet unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt (Art. 15 VerfO). Sitz der Kommission ist aufgrund des Status als Hauptorgan der OAS Washington, D.C. Bis heute ist die Kommission nach Art. 33 AMRK neben dem Gerichtshof die tragende Schutzinstitution des interamerikanischen Systems. Ihr Aufgabenspektrum ist überaus vielfältig und findet sich in Art. 41 der AMRK beschrieben173. Zunächst entfaltet sie ganz allgemein fördernde und beratende Aktivität. So steht sie im engen Austausch mit der Generalversammlung und dem ständigen Rat der OAS und hilft bei der Ausarbeitung menschenrechtlicher Texte und Schutzinstrumente. Weiterhin mediiert und schützt sie Menschenrechte in internationalen bewaffneten Konflikten und bürgerkriegsähnlichen Situationen im interamerikanischen Raum174. Schließlich unterstützt sie Transitionsprozesse hin zu demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen. Den größten Raum nehmen aber Berichte, Empfehlungen und Länderstudien sowie die Auseinandersetzung mit Individualbeschwerden ein. In letzteren obliegt es der Interamerikanischen Menschenrechtskommission ebenso wie einst der Europäischen Menschenrechtskommission, zunächst die Zulässigkeit zu prüfen (Art. 46 und 47 AMRK) und eine gütliche Einigung herbeizuführen (Art. 48 I f AMRK). Sollte dies nicht gelingen, erstellt sie – wie ehemals das europäische Pendant – einen Bericht, der die Tatsachenfeststellungen enthält (Art. 50 AMRK) und der gegebenenfalls veröffentlicht wird (Art. 51 AMRK). Weiterhin ist nach Art. 61 AMRK allein die Kommission neben den Staaten berechtigt, Fälle vor den Gerichtshof zu bringen – das Individuum hat keinen locus standi. Ferner normiert Art. 57 AMRK, dass die Kommission in sämtlichen Fällen, die vor dem Gerichtshof verhandelt werden, einzubeziehen ist, um die rechtliche Ordnung und Integrität der Konvention zu gewährleisten175. Insgesamt besteht eine deutliche Parallele zwischen der Europäischen und der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, so dass die gegenwärtige Schutzarchitektur der Amerikanischen Konvention insgesamt jener des europäischen Pendants vor dem 11. Zusatzprotokoll gleicht. So ist die Interamerikani173 Möglicherweise ist es dieser Rollen- und Funktionsvielfalt geschuldet, dass die Kommission sich zunächst weiter auf Länderberichte konzentrierte und erst sieben Jahre nach der Gründung des Gerichtshofes mit dem Fall Velásquez Rodriguez 1986 diesem die erste Individualbeschwerde vorlegte. Vielleicht bildete aber auch ein befürchteter eigener Autoritätsverlust das Motiv. Bei aller berechtigten Kritik der damaligen Richter an dem Vorgehen der Kommission ist anzumerken, dass es in Europa ebenfalls sehr lange dauerte, bis das Potential des regionalen menschenrechtlichen Schutzinstrumentariums genutzt wurde. 174 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S, 269. 175 So T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 294.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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sche Kommission ebenso wie vormals die Europäische Kommission für Menschenrechte maßgeblich mit der Prüfung der Zulässigkeit beauftragt. Gleichwohl sind die Kompetenzen der Interamerikanischen Kommission bedeutend weiter gefasst als es jene der europäischen Kommission waren. Dies liegt darin begründet, dass der Aktionsradius der Europäischen Menschenrechtskommission auf die ihr vorgelegten Beschwerden beschränkt war. Zum maßgeblichen Tätigkeitsspektrum der interamerikanischen Kommission zählt hingegen, allgemeine Empfehlungen auszusprechen, die Durchführung von Studien und Projekten, die Entgegennahme von Beschwerden und Mitteilungen, Ermittlungen durchzuführen und Vorortuntersuchungen zu unternehmen176 sowie Berichte zu besonderen Schwerpunkten zu erstellen. Über diesen schon positivrechtlich weiter gefassten Kompetenzrahmen hat die Interamerikanische Kommission stets ihre Kompetenzen sehr weit ausgelegt177. b) Der Europäische und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte aa) Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Erste Forderungen nach einem Europäischen Gerichtshof in der (Vor)geschichte des Europarates gehen bereits auf die Resolution des Hager Kongresses aus dem Jahre 1948 zurück178. Indes kam es erst 1959 zur Gründung des Gerichtshofes, obgleich die Konvention diesen von Anbeginn vorsah179. Seit dem 11. Zusatzprotokoll von 1998 ist er als ständiger Gerichtshof ausgestaltet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit Sitz in Straßburg besteht aus einer der Anzahl der Vertragsstaaten entsprechenden Richter (Art. 20 EMRK),

176 Solche hat die Europäische Kommission für Menschenrechte nur sehr selten durchgeführt, vgl. E. Fribergh/M. E. Villiger, The European Commission of Human Rights, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 613. 177 Dieses schon mit der „Kompetenzarrogation“ einsetzende und bis heute feststellbare Selbstverständnis ist nicht kritiklos geblieben. Insbesondere aus den USA ist die autonome und dynamische Interpretation immer wieder angefochten worden. Eindringliches Beispiel bieten die Entscheidungen der Kommission zum Verbot der Todesstrafe Minderjähriger. Diese ist wie bereits dargestellt in der AMRK in Art. 4 Abs. 5 normiert. Da die USA aber lediglich an die Deklaration und nicht an die Konvention gebunden sind, hat die Kommission das Recht auf Leben aus Art. 1 der Deklaration dergestalt interpretiert, dass diese Garantie eine Todesstrafe Minderjähriger verbietet. Zur (im Ergebnis nicht überzeugenden) Kritik daran, B. T. Gravdal, The Inter-American Commission on Human Rights’ quixotic and unjustified expansion of its authority and the American Declaration of the Rights and Duties of Man: The Case of Michael Domingues, Southwestern Journal of Law and Trade in the Americas 11 (2005), S. 257 ff. 178 K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956, S. 14. 179 Dazu E. Bates, The Evolution of the European Convention of Human Rights, 2010.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

derzeit also 47. Wenngleich sie als unabhängige Mitglieder agieren, ist damit ein gewisses „repräsentatives Moment“ verbunden und der Sachverstand im Hinblick auf die nationalen Rechtsordnungen einschließlich ihrer kulturellen Vorbedingungen und Gegebenheiten gewährleistet. Die Richter werden nach Ansehen und Befähigung für eine Dauer von nunmehr neun Jahren (Art. 23 EMRK) unter Ausschluss einer Wiederwahl und bis zur Altersgrenze des 70. Lebensjahres (Art. 23 VI EMRK) von der Parlamentarischen Versammlung aus einer vom Mitgliedsstaat unterbreiteten Liste mit drei Kandidaten durch einfache Mehrheit ermittelt (Art. 22 EMRK). Der Gerichtshof gliedert sich in Einzelrichter (Art. 27 EMRK), Ausschüsse mit drei Richtern (Art. 28 EMRK) und Kammern mit sieben Richtern (Art. 29 EMRK). Die große Kammer mit 17 Richtern (Art. 31 EMRK) entscheidet auf Vorlage, wenn es sich um eine schwerwiegende Frage handelt oder die Kammer von einem früheren Urteil des Gerichtshofes abweichen will. Sie stellt zuweilen auch eine gerichtsinterne Rechtsmittelinstanz dar (Art. 43 EMRK). Über Verwaltungsfragen entscheidet das Plenum (Art. 25 EMRK). Das 14. Zusatzprotokoll hat einige die Arbeitslast des EGMR mindernde Neuerungen gebracht. Dazu gehören die Unzulässigkeitsentscheidungen durch den Einzelrichter (Art. 27 EMRK) und die Dreierausschüsse für repetitive Fälle (Art. 28 I lit. b EMRK). bb) Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Der Interamerikanische Gerichtshof besteht in seiner heutigen Form zwar erst seit 1979, doch finden sich in dieser Hemisphäre bereits früh erste Formen gerichtsförmigen Menschenrechtsschutzes. Einen Vorläufer bildet der Central American Court of Justice, der auch als „Corte de Cartago“ bezeichnet wurde und der von 1907 bis 1918 in Costa Rica existierte180. Bemerkenswert ist, dass auch hier schon eine Form der Individualklage möglich war. Die „Corte de Cartago“ ist damit vermutlich das erste suprastaatliche Gericht überhaupt, das dem Individuum locus standi zusprach und es mithin gewissermaßen „entmediatisierte“. Wenngleich in diesem Zeitraum insgesamt nur zehn Klagen eingebracht worden sind – denen allesamt kein Erfolg beschieden war – erweist sich der interamerikanische Raum damit auch in institutioneller Hinsicht als besonders progressiv. Ferner ist bereits seit der Interamerikanischen Konferenz von Bogotá im Jahre 1948 immer wieder das Erfordernis einer rechtsprechenden Instanz diskutiert worden, das sich aber aus Gründen der Souveränität letztlich nicht durchsetzen konnte181.

180 Dazu M. O. Hudson, The Central American Court of Justice, American Journal of International Law 26 (1932), S. 759 ff. 181 Vgl. J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986, S. 14 f.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Der heutige Gerichtshof hat seinen Sitz in San José, Costa Rica182 und besteht ebenso wie die Kommission aus sieben Richtern (Art. 52 AMRK), die allesamt Staatsangehörige von OAS-Staaten sein müssen und von der Generalversammlung (Art. 53 Abs. 1 AMRK) für eine Amtsdauer von sechs Jahren unter der Möglichkeit einmaliger Wiederwahl gewählt werden (Art. 54 AMRK). Anders als im europäischen System, wo die Zahl der Richter der Anzahl der Vertragsstaaten entspricht, sind damit nicht alle Vertragsstaaten der AMRK gleichzeitig „repräsentiert“. Dieses Repräsentationsdefizit zeugt einerseits von der Überwindung oder Relativierung der Souveränität der Staaten183, erschwert zugleich aber auch die Legitimation des Gerichtshofes184. Der Interamerikanische Gerichtshof ist, ähnlich wie auch die Kommission, durch einen Kompetenzdualismus gekennzeichnet. Innerhalb der AMRK fungiert er mit der Kompetenz zur streitigen Gerichtsbarkeit (Art. 62 AMRK), außerhalb dieser und damit im Rahmen der OAS verleiht ihm Art. 64 AMRK die Möglichkeit, unverbindliche Gutachten zu der Konvention anzufertigen. Ferner hat der Gerichtshof – anders als der EGMR – die Kompetenz inne, auch über Auslegungsfragen aller anderen menschenrechtlichen Verträge zu befinden185. Diese Kompetenz ist im weltweiten Vergleich eine der weitesten überhaupt186. Während Gutachten ohne weiteres angefordert werden dürfen, ist für die streitige Gerichtsbarkeit das oben skizzierte Vorverfahren durch die Kommission erforderlich, vgl. auch Art. 61 Abs. 2 AMRK187. Ferner setzt die streitige Gerichtsbarkeit voraus, dass die Staaten zuvor eine Unterwerfungserklärung abgeben, ist also fakultativ ausgestaltet, Art. 62 Abs. 3 AMRK. Derzeit sind 22 der 25 Staaten, die die Konvention ratifiziert haben, diesem Erfordernis nachgekommen. Die Kompetenz kann auch für einen konkreten Konflikt ad hoc hergestellt werden. 182

Es ist ein glücklicher Umstand, dass der Interamerikanische Gerichtshof seinen Sitz in Costa Rica hat. Zum einen ist dies Land beispielgebend auf dem Weg „Zum ewigen Frieden“ als „unbewaffnete Demokratie“ (begründet durch J. F. Ferrer) und geht von ihm seit der Präsidentschaft O. A. Sánchez eine pazifizierende Wirkung auf Mittelamerika aus. Zum anderen bildet es schon geografisch die „Brücke“ zwischen Nordund Südamerika, ist wahrhaft „interamerikanisch“ und geradezu prädestiniert, diese Kontinente in menschenrechtlicher Hinsicht zusammenzuschließen und zu integrieren. 183 Dazu eingehend Teil 3 A. 184 Vertiefend dazu Teil 3 E. 185 Vgl. dazu IACHR, 13.11.1981, OC-1/82 Series A, No. 101 und IACHR, 01.10. 1999, OC-16/99 Series A, No. 16. 186 Dazu früh T. Buergenthal, The Advisory Practice of the Inter-American Human Rights Court, American Journal of International Law 79 (1985), S. 1 ff. sowie grundlegend J. M. Pasqualucci, Advisory Practice and Procedure: Contributing to the Evolution of International Human Rights Law, Stanford Journal of International Law 38 (2002), S. 241 ff. 187 Dass das Verfahren durch die Kommission von eklatanter Bedeutung ist, da der Einzelne nur hier einen locus standi hat, und das (Vor)verfahren deshalb nicht umgangen werden kann, stellte der Gerichthof bereits in dem allerersten Verfahren fest. Siehe IACHR, 13.11.1981, OC-1/82 Series A, No. 101, Rn. 25.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

Anders als im europäischen System, in dem seit den Veränderungen durch das 11. Zusatzprotokoll alle Mitgliedsstaaten des Europarates zugleich der EMRK beitreten und automatisch der Gerichtsbarkeit unterworfen sind, besteht damit also keine obligatorische Gerichtsbarkeit, was als wesentliches Defizit anzusehen ist188. Ein weiterer signifikanter Unterschied zwischen dem Interamerikanischen Gerichtshof und seinem europäischen Pendant ist, dass ausweislich Art. 61 Abs. 1 AMRK lediglich Staaten und die Kommission Verfahren anstrengen können, nicht aber das einzelne Subjekt. Dieses eklatante Schutzdefizit gleicht jenem des europäischen Systems vor der Ratifikation des 11. Zusatzprotokolls (1998). Auch vor dem EGMR haben Individuen erst seither locus standi. Zumindest finden die Beschwerdeführer aber nach Art. 2 und Art. 35 Abs. 4 der Verfahrensordnung des Interamerikanischen Gerichtshofes im Verfahren Gehör und können Beweise auch unabhängig von der Kommission vortragen189. Darin liegt wenigstens eine partielle Anerkennung des Einzelnen als Beschwerdeführer. Das dennoch bestehende Defizit des interamerikanischen Systems ist deshalb von besonderer Tragweite, weil weder der vermeintlich verletzende Staat noch dritte Staaten gewillt sein werden, eine Klage vor dem Gerichtshof zu unternehmen. Damit beschränkt sich die Artikulationsmöglichkeit allein auf die Menschenrechtskommission, die jedenfalls in den ersten Jahren des Bestehens nur sehr vereinzelt davon Gebrauch gemacht hat190. Sofern dem Gerichtshof ein Fall vorgelegt worden ist, befindet er umfassend in rechtlicher wie tatsächlicher Hinsicht über die Rechtssache und bezieht dabei gemäß dem Grundsatz iura novit curia auch solche möglichen Verletzungen mit ein, die nicht vorgetragen worden sind191. Nach Art. 63 Abs. 1 AMRK befindet der Gerichtshof darüber, ob eine Verletzung stattgefunden hat und definiert geeignete Maßnahmen einschließlich einer angemessenen Entschädigung. Im Unterschied zur EMRK sieht die AMRK in Art. 63 Abs. 2 vor, dass es dem Gerichtshof in Fällen besonderer Schwere oder Dringlichkeit bei drohendem irreparablen Schaden auch möglich ist, eine einstweilige Verfügung anzuordnen192. Art. 68 Abs. 2 AMRK enthält eine dem Art. 41 EMRK verwandte Regelung, die wie in Europa die Kompensation grundsätzlich nach nationalem Recht vorsieht. 188 So A. A. Cançado Trindade, El Derecho Internacional de los Derechos Humanos en el Siglo XXI, 2001, S. 406 ff. 189 Siehe T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 297. 190 Dazu J. M. Pasqualucci, The Practice and Procedure of the Inter-American Court of Human Rights, 2. Aufl. 2014, S. 6 f., 111 f. 191 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 298 f. 192 Dazu T. Buergenthal, Interim Measures in the Inter-American Court of Human Rights, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Interim Measures Indicated by International Courts, 1994, S. 69 ff.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Die Urteile des Gerichtshofes sind endgültig und unanfechtbar, Art. 67 AMRK193. Sofern Unstimmigkeiten über die Bedeutung des Urteils herrschen, besteht die Möglichkeit, ein offizielles Auslegungsurteil nach Art. 67 Abs. 2 AMRK einzuholen194. Die Durchsetzungskraft der Urteile des Gerichtshofes basiert auf der Gefolgschaftsverpflichtung aus Art. 68 Abs. 1 AMRK195, die stark Art. 46 Abs. 1 EMRK gleicht. Ein besonderes Regelungsregime zur Überwachung der Einhaltung der Urteile ist in der AMRK nicht vorgesehen. Parallel zu Art. 46 Abs. 2 EMRK ist lediglich in Art. 65 AMRK normiert, dass der Gerichtshof einen Jahresbericht der Generalversammlung der OAS vorlegt, wodurch Öffentlichkeit und politischer Druck erzeugt werden. Allerdings ist anzumerken, dass auch etwaigen daraufhin ergehenden Resolutionen der OAS-Generalversammlung lediglich politisches Gewicht zukommt196. Schließlich ist bemerkenswert, dass die Verfahrensdauer trotz der schwerwiegenden und komplexen Menschenrechtsverbrechen und trotz der nicht ständigen Gerichtsbarkeit diejenige in Europa lange Zeit unterschritten hat. Sie lag bis Mitte der neunziger Jahre bei durchschnittlich 28 Monaten, und hat sich erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf 34 Monate erhöht197. Dies vermag insbesondere dem Umstand geschuldet sein, dass der IAGH mit erheblich weniger Fällen konfrontiert worden ist als sein europäisches Pendant. 3. Instrumente Nicht nur institutionell, sondern auch instrumentell bestehen gleichermaßen Unterschiedlichkeiten und Gemeinsamkeiten zwischen dem interamerikanischen und europäischen Schutzsystem. Zentrales Instrument beider Konventionssysteme ist die Individualbeschwerde198. a) Individualbeschwerde Der durch die beiden interamerikanischen Schutzsysteme begründete Dualismus, der zu beschriebener „Rollenspaltung“ der Kommission führt, zeigt sich 193

Dazu auch IACHR, 17.11.1999, Castillo Petruzzi Case, Series C, No. 59. Da die Urteile immer komplexer werden, nimmt das Verlangen der Staaten zu einer solchen ergänzenden Interpretationsleistung immer weiter zu, so T. Buergenthal/ D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 300. 195 Dazu IACHR, 17.11.1999, Castillo Petruzzi Case, Series C, No. 59. 196 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 302 m.w. N. 197 So A. A. Cançado Trindade, Die Entwicklung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte, ZaöRV 70 (2010), S. 649. 198 Vgl. dazu etwa C. Tomuschat, Individueller Rechtsschutz: das Herzstück des „ordre public européen“ nach der Europäischen Menschenrechtskonvention, EuGRZ 2003, S. 95 ff. 194

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

auch in dem Beschwerdeverfahren. Im Rahmen des OAS-Systems hat die Kommission – wenn auch zunächst ohne positivrechtliche Grundlage und Absicherung – bereits seit ihrer Entstehung Individualbeschwerden entgegengenommen. Seit 1966 sah dann das reformierte Kommissionsstatut zumindest die Rüge der enumerativ in Art. 9 (bis) aufgezählten „preferred freedoms“ 199 vor. Nunmehr können gemäß Art. 20 des Kommissionsstatuts alle Verletzungen von Rechten aus der Amerikanischen Deklaration von 1948 gerügt werden (durch eine sog. „petition“), vgl. auch Art. 49 der Rules of Procedure of the Inter-American Commission on Human Rights. Die in dem Verfahren nach Art. 20 ergehenden Entscheidungen sind jedoch nicht rechtsverbindlich. Ihre Effektivität folgt allein aus der Publizitätswirkung, der Zuleitung an die Generalversammlung der OAS und aus sog. „Follow-Up“-Maßnahmen nach Art. 46 der Rules of Procedure of the Inter-American Commission on Human Rights. Die Individualbeschwerde aus dem Verbürgungskontext der AMRK findet sich heute hingegen in Art. 44 AMRK explizit normiert. Grundsätzlich ist also zunächst danach zu differenzieren, ob der betreffende Staat die AMRK ratifiziert hat oder nicht. Im ersten Fall kommen die Art. 19 lit. a) des Statuts der Interamerikanischen Menschenrechtskommission von 1979, Art. 44 ff. AMRK, Art. 26 bis 48 Verfahrensordnung der Kommission von 2001 zur Anwendung, andernfalls richtet sich das Prozedere allein nach Art. 20 des Statuts in Verbindung mit Art. 49 f. VerfO. Zwei Charakteristika der Individualbeschwerde nach der AMRK sind besonders hervorzuheben. Zum einen ist sie invers zum gemeinen Völkerrechtsverständnis, das das souveränitätsschonendere Staatenbeschwerdeverfahren in das Zentrum rückt – und auch anders als es im europäischen System bis 1998 üblich war – von vornherein obligatorisch ausgestaltet gewesen. Zum anderen liegt ein bedeutsamer Unterschied zu Art. 34 EMRK wie auch zu anderen Menschenrechtsschutzverträgen darin, dass die Möglichkeit der Individualbeschwerde nicht auf das Opfer beschränkt bleibt, sondern der Kreis der Beschwerdeberechtigten weithin geöffnet ist und einer Popularklage („actio popularis“) gleichkommt („Any person or group of persons, or any nongovernmental entity“). Dieser Umstand ermöglicht es unter anderem, dem schwer fassbaren Charakter der Menschenrechtsverletzungen Rechnung zu tragen. Oftmals ist das Opfer selbst wegen Einschüchterungen und der „forced disappearence“-Problematik nicht in der La199 Der Begriff der „preferred freedoms“ oder „preferred rights“ geht ursprünglich auf den US-Supreme Court zurück und bezeichnet die besonders wichtigen Rechte, vgl. J. A. Segal/H. J. Spaeth, The Supreme Court and the Attitudinal Model Revisited, 2002, S. 141 ff. Im Rahmen des interamerikanischen Systems umfassten die „preferred freedoms“ das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit (Art. 1), Gleichheit vor dem Recht (Art. 2), die Religionsfreiheit (Art. 3), die Meinungsfreiheit (Art. 4), Schutz vor Freiheitsentzug (Art. 15) und das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 16), vgl. T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 265.

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ge, die Beschwerde zu führen, so dass die Rügefähigkeit durch Dritte der einzige Weg zur Geltendmachung ist200. Die Kommission prüft die Zulässigkeit der eingereichten Klagen gemäß Art. 46 und 47 AMRK sowie Art. 26 ff. der Verfahrensordnung. Diese Zulässigkeitsvoraussetzungen sind nahezu identisch zu denen der EMRK in Art. 35 ausgestaltet. So verlangt Art. 46 Abs. 1 in lit. a) bis d) AMRK die Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges und statuiert eine Sechsmonatsfrist nach der endgültigen innerstaatlichen Entscheidung. Außerdem darf die Klage nicht bereits vor einem anderen internationalen Gericht anhängig und der gleiche Fall nicht bereits entschieden sein, vgl. auch Art. 31 ff. der Verfahrensordnung der Kommission. Auch sind parallel zur EMRK anonyme Beschwerden unzulässig, vgl. Art. 46 Abs. 1 lit. d) AMRK und Art. 28 lit. a) Verfahrensordnung. Sodann muss die zu prüfende causa benannt und umrissen sein. Das Kriterium der Rechtswegerschöpfung ist häufiger Gegenstand der Judikatur201. Die Verfahrensordnung der Kommission sieht zudem in Art. 31 Abs. 3 AMRK vor, dass die Beweislast für die mangelnde Erschöpfung des Rechtsweges bei dem betroffenen Staat liegt, sofern er sich darauf beruft202. Im Gegensatz zur EMRK kennt die AMRK allerdings eine positivrechtlich verankerte Ausnahmetrias von diesen Grundsätzen in Art. 46 Abs. 2 AMRK. Diese umfassen jene rechtsstaatlich defizitären Fälle, in denen innerstaatlich kein faires Verfahren gewährleistet ist, dem Beschwerdeführer Rechtsmittel versagt worden sind oder eine abschließende Entscheidung ungerechtfertigt hinausgezögert worden ist. Dies zeigt, dass das interamerikanische System nicht auf nationale Ordnungen, die rechtsstaatlichen Anforderungen genügen, vertrauen kann. Art. 47 AMRK statuiert als weitere Zulässigkeitskriterien, dass Fakten dargebracht werden müssen, die eine Konventionsverletzung nahelegen (Art. 47 lit. b) AMRK) und dass die Beschwerde nicht grundlos oder offensichtlich unzulässig sein darf (Art. 47 lit. c) AMRK). Weiterhin darf noch keine Sachentscheidung in einem vergleichbaren Fall ergangen sein (Art. 47 lit. d) AMRK). Ein weiterer Unterschied zur EMRK besteht darin, dass die Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK auf die in der Konvention und den Protokollen „anerkannten Rechte“ beschränkt ist, während ausweislich Art. 44 AMRK zumindest vom Normtext her die gesamte Konvention rügefähig ist. Eine Begrenzung erfolgt erst durch Art. 27 der Verfahrensordnung. 200

J. Kokott, Das interamerikanische System zum Schutz der Menschenrechte, 1986,

S. 58. 201 Vgl. umfassend L. Burgorgue-Larsen, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Úbeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights – Case Law and Commentary, 2011, Rn. 6.01 ff., S. 131. 202 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 289.

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Das weitere Prozedere nach Annahme einer Beschwerde durch die Kommission besteht zunächst in der Zuleitung der Beschwerde an den betroffenen Staat und dem Ersuchen um Stellungnahme (Art. 48 Abs. 1 lit. a AMRK). Daran schließt sich regelmäßig ein Prozess von Replik und Duplik an. Verzichtet der Beschwerdeführer hingegen darauf zu duplizieren, so kann die Kommission das Verfahren einstellen. Anders als im europäischen Konventionssystem kommt der Kommission dabei stärker die Rolle eines Moderators zu, der die Aufgabe hat, eine „friedliche Lösung“ (solución amistosa), eine Art Vergleich zu erwirken (vgl. Art. 48 Abs. 1 lit. f) AMRK, Art. 41 der Verfahrensordnung von 2001). Zwar enthält die EMRK mit Art. 38 und 39 ebenfalls Regelungen zur gütlichen Einigung, doch kommt diesen nur eine geringe Bedeutung zu. Der Gerichtshof hält sich hierfür nur „zur Verfügung“. Äußert sich der belangte Staat nach Aufforderung und Fristsetzung hingegen nicht, so wird das Vorbringen des Beschwerdeführers als wahr unterstellt („presunción“). Diese prozessuale „Beweislastregel“ des Art. 39 der Verfahrensordnung (2001) unterbindet unkooperatives oder obstruktives Verhalten von Signatarstaaten. Der Abschluss des Verfahrens ist durch ein ausgeprägtes Berichtsverfahren gekennzeichnet. Sofern ein „freundschaftlicher Ausgleich“ erzielt werden konnte, richtet sich dieser nach Art. 49 AMRK und umfasst die Tatsachen samt Lösungsvorschlag. Bleibt das Verfahren hingegen kontradiktorisch, so ist ein mehrstufiges Berichtsverfahren die Konsequenz, welches mit einer ersten Tatsachen- und Empfehlungsfeststellung beginnt (Art. 50 AMRK). In einer sich daran anschließenden Phase von drei Monaten besteht entweder die Möglichkeit, den Streit beizulegen oder ihn an den Gerichtshof zu verweisen. Nach Art. 44 der Verfahrensordnung der Kommission ist diese Verweisung zwingend, es sei denn, die Kommission beschließt mit absoluter Mehrheit Gegenteiliges. Ferner kann die Kommission mit absoluter Mehrheit den Beschluss fassen, in einem weiteren Bericht Empfehlungen auszusprechen. Nach Fristablauf entscheidet die Kommission durch die absolute Mehrheit der Mitglieder, ob der Staat den Empfehlungen in geeigneter Form nachgekommen ist und ob der Bericht Publizität erlangen soll (Art. 51 AMRK). Das Verfahren vor der Kommission kann also für Signatarstaaten vier Wege nehmen: Es kann unmittelbar zu einem „friendly settlement“ kommen, die Kommission kann das Verfahren einstellen, der Gerichtshof kann von der Kommission oder dem betroffenen Staat angerufen werden und schließlich ist ein Endbericht mit Publizität möglich. Jene Mitglieder der OAS, die nicht die Konvention ratifiziert haben, durchlaufen hingegen lediglich ein verkürztes Verfahren nach Art. 50 der Verfahrensordnung von 2001. Auch hier ergehen Berichte, die aus Sachverhaltsschilderung, Schlussfolgerungen und Empfehlungen bestehen und die bei mangelnder Folge-

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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willigkeit des betroffenen Staates Eingang in den Jahresbericht der Kommission an die Generalversammlung der OAS finden können. Die Entscheidungen der Kommission als Konventionsorgan im Kontext des Art. 51 AMRK haben nur Empfehlungscharakter und sind rechtlich unverbindlich203. Maßgeblich ist deshalb der über die Öffentlichkeit und die Mitgliedsstaaten der OAS erzeugte politische Druck. Andererseits besteht darin eine autoritative Feststellung eines der ausweislich Art. 33 AMRK zur Überwachung der Einhaltung der Konvention ermächtigten Organe. Insgesamt sind bisher mehr als 13.000 Beschwerden und Petitionen bei der Interamerikanischen Menschenrechtskommission eingebracht worden, zu denen mehr als eintausend Individualbeschwerden und über einhundert Petitionen jedes Jahr hinzukommen204. Zu Entscheidungen des Gerichtshofes ist es in den letzten fünfzehn Jahren in ca. dreihundert Fällen gekommen205. b) Staatenbeschwerde Die Staatenbeschwerde gemäß Art. 45 AMRK wurde erst mit Inkrafttreten der Konvention im Jahre 1978 kreiert und ist lediglich fakultativ ausgestaltet. Eine weitere Beschränkung ergibt sich aus dem strikten Reziprozitätserfordernis nach Art. 45 Abs. 2 AMRK. Beschwerdeführender Staat und betroffener Staat müssen also gleichermaßen eine Unterwerfungserklärung abgegeben haben, wobei diese auf unbestimmte Zeit, zeitgebunden oder für einen speziellen Fall abgegeben werden kann (Art. 45 Abs. 3 AMRK). Etwa die Hälfte der Staaten hat eine solche Erklärung bisher abgegeben206. Diametral zum interamerikanischen System ist der Rechtsschutz innerhalb der EMRK zumindest bis zum Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls 1998 ausgestaltet gewesen. Nach Art. 24 EMRK a. F. trug die Staatenbeschwerde obligatorischen Charakter, während die Individualbeschwerde gemäß Art. 25 a. F. eine vorherige Unterwerfung verlangte. Seit der Reform sind nunmehr beide Schutzinstrumente obligatorisch ausgestaltet. Die in Art. 33 EMRK normierte Staatenbeschwerde ist zwar im Vergleich zur Individualbeschwerde von untergeordneter Bedeutung und lediglich in wenigen Fällen zur Anwendung gekommen, doch führt sie ein besonderes Element in das EMRK-System ein: Das Instrument er203 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 295. 204 Zur Statistik bis 2009 W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 659 f. 205 Einen Überblick zu Leistungen des Gerichtshofes findet sich auch bei J. M. Pasqualucci, The Practice and Procedure of the Inter-American Court of Human Rights, 2. Aufl. 2014, S. 6 ff. 206 So T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 287.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

möglicht nämlich nicht nur, dass der beschwerdeführende Staat stellvertretend für den Schutz der eigenen Staatsbürger eintritt, sondern auch losgelöst davon zur Wahrung des ordre public européen. In dieser objektiven Dimension ist sie einer actio popularis vergleichbar207. Die Verletzung eigener Rechte ist nicht erforderlich, weshalb sie auch Ähnlichkeiten mit einer abstrakten Normenkontrolle aufweist. In praxi ist die Staatenbeschwerde im interamerikanischen System von noch geringerer Bedeutung als im europäischen Pendant. Nur ein einziger Streit – zwischen Nicaragua und Costa Rica – ist jemals vor die Kommission getragen und sodann als unzulässig abgewiesen worden. c) Gutachten Wie bereits angedeutet, ist die Kompetenz des IAGH zur Erstellung von Gutachten aus Art. 64 AMRK ratione personae und ratione materiae auch im Vergleich zu anderen internationalen Gerichten äußerst weit gefasst208. Während im Rahmen des Europarates allein das Ministerkomitee berechtigt ist, Gutachten zu erbitten (vgl. Art. 47 EMRK), ist dieses im Rahmen der OAS allen acht Organen und sämtlichen 35 OAS-Mitgliedstaaten (auch jenen, die nicht die AMRK ratifiziert haben) möglich. Erforderlich ist nach Ausführungen des IACHR lediglich ein legitimes institutionelles Interesse an der durch das Gutachten zu klärenden Frage209. Da ausweislich Art. 64 Abs. 1 AMRK die Gutachterfunktion auch auf alle weiteren Verträge, die dem menschenrechtlichen Schutz dienen („other treaties concerning the protection of human rights“), erstreckt werden kann, reicht die sachliche Kompetenz äußerst weit210. Art. 64 Abs. 2 AMRK erlaubt, ergänzend über Fragen der Kompatibilität von nationalem Recht mit internationalen Schutzverträgen, den Gerichtshof anzurufen. Dies ist nicht nur hinsichtlich bereits in Kraft getretener Gesetze möglich, sondern auch ex ante vor Erlass der legislativen Vorhaben211. Dies dient der Kohärenzsicherung des menschenrechtlichen Schutzes212. Ferner hat der IACHR befunden, dass ab dem Zeitpunkt der Anforderung eines Gutachtens dieses nicht mehr rücknahmefähig ist, also ein objektives Interesse an der Klärung der Sachfrage besteht213.

207 C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 10 Rn. 2. 208 W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 663. 209 IACHR, 24.09.1982, OC-2/82 Series A, No. 2. 210 Dazu IACHR, 01.10.1999, OC-16/99 Series A, No. 16. 211 IACHR, 19.01.1984, OC-4/84 Series A, No. 4. 212 Das Verhältnis von Art. 64 I und II AMRK ist Gegenstand des Gutachtens IACHR, 09.12.1994, OC-14/94 Series A, No. 14. 213 IACHR, 14.11.1997, OC-15/97 Series A, No. 15.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Von den weitausgreifenden Möglichkeiten gutachterlicher Tätigkeit des Gerichtshofes ist in der Vergangenheit auch reger Gebrauch gemacht worden und so eine bedeutende Anzahl an wegweisenden Gutachten entstanden214. Dies gilt insbesondere für die erste Dekade nach Errichtung des IACHR. Mangels Vorlage an den Gerichtshof verblieb diesem nur die Möglichkeit, durch die Gutachten Einfluss zu nehmen. Hinsichtlich des Grades an normativer Verbindlichkeit von Gutachten gibt die AMRK keine Auskunft. Wie aber schon der englische Term „Advisory Opinion“ nahelegt, entfalten diese grundsätzlich keine rechtliche Bindung215. Ein von dem in dem Gutachten artikulierten Verständnis abweichendes Verhalten ist demnach nicht als Konventionsverstoß zu klassifizieren. Dennoch kommt den Gutachten hohe autoritative Bedeutung zu. Dies folgt schon aus der Stellung und Aufgabe des Gerichtshof nach der AMRK, wie sich aus Art. 33 AMRK i.V. m. Art. 1 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes unzweifelhaft ergibt216. Ferner wird jedes gutachtenwidrige Verhalten im Falle eines Rechtsstreites die Position des betreffenden Staates delegitimieren217. Im Gegensatz zu dem Stellenwert des Gutachtens in der AMRK nimmt sich die diesbezügliche Kompetenz des EGMR auch ratione materiae äußerst beschränkt aus. So dürfen die Gutachten – um davon ausgehende Beschränkungen und Widersprüche zu vermeiden – allein die Auslegung der Konvention betreffen, nicht aber Inhalt und Ausmaß der Garantien selbst (Art. 47 Abs. 1 und 2 EMRK). In Konsequenz dessen ist von dieser Verfahrensmöglichkeit auch kaum Gebrauch gemacht worden. Gleichwohl sieht das noch nicht in Kraft getretene 16. Zusatzprotokoll von 2013 die Möglichkeit vor, dass die Obersten Gerichte der Vertragsparteien beim EGMR um ein Gutachten bezüglich der Auslegung und Anwendung der EMRK nachsuchen können. d) Vorläufige Schutzmaßnahmen Die AMRK ist das einzige menschenrechtliche Schutzgebilde, welches expressis verbis die Möglichkeit vorläufigen Rechtsschutzes vorsieht218. Die Regelung 214 Dazu A. A. Cançado Trindade, Die Entwicklung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte, ZaöRV 70 (2010) S. 655 ff. 215 Dies hat der IACHR auch bestätigt in IACHR, 08.09.1983, OC-3/83, Series A, No. 3. 216 Vgl. T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 308. 217 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl. 2009, S. 309. 218 T. Buergenthal, Interim Measures in the Inter-American Court of Human Rights, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Interim Measures Indicated by International Courts, 1994, S. 69. Dazu auch J. M. Pasqualucci, Interim Measures in International Human Rights: Evolution and Harmonization, Vanderbuilt Journal of Transnational Law 38 (2005), S. 1 ff.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

hierzu enthält Art. 63 Abs. 2 AMRK. Tatbestandsvoraussetzung für solche Maßnahmen ist nach Art. 63 Abs. 2 S. 1 AMRK, dass es sich um einen Fall von „extreme gravity and urgency“ handelt und ein „irreparable damage“ droht. Weiterhin muss der Fall ihm bereits zugewiesen sein (vgl. auch Art. 26 Abs. 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes). Wenn die Streitigkeit noch vor der Kommission anhängig ist, bedarf es deren Einverständnis (Art. 63 Abs. 2 S. 2 AMRK). Im Gegensatz dazu findet sich in der EMRK selbst keine Norm zum vorläufigen Rechtsschutz. Gleichwohl kommt es in der Praxis auch hier zu sogenannten „interim measures“ 219, die in Art. 39 bzw. Art. 36 a. F. der VerfO des Gerichtshofes Niederschlag gefunden haben. Die Kriterien hierfür ähneln jenen aus der AMRK. So ist ein „real risk“ eines „irreparable damage“ erforderlich220. Während solche einstweiligen Maßnahmen zunächst nur Empfehlungscharakter trugen und keine rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen konnten221, hat der Gerichtshof mittlerweile eine Rechtsprechungsänderung vollzogen und sieht in der Missachtung der einstweiligen Anordnung sogar eine Verletzung des Art. 34 EMRK222. Auch im interamerikanischen System bestanden zunächst Zweifel hinsichtlich der Verbindlichkeit vorläufiger Maßnahmen, die der Gerichtshof mittlerweile allerdings ausgeräumt hat223. Vorläufige Maßnahmen sind im europäischen Rechtsschutzsystem relativ selten. Sie kommen lediglich im Kontext von existentiellen Garantien wie dem Recht auf Leben (Art. 2 EMRK) und dem Folterverbot (Art. 3 EMRK) vor und treten typischerweise im Zusammenhang mit Ausweisungsfällen auf 224. Da Verletzungen von Fundamentalgarantien im interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystem insgesamt häufiger sind, haben „provisional measures“ in der Praxis eine entsprechend größere Bedeutung225. 219 Vgl. R. St. J. Macdonald, Interim Measures in International Law, with Special Reference to the European System for the Protection of Human Rights, ZaöRV 52 (1992), 703 ff. 220 ECHR, 20.03.1991, Cruz Varas et al. v. Sweden, No. 15576/89; ECHR, 04.02. 2005, Mamatkulov and Askarov v. Turkey, No. 46827/99. 221 ECHR, 20.03.1991, Cruz Varas et al. v. Sweden, No. 15576/89, Rn. 102. 222 ECHR, 04.02.2005, Mamatkulov and Askarov v. Turkey, No. 46827/99 Rn. 107 ff. Dazu auch K. Oellers-Frahm, Verbindlichkeit einstweiliger Maßnahmen: Der EGMR vollzieht – endlich – die erforderliche Wende in seiner Rechtsprechung, EuGRZ 2003, S. 689 ff. 223 IACHR, 31.01.2001, Constitutional Court v. Peru, Series C, No. 71, Rn. 32 ff. 224 Berühmtes Beispiel ist insofern der Soering-Fall, ECHR, 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, No. 14038/88, Rn. 77, in dem es um die geplante Abschiebung in die USA ging, wo dem Beschwerdeführer die Todesstrafe bzw. ungewisses, jahrelanges Warten auf die Vollstreckung dieser drohte (sog. Todeszellensyndrom). Eine bemerkenswerte Dokumentation dazu hat jüngst W. Herzog in seinem Film „Death Row“ (2011) vorgenommen. 225 Umfassend C. B. Herrera, Provisional Measures in the Case Law of the InterAmerican Court of Human Rights, 2010.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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e) Vorortuntersuchungen, Länder- und Sachberichte Als weitere allgemeine Schutzinstrumente besteht im interamerikanischen Gefüge die Möglichkeit, Vorortuntersuchungen, die dem fact finding dienen, durchzuführen und Länderberichte anzufertigen. Die sogenannten sur place-Untersuchungen waren bis zum Inkrafttreten der Menschenrechtskonvention 1978 an die Zustimmung der jeweiligen Regierung gebunden. Gegenwärtig findet sich die Rechtsgrundlage für die Vorortuntersuchungen226 in Art. 48 Abs. 1 lit. d) bzw. Abs. 2 AMRK („urgent cases“), Art. 40 („on-site investigation“/„investigación in loco“) bzw. Art. 51 ff. („on-site observations“/ „observacíon in loco“) der Verfahrensordnung und Art. 18 lit. g) des Kommissionsstatuts. Danach wird zunächst eine Sonderkommission gebildet, die eine Exkursion durch den betroffenen Staat unternimmt. Im Rahmen der Exkursion wird sodann mittels Aussagen von Betroffenen, Zeugen und Akteuren der Zivilgesellschaft sowie aus dem politischen und militärischen Sektor der Sachverhalt rekonstruiert227. Nach Art. 54 f. der Verfahrensordnung ist der betroffene Staat zur Kooperation und Unterstützung der Sonderkommission verpflichtet. Ihm obliegt auch der Schutz der beteiligten Personen. Den Abschluss einer solchen Vorortuntersuchung bilden regelmäßig eine Empfehlung an die jeweilige Regierung (Art. 18 lit. b) des Kommissionsstatuts) und ein Länderbericht. Länderberichte sind jedoch nicht allein Resultat einer sur place-Untersuchung, sondern können auch unabhängig davon entstehen. Sie ergehen aufgrund von Art. 41 lit. d) der Konvention in Verbindung mit Art. 58 der Verfahrensordnung und Art. 18 lit. d) des Statuts von 1979. Ursprung sind meist glaubhafte Indizien oder Beweise von Individuen oder NGOs, die Menschenrechtsverletzungen in größerem Umfang anzeigen. Auch dieses Verfahren beginnt zunächst mit einer Sonderkommission, deren Bericht samt Empfehlungen jedoch von der Menschenrechtskommission angenommen werden muss228. In Folge dessen wird der Bericht an den betreffenden Staat mit der Auflage fristgemäßer Stellungnahme übermittelt. Kommt der Staat diesem nicht nach, so wird der Bericht publik gemacht, vgl. Art. 58 der Verfahrensordnung. Entscheidendes Druckmittel ist hier also die Herstellung von Öffentlichkeit. In den vergangenen fünfzig Jahren sind zahlreiche Vorortuntersuchungen erfolgt und etwa 70 Länderberichte erstellt worden229. Allerdings gelangt die Kommission mit mehr als 800 anhängigen Fällen zunehmend an ihre Kapazitäts-

226 Eingehend zu diesem Instrument R. Norris, Observations In loco: Practice and Procedure of the Inter-American Commission on Human Rights 1979–1983, Texas International Law Journal 19 (1984), S. 285 ff. 227 W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 655. 228 W. Hummer/W. Karl, Regionaler Menschenrechtsschutz Bd. 1/2, 2009, S. 655. 229 So zuletzt 2012 über die Menschenrechtssituation in Jamaica.

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grenze, weil personelle und finanzielle Ressourcen sich nicht parallel zur Aufgabensteigerung entwickeln, so dass im Ergebnis die Ausarbeitung von Länderberichten abnimmt230. Zugleich verlagert sich der Schwerpunkt von der Erstellung ganzer Länderberichte auf ein sachthematisches Berichtssystem („thematic reports“), von denen mittlerweile etwa 40 vorliegen. Sie erfüllen primär die Funktion, den Tätigkeitsfokus auf zukünftige Aufgabenfelder zu richten. Demnach verbleiben die Länderberichte von größter Bedeutung, bilden sie doch die Menschenrechtssituation umfassend in den einzelnen OAS-Mitgliedstaaten ab231. Ein Pendant für diese Aktivitäten in Form von Länderberichten und Vorortuntersuchungen findet sich in der EMRK nicht, wenngleich die einst bestehende EKMR vereinzelt Vorortuntersuchungen durchgeführt hat232. Zwar dokumentiert der Europarat die Menschenrechtssituation im Allgemeinen – etwa durch den Commissioner for Human Rights –, doch die Konvention selbst reduziert die Schutzmechanismen auf die Staaten- und Individualbeschwerde.

III. Resümee des Struktur- und Entwicklungsvergleichs Als Prämisse sei zunächst bemerkt, dass sich die Vorbedingungen im interamerikanischen Raum signifikant von jenen in Europa unterscheiden. Politische Instabilität, organisierte Kriminalität, Terrorismus und bewaffnete Konflikte sowie weitverbreitete Armut und extreme Wohlstandsgefälle erschweren die Anerkennung und Durchsetzung von Menschenrechten deutlich mehr als das – wenn man vom Zustand unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg absieht – in Europa der Fall ist. Gleichwohl kommt es seit der starken Ost-Erweiterung des Europarats auf 47 Staaten auch hier vermehrt zu schweren Menschenrechtsverletzungen, weshalb sich unzweifelhaft Rezeptionspotentiale des interamerikanischen Systems ergeben233. Vice versa konzentriert sich der Rechtsschutz im interamerikanischen System in seiner dritten Entwicklungsphase234 nicht mehr ausschließlich auf die Fundamentalgarantien. Die Schutzbereiche weiten sich aus und das Schutzniveau steigt. Die Systeme bewegen sich in ihrer Entwicklung aufeinander zu. Ferner lässt der Vergleich beider Systeme in Genese und Struktur erkennen, 230 T. Buergenthal/D. Shelton/D. P. Stewart, International Human Rights in a Nutshell, 4. Aufl., 2009, S. 275. 231 Dazu auch D. J. Padilla, The Inter-American Commission on Human Rights of the Organization of American States: A Case Study, American University Journal of International Law and Policy 9 (1993), S. 95 ff. 232 E. Fribergh/M. E. Villiger, The European Commission of Human Rights, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 613. 233 T. Rensman, Menschenrechtsschutz im Inter-Amerikanischen System: Modell für Europa?, VRS 33 (2000), S. 137 ff. 234 Dazu C. Grossman, The Inter-American System of Human Rights: Challenges to the Future, Indiana Law Journal 83 (2008), S. 1267.

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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dass es sich trotz vieler Gleichklänge, Konkordanzen und vermuteten Rezeptionen bei der EMRK von 1950 und der AMRK von 1969 nicht bloß um Prototyp und Ektypus handelt. 1. Texte Ein Vergleich beider Systeme in Ursprung und Entwicklung offenbart zunächst, dass Bestrebungen, Menschenrechtsschutz jenseits des Nationalstaates zu etablieren, im interamerikanischen Kontext sehr viel früher auszumachen sind. Beispielhaft ist der Umstand, dass die Amerikanische Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen von 1948 noch vor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedet worden ist. Die Pionierstellung des interamerikanischen Systems manifestiert sich auch in der gleichzeitig entstandenen InterAmerikanischen Konvention über die Politischen und Bürgerlichen Rechte der Frau und der ebenfalls aus dem Jahre 1948 datierenden Inter-Amerikanischen Charta der Sozialen Garantien. Das interamerikanische Schutzsystem liegt aber nicht nur zeitlich in einzelnen Facetten dem europäischen Pendant voraus, sondern reicht auch inhaltlich weit darüber hinaus. So finden viele Garantien der Amerikanischen Deklaration von 1948 und der Amerikanischen Konvention von 1969 keine Entsprechung im europäischen System. Hervorzuheben sind insofern etwa das Recht auf Nationalität, auf Asyl, auf Gesundheit, auf Erziehung, Freizeit und soziale Sicherheit. Besonders augenscheinlich ist das Defizit der EMRK in Bezug auf soziale und wirtschaftliche Rechte, also jene Menschenrechte, die als „zweite Generation“ klassifiziert werden235. Während diese in Europa in die Europäische Sozialcharta ausgelagert sind und keinen der EMRK vergleichbaren Durchsetzungs- und Schutzmechanismus aufweisen236, sind sie in Gestalt des „Desarrollo Progresivo“ in Art. 26 integraler Bestandteil der AMRK. Ergänzt wird diese Garantie noch durch das Zusatzprotokoll von 1998. Weitere soziale Elemente finden sich in den deutlichen Gleichheitsbekenntnissen als Annex bzw. im Verbund mit den einzelnen Garantien (siehe Art. 1 I, Art. 13 V). Ein besonderer Gleichheitssatz, 235 Anerkanntermaßen weist die EMRK aber auch weitere Defizite auf. So fehlt zumindest textlich eine allgemeine Handlungsfreiheit, die Garantie der Berufsfreiheit sowie das Erbrecht, vgl. dazu auch D. Richter, Lücken der EMRK und lückenloser Grundrechtsschutz, in: O. Dörr/R. Grote/T. Marauhn, EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2013, Kapitel 9, S. 444 ff. Andererseits bestehen auch in der AMRK schwerwiegende Defizite. So ist ein signifikanter Unterschied zwischen europäischem und interamerikanischem System darin zu erblicken, dass im europäischen System die Todesstrafe seit dem 13. Zusatzprotokoll nahezu vollständig abgeschafft ist. Lediglich Aserbaidschan, Russland, Armenien und Polen haben dieses noch nicht ratifiziert. Im interamerikanischen System hingegen ist die Todesstrafe noch weitgehend zulässig. Erst ein Zusatzprotokoll zur AMRK, das 1993 in Kraft trat, widmet sich dieser Thematik. Es ist bisher lediglich von 8 Staaten ratifiziert worden. 236 Vgl. zur Europäischen Sozialcharta T. Buergenthal/D. Thürer, Menschenrechte. Ideale, Instrumente, Institutionen, 2010, S. 237 ff.

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2. Teil: Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem

der symbolisch ist für die Gleichheitsorientierung der AMRK, ist in Art. 17 Abs. 5 enthalten. Die stärkere soziale Ausprägung kommt auch in Art. 21 Abs. 2 und 3 sowie in Art. 32 Abs. 1 und 2 AMRK zum Ausdruck237. In Gesamtheit lässt sich die EMRK als genuine Freiheitsordnung des status negativus qualifizieren, während die AMRK daneben auch Egalitätselemente beinhaltet. Weiterhin normieren die Amerikanische Deklaration wie auch die AMRK Pflichten des Einzelnen. Diese sind dem europäischen System kategorisch fremd. Schließlich enthält die AMRK auch aktivere Verwirklichungs- und weiter reichendere Umsetzungspflichten als die EMRK. Im Ergebnis zeigt die Gegenüberstellung von AMRK und EMRK, dass die AMRK als zeitlich spätere Konvention vieles auf eine „Textstufe“ (P. Häberle) gebracht hat238, was im lakonischen Text der EMRK noch nicht Aufnahme gefunden hat und neben diverser Zusatzprotokolle erst durch die Rechtsprechung in Form von Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung ausgebildet und ergänzt worden ist. Zeichnet die AMRK Weite aus, ist für die EMRK eher ihre Dichte charakteristisch239. Schließlich ist ein struktureller Unterschied bedeutsam. Das interamerikanische System mit seinen beiden textlichen Grundlagen und seinem institutionellen Dualismus von Gerichtshof und Kommission entbehrt nicht nur einer gewissen Komplexität bzw. Undurchsichtigkeit, sondern ist auch mitverantwortlich für die nach wie vor existente innere Spaltung der OAS-Gemeinschaft. Anders als im Europarat, in dem die Ratifikation der EMRK obligatorisch ist, mithin die Anzahl der Europaratsmitglieder mit jener der EMRK kongruent ist, sind lediglich 25 der 35 OAS-Mitglieder zugleich Signatarstaaten der AMRK240. 22 davon haben die Zuständigkeit des Gerichtshofes anerkannt. Dieses menschenrechtliche Bindungs- und Verpflichtungsgefälle und die daraus resultierende Komplexität unterminieren die Wirkmächtigkeit des interamerikanischen Systems. Die normative Kraft wird geschwächt und die Folgewilligkeit sinkt. Vor allem die fehlenden 237 Die stärkere Gleichheitsorientierung wird darüber hinaus auch in dem Fundament der amerikanischen Konvention, der OAS-Charta deutlich, vgl. Art. 3 j) und Art. 5 j) sowie in der Präambel. 238 Hintergrund mag auch die Ausarbeitung und Verabschiedung der beiden UNMenschenrechtspakte im zeitlichen Kontext der Entstehung der AMRK bilden. 239 Die AMRK greift vielfach auch die besonderen Gefährdungslagen im interamerikanischen Raum durch Massenarmut, radikale Ungleichheit, erhebliche Violenzen, Militärdiktaturen, Unrechtsregime und paramilitärische Strukturen auf und versucht die Sensibilität bestimmter Freiheitssphären und Rechte angemessen zu berücksichtigen. Schließlich liegen bzw. lagen die Verstöße lange Zeit überwiegend im Bereich des Folterverbots und des Rechts auf Leben, weniger im Kontext der politischen Rechte, wie dies in Europa der Fall ist. 240 Allerdings hat die Generalversammlung der OAS jüngst erneut Impulse zum vollumfänglichen Ratifikationsprozess gesetzt, vgl. General Assembly Resolution, Strengthening of Human Rights Systems Pursuant to the Mandates Arising from the Summits of the Americas, AG/Res. 2521 (XXXIX-0/09) (2009).

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Unterwerfungserklärungen Kanadas und der USA241 wirken sich negativ und stabilitätsmindernd aus. Gerade die USA könnten eingedenk ihrer bedeutenden Verfassungstradition, des differenzierten Grundrechtsschutzes durch die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court und der Anerkennung der Vorherrschaft des Rechts („rule of law“) einen entscheidenden Beitrag zur Fortentwicklung der AMRK leisten. Im Gegensatz zum interamerikanischen System nimmt sich das europäische Pendant jedenfalls als tendenziell geschlossenere und transparentere „regionale Verantwortungsgemeinschaft“ 242 aus. 2. Institutionen Institutionelle Parallelen zwischen interamerikanischem und europäischem System sind gleichermaßen in Entstehung und Entwicklung erkennbar. Im interamerikanischen wie im europäischen Kontext etablierte sich – wenn man von der Corte de Cartagena absieht – zunächst ein Dualismus von Kommission und Gerichtshof. Erst sehr viel später ist mit dem 11. Zusatzprotokoll von 1998 zumindest in der EMRK dieser aufgehoben und ein ständiger Gerichtshof geschaffen worden. In der AMRK hält dieser Dualismus an und der Interamerikanische Gerichtshof hat noch nicht den Status einer „corte permanente“ inne. Er tagt regelmäßig nur viermal jährlich an seinem Sitz in San José, Costa Rica. Diese Zurückhaltung gegenüber einem der nationalen Judikative nachgebildeten Gerichtshof kann mit dem drohenden Souveränitätsverzicht und Bedenken vor einer die Rechtsordnung umbildenden suprastaatlichen Kontrolle erklärt werden. Ohnehin kann judikativer Schutz allein den zum Teil gravierenden Menschenrechtsproblemen auf dem südamerikanischen Kontinent nicht abhelfen. Neben Permanenz und Dualismus bestehen aber auch noch weitere strukturelle Binnenunterschiede. Augenscheinlich ist zunächst, dass die beiden interamerikanischen Schutzorgane jeweils sieben Mitglieder aufweisen, während der EGMR sich aus 47 Richtern zusammensetzt. Auch die einst bestehende Kommission wies ein Mitglied pro Vertragsstaat auf. Auch wenn diese nicht den jeweiligen Signatarstaat vertreten, sondern den regionalen Institutionen als unabhängige Mitglieder angehören und frei agieren, hat diese Zusammensetzung ein gewisses repräsentatives Moment inne. Es kann als funktionelles Residuum der souveränen Gleichheit der Staaten angesehen werden. Zugleich ist damit aber auch die Sachkenntnis im Hinblick auf relevante nationale Rechtsordnungen gesichert. Im interamerikanischen System ist dieses „Souveränitätsresiduum“ hingegen „transzendiert“. Zum einen ist die Mehrzahl der Staaten angesichts der geringen Anzahl von sieben Mitgliedern zwangsläufig nicht „repräsentiert“ und wird durch turnusbedingte Rotation auch nur zeitweilig „berücksichtigt“. Zum ande241 Der US-Präsident J. Carter hatte den Ratifikationsprozess seinerzeit vorangetrieben, scheiterte allerdings am US-Senat. 242 Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 469.

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ren können auch Richter aus OAS-Staaten ernannt werden, die selber nicht am konventionsrechtlichen Rechtsschutzmechanismus teilhaben243. Auch die Amtszeit unterscheidet sich zwischen vier (Kommission) und sechs Jahren (Gerichtshof) nach der AMRK und – nach der nunmehr zur Steigerung der Unabhängigkeit reformierten EMRK – 9 Jahren im europäischen Pendant. Diesem Bestreben nach erhöhter richterlicher Unabhängigkeit trägt auch der Umstand Rechnung, dass in Europa anders als im interamerikanischen System keine Wiederwahl möglich ist. Gleichwohl ist zu beachten, dass das Wahlerfordernis bei allen Gefährdungen für die Unabhängigkeit zugleich die Folgewilligkeit der Signatarstaaten bei gegen sie ergangenen Entscheidungen erhöht244. Schließlich divergiert die quantitative Rechtsprechungsleistung signifikant. Während der EGMR bislang knapp 17.000 Urteile erlassen hat, sind von seinem interamerikanischen Pendant bislang erst ca. 300 Urteile gefällt worden. Anders verhält es sich mit der Gutachtenkompetenz. Während von dieser Möglichkeit in der EMRK bislang kaum Gebrauch gemacht worden ist, hat der IAGH in seinen etwa 20 Gutachten Rechtsfragen von großer Bedeutung behandelt. Auch wenn der Interamerikanische Gerichtshof in seinen Urteilen eine bemerkenswert innovative, zuweilen vielleicht gar zu weit ausgreifende Rechtsprechung vorgenommen hat245, ist die Interamerikanische Menschenrechtskommission aufgrund ihrer Breitenwirkung weiterhin von zentraler, ausschlaggebender Bedeutung. Diese zunächst – anders als die Europäische Kommission für Menschenrechte – ohne vertragliche Grundlage geschaffene und ihr Mandat zuweilen sehr weit ausdehnende Institution kann angesichts ihres krisengeprägten Umfeldes, der „endemic problems“ im interamerikanischen Raum und gemessen an ihrer Leistung, Menschenleben gerettet und Reparationen eingefordert zu haben, vielleicht als die erfolgreichste regionale Menschenrechtsschutzinstitution überhaupt angesehen werden246. Schließlich haben sich die Institutionen beider Systeme gleichermaßen als Akteure im Transformationsprozess des Völkerrechts besonders hervorgetan. 3. Instrumente Auch hinsichtlich der Schutzinstrumente der Menschenrechte besteht prima facie eine weitgehende Parallele, wenn nicht sogar Identität. So verfügen beide 243

Berühmtestes Beispiel ist das des US-Amerikaners T. Buergenthal. Diese Einsicht verdanke ich dem Mitglied der Interamerikanischen Menschenrechtskommission Prof. Dr. D. Shelton in einem Interview im November 2012. 245 Dazu etwa L. Hennebel, The Inter-American Court of Human Rights: The Ambassador of Universalism, Quebec Journal of International Law 2011, S. 57 ff., der nicht nur eine „Constitutionalisation“, sondern auch eine „Moralisation“ attestiert. 246 So überzeugend R. K. Goldman, History and Action: The Inter-American Human Rights System and the Role of the Inter-American Commission on Human Rights, Human Rights Quarterly 31 (2009), S. 857. 244

B. Strukturunterschiede und Gemeinsamkeiten

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Systeme über die Möglichkeit der Individual- und Staatenbeschwerde sowie des Gutachtenverfahrens. Eine detaillierte Betrachtung ergibt aber, dass auch bedeutende Unterschiede existieren. Diese setzen schon mit der fakultativen und obligatorischen Ausgestaltung an, die im interamerikanischen System invers zum europäischen Mechanismus konzipiert ist. Weiterhin ist das Gutachtenverfahren in der AMRK – nicht zuletzt wegen der weiten Kompetenz des IAGH – durchaus von Relevanz, während es in Europa nahezu bedeutungslos ist. Schließlich ist zu konstatieren, dass über diese Mechanismen hinaus im interamerikanischen System weitere wirksame Instrumente wie die Vorortuntersuchungen, Länder- und Sachberichte zum Menschenrechtsschutz zur Verfügung stehen. Prozessual ist vor allem die Weite des Opferbegriffes ein die AMRK von der EMRK unterscheidendes Charakteristikum. Aber auch in den Kompensationsformen und Reparationsmöglichkeiten geht das System weit über das europäische Modell hinaus. Schließlich gilt es noch, die Inanspruchnahme der jeweiligen Rechtsschutzmechanismen zu vergleichen. Ist man geneigt, zunächst wesentliche Unterschiede hinsichtlich der quantitativen Inanspruchnahme der Instrumente zu attestieren, so klärt sich dies bei Einbeziehung der Zeitachse auf: Der EGMR hat in den ersten dreißig Jahren seiner Tätigkeit knapp 100 Urteile gefällt – ganz ähnlich wie der IAGH in der Zeit seit 1979 bis in die Gegenwart. Bis 1998 waren es dann 750 Urteile. Erst seit Inkrafttreten des 11. Zusatzprotokolls ist die Klageflut auf über 16.000 Sachurteile angestiegen. Nimmt man zu den bislang ca. 300 Urteilen des IAGH seine rund 20 Gutachten und mehr als 12.000 Entscheidungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission hinzu, weicht die Gesamtbilanz des interamerikanischen Systems quantitativ nicht signifikant von jener des europäischen Pendants ab.

Dritter Teil

Die Auswirkungen und Eigenarten des regionalen Menschenrechtsschutzes Der folgende dritte Teil beschäftigt sich – auf der Grundlage des Vergleichs zwischen dem europäischen und dem interamerikanischen System – mit den Auswirkungen und Eigenarten des regionalen Menschenrechtsschutzes. Droht staatliche Souveränität durch ihn verloren zu gehen? Lässt sich seine außergewöhnliche Bedeutung als Konstitutionalisierung oder gar als Supranationalisierung begreifen, oder ist umgekehrt die Deutung als subsidiäres Regime, als Auffangordnung, die zutreffende Beschreibung? Schließlich stellt sich die Frage nach der Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes als überstaatlichem Korrektiv nationaler und dort demokratisch legitimierter Entscheidungen. Im Ergebnis wird sich zeigen, dass sich der regionale Menschenrechtsschutz von seinen verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Wurzeln emanzipiert hat.

A. Souveränitätsverlust durch regionalen Menschenrechtsschutz? Das Verhältnis von staatlicher Souveränität und regionalem Menschenrechtsschutz ist paradox. Einerseits ist erstere für letzteren konstitutiv, weil der regionale Menschenrechtsschutz auf staatlichen Fundamenten ruht. Andererseits relativiert der überstaatliche Schutzmechanismus die staatliche Allmacht. Das macht eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Souveränitätsprinzip erforderlich, die darauf zielt, die Veränderung dieses Paradigmas durch den regionalen Menschenrechtsschutz zu verdeutlichen.

I. Historischer und inhaltlicher Umriss des Souveränitätsprinzips Der Begriff Souveränität diente ursprünglich der Beschreibung einer räumlichkörperlichen Auffälligkeit in der Landschaft, wie etwa von Bergen oder Türmen, trug mithin morphologische Züge, gewann aber zunehmend Abstraktheit und bezeichnete dann etwas von besonderer Größe, Höhe oder Mächtigkeit1. Bald wurde die Verwendung in Bezug auf die Macht Gottes gebräuchlich, so dass dem 1

D. Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffes, 2009, S. 16.

A. Souveränitätsverlust durch regionalen Menschenrechtsschutz?

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Begriff die Attribute der Alleinzuständigkeit und Letztinstanzlichkeit zuwuchsen, die bis in die Gegenwart hinein mit dem Begriff assoziiert werden. Die weitere Evolution oder Genealogie2 des Souveränitätsprinzips kann in einen internen und einen externen Entwicklungsstrang unterschieden werden. Erster ist für das staatliche Verfassungsrecht3, letzterer für das Völkerrecht bestimmend und beide sind somit für den regionalen Menschenrechtsschutz von Bedeutung. 1. Interne Souveränität – staats- und verfassungsrechtliche Dimension Ein modernes und bis heute als Referenzpunkt verstandenes Souveränitätsverständnis entwirft erst J. Bodin in seinen „Six Livres de la République“ von 15764. Diese Formulierung erfolgt im Kontext der Glaubensspaltung und Konfessionskriege des 16. Jahrhunderts. Als Antwort auf die damalige Zerrissenheit ist sein Souveränitätskonzept durch Kohärenzstreben gekennzeichnet, basiert deshalb auf Unteilbarkeit und einem einheitlichen personalen Subjekt als Träger5. In diesem Zusammenhang kommt es auch zur Konzentration von Herrschaftsgewalt durch räumliche Begrenzung bei gleichzeitiger inhaltlicher Ausdehnung und Verdichtung der Befugnisse, so dass territoriale Staatlichkeit entsteht, die fortan eine symbiotische Beziehung mit Souveränität eingeht. Hoch- und Wendepunkt dieses absoluten Souveränitätskonzepts findet sich rund ein Jahrhundert später bei T. Hobbes, der ebenfalls unter dem Eindruck von Bürgerkriegen und mit der Motivation, inneren Frieden herzustellen, die Lösung in einer omnipotenten Gewalt erblickt6. Gleichzeitig differenziert das kontraktualistische Modell zwischen dem Innehaben und dem Ausüben von Souveränität. Hierin ist die Spaltung eines einheitlichen Souveränitätskonzeptes bereits angelegt. Aufgrund der in dieser Zeit etablierten bis heute beherrschenden Idee eines letztlich fiktiven Vertragsschlusses zwischen Herrscher und Beherrschten haftet allen bis in die Gegenwart hineinreichenden Begründungsmodellen ein mythischer, narrativer Charakter an7. 2 U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 12, der damit die Untersuchung von Herkunft und Entstehung in Form von Anpassungsprozessen meint und weniger nach dem Ursprung selbst sucht. 3 Dazu H. Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970. 4 Wenngleich sich bereits in der griechischen Antike, etwa bei Aristoteles, erste Spurenelemente der Souveränitätsidee finden, so S. Besson in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, aktualisiert April 2011, Bd. 9, S. 368. 5 D. Grimm, Souveränität. Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffes, 2009, S. 20 ff. 6 Eindringlich skizziert in den zwölf Attributen der Souveränität, T. Hobbes, Leviathan, Von den Rechten der Souveräne durch Einsetzung, Kapitel 18, S. 136 ff. 7 Unabhängig von der Epoche und Art des kontraktualistischen Ansatzes handelt es sich nämlich ebenso bei den klassischen Modellen wie bei den Gegenwartsformen lediglich um eine Vertragstheorie, ein Gedankenexperiment. Nie ist dieser Vertrag real

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Während bei T. Hobbes noch Sicherheitsaspekte dominieren, besteht eine Generation später bei J. Locke in seiner Abhandlung „Two Treaties of Government“ eine Präponderanz der Freiheit, die in einem kündbaren Vertrag zwischen Bürgern und Souverän zum Ausdruck gelangt. Damit ist zugleich grundrechtlichen Verbürgungen das Fundament gelegt. Staatliche Souveränität findet sich hier verrechtlicht und beschränkt. Durch J. J. Rousseau erfolgt schließlich im 18. Jahrhundert die Gleichsetzung von Volk und Souveränität8. Mit der Idee der Volkssouveränität wird Souveränität demokratisiert und die Grundlage eines konfliktträchtigen Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Souveränität geschaffen9. Die dem Volk inhärente Souveränität ist unbeschränkt und vorrechtlicher Natur, die übertragene, ausgeübte Souveränität hingegen begrenzt und verrechtlicht. Folglich ist aus der ursprünglich in Gestalt eines einzelnen absolutistischen Herrschers verkörperten Souveränität staatliche Souveränität hervorgegangen10, die sich im Zeichen eines demokratischen Verfassungsstaates als Volkssouveränität formiert. In Gesamtheit kann das als Prozess der Einschränkung und Verrechtlichung begriffen werden. Abstrakt lässt sich der Wandlungsprozess des Souveränitätskonzeptes anhand der Kriterien Zurechnungssubjekt, Inhalt bzw. Umfang und Quelle nachvollziehen11: Das Zurechnungsobjekt war zunächst personalisiert und konkret, später funktional, abstrakt und kollektiv. Sein Inhalt war vorerst absolut, später relativ und beschränkt. Quelle oder Ableitungsgrund der Souveränität trugen ursprünglich außerrechtliche Züge und unterlagen einem stetigen Verrechtlichungsprozess. Damit hielt sukzessiv ein normatives, wertebasiertes Souveränitätsverständnis Einzug, das Elemente der Transparanz und Partizipation in sich aufnahm und schließlich in dem maßgeblich von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie geprägten Konzept der „Good Governance“ 12 mündet. erfassbar im eigentlichen Sinne. Er gründet deshalb auch keine (staatliche) Rechtsordnung in dem Sinne, dass diese durch ihn in Existenz gesetzt wird, sondern begründet sie lediglich, macht sie verständlich und definiert sie. Der Gesellschaftsvertrag verkommt dadurch aber nicht zum bloßen Glasperlenspiel, sondern ist ein hilfreiches hypothetisches Konstrukt, dass etwas rationalisiert, was schon oder noch nicht vorhanden ist. Gleichwohl bleibt seine Natur letztlich die einer Fiktion. 8 Vertiefend und hinterfragend M. Kotzur, Souveränitätsperspektiven – entwicklungsgeschichtlich, verfassungsstaatlich, staatenübergreifend betrachtet, JöR 52 (2004), S. 203. 9 Dazu sogleich unter II. 10 Vgl. etwa P. W. Kahn, Political Theology: Four new Chapters on the Concept of Sovereignty, 2011, der diesen Prozess mit der Transsubstantiation in Verbindung setzt und daraus weitreichende Konsequenzen für Staats-, Souveränitäts- und Politikverständnis ableitet. Dies rezipierend, U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007. 11 Souveränität anhand dieser drei Kriterien herausarbeitend S. Besson, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, aktualisiert April 2011, Bd. 9, S. 366 ff. 12 Dazu N. M. Pyschny, Good Governance: Begriff, Inhalt und Stellung zwischen allgemeinem Völkerrecht und Souveränität, 2013.

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2. Externe Souveränität – völkerrechtliche Dimension Der Ursprung einer nach außen gekehrten externen Souveränität setzte zunächst die Entstehung von Staatlichkeit voraus. Wenngleich eine ereignisgeschichtliche Fixierung stets die Gefahr der Simplifikation mit sich führt, kann dieser grundsätzlich im Westfälischen Frieden von 1648 erblickt werden, der Hoheitsgewalt territorial begrenzte und das Prinzip der Nichteinmischung etabliert. Parallel zur inneren Souveränität absolutistischer Herrschaft entstand eine Souveränität begriffen als Unabhängigkeit nach außen. Wenngleich zunächst der Fokus auf der innerstaatlichen Souveränitätsentwicklung lag, vollzog sich auch die Herausbildung einer äußeren Souveränität im Zusammenhang mit der völkerrechtlichen, konsensbasierten Koexistenzordnung einzelner Staaten. Diese suprema potestas äußert sich vor allem in der staatlichen Unabhängigkeit, die keine höhere Autorität außerhalb der internationalen Verpflichtungen kennt13, in der staatlichen Immunität und im völkerrechtlichen Interventionsverbot. Anders als die interne Souveränität war sie aber lange Zeit noch nicht rechtsförmig, sondern vielmehr selbst (Völker)rechtsquelle, unterlag lediglich einer Selbstbeschränkung und manifestierte sich in Form des Staates14. Nach Versuchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Souveränität zu formalisieren15 oder auf ein rein empirisches Verständnis zu reduzieren16, brachten erst die Reaktionen auf die zwischenstaatliche Gewalt nach 194517 und Dekolonialisie13 Zu einem synonymen Verständnis von Souveränität und Unabhängigkeit insbesondere das Sondervotum von Richter D. Anzilotti, in: Customs Regime between Germany and Austria, PCIJ, 05.09.1931, Advisory Opinion, Series A/B No. 41, Rn. 81: „Independence as thus understood is really no more than the normal condition of States according to international law; it may also be described as sovereignty (suprema potestas), or external sovereignty, by which is meant that the State has over it no other authority than that of international law.“. Dazu auch J. M. Ruda, The Opinions of Judge Dionisio Anzilotti at the Permanent Court of International Justice, European Journal of International Law 3 (1992), S. 110 f. 14 S. Besson, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, aktualisiert April 2011, Bd. 9, S. 371 Rn. 33. 15 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer reinen Rechtslehre, 1920, S. 204 f. und S. 251 ff. 16 Maßgeblich für ein rein empirisches Verständnis ist das berühmte, einleitende Diktum C. Schmitts „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“, ders., Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 9. Aufl. 2009. Eine moderne und lehrreiche Interpretation dieser Schrift nimmt P. W. Kahn, Political Theology: Four new Chapters on Sovereignty, 2011, vor. System- und terminologieimmanent ließe sich konstatieren: da es keine Ausnahme mehr gibt, gibt es auch keinen Souverän mehr, siehe auch ders., ebd. S. 46, „(. . .) to decide upon the exception is constitutive of sovereignty. Conversely, ,no exception, no sovereignty‘ might serve as the motto of those enamored with the globalization of the rule of law.“. Wenn etwas Ausnahmecharakter hat, dann ist es die Korrektur nationaler Rechtsordnungen und ihrer Konflikte durch überstaatliche Gerichte. So wären sie souverän, nicht aber die Staaten. 17 Beispielhaft für das zunächst noch vorherrschende Verständnis ist der Lotus-Fall, PCIJ, 07.09.1927, France v. Turkey, Series A No. 10 Rn. 44: „The rules of law binding

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rungsschübe18 paradigmatische Veränderungen des Völkerrechts mit sich. Es wandelte sich vom bilateralen Koexistenzrecht zum Kooperationsrecht19, das sich ausbreitende ius cogens relativierte das Konsensprinzip, subordinative Elemente entwickelten sich unter Erosion des staatlichen Gewaltmonopols, Legalität und Illegalität bestimmten sich nicht mehr allein nach dem Interventionsverbot, Regelungsdichte, Formalisierungs- und Institutionalisierungsgrad nahmen zu20. Für das Souveränitätskonzept blieb diese Entwicklung nicht folgenlos. Erst in diesem Kontext vollzieht sich auch in der völkerrechtlichen Dimension des Souveränitätsprinzips eine signifikante Änderung des Zurechnungssubjektes, des Umfanges und seiner Quelle. Subjekt sind nicht mehr allein die Staaten, sondern ebenso internationale Organisationen und Institutionen; externe Souveränität unterliegt nicht mehr bloßer Selbstbeschränkung, sondern auch Fremdbeschränkungen; schließlich unterliegt auch die externe Souveränität Verrechtlichungstendenzen und ist nicht mehr selbst Rechtsquelle21. Endlich führt die europäische Integration zu weiteren paradigmatischen Veränderungen: Die bis dato enge Verflechtung von Souveränität und Staatlichkeit löst sich erstmals, und das Individuum rückt – versehen mit durchsetzbaren Rechten – greifbar in die Völkerrechtsordnung ein22, wird gewissermaßen „entmediatisiert“. 3. Prinzip mit axiomatischem und elastischem Charakter Betrachtet man die skizzierte Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit über eine 800-jährige Periode, so wird deutlich, dass Souveränität ein durch Dehnbarkeit und Entwicklungsoffenheit gekennzeichnetes „relatives“ 23 Prinzip ist. Diese upon States therefore emanate from their own free will as expressed in conventions or by usages generally accepted as expressing principles of law and establishes in order to regulate the relations between these co-existing independent communities or with a view to the achievement of common aims. Restrictions upon the independence of States cannot therefore be presumed.“ 18 Dazu M. Kotzur, Souveränitätsperspektiven – entwicklungsgeschichtlich, verfassungsstaatlich, staatenübergreifend betrachtet, JöR 52 (2004), S. 209. 19 Grundsätzlich A. Bleckmann, Allgemeine Staats- und Völkerrechtslehre: vom Kompetenz- zum Kooperationsvölkerrecht, 1995. 20 U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 16. 21 So S. Besson, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, aktualisiert April 2011 Bd. 9, S. 372 Rn. 46. 22 Siehe EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, Van Gend & Loos, S. 25 „(. . .) daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind. Das von der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten unabhängige Gemeinschaftsrecht soll daher den Einzelnen, ebenso wie es ihnen Pflichten auferlegt, auch Rechte verleihen.“ 23 M. Kotzur, Souveränitätsperspektiven – entwicklungsgeschichtlich, verfassungsstaatlich, staatenübergreifend betrachtet, JöR 52 (2004), S. 201.

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Eigenart erlaubte es ihm, paradigmatische und weitreichende Transformationsprozesse zu durchleben und verschiedene Kontexte zu überdauern. Insofern lässt sich von einem „durchgereichten“ Begriff sprechen, der kein Sein außerhalb der Zeit führt24. Die durch politisch-historische Kontextveränderungen bedingten zahlreichen Mutationen und Bedeutungsverschiebungen flexibilisieren Souveränität und führen zu variierenden Konzeptionen mit unterschiedlichen normativen Inhalten. Das hat zur Konsequenz, dass sich Souveränität dem Vorwurf der Beliebigkeit, mindestens der Unbestimmtheit ausgesetzt sieht. Neben dieser Unbestimmtheit führt die Erkenntnis, dass die Geschichte der Souveränität als eine Geschichte der Einschränkung verstanden werden kann, zur verstärkten Kritik an diesem Prinzip. Was einst als höchste und letzte Autorität innerhalb eines Territoriums25 verstanden worden ist, sieht sich einem fortwährenden Erosionsprozess26 ausgesetzt: Die innere Souveränität wurde im demokratischen Verfassungsstaat qua Gewaltenteilung bzw. -gliederung27 und Grundrechtsbindung aufgelöst. Das gilt im Besonderen für den föderalen Bundesstaat. Innere Souveränität lässt sich nur noch im außer- oder vorrechtlichen Akt der Verfassungsgebung als pouvoir constituant identifizieren28 bzw. zieht sich in „latente“ Souveränität zurück29. Die äußere Souveränität sieht sich Globalisierung, internationalen und transnationalen Integrationsprozessen ausgesetzt, die ungemeine Zentrifugalkräfte entfalten. Die einst auf Umschlossenheit und Bündelung zielende Souveränität droht derart dezentralisiert und zersetzt zu werden, dass sie auf eine bloße „formlose Macht der Formgebung“ 30 reduziert werden könnte. Partiell ist aufgrund dieser Entwicklungen auch eine vollständige Entleerung des Begriffes attestiert worden31. 24

So U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 10 ff. Beispielhaft S. Besson, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, aktualisiert April 2011 Bd. 9, S. 366 ff. 26 Diese eher als Transformation mit dem Ergebnis eines veränderten Souveränitätsverständnis interpretierend, U. Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt. Die Weiterentwicklung von Begriffen der Staatsrechtslehre und des Staatsrechts im europäischen Mehrebenensystem, 2004. T. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 41 ff. 27 Dazu C. Möllers, Gewaltengliederung, Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005. 28 C. Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, JZ 2002, S. 1074. 29 D. Grimm, Souveränität, Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, 2009, S. 69 ff. 30 C. Menke, in: C. Menke/F. Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte, 2011, S. 20. 31 Frühe Kritik am Souveränitätsprinzip finden sich bereits bei L. Duguit, H. Kelsen und H. Preuß, die sich aber gegen ein bestimmtes Souveränitätsverständnis an der Grenze zum 20. Jahrhundert wandten. Dazu H. Heller, Die Souveränität, 1927, S. 19 ff. Besonders eindringlich, H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 1920. Unbrauchbarkeit des Souveränitätskonzepts nimmt etwa J. Kokott, 25

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Gleichwohl darf bei aller berechtigten Kritik aufgrund von „Elastizität“ und „Residualisierung“ des Souveränitätskonzepts seine axiomatische Bedeutung nicht in Vergessenheit geraten. Souveränität war und ist für das internationale ebenso wie für das nationale Recht von eminenter Bedeutung. Unabhängig von der Variabilität ihres normativen Gehaltes verbleibt Souveränität ein zentraler, logischer Anknüpfungspunkt für das Recht und konstitutiv für Staatlichkeit. So kann Souveränität etwa verloren gehen32 oder neu entstehen33. Insbesondere Souveränität, verstanden als Volkssouveränität, bildet nach wie vor eine unverzichtbare Prämisse für moderne demokratische Verfassungsstaaten. Ohne sie entstünde ein „Legitimationsvakuum“ 34. Dies führt jedoch in eine Dilemmasituation: Einerseits ist (interne) (Volks)souveränität basal für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, andererseits sichert (externe) Souveränität die domaine réservé und schließt Staatlichkeit gewissermaßen als „black box“ hermetisch ab, so dass sie zum Problem effektiven Völkerrechts avanciert35, das über bloße Koordinationsund Kooperationsleistungen hinausgeht. Republikanische Selbstbestimmung und außerstaatliche Fremdbestimmung stehen gegeneinander. Eine Relativierung der Souveränität wird zugleich als eine Verletzung der demokratischen Selbstbestimmung verstanden36. Stehen bereits die im Verfassungsstaat zugesicherten Grundrechte im Konflikt mit dem demokratischen Mehrheitsprinzip, so gilt dies umso mehr für den regionalen Menschenrechtsschutz. Mit ihm reguliert ein Rechtsregime geringer demokratischer Legitimation37 partikulär ein bis dato souveränes, demokratisches Gemeinwesen. Es scheint, als wenn zur Auflösung dieses Paradoxon und einer Weiterentwicklung des Völkerrechts entweder „das Denken in Souveränitäten“ relativiert werden oder „der Souverän an anderer Stelle angesiedelt werden muss“ 38.

Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 7 ff. an. 32 So etwa im Falle von sog. „failing“ und „failed states“. Dazu R. Geiß, Failed States: Die normative Erfassung gescheiterter Staaten, 2005. 33 Exemplarisch dafür ist die Problematik um die Unabhängigkeit des Kosovo, ICJ, 22.07.2010, Accordance with International Law of the Unilateral Declaration of Independence in Respect to Kosovo, Advisory Opinion, I.C.J. Reports 2010, S. 403. 34 C. Hillgruber, Souveränität – Verteidigung eines Rechtsbegriffs, JZ 2002, S. 1077. 35 So auch U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 9. 36 Diese Debatte ist insbesondere in den Vereinigten Staaten intensiv geführt worden, wie etwa die Kontroverse zwischen „New Sovereigntists“ und den Vertretern eines „unalloyed internationalism“ zeigt. Ungebrochene Tradition demokratischer Selbstbestimmung und internationale Kontrolle menschenrechtlicher Position treffen hier diametral aufeinander. 37 Dazu ausführlich Dritter Teil E. 38 Diese Alternativität annehmend, U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 75 ff.

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In diesem Zusammenhang ist der regionale Menschenrechtsschutz von herausragender Bedeutung. Aufgrund seiner scharnierartigen Stellung an der Schnittstelle zwischen Völkerrecht und Verfassungsrecht offenbart sich, welche Bedeutung diesem tradierten politisch-juristischen „Schlüsselbegriff“ 39 noch zukommt, wie Souveränität auf den regionalen Menschenrechtsschutz einwirkt und wie dieser seinerseits auf (interne und externe) Souveränität zurückwirkt, beide sich also gegenseitig bedingen und aneinander verändern.

II. Das ambivalente Verhältnis von regionalem Menschenrechtsschutz und Souveränität 1. Souveränität als Konstruktionselement des regionalen Menschenrechtsschutzes EMRK, AMRK und die Amerikanische Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen sind ihrem Ursprung nach multilaterale völkerrechtliche Verträge. Auch als rechtssetzende Verträge (law-making treaties)40 verlieren sie nicht diesen völkerrechtlichen Charakter. Ihre völkerrechtliche Herkunft lässt sich an einzelnen Aspekten von ihrer Entstehung bis zu ihrer möglichen Beendigung identifizieren. Damit ist ein traditionelles staatliches Souveränitätsverständnis untrennbar verbunden. Souveräne Staatlichkeit ist, weil sie Völkerrecht maßgeblich erzeugt und formt, für dessen Existenz nachgerade konstitutiv. Zum Inkrafttreten der völkerrechtlichen Verträge bedarf es zunächst der Unterzeichnung durch den staatlichen Vertreter gem. Art. 12 WVK und der Zustimmung des souveränen Staates durch Ratifikation nach Art. 14 WVK. Für die EMRK ist dieses in Art. 59 Abs. 1 EMRK normiert, für die AMRK findet sich dieses Erfordernis in Art. 74 Abs. 1 AMRK niedergelegt. Ausweislich dieser Normen ist der Generalsekretär des Europarates bzw. jener der Organisation Amerikanischer Staaten Depositar zur Hinterlegung der Vertragsurkunden im Sinne des Art. 16 WVK. Wie in multilateralen Verträgen gebräuchlich, ist auch für EMRK und AMRK eine Mindestanzahl an Ratifikationen zum in Kraft treten erforderlich – bei der EMRK sind dies zehn (Art. 59 Abs. 2 EMRK), bei der AMRK elf Staaten (Art. 74 Abs. 2 S. 2 AMRK). Deutlicher Ausdruck staatlicher Souveränität ist sodann die Möglichkeit, zu multilateralen Völkerrechtsverträgen Vorbehalte zu erklären, vgl. Art. 19 ff., Art. 2

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D. Grimm, Souveränität – Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffes, 2009. Explizit ECHR, 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, No. 15318/89 Rn. 84. Der Interamerikanische Gerichtshof führt diese früh aus in IACHR, 24.09.1982, Advisory Opinion OC-2/82, Series A, No. 2, Rn. 29 sowie in IACHR, 29.03.2006, Sawhoyamaxa Indigenous Community v. Paraguay, Series C No. 146, Rn. 140. 40

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I lit. d WVK41. Durch einseitigen Akt können Staaten die Rechtsbindungswirkung eines Vertrages hierdurch grundsätzlich einschränken oder punktuell ausschließen. In der EMRK findet sich diese Möglichkeit in Art. 57 EMRK normiert. Voraussetzung für einen zulässigen Vorbehalt ist, dass die entsprechende Erklärung vor oder zum Zeitpunkt der Ratifikation erfolgt, ein geltendes nationales Gesetz nicht im Einklang mit der Konvention steht und der Vorbehalt nicht allgemeiner Natur ist (Art. 57 Abs. 1 S. 2 EMRK). Die AMRK räumt in Art. 75 AMRK ebenfalls die Möglichkeit ein, Vorbehalte zu formulieren, und verweist hinsichtlich der Zulässigkeitsanforderungen auf die Wiener Vertragsrechtskonvention. Auch die Zusatzprotokolle geben Zeugnis vom völkerrechtlichen Ursprung der Konventionssysteme und deren Gebundenheit an staatliche Souveränität. Ergänzung und Entwicklung der zunächst nur einen Kernbestand an Rechten verbürgenden multilateralen Vertragswerke können nur durch voluntativen Akt der souveränen Staaten erfolgen. Es steht den souveränen Mitgliedstaaten frei, an der Ergänzung der Schutzgewährleistungen mitzuwirken. So ist der Ratifikationserfolg unter den Mitgliedstaaten der EMRK bei den Protokollen 1, 4, 6, 7, 12 und 13 auch sehr divergent42. Die AMRK ist ihrerseits 1991 und 1999 um zwei Protokolle ergänzt worden, die jeweils von etwa einem Drittel der OAS-Staaten ratifiziert worden sind. Auch dieser geringe Erfolg ist aus menschenrechtlicher Perspektive „schmerzlicher“ Ausdruck von staatlicher Souveränität. Souveränität findet sich ferner in der Kündigungsmöglichkeit der Staaten dokumentiert. In der EMRK ist diese in Art. 58 EMRK unter der Bedingung einer Kündigungsfrist von sechs Monaten frühestens nach Ablauf einer Mitgliedschaft von fünfjähriger Dauer möglich (Abs. 1), wobei die Bindungswirkung für Handlungen und Verletzungen während dieser Zeit Bestand hat (Abs. 2). Die AMRK weist eine parallele Vorschrift in Art. 78 auf, wobei die Notifikation einer etwas längeren, nämlich einjährigen Frist unterliegt (Abs. 1). Schließlich ist souveräne Staatlichkeit auch insofern für regionalen Menschenrechtsschutz konstitutiv, als dass die Konventionsregime zur Effektivität und Wirksamkeit auf die staatliche Kooperation und Folgewilligkeit angewiesen ist. Bezeugt wird das durch Art. 1 EMRK bzw. die Parallelnorm in Art. 1 AMRK, nach denen es die Staaten sind, die die im Folgenden genannten Rechte zu respektieren und zu sichern haben. Staatliche Hoheitsgewalt und damit Souveränität bildet den sinnstiftenden Bezugsgegenstand des regionalen Menschenrechtsschutzes. Die Souveränität der Mitgliedsstaaten wird ferner dadurch bezeugt, 41 Zu Vorbehalten hat die ILC einen „Guide to Practice on Reservations to Treaties“ erarbeitet, ILC Report of the sixty-third session, 2006, UN-Doc A/66/para. 75, abgedruckt in Yearbook of the International Law Commission 2011, Vol. II, Part Two. 42 Dazu C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 2 Rn. 4.

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dass die Urteile der Konventionsgerichtshöfe keine kassatorische oder gestaltende Wirkung haben, sondern lediglich Feststellungscharakter besitzen, vgl. Art. 41 EMRK bzw. Art. 63 AMRK. Völkerrechtlichen Usancen entsprechend verpflichten weder die EMRK noch die AMRK die Vertragsparteien zur Inkorporation43, wenngleich die AMRK in Art. 2 wenigstens eine Vorschrift zu „Domestic Legal Effects“ enthält. Formal bleibt damit staatliche Souveränität von den Konventionsregimen unberührt. Im Ergebnis geben diese Elemente nicht nur Zeugnis von der völkerrechtlichen Herkunft regionalen Menschenrechtsschutzes, sondern vor allem von der konstitutiven Bedeutung staatlicher Souveränität für dessen Konstruktion. Das Konventionsrecht erscheint als Produkt autonomer, konsensualer Rechtserzeugung souveräner Staaten. Deren Rechtsbindungswille schafft einen Legitimations- und Ableitungszusammenhang, in dessen Folge regionaler Menschenrechtsschutz als Derivat staatlicher Souveränität verstanden werden kann. Die souveränen Mitgliedsstaaten scheinen prima facie die „Herren der Verträge“ zu sein. Aber auch in materieller Hinsicht wird das Konventionsrecht ganz maßgeblich durch die souveränen Mitgliedsstaaten geprägt. Schließlich greifen die Konventionsorgane bei der Auslegung und Anwendung der Konventionen rechtsvergleichend auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedsstaaten zurück. Das nationale Verfassungsrecht der Konventionsstaaten – und folglich auch der diesem inhärente Souveränitätsgehalt – bildet somit das „wichtigste Rezeptionsreservoir“ 44 des Konventionsrechts. 2. Allgemeine Relativierungsphänomene staatlicher Souveränität durch regionalen Menschenrechtsschutz Im Gegensatz zur Konstruktionsleistung der Souveränität für die Konventionssysteme setzt regionaler Menschenrechtsschutz aber auch die Relativierung staatlicher Souveränität voraus45. Anders formuliert kann sich regionaler Menschenrechtsschutz nur soweit konstituieren, wie die Staaten sich öffnen und damit auf ihre Souveränität verzichten bzw. die Konventionsorgane eine solche Beschränkung der staatlichen Autonomie erfolgreich einfordern und durchsetzen. 43 ECHR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, No. 5310/71. Auch J. Polakiewicz/V. Jacob-Foltzer, The European Human Rights Convention in Domestic Law, Human Rights Law Journal 12 (1991), S. 65 ff. und S. 125 ff. 44 P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 108. 45 Gleichwohl ist in Art. 1 der OAS-Charta das „strengthen their sovereignty“ der Mitgliedstaaten als ausdrückliches Ziel benannt. Dies überzeugt angesichts der Kolonialgeschichte, staatlicher Instabilitäten und dem zeitgenössischen Verständnis als Volkssouveränität.

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Erste Spurenelemente einer Relativierung vollumfänglicher staatlicher Souveränität ergeben sich bereits im Hinblick auf die Ratifikation. Zwar bleibt sie letztlich den Staaten freigestellt, jedoch ist eine Mitgliedschaft im Europarat de facto untrennbar an die Ratifikation der EMRK gekoppelt. Anderes gilt für das Verhältnis zwischen OAS und AMRK. Die Mitgliedschaften in beiden Systemen sind nicht obligatorisch verbunden. Als Folge sind lediglich 25 der 35 OAS-Mitgliedsstaaten auch Signatarstaaten der Menschenrechtskonvention. Auch das Recht, Vorbehalte zu erklären, als unmissverständlicher Ausdruck staatlicher Souveränität, unterliegt einer Relativierung. So hat der EGMR im Fall Belilos46 für sich die Kompetenz in Anspruch genommen, die Zulässigkeit eines Vorbehaltes der Schweiz zu Art. 6 EMRK zu prüfen47. Im Ergebnis hat der EGMR sodann die Unzulässigkeit des Vorbehalts und die volle Bindung der Schweiz festgestellt. Während die Qualifizierung des Vorbehalts als unzulässig nachvollziehbar ist, erscheint die daraus vom EGMR gezogene Rechtsfolge, den Staat für im vollen Umfang für gebunden zu erachten, provokant. So verständlich das Motiv des EGMR ist, umfassenden Menschenrechtsschutz herzustellen48, stellt er sich dennoch dem erkennbar artikulierten Willen des Staates, nicht gebunden zu sein, entgegen. Hierin ist eine Loslösung vom voluntativen Völkervertragsrecht und vom Konsensprinzip identifizierbar, mit der eine Relativierung staatlicher Souveränität einhergeht. Ähnlich nimmt auch der Interamerikanische Gerichtshof für sich eine die Souveränität der Staaten begrenzende Kompetenz-Kompetenz in Anspruch, wenn er ausführt: „pursuant to the compétence de la compétence principle, it is not to be left to the will of the States to decide which facts are excluded from its jurisdiction. This decision is a duty which is to be fulfilled by the Court in the exercise of its jurisdictional functions.“

Im Ergebnis befand der Gerichtshof, bei der Deklaration Chiles handele es sich nicht um einen Vorbehalt49. Ferner ist in der AMRK der Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten dadurch relativiert, dass die Anzahl der Richter nicht derjenigen der Konven-

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ECHR, 29.04.1988, Belilos v. Switzerland, No. 10328/82. S. Oeter, Die „auslegende Erklärung“ der Schweiz zu Art. 6 I EMRK und die Unzulässigkeit von Vorbehalten nach Art. 64 EMRK, ZaöRV 48 (1988), S. 515. 48 Fortschrittlich zur Vorbehaltsproblematik allgemein T. Giegerich, Vorbehalte zu Menschenrechtsabkommen: Zulässigkeit, Gültigkeit und Prüfungskompetenz von Vertragsgremien, ZaöRV 55 (1995), S. 713 ff., der Vorbehalte zu menschenrechtlichen Verträgen im Hinblick auf Art. 19 lit. a und c als völkerrechtswidrig erachtet. 49 IACHR, 26.9.2006, Almonacid-Arellano et al. v. Chile, Serie C, No. 154, Rn. 43 ff. mit Verweis auf IACHR, 23.11.2004, Serrano-Cruz Sisters v. El Salvador, Serie C, No. 118 Rn. 74. 47

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tionsstaaten entspricht. Anders als nach der EMRK (Art. 20 EMRK), in der jeder Staat einen Richter entsendet, ist die Richteranzahl in der AMRK auf sieben limitiert, vgl. Art. 52 AMRK. Außerdem ist auch die Nominierung solcher Richter erlaubt, die Staaten angehören, die sich gar nicht der Gerichtsbarkeit unterworfen haben50. Voraussetzung ist lediglich die Nationalität eines Mitgliedsstaates der OAS. Während letztgenannter Umstand aus der Inkongruenz von OAS und AMRK-System resultiert, ist die geringere Anzahl der Richter Ausdruck der Überwindung eines souveränitätsinduzierten formalen Gleichheitsverständnisses und Repräsentationsprinzips der Staaten. In ihr symbolisieren sich Souveränitätsverzicht bzw. -relativierung und institutionelles Vertrauen – Staaten unterwerfen sich einer Gerichtsbarkeit, in der sie nicht zwangsläufig personell repräsentiert sind. Eine der bedeutsamsten, wenngleich am schwierigsten identifizierbare, da sukzessive sich vollziehende Relativierungserscheinung staatlicher Souveränität liegt aber vermutlich in den konventionsrechtlichen Umbildungen des innerstaalichen Rechts. Einzelne Teilbereiche vom Familienrecht über das Erb- und Arbeitsrecht bis hin zum Strafrecht werden durch die Konventionsrechtsprechung punktuell durchprägt und konventionskonform umgestaltet51. Dem Souverän wird somit sein Regelungsgegenstand partiell entzogen. Die staatliche Souveränität erodiert unter dem Einfluss des regionalen Menschenrechtsschutzes. 3. Hierarchie und Bindungswirkung der Konventionen als spezifische Relativierungsphänomene Regionale Menschenrechtsschutzsysteme führen zu konfliktreichen Hierarchieund Bindungsfragen, die die Relativierung staatlicher Souveränität verdeutlichen. Während Geltung und unmittelbare Anwendbarkeit des Konventionsrechts weitestgehend geklärt sind52, bleiben der Rang der Konventionen in den innerstaatlichen Rechtsordnungen und die Bindung an die Urteile der Konventionsgerichte53 strittig. Gerade diese Fragen stehen jedoch in einem direkten Verhältnis zu Autonomie und Selbstbestimmung eines Staates sowie der ihm eigenen territorial beschränkten letztverbindlichen Gestaltungsmacht respektive seiner Souve50 Prominentes Beispiel ist die Nominierung des US-Amerikaners T. Buergenthal als Richter am Interamerikanischen Gerichtshof. 51 Dazu ausführlich Dritter Teil E. II. 2. 52 So für die EMRK T. Giegerich, Wirkung und Rang der EMRK in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten, in: O. Dörr/R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2013, Kapitel 2, S. 57 ff. Rn. 1 ff. Für die AMRK H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Auflage 2008, S. 53 ff. 53 Ausführlich dazu in Bezug auf die EMRK S. Haß, Die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Charakter, Bindungswirkung und Durchsetzung, 2006, S. 60 ff.

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ränität. Letztlich besteht ein Zielkonflikt zwischen Vorrang der einzelstaatlichen Verfassung als vom pouvoir constituant geschaffenem „paramount law“ 54 und Vorrang des Konventionsrechts. Dieser Rangkonflikt mag unter Verweis auf die de facto-Wirkung des Konventionsrechts als „akademisch“ abgetan werden55. Gleichwohl kristallisiert sich in ihm die Frage nach dem Fortbestand staatlicher Souveränität, weshalb er auch Anlass zu Rechtsprechungskonflikten gegeben hat56. Die Hierarchieproblematik hat ihren Ursprung primär in einem – völkerrechtlichen Traditionen entsprechenden – Regelungsdefizit der Konventionsgeber57. Hintergrund hierfür bilden divergierende monistische und dualistische Völkerrechtsverständnisse der Vertragsstaaten. In Europa wird sie sekundär verantwortet und verstärkt durch die mangelnde Bereitschaft des EGMR, die Entscheidungskompetenz über diese Frage für sich in Anspruch zu nehmen. Das Ergebnis ist jenes, welches man im Recht der EU bzw. EG befürchtet hatte und primär durch judical activism des Europäischen Gerichtshofes für das europäische Recht im engeren Sinne vermieden wurde – die Zweifelhaftigkeit der Verbindlichkeit und Verpflichtungswirkung dieser Rechtsmaterie, ihre uneinheitliche Anwendung in den einzelnen Ländern und ein Ringen um die Deutungshoheit mit den nationalen (Verfassungs)gerichten. Im Gegensatz dazu hat der IAGH diese Problematik deutlich aktiver in seiner Rechtsprechung aufgegriffen und das Regelungsdefizit der Konvention durch richterliche Entscheidung versucht zu kompensieren. Aufgrund dieser Unterschiedlichkeit werden nachfolgend normhierarchische Rang- und Bindungsfragen der EMRK im innerstaatlichen Recht aus nationaler Perspektive, die der AMRK aus regionaler Perspektive, dargestellt. a) Rang- und Wirkungsfragen der EMRK Die EMRK schreibt, wie angedeutet, keine Inkorporation in das nationale Recht vor58 und enthält auch keine Rang- oder Geltungsanordnung expressis ver-

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Siehe dazu Erster Teil B. II. 2. So R. Jaeger/C. Schmaltz, Die deutsche Rechtsprechung und der EGMR. Kooperation oder Konfrontation?, in: S. Leutheuser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde. 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 2013, S. 106. 56 Dazu sogleich unter bb). 57 Anzumerken ist, dass man selbst im tief integrierten, sich weit von den Kategorien des Völkerrechts entfernten Europäischen Recht, einen Vorrang erst spät und lediglich in Form eines Zusatzprotokolls niedergelegt hat. Nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages, der dem Vorrang des supranationalen Rechts einen eigenen Artikel gewidmet hätte (Art. I-6), einigte man sich lediglich auf eine Erklärung (Nr. 17) zur Schlussakte der Regierungskonferenz. 58 So explizit der EGMR: „no obligation to incorporate the Convention into domestic law“ ECHR, 21.02.1986, James et al. v. United Kingdom, No. 8793/79 Rn. 84. Allerdings ist eine solche vorbildlich: „By substituting the words ,shall secure‘ for the words 55

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bis. Auch ist die Implementationsform nicht vorgegeben59. Sie ordnet in Art. 1 EMRK lediglich an, dass die Hohen Vertragsparteien die nachfolgend genannten Rechte „zusichern“ und dass die Urteile des Gerichtshofs zu „befolgen“ sind (Art. 46 EMRK). Wie prekär und folgenreich die Entscheidung war, den Modus der innerstaatlichen Umsetzung ungeregelt zu lassen, offenbart vollends erst die Rechtsvergleichung. Rang und Wirkungsweise der EMRK differieren beträchtlich in den einzelnen Konventionsstaaten und reichen von Verfassungsvorrangigkeit über Verfassungsrang und Stellung zwischen Verfassung und Gesetz bis hin zum einfachen Gesetzesrang60. aa) Der Rang der EMRK im Recht der Vertragsparteien In der Mehrzahl der Vertragsparteien steht die EMRK im Rang oberhalb des einfachen Rechts, aber unterhalb des Verfassungsrechts. Hierzu gehören Belgien, Frankreich, Griechenland, Liechtenstein, Luxemburg, Malta, Portugal, Spanien und Zypern sowie eine Reihe osteuropäischer Staaten61. In den skandinavischen Staaten Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden sowie in Deutschland, Großbritannien, Italien und San Marino kommt der EMRK der Rang eines einfachen Gesetzes zu. Vorrang vor dem nationalen Verfassungsrecht gebührt der EMRK lediglich in den Niederlanden, in Rumänien, der Slowakei und der Tschechischen Republik62. Zumindest im gleichen Rang mit der Verfassung steht die EMRK seit einer Gesetzesänderung im Jahre 1964 auch in Österreich. Wenngleich die EMRK auf alle einzelstaatlichen Rechtsordnungen einwirkt, ist lediglich in fünf der 47 Vertragsparteien ein formales Bekenntnis zur Relativierung

,undertake to secure‘ in the text of Article 1, the drafters of the Convention also intended to make it clear that the rights and freedoms set out in Section I would be directly secured to anyone within the jurisdiction of the Contracting States (document H (61) 4, pp. 664, 703, 733 and 927). That intention finds a particularly faithful reflection in those instances where the Convention has been incorporated into domestic law (. . .)“, ECHR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, No. 5310/71 Rn. 239. 59 ECHR, 06.02.1976, Swedish Engine Drivers Union v. Sweden, No. 5614/72 Rn. 50, „(. . .) nor the Convention in general lays down for the Contracting States any given manner for ensuring within their internal law the effective implementation of any of the provisions of the Convention“. 60 Klärung könnte pro futuro die Einführung eines Vorlageverfahrens vor dem EGMR bringen. Damit manifestierte sich jedenfalls de facto die Vorrangigkeit des Europäischen Menschenrechtsschutzsystems vor innerstaatlichem Recht. Ein ähnliches Verfahren ist mit den „Advisory Opinions“ im Zuge des jüngsten Reformprozesses der sog. Brighton-Erklärung diskutiert worden. Zu Rang und Wirkung der EMRK im innerstaatlichen Recht H. Keller/A. Stone Sweet (Hrsg.), A Europe of Rights. The Impact of the ECHR on National Legal Systems, 2008. 61 C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 3 Rn. 3. 62 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012 § 1 Rn. 6.

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der Verfassungsautonomie zugunsten des überstaatlichen Menschenrechtsschutzes identifizierbar63. bb) Exkurs: Das Verhältnis von EMRK und Grundgesetz in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – vom osmotischen Verständnis zur Dialogisierung beider Rechtsordnungen Exemplarisch für den anhand der Rangfrage ausgetragenen Souveränitätskonflikt ist die Situation in der Bundesrepublik Deutschland, die nachfolgend kursorisch rekapituliert werden soll. Die Souveränitätsproblematik offenbart sich hier auch deshalb besonders deutlich, weil das Konventionssystem mit dem Grundgesetz und dem Bundesverfassungsgericht auf eine dogmatisch weit entwickelte und einflussreiche Grundrechtsordnung trifft. Die Vorrangigkeit und unmittelbare Geltung der EMRK schienen für den bundesdeutschen Ratifikationsgesetzgeber noch selbstverständlich, indem er diese als allgemeine Regeln des Völkerrechts im Sinne des Art. 25 GG ansah64. Die im Hinblick auf ihre demokratische Legitimation die anderen Gewalten überragende Legislative nahm also die EMRK als unmittelbar geltendes Recht an. Sie tat dies, obwohl im Grundgesetz eine gewisse Unklarheit hinsichtlich der Stellung der EMRK bereits angelegt ist. So ist das Grundgesetz einerseits Ausdruck offener Staatlichkeit, mittels derer nach dem Zweiten Weltkrieg die Rückkehr Deutschlands in die Staatengemeinschaft erstrebt worden ist65, andererseits ist es aber im Grundsatz von einem dualistischen Völkerrechtsverständnis geprägt. Diesen Zwiespalt hat die Judikative, insbesondere die Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts, zuweilen mehr verschärft, als dass sie zur Überwindung beigetragen hat66. Die „Gretchenfrage“ 67 nach Rang und Wirkung der EMRK im deutschen Recht hat das BVerfG in der Görgülü-Entscheidung unter deutlichem Rekurs auf 63 Vgl. auch A. Peters, Supremacy Lost: International Law Meets Domestic Constitutional Law, Vienna Journal on International Constitutional Law 3 (2009), S. 170. 64 So U. Karpenstein/F. C. Meyer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 2012, Einleitung Rn. 72 ff., S. 16 mit Verweis auf BT-Drs. 3338 (1. Wahlperiode), S. 3 f. und Rechtsausschuss Prot. 146 v. 16.01.1952, S. 5. 65 K.-P. Sommermann, Offene Staatlichkeit: Deutschland, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 14 Rn. 61. 66 Die auftretenden Rechtsprechungsdivergenzen zwischen dem deutschen Bundesverfassungsgericht und dem europäischen Gerichtshof für Menschenrechte beginnen in der Auseinandersetzung um die baden-württembergische Feuerwehrabgabe, entwickeln sich dann im Fall Vogt und erlangen in der causa Caroline von Hannover große öffentliche Aufmerksamkeit. Übersicht zu diesen Fällen bei A. Zimmermann, Grundrechtsschutz zwischen Karlsruhe und Straßburg, 2012, S. 8 ff. 67 So M. Breuer, Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Straßburg?, NVwZ 2005, S. 412 ff.

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die staatliche Souveränität beantwortet68. Anhand des Sorgerechts von Vätern für ihre nichtehelichen Kinder erörterte das Bundesverfassungsgericht umfassend die Frage, ob die Feststellungen und konkreten Vorgaben69 des EGMR für die deutsche Judikative bindend seien. Insbesondere an der Bezeichnung der erforderlichen Abhilfemaßnahmen nahm das Gericht Anstoß70. Das BVerfG klassifizierte unter Verweis auf Art. 59 Abs. 2 GG die EMRK als einfaches Bundesrecht, welches aufgrund von Art. 20 Abs. 3 GG zu beachten sei71. Ferner statuierte es eine Berücksichtigungspflicht der EMRK „im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“, nach der nicht bloß die fehlende Auseinandersetzung mit der EMRK und deren Auslegung, sondern auch die „schematische Vollstreckung“ einen Grundrechtsverstoß bedeuten kann. In der Konsequenz gab das BVerfG den staatlichen Organen auf, bei der Berücksichtigung der EMRK „die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung“ zu bedenken72. Schließlich judizierte es, dass bei aller Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes „nicht auf die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“ 73 verzichtet werden könne und eine vollständige „Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte“ 74 keinesfalls gewollt sei. Damit formulierte es einen unmissverständlichen „Souveränitätsvorbehalt gegenüber Straßburg“ 75.

68 Hintergrund für die causa Görgülü bildet die bereits in der Sache Caroline von Hannover angelegte Rivalität der beiden Gerichte. Das BVerfG sah in der Korrektur seines dogmatisch filigranen Urteils durch den EGMR seine Deutungshoheit beschnitten und reagierte auf diesen Autoritäts- bzw Autonomieverlust in der causa Görgülü. 69 Vorliegend hatte der EGMR aus Art. 8 Abs. 1 EMRK ein Umgangsrecht des Beschwerdeführers abgeleitet. Die über die bloße Feststellung hinausgehenden, konkreten Vorgaben des Gerichts, um Konventionskonformität zu erreichen, entspringen einer jüngeren Praxis und stellen eine grundlegende Änderung des Konventionsrechts dar, so m.w. N., T. Rensmann, Das „letzte Wort“ im Dialog zwischen Karlsruhe und Straßburg, in: J. Menzel/R. Müller-Terpitz (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung: Ausgewählte Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2. Aufl. 2011, S. 749. Dazu auch unten Dritter Teil D. III. 4. b). 70 Diese bereits im Fall Asanidse angewandte Praxis hat keine explizite Rechtsgrundlage, kann aber als „Annexkompetenz“ verstanden werden, M. Breuer, Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Straßburg?, NVwZ 2005, S. 414 sowie M. Breuer, Zur Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen durch den EGMR. Der Gerichtshof betritt neue Wege im Fall Asanidse gegen Georgien, EuGRZ 2004, S. 257. Legitimiert und bestätigt wird dies auch durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates, Entschließung 1226 (2000), Nr. 11 B ii, wiedergegeben in BT-Dr. 14/6751, S. 39 (40). Im Grunde genommen bleiben jedenfalls die in der Görgülü-Entscheidung dargetanen Abhilfemaßnahmen noch relativ unkonkret und weit hinter jenen von Fachgerichten zurück. Art, Zeit und Form des Umgangs werden nicht näher bestimmt. 71 BVerfGE 111, 307 (322 ff.). 72 BVerfGE 111, 307 (Leitsätze). 73 BVerfGE 111, 307 (319). 74 BVerfGE 111, 307 (319). 75 FAZ Nr. 245 vom 20.10.2004, S. 1.

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Die „Trotzigkeit“, „schrille Rhetorik“ und das „souveränitätstrunkene Insistieren“ auf dem letzten Wort sind irritierend76. Sie zeugen von einer falsch verstandenen Souveränität77. Es erinnert und gleicht Mirabeau’s Donnerkeil – das BVerfG wirft Judikate aus und empfängt keine78. Es geriert sich als (letztinstanzlicher) Garant von Staatlichkeit und (Volks)Souveränität, bringt diese geradezu in Stellung gegen das Völkerrecht und die vertraglichen Pflichten aus der EMRK bzw. den EGMR79. Dass das BVerfG der Einwirkung des Konventionsrechts die staatliche Souveränität entgegengestellt, zeigt sich besonders deutlich in der vom BVerfG gewählten Terminologie. So spricht es an prominenter Stelle im ersten Leitsatz des Beschlusses von einer Berücksichtigungspflicht der EMRK. Vergegenwärtigt man sich erneut eingangs skizzierte Einsichten des Pragmatismus, scheint gerade die verwendete Semantik und Rhetorik des BVerfG aufschlussreich. Was ist mit einer „Berücksichtigung“ gemeint? Sind „Berücksichtigung“ und „Rücksichtnahme“ nicht normativ etwas anderes, nämlich in ihrem Verbindlichkeitsgrad viel Geringeres als eine „Befolgung“ oder „Beachtung“? So verstand das BVerfG unter Berücksichtigung auch lediglich, dass sich die nationalen Institutionen „mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung nicht folgen“ 80. Angesichts des Umstandes, dass das BVerfG die Konvention als bindendes Recht im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG klassifiziert und ihm den Rang eines einfachen Bundesgesetzes zuerkennt, wäre wohl „beachten“ oder „befolgen“ die angemessene Formulierung gewesen81. So impliziert die gewählte Terminologie eine umdeutende Herabstufung der Befolgungspflicht in eine Berücksichtigungspflicht82 und schädigt auf diese Weise die Verbindlichkeit und normative Kraft des Konventionsrechts. Semantisch und rhetorisch ähnlich unglücklich, wenngleich völkerrechtsfreundlich motiviert, erscheint auch die vom BVerfG – wie schon in früherer 76 So kritisch, T. Rensmann, Das „letzte Wort“ im Dialog zwischen Karlsruhe und Straßburg, in: J. Menzel/R. Müller-Terpitz (Hrsg.),Verfassungsrechtsprechung: Ausgewählte Entscheidungen des BVerfG in Retrospektive, 2. Aufl. 2011, S. 751. 77 So H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 683. 78 Mirabeau hatte dem Befehl König Ludwigs XVI., am 23. Juni 1789 die Versammlung wieder aufzulösen, entgegnet, wie es in H. v. Kleists Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ überliefert ist: „(. . .) ja, mein Herr (. . .) wir haben ihn vernommen (. . .). Doch was berechtigt Sie (. . .) uns hier Befehle anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation. Die Nation gibt Befehle und empfängt keine.“, abrufbar unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/-589/1, zuletzt abgerufen am 14.03.2015. 79 H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 688. 80 BVerfGE 111, 307 (324). 81 Noch im Pakelli-Beschluss hatte das BVerfG von „beachten“ gesprochen, BVerfG EuGRZ 1985, S. 656. 82 H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 684.

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Rechtsprechung83 – auf Art. 1 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG gegründete „verfassungsrechtliche Pflicht, auch bei der Anwendung der deutschen Grundrechte die Europäische Menschenrechtskonvention in ihrer konkreten Ausgestaltung als Auslegungshilfe heranzuziehen“ 84. Der Versuch, der EMRK Bedeutung bei der verfassungsrechtlichen Grundrechtsinterpretation zuzusprechen, ist positiv zu bewerten. Gleichwohl gibt er nicht nur normenhierarchische Rätsel auf, weil die Grundrechte als integraler Bestandteil der höherrangigen Verfassung nun nach dem im Rang eines einfachen Gesetzes stehenden EMRKRecht ausgelegt werden. Vielmehr ist auch die Klassifikation der EMRK als „Auslegungshilfe“ nicht unproblematisch. Jedenfalls semantisch impliziert der Begriff der „Auslegungshilfe“, dass einer solchen nicht derselbe Verpflichtungsund Bindungscharakter zukommt wie dem unmittelbar geltenden Recht. Sicherlich beabsichtigte das BVerfG damit keine Aussage über die Normqualität. Im Gegenteil dürfte die Intention gewesen sein, das Konventionsrecht aufzuwerten, zumal sich das BVerfG mit seiner „Auslegungshilfe“-Terminologie in guter Gesellschaft weiß85. Dennoch riskiert diese Bezeichnung angesichts der sich maßgeblich auf Semantik und Rhetorik gründenden normativen Kraft des Rechts einen Achtungsverlust des Konventionsrechts. Dass diese vordergründig semantische Kritik nicht nur ein bloßes Glasperlenspiel ist und wie wichtig, da wirkmächtig, eine treffende Bezeichnung ist, zeigt sich schon darin, dass das in der Görgülü-Entscheidung vom BVerfG korrigierte OLG Naumburg an seiner Überzeugung festhielt, sich sogar irrtümlich durch das BVerfG bestätigt glaubte. Über den konkreten Fall hinausreichend, beschädigte das Urteil nicht nur die normative Verbindlichkeit des Konventionsrechts in Deutschland, sondern der im Judikat begründete Anschein der Folgeunwilligkeit Deutschlands unterminierte aufgrund der Stellung des BVerfG als eines der bedeutendsten Verfassungsgerichte Europas auch die Autorität des Konventionsrechts weit über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus86. Bei aller berechtigten Kritik an den (un)dogmatischen Konstruktionen des BVerfG sind dem Urteil gleichwohl auch fortschrittliche, völkerrechtsfreundliche Impulse zu entnehmen. Das gilt insbesondere für die zwar normhierarchisch verkehrte und terminologisch fragwürdige, aber im Ergebnis begrüßenswerte Auslegung des Grundgesetzes im Lichte der EMRK, wie auch für die eröffnete Mög-

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BVerfGE 74, 358 (370). BVerfGE 111, 307 (329). 85 Das spanische Tribunal Constitucional deutet die EMRK als „wertvolle Auslegungskriterien“, der französische Conseil constitutionnel spricht von der EMRK als einer „Inspirationsquelle“, so m.w. N. P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 98. 86 H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 684 mit Verweis auf den damaligen Präsidenten des EGMR, der seither die Häufung von Anfragen anderer Staaten hinsichtlich der Verbindlichkeit der EMRK beklagt. 84

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lichkeit, die Verletzung von Konventionsgarantien qua Verfassungsbeschwerde zu rügen87. Konkret vermag man darin die Kreation eines neuen „Grundrechts auf Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR“ erkennen88, abstrakt lässt sich das als eine kaschierte Souveränitätsrücknahme deuten. Insgesamt lässt sich das Verhältnis zwischen der souveränen Staatlichkeit Deutschlands und der EMRK deshalb nach Lesart des Görgülü-Urteils als osmotisch begreifen. Die souveräne Staatlichkeit ist danach durch eine semipermeable bzw. selektivpermeable Membran89 als eigenständiger Rechtskreis geschützt (vgl. Art. 59 Abs. 2 GG) und ist somit Ausdruck eines dualistischen Völkerrechtsverständnisses90. Selektivpermeabel ist sie, da die Souveränität im letzten in der deutschen Verfassung liegt, der Rechtsanwendungsbefehl oder besser die „Rechtsanwendungsempfehlung“ 91 innerstaatlich gegeben wird und das Eindringen des Konventionsrechts verfassungsrechtlich und -gerichtlich begrenzt und kontrolliert wird92. Dem BVerfG kommt dadurch eine „Scharnierstellung“ oder „Schleusenstellung“ 93 zu. Im Ergebnis oszilliert das Urteil also zwischen völkerrechtsfreundlicher Öffnung deutscher Staatlichkeit einerseits und Beharrung auf absoluter Souveränität andererseits94. Es kommt lediglich zur Osmose zwischen nationaler und internationaler Rechtsordnung, nicht aber zur Vereinigung dieser beiden. Sie verbleiben

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BVerfGE 111, 307 (329 f.). M. Breuer, Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Straßburg?, NVwZ 2005, S. 412. 89 Vgl. M. Wendel, Permeabilität im europäischen Verfassungsrecht: Verfassungsrechtliche Integrationsnormen auf Staats- und Unionsebene, 2011. 90 Grundlegend mit dem Sinnbild von zwei getrennten, sich niemals schneidenden, höchstens berührenden Kreisen H. Triepel, Völkerrecht und Landesrecht, 1899, S. 111. 91 Treffend H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 693. 92 D. Buschle spricht deshalb auch von einem neuen „Solange“, ders., Ein neues „Solange“? – Die Rechtsprechung aus Karlsruhe und Straßburg im Konflikt, VBlBW 8 (2005), S. 293 ff. 93 So J. M. Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 254. 94 Noch schroffer wirkt das etatistisch-antiquiert anmutende Souveränitätsverständnis des BVerfG lediglich im Konflikt mit dem Europarecht im engeren Sinne. Beispielhaft dafür sind die Souveränitätsausführungen im Lissabon-Urteil des BVerfG, in dem es Staatlichkeit und Souveränität definiert. Danach gelte unverändert das Prinzip der umkehrbaren Selbstbindung der souveränen Staaten. Diese seien selbst hinsichtlich des supranationalen Gebildes weiterhin die „Herren der Verträge“. Folglich wird dem europäischen Recht auch nicht der Status einer autonomen Rechtsordnung zugesprochen, sondern ein aus den mitgliedsstaatlichen Verfassungen abgeleiteter. Auch hier suggeriert das BVerfG, staatliche Souveränität inkarniere in Demokratie, republikanischer Selbstbestimmung und Legitimationszusammenhängen, die durch Europäisierung gefährdet seien und sieht sich selbst zur Wahrung dieser berufen. 88

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im Letzten als Antagonismen. Daraus resultiert jene „Unschärferelation“ 95, die bis heute die kohärente Einbindung des Konventionsregimes beeinträchtigt96. Einige dieser stark souveränitätsfixierten Aussagen des Görgülü-Beschlusses korrigierte das BVerfG später in seiner Entscheidung zum spezialpräventiven Strafinstrument der Sicherungsverwahrung97. Ein erstes Revisionsindiz deutet sich schon in dem deutlichen Bekenntnis des ersten Leitsatzes an, dass Judikate des EGMR „zu einer Überwindung der Rechtskraft einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts führen können“ 98. Sodann deduziert das Gericht aus der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes ein solches Souveränitätsverständnis, „das einer Einbindung in inter- und supranationale Zusammenhänge sowie deren Weiterentwicklung nicht nur nicht entgegensteht, sondern diese voraussetzt und erwartet. Vor diesem Hintergrund steht auch das ,letzte Wort‘ der deutschen Verfassung einem internationalen und europäischen Dialog der Gerichte nicht entgegen, sondern ist dessen normative Grundlage“ 99.

Auch wertet das Gericht die EMRK immens auf, indem es judiziert, den Garantien der Menschenrechtskonvention sei „möglichst umfassend Geltung zu verschaffen“ 100, was in der inhaltlichen Ausrichtung des Grundgesetzes auf die Menschenrechte und Art. 1 Abs. 2 GG zum Ausdruck käme. Diese Norm sei zwar „kein Einfallstor für einen unmittelbaren Verfassungsrang der Europäischen Menschenrechtskonvention“, „aber mehr als ein unverbindlicher Programmsatz, indem sie eine Maxime für die Auslegung des Grundgesetzes vorgibt und verdeutlicht, dass die Grundrechte auch als Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen sind“ 101. Schließlich eröffnet es dem Konventionsrecht aufgrund seiner „Orientierungsund Leitfunktion“ auch über den Einzelfall hinaus einen Wirkungsraum: „Die innerstaatlichen Wirkungen der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erschöpfen sich insoweit nicht in einer aus Art. 20 Abs. 3 GG in Verbindung mit Art. 59 Abs. 2 GG abzuleitenden und auf die den konkreten Entscheidungen zugrundeliegenden Lebenssachverhalte begrenzten Berücksichtigungspflicht, denn das Grundgesetz will vor dem Hintergrund der zumindest faktischen Präzedenzwirkung der Entscheidungen internationaler Gerichte Konflikte zwischen den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland und dem nationalen Recht nach Möglichkeit vermeiden“ 102. 95

H.-J. Cremer, Zur Bindungswirkung von EGMR-Urteilen, EuGRZ 2004, S. 693. M. Payandeh, Konventionswidrige Gesetze vor deutschen Gerichten, DÖV 2011, S. 382. 97 BVerfGE 128, 326. 98 BVerfGE 128, 326 (326). 99 BVerfGE 128, 326 (369). 100 BVerfGE 128, 326 (368). 101 BVerfGE 128, 326 (369). 102 BVerfGE 128, 326 (368 f.). 96

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Im Ergebnis wiederholt das Gericht zwar die verfassungsrechtliche Begrenzung der Völkerrechtsfreundlichkeit und die Rangzuweisung des Konventionsrechts unterhalb des Grundgesetzes. Auch hält es an der zweifelhaften Terminologie der bloßen „Berücksichtigungspflicht“ fest, verwendet weiterhin die tradierte Bezeichnung der „Auslegungshilfe“ 103 und schreibt auch keine „schematische Parallelisierung“ oder Harmonisierung vor104. Dennoch ist positiv hervorzuheben, dass es sein Souveränitätsverständnis relativiert bzw. dahingehend verkehrt, dass Souveränität als Grundlage, nicht als Grenze der überstaatlichen Integration zu erachten sei. Insoweit stimmt es mit der oben vorgenommenen Deutung überein, dass staatliche Souveränität auch ein maßgebliches Konstruktionselement des internationalen Rechts ist. Ferner begründet es mit der Bezeichnung der Grundrechte als einer Ausprägung der Menschenrechte ein Ableitungsverhältnis, das auch Spielraum für eine materiellhierarchische Deutung eröffnet – mithin Anknüpfungspunkt für eine Rangverschiebung sein kann. Schließlich versucht das Verfassungsgericht, die im Görgülü-Beschluss angelegten Jurisdiktionskonflikte durch einen Dialog der europäischen Gerichte zu überformen105. Da Dialog und Diskurs eine gleichberechtigte, hierarchisch gleichgeordnete Position der Akteure voraussetzen, weicht die souveränitätsbegründete strenge Hierarchisierung und apodiktische Letztentscheidungsgewalt des BVerfG zunehmend einem prozesshaften, offenen und „herrschaftsfreien“ Diskurs. Abstrakt stärkt das BVerfG damit die normative Verbindlichkeit und Autorität des Konventionsrechts und spricht ihm im höheren Maße eine das nationale Verfassungsrecht bestimmende und prägende Kraft zu. Insofern mag es das Ende einer dekonstruktiven Hierarchiefixierung106, der Rivalität gegenüber der Straßburger Menschenrechtsprechung und des souveränitätsbedingten Antagonismus von staatlichem Grund- und überstaatlichem Menschenrechtsschutz markieren. Die im Sicherungsverwahrungsbeschluss erkennbare Europa- und Völkerrechtsfreundlichkeit, das Anklingen eines „wechselseitigen Überzeugens“ 107 der Gerichte, ist ein wichtiger Schritt zur „Europäisierung der (nationalen) Verfas-

103 So schon grundlegend in BVerfGE 74, 358 (370), seither ständige Rechtsprechung. 104 BVerfGE 128, 326 (370). 105 Der Begriff „Dialog“ erscheint, bezogen auf das Verhältnis internationaler und europäischer Gerichte, nicht ganz treffend, entsteht doch mit BVerfG, EuGH und EGMR schon ein Plurilog. Dies ergänzt sich noch durch die internationale Dimension, so dass der Begriff „Diskurs“ treffender erscheint. 106 Früh das „Oben/unten“-Schema der herkömmlichen Rechtsquellenhierarchie als wenig hilfreich kritisierend, P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 266 sowie S. 269. 107 R. Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, EuGRZ 2005, S. 202.

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sungsgerichtsbarkeit“ 108. Gleichwohl verbleibt der bereits im Grundgesetz angelegte und letztlich durch die Rechtsprechung zementierte Rang der EMRK als einfaches Gesetzesrecht als „Hypothek“ und „Geburtsfehler“ 109, die es erschweren, dass die EMRK zur „Magna Carta des europäischen Bürgers“ 110 wird. b) Rang- und Wirkungsfrage der AMRK – Control de Conventionalidad Auch die AMRK trifft keine hierarchische Geltungsanordnung. Gleichwohl weist sie aber mit Art. 1 („Obligation to Respect Rights“) und Art. 2 („Domestic Legal Effects“) einen Normbestand an vorderster Stelle auf, der die Verpflichtung weitaus deutlicher vorgibt als die EMRK. Während Art. 1 AMRK („to respect . . . and ensure“) parallel zur EMRK Respekt und Sicherung der Rechte verlangt, widmet sich Art. 2 AMRK genuin der Implementation der Konvention im innerstaatlichen Recht und kann als Rechtswirkungsnorm verstanden werden111. Dies gibt dem Gerichtshof einen positivrechtlichen Anknüpfungspunkt zur weiteren Bestimmung von Verpflichtungs- und Verbindungswirkung der AMRK. Wird also im europäischen Schutzmechanismus die Konkretisierung von nationaler Seite vorgenommen, geht diese im interamerikanischen System stärker vom Gerichtshof aus. Parallel zu den oben exemplarisch anhand der Rechtsprechung des BVerfG skizzierten Problemstellungen im europäischen Menschenrechtsschutzmechanismus werden derlei Rang-, Bindungs- und Geltungsfragen unter dem Begriff der Control de Conventionalidad diskutiert. Auch im interamerikanischen Kontext existiert eine Kontroverse über die Erosion staatlicher Souveränität, den Vorrang der Verfassung und Normkonflikte an der Schnittstelle zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht112. aa) Der Ursprung der Control de Conventionalidad Wenngleich die Entscheidung Almonacid-Arellano aus dem Jahre 2006 als Geburt der Control de Conventionalidad gilt, lassen sich ihre Ursprünge schon vor-

108

So P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 265. R. Wahl, Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht, in: S. Breitenmoser/ B. Ehrenzeller/M. Sassòli/W. Stoffel/B. Wagner Pfeiffer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 865 ff. insbesondere S. 875. 110 P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 92. 111 Dazu bereits Zweiter Teil B. II. 2. b) aa). 112 Dazu etwa E. R. Cantor, Control de convencionalidad de las leyes y derechos humanos, 2008, S. XLII ff. 109

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

her identifizieren113. Ihre Entstehung beginnt mit einem Sondervotum durch Sergio García Ramírez im Fall Myrna Mack Chang v. Guatemala im Jahre 2003, in dem erstmals der Begriff Control de Conventionalidad Erwähnung findet114. Bemerkenswert ist sodann das Sondervotum von S. G. Ramírez ein Jahr später in der Entscheidung Tibi v. Ecuador. Hier wird erstmalig eine Gleichsetzung der Aufgabe des IAGH mit jener der Verfassungsgerichte vorgenommen, folgerichtig werden die Begriffe constitutionalidad und conventionalidad in einen Zusammenhang gebracht und die Legitimität der Kontrolle auf die dieses System etablierende staatliche Souveränität zurückgeführt115. Auch in der Entscheidung López Álvarez v. Honduras findet die Control de Conventionalidad in einem Sondervotum von S. G. Ramírez Erwähnung, das die sich daraus ergebende Komplexität de jure und de facto skizziert116. Schließlich beschreibt derselbe in Vargas Areco v. Paraguay unter erneuter Betonung der Parallele zur Verfassungsgerichtsbarkeit Aufgabe und Grenzen der Konventionsgerichtsbarkeit sowie die Staatenverantwortung bei Verstößen117. Als Leitentscheidung zur Control de Conventionalidad gilt der Fall Almonacid-Arellano aus dem Jahre 2006, der maßgeblich eine Amnestiegesetzgebung zum Gegenstand hatte. In dieser führt der Gerichtshof aus: „When a State has ratified an international treaty such as the American Convention, its judges as part of the State, are also bound by such Convention. This forces them to see that all the effects of the provisions embodied in the Convention are not adversely affected by the enforcement of laws which are contrary to its purpose and that have not had any legal effects since their inception. In other words, the Judiciary must exercise a sort of ,conventionality control‘ between the domestic legal provisions which are applied to specific cases and the American Convention on Human Rights. To perform this task, the Judiciary has to take into account not only the treaty, but also the interpretation thereof made by the Inter-American Court, which is the ultimate interpreter of the American Convention118.“

Erkennbar ist eine Parallele zum europäischen Pendant und insbesondere zu den Aussagen im zeitlich nahen Görgülü-Beschluss. Zunächst wird hier die Bindungskraft auf die Judikative erstreckt und ihr der Auftrag erteilt, die Konvention 113 Dazu V. Bazán, Estimulando sinergias: de diálogos jurisdiccionales y control de convencionalidad, in: E. F. Mac-Gregor (Hrsg.), El Control Difuso de Convencionalidad, 2012, S. 15 ff. 114 IACHR, 25.11.2003, Myrna Mack Chang v. Guatemala, Serie C, No. 101, Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 27. 115 IACHR, 07.09.2004, Tibi v. Ecuador, Serie C, No. 114, Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 3. 116 IACHR, 01.02.2006, López Álvarez v. Honduras, Serie C, No. 141, Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 30. 117 IACHR, 26.09.2006, Vargas Areco v. Paraguay, Serie C, No. 155, Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 7. 118 IACHR, 26.09.2006, Almonacid-Arellano et al. v. Chile, Serie C, No. 154, Rn. 124.

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in das nationale Recht „einzupassen“. Dabei ist ihnen eine „Konventionskontrolle“ aufgegeben. Diese Rechtsfigur ähnelt im Ansatz der „Berücksichtigungspflicht“, geht aber weit darüber hinaus. So ist etwa eine begründete Abweichungsmöglichkeit der einzelstaatlichen Gerichte nicht vorgesehen. Auch wird die AMRK durch die Control de Conventionalidad nicht zu einer bloßen Auslegungshilfe degradiert, sondern erfährt eine autoritative Stärkung. Als aufschlussreich erweist sich auch das Sondervotum des Richters A. A. Cançado-Trindade zu diesem Urteil, der die Verbundenheit („interrelation“) von Art. 1 und Art. 2 AMRK hervorhebt; Respekt und Schutz der Menschenrechte nach Art. 1 AMRK sind danach durch Harmonisierung der nationalen Rechtsordnung mit der Konvention zu erreichen119. Das eine ist Mittel zum Zweck des anderen. Unter Verweis auf sein Sondervotum in der Entscheidung CaballeroDelgado konstatiert er, dass diese ihren Ursprung bereits im allgemeinen metajuristischen Grundsatz des pacta sunt servanda habe und sich eine entsprechende Verpflichtung zur Umsetzung aus dem das internationale Recht prägenden Prinzip des effet utile ergebe120. Im folgenden greift er dem Urteil Almonacid-Arellano bereits vor, indem er die Verpflichtung nicht nur auf den Staat als Völkerrechtssubjekt bezieht oder auf die Regierung beschränkt, sondern ausnahmslos alle Staatsgewalten als gebunden ansieht und in einem Unterbleiben einen Verstoß gegen den Grundsatz der Staatenverantwortlichkeit erkennt121. bb) „Brückenbildung“ zwischen den Rechtsordnungen In der Entscheidung Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et al.) v. Peru wird zunächst die auch die Justiz einschließende Bindungswirkung wiederholt und sodann den Gerichten die Pflicht auferlegt, „to ensure that the effet util of the Convention is not reduced or annulled by the application of laws contrary to its provisions, object and purpose.“ 122.

Der Judikative kommt danach im Rahmen ihrer Kompetenzen und des prozessual Zulässigen die Aufgabe zu „(to) exercise not only a control of constitutionality, but also of ,conventionality‘ ex officio between domestic norms and the American Convention“

– dies gilt auch unabhängig vom und über den Antrag des Klägers hinaus123. 119 IACHR, 26.09.2006, Almonacid-Arellano et al. v. Chile, Serie C, No. 154, Sep. Op. A. A. Cançado-Trindade Rn. 25. 120 IACHR, 29.01.1997, Caballero-Delgado u. Santana v. Colombia, Sep. Op. A. A. Cançado-Trindade Rn. 6. 121 IACHR, 29.01.1997, Caballero-Delgado u. Santana v. Colombia, Sep. Op. A. A. Cançado-Trindade Rn. 8 ff. 122 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et al.) v. Peru, Serie C, No. 158 Rn. 128. 123 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et al.) v. Peru, Serie C, No. 158 Rn. 128.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Die Äußerungen des Gerichtshofes erinnern zunächst stark an die Bindungswirkung der EMRK, etwa an ihre Teilhabe am Vorrang des Gesetzes nach Art. 20 Abs. 3 GG und an die Pflicht, die Konvention aufgrund ihres Ranges als einfaches Bundesrecht anzuwenden. Allerdings steht die „Konventionalitätskontrolle“ gleichberechtigt neben der verfassungsrechtlichen Kontrolle und hat unter Betonung des effet util-Prinzips deutlich stärkeres Gewicht als jene Kontrolle im Rahmen der EMRK. Wenngleich grundsätzlich mit der Etablierung einer Konventionskontrolle eine Schwächung der staatlichen Souveränität einhergeht, so sind mittels der Prüfungspflicht gleichsam die staatlichen Organe in das Konventionssystem eingebunden. Daraus resultiert auch eine Stärkung der staatlichen Souveränität qua Verbreiterung des Kompetenzspektrums und die Überwindung eines gegenüber dem Völkerrecht antagonistischen Souveränitätsverständnisses. Eindringlicher als die Ausführungen im Urteil selbst ist jedoch das Sondervotum von S. García Ramírez, das sich ausgiebig und allein mit der Control de Convencionalidad beschäftigt. Anhebend mit der funktionalen Äquivalenz von Verfassungsgerichten und Menschenrechtsgerichtshöfen124 sowie der ihnen obliegende Kontrollfunktion125, betont er die Notwendigkeit der Inkorporation in und den Schutz der Konvention durch die einzelnen Staaten126. Ähnlich wie im Urteil des BVerfG zur Sicherungsverwahrung erklärt er die staatliche Souveränität nicht zur Grenze, sondern zur Grundlage des regionalen Menschenrechtssystems: „(. . .) established – I insist – through the sovereign will of the States, to uphold their basic decisions, explicit in their national constitutions and, evidently, in their international treaty-based commitments.“ 127

Er erkennt eine „express and sufficient connection between the domestic system and the international system“128, die auch in zahlreichen neuen Verfassungen aufgegriffen wird. Dieser von ihm als „Brückenbildung“ bezeichnete Prozess zu Gunsten und zum Schutz des Individuums gelingt, „when a constitution grants the highest value to international human rights treaties or when it establishes that, in cases of difference or discrepancy, the norm that contains the maximum guarantees or most extensive rights for the individual will prevail.“ 129

124 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 4. 125 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 5. 126 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 8. 127 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 8. 128 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. S. García Ramírez Rn. 10. 129 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. García Ramírez Rn. 10.

al.) al.) al.) al.) al.) al.)

A. Souveränitätsverlust durch regionalen Menschenrechtsschutz?

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Ihm schwebt also eine Parallelisierung der Abweichungsnormen, wie sie etwa in Art. 29 AMRK und Art. 53 EMRK niedergelegt sind, für die nationalen Verfassungen vor, um wechselseitig das Schutzniveau abzugleichen. Aufgrund der Tendenz zu dieser „clear and categorical connection“ zwischen den Systemen und der damit verbundenen unmittelbaren Anwendbarkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes können und müssen die nationalen Gerichte eine Konventionskontrolle durchführen130. Als Konsequenz weist diese eine „diffuse nature“ 131 auf, sorgt also für eine dezentrale Anwendung des Konventionsrechts durch sämtliche Gerichte. Gerade die Einbindung der nationalen Ebene sei unerlässlich, da effektiver Menschenrechtsschutz letztlich nur auf dieser möglich sei: „(. . .) the international sphere is a contributor or a complement, but not a substitute“ 132. Ein derartiges „extensive (vertical and general) system of control“ zu etablieren – bei Anerkennung der letztverbindlichen Interpretation durch das hierfür vorgesehene Organ in Form des Gerichtshofes – hält er für eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft des interamerikanischen Menschenrechtssystems133. Auch in dem kurz darauf ergangenem Urteil La Cantuta v. Peru betont der Gerichtshof die Control de Conventionalidad aus der Perspektive der Staatenverantwortlichkeit erneut und gibt der Judikative eine „consistency control“ zwischen nationalem Recht und Konventionsrecht auf134. cc) Konventionskontrolle als Aktivverpflichtung In der Entscheidung Heliodoro Portugal v. Panama aus dem Jahre 2008 wird erneut der gewohnheitsrechtliche Grundsatz, dass Staaten ihrer internationalen Verpflichtungen durch Umsetzung im nationalen Recht nachkommen müssen, betont135, der in Art. 2 AMRK eine Positivierung erfahren hat und darüber hin-

130 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et al.) v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. García Ramírez Rn. 11. 131 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et al.) v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. García Ramírez Rn. 12. 132 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et al.) v. Peru, Serie C, No. 158 Sep. Op. García Ramírez Rn. 11. 133 IACHR, 24.11.2006, Dismissed Congressional Employees (Aguado Alfarro et al.) v. Peru Serie C, No. 158, Sep. Op. García Ramírez Rn. 13. 134 IACHR, 29.11.2006, La Cantuta v. Peru Serie C, No. 162, Rn. 173. Auch in der Entscheidung IACHR, 20.11.2007, Boyce et al. v. Barbados, Serie C, No. 169 Rn. 78 betont der Gerichtshof gegenüber dem Judicial Committee of the Privy Council, dass eine Auseinandersetzung mit der Verfassungskonformität alleine nicht ausreicht. 135 IACHR, 27.8.1998, Garrido and Baigorria v. Argentina, Serie C, No. 39, Rn. 68 sowie IACHR, 04.07.2007, Zambrano Vélez et al. v. Ecuador, Serie C No. 166, Rn. 55, und IACHR, 30.11.2007, Case of La Cantuta v. Perú, Serie C No. 173, Rn. 170.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

aus das Prinzip des effet util enthält136. Bemerkenswert ist die im Anschluss daran vorgenommene Konkretisierung der daraus folgenden Konsequenzen durch den Gerichtshof. Zum einen gibt er reaktiv auf: „the repeal of laws and practices of any kind that entail a violation of the guarantees established in the Convention, or that disregard the rights recognized therein or impede their exercise“ 137.

Zum anderen ordnet er aber auch proaktiv an: „the enactment of laws and the development of practices conducive to respect for those guarantees.“ 138

Damit vollzieht der Gerichtshof einen Quantensprung. Der Control de Conventionalidad haftet – wie grundsätzlich jeder Überprüfung – ein ex post-Charakter an. Mit der Verpflichtung, der Konvention entgegenstehende Gesetze und Praktiken nicht nur aufzuheben, sondern auch die Grundlagen zur effektiven Verwirklichung der Konventionsrechte zu schaffen, weitet der Gerichtshof die „Konventionskontrolle“ aber deutlich aus. Sie reicht sowohl weit über eine einfache gesetzliche Bindung als auch über die Praxis des EGMR, konkrete Maßnahmen zur Wiederherstellung der Konventionskonformität anzuordnen, hinaus. Eine solche „Aktivverpflichtung“ korreliert zwangsläufig mit einer signifikanten Beschränkung staatlicher Souveränität. Legislative und Exekutive unterliegen in ihrem Handeln nicht mehr nur der Bindung an Verfassung und nationale Gesetze, sondern sind gehalten, aktiv zur Konventionsumsetzung beizutragen und werden diesbezüglich in die Pflicht genommen. Die Konventionskontrolle wirkt auf diese Weise gewissermaßen wie ein Staatsstrukturprinzip: Sie verpflichtet die Staatsorgane, bei ihrer Tätigkeit objektiv auf die Verwirklichung und Entfaltung der Konvention hinzuwirken. Mit dieser an die Vertragsstaaten adressierten, janusköpfigen Pflicht, retrospektiv und prospektiv die Konventionskonformität nach Kräften anzustreben und ihr Handeln danach auszurichten, geht eine Einhegung staatlicher Souveränität einher, die weit über das im europäischen Konventionssystem erkennbare Maß hinausreicht. dd) Konkrete Auswirkungen, Bestätigung und Investitur der Control de Conventionalidad Die Entscheidung Radilla-Pacheco v. México aus dem Jahre 2009, in der es um das „Verschwindenlassen“ ging, zeigt die Auswirkungen der Control de Conventionalidad. In ihr erkennt der Gerichtshof an, dass eine Konventionskontrolle durch mexikanische Gerichte tatsächlich durchgeführt worden ist139. Zugleich ist 136 137 138

IACHR, 12.08.2008, Heliodoro Portugal v. Panama, Serie C, No. 186, Rn. 179. IACHR, 12.08.2008, Heliodoro Portugal v. Panama, Serie C, No. 186, Rn. 180. IACHR, 12.08.2008, Heliodoro Portugal v. Panama, Serie C, No. 186, Rn. 180.

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die Entscheidung aber Ursprung eines weitreichenden verfassungsrechtlichen Reformprojekts140. Die daraufhin im Juni 2011 verabschiedete Verfassungsreform in Mexiko141 öffnete die mexikanische Verfassung gegenüber dem internationalen (Menschen)Recht und akzeptierte die Control de Conventionalidad 142. Es folgten weitere höchstrichterliche Entscheidungen, die diese Entwicklung bestätigten und forcierten. Die Anerkennung des durch den Gerichtshof sukzessive entwickelten Gebots der Konventionskontrolle zeigt sich deutlich in der Entscheidung García y Montiel Flores v. Mexico. Der Gerichtshof führt hier zur Legitimation der Figur Urteile des Supreme Courts von Costa Rica, des Verfassungsgerichts von Bolivien, des Supreme Courts der Dominikanischen Republik, des Verfassungstribunals von Peru, des Said Tribunals, des Supreme Courts von Argentinien und des Verfassungsgerichts von Kolumbien an143. In dem kurz darauf gefassten Urteil Gelman v. Uruguay kulminiert die Entwicklung der Konventionskontrolle insofern, als der Gerichtshof feststellt, dass die durch die Konventionskontrolle geschützten Menschenrechte selbst das Mehrheitsprinzip und die demokratische Selbstbestimmung begrenzen144. Damit erhält dieses Prinzip zusätzliche Autorität und führt zu einer weitreichenden Begrenzung staatlicher Autonomie, wird zum Primat selbst gegenüber der Volkssouveränität. ee) Fazit zur Control de Conventionalidad Betrachtet man die Entwicklung der Konventionskontrolle von ihren Anfängen in Sondervoten über die explizite Formulierung durch den Gerichtshof, die nach139 „The Tribunal observes that the conventionality control has already been exercised in the domestic judicial realm in Mexico. CF. Direct Administrative Appeal of Relief 1060/2008, First Collegiate Court in Administrative and Labor Matters of the Eleventh Circuit, judgment of July 2, 2009. That decision established that: „the local courts of the State of Mexico shall not limit themselves to the mere application of local laws but they are also compelled to apply the Constitution, international treaties or conventions, and the jurisprudence issued by the Inter-American Court of Human Rights, among other bodies, which forces them to exercise a control of conventionality among domestic regulations and supranational ones, as was considered by the First Chamber of the Supreme Court of Justice of the Nation [. . .].“, vgl. IACHR, 23.11.2009, Radilla-Pacheco v. Mexico, Serie C, Nr. 209, Rn. 339, Fn. 321. 140 Eine historische Einrahmung sowie zahlreiche Implikationen dieser Entscheidung auf die mexikanische Justiz finden sich bei J. D. H. Murillo, Juez de control y control de derechos humanos, 2012. 141 Problematisch war primär Art. 133 a. F. der mexikanischen Verfassung, der apodiktisch die Verfassung zum höchsten Gesetz erklärte. 142 Den weitreichenden Auswirkungen des Falles widmet sich auch der Tagungsband von E. F. Mac-Gregor (Hrsg.), El control difuso de conventionalidad, 2012. 143 IACHR, 26.11.2010, Cabrera García and Montiel Flores v. Mexico, Serie C, Nr. 220, Rn. 225 ff. 144 IACHR, 24.2.2011, Gelman v. Uruguay, Serie C, Nr. 221, Rn. 239.

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folgende Begründung ihrer Natur und ihre Ausdifferenzierung bis hin zur Bindung aller staatlichen Gewalt und schließlich selbst der Begrenzung demokratischer Selbstbestimmung, so lässt sich dies als Prozess sukzessiver Beschränkung souveräner Staatlichkeit begreifen. Insofern ist mit dieser Rechtsfigur ein „extensiv vertikales und horizontales Konventionssicherungssystem“, das alle Gewalten einbindet und diese auf die Konvention ausrichtet, im Entstehen begriffen145. Die weitere Durchsetzung und Fortentwicklung einer so verstandenen conventional control verbleibt aber, wie S. García Ramírez treffend bemerkt hat, als die wichtigste zukünftige Aufgabe innerhalb des interamerikanischen Menschenrechtssystems.

III. Resümee: Lösungsansätze des Souveränitätskonflikts im regionalen Menschenrechtsschutz 1. Souveränitätserosion und Souveränitätstransformation Die vorstehende Untersuchung hat gezeigt, dass staatliche Souveränität mit demokratischem Gehalt aufgeladen und zuweilen mit außer- und überstaatlichen Rechtsregimen in Konflikt gesetzt wird146. Auf diese Weise ist Souveränität in der Vergangenheit immer wieder zur Begrenzung des regionalen Menschenrechtsschutzes instrumentalisiert worden. Zugleich bildet Souveränität aber dessen unverzichtbare Grundlage. Aufgrund dieses Befundes ist es zur Vermeidung zukünftiger Rechtsprechungskonflikte notwendig, dass sich das Souveränitätsverständnis wandelt. Ein neues Phänomen bei dieser Transformation des Souveränitätverständnisses ist zunächst die Autorenschaft. Die Neubestimmung der Souveränität erfolgt erstmals substanziell durch die Judikative. Exemplarisch für dieses judikative Ringen um die Vermessung von Souveränität ist der aufgezeigte Rechtsprechungskonflikt des Bundesverfassungsgerichtes und des EGMR147. Hintergrund solcher Jurisdiktionskonflikte bilden konkurrierende Begleitnarrationen. So steht etwa die Narration, zur europäischen Einigung durch die Wahrung der Menschenrechte beizu145 Einen Überblick über die Auswirkungen gibt G. P. Pulido, Control de convencionalidad en aplicatión de los tratados internacionales respecto a los derechos humanos, 2011. 146 Eindringliches Beispiel bilden etwa die Forderungen im britischen Parlament, die EMRK zu kündigen, nachdem der EGMR den Ausschluss britischer Häftlinge von der Wahl als Verletztung des Art. 3 des ersten Zusatzprotokolls qualifiziert hatte, ECHR, 23.11.2010, Greens v. United Kingdom, No. 600041/08 und 60054/08. In diesem Zusammenhang kam auch die Frage auf, ob ein „democratic override“ der EMRK durch die nationalen Parlamente zulässig ist, A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2012, § 1 S. 2. 147 Gleiches gilt im Übrigen auch für das Europarecht im engeren Sinne. Auch hier liegt die Autorenschaft letztlich bei der Judikative in Gestalt von BVerfG und EuGH.

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tragen, wie es in der Präambel der EMRK heißt, der Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes gegenüber, das zudem vom BVerfG autoritativ als eine „objektive Werteordnung“ 148 qualifiziert wird. Beispielhaft ist auch die traditionsreiche sovereignty of parliament im Vereinigten Königreich, mittels derer vereinzelt ein democratic override der EMRK zu rechtfertigen versucht wird149 und die sich ihrerseits durch die Rechtsprechung des EGMR herausgefordert sieht150. Das Spezifikum dieser judikativen Autorenschaft liegt insbesondere darin, dass die Souveränitätsveränderungen ohne formelle Übertragung von Hoheitsrechten, ohne konkreten Integrationsakt, ohne gouvernementale Steuerung erfolgen, sondern aus den Wechselwirkungen staatlicher und überstaatlicher Rechtsprechung hervorgehen. Die inhaltliche Transformation des Souveränitätsverständnisses lässt sich beispielhaft in der Rechtsprechung des BVerfG ablesen. In dem bereits zitierten Beschluss des BVerfG zur Sicherungsverwahrung wird der Souveränitätsverzicht gewissermaßen zum höchsten und deutlichsten Akt staatlicher Souveränität erklärt. Souveränität ist danach nicht mehr die Grenze, sondern vielmehr die Grundlage zur Einbindung in internationale Zusammenhänge. Völkerrechtliche Bindung und Gebundenheit werden nicht länger als Gegensatz zur Souveränität, sondern als deren Ausdruck verstanden151. Das entspricht einer Betonung der skizzierten externen Souveränität, die ein entscheidendes Konstruktionselement des internationalen Rechts bildet. Mit dieser ist aber zwangsweise eine Veränderung der internen Souveränität verkoppelt. Mag der willentliche staatliche Akt des Souveränitätsverzichts in Gestalt der Ratifikation bzw. Unterwerfungserklärung noch als Inbegriff staatlicher Souveränität verstanden werden, entwickelt sich daran anknüpfend durch die sukzessive und expansive Rechtsprechungstätigkeit der Konventionsorgane eine Souveränitätserosion. Wenngleich dadurch die Institutionen des regionalen Menschenrechtsschutzes regelrecht Souveränität im Sinne von Letztverbindlichkeit gewinnen, sind diese Erosionswirkungen – ungeachtet des bedeutenden Einflusses des Konventionsrechts auf die nationalen 148

BVerfGE 7, 198 (205). Mit einem democratic override ist gemeint, dass eine erneute Beschäftigung des parlamentarischen Gesetzgebers im Anschluss an eine Verurteilung durch den EGMR mit der Materie der res judicata dazu führen kann, dass die bisherige Rechtslage zulässigerweise beibehalten werden darf. Dazu M. Breuer, Demokratieprinzip versus Rechtsstaatsprinzip? UK strebt nach „democratic override“ des EGMR. VerfBlog, 2014/7/21, http://www.verfassungsblog.de/demokratieprinzip-versus-rechtsstaatsprinzip-uk-plantdemocratic-override-des-egmr/, zuletzt abgerufen am 25.03.2015. 150 Im Vereinigten Königreich hat sich diese Konkurrenz der Begleitnarrationen regelrecht zu einem Narrationskonflikt verschärft wie der geführte Diskurs über das Verlassen des EMRK-Systems eindeutig belegt. 151 Zur Zweideutigkeit bzw. zum Trugschluss des Souveränitätsverständnisses bereits, H. Kelsen, Die Einheit von Völkerrecht und staatlichem Recht, 1958, abrufbar unter: http://www.zaoerv.de/19_1958/19_1958_1_3_a_234_248.pdf, zuletzt abgerufen am 7.6.2013. 149

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Rechtsordnungen – nicht derart umfassend oder tiefgreifend, dass Souveränität insgesamt aufzugeben wäre. Anders als durch das suprastaatliche Integrationsgebilde der EU werden Herrschaftsbefugnisse durch regionalen Menschenrechtsschutz nicht geteilt und in anderer Form wieder verschmolzen152. Es werden keine ganzen Kompetenzbereiche verlagert – eine kompetenzielle Atomisierung und Entleerung durch regionalen Menschenrechtsschutz ist schlichtweg ausgeschlossen. Die Konventionssysteme erlassen schließlich auch keine in die Staaten hineinwirkenden Hoheitsakte mit unmittelbarer Geltungsanordnung. Vielmehr kommt es lediglich zu menschenrechtsspezifischen Korrekturen. Diese Modifikationserscheinungen rühren daher nicht am Identitätskern von Staatlichkeit und Souveränität. Die letztlich marginalen Veränderungen erweisen sich angesichts der skizzierten Elastizität der Souveränität als integrierbar153, da es bis zur drohenden Zersplitterung des mit Souveränität bezeichneten Gegenstandes noch ein weiter Weg ist154. Regionaler Menschenrechtsschutz bedingt also nicht die Aufgabe oder den Verlust von Souveränität, sondern lediglich punktuellen Verzicht155 und partielle Erosion. 2. Vertikalisierung der „praktischen Konkordanz“ Mit dem Befund bloßer partieller Erosionserscheinungen, die staatliche Souveränität weitestgehend bestehen lassen, ist jedoch zugleich der Grund für weitere Norm- und Jurisdiktionskonflikte bereitet. Das in der Rechtsprechung des BVerfG beispielhaft zum Ausdruck kommende, gewandelte primär externe und völkerrechtsfreundliche Souveränitätsverständnis überwindet zwar abstrakt den Antagonimus zwischen Völkerrecht und staatlicher Souveränität, doch bleibt fraglich, wie dadurch konkrete Normkollisionen und Rechtsprechungskonflikte, die durch die sich stetig weiter ausdifferenzierende Materie des regionalen Menschenrechtsschutzes vorprogrammiert sind, vermieden werden können. Im nationalen Verfassungsrecht werden Normkollisionen aufgrund der Einheit der Verfassung durch „praktische Konkordanz“ aufgelöst156. Dieser Ansatz kann auch für den Konflikt zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht fruchtbar

152

Vgl. dazu W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 40. Beginnend mit der internen Zersetzung im Zuge des Verfassungsstaates durch Grundrechte, Gewaltenteilung und föderale Elemente, ist extern eine Relativierung durch völkerrechtlichen Einfluss hinzugetreten durch EU, Europarat, UN und WTO. 154 Dazu auch S. Oeter, Souveränität – ein überholtes Konzept?, in: H.-J. Cremer/ T. Giegerich/D. Richter/A. Zimmermann (Hrsg.), Tradition und Weltoffenheit des Rechts, Festschrift für Helmut Steinberger, 2002, S. 259 ff. 155 So auch M. Kotzur, Deutschland und die internationalen Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz, JöR 59 (2011), S. 390. 156 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 72 und 317 ff. 153

A. Souveränitätsverlust durch regionalen Menschenrechtsschutz?

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gemacht werden157: Beide Sphären – nationales Recht und Völkerrecht – sind wie dargestellt nicht getrennt-unabhängig voneinander, sondern interdependent. Gegenseitige Rücksichtnahme und Achtung sowie ein dialogischer Prozess zum Schutz des Menschen werden diesem Verhältnis am ehesten gerecht. Parallel zur Einheit der Verfassung lässt sich aus der einheitlichen Aufgabe des Menschenrechtsschutzes eine vertikale praktische Konkordanz158 folgern. Die Normkollisionen bzw. Interpretationskonflikte werden also durch eine simultane Optimierung aufgelöst: In Anlehnung an K. Hesse müssen menschenrechtliche Konventionsgarantien und verfassungsrechtliche Grundrechte so zugeordnet werden, dass jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt. Beide Rechtspositionen müssen begrenzt werden, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können. Vermag eine solche „vertikale“ praktische Konkordanz im Einzelfall bestehende Vorrangund Letztentscheidungsfragen nicht aufzulösen159, so hilft sie doch, die „vertikalen“ Spannungen zwischen nationalem Recht und Konventionsrecht zu relativieren, indem sie keine prinzipielle Antwort vorgibt. Konkrete Ausprägung dieser vertikalen praktischen Konkordanz ist es, dass menschenrechtliche Garantien „im Rahmen eines aktiven (Rezeptions)vorgangs in den Kontext der aufnehmenden Verfassungsordnung ,umgedacht‘ werden“ 160 und eine entsprechende Auslegung161 hergestellt wird. In praxi wird dazu die Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode anzuwenden sein und die aktuelle und potentielle europäische bzw. interamerikanische Dimension bei jeder nationalen verfassungsrechtlichen Frage von vornherein mitbedacht werden müssen162. 3. Die Entstehung von Infrakonventionalität und Suprakonstitutionalität Die AMRK hat mit Art. 1 und 2 sowie einer daran anschließenden Rechtsprechung zumindest in theoretischer Hinsicht einen vorzugswürdigen und überlegenen Weg aufgezeigt: Staatlichkeit und Souveränität werden unmittelbar in die Pflicht genommen, so dass der Anschein, sie sollten aufgegeben oder überwun157 Zur „praktischen Konkordanz“ in Mehrebenensystemen auch M. Kotzur, Deutschland und die internationalen Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz, JöR 59 (2011), S. 394. 158 Grundlegend für das Verfassungsrecht K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, Rn. 72. 159 M. Kotzur, Deutschland und die internationalen Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz, JöR 59 (2011), S. 397. 160 BVerfGE 128, 326 (371) mit Verweis auf P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 255 f. 161 Dazu M. Payandeh, Konventionswidrige Gesetze vor deutschen Gerichten, DÖV 2011, S. 386 f. 162 So bzgl. Europa P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 267.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

den werden, erst gar nicht aufkeimen konnte. Auch dem Vorwurf, in der konventionsrechtlichen Rechtsprechung komme eine Geringschätzung der Entscheidungen des unmittelbar demokratisch legitimierten Gesetzgebers zum Ausdruck, wird somit vorgebeugt. Auf diese Weise lassen sich „Synergien stimulieren“ und nutzen163. Die Staaten erhalten einen eindeutigen Auftrag, ihre Rechtsordnung mit dem Konventionsrecht in Einklang zu bringen, sie mit dem Konventionsrecht zu „harmonisieren“. Der Gerichtshof verfügt über eine breitere, positivrechtliche Basis, die Einhaltung der Verpflichtung zu überwachen. Mit der allen aufgegebenen Konventionskontrolle ebnet das interamerikanische Schutzsystem den Weg zu Inklusion von staatlicher Souveränität und Synergie und vermeidet dadurch Exklusion und Konfrontation. Es versteht, die nationalen Gerichte und Gewalten zu integrieren, die so zum Gelingen eines überstaatlichen Menschenrechtsschutzes beitragen. Für die Konventionskontrolle hat der Gerichtshof mit den Prinzipien pacta sunt servanda, bona fide und des effet utile sowie dem Grundsatz, dass eine Berufung auf innerstaatliches Recht nicht die Nichterfüllung eines Vertrages rechtfertigen kann, ebenso einfache wie überzeugende Gründe dargelegt, die auch positivrechtlichen Rückhalt in Art. 26, 27 und 31 Abs. 1 der WVK finden. Pro futuro sollte deshalb die gelungene Rechtsschöpfung der interamerikanischen „Konventionskontrolle“ 164 im europäischen Rechtsraum rezipiert werden. Ziel und Ergebnis eines dialogischen Verständnisses ist eine „relación de parificacíon ordinamental“ 165, ein Hybrid aus vertikalen und horizontalen, also verfassungsrechtlichen und konventionsrechtlichen Vorgaben. Durch ein derartiges dialogisches Verständnis kann es zu einer „fertilizacion cruzada“ 166 kommen. Konventionsrecht wird „konkretisiertes Verfassungsrecht“ und Verfassungsrecht konkretisiertes Konventionsrecht. Konsequenz einer solchen Konventionskontrolle wäre eine Art Infrakonventionalität, weil sämtliche nationale Gewalten unmittelbar an der Durchsetzung der Konvention aktiv teilhätten. Solange sich diese Infrakonventionalität noch nicht einstellt und weiter Rechtsprechungskonflikte an der Grenze zwischen nationalem und regionalem Recht 163 V. Bazán, Estimulando sinergias: de diálogos jurisdiccionales y control de convencionalidad, in: E. F. Mac-Gregor (Hrsg.), El control difuso de convencionalidad, 2012, S. 11. 164 Zur Differenzierung zwischen „conventional control“, „constitutional control“ und „compatibility control“ W. F. Carnota, La Diferenciacion entre control de constitucionalidad, control de convencionalidad y control de compatibilidad, in: Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional, 2011, S. 51 ff. 165 M.w. N. V. Bazán, Estimulando sinergias: de diálogos jurisdiccionales y control de convencionalidad, in: E. F. Mac-Gregor (Hrsg.), El control difuso de convencionalidad, 2012, S. 23. 166 V. Bazán, Estimulando sinergias: de diálogos jurisdiccionales y control de convencionalidad, in: E. F. Mac-Gregor (Hrsg.), El control difuso de convencionalidad, 2012, S. 24.

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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auftreten, mag die Erkenntnis tröstlich sein, dass in dem regional-überstaatlichen Schutzmechanismus des Einzelnen – schon prozessual durch das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung bedingt – die Letztentscheidungskompetenz liegt, über Souveränitätsfragen zu urteilen. Insofern mag man sie schon jetzt als suprakonstitutional167 beschreiben. Damit haftet den regionalen Menschenrechtsgerichtshöfen eben jenes Attribut der Letztinstanzlichkeit168 an, die dem Begriff der Souveränität ursprünglich eigen ist.

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes? Paradigmatische Veränderungen eines Gegenstandes verlangen nach einer diese erfassenden Begrifflichkeit. So hat der rechtswissenschaftliche Diskurs unter dem Begriff der „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ 169 folgende Phänomene zusammengefasst: Einerseits die Durchdringung des einst allein kooperativen Völkerrechts mit den Staatswillen subordinierenden „materiellen“ Elementen wie Menschenrechten und der rule of law, andererseits die Reproduktion verfassungsstaatlicher Strukturmerkmale auf überstaatlicher Ebene. Auch die beiden Konventionssysteme – EMRK wie AMRK – befinden sich nach verbreiteter Auffassung in einem solchen „Konstitutionalisierungsprozess“, werden gewissermaßen als exemplarisch für diese allgemeine Entwicklung angesehen. Hinter diesem Beschreibungsversuch verbirgt sich aber neben dem deskriptiven Gehalt auch der normative Anspruch, den regionalen Menschenrechtsschutz aufzuwerten und ihm mehr Autorität zukommen zu lassen. Nachfolgend soll deshalb kritisch untersucht werden, ob die Wandlungsprozesse, denen die genannten Konventionen unterliegen, zutreffend mit dem Begriff der „Konstitutionalisierung“ beschrieben sind. Für eine solche Analyse ist es unerlässlich, einen kursorischen Überblick zu den Kernfunktionen von Verfassungen und zum 167 N. P. Sagüés, El control de conventionalidad como instrumento para la elaboración del ius commune interamericano, in: Juridicas UNAM México D.F., S. 457. 168 Dazu etwa M. M. Pastor, La Corte Interamericana intérprete última de la Convencíon Americana, in: S. Albanese (Hrsg.), El control de Convencionalidad, 2008, S. 163 ff. 169 Dazu T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012. J. Klabbers/A. Peters/G. Ulfstein, The Constitutionalization of International Law, 2. Aufl. 2011. B. Fassbender/A. Siehr (Hrsg.), Suprastaatliche Konstitutionalisierung: Perspektiven auf die Legitimität, Kohärenz und Effektivität des Völkerrechts, 2012. Der konstitutionelle Deutungsansatz in der Völkerrechtslehre ist dabei keinesfalls homogen und lässt sich in verschiedene Strömungen unterteilen. Vgl. dazu etwa O. Diggelmann/T. Altwicker, Is There Something Like a Constitution of International Law?, ZaöRV 68 (2008), S. 623 ff., die zwischen „Semantic Strategy“, „Correspondance Strategy“ und „Ethicalpragmatic Strategy“ unterscheiden. Jüngst zu diesem Themenkomplex A. Tschentscher und H. Krieger, Verfassung im Völkerrecht: Konstitutionelle Elemente jenseits des Staates? VVDStRL 75 (2016), S. 407 ff. bzw. 439 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Konstitutionalisierungsprozess des Völkerrechts zu geben, um auf dieser Grundlage identifzieren zu können, ob sich die beiden Konventionssysteme tatsächlich konstitutionalisieren, ob sie überhaupt einer „Verfassung“ bedürfen und welche Bedeutung ihnen im „Konstitutionalisierungsprozess des Völkerrechts“ zukommt.

I. Einführung zum Konstitutionalisierungsgedanken 1. Der Verfassungsbegriff Wenngleich die Ideengeschichte der Verfassung bereits in der Philosophie des Aristoteles170 ihren Ausgang nimmt und der Begriff „constitutio“ Ciceros De re publica zugeschrieben wird171, beginnt das moderne Verfassungsrecht erst im Zeitalter der nordamerikanischen und französischen Revolutionen172. Seither gehen die Freiheit des Einzelnen, gesichert durch grundrechtliche Garantien, und das organisatorische Substrat eine Symbiose ein. Begrenzung der Herrschaftsgewalt und Begründung der Freiheitsordnung bilden seit Ende des 18. Jahrhunderts unzertrennliche Verfassungsgehalte. Der gesamte Aufbau der Herrschaftsordnung wird damit zum Ausdruck des Freiheitsgedankens, instrument of government und bill of rights werden nunmehr aufeinander bezogen173 und idealiter in einem Dokument, einer formellen Verfassung niedergelegt. Wenngleich das Verfassungsverständnis über diese Grundelemente hinaus variiert174, besteht Konsens über einen Kernbestand an Funktionen und Wesensmerkmalen, die sich indes nicht trennscharf voneinander scheiden lassen. 170 Aristoteles meint mit Verfassung allerdings noch „Staatsform“ und unterscheidet in Aristokratie, Königsherrschaft und Politie und als jeweilige Unterordnungen davon Oligarchie, Tyrannis und Demokratie, so H. Mohnhaupt, Verfassung I – Konstitution, Status, Leges fundamentales von der Antike bis zur Aufklärung, in: H. Mohnhaupt/ D. Grimm (Hrsg.), Verfassung – Zur Geschichte des Begriffs von der Antike bis zur Gegenwart, 1995, S. 1 ff. 171 M. T. Cicero, De re publica, Buch I, Kapitel 41 und insbesondere 69. 172 Siehe dazu Erster Teil B. II. Der antike Verfassungsbegriff war primär deskriptiv geprägt, der moderne Verfassungsbegriff hingegen normativ. 173 So W. Hertel, Die Normativität der Staatsverfassung und einer Europäischen Verfassung, JöR 48 (2000), S. 244; ders., Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 36. 174 Exemplarisch sei auf fruchtbare Verfassungsdefinitionen aus der deutschsprachigen Staatsrechtslehre vor und nach verfassungsrechtlichen Umbruchssituation verwiesen: Nach dem dezisionistischen Verfassungsverständnis C. Schmitts handelt es sich um eine „Gesamtentscheidung über Art und Form der politischen Einheit“, C. Schmitt, Verfassungslehre, 10. Auflage 2010, S. 42. R. Smend stellt diesem ein Verständnis gegenüber, nachdem die Verfassung die Lebenswirklichkeit des Staates determiniert, zugleich „Anregung und Schranke“ ist. H. Heller definiert Verfassung durch Differenzierung in politisch-reale Machtverhältnisse und verrechtlichte, „verfasste“ Macht. H. Kelsen schließlich entwirft einen formalen Verfassungsbegriff. Sodann sind im Zusammenhang mit der Entstehung und Erfolgsgeschichte des Grundgesetzes verschiedene Verfassungsbegriffe und Verfassungstheorien entstanden, die vielfach wirkmächtige Rezeption

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Zentrale Aufgabe einer modernen Verfassung ist die Ordnung des politischen Systems. Die Verfassung verändert nicht bloß dessen Modalität, sondern begründet, konstituiert eine vom Volk ausgehende und deshalb demokratisch-legitime Herrschaftsgewalt. Diese neu begründete Gewalt ist sodann zu ordnen und zu organisieren. Dieser Organisations- und Ordnungsfunktion wird die Verfassung gerecht, indem sie axiomatische Entscheidungen zur Ausübung der neu eingerichteten (staatlichen) Hoheitsgewalt trifft. In ihr finden sich die (staatlichen) Organe normiert, Kompetenzen verteilt und Verfahrensweisen bestimmt, in denen (staatliche) Macht und politische Willensbildung ausgeübt werden. Sie statuiert damit jenen verfassungsmäßigen Rahmen, der den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers definiert und der alle nachfolgenden Ausgestaltungen legitimiert, initiiert und determiniert. Gleichwohl ist mit dieser Festlegung kein geschlossenes System etabliert, sondern eine durch Offenheit und Weite175 charakterisierte Ordnung. Diese Ordnungs- und Organisationsfunktion leistet bereits eine erste „Rationalisierung von Macht“. Sie wird ergänzt bzw. konkretisiert, indem die Verfassung die konstituierten Gewalten trennt und hemmt176. Zuvorderst erfolgt diese Begrenzung durch die horizontale Teilung nach den Hauptfunktionen Legislative, Exekutive und Judikative, gegebenenfalls ergänzt um die vertikale Gewaltenteilung durch föderale Elemente. Hinzu tritt die temporale Beschränkung der Macht als eine Art Gewaltenteilung „in der Zeit“. Schließlich lässt sich auch eine räumliche Gewaltenteilung ausmachen, durch welche die Macht (auch) geographisch dezentralisiert wird177. erfahren haben. Dazu zählen etwa K. Hesses „Verfassung als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 1 Rn.17, H. Ehmkes Verständnis der „Verfassung als Beschränkung und Rationalisierung der Macht und als Gewährleistung eines freien politischen Lebensprozesses“, ders., Prinzipien der Verfassungsinterpretation, in: VVDStRL 20 (1963), S. 61 ff., U. Scheuners „Verfassung als Norm und Aufgabe“ sowie A. Hollerbachs Auffassung, nach der die Verfassung grundlegender „Strukturplan für die Rechtsgestalt eines Gemeinwesens“ ist. Weiterhin wirkungsvoll ist das betont geschichtliche Verständnis der Verfassung R. Bäumlins als eines stabilisierenden, stets der Aktualisierung bedürftigen Verhaltensentwurfes unter der Idee des „Richtigen“, ders., Staat, Recht und Geschichte 1961, S. 17 und 24, W. Kägis, Theorie der „Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates“, ders., Die rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 40 ff. sowie P. Häberles Auffassung, nach der Verfassung auch ein öffentlicher Prozess ist, ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, und der Verfassung als und aus Kultur begreift, ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998, was ihr zusätzliche Legitimität und normative Kraft verleiht. 175 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 1 Rn. 19 f. 176 Vgl. K. Stern, Staatsrecht Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 3 S. 93. 177 Beispielhaft sei auf nationaler Ebene die Ansiedelung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofes in Karlruhe und die dadurch erreichte räumliche Trennung von Bundestag und Bundesrat in Berlin bzw. vormals Bonn genannt. Gleiches gilt für die „europäischen Hauptstädte“. So befindet sich der Europäische Gerichtshof

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Neben der Gewaltenteilung bzw. Gewaltengliederung178 erfüllt die Verfassung die Begrenzungs- und Sicherungsfunktion komplementär durch Gewährung der Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums in Form von Grundrechten179. Diese subjektiven persönlichen und politischen Rechte des Menschen dienen primär dem „Schutz des Bürgers vor dem Missbrauch staatlicher Gewalt“ 180. Sekundär gewähren sie aber auch Teilhabe an der Konstituierung von Hoheitsgewalt, etwa durch das Wahlrecht und das Recht auf Zugang zu staatlichen Ämtern. Dadurch ist das Individuum nicht mehr Objekt der Politik, sondern wird zu deren Subjekt181. Ein weiteres Wesensmerkmal der Verfassung ist, dass sie auf Dauer und Unverbrüchlichkeit gerichtet ist. Durch relative Konstanz schafft sie eine stabilisierende Wirkung, die das Leben des Gemeinwesens vor der Auflösung in ständigen, unübersehbaren und nicht mehr zu bewältigenden Wechseln zu bewahren vermag182. Ausdruck dessen ist ihre erschwerte Änderbarkeit183. Zur Erreichung dieser Dauerhaftigkeit muss eine Verfassung zugleich Momente der „Starrheit“ und der „Beweglichkeit“ aufweisen, andernfalls ginge die Entwicklung über die rechtliche Normierung hinweg184. Die Verfassung erschöpft sich allerdings nicht in ihrer Funktion als herrschaftsbegründendes und -begrenzendes, stabilitätsvermittelndes Organisationsstatut, sondern wirkt auch integrierend185. Um all diese Funktionen erfüllen zu können, ist schließlich ihre Vorrangig- und normative Höchstrangigkeit conditio sine qua non. Da Recht auf Recht angewendet wird und die Verfassung allen anderen Normen ihre Erzeugungsregeln vorgeben soll, sie also zum übergeordneten Geltungsmaßstab einer Rechtsordnung wird186, benötigt sie zur Entfal-

in Luxemburg, das Parlament aber in Brüssel und Straßburg. Auf der internationalen Ebene ist der Hauptsitz der Vereinten Nationen in New York, während der Internationale Gerichtshof in Den Haag angesiedelt ist. 178 C. Möllers, Gewaltengliederung, Legitimation und Dogmatik im nationalen und internationalen Rechtsvergleich, 2005. 179 So K. Stern, Staatsrecht Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 3, S. 94. 180 C. Schmitt, Verfassungslehre, 10. Aufl. 2010, S. 126. 181 Vgl. K. Stern, Staatsrecht Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 3, S. 95. 182 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 1 Rn. 37. 183 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 1 Rn. 38. 184 K. Hesse, Grundzüge des Verfassunsgrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 1 Rn. 37. 185 R. Smend hat diese zentrale Funktion der Verfassung in seiner Schrift „Verfassung und Verfassungsrecht“ im Jahre 1928 herausgearbeitet. Smend differenziert dabei zwischen persönlicher, funktioneller und sachlicher Integration. 186 Vgl. J. Isensee, Staat und Verfassung, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 2. Aufl. 1995, § 13 Rn. 136.

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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tung dieser Wirkmächtigkeit Vorrang – dieser gehört denknotwendig zur Verfassung187. Sie ist stets paramount law188, weil sie sich unmittelbar vom pouvoir constituant ableitet. Im Ergebnis sind für eine Verfassung also Begründungs-, Legitimations-, Organisations- und Begrenzungsfunktion von Hoheitsgewalt sowie der Charakter der Höchstrangigkeit konstitutiv; sie wirkt aber auch integrativ und stabilisiert das dadurch geschaffene Gemeinwesen189. 2. Projektion auf das Völkerrecht Der Siegeszug des Konstitutionalismus, der im ausgehenden 18. Jahrhundert seinen Ausgang nahm und im 20. Jahrhundert seinen endgültigen Durchbruch erlangte190, ist nicht auf das nationale Recht begrenzt geblieben, sondern hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch das internationale Recht erfasst191. Sicherte das Völkerrecht einst lediglich (staatliche) Koexistenz ab, veränderte es sich nach 1945 zunächst durch Horizontalisierung, Vertikalisierung und zunehmende Interdependenzen in ein organisierendes Recht der Kooperation. Die sich an diesen „Strukturwandel des internationalen Rechts“ 192 anschließenden qualitativen Veränderungen werden etwa seit dem Ende des Kalten Krieges vermehrt als „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ 193 bezeichnet. Wichtigste Elemente dieser Entwicklung sind dabei die Verselbständigung bzw. Objektivierung des internationalen Rechts zur Begrenzung der Willensmacht einzelner Staaten und die Hierachisierung des Völkerrechts194. Deutlichstes Abbild dieses Prozesses gibt das supranationale Europarecht, das aber früh eine solche Ausdifferenziertheit und Dichte erlangt hat, dass es eine vom Völkerrecht gelöste Rechtsmaterie sui

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D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, 2012 S. 24. Vgl. dazu Erster Teil. 189 K. Stern, Staatsrecht Bd. I, 2. Aufl. 1984, § 3, S. 82 ff. Zu den einzelnen Verfassungsfunktionen auch D. Grimm, Ursprung und Wandel der Verfassung, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2003, § 1, S. 13 ff. 190 Vgl. B. Ackermann, The Rise of World Constitutionalism, Virgina Law Review 83 (1997), S. 771 ff. 191 Diese Entwicklung kann aufgrund von Mythenfeindlichkeit, Kosmopolitismus, Abkehr von Willkür und der Aspiration nach einem geschlossenen Rechtssystem als Fortsetzung der Aufklärung begriffen werden. So m.w. N. U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht? AöR 128 (2003), S. 521. Zur Erfassung des überstaatlichen Rechts durch Konstitutionalisierung auch M. Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht – Konvergenz oder Divergenz?, ZaöRV 68 (2008), S. 453 ff. 192 Grundlegend W. Friedmann, The Changing Structure of International Law, 1964. Zeitgleich in „relational society“ und „institutional society“ differenzierend, R.-J. Dupuy, Le droit international, 1963. Vgl. dazu C. Leben, The Changing Structure of International Law Revisited by Way of Introduction, EJIL 3 (1997), S. 401. 193 Dazu T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012. J. Klabbers/ A. Peters/G. Ulfstein, The Constitutionalization of International Law, 2. Aufl. 2011. 194 So T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012, S. 689 f. 188

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

generis bildet195. Aber auch im allgemeinen Völkerrecht kennzeichnen Begrenzungen des völkerrechtlich-staatsrechtlichen Voluntarismus einen Paradigmenwechsel. Konstitutiv für die Erzeugung von Bindungswirkung ist nicht länger allein das Konsensprinzip; auch die „persistent objector“-Regel wird zunehmend relativiert196. Das Völkerrecht verliert somit seinen rein reziproken Charakter. Vereinzelt kommt es sogar zur Drittbindung. Deutlich ablesen lässt sich der Wandel im wachsenden Bestand an ius cogens- und erga omnes-Normen197. Aber auch qualitativ „davor“ oder „darunter“ lassen sich internationale, quasiuniversale Mindeststandards mit globaler Gemeinwohlorientierung, insbesondere im Menschenrechts- und Umweltschutz, aber auch im Freihandel, ausmachen. Korrespondierend dazu bildet sich ein internationales, institutionelles Organisationsgefüge zur Durchsetzung gemeinsamer Anliegen heraus. In diesem Zusammenhang ist in Bezug auf die WTO aufgrund ihres dispute settlement body von einer „constitutionalization of the world economic order“198 gesprochen und das UNSeerechtsübereinkommen als „Verfassung der Meere“ 199 bezeichnet worden. Auch die UN-Charta ist immer wieder als „Weltverfassung“ deklariert worden200. Von besonderer Bedeutung für diesen Prozess sind ferner treaty-bodies, Gerichte und Tribunale, allen voran der Internationale Strafgerichtshof (ICC) und der Internationale Gerichtshof (ICJ), die eine Art globalen judicial review vornehmen201. Schließlich ist die Erweiterung des Kreises der Völkerrechtssubjekte zu nennen, die mit der Entmediatisierung des Einzelnen anhebt, auch internatio195 Zur Konstitutionalisierung der EU statt vieler S. Oeter, Europäische Integration als Konstitutionalisierungsprozess, ZaöRV 59 (1999), S. 901 ff. J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999. 196 Dazu H. Lau, Rethinking the Persistent Objector Doctrine in International Human Rights Law, Chicago Journal of International Law 6 (2005), S. 495 ff. 197 A. Cassese, For an enhanced role of jus cogens, in: A. Cassese (Hrsg.), Realizing Utopia, 2012, S. 158 ff. 198 H. Schloemann/S. Ohlhoff, „Constitutionalization“ and dispute settlement in the WTO – national security as an issue of competence, in: American Journal of International Law 93 (1999), S. 424 ff., 451. A. v. Bogdandy, Verfassungsrechtliche Dimensionen der Welthandelsorganisationen, KJ 2001, S. 264 ff. M. Krajewski, Verfassungsperspektiven und Legitimation des Rechts der Welthandelsorganisation, 2001. S. Langer, Grundlagen einer internationalen Wirtschaftsverfassung 1995, E.-U. Petersmann, Constitutional Functions and Constitutional Problems of International Economic Law, 1991. 199 W. Graf Vitzthum, Äquitoriale Souveränität, VblBW 1991, S. 123. 200 So früh etwa A. Ross, The Constitution of the United Nations, 1950, S. 30 ff. Basierend auf den monistischen Überlegungen von A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, 1923, ausgearbeitet in A. Verdross/B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984. Ferner M. Herdegen, The „Constitutionalization“ of the UN Security System, Vanderbilt Journal of Transnational Law 27 (1994), S. 135 ff. B. Fassbender, The United Nations Charter as Constitution of the International Community, Columbia Journal of Transnational Law 36 (1998), S. 529 ff. 201 Vertiefend dazu A. v. Bogdandy/I. Venzke, In wessen Namen? Internationale Gerichte in Zeiten globalen Regierens, 2014.

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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nale Unternehmen zu (partiellen) Völkerrechtssubjekten erklärt und zahlreiche Nichtregierungsorganisationen (NGOs) in den Rechtssetzungs- bzw. Rechtsdurchsetzungsprozess einbindet. Insgesamt umschreibt „Konstitutionalisierung“ also die Herausbildung eines sich universalisierenden, vertikalen, an materiellen Werten orientierten und institutionell-prozessual abgesicherten, nicht länger voluntativen, sondern verselbständigten internationalen Rechts202. Dieser durch Internationalisierung und Globalisierung ausgelöste „Konstitutionalisierungsprozess“ ist für die nationalstaatlichen Verfassungen nicht folgenlos geblieben: Sie haben einen Teil ihres bislang vollumfänglichen Regelungsanspruches auf- bzw. abgeben müssen. Ähnlich wie die staatliche Souveränität, unterliegt auch die nationale Verfassung somit einer Fragmentierung, zugleich aber auch einer Verschmelzung. Die Erosion souveräner Verfassungsstaatlichkeit203 soll durch korrespondierende, kompensatorische Konstitutionalismuserscheinungen aufgefangen werden204. Aber nicht nur überstaatlich, sondern auch unterhalb der staatlichen Ebene wird versucht, das durch Verfassungszerfaserung entstandene Regelungsvakuum in Form eines „gesellschaftlichen Konstitutionalismus“ 205 zu füllen. Der beschriebene Wandlungsprozess des internationalen Rechts ist indes nicht ungebrochen gewesen206 und seine Einordnung als Konstitutionalisierung hat durchaus Kritik provoziert: Erhält jeder Grundlagenvertrag, weil er gewisserma202 Umfassend zu diesem Prozess und seinen Phänomenen J. Klabbers/A. Peters/ G. Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2. Aufl. 2011. Früh bereits J. A. Frowein, Konstitutionalisierung des Völkerrechts, BdtGVR 1999, S. 427 ff. Bejahend auch R. Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht JZ 2001, S. 565 ff. 203 Dazu bereits Dritter Teil A. 204 A. Peters, Global Constitutionalism in a Nutshell, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber Amicorum J. Delbrück 2005, S. 537. 205 Dazu grundlegend D. Sciulli, Theory of Societal Constitutionalism, 1992. Ebenso G. Teubner, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöRV 63 (2003), S. 5 ff. A. Fischer-Lescano/G. Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, S. 43, 53 ff., 57 ff. Mit diesem gesellschaftlichen Konstitutionalismus träte neben das internationale und nationale Recht eine (Verfassungs)rechtsordnung sui generis, die aber nicht in Konkurrenz stünde oder als verdrängendes Surrogat fungierte, sondern lediglich ergänzende Züge trüge. Während dieses bei D. Sciulli eher zivilgesellschaftlich-innerstaatliche Züge trägt, ist das systemtheoretische Konstrukt G. Teubners internationales, primär durch global operierende Konzerne hervorgebrachtes transnationales Recht etwa in Form einer lex mercatoria. Vgl. dazu auch N. C. Ipsen, Private Normenordnung als Transnationales Recht?, 2009. Ein solcher gesellschaftlicher Konstitutionalismus zerrte verstärkt am Einheitsanspruch der Verfassung, führte von einem (noch) überwiegenden dualistischen Ordnungsmodell zu einer „trialistischen Ordnung“. Gleichwohl bleibt sie jenseits dieser Auszehrung des Verfassungsbegriffes – ohne diese Entwicklung eingehend bewerten oder in Frage stellen zu wollen – für die hier verfolgte Frage ohne weitere Bedeutung. 206 So aufgrund der Ereignisse infolge des 11. September 2001, J. Habermas, Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?, in: ders., Der gespaltene Westen, 2004, S. 113 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

ßen „konstitutiv“ ist, Verfassungscharakter? Liegt nicht eine Sphärenvermengung von Konstitutionalisierung mit bloßer Verrechtlichung207 des internationalen „soft law“ vor? Reichen einzelne verfassungsrechtliche oder verfassungsähnliche Gehalte im Völkerrecht schon hin, um von „Konstitutionalisierung“ zu sprechen? Verkommt der Verfassungsbegriff nicht durch eine derartige „Generalisierung“ zur Bedeutungslosigkeit? Unabhängig davon, ob diese Kritik verfängt, verbleibt eine tiefgreifende Veränderung des Völkerrechts evident. Und an dieser, so scheint es, trägt auch der regionale Menschenrechtsschutz maßgeblichen Anteil208.

II. Konstitutionalisierungserscheinungen in der EMRK 1. Materiellrechtliche, institutionelle und instrumentelle Parallelen zum staatlichen Verfassungsrecht Die EMRK ist, aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit mit staatlichem Verfassungsrecht einerseits und ihrer völkerrechtlichen Herkunft andererseits, Inbegriff des skizzierten „Konstitutionalisierungsprozesses“ 209. So hat man für die fundamentalen Wandlungsprozesse der EMRK in ihrer nunmehr 60-jährigen Geschichte210 ebenfalls versucht, den Verfassungsbegriff fruchtbar zu machen. Dem liegt die Überlegung zu Grunde, dass alle Ebenen des Konventionssystems einer grundlegenden Umformung in Richtung auf Verfassungsstrukturen unterlagen: Instrumentell hat die ehemals fakultative Individualbeschwerde mittlerweile obligatorischen Charakter erhalten. Auch ist keine Unterwerfungserklärung – ehemals zeitlich befristet – mehr erforderlich. Institutionell ist der Dualismus von Menschenrechtskommission und periodisch tagendem Gerichtshof einem permanenten Gerichtshof gewichen. Materiellrechtlich ist der Bestand an Verbürgungen in Form von Zusatzprotokollen und durch Rechtsprechung beträchtlich angewachsen. Die Verdichtung der in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen niedergelegten Rechte steht den Verbürgungen nationaler Grundrechtskataloge in nichts nach. Grundrechtsschutz ist zweifelsohne elementare Aufgabe jeder Verfassung. Auch sind die in der EMRK aufgeführten Rechte – ebenso wie Grundrechte – unabhängig von der Angehörigkeit eines Konventionsstaates für jedermann verbürgt. Schließlich ist auch der Bezugsgegenstand derselbe. Ebenso wie das Ver207 Dies betonend etwa D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, 2012, S. 303, der deshalb in der völkerrechtlichen Konstitutionalisierung nur eine Schwundstufe erkennt und für einen anspruchsvollen Verfassungsbegriff plädiert. 208 A. Zimmermann, Menschenrechtsverträge als Katalysatoren der Völkerrechtsentwicklung?, in: A. Zimmermann/L. Gunnarsson (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Menschenrechtsschutzes, 2012, S. 27 ff. 209 Allgemein zur Veränderung des Völkerrechts durch Menschenrechtsschutz M. T. Kamminga/M. Scheinin (Hrsg.), The Impact of Human Rights Law on General International Law, 2009. 210 Vgl. anlässlich dessen S. Leutheusser-Schnarrenberger (Hrsg.), Vom Recht auf Menschenwürde. 60 Jahre Europäische Menschenrechtskonvention, 2013.

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fassungsrecht adressiert und bindet das Konventionsrecht den Staat, nicht das einzelne Subjekt. Aus diesen Strukturveränderungen ist gefolgert worden, dass das gegenwärtige EMRK-System einer Verfassung gleichkommt, der Straßburger Menschengerichtshof die Aufgabe eines Verfassungsgerichts erfüllt und das Individualbeschwerdeverfahren der Verfassungsbeschwerde entspricht. Unbestritten entbehrt der Schluss von diesen funktionalen und inhaltlichen Übereinstimmungen auf die Qualität der EMRK als europäische Verfassung deshalb nicht einer gewissen Plausibilität. 2. Selbstkonstitutionalisierung durch Rechtsprechung Die Parallele zwischen nationalem Verfassungsrecht und dem EMRK-System war auch früh Gegenstand der Rechtsprechung. Soweit ersichtlich geht der Verfassungsvergleich auf die Europäische Menschenrechtskommission zurück. Nicht zuletzt, um sich von dem historischen Willen der Vertragsparteien von 1949/1950 lösen zu können und „object and purpose“ des Vertrages in den Vordergrund zu rücken (Art. 31 Abs. 1 WVK), konstatierte sie, dass die EMRK zwar die Form eines traditionellen Vertrages aufweise, es sich aber der Natur nach um ein „constitutional instrument“ handele211. Diese Position ist zunächst kritisch-distanzierend in einem Sondervotum von Sir Gerald Fitzmaurice aufgegriffen worden212. Dieser erkennt zwar an, dass die Pflichten der EMRK keinen konditionalen Charakter haben, sondern objektiv sind213, und konzediert der EMRK als „law making treaty“ auch einen „constitutional aspect“ 214. Gleichwohl mahnt er eine an den Intentionen der Staaten orientierte Auslegung der Konvention an: „(. . .) even regarded as a constitution, the Convention should be given a conservative rather than an extensive interpretation“ 215. Möglicherweise bedingt durch diese wiederholt vorgetragenen, kritischen Äußerungen von Sir Gerald Fitzmaurice216, stellte der Gerichtshof im Folgenden lediglich die besondere Struktur der EMRK heraus: 211 Nachweis und Bezugnahme bei ECHR, 27.10.1975, National Union of Belgian Police v. Belgium, No. 4464/70, Sep. Op. Sir Gerald Fitzmaurice Rn. 8 und 9. 212 ECHR, 27.10.1975, National Union of Belgian Police v. Belgium, No. 4464/70, Sep. Op. Sir Gerald Fitzmaurice Rn. 9. 213 ECHR, 27.10.1975, National Union of Belgian Police v. Belgium, No. 4464/70, Sep. Op. Sir Gerald Fitzmaurice Rn. 5. 214 ECHR, 27.10.1975, National Union of Belgian Police v. Belgium, No. 4464/70, Sep. Op. Sir Gerald Fitzmaurice Rn. 9. 215 ECHR, 27.10.1975, National Union of Belgian Police v. Belgium, No. 4464/70, Sep. Op. Sir Gerald Fitzmaurice Rn. 9. 216 Dieser hatte bereits in ECHR, 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, No. 4451/ 70 Sep. Op. Sir Gerald Fitzmaurice Rn. 32 ff. insbesondere 38 und 39 eine „vorsichtige“ und „konservative“ Interpretation angemahnt.

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„Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between Contracting States. It creates over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the preamble benefit from a „collective“ enforcement“ 217.

Bis zur expliziten Anerkennung verfassungsgleicher Strukturen durch den EGMR vergingen indes weitere 20 Jahre. So klassifizierte der Gerichtshof das Konventionssystem erst 1995 in der berühmten Loizidou-Entscheidung als ein „constitutional instrument of European public order“ 218. Bemerkenswert an diesen Aussagen ist vor allem ihr Zeitpunkt. Zum einen ist bereits 1975 erstmals von einem „constitutional instrument“ die Rede. Zum anderen erfolgten selbst die Feststellungen des EGMR im Loizidou-Fall zu einem Zeitpunkt, da das Nebeneinander von Kommission und Gerichtshof noch bestand und der fundamentale Transformationsprozess der EMRK durch das 11. Zusatzprotokoll von 1998 in ein System mit permanentem Gerichtshof und obligatorischer Individualbeschwerde noch nicht vollzogen war. Das legt die These nahe, dass die Selbstqualifizierung als „constitutional instrument of European public order“ mehr der Bewältigung der seit den 1990er Jahren bestehenden Krise durch Vergewisserung und Erzeugung normativer Kraft diente, als dass sie auf Ähnlichkeiten und Parallelen mit dem Verfassungsrecht basierte. Auch darin zeigt sich die eingangs formulierte, am Pragmatismus geschulte Einsicht, dass das Recht maßgeblich auf überzeugender Rhetorik und einer wirkmächtigen Narration basiert.219 Obgleich weitere materielle Bekenntnisse zum Verfassungscharakter des EMRK-Systems rar sind, übt der Gerichtshof beständig und für alle 47 Mitgliedsstaaten eine nachträgliche Kontrollfunktion, einen judicial review, gegenüber allen staatlichen Gewalten einschließlich der Legislative aus. Eine derartige gerichtliche Überprüfung des parlamentarischen Gesetzgebers ist indes – wegen Bedenken vor einem gouvernement de juges oder einem Verlust der sovereignty of parliament nicht selbstverständlich220. Gleichwohl ist selbst in jenen Staaten, denen eine Kontrolle des parlamentarischen Gesetzgebers fremd ist, durch die Konvention eine außerstaatliche Rügemöglichkeit geschaffen worden221. Dies 217

ECHR, 18.01.1978, Irland v. United Kingdom, No. 5310/71, Rn. 239. ECHR v. 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, No. 15318/89 Rn. 75. Diese Wendung übernehmend A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, S. 13 Rn. 9. 219 Hierzu oben Einleitung II. 220 M.w. N. C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), S. 963. 221 Für das Vereinigte Königreich ist dies mit dem Human Rights Act von 1998 geschehen. Dazu R. Grote, Die Inkorporierung der Europäischen Menschenrechtskonvention in das britische Recht durch den Human Rights Act 1998, ZaöRV 58 (1998), S. 309 ff. 218

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lässt sich als „Krönung“ 222 des „Konstitutionalisierungsprozesses“ des Konventionsregimes deuten, in der auch eine gewisse „Hierarchisierung“ des Völkerrechts erblickt werden kann. Ferner hat es sich der Gerichtshof zur Aufgabe gemacht, europäische Standards zu entwickeln und zu etablieren223. Sie deuten auf eine „Objektivierung“ des Völkerrechts hin. 3. Vorbereitung und Affirmation des Konstitutionalisierungsbegriffes durch die Rechtswissenschaft Die rechtswissenschaftliche Literatur hat – ihrer Aufgabe entsprechend – diese Entwicklung vorgezeichnet, begleitet und bereichert. So ist die Konvention bereits kurz nach ihrer Entstehung und lange vor den ersten offiziellen Bekenntnissen der Organe als „das erste Stück einer gemeinsamen Verfassung“ 224 bezeichnet worden. Weiter ist – nicht zuletzt, um der EMRK einen höheren Rang zu verleihen – vom „Beginn einer europäischen Verfassungsrechtsprechung“ 225, von einer „Konventionsgemeinschaft“ 226 die Rede gewesen und die EMRK zum elementaren Bestandteil eines „ordre public européen“ 227 erklärt worden. Vor allem post festum zur Loizidou-Entscheidung ist die Entwicklung als „Konstitutionalisierungsprozess“ 228 charakterisiert und die EMRK als „europäische Grundrechtsverfassung“ 229, „Nebenverfassung“ 230 oder „Komplementärverfassung“ 231, „Eu222 Zur „Krönung“ des Verfassungsrechts durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, W. Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, 1945, S. 127. Zur Erforderlichkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit auch H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30, 78, der ohne eine solche die Verfassung mit einem „unverbindlichen Wunsch“ vergleicht. 223 Statt vieler ECHR,15.10.2009, Goncharova et al. v. Russia, No. 23113/08 u. a., Rn. 22: „(. . .) the emphasis of the Court’s activity is on passing public judgments that set human-rights standards across Europe.“ 224 K. J. Partsch, Die Entstehung der EMRK, ZaöRV 15 (1954), S. 633. 225 J. A. Frowein, Der europäische Menschenrechtsschutz als Beginn einer europäischen Verfassungsrechtsprechung, JuS 1986, S. 845 ff. 226 G. Ress, Verfassungsrechtliche Auswirkungen der Fortentwicklung völkerrechtlicher Verträge, in: Festschrift für Wolfgang Zeidler Bd. 2, 1987, S. 1775 ff., 1790. 227 P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 264. Die Europäische Menschenrechtskommission hatte bereits im Zusammenhang mit der ohne eigene Rechte oder Interessen geltend zu machenden Staatenbeschwerde nach Art. 24 EMRK A. F. von einer Rüge des „public order of Europe“ bzw. des europäischen „ordre public“ gesprochen, vgl. EKMR 788/60 Österreich ./. Italian Yearbook of the European Convention on Human Rights, 4, 116, 140. Ob auch bei der nun im Zentrum stehenden Individualbeschwerde angesichts der geltend gemachten konkreten Verletzung des Individuums der ordre public européen nicht eine untergeordnete Rolle spielt, bleibt fraglich. 228 C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), S. 961 ff. 229 F. Hoffmeister, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat, 40 (2001), S. 349 ff. 230 R. Uerpmann-Wittzack, Völkerrechtliche Verfassungselemente, in: A. v. Bogdandy/J. Bast (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S. 177 ff., 182, 186, 199.

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ropäische Menschenrechtsverfassung“ 232 oder „materielle gemeineuropäische Verfassung“ 233 deklariert worden. Dementsprechend ist auch der EGMR zum „europäischen Verfassungsgericht“ 234 erklärt worden. In der Literatur werden neben den aufgezeigten Parallelen weitere Gründe für die Qualifikation als Verfassung genannt. Zunächst ist der schon durch die Rechtsprechung betonte besondere Verpflichtungscharakter aus der EMRK aufgegriffen worden und eine „multipolare Erfüllungsstruktur“ – erga omnes-Pflichten im Gegensatz zu traditionellen bipolaren Pflichten des Völkerrechts – attestiert worden. Sodann ist auf die „Änderungsfestigkeit“ der EMRK hingewiesen worden, die sie in europäisches Verfassungsrecht transformieren soll235. Weiterhin werden verfassungsrechtliche Ähnlichkeiten in der Auslegung der Konvention erkannt236. Dem liegt zu Grunde, dass klassische völkerrechtliche Verträge nach dem Parteiwillen auszulegen sind, der EGMR die Konvention aber als living instrument begreift und eine dynamisch-teleologische Auslegung vornimmt237, die es ihm erlaubt, das Konventionsrecht sukzessive zu objektivieren. Auch die vom Gerichtshof angenommenen positive obligations, die über die abwehrrechtliche Dimension hinausreichen und dem Staat Handlungspflichten in Form von Schutz-, Gewährleistungs- und Teilhabepflichten auferlegen, weisen eine Parallele zum Verfassungsrecht auf 238.

III. Konstitutionalisierungserscheinungen in der AMRK 1. Strukturverwandtheit mit dem Verfassungsrecht Auch im interamerikanischen System lassen sich schon aufgrund der Strukturverwandtheit zum europäischen Pendant materiellrechtliche, institutionelle und prozessuale Ähnlichkeiten zum Verfassungsrecht identifizieren. Im Hinblick auf 231 T. Läufer, Zur künftigen Verfassung der Europäischen Union – Notwendigkeit einer offenen Debatte, Integration 1994, S. 204, 207, vgl. auch I. Pernice, Kompetenzabgrenzung im Europäischen Verfassungsverbund, JZ 2000, S. 866 ff. 232 C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 2. 233 C. Hillgruber, Staat und Religion, DVBl 1999, 1176. 234 Früh bereits K. W. Weidmann, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof, 1985. H. Goerlich, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg als ein europäisches Verfassungsgericht, in: R. Esser/B. Harich/F. Lohse/A. Sinn (Hrsg.), Die Bedeutung der EMRK für die nationale Rechtsordnung, 2004, S. 101 ff., 121 f. 235 R. Uerpmann, Internationales Verfassungsrecht, JZ 2001, S. 571 f. 236 So A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 11. 237 Vgl. dazu vertiefend Dritter Teil E. II. 1. a). 238 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 13.

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den Bestand der materiellrechtlichen Verbürgungen gleicht die AMRK modernem Verfassungsrecht aufgrund der Einbeziehung wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte seit Inkrafttreten des Zusatzprotokolls von San Salvador aus dem Jahre 1999 noch viel mehr als die primär abwehrrechtliche EMRK239. Indes gilt dies nicht für die institutionelle und instrumentelle Ausgestaltung. In dieser Hinsicht bleibt die AMRK weit hinter dem europäischen Menschenrechtsschutzmechanismus zurück. Institutionelles Defizit ist der im interamerikanischen System nach wie vor bestehende Dualismus von Kommission und Gerichtshof, weswegen letzterer erst nachgelagert tätig werden kann und nicht permanent besteht. Zentrales Schutzorgan ist damit nicht der Gerichtshof, sondern die interamerikanische Kommission. Zwar trägt sie auch quasigerichtliche Züge, doch entspricht das nach Form und Funktion nicht einem verfassungsrechtlichen judicial review. Instrumentell besteht zwar in der AMRK schon deutlich länger die Individualbeschwerde als in der EMRK, wo sie erst 1998 obligatorisch wurde240. Dennoch haben Individuen vor dem interamerikanischen Gerichtshof keinen „locus standi“. Prozessual und institutionell bestehen damit im Hinblick auf verfassungsrechtliche Strukturen erhebliche Defizite. Gleichwohl ist anzuerkennen, dass das interamerikanische System derzeit ähnlich konzipiert ist wie das europäische System vor der Reform durch das 11. Zusatzprotokoll aus dem Jahre 1998 und der EGMR in einem strukturell vergleichbaren Entwicklungsstadium ungeachtet dieser Mängel die Konvention als ein „constitutional instrument of European public order“ bezeichnet hat. 2. Konstitutionalisierungbekenntnisse in der Rechtsprechung In Parallele zum europäischen System hat auch im interamerikanischen System der Konstitutionalismusbegriff unbeirrt von strukturellen Mängeln in den Sondervoten seinen Ursprung genommen. S. G. Ramírez formuliert in seinem Sondervotum über „Meaning and significance of the rulings of the Inter-American Court“ aus dem Jahre 2004: „In a certain sense, the task of the Court is similar to that of the constitutional courts. The latter examine the challenged acts – decisions with a general scope – in light of the legal standards, principles, and values of the basic laws. The Inter-American Court, in turn, analyzes the acts that are brought before it in connection with the legal standards, principles, and values of the treaties on which it bases its adjudicatory jurisdiction. In other words, if constitutional courts oversee ,constitutionality‘ 239 Exemplarisch dafür sind etwa das Recht auf eine gesunde Umwelt oder das Recht auf Gesundheit aus Art. 10 und 11 des Zusatzprotokolls (vgl. dazu bereits Zweiter Teil B. II. 1. c)). 240 Vgl. Zweiter Teil B. II. 3. a).

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the international human rights court decides on the ,conventionality‘ of those acts. By controlling constitutionality, the domestic bodies seek to ensure that activities of the public authorities – and, perhaps, of other social agents – are in accordance with the order that is inherent to the Rule of Law in a democratic society. The Inter-American Court, in turn, seeks to ensure that this activity is in accordance with the international order set forth in the convention that founded the inter-American jurisdiction and was accepted by the States Party exercising their sovereignty. Just as a constitutional court could not and does not intend to bring before it all cases in which the constitutionality of acts and legal standards is questioned, an international human rights court does not have the aspiration – and has it even less so than the national body – of solving a large number of contentious cases that reproduce violations previously brought before it, and on whose essential themes it has already issued judgments that express its criterion as the natural interpreter of the legal standards that it has the responsibility of applying, that is, the provisions of the international treaty invoked by the litigants. This design, which clearly expresses a function of the Court, also suggests the characteristics that matters brought before it may have“ 241.

Erneut vergleicht S. G. Ramírez die Aufgabenstruktur des interamerikanischen Gerichtshofes mit jener der nationalen Verfassungsgerichte in Vargas Areco v. Paraguay, indem er formuliert: „(. . .) we could take as an example the mission of constitutionality courts, which cannot conduct civil or criminal proceedings, as the case may be, but are only empowered to verify that proceedings and any decisions render thereunder are consistent with the National Constitution. The situation with the Inter-American Court is similar. The Court can only confront domestic rules – laws, administrative acts, jurisdictional resolutions, without limitation – to the provisions of the Convention and rule on their consistency in order to establish, if applicable, the State’s international liability for failing to fulfill its obligations thereunder. The Court does not develop a new stage – or instance – i. e. ordinary proceedings. Proceedings begin, develop and conclude in the domestic jurisdiction. Therefore, the international court, as much in the same manner as constitutionality courts and as opposed to trial courts, cannot assess the facts and the evidence, nor is it empowered to order an acquittal or conviction.“ 242

Diese Vergleiche mit der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit stehen im engen Zusammenhang mit der bereits oben dargelegten Control de Conventionalidad, die sich gewissermaßen als eine Transposition der Control de Constitutionalidad erweist. Aufgrund der Durchsetzung einer parallel zur „Verfassungskontrolle“ gelagerten „Konventionskontrolle“ liegt es nahe, auch das interamerikanische System, ungeachtet der aufgezeigten strukturellen Defizite, als in einem „Konstitutionalisierungsprozess“ befindlich zu begreifen. 241 IACHR, 07.09.2004, Tibi v. Ecuador, Serie C, No. 114, Sep. Op. S. G. Ramírez Rn. 3 f. (Hervorhebungen durch den Verfasser). 242 IACHR, 26.09.2006, Vargas Areco v. Paraguay, Serie C, No. 155 Sep. Op. S. G. Ramírez Rn. 7.

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Mag der „konstitutionelle Gehalt“ des interamerikanischen Systems auch geringer ausfallen als im europäischen Pendant, so weisen beide regionalen Menschenrechtsschutzsysteme materiellrechtlich, institutionell und instrumentell doch eine gewisse Ähnlichkeit zum Verfassungsrecht auf. Diese Parallelen lassen sich als „Konstitutionalisierungserscheinungen“ deuten.

IV. Zweifel an Verfassungscharakter und Verfassungsbedürftigkeit der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme Ungeachtet dieser „Konstitutionalisierungserscheinungen“ ist bereits die Anwendung des Verfassungsbegriffes außerhalb des staatlichen Kontextes immer wieder umstritten gewesen. Entgegen der Selbstdeklaration der Konventionssysteme durch die Gerichtshöfe als constitutional instrument und den zuweilen unkritisch anmutenden Vergleichen mit den Funktionen von Verfassungsgerichtsbarkeit, sind Verfassungscharakter und Verfassungsbedürftigkeit der regionalen Menschenrechtsschutzmechanismen unter funktionalen Gesichtspunkten letztlich zweifelhaft. 1. Verfassbarkeit a) Verfassbarkeit des Überstaatlichen Verfassung hat sich im Zusammenhang mit Staatlichkeit entwickelt. Staat und Verfassung stehen von Anbeginn in einem symbiotischen Verhältnis. Aufgrund dieses Entstehungs- und Entwicklungszusammenhangs sind daher immer wieder Zweifel an der Verfassbarkeit des Überstaatlichen gehegt worden. Vor allem die deutsche Staatsrechtslehre hat aufgrund eines traditionellen und etatistisch fixierten Verfassungsverständnisses243, das Staatlichkeit eine „präkonstitutionelle Bedeutung“ beimisst244, prononciert Bedenken vorgetragen.

243 Am deutlichsten und apodiktisch konstatiert J. Isensee: „Dennoch ist Verfassung nicht zu verstehen ohne Staat. Dieser ist ihr Gegenstand und ihre Voraussetzung.“, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. I, 1. Aufl. 1987, § 13 Rn. 1. Diametral dazu P. Häberle unter Bezugnahme auf R. Smend und A. Arndt: „Es gibt nur soviel Staat, wie die Verfassung konstituiert.“, vgl. ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Auflage, S. 187. Die Ursprünge dieses Konflikts liegen tief in der deutschen Geschichte begründet. Paradigmatisch etwa G. W. F. Hegels mystifiziertes Staatsverständnis. Vgl. G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: E. Moldenhauer/K. M. Michel (Hrsg.), Werke 7, 1971, S. 398 ff. (§ 257): „Der Staat ist die Wirklichkeit der sittlichen Idee“, oder „das an und für sich Vernünftige“; „diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck (. . .), objektiver Geist“, (ebd., § 258). Ferner: „Die Persönlichkeit des Staates ist nur als eine Person, der Monarch, wirklich“ (ebd., § 279); „Man muß den Staat wie ein Irdisch-Göttliches verehren“ (§ 272 Zusatz), zitiert nach I. Pernice, Die Verfassungsfrage aus rechtswissenschaftlicher Sicht, WHI-Paper 8/1999, Rn. 16 Fn. 24. Weiterer Grund kann in dem Fehlen deutscher Eigen- und Einheitsstaatlichkeit

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Indes sind Zweifel an der Verfassbarkeit des Überstaatlichen keine querelle d’Allemand. Auch die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika führt zu einem nationalen Verfassungsverständnis im Sinne des American Exceptionalism 245. Verfassung ist danach nicht in den überstaatlichen Raum projizierbar – weder in das regionale (EU, Europarat, EMRK, OAS, AMRK) noch in das universale Völkerrecht (UN)246. Indes ist der Beweis dafür, dass die Verbundenheit von Verfassung und Staat lediglich historisch begründet ist, keinesfalls aber sachlich-inhaltlich eine Begrenzung erzwingt, überzeugend erbracht worden247. So ist mittlerweile anerkannt, dass der Verfassungsbegriff aus der staatlichen Vereinnahmung gelöst werden kann und auch auf nichtstaatliche Rechtsgebilde übertragbar ist248. Voraussetzung für die Staatsunabhängigkeit ist ein emanzipierter, das heißt normativer Verfassungsbegriff, orientiert an oben dargelegten Funktionen. Insofern steht der

zu Beginn des Konstitutionalismus gesehen werden, vgl. A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 98 f. Ein deutliches Abbild der Staatszentriertheit gibt auch die Weimarer Staatsrechtlehre. Statt vieler: C. Schmitt, Verfassungslehre, 10. Aufl. 2010, S. 3: „Das Wort ,Verfassung‘ muß auf die Verwirklichung des Staates, d.h. der politischen Einheit des Volkes beschränkt werden, wenn eine Verständigung möglich sein soll.“. Dieses Verständnis hat insbesondere in der Debatte um eine europäische Verfassung Bedeutung erlangt. Kritisch vor allem D. Grimm, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, S. 581; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 1. Aufl. 1987, § 19, S. 775 ff., S. 784. Gegenüber den in dieser Kontroverse geäußerten, fast primordialistisch anmutenden Positionen (dazu m.w. N. U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 517 f.) hat in Großbritannien Verfassung den Prozess politischer Selbstorganisation und in Frankreich die Nation zum Gegenstand, vgl. I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2000), S. 156 ff., A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 95 ff. 244 Kritisch dazu P. Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, 3. Aufl. 2004, § 22, S. 317 ff. 245 Die Literatur des American Exceptionalism ist schier unüberschaubar. Klassisch dazu A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika, 1986. Kritisch M. Ignatieff (Hrsg.), American Exceptionalism and Human Rights, 2005. Unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11.09.2001 H. H. Koh, On American Exceptionalism, Stanford Law Review 55 (2003), S. 1479 ff.; ausführlich S. Gardbaum, The Myth and the Reality of American Constitutional Exceptionalism, Michigan Law Review 107 (2008), S. 391 ff.; M. Schor, Judicial Review and American Constitutional Exceptionalism, Osgoode Hall Law Journal 46 (2008), S. 535 ff. 246 Kritisch vor allem U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht AöR 123 (2003), S. 511 ff., der die symbolisch-ästhetische Komponente des nationalen Rechts betont, die nicht im rein rationalen überstaatlichen Recht reproduziert werden könne. 247 W. Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999 u. A. mit Rückgriff auf A. Verdross, R. Bindschedler und A. Ross. 248 Nachgewiesen von W. Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip – Normativität und Legitimität als Elemente des Europäischen Verfassungsrechts, 1999, S. 28 ff. m.w. N.

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Verfassbarkeit des Überstaatlichen – gleichgültig ob des regionalen oder universalen – die staatsrechtliche Herkunft des Konstitutionalismus nicht entgegen. b) Verfassbarkeit des Sektoralen Der Verfassung kommt, wie dargestellt, ein umfassender und einheitlicher Regelungsanspruch zu. Extrakonstitutionelles ist ihr fremd. Daraus resultiert ihre unierende Funktion. Zugleich gilt es aber zu berücksichtigen, dass sich Staatlichkeit, Souveränität und Verfassung miteinander und aneinander entwickelt haben. Verändern Globalisierung und Internationalisierung Staat und Souveränität durch Fragmentierung von Kompetenzen und Hoheitsgewalt249, bleibt dieser Prozess auch für die Verfassung nicht folgenlos. Die Verlagerung von politischen Entscheidungen und damit von „Souveränitätselementen“ in den außerstaatlichen Bereich löst nicht nur die Allzuständigkeit des Staates als solche auf, sondern zerfasert diese regelrecht, indem an ihre Stelle eine Vielzahl an sachkompetenziell beschränkten, überstaatlichen Institutionen und Entscheidungsträgern tritt. Diese auch als „Sektoralisierungsprozess“ bezeichneten Veränderungen legen die Entwicklung von mit ihnen korrespondierenden Verfassungselementen in den unterschiedlichen Bereichen nahe250: Wo immer „Souveränitätselemente“ neu angesiedelt werden oder entstehen und vermöge dieser Hoheitsgewalt ausgeübt wird, bedarf es einer Verfassung, um diese Gewalt zu rationalisieren und zu kanalisieren. Dies geschieht unabhängig davon, um welchen sozialen oder gesellschaftlichen Kontext es sich handelt. Als Konsequenz entsteht ein „gestufter Verbund komplementärer Verfassungen, ein Mehrebenensystem öffentlicher Gewalt mit jeweils sachbezogen, begrenzten Kompetenzbereichen zur arbeitsteiligen Erfüllung der jeweils anvertrauten öffentlichen Aufgaben“ 251. Mithin ist das Kriterium der unierenden, einheitsstiftenden Funktion der Verfassung als Korrelat ebenso zu relativieren wie Souveränität und Staatlichkeit. Damit erscheint auch eine Verfassung des Sektoralen grundsätzlich möglich. Im Ergebnis sind also Inhalt und Begriff der Verfassung nicht statisch zu begreifen und unter einem dynamischen, normativ-funktionellen Verständnis sowohl auf das Überstaatliche als auch das Sektorale anwendbar. 2. Verfassungscharakter der regionalen Menschenrechtsregime Ungeachtet dieser prinzipiellen Übertragbarkeit des Verfassungsbegriffes auf überstaatliche und sektorale Bereiche ergeben sich dennoch erhebliche Zweifel 249

Siehe dazu bereits Teil 3 B. So C. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungprozeß, ZaöRV 59 (1999), S. 970. 251 I. Pernice, Art. 24 Rn. 21, in: H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006. 250

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am „Konstitutionalisierungsprozess“ bzw. Verfassungscharakter der Konventionssysteme. a) Rangproblematik und Revisionsbarrieren als Hindernis Fragwürdig erscheint die Parallele zum Verfassungsrecht bereits mit Blick auf die Rangfrage. Die EMRK hat – wie bereits aufgezeigt – normhierarchisch in den Mitgliedstaaten einen unterschiedlichen Rang inne. Dies ist maßgeblich davon abhängig, ob der jeweilige Staat eine gegenüber dem Völkerrecht monistisch oder dualistisch eingestellte Rechtsordnung aufweist. Lediglich in den Niederlanden, Rumänien, der Slowakei und der Tschechischen Republik kommt der EMRK Vorrang vor der nationalen Verfassung zu252. In Österreich ist ihr seit 1964 Verfassungsrang zugewiesen253. Mag die EMRK nur in der ersten Kategorie an Staaten wahrhaft „paramount law“ sein und in allen weiteren mit dem Verfassungsrecht konkurrieren, so kann sie hier dennoch übergeordneter Geltungsmaßstab des einfachen Rechts sein. Problematisch hingegen ist jene weitere Gruppe an Staaten, in der der EMRK de jure lediglich der Rang eines einfachen Bundesgesetzes zukommt. Wenngleich über dogmatische Hilfskonstruktionen die EMRK bei der Auslegung des einfachen Rechts herangezogen wird, kann sie doch de lege lata nicht den verfassungsrechtlichen Anspruch einlösen, aufgrund ihres Vorrangs vor dem einfachen Recht dieses zu erzeugen und dessen autoritativer Geltungs- und Kontrollmaßstab zu sein. Ähnliche Schwierigkeiten durch variierenden Rang bestehen auch im interamerikanischen System. Bedingt durch das dualistische Gepräge einiger Staaten vermag auch die AMRK trotz ihrer Wirkmächtigkeit keine vollumfängliche Vorund Höherrangigkeit aufzuweisen. Argentinien und Peru haben seit Verfassungsreformen einigen menschenrechtlichen Verträgen, darunter auch der AMRK, Verfassungsrang eingeräumt; ein Status über dem nationalen Verfassungsrecht wird der Konvention aber in keinem der Länder zugebilligt254. Aufgrund des Rangproblems lassen sich die Konventionen wenigstens de lege lata lediglich als beachtliche, die Auslegung und Rechtsordnungen der Staaten prägende „Prämissen“, nicht aber als „Verfassung“ begreifen. Die Konventionen sind zwar keinesfalls wirkungslos oder wirkungsarm – wie die Rechtsfigur der Control de Conventionalidad und die „Dialogisierung der Rechtsordnungen“ zeigen –, gleichwohl aber de jure nicht mit dem für die Entfaltung der weiteren Verfassungsfunktionen notwendigen Vorrang versehen. 252 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 6. 253 C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 3 Rn. 2. 254 So R. K. Goldman, ehemaliges Mitglied und Präsident der Interamerikanischen Menschenrechtskommission gegenüber dem Verfasser am 01.03.2012.

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Im Hinblick auf das mit dieser Vorgeordnetheit verbundene Verfassungsmerkmal der erschwerten Revisionsfähigkeit ergibt sich ein geteiltes Bild. Zwar unterliegen auch die Konventionsregime grundsätzlich einer verfassungsähnlichen „Starrheit“, gestaltet sich ihre Konsens erfordernde Änderung de facto schwierig. Gleichwohl ist die Fortentwicklungsmöglichkeit durch Zusatzprotokolle für jeden Staat individualisiert und flexibilisiert. Schließlich lässt sich die Bindungswirkung zumindest de lege auch ohne weiteres durch das Kündigungsrecht nach Art. 58 EMRK bzw. Art. 78 AMRK abstreifen. Die der Verfassung eigene Dauerhaftigkeit und unverbrüchliche Geltung aufgrund von spezifischen Revisionsanforderungen findet in den Konventionen mithin keine Entsprechung. b) Funktionsdefizite Gewichtige Gründe gegen die Annahme einer Konstitutionalisierung der Konventionssysteme bzw. deren Qualifikation als Verfassungen ergeben sich unter Rückgriff auf die oben genannten konstitutionellen Parameter bei einer funktionellen Betrachtung. Dies setzt schon bei ihrer Entstehung an. Während Verfassungen in ihrem Geltungsgrund auf den vorrechtlichen pouvoir constituant verweisen und zumeist aus einem revolutionär-triumphalen bzw. geschichtlich katastrophalen Entstehungskontext erwachsen255, liegt der historisch-faktische Geltungsgrund der Konventionen nicht in einem solchen präpositiv-naturrechtlichen Kontext256, sondern im völkerrechtlichen Vertragsschluss durch die Staaten. Ihnen mangelt es – obgleich den Menschenrechten, wie auch Verfassungen im Allgemeinen, etwas Vorrechtliches anhaftet – an einem plebiszitär-demokratischen Ursprung. Sie sind nicht Ergebnis der Selbstbestimmung des Volkes, obzwar sie diese langfristig durch die Autonomie des Einzelnen sichern. Während für die Verfassung ein „Grundbekenntnis“ der Bürger erforderlich ist und eine solche „Grundordnung“ (W. Kägi) häufig durch einen constitutional moment 257 geschaffen wird, handelt es sich bei völkerrechtlichen Verträgen um eine sehr mittelbare Legitimation durch die zuständigen nationalen Organe. Den Vertragsregimen fehlt ein Gründungsmythos. Gleichwohl ist prinzipiell eine Veränderung vom Vertrag zur Verfassung nicht ausgeschlossen258. 255 Dazu B. Ackerman, The Rise of World Constitutionalism, Virgina Law Review (83) 1997, S. 778 ff. mit Erklärung darauf, dass die Verfassung das trennende Moment zwischen „Before“ und „After“ ist, dieses in einem engen Bezug zur Religion steht. 256 Vertiefend zum Prozess der Verfassungsgebung im nationalen wie europäischen Kontext P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 233 ff. 257 Grundlegend B. Ackerman mit seinen Werken We the People: Foundations, 1991 und We the People: Transformations, 1998. 258 B. Ackerman, The Rise of World Constitutionalism, Virgina Law Review (83) 1997, S. 775 ff. und 793.

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Schwerer als dieses genealogische Argument wiegt allerdings ein anderer Einwand: Verfassungen begründen und begrenzen die Ausübung von Hoheitsgewalt, legitimieren diese – gleich ob staatlich oder überstaatlich, sektoral beschränkt oder umfassend. Bereits der Begriff des Konstitutionalismus gibt Zeugnis davon, dass eine politische Ordnung konstituiert wird. Folglich ist die Begründung von politischer Herrschaft für den Verfassungsbegriff konstitutiv. Weder EMRK noch AMRK konstitutieren aber Hoheitsgewalt, die verfasst werden müsste. Sie „verfassen“ lediglich bereits verfasste mitgliedsstaatliche Gewalt auf nachgeordneter, zweiter Ebene. Sie konstituieren nicht, sondern kontrollieren und konkretisieren in einem neuen, weiteren, nämlich überstaatlichen Kontext. Zwar tragen sie zur verstärkten Legitimation von Herrschaft bei und leisten eine zusätzliche Rechtfertigung des Staates durch Grund- bzw. Menschenrechtsbindung. Der durch sie ausgeübte judicial review allein erzeugt jedoch noch keine eigenständige politische Herrschaft. Ihnen fehlt damit letztlich ein konstitutionsfähiger Gegenstand in Form einer noch nicht verfassten öffentlichen Gewalt. Es mangelt ihnen damit an der essentiellen Begründungsfunktion der Verfassung. Ferner ist ihnen trotz gewisser Herrschaftskorrekturen nur eine sehr partielle Begrenzungs- und Legitimationsfunktion zuzuerkennen. Aufgrund des Zugriffs auf bereits verfasste, das heißt organisierte und gegliederte staatliche Gewalt, leisten sie keine Gewaltenteilung, so dass auch diese zentrale Verfassungsfunktion durch die Konventionen unerfüllt bleibt. Gewaltenteilung gehört jedoch seit Anbeginn zum Wesensmerkmal der Verfassung259. Argumentum e contrario aus Art. 16 der französischen Deklaration von 1789, nach der ein Land ohne Gewaltenteilung gar keine Verfassung habe, lässt sich fragen, ob etwas, das keine Gewaltenteilung statuiert, überhaupt als Verfassung deklariert werden kann. Zweifelsohne läßt sich argumentieren, mit der weiteren judikativen Kontrolle durch die Menschenrechtsschutzmechanismen trete eine Metagliederung auf, würde die Gewalt noch einmal vertikal geteilt260. Und dennoch ist der Gliederungsgehalt weder der einer nationalen, horizontalen Trennung noch einer vertikalen etwa in Form der supranationalen Europäischen Union vergleichbar. Auch die grundsätzliche Anerkennung einer Verfassbarkeit des Sektoralen kann darüber nicht hinweghelfen. Schließlich erzeugen die Konventionssysteme nur eine ganz punktuelle, menschenrechtlich induzierte Korrekturmöglichkeit, keine dauerhafte, trennende Anordnung als solche. Damit ist ein weiterer wesentlicher Funktionsmangel bezeichnet – den Konventionen fehlt eine Organisationsfunktion. Da durch sie keine eigene Gewalt begründet wird, kein konstitutionsfähiger Gegenstand geschaffen wird, verbleibt

259 260

D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, 2012, S. 27. Dazu Dritter Teil E. III.

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auch kein Organisationsobjekt. Die Konventionen errichten weder legislative noch exekutive Organe, umfassen keine Kompetenztitel zur Entfaltung von Aktivitäten, so dass eine dem Organisationsrecht gleichende Materie fehlt261. EMRK und AMRK definieren das Organisationsverhältnis zwischen Regierung und Regierten nicht umfassend, sondern höchst fragmentarisch. Sie organisieren lediglich die nachgeordneten Rechtsprechungskörperschaften in Gestalt von Gerichtshöfen und – im interamerikanischen System – der Kommission, deren Entscheidungen de lege lata nicht einmal kassatorische, sondern lediglich Feststellungswirkung zukommt. So sind sie mangels rechtsgestaltender Durchgriffsbefugnis auch in dieser spezifischen Funktion mit einem Verfassungericht nicht vergleichbar. Dies indiziert auch die „Verfahrensarmut“ vor den regionalen Gerichtshöfen. Obgleich de jure Gutachten-, Staaten- und Individualbeschwerdeverfahren bestehen, kommt de facto nur letzterem eine bedeutende Rolle zu. Selbst wenn man bei großzügiger Auslegung im Staatenverfahren aufgrund der Äquivalenz der Parteien einen „Organstreit“ erkennte und die Individualbeschwerde mit der Verfassungsbeschwerde gleichsetzte, ist der Bestand verglichen mit den traditionellen Verfahren vor einem Verfassungsgericht höchst rudimentär262. Hingegen kann den regionalen Menschenrechtsschutzmechanismen durchaus eine Integrationsfunktion attestiert werden. Dies gilt schon deshalb, weil es sich bei der Integrationsfunktion der Verfassung strenggenommen um eine „nichtjuristische Wirkung eines juristischen Gegenstandes“ 263 handelt. Es bedarf dazu also anders als bei den übrigen Funktionen keines ausdifferenzierten Normbestandes und auch keiner normhierarchischen Vorrangigkeit. Die Konventionssysteme knüpfen daran an, dass die Mitgliedstaaten „vom gleichen Geiste beseelt sind und ein gemeinsames Erbe an geistigen Gütern, politischen Überlieferungen, Achtung der Freiheit und Vorherrschaft des Gesetzes besitzen“ 264. Ungeachtet ihrer aufgezeigten Funktionsdefizite können sie die „Herbeiführung einer größeren Einigkeit“ 265 fördern und aus kultureller Pluralität – ohne deren Einebnung zu bewirken – eine „gemeine“ kollektive Identität bilden. Zugleich stabilisieren und entlasten sie den nationalen politischen Prozess266.

261 F. Hoffmeister, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Grundrechtsverfassung und ihre Bedeutung in Deutschland, Der Staat, 40 (2001), S. 349 ff. mit Verweise auf R. Hofmann, Wieviel Flexibilität für welches Europa?, EuR 1999, S. 715. 262 Zu der Vielzahl verfassungsgerichtlicher Kompetenzen in Europa, P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Auflage 2011, S. 467 f. 263 D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, 2012, S. 241. 264 Vgl. Präambel der EMRK. 265 Vgl. Präambel der EMRK. 266 Zu dieser Funktion D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, 3. Aufl. 1991, S. 399 ff., 429.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

c) Inkurs: Funktionsvergleich mit der Europäischen Union als regionalem Rechtsregime Instruktiv für die Beantwortung der Frage, ob es sich bei EMRK und AMRK um „Verfassungen“ handelt oder diese sich zumindest „konstitutionalisieren“, ist der Vergleich mit der Europäischen Union als einer anderen nichtstaatlichen, regionalen und ursprünglich völkerrechtlichen Rechtsgemeinschaft. Das Recht der Europäischen Union errichtet und umfasst eine institutionelle Legislativ- und Exekutivordnung mit ausübender, direkt das Individuum betreffender supranationaler Hoheitsgewalt. In Bezug auf das Unionsrecht hat es demnach zu Recht das Bestreben gegeben, eine Verfassung zu schaffen. De facto besitzt die Europäische Union bereits eine materielle Verfassung – instrument of government und bill of rights sind hier existent. Sie benötigt jedoch nach wie vor eine Verfassung im formellen Sinne. Vermöge einer solchen könnten Inhomogenität, Zersplitterung der Kompetenzen, terminologische und institutionelle Konfusion, kurzum die gesamte diffuse Struktur des europäischen Gebildes und die damit einhergehende Akzeptanzkrise überwunden, zumindest aber relativiert und ein hohes Maß an Transparenz erzeugt werden267. Dies alles ist in den Konventionssystemen nicht erforderlich, die vorgefundene Realität ist eine andere: Die Konventionssysteme errichten gerade kein System öffentlicher Gewalt, haben keinen Kompetenz- und Aufgabenkatalog, der an Umfang und Dichte mit jenen anderer internationaler Kooperationsformen vergleichbar wäre und sind auch nicht mit Durchgriffswirkung versehen. Anders als die EU, die Vereinten Nationen und die WTO ist der regionale Menschenrechtsschutz rein judikativ und auf eine ex post-Kontrolle der Menschenrechte beschränkt – sie sind reaktiv, nicht aktiv Rechtswirklichkeit gestaltend. Anknüpfend an C. Möllers, der dargelegt hat, dass das nationale Verfassungsrecht herrschaftsbegründend, das europäische Verfassungsrecht hingegen herrschaftsformend sei, mithin ersteres Verfassungsverständnis demokratisch, letzteres primär rechtsstaatlich bestimmt sei268, beide aber die Qualifizierung als Verfassungsrecht verdienten, lässt sich unter Einbeziehung der Konventionssysteme das Bild eines dreigliedrigen Stufengefälles zeichnen. Dieses geht vom nationalen Verfassungsbegriff aus und verläuft über das supranationale Recht der EU zum regionalisierten Menschenrechtsschutz. Ist das erstere Rechtsregime herrschaftsbegründend, das zweite im wesentlichen herrschaftsformend und beide ergo verfassungsfähig und verfassungsbedürftig, so gilt anderes für das Konventionsrecht als dritte Ebene: Dieses ist lediglich herrschaftskorrigierend, lässt sich aufgrund seiner punktuellen Einwirkungsweise auf politische Herrschaft in An267

Siehe dazu W. Hertel, Supranationalität als Verfassungsprinzip, 1999, S. 23 ff. C. Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 1 ff. 268

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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lehnung an K. R. Popper als eine Art „piecemeal social engineering“ bezeichnen. Die Anwendung des Verfassungsbegriffes erweist sich deshalb für den regionalen Menschenrechtsschutz – anders als für die ersten beiden Rechtsregime – als verfehlt269. d) Zwischenergebnis Die vorausgegangene Analyse hat gezeigt, dass die regionalen Menschenrechtssysteme nur einen Teil der Verfassungsfunktionen erfüllen. Verfassungsfunktionen und -merkmale lassen sich in notwendige und hinreichende Bedingungen unterteilen. Begründungs-, Begrenzungs- und Organisationsfunktion – seit der nordamerikanischen Verfassungsrevolution auf die Kurzformel instrument of government und bill of rights gebracht – sowie die Vorrangigkeit sind notwendige, das heißt unverzichtbare Bedingungen eines materiell-normativen Verfassungsbegriffes270. Die weiteren Verfassungsfunktionen der Integration, Stabilisierung und Entlastung des politischen Prozesses sind hingegen nur hinreichende Bedingungen. Unter dieser Differenzierung erfüllen die Konventionssysteme lediglich die hinreichenden, nicht aber die notwendigen Bedingungen einer Verfassung. Sie mögen „regional bill of rights“ sein, „regional instruments of government“ sind sie nicht. Sie nehmen allenfalls die eine Hälfte der verfassungsrechtlichen Errungenschaften in sich auf. Allenfalls ließen sie sich also als Teilverfassungen, „Semikonstitutionen“ begreifen. Aber selbst unter der Annahme einer „Entbündelung der Verfassungsfunktionen“ 271 reicht ihre normative Substanz letztlich nicht aus, um von einer Verfassung im materiellen Sinne zu sprechen. Diese Erkenntnis wirkt sich auch auf die institutionelle und instrumentale Analyse aus. Vermögen zweifelsohne „Analogien“ zum Status nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit vorhanden sein272, sind die Kompetenzkataloge und Verfahrensarten dennoch so beschränkt, dass die Gerichtshöfe keine Teilverfassungsgerichte sind. Auch jenseits eines solchen funktionalen oder strukturellen Verfassungsverständnisses bestehen Unzulänglichkeiten. So kann etwa auch die „symbolisch-ästhetische Dimension“ der Verfassung273 durch sie nicht oder nur sehr begrenzt ausgefüllt werden. 269 Ein anderes Szenario wäre jedenfalls für das europäische Konventionssystem möglich gewesen, hätte man einst vor der Ausarbeitung europäischer Grundrechte die EG als organisationsrechtliches Gefüge belassen und die von ihr ausgehende supranationale öffentliche Gewalt durch die EMRK als „european bill of rights“ verfasst. Das EG-/EU-Recht wäre dann instrument of government gewesen, die EMRK bill of rights. 270 Streng genommen handelt es sich hierbei sogar um äquivalente, dass heißt hinreichende und notwendige Bedingungen („if and only if“/„genau dann wenn“). 271 Dazu A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 93 ff., 163 ff. 272 So P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 478 ff. 273 Dazu und zu der Unmöglichkeit, sie im überstaatlichen Recht zu erfüllen U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 511 ff., insbesondere 525 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Demnach ist entweder der Verfassungsbegriff inhaltlich um einen wesentlichen Substanzteil zu verkürzen, auf eine Schwundstufe zu reduzieren oder die Bezeichnung der Verfassung bzw. des Konstitutionalismus in diesem Zusammenhang aufzugeben274. Kriterien und Maßstab dem Gegenstand anzupassen, anstatt ihn daran zu messen, stiftet dagegen mehr Verwirrung als dass es zur Klärung beiträgt. Im Ergebnis wird der Verfassungsbegriff für die Konventionssysteme also nicht aufgrund einer Enge des Verfassungsverständnisses abgelehnt, sondern aus Gegenteiligem: Inhaltliche Weite und Tiefe des Verfassungsbegriffes, sein normativer Anspruch, führen dazu, dass es einer Entwertung gleichkäme, diesen Begriff auf die Konventionssysteme zu übertragen. 3. Fehlende Verfassungsbedürftigkeit regionaler Menschenrechtsregime Die obige Analyse hat nicht nur die verfassungsrechtlichen Funktionsdefizite des regionalen Menschenrechtsschutzes aufgezeigt, sondern auch dargetan, dass kein konstitutionsfähiger Gegenstand besteht. Dies gilt sowohl für eine präkonstitutionelle als auch eine postkonstitutionelle Perspektive. Mit ersterer ist gemeint, dass weder eine noch nicht verfasste, extrakonstitutionelle Hoheitsgewalt existent war bzw. ist, die verfasst werden könnte und müsste. Mit letzterer ist gemeint, dass die Konventionssysteme auch keine genuin eigene Hoheitsgewalt errichten und ausüben, die eine Verfassungsbedüftigkeit kreierte. In Ermangelung einer unverfassten Gewalt besteht auch keine Verfassungsbedürftigkeit; es käme durch die Konventionssysteme lediglich zu einer reinen Duplizität an Verfassungen.

V. Resümee: Konstitutionelle Elemente im regionalen Menschenrechtsschutz – Regionaler Menschenrechtsschutz als konstitutionelles Element im Völkerrecht Die Erkenntnis eines Mangels an „Verfassbarem“ und „Verfassungsbedürftigkeit“ ist entlarvend. Die konstitutionellen Defizite der Konventionen führen dazu, dass die vielgeführte Gleichsetzung der regionalen Systeme mit Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit inadäquat ist. Hinter der Konstitutionalismusterminologie verbirgt sich primär das Motiv einer semantischen Aufwertung, die auf das Materielle durchschlagen soll. Sie ist damit beispielhaft für die pragmatistische Deutung des Rechts275. In der Bemühung dieser Begrifflichkeiten verkörpert sich ein Amalgam an Ansprüchen, den Texten und Institutionen mehr Achtung und Vor- bzw. Höchstrangigkeit zukommen zu lassen, wenigstens eine 274 Vor einer „obliteration“ und dem Fehler des Nominalismus im Hinblick auf „Konstitutionalismus“ warnt auch schon B. Ackerman, The Rise of World Constitutionalism, Virgina Law Review (83) 1997, S. 794. 275 Dazu unter Einleitung II.

B. Konstitutionalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Abschwächung der Rangproblematik und der nationalen Widerstände zu erwirken. Neben diesem normativen Anliegen, vermittels Rhetorik die Wirkung der Konventionen zu steigern und einen Autoritätsgewinn zu evozieren, dient es der Beschreibung von im internationalen Kontext reproduzierten strukturellen Parallelen mit dem nationalen Verfassungsrecht276. Der Konstitutionalismusbegriff fungiert insoweit zur Beschreibung des Emanzipationsprozesses verfassungsrechtlicher Strukturen aus dem staatlichen Kontext hinaus und den damit sich vollziehenden völkerrechtlichen Veränderungserscheinungen277. Die identifizierten Ähnlichkeiten und Parallelen mit dem Verfassungsrecht bedeuten aber nicht Identität. Regionaler Menschenrechtsschutz weist fraglos konstitutionelle Elemente auf, deshalb konstitutionalisiert er sich aber noch nicht. Die Konventionssysteme sind lediglich völkerrechtliche Verträge mit verfassungsrechtlichen Elementen. Ohne dass sich dies auf einem orthodoxen Verfassungsverständnis gründen müsste, bleibt es für die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme bei bloßen „Konstitutionalisierungserscheinungen“. Allenfalls lassen sich „Konstitutionalisierungstendenzen“ (R. Uerpmann-Wittzack) ausmachen, keinesfalls besteht eine Konstitutionalisierung als solche (C. Walter). Diese Differenzierung ist deshalb bedeutsam, weil die Erscheinungsebene nicht notwendig mit der Seinsebene identisch ist. Allen strukturellen Ähnlichkeiten und Parallelen auf der Erscheinungsebene, Konstitutionalisierungsbekundungen, Verfassungsvergleichen und Bemühungen des Konstitutionalismusbegriffes durch Literatur und Konventionsrechtsprechung zum Trotz, reichen die Konventionssysteme materiell-funktional gerade nicht an die Errungenschaften des Konstitutionalismus heran. Sie weisen eben nur die hinreichenden, nicht die notwendigen Elemente einer Verfassung auf. Die Konventionssysteme als solche – mögen sie auch auf Dauer und Unverbrüchlichkeit angelegt sein, durch besondere Dignität als „leges fundamentales“, „Grund-Gesetze“ gekennzeichnet sein – sind keine Verfassung oder Teilverfassungen im normativen Sinne und werden es auch nicht. Sie sind lediglich ein Element eines „konstitutionellen Gemeinrechts“ 278, wirken an der „werdenden Verfassungsgemeinschaft“, dem regionalen „konstitutionellen Mosaik“ 279 mit, verbleiben aber als einzelner Bestandteil, nicht als Inbegriff dessen. Die Beschreibung als „Konstitutionalisierung“ wird diesem Befund letztlich nicht gerecht. Die Konventionssysteme als Verfassungen zu bezeichnen ist also genauso unzutreffend und unterstellend, wie in ihnen schlichte völkerrechtliche Verträge zu erkennen. Das der Arbeit vorangestellte Rechtsprechungszitat des EGMR gibt frühes Zeugnis, dass sich der regionale Menschenrechtsschutz den 276 Letztlich ist die Konstitutionalisierungsthese ein Fall von „Unterdeterminiertheit empirischer Theorie durch die Evidenz“. Vgl. dazu B. van Fraasen und dessen Theorie des „Konstruktiven Empirismus“, The Scientific Image, 1980 S. 12. 277 Dazu eingehend Dritter Teil F. 278 Vgl. P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 279 Vgl. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 209 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

vorhandenen Kategorien von Verfassungs- und Völkerrecht entzieht. Die Etikettierung als Konstitutionalisierung, die bloße Semantik des Konstitutionellen, erzeugen für sich weder Verfassungscharakter noch Verfassungsbedarf, sondern drohen lediglich die Errungenschaften des Konstitutionalismus280, dessen normative Kraft, zu beschädigen. Auch für die „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ im Allgemeinen zeitigt dargetane Analyse Auswirkungen: Zutreffend werden zur Beschreibung des internationalen Rechts Anleihen an den Konstitutionalismusbegriff genommen und Teilelemente des verfassungsrechtlichen Instrumentariums im Völkerrecht rezipiert und reproduziert. So wird weder der Prozess einer „Objektivierung“ und „Hierarchisierung“ des internationalen Rechts als solcher bestritten, noch eine Ähnlichkeit zu konstitutionellen Merkmalen. Auch ist bezogen auf die globalen Veränderungen der Verfassungsbegriff grundsätzlich nicht unpassend, finden sich doch auf internationaler Ebene – anders als im regionalen Menschenrechtsschutz – beide konstitutiven Verfassungselemente – instrument of government und bill of rights – sowie erste Ansätze notwendiger Verfassungsfunktionen wieder. Gleichwohl sind, gemessen an den Errungenschaften des Konstitutionalismus, sämtliche Veränderungen bisher nur rudimentär. So sehr auch der Konstitutionalisierung das Wort geredet wird, so grundlegend die Veränderungsprozesse sind und so begrüßenswert die damit verbundenen normativen Implikationen erscheinen, ist diese Beschreibung doch zweifelhaft. Ohne zu verkennen, dass der Verfassungsbegriff zu weiten ist und sich Verfassungselemente in internationalen Zusammenhängen herausbilden, überdehnt und entwertet es ihn zugleich, wenn dieser auf sämtliche Veränderungsphänomene projiziert wird. Begriff und Idee der Konstitutionalisierung drohen durch diese „einvernehmliche Postnationalisierung des Verfassungsrechts“ 281 zu atrophieren. Das gewandelte Völkerrecht ist eher ein aliud oder ein minus zu diesem und verdient deshalb auch eine andere Bezeichnung.282, verlangt nach einer anderen als der tradierten verfassungsrechtlichen Semantik. Der empirische Befund einer erst im Prozess begriffenen Objektivierung und Hierarchisierung des internationalen Rechts führt dazu, dass die Konstitutionalisierung des Völkerrechts bisher mehr Metapher als Wirklichkeit ist. Nach der eingangs skizzierten Lesart des Pragmatismus wäre eine solche Gründung auf Metaphorik und Rhetorik an sich möglich und unschädlich. Allerdings muss 280 Dazu N. Luhmann, Die Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176. 281 U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 517. 282 So sind etwa statt des Konstitutionalismusbegriffes, der die unrealistische Schöpfung globaler demokratischer Staaten impliziert, „legalization“, „institutionalism“ und „new institutionalism“ sowie „supranationalism“ vorgeschlagen worden, siehe m.w. N. A. v. Bogdandy, Constitutionalism in International Law, Harvard International Law Journal, 47 (2006), S. 241.

C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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diese auch überzeugen. Gerade das ist jedenfalls noch sehr zweifelhaft. Ein tragfähiges Konstitutionalisierungsnarrativ, dem kritisches Potential zukäme, weil durch es das Subjektive ins Objektive umschlägt, Universalisierung und Verantwortungszusammenhänge geschaffen werden283, ist noch nicht vorhanden, sondern erst im Werden begriffen. Im Ergebnis lässt sich, wie T. Kleinlein dargelegt hat, eher eine „Konstitutionalisierung im Völkerrecht“ konstatieren als eine „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ 284.Gleiches gilt auch für den regionalen Menschenrechtsschutz. Es gibt konstitutionelle Elemente in ihm, aber er konstitutionalisiert sich nicht als solcher. Er ist Teil einer pluralistischen Ordnung285, wird deshalb aber noch nicht zur Verfassung. Obgleich der regionale Menschenrechtsschutz Teil und treibende Kraft des Konstitutionalisierungsprozesses im Völkerrecht ist, sollte sein Entwicklungsprozess deshalb nicht als Konstitutionalisierung bezeichnet werden. Verfassung droht sonst vom Leitbegriff zum Allerweltsbegriff 286 zu verkommen. Der Rückgriff auf verfassungsanaloges Denken und verfassungsanaloge Terminologie sollte deshalb unterbleiben.

C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes? Die Beschreibung des regionalen Menschenrechtsschutzes als „Konstitutionalisierung“ hat sich als inadäquat, als bloße Etikettierung erwiesen. Struktur und Entwicklungsstand der Konventionssysteme bleiben hinter dem normativen Anspruch einer Verfassung zurück. Das bringt die Frage auf, wie sich die Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes angemessen beschreiben und auf einen Begriff bringen lässt. Die unter staatlicher Souveränitätsveränderung erfolgende Ausdifferenzierung und Autonomisierung der regionalen Menschenrechtsschutzmechanismen, ihre spürbare Einwirkung auf das innerstaatliche Recht und die unmittelbare Berufungsfähigkeit des Konventionsrechts rücken die Systeme in 283 Mit Verweis auf N. Walker und M. Koskenniemi, A. Peters, in: J. Klabbers/A. Peters/G. Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2011, S. 351 f. 284 T. Kleinlein, Konstitutionalisierung im Völkerrecht, 2012, S. 685. 285 Dazu grundsätzlich N. Krisch, Beyond Constitutionalism. The Pluralist Structure of Post-National Law, 2010, der basierend auf einem dichotomischen Verständnis zwischen Pluralismus und Verfassung den Verfassungsbegriff letztlich zur Beschreibung der Gegenwartsphänomene ablehnt, weil diese immer ein „overarching legal frame“ sei und sich nicht mit fragmentierten und konkurrierenden Mehrebenenordnungen vereinbaren lasse. 286 R. Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: C.-E. Eberle u. a. (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. Festschrift für Winfried Brohm, 2002, S. 191 ff. Diese Gefahr ebenfalls erkennend und als „Papiertiger“ bezeichnend A. Peters, in: J. Klabbers/A. Peters/G. Ulfstein (Hrsg.), The Constitutionalization of International Law, 2011, S. 342.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

die Nähe eines anderen rechtlichen Konzepts, das sich aufgrund seines überstaatlichen Charakters möglicherweise besser als der Konstitutionalismus eignet, den Eigenschaften der Konventionssysteme gerecht zu werden: das der Supranationalität. Nachfolgend ist deshalb zu untersuchen, ob und gegebenfalls inwieweit sich die Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes als „Supranationalisierung“ begreifen lässt.

I. Supranationalität: Entwicklung und Kriterien eines europarechtlich vereinnahmten Begriffs Der Begriff „supranational“ erscheint erstmalig positivrechtlich in Art. 9 des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft von Kohle und Stahl (EGKS-Vertrag)287, in dem die Mitgliedstaaten auf Respekt gegenüber dem „caractère supranational“ bzw. „supranational character“ der Hohen Behörde verpflichtet werden. Die deutsche Fassung hingegen vermeidet diese Terminologie und spricht stattdessen vom „überstaatlichen Charakter“. Auch wenn dem Begriff zu diesem Zeitpunkt noch keine dezidiert konzeptionelle Bedeutung zukam288, er erst mit der Zeit zu einem Rechtsbegriff mit normativer Wirkung heranreifte, waren zwei Elemente prägend: Die in dieser Norm eingefasste negative Unterlassungspflicht, von allem abzusehen, was mit dem überstaatlichen Charakter unvereinbar sein könnte, und der positive Achtungsanspruch des überstaatlichen Rechts. Wenngleich der normative Gehalt damit umrissen ist, gibt es bis heute keine allgemein anerkannte juristische Definition des Supranationalitätsbegriffes.289 Seine Verwendung ist uneinheitlich geblieben. Im politischen Sinne bezeichnet er allgemein einen überstaatlichen, internationalen Integrationsprozess290. Zu diesem Umstand trägt auch bei, dass der Begriff „Supranationalität“ in den EU-Verträgen über keine positivrechtliche Grundlage mehr verfügt291, seitdem er im Zuge einer Vertragsänderung 1965 bzw. 1967 eliminiert worden ist292, um den Eindruck zu vermeiden, dass die Nationen durch den europäischen Integrationsprozess „gestört“ werden sollen293.

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A. Skordas, Supranational Law, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, S. 693. 288 Insofern äußerst kritisch H. Lecheler, „Supranationaliät“ der Europäischen Gemeinschaften – Rechtliche Beschreibung oder unverbindliche Leerformel?, JuS 1974, S. 7 ff. 289 R. Streinz, Europarecht, 9. Auflage 2012, § 3 Rn. 129. 290 A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 59. 291 M. Zuleeg, Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, Integration 1988, S. 107 mit Verweis auf H. P. Ipsen, Über Supranationalität, in: H. Ehmke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, S. 211 ff. 292 H. P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht in Einzelstudien, 1984, S. 97. 293 W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 40.

C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Dieser Begrifflichkeit dennoch Inhalt und Identität gegeben, ihren normativen Anspruch formuliert zu haben, ist maßgeblich das Verdienst der proaktiven Rechtsprechung des EuGH seit den 1960er Jahren gewesen. So hat der Gerichtshof insbesondere durch die Leitentscheidungen Van Gend & Loos, Costa/ENEL und Internationale Handelsgesellschaft dem EU-Recht Eigenständigkeit, Vorrangigkeit und Durchgriffswirkung attributiert. Diese Entwicklung verlief indes nicht linear294 und nicht ohne Kritik seitens der höchsten Gerichte der Mitgliedstaaten, insbesondere des deutschen Bundesverfassungsgerichts, so dass man die Herausbildung insgesamt als einen fruchtbaren „dialektischen“ Prozess begreifen kann295. Das supranationale Recht ist kennzeichnend für den erreichten Integrationsstand bzw. die Bildung einer autonomen Rechtsordnung sui generis296, die die Mitgliedstaaten auch ohne bzw. gegen ihren Willen verpflichtet. Abstrakt sucht der Begriff der Supranationalität jene primär durch den EuGH verantworteten Eigenarten des Unionsrechts297 kategorisch einzufangen298 und auszudrücken, die in ihrer Intensität und Kumulation die Besonderheit der EU gegenüber internationalen Organisationen nach traditionellem Völkerrechtsverständnis ausmachen. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass Supranationalität nicht denknotwendig ein exklusiv europäisches Phänomen ist. Wenngleich kein Gebilde eine auch nur annähernd mit der EU vergleichbare Integrationstiefe und -dichte erreicht hat und die meisten Organisationen weiterhin als intergouvernemental anzusehen sind, finden sich dennoch zumindest Teilrezeptionen und Ansätze von Supranationalität in Nordamerika (NAFTA), Südamerika (CAN, MERCOSUR, Union of South American Nations), Afrika (AU, AEC) und Asien (ASEAN, APEC)299. 294 Von Anfang an gab es einen Disput zwischen „Widersachern“ und „Befürwortern“ der Supranationalität, der darin mündete, dass mit dem „Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften“ vom 8. April 1965 die Bezeichnung der Hohen Behörde in Art. 19 aufgehoben wurde und Supranationalität sogar für „tot“ erklärt wurde. So M. Zuleeg, Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, Integration 1988, S. 106 ff. mit Verweis auf H. P. Ipsen, Über Supranationalität, in: H. Ehmke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, 1973, S. 212. 295 J. H. H. Weiler, The Transformation of Europe, Yale Law Journal, 100 (1991), S. 2403 ff. 296 Dies war lange Zeit umstritten. So argumentiert, stellvertretend für viele, H. Lecheler noch dafür, dass das Gemeinschaftsrecht eine „bloße Summierung ,europäischer Annexe‘ der jeweils tangierten nationalen Materien“ sei, wertet Supranationalität als „Leerformel“ und plädiert stattdessen für die Lehre von der Staatenverbindung, H. Lecheler, „Supranationaliät“ der Europäischen Gemeinschaften – Rechtliche Beschreibung oder unverbindliche Leerformel?, JuS 1974, S. 7 ff. Allerdings hat auch das BVerfG eine „Gemeinschaft eigener Art“ angenommen, vgl. BVerfGE 22, 296. 297 P. Badura, Bewahrung und Veränderung demokratischer und rechtstaatlicher Verfassungsstrukturen in den internationalen Gemeinschaften, VVDStRL 23 (1966), S. 58. 298 R. Streinz, Europarecht, 9. Auflage 2012, § 3 Rn. 130. 299 A. Skordas, Supranational Law, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, S. 695 f.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Trotz aller Vagheit und Offenheit des Supranationalitätsbegriffes lassen sich einige übereinstimmend geforderte Charakteristika identifizieren300. Voraussetzung sind zunächst gemeinsame politische Grundwerte, ohne die die Herstellung einer engeren Verbundenheit nicht möglich ist. Kennzeichnend ist sodann eine gewisse „Aufgabenweite“ und zu deren Erfüllung etablierte, mit institutioneller Selbständigkeit ausgestattete Organe. Notwendig ist grundsätzlich auch eine gewisse finanzielle Selbst- und Eigenständigkeit. Neben diesen „weichen“ Merkmalen, die Supranationalität erst ermöglichen, lassen sich aber auch „harte“ Kriterien identifizieren. Dazu zählen vor allem der Vorrang und die Durchgriffswirkung supranationaler Akte und Maßnahmen gegenüber dem Recht der Mitgliedsstaaten. Hinzu tritt die direkte Anwendbarkeit des gesetzten Rechts301. Ein zentrales Charakteristikum ist im Entscheidungsverfahren zu erkennen. Im Gegensatz zu intergouvernementalen Kooperationsformen, die auf dem Grundsatz der souveränen Gleichheit aller Staaten operieren, sind supranationale Organisationen dadurch gekennzeichnet, dass die Möglichkeit besteht, überstimmt und auch ohne Konsens gebunden zu werden. Schließlich steht Supranationalität für eine eigenständige, autonome Rechtsordnung302.

II. Supranationalität im regionalen Menschenrechtsschutz Ein orthodoxes Verständnis von Supranationalität verbietet es, regionale Menschenrechtssgebilde als supranational zu bezeichnen und zu verstehen. Wie aufgezeigt, wird der Terminus nahezu exklusiv dem europäischen Recht im engeren Sinne, also jenem der EU zugeordnet. Darin ist aber noch nicht per se eine mangelnde Übertragbarkeit begründet303, wie es aus dogmatischen Erwägungen zu300 Dazu übersichtlich T. Oppermann/C. D. Classen/M. Nettesheim, Europarecht, 4. Auflage 2009, § 5 Rn. 11 ff. bzw. weniger übersichtlich, dies., Europarecht, 6. Auflage 2014, § 4 Rn. 8 ff. und § 9 Rn. 12 f. 301 Im Rahmen der EU gilt dies selbst für grundsätzlich umsetzungsbedürftige Richtlinien, sofern die Umsetzungsfrist abgelaufen ist, sie den Einzelnen begünstigen, hinreichend klar und bestimmt und unbedingt sind (self-executing Charakter), vgl. dazu die sog. Francovich-Entscheidung des EuGH C-6/90 und C-9/90 vom 19.11.1991. 302 Zu diesen Merkmalen statt vieler, R. Streinz, Europarecht, 9. Aufl. 2012, § 3 Rn. 129 ff. Das Kriterium der autonomen Rechtsordnung ist derweil umstritten. Jedenfalls nach der Lesart des EuGH ist das ein entscheidender Wesenszug des europäischen Rechts. Folgt man hingegen dem Maastricht-Urteil und dem Lissabon-Urteil des BVerfG, ergeben sich im Grunde sogar Zweifel an der Supranationalität des EU-Rechts. Das BVerfG insistiert mit Vehemenz auf strikter Anwendung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung. Die Grundnorm liege nach wie vor in der (nationalen) Verfassung, die den (jederzeit aufhebbaren) Rechtsanwendungsbefehl gebe. Die EU sei letztlich ein völkerrechtliches Konstrukt. Vgl. etwa BVerfGE 123, 267 Rn. 226, 339, 343. 303 Nur sehr vereinzelt wird der Begriff der „Supranationalität“ im Zusammenhang mit der EMRK „gewagt“, so etwa M. Ruffert, Die Europäische Menschenrechtskonvention und innerstaatliches Recht, EuGRZ 2007, S. 245 ff., insbesondere S. 254 und J. M. Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und

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nächst den Anschein hat. Die Möglichkeit, auch andere Rechtsregime damit zu bezeichnen, findet bereits darin ihre Grundlage, dass der vom Unionsrecht in Besitz genommene Begriff der Supranationalität keineswegs streng definiert ist, sondern verschiedene Charakteristika umschreibt. Nachfolgend soll deshalb untersucht werden, ob sich die Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes – zumindest im Hinblick auf die europäische Menschenrechtsschutzarchitektur – faktisch und normativ auch als Supranationalisierung deuten lässt, ja, ob eine solche Deutung nicht sogar geboten ist. 1. Supranationale Elemente und Tendenzen a) „Acquis conventionnel“ und Ausstrahlungswirkungen als supranationale Spurenelemente Gemeinsame politische Grundwerte und ein gemeinsames kulturelles Erbe sind in beiden Konventionsräumen gegeben304. Darauf wird bereits in den Präambeln der Konventionen Bezug genommen. Auch die institutionelle Unabhängigkeit und Eigenständigkeit der Schutzinstitutionen EGMR, IAGH und IAMK sind mit jener supranationaler Organe vergleichbar. Ernste Zweifel ergeben sich indes hinsichtlich der Aufgabenweite. Zwar weisen die regionalen Rahmenorganisationen – Organisation Amerikanischer Staaten und Europarat – ein weites Tätigkeitsspektrum auf, doch sind die in den Blick genommenen und hier relevanten Konventionssysteme auf die spezifische Materie der Menschenrechte beschränkt. Neben dieser materiellrechtlichen Begrenzung stimmt auch der institutionelle Zuschnitt der Konventionsorgane auf überwiegend judikative Funktionen skeptisch. Dieser Befund sprach schon gegen die Annahme eines Konstitutionamenschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 28 ff. Den „Anspruch“ der Supranationalisierung für die EMRK erhebend auch E. Klein, Should the binding effect of the judgements of the European Court of Human Rights be extended?, in: P. Mahoney/F. Matscher/H. Petzold/L. Wildhaber (Hrsg.), Protection des droits de l’ homme: la perspective européenne, Mélanges à la mémoire de Rolv Ryssdal, 2000, S. 710 f.: „To remedy this situation the Convention and its judicial organ should be formed along the lines of a supranational institution“, „should have direct effect within domestic law and should be afforded legal superiority.“, „It would be much more effective to re-shape it according to the concept of supranationality.“ Ansatzweise auch T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage, 2005, § 2 Rn. 16, 30. Sich auf diesen berufend und konstatierend, dass der Schritt zur Supranationalität getan sei, auch R. Wahl, Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht – Relevanz unterschiedlicher Entwicklungspfade, in: S. Breitenmoser/ B. Ehrenzeller/M. Sassòli/W. Stoffel/B. Wagner Pfeiffer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 866 sowie D. Buschle, Ein neues „Solange“? Die Rechtsprechung aus Karlsruhe und Straßburg im Konflikt, VBlBW 2005, S. 296, der konstatiert, „dass die Europäische Menschenrechtskonvention im Bereich des Grundrechtsschutzes ein Integrationssystem geschaffen hat, das, auch in der zunehmenden Verschmelzung mit dem Gemeinschaftsrecht, der Supranationalität näher steht als dem klassischen Völkerrecht.“ 304 Dazu bereits eingehend Teil 1 und Teil 2.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

lisierungsprozesses und lässt ebenfalls begründete Zweifel an einer Supranationalisierung der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme aufkommen. Weiterhin fehlt es den beiden regionalen Rahmenorganisationen ebenso wie den Konventionssystemen an einer finanziellen Selbstständigkeit. Sie beziehen ihre Mittel traditionell völkerrechtlich ganz überwiegend aus Beiträgen der Mitgliedstaaten305. Zentral ist die Frage nach Bindungswirkung, unmittelbarer Anwendbarkeit, Durchgriffswirkung und Vorrang als supranationalen Merkmalen par execellence. Wie dargetan, variiert der Rang der Konventionen im innerstaatlichen Recht306. Gleiches gilt für die Problematik der unmittelbaren Anwendbarkeit. Hier kommt es maßgeblich darauf an, ob im nationalen Recht monistische oder dualistische Völkerrechtsvorstellungen dominieren. Die Bindungswirkung der Konvention folgt grundsätzlich aus dem Umstand der Ratifikation, also aus einem freien, voluntativen Akt des jeweiligen Staates. Gleichwohl sind die Staaten im Nachgang zu dieser Willensbetätigung nicht mehr frei, sondern gegebenenfalls auch gegen ihren Willen an die Konvention gebunden; EGMR und IAGH beanspruchen in diesem Kontext partiell Kompetenz-Kompetenz307. Das birgt ein nonvoluntaristisches, vom Konsensprinzip losgelöstes Bindungselement. Ferner sind die Urteile der Gerichtshöfe Feststellungsurteile, deren Bindungswirkung in einer „Befolgungspflicht“ besteht. Die Urteile müssen also innerstaatlich umgesetzt werden, hinsichtlich der Mittel und Form sind die Staaten jedoch grundsätzlich frei. Daraus ergibt sich eine gewisse „Richtlinienähnlichkeit“: Die Feststellungsurteile der Konventionsorgane sind hinsichtlich ihres Ziels verbindlich, nicht aber im Hinblick auf die erforderlichen Mittel. Ferner genießt die Konventionsgerichtsbarkeit, aufgrund der Umsetzungsverpflichtung und schon als denknotwendige Folge des Zulässigkeitserfordernisses der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit, eine gewisse Letztentscheidungskompetenz, die sich als „Höchstrangigkeit“ deuten lässt. Mit dem hierdurch begründeten Vorrang ist ein konstitutives Merkmal von Supranationalität – wenn auch nicht formal – jedenfalls de facto erfüllt. Schließlich nehmen die Gerichtshöfe auch eine autonome Interpretation der Konventio305 Vgl. etwa Art. 38 Europaratssatzung. Das interamerikanische System refinanziert sich neben Zuweisungen auch aus Spendengeldern. 306 Vgl. dazu bereits Dritter Teil A. II. 3. 307 Dazu bereits Dritter Teil A. II. 2. a). Berühmtes Beispiel hierfür im Hinblick auf die EMRK geben die Fälle ECHR, 29.04.1988, Belilos v. Switzerland, No. 10328/83 und ECHR, 23.05.1995, Loizidou v. Turkey, No. 15318/89. Das Belilos-Urteil gilt dabei als Begründung des „Strasbourg approach“: Nicht nur, dass der Gerichtshof für sich die ausschließliche Prüfungskompetenz der Wirksamkeit von Vorbehalten in Anspruch nahm, sondern erstmalig trotz Unzulässigkeitserklärung des Vorbehalts als Rechtsfolge die vollständige Bindung der Schweiz annahm, vgl. dazu A. Zimmermann, Menschenrechtsverträge als Katalysatoren der Völkerrechtsentwicklung?, in: A. Zimmermann/ L. Gunnarson (Hrsg.), Aktuelle Fragen des Menschenrechtsschutzes, 2011, S. 27 ff.

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nen vor, verstehen diese als von den Staaten losgelöste, autoritative Quelle. Darin scheint der Charakter einer autonomen Rechtsordnung als ein weiteres konstitutives Merkmal auf. Endlich ist auf den Kontrast zwischen allgemeinem Völkerrecht und regionalem Menschenrechtsschutz hinszuweisen. Mögen weite Teile dessen – wie auch des Europarates und der OAS – als intergouvernemental verbleiben, haben die Konventionssysteme mit ihrer permanent gegen staatliche Hoheitsakte gerichteten Judikatur den Rahmen rein koordinativen Rechts verlassen. Sie haben sich von diesem Kontext durch inhaltliche und institutionelle Verselbständigung emanzipiert. Diese erste Analyse supranationaler Merkmale verdeutlicht bereits, dass die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme grundsätzlich supranationalisierungsfähig sind und bereits supranationale Spurenelemente beinhalten. Noch deutlicher wird dies, wenn man sich die Einwirkungen auf das nationale Recht vergegenwärtigt. Beispielhaft seien die Veränderungen der deutschen Rechtsordnung durch die EMRK angeführt, die zahlreiche Rechtsgebiete betreffen. So hat sich in Verurteilung der Bundesrepublik Deutschland das Erbrecht (Gleichstellung unehelicher Kinder), das Familienrecht (Umgangsrecht der Väter) und das Strafvollzugsrecht (Sicherungsverwahrung)308 maßgeblichen Änderungen ausgesetzt gesehen. Des Weiteren ist das Arbeitsrecht immer wieder Gegenstand von tiefgreifenden Korrekturen gewesen. Exemplarisch sei auf die Whistleblower-Entscheidung verwiesen, die die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes korrigierte und dieses als von der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK umfasst ansieht309 oder die Unwirksamkeitserklärung der Kündigung eines Kirchenmitarbeiters wegen einer außerehelichen Beziehung, die nicht mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK vereinbar sei310. Ferner ist auch das Auslieferungsrecht betroffen gewesen. Zur Verfassungskonformität einer Auslieferung nach Art. 16 Abs. 2 GG ist die Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze geboten. Kern dieser wiederum sind menschenrechtliche Verbürgungen, wobei als Maßstab auf die Garantien der EMRK und des IPBPR zurückgegriffen werden soll311. Der rechtsstaatliche Gehalt des Grundgesetzes im Kontext des Art. 16 GG wird also maßgeblich durch die „europäische Menschenrechtsordnung“ in Gestalt der EMRK definiert und durchformt. Auch das Verfahrensrecht unterlag immer wieder Änderungen, so etwa indem Wiederaufnahmeregelungen in StPO und ZPO eingefügt worden sind. Schließlich ist in Reaktion auf das Urteil Sürmeli v. Deutschland aus dem Jahre 2006 ein Entwurf für eine Verzögerungsrüge entstanden, der allerdings zunächst wieder verworfen wurde.

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ECHR, 17.12.2009, M. v. Germany, No. 19359/04. ECHR, 21.07.2011, Heinisch v. Germany, No. 28274/08. 310 ECHR, 23.09.2010, Schüth v. Germany, No. 1620/03. 311 So V. Epping/C. Hillgruber, Beck’scher Online-Kommentar GG, Art. 16 GG Rn. 53, Stand 1.1.2012. 309

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Durch das Piloturteil des EGMR im Fall Rumpf v. Deutschland 312, das systematische Verletzungen des Rechts auf ein gerechtes Verfahren (Art. 6 EMRK) durch die deutsche Rechtsordnung feststellte, ist es jedoch im Jahre 2011 eingeführt worden313. Über diese primär legislativen Veränderungen hinaus ist das Handeln aller staatlichen Gewalten von der regionalen Menschenrechtsrechtsprechung betroffen. Der Fall Jalloh v. Deutschland 314 etwa führte zu einer Praxisänderung des Einsatzes von Brechmitteln zur Exkorporation von Betäubungsmitteln durch die Exekutive. Derlei Innovationen und Wandlungen der nationalen Rechtsordnung und Rechtsanwendung sind unmittelbares Produkt der EGMR-Judikate, können mithin als „supranationale Reflexe“ angesehen werden. Dies gilt umso mehr, als dass sie nicht periphere Rechtsgebiete, sondern die in demokratischer Selbstbestimmung zu gestaltenden Kernbereiche staatlicher Souveränität betreffen, mithin an den Grundfesten souveräner Staatlichkeit rühren315. Trägt man dem Umstand Rechnung, dass die Bundesrepublik Deutschland mit den bislang unter 300 gegen sie ergangenen Urteilen zu den Staaten mit den wenigsten Verurteilungen gehört und ein Gros der Mitgliedsstaaten nicht nur weitaus häufiger, sondern auch umfassender „korrigiert“ wird, potenziert sich der Eindruck, dass die Rechtsprechung des EGMR mit ihren insgesamt nahezu 17.000 Urteilen de facto die einzelstaatlichen Rechtsordnungen zunehmend „quasi-supranational“ überwölbt316. Einen besonderen Stellenwert nehmen in diesem Zusammenhang die Piloturteile des Gerichtshofes ein317, die ein systemisches Schutzdefizit der nationalen 312

ECHR, 02.09.2010, Rumpf v. Germany No. 46344/06. Vgl. Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, BGBl. 2011 I 2032 vom 24.11.2011. 314 ECHR, 11.07.2006, Jalloh v. Germany No. 54810/00. 315 So jedenfalls, wenn man die einer „Staatsaufgabenlehre“ gleichenden Aussagen der Lissabon-Entscheidungen zugrunde legt, die die genannten Bereiche des Strafrechts und des Familienrechts für „besonders sensibel“ erklären. BVerfGE 123, 267 Rn. 252 f. „Als besonders sensibel für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit eines Verfassungsstaates gelten seit jeher Entscheidungen über das materielle und formelle Strafrecht (1), die Verfügung über das Gewaltmonopol polizeilich nach innen und militärisch nach außen (2), die fiskalischen Grundentscheidungen über Einnahmen und – gerade auch sozialpolitisch motivierte – Ausgaben der öffentlichen Hand (3), die sozialstaatliche Gestaltung von Lebensverhältnissen (4) sowie kulturell besonders bedeutsame Entscheidungen etwa im Familienrecht, Schul- und Bildungssystem oder über den Umgang mit religiösen Gemeinschaften (5).“ Diese seien „von kulturellen, historisch gewachsenen, auch sprachlich geprägten Vorverständnissen und von den im deliberativen Prozess sich bildenden Alternativen abhängig, die die jeweilige öffentliche Meinung bewegen“. 316 Auch der EuGH hat in seiner nunmehr über 50-jährigen Geschichte weniger als 20.000 Urteile ausgesprochen. 317 Beginn und Ursprung liegen in der Entscheidung ECHR, 22.06.2004, Broniowski v. Poland No. 31443/96, die Enteignungen zum Gegenstand hatte. 313

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Rechtsordnung identifizieren und demnach zur Vermeidung iterativer Konventionsverletzungen die (legislative) Änderung der Rechtsordnung konkret aufgeben. Piloturteilsverfahren in so genannten „clone cases“ erstrecken sich bislang auf das Eigentumsrecht und Enteignungen, das Mietrecht318, das Strafvollzugsrecht319 und das Recht auf einen fairen Prozess320. Derartige durch den Gerichtshof aufgegebene Verpflichtungen gegenüber dem nationalen Gesetzgeber führen zu tiefen Eingriffen in die nationale Rechtsordnung321, denen ein supranationales Moment anhaftet. Insgesamt rücken Quantität und Qualität der Eingriffe das Konventionsrecht in die Nähe supranationalen Rechts, führen in ein „supranationales Konzept“ 322. Auch im interamerikanischen System ist trotz der vergleichsweise geringen Rechtsprechungsdichte von etwa 300 Urteilen eine tiefgreifende Einwirkung auf die nationalen Rechtsordnungen feststellbar. Die durch den Gerichtshof in Costa Rica induzierten Umbildungsprozesse lassen sich beispielhaft im Strafrecht ablesen. So hat die Corte de San José zur Umsetzung des Rechts auf Wahrheit im Zusammenhang mit der Problematik des sogenannten „Verschwindenlassens“ Inkorporationspflichten für die nationalen Strafgesetzbücher konstatiert. Neben dem Strafrecht haben aber insbesondere auch das Sozialrecht, das Recht auf Eigentum und das Recht von Minderheiten nachhaltige und umfassende Prägung durch die Judikatur des Gerichtshofes erfahren. Mithin ist es nicht nur die Struktur der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme mit ihren effektiven Durchsetzungsmechanismen von individuellen Rechtspositionen durch unabhängige, die Konventionsrechtsordnung fortbildenden Gerichten, sondern auch der dichte Bestand, der acquis conventionnel des regionalen Menschenrechtsschutzes und dessen Einwirkung auf die Rechtsordnungen einzelner Staaten, die dem traditionellen, primär kooperativen internationalen

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ECHR, 19.06.2006, Hutten-Czapska v. Poland, No. 35014/97. ECHR, 22.10.2009, Orchowski v. Poland No. 17885/04 und ECHR, 10.01.2012, Ananyev et al. v. Russia, No. 42525/07 und 80800/08. 320 ECHR, 02.09.2010, Rumpf v. Germany No. 46344/06. Im Ganzen dazu A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2012, § 37 Rn. 9 ff. 321 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2012, § 37 Rn. 13, die in den Pilotverfahren im Letzten einen Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips erkennen, da der Staat aufgefordert ist, die Konventionsverletzung abzustellen. 322 M. Ruffert, Die Europäische Menschenrechtskonvention und innerstaatliches Recht, EuGRZ 2007, S. 254, der damit die „grundgesetzliche Öffnung für die hoheitsbegrenzende Verfassungsfunktion“ der EMRK über Art. 24 Abs. 1 GG meint, damals aber noch die dafür notwendige „Einwirkung“ auf die innerstaatliche Rechtsordnung gegeben bzw. „gerade erst im Entstehen“ sah. Eine Neubewertung unter Berücksichtigung der Piloturteilstechnik erlaubt deshalb, die EMRK als „zwischenstaatliche Einrichtung“ im Sinne des Art. 24 Abs. 1 GG zu begreifen und über deren „supranationalen Gehalt“ erneut zu reflektieren. 319

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Recht fremd sind und in dem sich die regionalen Systeme von diesem unterscheiden323. Insofern weist es Ähnlichkeit mit im Allgemeinen als supranational bezeichneten Phänomenen auf, so dass sich nicht unbedingt von einem „Sprung zur Supranationalität“ 324 sprechen lässt, wohl aber von einem judikativ geführten Prozess einer sukzessiven, „stillen“ Supranationalisierung. b) Akzessorische Supranationalität durch Beitritt? Supranationalisierung vollzieht sich nicht nur sukzessiv-judikativ oder wird durch Selbsterklärung evoziert, sondern kann sich auch durch formellen Änderungsakt einstellen. Während ein solcher für das interamerikanische System nicht erkennbar ist325, gilt anderes für das europäische Schutzsystem. Bereits durch das am 13. Mai 2004 verabschiedete und am 1. Juni 2010 in Kraft getretene 14. Zusatzprotokoll, das Art. 59 Abs. 2 EMRK modifizierte und die Änderung des europäischen Primärrechts in Art. 6 Abs. 2 S. 1 EUV, ist die Möglichkeit eines Beitritts der EU zur EMRK geschaffen worden. Durch den geplanten Beitritt sollte die EMRK für die EU völkerrechtliche Verbindlichkeit erlangen, in die Unionsordnung inkorporiert werden und einen Rang oberhalb des Sekundärrechts erlangen (vgl. Art. 216 Abs. 2 AEUV). Damit sollten zukünftig sämtliche unionale Akte den konventionsrechtlichen Ansprüchen genügen müssen326. Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes wäre damit paradigmatischen Veränderungen ausgesetzt327, die in ihrer Gänze noch nicht abzusehen sind. Jedenfalls würde das Gebot der Rechtswegerschöpfung ein etwaiges Verfahren vor der Unionsgerichtsbarkeit erforderlich machen, so dass dem EGMR auch gegenüber dem Europarecht im engeren Sinne faktisch das „letzte Wort“ zukäme328. Die im Bosphorus-Urteil entwickelte – widerlegliche – Vermutung für die Konventionskonformität von EU-Akten zur Vermeidung von Jurisdiktionskonflikten 323 So treffend J. M. Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 28. 324 J. M. Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 28 ff. 325 Der Integrationsstand der NAFTA ist weit hinter dem der Europäischen Union zurück und sieht sich vielfach Integrationshemmnissen ausgesetzt. 326 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2012, § 4 Rn. 17. 327 Dazu J. Vondung, Die Architektur des europäischen Grundrechtsschutzes nach dem Beitritt der EU zur EMRK, 2012. 328 Das unterminiert das Verwerfungsmonopol des EuGH, vgl. N. Reich, Beitritt der EU zur EMRK – Gefahr für das Verwerfungsmonopol des EuGH?, EuZW 21 (2010), S. 641. Auch das BVerfG wird nicht umhinkommen, sich zu repositionieren. Wenn es sich in einem „Kooperationsverhältnis“ zum EUGH befindet (BVerfGE 89, 155) und dieser sich nun in das regionale System der EMRK eingliedert bzw. „unterwirft“, dann ist darin auch ein die Bedeutung und den Zuweisungsrang der EMRK verändernder Wechsel zu erblicken.

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müsste vom EGMR aufgegeben werden.329 Als Vertragspartei der EMRK unterläge die EU zukünftig derselben Kontrolldichte wie die anderen Vertragsparteien. Wenngleich eine höhere Kohärenz und die Steigerung des Schutzniveaus durch Verschränkung der beiden Ebenen europäischen Grundrechtsschutzes330 das Motiv des EMRK-Beitritts der EU bildete, stellten sich dadurch noch weitere Begleiteffekte ein. Durch die Bindung und Unterwerfung jener Rechtsordnung, die als Inbegriff supranationalen Rechts gilt, könnte sich auch eine akzessorische Supranationalisierung der EMRK einstellen331: Wenn das supranationale europäische Recht künftig der EMRK unterläge, erführe diese durch ihre Teilhabe „am Vorrang des Europarechts gegenüber dem Recht der Mitgliedsstaaten“ eine „Rangaufwertung“ 332. Durch die Kontrolle des Supranationalen supranationalisierte sich die EMRK mithin selbst. So würde das Konventionssystem nicht nur immer enger mit der supranationalen Materie verzahnt, sondern ginge auch die „judikative Kompetenz-Kompetenz“ des Europäischen Gerichtshofes333 auf den EGMR über. Letztkontrolle und ultimative Steuerung in Gestalt der Jurisdiktionsgewalt würden zukünftig dem EGMR obliegen. Indes ist der langjährige Beitrittsprozess mit den dargestellten Implikationen jüngst durch ein ablehnendes Gutachten des EuGH334 – zumindest vorläufig – unterbunden worden. Der EuGH hat – weit über die Stellungnahme der Generalanwältin J. Kokott hinausgehend – an wesentlichen Elementen des Beitrittsübereinkommens Anstoß genommen und in ostentativer Weise auf die Besonderheiten und die Autonomie des Unionsrechts verwiesen335, sich regelrecht „hinter einem 329 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2012, § 4 Rn. 22. 330 A. Nußberger, Europäische Menschenrechtskonvention, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. X, 2012, § 209 Rn. 18 f. 331 Bereits gegenwärtig kontrolliert der EGMR gewissermaßen das Primärrecht der Union. Nach dessen Auffassung können sich die Signatarstaaten durch Gründung einer internationalen oder supranationalen Organisation der Verpflichtungswirkung der Konvention nicht entziehen. Auch bei der Kreation von supranationalem Recht bleibt die Verpflichtung bestehen, mithin sind auch die neuen, supranationalen Rechtsregime der regionalen Supervision unterworfen. Vgl. in diesem Zusammenhang die Entscheidungen ECHR, 18.02.1999, Matthews v. United Kingdom, No. 24833/94; ECHR, 10.03. 2004, Senator Lines No. 56672/00. Dazu C. Janik, Die EMRK und internationale Organisationen – Ausdehnung und Restriktion der equivalent protection-Formel in der neuen Rechtsprechung des EGMR, ZaöRV 70 (2010), S. 127 ff. Früh A. Bleckmann, Die Bindung der EG an die EMRK, 1986, S. 87. Auch ist bereits seit langem die Mitgliedschaft in der EU an jene im Europarat geknüpft worden, war diese Bestandteil der „Kopenhagener Kriterien“, worin de facto ein erster Supranationalisierungsbeginn liegt. 332 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2012, § 4 Rn. 23 mit Verweis auf E. Klein, Das Verhältnis des EuGH zum EGMR, in: D. Merten/H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 167 Rn. 68. 333 Vgl. D. Grimm, Souveränität – Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffes, 2009, S. 108. 334 EuGH C-2/13 vom 18.12.2014. 335 EuGH C-2/13 vom 18.12.2014 Rn. 157 ff., 166.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Bollwerk unionaler Autonomie verschanzt“ 336. Zur autoritativen Verstärkung des Autonomieschutzes klassifiziert der EuGH das Unionsrecht sogar in bemerkenswerter Deutlichkeit als Verfassung337. Unter diesen Prämissen konstatiert der Gerichtshof, der Entwurf des Beitrittsabkommens wahre nicht in ausreichemdem Maße die Eigenheiten des Unionsrechts und die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH. Konkret rügt der EuGH insbesondere den in Art. 3 des Beitrittsübereinkommens normierten Mitbeschwerdemechanismus und sieht die Vorbefassung des EuGH in derartigen Fällen als gefährdet an. Ferner kritisiert er – nur schwerlich nachvollziehbar und kaum haltbar – Defizite des Beitrittsabkommens im Hinblick auf das im 16. Zusatzprotokoll zur EMRK vorgesehene Gutachtenverfahren, die Besonderheiten der Grundrechtecharta (insbesondere deren Art. 53), den Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens der Mitgliedstaaten und mahnt, dass der EGMR keine Entscheidungskompetenz über Maßnahmen der GASP erhalten dürfe338. Damit hat der EuGH ungeachtet der primärrechtlichen Beitrittsverpflichtung der Union zur EMRK und der darin artikulierten Willigkeit aller 27 Mitgliedstaaten eine die EMRK „supranationalisierende“ Unterwerfung unter die Jurisdiktionsgewalt des EGMR bis auf weiteres verhindert. Angesichts dieser Eigenmächtigkeit ist das Gutachten auch beispielhaft für ein government of judges 339. Besieht man die um Autonomie des Unionsrechts und ausschließliche Zuständigkeit des Gerichtshofs zentrierte Argumentation des EuGH sowie die von ihm statuierten, überhöhten strukturellen Anforderungen an einen europarechtskonformen Beitritt, so wird offenkundig, dass das Motiv des EuGH insbesondere darin zu erblicken ist, eine unionsexterne Kontrolle zu verhindern, um einen eigenen Machtverlust zu vermeiden340. M. Wendel konstatiert deshalb zutreffend: „Es entsteht das Bild eines Gerichtshofes, der seine Kontrollkompetenzen argwöhnisch und unnachgiebig selbst gegenüber einem externen Menschenrechtsorgan abzu-

336 M. Wendel, Mehr Offenheit wagen! Eine kritische Annäherung an das Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt, VerfBlog, 2014/12/21, http://www.verfassungsblog.de/ mehr-offenheit-wagen-eine-kritische-annaeherung-das-gutachten-des-eugh-zum-emrkbeitritt/. 337 Vgl. bspw. EuGH C-2/13 vom 18.12.2014 Rn. 165. 338 Dazu im Einzelnen M. Wendel, Mehr Offenheit wagen! Eine kritische Annäherung an das Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt, VerfBlog, 2014/12/21, http:// www.verfassungsblog.de/mehr-offenheit-wagen-eine-kritische-annaeherung-das-gutach ten-des-eugh-zum-emrk-beitritt/, zuletzt abgerufen am 25.03.2015. 339 Eingehend dazu unter Dritter Teil, E. I. 2. b). 340 Anders hingegen D. Halberstam, A Constitutional Defense of CJEU Opinion 2/ 13 on EU Accession to the ECHR (and the way forward), VerfBlog, 2015/3/12, http:// www.verfassungsblog.de/en/a-constitutional-defense-of-cjeu-opinion-213-on-eu-acces sion-to-the-echr-and-the-way-forward/; dagegen überzeugend T. Streinz, The Autonomy Paradox, VerfBlog, 2015/3/15, http://www.verfassungsblog.de/the-autonomy-paradox/, zuletzt abgerufen am 25.03.2015.

C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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schrimen versucht und einen Zugriff desselben selbst dort glaubt verhindern zu müssen, wo sein eigener Arm nicht hinreicht. [. . .] Die Verteidigung der supranationalen Autonomie durch den EuGH erinnert hier nicht selten an die Verteidigung der souveränen Staatlichkeit durch nationale Verfassungsgerichte. Sie sendet insoweit ein fatales Signal.“ 341

Vergegenwärtigt man sich indes, dass die Eigenständigkeit und Besonderheit des supranationalen Europarechts, wie zuvor skizziert, maßgeblich eine Rechtsprechungsleistung des proaktiven EuGH ist, so wird verständlich, dass er nicht gewillt ist, seine Schöpfung leichtfertig aus der Hand zu geben oder durch Aufgabe seines Auslegungs- und Normverwerfungsmonopols relativiert zu sehen. Gleichwohl beschädigt der Gerichtshof die menschenrechtliche Glaubwürdigkeit der Union342 und riskiert nicht nur die mittelfristige Blockade des primärrechtlich aufgegebenen Beitritts, sondern sogar dessen endgültiges Scheitern. Eine akzessorische Supranationalisierung durch den Beitritt der Union zur EMRK ist damit jedenfalls in naher Zukunft nicht erwartbar, wenngleich zu hoffen bleibt, dass es sich lediglich um einen „Reflex“ handelt, der am Ende einem Gelingen des Integrationsprozesses und damit auch einer „Rangaufwertung“ der EMRK nicht im Wege steht. c) Supranationalisierung als autokatalytischer Prozess Sowohl der Charakter des Rechts als auch Kompetenzen sind nicht ausnahmslos vorgegeben-statisch, sondern etwas sich Entwickelndes, oftmals erst Angenommenes oder Prätendiertes343. Qualität und Autorität des Rechts sind eben oftmals etwas Beigelegtes, Produkt einer Autodeklaration344, entstehen durch situatives Handeln, durch Improvisation und überzeugende Rhetorik345. Mit den Worten S. Fishs: „Autoritäten kommen nicht fix und fertig daher, nicht in Gestalt eines reinen Kalküls, nicht als Offenbarung durch eine Schrift, sondern sie werden gemacht, geformt, 341 M. Wendel, Mehr Offenheit wagen! Eine kritische Annäherung an das Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt, VerfBlog, 2014/12/21, http://www.verfassungsblog.de/ mehr-offenheit-wagen-eine-kritische-annaeherung-das-gutachten-des-eugh-zum-emrkbeitritt/, zuletzt abgerufen am 25.03.2015. 342 So treffend M. Wendel, Mehr Offenheit wagen! Eine kritische Annäherung an das Gutachten des EuGH zum EMRK-Beitritt, VerfBlog, 2014/12/21, http://www.verfas sungsblog.de/mehr-offenheit-wagen-eine-kritische-annaeherung-das-gutachten-des-eughzum-emrk-beitritt/, zuletzt abgerufen am 25.03.2015. 343 Eindrucksvolles Beispiel bildet die Entscheidung Marbury v. Madison des U.S. Supreme Court, dazu P. W. Kahn, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Construction of America, 2002. 344 Beispielhaft hierfür ist im nationalen Recht der Bundesrepublik Deutschland etwa die Lüth-Entscheidung des BVerfG, indem es erklärte, es handele sich bei dem Grundgesetz um eine „objektive Wertordnung“, BVerfGE 7, 198. 345 Dazu bereits unter Bezugnahme auf R. Posner und S. Fish im ersten Teil, Einleitung.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

in Debatten und Konflikten, durch ein Handeln begründet, das keinen festeren Grund hat als Überredung und Überzeugung (. . .)“ 346.

Gleiches gilt für den Selbst- oder Fremdzuspruch347 von Kompetenzen. Augenscheinlich wird dieser Umstand insbesondere im flexiblen und dynamisch-offenen internationalen Recht. So ist daran zu erinnern, dass auch dem Recht der EU Supranationalität im materiellen und heutigen Sinne nicht von vornherein eingeschrieben war, sondern diese erst maßgeblich durch den Gerichtshof entwickelt wurde. Wie aufgezeigt, war es der EuGH, der in den großen Pionierentscheidungen Van Gend & Loos, Costa/ENEL und Internationale Handelsgemeinschaft die Grundlage für die besondere Geltungsart des Europarechts schuf, das europäische Recht für supranational erklärte348. Insofern bildet das EU-Recht ein Beispiel par excellence dafür, dass Supranationalität Ergebnis eines „autokatalytischen Prozesses“ ist, als „Autopoiesis“ 349, also als eine Selbsterklärung unter Autonomie- und Differenzerklärung zur jeweiligen Umwelt zu klassifizieren ist350. Die Konventionsgerichte befinden sich in einer vergleichbaren Position wie einst der EuGH. Die Konventionssysteme sind ebenso wie das Europarecht im engeren Sinne eine dezidiert prätorisch entwickelte Rechtsmaterie. Auch ihnen ist es deshalb möglich, im Dialog mit den mitgliedsstaatlichen Gerichten den Charakter des Konventionsrechts zu bestimmen oder autoritativ anzuordnen. Der EGMR hat diesbezüglich in der Entscheidung Swedish Engine Drivers Union einen obstruktiven Konstruktionsfehler begangen. Er konstatiert: „(. . .) nor the Convention in general lays down for the Contracting States any given manner for ensuring within their internal law the effective implementation of any of the provisions of the Convention (. . .)“ 351 346 S. Fish, Beinahe Pragmatismus: die Rechtslehren von Richard Posner, Richard Rorty und Ronald Dworkin, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 204. 347 Exemplarisch für eine solche Autodeklaration, die den Status von Institutionen und Gewalten verändert, ist das Wirken des Chief Justice John Marshall, der durch seine „court opinions“ maßgeblich dazu beitrug, dass der U.S. Supreme Court neben Legislative und Exekutive eine gleichberechtigte Gewalt bildet. Jüngere Beispiele finden sich in Israel und in Bezug auf den Conseil Constitutionel in Frankreich, dem nach der Verfassung ursprünglich nur das Recht beschieden war, Gesetze vor ihrer Verkündung anzugreifen, zunehmend aber nicht nur einen judicial preview, sondern auch judicial review vornimmt. 348 Darin ist ein eindrucksvolles Beispiel für die „normative Kraft des Faktischen“ zu sehen, vgl. dazu G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1929, S. 341. 349 Der Begriff geht ursprünglich auf den Neurobiologen H. Maturana und F. J. Varela zurück, hat aber insbesondere in der Soziologie N. Luhmanns Bedeutung erlangt. 350 Vgl. N. Luhmann, „Autopoietische Systeme können ihre Strukturen nicht als Fertigprodukte aus ihrer Umwelt beziehen. Sie müssen sie durch ihre eigenen Operationen aufbauen und das erinnern – oder vergessen.“, ders., Soziologische Aufklärung, Band 6, Die Soziologie und der Mensch, 2. Aufl. 2005, S. 13.

C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Damit hat der Gerichtshof die Umsetzungspflichten zu konturenlos und beliebig, zu weitläufig und mit zu geringer normativer Kraft versehen. Es scheint so, als habe er das Unterfangen, dem Recht der EMRK eine quasisupranationale Wirkung zu verschaffen, vorerst ausschließen wollen. Indes offenbart sich eine gänzlich andere Perspektive aus der bereits eingangs zitierten Rechtsprechungspassage des EGMR: „Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between Contracting States. It creates over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the preamble benefit from a „collective“ enforcement“ 352.

Diese Ausführungen des EGMR erinnern an jene des EuGH in der Entscheidung Van Gend & Loos zum Charakter des Europarechts, in der er judizierte: „(. . .) the Community constitutes a new legal order of international law for the benefit of which the states have limited their sovereign rights, albeit within limited fields, and the subjects of which comprise not only the Member States but also their nationals. Independently of the legislation of Member States, Community law therefore not only imposes obligations on individuals but is also intended to confer upon them rights which become part of their legal heritage.“ 353

Beide betonen zunächst die Besonderheiten der Rechtsmaterie, die den Anknüpfungspunkt für eine Supranationalisierung bilden. Ferner passt der Inhalt der EuGH-Rechtsprechung nahezu ohne Modifikationen auch auf den regionalen Menschenrechtsschutz. Die Rechtsprechungsparallelen lassen die Entscheidung des EGMR als ein konventionsrechtliches „Van Gend & Loos“ erscheinen und eröffnen mindestens die Möglichkeit einer künftigen Supranationalisierung. Tendenzen zu einer solchen lassen sich, wenngleich unter Verwendung anderer Terminologie, dem Selbstverständnis als constitutional instrument und der zunächst eigenmächtigen Einführung der Piloturteilstechnik entnehmen. Die Parallele zur Entstehung des supranationalen Europarechts bedeutet allerdings auch, dass für eine derartige Entwicklung und die Explikation der Supranationalität noch viel Zeit verbleibt, wenn man die Einrichtung des permanenten Gerichtshofes und der obligatorischen Individualbeschwerde im Jahre 1998 als Ausgangspunkt zugrunde legt. Schließlich hat der Europäische Gerichtshof den Schritt zur Deklara-

351 ECHR, 06.02.1976, Swedish Engine Drivers Union v. Sweden, No. 5610/72 Rn. 50. Dies bestätigte der Gerichtshof in ECHR, 21.02.1986, James and Others v. United Kingdom, No. 8793/79, Rn. 84 und ergänzte „Although there is thus no obligation to incorporate the Convention into domestic law, by virtue of Article 1 (art. 1) of the Convention the substance of the rights and freedoms set forth must be secured under the domestic legal order, in some form or another, to everyone within the jurisdiction of the Contracting States.“ 352 ECHR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, No. 5310/71, Rn. 239. 353 So bezogen auf die EWG, EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, Van Gend & Loos, S. 12 (englische Fassung).

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tion der Supranationalität erst nach einem nahezu 20-jährigen Integrationsprozess im Jahre 1969 gewagt. Möglicherweise könnte die rigorose und detailreiche, wenngleich letztlich begründungsarme Ablehnung des Beitritts der EU zur EMRK durch den EuGH in seinem Gutachten vom 18. Dezember 2014 aber dergestallt als Katalysator wirken, dass sich der EGMR zu einer darauf reagierenden Selbstdeklaration herausgefordert sieht. Derweil scheint ein andersgearteter, deklarativer Supranationalisierungsprozess von der nationalen Ebene auszugehen. So sind etwa jüngst von deutscher Seite Rechtsprechungstendenzen erkennbar, vermöge derer das Recht der EMRK durch die innerstaatlichen Fachgerichte quasi supranationalisiert wird354. Exemplarisch ist ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts355, in dem es einen „inhaltlichen Widerspruch“ in der deutschen Rechtsordnung erkennt und die Legislative auffordert, die „Kollisionslage zwischen deutschem Verfassungsrecht und der EMRK“ zu beseitigen356. Dieses Vorgehen ist um so bemerkenswerter, als dass sich die „Kollision“ des deutschen Verfassungsrechts mit dem Konventionsrecht lediglich aus der Rechtsprechung des EGMR in Verfahren gegen die Türkei ergibt, die für die Bundesrepublik keine Bindungs-, sondern nur Orientierungswirkung entfalten357. Beachtlich ist weiterhin, dass das „Bundesverwaltungsgericht hier nicht von den Relativierungsmöglichkeiten Gebrauch gemacht hat, die die Görgülü-Entscheidung den Fachgerichten bietet“ und „der EMRK in der Sache Verfassungsrang, wenn nicht gar eine Art Überverfassungsrang einräumt“ 358. Der Rechtsfolgenausspruch des Bundesverwaltungsgerichts in dieser Entscheidung bringt nicht nur „Verschiebungen im institutionellen Gefüge zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit“ mit sich, die zu einem „Bedeutungsverlust des Bundesverfassungsgerichts“ führen könnten, sondern „erinnert in gewisser Weise an die Strategie des Unionsrechts, welches den einzelnen Richter in die Pflicht nimmt, widersprechendes innerstaatliches Gesetzesrecht ohne die vor354 Dazu M. Breuer, Streikverbot vor dem Bundesverwaltungsgericht: Auf dem Weg zur supranationalen EMRK?, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/de/streik verbot-vor-dem-bundesverwaltungsgericht-auf-dem-weg-zur-supranationalen-emrk/, zuletzt abgerufen am 21. April 2014. 355 Bislang ist in der Sache BVerwG 2 c 1.13 vom 27. Februar 2014 lediglich die Pressemitteilung veröffentlicht. 356 Pressemitteilung zu der Entscheidung abrufbar unter http://www.bverwg.de/ presse/pressemitteilungen/pressemitteilung.php?jahr=2014&nr=16, zuletzt abgerufen am 21. April 2014. 357 M. Breuer, Streikverbot vor dem Bundesverwaltungsgericht: Auf dem Weg zur supranationalen EMRK?, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/de/streikver bot-vor-dem-bundesverwaltungsgericht-auf-dem-weg-zur-supranationalen-emrk/, zuletzt abgerufen am 21. April 2014. 358 M. Breuer, Streikverbot vor dem Bundesverwaltungsgericht: Auf dem Weg zur supranationalen EMRK?, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/de/streikver bot-vor-dem-bundesverwaltungsgericht-auf-dem-weg-zur-supranationalen-emrk/, zuletzt abgerufen am 21. April 2014.

C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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herige Einschaltung des nationalen Verfassungsgerichts unangewendet zu lassen“ 359. M. Breuer konstatiert deshalb zutreffend: „Einen echten Vorrang der EMRK vor der Verfassung, analog zum Verhältnis deutsches Verfassungsrecht-Unionsrecht, gibt es somit derzeit (noch?!) nicht. Der Unterschied ist dennoch eher ein gradueller, wenn man bedenkt, dass der (Verfassungs?!) Gesetzgeber vom Bundesverwaltungsgericht verpflichtet wird, die deutsche Rechtslage den EMRK-Standards anzupassen.“ 360

Diese Entwicklung einer Supranationalisierung des Konventionsrechts durch die innerstaatlichen Gerichte wird auch durch das im 16. Zusatzprotokoll zur EMRK vorgesehene Vorlagerecht der „highest courts and tribunals“, das dem Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV ähnelt, bestätigt. 2. Notwendigkeit und Gebotenheit von Supranationalität Die der Supranationalität zugewiesenen konstitutiven Attribute der unmittelbaren Anwendbarkeit, Durchgriffswirkung,Vorrangigkeit und Eigenständigkeit sind allesamt solche, die gerade auch den Menschenrechten als „Grundlage einer staatlichen Gemeinschaft“ zuerkannt werden sollten, von Bedeutung und Wesen der Menschenrechte nachgerade eingefordert werden361. Ihre persuasive Eigenmächtigkeit und autoritative Kraft sowie die natürliche Akzeptanz durch die Bürger geben guten Grund, die Realisierung von Vorrangigkeit und unmittelbarer Anwendbarkeit ungleich leichter als im zuweilen rechtstechnischen Europarecht erscheinen zu lassen. Sie lassen sich auch aus dem Telos regionaler menschenrechtlicher Supervison heraus folgern. Unter Anerkennung autokatalytischer Prozesse und den rhetorischen Geltungsgründen des Rechts bzw. seiner normativen Kraft362 bliebe die Qualifizierung des regionalen Menschenrechtsschutz als „supranational“ auch nicht auf eine bloße semantische Veränderung beschränkt, sondern könnte sich nachdrücklich auf die innerstaatliche Akzeptanz des regionalen Menschenrechtsschutzes auswirken, veränderte das Rechtsbewusstsein der Adresssaten363. Supranationalität könnte einen Autoritätstransfer vom Unionsrecht zum Konventionsrecht leisten. Im Hinblick auf die EMRK wäre Supranationalität ge359 So M. Breuer, Streikverbot vor dem Bundesverwaltungsgericht: Auf dem Weg zur supranationalen EMRK?, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/de/streikver bot-vor-dem-bundesverwaltungsgericht-auf-dem-weg-zur-supranationalen-emrk/, zuletzt abgerufen am 21. April 2014. 360 M. Breuer, Streikverbot vor dem Bundesverwaltungsgericht: Auf dem Weg zur supranationalen EMRK?, abrufbar unter http://www.verfassungsblog.de/de/streikver bot-vor-dem-bundesverwaltungsgericht-auf-dem-weg-zur-supranationalen-emrk/, zuletzt abgerufen am 21. April 2014. 361 Dazu eingehend Erster Teil. 362 Dazu bereits Erster Teil A. II. 363 J. M. Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 28 f.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

eignet, den „Geburtsfehler“, die „Hypothek“ 364 einer minderen Rangzuweisung in der überwiegenden Anzahl der Vertragsstaaten zu tilgen. Der als „Konstitutionalisierung“ bezeichnete Entwicklungsprozess, der dazu führt, dass in allen Fragen „die Straßburger Maßstäbe die nationalen verdrängen“ 365 und die skizzierte akzessorische Supranationalisierung durch den geplanten und langjährig vorbereiteten – wenngleich durch das EuGH-Gutachten vom 18. Dezember 2014 zumindest vorerst und in dieser Form verhinderten – Beitritt der EMRK zur EU, lassen kaum eine andere Entwicklungsrichtung zu. Etwas anderes gilt aber für das interamerikanische Konventionssystem. Es verbleibt weiterhin institutionell-instrumentell in jenem Status, den die EMRK vor der „kopernikanischen Wende“ mit dem 11. Zusatzprotokoll von 1998 innehatte. Auch steht mit NAFTA, MERCOSUR, CAN und der Union of South American Nations keine der EU vergleichbare, integrierte Rechtsgemeinschaft, der Supranationalität zuzuerkennen ist, als anschlussfähiges Rechtsregime zur Verfügung. So kann zwar inhaltlich aus dem materialen Gehalt der Menschenrechte heraus die Notwendigkeit und Gebotenheit eines vorrangig-autonomen, unmittelbar anwendbaren und damit „supranationalen“ Grundrechtsschutzes für das interamerikanische Regime postuliert werden, von dessen realen Voraussetzungen ist das interamerikanische Konventionssystems aber noch sehr weit entfernt.

III. Resümee: Supranationale Splitter Trotz aller Indizien und Anzeichen begegnet die Anerkennung einer Supranationalisierung schwerwiegenden Bedenken. Zweifelsohne enthalten die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme ebenso Teilelemente supranationalen Rechts wie solche des Konstitutionalismus. Der empirische Befund tausender Urteile mit besagter Richtlinienähnlichkeit, die fundamentale Wandlungsprozesse in einer Vielzahl von Rechtsordnungen nach sich ziehen, deutet in die Richtung einer partiellen de facto Supranationalität. Der EGMR ist in Parallele zum EuGH als „Motor der Integration“ zum „Motor eines europäischen Grundrechtsstandards“ geworden366 und hat, dem acquis communautaire der EU vergleichbar, eine Art menschenrechtlichen acquis conventionnel kreiert. Normativ spricht auch eine etwaige „Rangaufwertung“ durch den geplanten, wenngleich durch das EuGH364 Vgl. dazu R. Wahl, Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht – Relevanz unterschiedlicher Entwicklungspfade, in: S. Breitenmoser/B. Ehrenzeller/M. Sassòli/ W. Stoffel/B. Wagner Pfeiffer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat, Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 875. 365 So das Diktum der ehemaligen deutschen Richterin am EGMR R. Jaeger zum Abschied ihrer Zeit am EGMR am 12.12.2010 im Deutschlandfunk, abrufbar unter http://www.dradio.de/dlf/sendungen/idw_dlf/1340041/ zuletzt abgerufen am 03.12. 2012. 366 Vgl. J. M. Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 257.

C. Supranationalisierung des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Gutachten vom 18. Dezember 2014 jedenfalls vorläufig unterbundenen Beitritt der EU zur EMRK und die Parallele, dass das Konventionsrecht ebenso den Einzelnen qua Individualbeschwerde zu seiner Durchsetzung mobilisiert wie das europäische Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht367, für eine Supranationalisierung. Jedenfalls hat das europäische Konventionssystem eine „Besonderheit“ gegenüber dem klassischen Völkerrecht erlangt, ist zu einer Materie eigener Art herangereift und hat die Differenzen zum Rechtsgebilde der EU derart reduziert, dass die Bezeichnung der Materie als supranational grundsätzlich nicht ausgeschlossen erscheint. Jedoch sollten auch in diesem Kontext die Begrifflichkeiten mit Bedachtsamkeit gewählt werden. Abermals gilt: Ähnlichkeit ist nicht gleichzusetzen mit Identität. Die Anerkennung einer „Supranationalisierung“ des regionalen Menschenrechtsschutzes ist letztlich ebenso fragwürdig wie die Entwicklungen der Konventionssysteme als Konstitutionalisierungsprozess zu qualifizieren. Für eine solche wäre eine strapazierende Dehnung des Begriffes erforderlich368. Es mangelt auch hier fundamental an weiteren Gewalten außerhalb der Judikative, anderen Handlungsformen jenseits derer von Gutachten und Urteil und vor allem integrativ gestaltbaren Politikbereichen auf eine staatenbündische oder bundesstaatliche Union hin. So ist sehr zweifelhaft, ob sich der Begriff des Supranationalen vom legislativ-exekutiven und politischen Bereich lösen und in den judikativer ex-post-Kontrolle überführen lässt, ohne ihn des ihm Eigentümlichen zu berauben. Das Wesen der Konventionsgemeinschaft unterscheidet sich doch signifikant vom querschnittartigen, hohen und infiniten Integrationsstand der Europäischen Union mit ihrer Kompetenzfülle, ihren breiten Aufgabenfeldern, unterschiedlichen Politiken und intensiver Rechtsetzungstätigkeit. Um zu vermeiden, dass der ursprünglich konturenlose Begriff der Supranationalität369, der sich zu einem echten Rechtsbegriff verfestigt hat, wieder erodiert, in seine Teile zerfällt und zu einer „unverbindlichen Leerformel“ 370 wird, sollte er nicht auf den regionalen Menschenrechtsschutz übertragen werden371. Supranationalität wird folg367 Vgl. dazu J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts: europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht, 1997. 368 Für eine Erweiterung und Dehnung plädiert G. Ress, Supranationaler Menschenrechtsschutz und der Wandel der Staatlichkeit, ZaöRV 64 (2004), S. 621, der es für Supranationalität ausreichen lässt, wenn ein solcher überstaatlicher „Rechtszwang“ entsteht, dass sich die Staaten „der Befolgung auf Dauer nicht entziehen können.“ 369 Mit Verweis etwa auf F. Rosenstiel, Supranationalität, 1964, S. 40 ff., der dem Begriff nur „politisch-soziologische“ Qualität zuspricht, H. Lecheler, „Supranationalität“ der Europäischen Gemeinschaft – Rechtliche Beschreibung oder unverbindliche Leerformel?, JuS 1974, S. 7 ff. 370 H. Lecheler, „Supranationalität“ der Europäischen Gemeinschaft – Rechtliche Beschreibung oder unverbindliche Leerformel?, JuS 1974, S. 7 ff. 371 Gleichwohl ist zu Recht darauf hingewiesen worden, dass das Völkerrecht im allgemeinen („International law“) eigentlich supranationales Recht heißen müsste, weil es

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

lich primär nicht deshalb abgelehnt, weil sie in ihrem normativen Anspruch nicht treffend wäre, sondern weil die Eigenartigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes einen eigenständigen Begriff verlangt. Ferner zeigt bereits der widrige Prozess, den Begriff der Supranationalität für die EG bzw. heutige EU zu etablieren und durchzusetzen, dass eine Übertragung auf den (europäischen) regionalen Menschenrechtsschutz unweigerlich Widerstand evozierte. Dies würde dem Anliegen, dem Konventionsrecht mehr Autorität zukommen zu lassen, womöglich mehr schaden als nützen. Im Ergebnis ist Supranationalität zwar in einzelnen Fragmenten, Splittern und Tendenzen des regionalen Menschenrechtsschutzes zu konzedieren. Der Zuerkennung genuin supranationalen Charakters und der Verwendung dieser Bezeichnung im Hinblick auf den regionalen Menschenrechtsschutz ist aber im Interesse seines Erfolges eine Absage zu erteilen372.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes? Die Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes lässt sich demnach weder uneingeschränkt als Konstitutionalisierung noch als Supranationalisierung deuten. Neben diesen Charakterisierungen ist die Einordnung der Konventionen als subsidiäre Rechtsschutzsysteme in Literatur und Rechtsprechung verbreitet. Insbesondere für das europäische Schutzsystem kommt dieser Beschreibung erhöhte Relevanz und Aktualität zu, weil in dem zur Ratifikation ausliegenden 15. Zusatzprotokoll zur EMRK die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in die Präambel der Konvention vorgesehen ist. Diese Positivierung und die einhelligen Subsidiaritätsbekundungen gilt es kritisch zu hinterfragen. Erste Zweifel weckt schon der Umstand, dass Skeptiker und Proponenten einer ausgeprägten überstaatlichen Kontrolle gleichermaßen für das Subsidiaritätsprinzip eintreten bzw. dieses für ihre Position bemühen. Erstere erhoffen sich dadurch offenbar einen „Schutz“ der nationalen Ebene vor internationalen Eingriffen, letztere begreifen das Prinzip als unabdingbar für den weiteren Reformprozess des Systems und erwarten Effizienzsteigerungen. Mag auch funktional bzw. prozessual einzelnen Strukturmerkmalen des regionalen Menschenrechtsschutzes ein subsidiärer Charakter immanent sein, so stellt sich um eine über den Nationen stehende Ordnung handelt, M. Zuleeg, Wandlungen des Begriffs der Supranationalität, Integration 1988, S. 104. 372 Um dennoch der Notwendigkeit und Gebotenheit Rechnung zu tragen, die Wirkmächtigkeit der Menschenrechte und ihre konventionsrechtliche Durchsetzung zu erhöhen, sollte für die Bundesrepublik die Herstellung einer Vorrangwirkung über Art. 24 Abs. 1 GG unter Berücksichtigung des abermals verdichteten und um das Piloturteilsverfahren auf quasi-verfassungsgerichtliche Befugnis erweiterten Aufgabenkreises neu erwogen werden und die „Pfadabhängigkeit“ der bisherigen Konstruktion überwunden werden. Dafür plädiert aus anderen Motiven auch J. M. Schilling, Deutscher Grundrechtsschutz zwischen staatlicher Souveränität und menschenrechtlicher Europäisierung, 2010, S. 265 f.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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sich doch die Frage, ob es auch normativ und faktisch zutreffend ist, die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme als subsidiäre Mechanismen, als eine bloße „Auffangebene“ 373, zu qualifizieren. Eine solche Beschreibung scheint die Aufgabe und die Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes nicht angemessen zu erfassen. Nachfolgend soll deshalb eingehend untersucht werden, ob und gegebenenfalls inwiefern die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme zu Recht als subsidiär bezeichnet werden. Im Rahmen einer solchen Analyse ist allerdings die Vieldeutigkeit des Subsidiaritätsbegriffes zu berücksichtigen. Die Ambiguität und Vagheit dieses Prinzips hat zu einem mit dessen inhaltlicher Offenheit und Weite korrespondierenden Spektrum an Deutungsversuchen geführt374. Den zahlreichen Unterfangen, eine konzise Subsidiaritätsdefinition zu formulieren, soll hier kein weiterer Versuch hinzugefügt werden. Gleichwohl ist zur Beantwortung der Frage, ob die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme in Literatur und Rechtsprechung mit Recht als subsidiär apostrophiert werden, ein Grundverständnis über Wesensmerkmale und Funktionen des Subsidiaritätsprinzips unerlässlich.

I. Subsidiarität – Charakterisierungsversuch eines janusköpfigen Prinzips 1. Ursprung und Entwicklung Etymologisch meint Subsidiarität, abgeleitet vom lateinischen Begriff „subsiduum“, soviel wie „Unterstützung“, „Hilfe“ oder „Beistand“ und entstammt ursprünglich dem militärischen Kontext, bezeichnete im römischen Militär eine „Reservetruppe“ 375. Während die erste textliche Form des Subsidiaritätsgedan-

373 So statt vieler P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 109 ff., der sie in Anlehnung an das Verhältnis zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht gemeinsam mit dem nationalen Verfassungsrecht als „wechselseitige Auffangordnung“ beschreibt. Bereits der Begriff „Auffangordnung“ scheint indes für die nationale Verfassung als „paramount law“ ebenso wie für das Konventionssystem zweifelhaft. 374 Dem großen Europäer J. Delors wird die Anekdote zugeschrieben, dass er 10.000 DM ausgelobt habe, wenn jemand Subsidiarität auf einer Schreibmaschinenseite definieren könne und ihm darüber hinaus eine Position als Berater mit einer Vergütung von 400.000 DM jährlich offeriert habe. So bei M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention of Human Rights, in: M. G. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 623 mit Verweis auf W. Brucks, Subsidiarität. Definition und Konkretisierung eines gesellschaftlichen Strukturprinzips, zuletzt abgerufen am 06.03.2013 unter http://socio.ch/demo/t_wbrucks.htm. Hier wiederum wird verwiesen auf A. Waschkuhn, Was ist Subsidiarität? Ein sozialphilosophisches Ordnungsprinzip: Von Thomas von Aquin bis zur „Civil Society“, 1995. 375 F. Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 156.

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kens dem 2. Buch Mose (Exodus) zugeschrieben wird376 und nachfolgend sich weitere Ansätze auch in der aristotelischen Philosophie als gesellschaftliches Gliederungskonzept ausmachen lassen, erfährt der Gedanke der Subsidiarität unter Rückgriff darauf erst bei T. v. Aquin eine Fundierung. Hier wird er mit einem bestimmten Menschenbild377 verknüpft. Anthropologisches Datum ist das dualistisch-konfligierende Wesen des Menschen als Sozialnatur (zoon politikon) einerseits und selbstbestimmtes Individuum andererseits378. Damit sind die beiden bis heute Gültigkeit beanspruchenden Axiome des Subsidiaritätsprinzips in Form von Individualität und Solidarität umschrieben. Wenngleich viele weitere philosophische Vorläufer, Tendenzen und geistesgeschichtliche Spurenelemente jenseits von Aristoteles und T. v. Aquin auszumachen sind379, gehen Begriff und klassische Definition maßgeblich auf die liberalen Strömungen des 18. und 19. Jahrhunderts380 und die damit verbundene, durch die Aufklärung bedingte Herausbildung eines individualistischen Menschenbildes sowie die katholische Soziallehre381 zurück. Insbesondere Letzterer kommt das Verdienst zu, eine Konkretisierung vorgenommen zu haben382. Aufbauend auf 376 So lautet der Rat von Jitro an Mose um Überforderungen entgegenzuwirken: „(. . .) Du machst dich zu müde, dazu auch das Volk, das mit dir ist. Das Geschäft ist dir zu schwer; du kannst es allein nicht ausrichten. (. . .) Nur wenn es eine größere Sache ist, sollen sie diese vor dich bringen, alle geringeren Sachen aber sollen sie selber richten. So mach dir’s leichter und laß sie mit dir tragen.“ Die Bibel nach M. Luthers Übersetzung, Altes Testament, Das zweite Buch Mose (Exodus), 18. Kapitel, Vers 18 ff. 377 Zum Menschenbild grundsätzlich P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 4. Aufl. 2008. 378 Diese betonend klassisch A. Lincoln, Fragment on Government, in: R. P. Basler (Hrsg.), The Collected Works of A. Lincoln, Vol. II, 1953, S. 220 f.: „The legitimate object of government, is to do for a community of people, whatever they need to have done, but can not do, at all, or can not, so well do, for themselves in their separate, and individual capacities. In all that the people can individually do as well for themselves, government ought not to interfere. The desirable things which the individuals of a people can not do, or can not well do, for themselves, fall into two classes: those which have relation to wrongs, and those which have not. Each of these branch off into an infinite variety of subdivisions. The first that in relation to wrongs embraces all crimes, misdemeanors, and nonperformance of contracts. The other embraces all which, in its nature, and without wrong, requires combined action, as public roads and highways, public schools, charities, pauperism, orphanage, estates of the deceased, and the machinery of government itself. From this it appears that if all men were just, there still would be some, though not so much, need for government.“ 379 Dazu gehören u. a. J. Althusius, C. de Secondat Montesquieu, A. de Tocqueville, P. J. Proudhon, A. Lincoln und W. v. Humboldt, vgl. F. Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 140 f. 380 J. Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 44 ff. 381 So erstmals der Abgeordnete der Paulskirchenversammlung Bischhof W. E. v. Ketteler in seiner Rede am 18.09.1848 vor der Nationalversammlung, gefunden bei F. Ronge, Legitimität und Subsidiarität, 1998, S. 142. 382 Erste Ansätze finden sich in der Enzyklika „Rerum novarum“ von 1891, die die „soziale Frage“ im Zeitalter der industriellen Revolution fokussierte.

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den Vorarbeiten von O. v. Nell-Breuning und G. Gundlach erklärte Pius XI. in der Enzyklika „Quadragesimo anno“ aus dem Jahre 1931 Subsidiarität zu einem eminent wichtigen Prinzip, einem „gravissimum principium“, der katholischen Soziallehre383. Vor dem Hintergrund des aufziehenden Totalitarismus konzentriert sie sich auf das Verhältnis von Staatlichkeit zu Gesellschaft und Individuum. Nach dem konzisen Diktum ihres Nestors O. v. Nell-Breuning liegt der Kerngedanke der Subsidiarität darin, „soviel Freiheit wie möglich, so viel Staatstätigkeit wie nötig“ zu evozieren. Gegenüber der langen Tradition in Theologie und Philosophie ist die Entwicklung der Subsidiarität als rechtliches Prinzip ein Novum. Wenngleich sich Anwendungsgegenstände im einfachen Recht identifizieren lassen384, bestanden zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch Zweifel, ob Subsidiarität überhaupt ein Verfassungssatz sei385. Erst verhältnismäßig spät wurde Subsidiarität explizit zum „Architekturprinzip“ Europas erhoben386 und als Instrument begriffen, mittels

383 „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zu einem guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig, und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“, Papst Pius XI., Quadragesimo anno, 1931, Nr. 79, abrufbar unter http://www.christusrex.org/www1/over kott/quadra.htm, zuletzt angerufen am 14.03.2015, (Hervorhebungen durch den Verfasser). 384 So etwa im Strafrecht, wenn ein und dieselbe Tat mehrere Straftatbestände verwirklicht, vgl. §§ 145 II, 145d, 248b, 265a StGB, im Staatshaftungsrecht nach § 839 I 2 BGB, im Verwaltungsprozessrecht in Art. 43 II VwGO, zur Bestimmung des Verhältnisses von freier und staatlicher Wohlfahrt etwa in § 17 III SGB I, § 4 SGB VIII, §§ 4 IV, 5 SGB XII sowie BVerfGE 22, 180 ff., siehe M. Droege, Subsidiarität, in: W. Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, S. 2416 f. 385 Der Konvent von Herrenchiemsee hatte sich gegen eine Aufnahme expressis verbis des Subsidiaritätsprinzips entschieden, vgl. J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 143 ff. Die verfassungsrechtliche Dignität war in den Anfängen der Bundesrepublik lange umstritten (sog. „Subsidiaritätsstreit“). Eingesetzt und verdient gemacht für die Subsidiarität als ein tragendes Strukturprinzip des Verfassungsrechts haben sich insbesondere E. Friesenhahn und J. Isensee. Positivrechtlichen Niederschlag hat das Prinzip hingegen erst durch das Europarecht in Gestalt des Art. 23 I und Ia GG als Struktursicherungsklausel erhalten. Außerhalb dessen kann es in der grundsätzlichen Vorrangigkeit der Länder hinsichtlich der Gesetzgebungszuständigkeit und der Vollzugskompetenz, Art. 30, 70 ff. GG, 83 ff. GG erblickt werden. Gleichwohl gilt nach der Kollisionsnorm Art. 31 GG der Geltungsvorrang des Bundesrechts („Bundesrecht bricht Landesrecht“), was dieses Subsidiaritätselement relativiert. Als Subsidiaritätsausdruck wird auch die Garantie kommunaler Selbstverwaltung, Art. 28 I GG, gesehen. 386 So seit dem Vertrag von Maastricht (1992/1993) und nunmehr vor allem in Art. 5 II EUV, dazu eingehend unter 3) in diesem Abschnitt.

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dessen sich das überstaatliche bzw. internationale Recht handhaben lässt387. Hintergrund dieser Transposition bildet die zunehmende Anzahl internationaler Regime, die Regierungsfunktionen wahrnehmen und zu deren Strukturierung, Rationalisierung, Legitimierung388 und Steuerung das Subsidiaritätsprinzip beitragen soll389. 2. Funktion und Wirkung – Paradoxon und Janusköpfigkeit Im Laufe der Zeit hat der Subsidiaritätsbegriff kontextbezogen eine Vielzahl an Bedeutungen erhalten390. Um sie von den Akzentuierungen des jeweiligen Epochenkontextes zu isolieren und ihren „Kern“ freizulegen, erscheint eine auf funktionale und normative Aspekte reduzierte Betrachtung des Subsidiaritätsprinzips zweckmäßig. Bereits die etymologisch-historische Bedeutung gibt Zeugnis von einer Reservefunktion, von einem Gebot des Beistandes und der Hilfestellung. Primär wird aber nicht diese Bei- und Aushilfsfunktion betont, sondern das durch Subsidiarität postulierte Vorrangverhältnis der relational kleineren gegenüber der größeren oder „höheren“ sozialen Einheit391. Aufgrund dessen steht Subsidiarität in Verbindung mit bestimmten Werten und Zielen, die sie abzusichern oder zu verwirklichen versucht. Dieses normative Verständnis korreliert deshalb mit Autonomie, Selbstbestimmung und Selbstverantwortung, Dezentralisierung, Föderalismus, Demokratie, kultureller Identität, Effizienz und Flexibilität sowie nationaler Souveränität392. 387 In die Zukunft ausgreifend früh etwa Johannes XXIII in der Enzyklika „Pacem in terris“ im Zenit des Kalten Krieges (1963), der das Subsidiaritätsprinzip aus dem staatlichen Raum hinaus für das Verhältnis zu einer noch nicht existenten universellen Gewalt fruchtbar gemacht hat, vgl. Papst Johannes XXIII., Pacem in terris, Nr. 140 f., abrufbar unter http://www.christusrex.org/www1/overkott/pacem.htm., zuletzt abgerufen am 14.03.2015. Aus rechtlicher Perspektive etwa P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law, 97 (2003), S. 38 ff. 388 Zu dieser Funktion insbesondere, F. Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998. 389 Vgl. I. Feichtner, Subsidiarity, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Enzyclopedia of Public International Law, Volume IX, 2012, S. 655. 390 So etwa in der Bibel als „Kompetenzzuordnungsmaxime“ und Entlastungsprinzip, bei Aristoteles als Beschreibung zur Gesellschaftsgliederung, bei T. v. Aquin aus der Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen heraus als solidarisches Regulativ, bei J. Althusius als Vorrang der Gemeinschaftsbildung und im Liberalismus als Schutz der eigenverantwortlichen Selbstbestimmung, zum Zurückdrängen von staatlicher Intervention und Dirigismus, vgl. F. Ronge, Legitimität durch Subsidiarität 1998, S. 144. 391 Vgl. M. Droege, Subsidiarität, in: W. Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, S. 2415. 392 Vgl. O. v. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, 1990, S. 131 ff. Dazu auch P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 169 ff., insbesondere S. 183 ff., der weitere subsidiaritätsnahe Elemente im Verfassungsrecht identifiziert wie etwa Art. 6 GG (Familie), Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit).

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Gemäß diesem Vorrangigkeitsdogma sind Funktions- und Kompetenzverschiebung von den kleineren zu größeren sozialen Einheiten allein dann erlaubt, wenn das Kollektivziel bzw. -interesse lediglich auf der übergeordnet-größeren bzw. höheren Ebene erreicht werden kann. Somit kommt dem Subsidiaritätsprinzip eine Abgrenzungs-, Zuteilungs- und Hierachisierungsfunktion zu393; als solches ist es primär ein Organisations- und Ordnungsprinzip. Diese allokative Funktion kann es insbesondere in föderalen Gebilden und in Mehrebenensystemen wahrnehmen, die in gesteigertem Maße einer Kompetenzabgrenzung und -zuteilung bedürfen. Folglich erschöpft es sich nicht als Regulativ zwischen Staat und Gesellschaft bzw. staatlichen Einrichtungen untereinander, sondern regelt auch das Verhältnis zwischen staatlicher und überstaatlicher Ebene. Damit leistet Subsidiarität nicht nur traditionelle vertikale, sondern vermehrt auch horizontale Kompetenzverteilung. Entsprechend dieser Entwicklung soll Subsidiarität nicht mehr auf Autonomiesicherung beschränkt sein, sondern auch zur Partizipation und Legitimation durch Inklusion beitragen394. Subsidiarität reguliert folglich nicht nur das „Ob“ der Aufgabenerfüllung, sondern erstreckt sich zunehmend auch auf das „Wie“ und leitet dieses „Wie“ an395. Als rechtliches Prinzip hilft es, über den gestaltend koordinativ-organisatorischen Gehalt hinaus, konkrete Normkollisionen und institutionelle Konflikte zu verhindern bzw. zu lösen. Schließlich ist Subsidiarität auch ein ethisches Prinzip396. Der ethische Gehalt der Subsidiarität offenbart sich zum einen bereits in der Verpflichtung der höheren Organisationseinheit gegenüber der niedrigeren zur Unterstützung und Hilfeleistung, welches die Verwandtheit mit dem Solidaritätsprinzip erkennen lässt397. Zum anderen tritt dieser ethische Gehalt aber auch deutlich darin zu Tage, dass die Vorrangigkeit der kleinen Organisationseinheit das Primat der Individualität, der Eigenverantwortlichkeit und Bürgernähe ent- und erhält. Zwischen diesen beiden, in einem dualistischen Menschenbild gründenden Sphären vermittelnd, birgt Subsidiarität das kompromisshafte Gebot des subsidium ferre, der Hilfe zur Selbtshilfe. Darin scheint auch eine gewisse Janusköpfigkeit, eine Zweidimensionalität der Subsidiarität auf 398: Die Dichotomie ergibt eine posi393 In diese Richtung schon O. v. Nell-Breuning, in: Subsidiaritätsprinzip, Staatslexikon, Bd. 7, 6. Aufl. 1962, S. 826 ff. „Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Zuständigkeits-, kein Strukturprinzip.“ 394 M.w. N. I. Feichtner, Subsidiarität, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Enzyclopedia of Public International Law, Volume IX, 2012, S. 653. 395 Dies soll im Europarecht primär durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip, Art. 5 Abs. 4 UAbs. 1 EUV, geregelt werden. 396 J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 337. 397 So M. Droege, Subsidiarität, in: W. Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 2006, S. 2416. 398 So auch W. Schöpsdau, Subsidiarität, in: W. Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, S. 2422.

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tive, „bejahende, gebietende, fordernde und affirmative“ Dimension, die in der Nähe zum Solidarprinzip steht und Hilfestellung der übergeordneten Organisationseinheit verlangt sowie eine negative399 bzw. „verbietende, abwehrende und verneinende“ Dimension400. Mit dieser Zusammenkunft von Intervention und Non-Intervention ist der Subsidiarität ein paradoxer Charakter eingeschrieben401, der diese qualifiziert, das Verhältnis von Überstaatlichem und Staatlichem zu regulieren. Die der Subsidiarität eigentümliche Zwiespältigkeit soll die Vereinigung von Gegensätzlichem, soll Harmonisierung und Unionisierung einerseits und Pluralismus und Differenz andererseits ermöglichen. Dies ist hilfreich, um das menschenrechtliche Paradox von universeller Geltung einerseits und kulturellbedingter Diversität bzw. inhaltlicher Varianz anderseits zu vereinen402. Aufgrund der aufgezeigten, vielfältigen Funktionen und des Gegensätze in sich aufnehmenden und aufhebenden paradoxen Charakters, erscheint das Prinzip403 zunächst zur Beschreibung regionaler Menschenrechtsschutzsysteme besonders geeignet.

II. Latenz und Potenz – Subsidiaritätselemente im regionalen Menschenrechtsschutz 1. Subsidiaritätselemente im europäischen Menschenrechtsschutzsystem Im Gegensatz zum Europarecht im engeren Sinne, findet sich das Subsidiaritätsprinzip bislang nicht explizit positivrechtlich in der EMRK niedergelegt. Es ist auch nicht Diskussionsgegenstand während des Entwurfes oder der Annahme der Konvention gewesen404. Dem liegt zugrunde, dass der Europarat – anders als 399 Diese wird funktional auch deutlich in Regionalstatuten, vgl. dazu P. Häberle, Konstitutionelles Regionalismusrecht – die neuen Regionalstatute in Italien, JöR 58 (2010), S. 443 ff. 400 F. Ronge, Legitimität durch Subsidiarität 1998, S. 158 f. mit Verweis auf O. v. NellBreuning, Baugesetze der Gesellschaft, 1990, S. 79 sowie S. 93 bis 114. 401 Dies herausstellend P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law 97 (2003), S. 38 ff. inbesondere S. 44 u. a. mit Verweis auf C. Delsol, L’État subsidiaire: Ingérence et noningérence de l’État: le principe de subsidiarité aux fondements de l’histoire européenne, 2010, S. 8. 402 Vgl. P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law 97 (2003), S. 46 ff. 403 Die Vielgestaltigkeit unterstreicht auch den Prinzipiencharakter der Subsidiarität. Zur Unterscheidung von Regel und Prinzip, R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977, S. 24 und 26: Ein Prinzip „states a reason that argues in one direction, but does not necessitate a particular decision.“ 404 M.w. N. H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 42.

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die EU – keine politische Integrationsgemeinschaft darstellt, sondern in seiner Grundform eine intergouvernementale, auf Koordination und Kooperation ausgerichtete Organisation war und ist405. Dennoch gilt Subsidiarität als „allgemeines Prinzip“ 406 der Konvention, als „Grundsatz“ ihrer Auslegung407 als Teil ihrer „Rahmen- und Organisationsstruktur“ 408. Zum Teil ist auch das subsidiaritätsorientierte Vorgehen des Gerichtshofes in Gestalt einer dialogisch-rücksichtsvollen, inkrementalistischen Rechtsprechung als Grund für den Erfolg des europäischen Menschenrechtsschutzsystems ausgemacht worden; dieses habe maßgeblich zur Transformation von einem internationalen Vertragsregime zum effektiven Menschenrechtsschutzsystem beigetragen409. Subsidiarität scheint danach ein latentes Prinzip der Konventionssysteme zu sein. Erst im Zuge des gegenwärtigen Reformprozesses wird mit der Verabschiedung des 15. Zusatzprotokolls eine Inkorporation des Subsidiaritätsprinzips in die Präambel der EMRK beabsichtigt410. Das 15. Zusatzprotokoll vom 24. Juni 2013 ist allerdings bislang noch nicht in Kraft getreten.411 Unabhängig von dieser angestrebten Positivierung und der allgemeinen Charakterisierung werden bestimmte Strukturelemente der EMRK von Literatur und Rechtsprechung als konkreter, unmissverständlicher Ausdruck von Subsidiarität gedeutet. Ferner ist dieses Prinzip auch in der besonderen Rechtsprechungscharakteristik des EGMR erkannt worden. 405 H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 43. 406 T. Altwicker/A. Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2012, S. 10 ff. 407 U. Karpenstein/F. C. Mayer (Hrsg.), EMRK-Kommentar, 2012, Einleitung Rn. 54. 408 H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 43. 409 So P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law (97) 2003, S. 74 mit Verweis auf R. S. Kay, The European Human Rights System as a System of Law, Columbia Journal of European Law (6) 2000, S. 55 und L. R. Helfer/A.-M. Slaughter, Toward a Theory of Effective Supranational Adjudication, Yale Law Journal 107 (1997), S. 273, 314 und 323. 410 Vgl. dazu § 12 b) der Erklärung von Brighton vom 19. und 20. April 2012 sowie die Joint preliminary comments on the drafting of Protocols 15 and 16 to the European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms des Steering Committee for Human Rights (CDDH) und des Committee of Experts on the Reform of the Court (DH-GDR) vom 29.08.2012. 411 Nach Art. 7 des Protokolls tritt es erst in Kraft, wenn es alle Vertragsparteien der Konvention ratifiziert haben. Derzeit haben es 30 von 47 Vertragsparteien unterzeichnet. Neun Vertragsparteien haben es ratifiziert. Der aktuelle Stand ist stets auf den Seiten des Vertragsbüros des Europarates abrufbar: http://www.conventions.coe.int/Treaty/ Commun/ChercheSig.asp?CL=GER&CM=&NT=213&DF=04/08/2014&VL= (zuletzt abgerufen am 03.08.2014).

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a) Funktionale Strukturmerkmale der EMRK als Subsidiaritätselemente Als Ausgangspunkt bzw. Basis412 für die der EMRK inhärenten Subsidiarität gilt zunächst Art. 1 EMRK, der die „Hohen Vertragsparteien“ zur Achtung der Menschenrechte verpflichtet413. Es sind demnach die Staaten, die die Rechte zusichern („shall secure“). Ihnen wird die Primärverantwortung zur Einhaltung und Sicherung zugewiesen. Bei der Umsetzung dieser Verpflichtung kommt ihnen sodann ein durch den EGMR gewährter und konturierter, nicht unerheblicher Gestaltungsspielraum zu414. Der Primärverantwortung der Staaten korrespondiert die in Art. 19 EMRK bezeichnete Aufgabe des Gerichtshofes, die Einhaltung der Konventionsverpflichtung lediglich zu überwachen („to ensure the observance of the engagements“). Diese zweigliedrige Aufgabenverteilung zwischen Mitgliedstaaten und Konventionsorganen und der daraus abgeleitete subsidiäre Charakter des Konventionssystems ist auch bereits früh Gegenstand der Rechtsprechung geworden. So führt der EGMR im berühmten Belgian Linguistic Fall von 1968 aus: „(. . .) it [the Court] cannot assume the role of the competent national authorities, for it would thereby lose sight of the subsidiary nature of the international machinery of collective enforcement established by the Convention. The national authorities remain free to choose the measures which they consider appropriate in those matters which are governed by the Convention. Review by the Court concerns only the conformity of these measures with the requirements of the Convention.“ 415

Der Gerichtshof beschränkt sich aber nicht auf die Betonung der „subsidiary nature“ des Konventionssystems, sondern hat diese zu einem Prinzip erhoben, von einem „principle of subsidiarity“ 416 gesprochen. Auch in der berühmten Handyside-Entscheidung aus dem Jahre 1976 nimmt der EGMR explizit Rekurs auf den Subsidiaritätsgedanken. „The Court points out that the machinery of protection established by the Convention is subsidiary to the national systems safeguarding human rights (. . .). The Convention leaves to each Contracting State, in the first place, the task of securing the rights and liberties it enshrines. The institutions created by it make their own contribution to this task but they become involved only through contentious proceedings and once all domestic remedies have been exhausted (Article 26).“ 412 M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 624 f. 413 So etwa J. Meyer-Ladewig, EGMR-Kommentar, 3. Aufl. 2011, S. 30; H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 44. 414 Grundlegend ECHR, 06.02.1976, Swedish Engine Drivers Union, Serie A, No. 20, Rn. 50. 415 ECHR, 23.07.1968, Belgian Linguistic Case Serie A 6, No. 1474/62, Rn. 10. 416 Statt vieler zuletzt in ECHR, 02.04.2013, Case of Olszewski v. Poland, No. 21880/03, Rn. 76, 80 und 98.

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Seither hat der Gerichtshof immer wieder betont und herausgestellt, dass das Konventionssystem auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht417. Als Ausdruck dieser Primärverantwortung der Staaten für den Grund- und Menschenrechtsschutz und damit als Subsidiaritätselement gelten auch das den Gewährleistungskanon der EMRK abschließende Recht auf eine wirksame innerstaatliche Beschwerde aus Art. 13 EMRK418 und insbesondere das Gebot der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung in Art. 35 EMRK. Der subsidiäre Gehalt ist vornehmlich darin zu erblicken, dass beide Normen die Staaten verpflichten, zunächst selbst die behauptete Rechtsverletzung aufzuklären und auszuräumen. Der EGMR hat diese Perspektive etwa in Varnava and Others v. Turkey bestätigt und dahingehend präzisiert, dass diese Auswirkungen der Subsidiarität auch dem Interesse des Klägers und der Effizienz des Konventionssystems dienlich seien. „In line with the principle of subsidiarity, it is best for the facts of cases to be investigated and issues to be resolved in so far as possible at the domestic level. It is in the interests of the applicant, and the efficacy of the Convention system, that the domestic authorities, who are best placed to do so, act to put right any alleged breaches of the Convention.“ 419

Insbesondere das Erfordernis der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung aus Art. 35 EMRK gilt als eines der deutlichsten Zeugnisse der Subsidiarität420. Dieses, dem allgemeinen völkerrechtlichen Prinzip der „local remedies“ entsprechende Zulässigkeitskriterium, regelt das Verhältnis von nationaler und internationaler Rechtsordnung. Ebenso wie das Recht auf eine wirksame Beschwerde aus Art. 13 EMRK gibt es dem betroffenen Staat nicht nur die Möglichkeit, Konventionsverletzungen zunächst im innerstaatlichen Kontext zu beseitigen und zu

417 ECHR, 12.02.2013, Yefimenko v. Russia, No. 152/04 Rn. 95 „The Court reiterates that the European system for the protection of human rights is founded on the principle of subsidiarity. The States should be given a chance to put right past violations before the complaint is examined by the Court; however, „the principle of subsidiarity does not mean renouncing all supervision of the result obtained from using domestic remedies“ (see Giuseppe Mostacciuolo v. Italy (No. 2) [GC], No. 65102/01, § 81, 29 March 2006). Moreover, the principle of subsidiarity should not be construed as allowing States to evade the Court’s jurisdiction (see Sakhnovskiy [GC], cited above, § 76).“ 418 Statt vieler H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 45. 419 ECHR, 18.09.2009, Varnava and Others v. Turkey, No. 16064/90 Rn. 164. Wortidentisch auch in ECHR, 31.07.2012, Case of Er and others v. Turkey, No. 23016/04 Rn. 57 „(. . .) in line with the principle of subsidiarity, it is best for the facts of cases to be investigated and issues to be resolved in so far as possible at the domestic level. It is in the interests of the applicant, and the efficacy of the Convention system, that the domestic authorities, who are best placed to do so, act to put right any alleged breaches of the Convention. 420 Vgl. bspw. ECHR, 29.03.2006, Riccardi Pizzati v. Italy, No. 62361/00 Rn. 136: „Apart from the fact that the existence of a domestic remedy is fully in keeping with the subsidiarity principle embodied in the Convention (. . .).“

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kompensieren421, sondern erfüllt zugleich eine „Filterfunktion“ zur Verhinderung einer Überlastung des Gerichtshofes. Auch der sachlich nähere Zugriff wird so sichergestellt. So führt der Gerichtshof in Burden v. United Kingdom aus: „The European Court of Human Rights is intended to be subsidiary to the national systems safeguarding human rights (. . .) and it is appropriate that the national courts should initially have the opportunity to determine questions of the compatibility of domestic law with the Convention and that, if an application is nonetheless subsequently brought to Strasbourg, the European Court should have the benefit of the views of the national courts, as being in direct and continuous contact with the forces of their countries“.422

Um dies zu gewährleisten, beinhaltet das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung sowohl eine vertikale bzw. formelle als auch eine horizontale, das heißt materielle Dimension. Erstere meint das Durchlaufen des gesamten Instanzenzuges einschließlich der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Einlegung aller zugänglichen und geeigneten Rechtsbehelfe. Letztere verlangt die inhaltliche „Identität“ – zumindest unter dem Gebot jura novit curia im wesentlichen und der Sache nach – zwischen der Rüge vor den innerstaatlichen Instanzen und jener vor dem EGMR423. In Übereinstimmung mit dem Subsidiaritätsgedanken greift die nächstgrößere Einheit in Gestalt des überstaatlichen Konventionssystems also erst dann ein, wenn der innerstaatliche Rechtsschutz als kleinere Ordnungseinheit vertikal erschöpft ist, dass heißt im konkreten Fall, gemessen am konventionsrechtlichen Maßstab, versagt hat. Die Bedeutung des engen Zusammenhangs zwischen der Primärverantwortung der Staaten aus Art. 1 und den Geboten aus Art. 13 und Art. 35 EMRK für den subsidiären Charakter des Konventionssystems betont auch der Gerichtshof in der Entscheidung Scordino v. Italy, indem er konstatiert: „Under Article 1 of the Convention (. . .), the primary responsibilty for implementing and enforcing the rights and freedoms guaranteed by the Convention is laid on the national authorities. The machinery of complaint to the Court is thus subsidiary to national systems safeguarding human rights. This subsidiary character is articulated in Art. 13 and 35 § 1 of the Convention.“ 424

Ferner ist in Art. 41 EMRK, der die gerechte Entschädigung regelt, ein Subsidiaritätselement erkannt worden425. Dies liegt darin begründet, dass der Ge-

421 C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 13 Rn. 19 m.w. N. 422 ECHR, 19.04.2008, Burden v. United Kingdom, No. 13378/05, Rn. 42. 423 Dazu C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 13 Rn. 23 ff. m.w. N. 424 ECHR, 26.03.2006, Scordino v. Italy, No. 36813/97, Rn. 140. 425 H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 48.

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richtshof lediglich dann berechtigt ist, eine Entschädigung zuzusprechen, wenn das innerstaatliche Recht nur eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Verletzung gestattet. Damit ist eine Vorrangigkeit der nationalen Rechtsordnung und ihrer Kompensationsmöglichkeiten gegenüber dem Konventionsrecht etabliert. Subsidiarität ist auch dem Normgehalt des Art. 46 EMRK attestiert worden, da die Urteile des Gerichtshofs deklaratorischer Natur sind, den angegriffenen Akt nicht annullieren426 und grundsätzlich auch keine Vorgaben enthalten, auf welche Art und Weise der konventionsmäßige Zustand wiederherzustellen ist427. Schließlich gilt das Günstigkeitsprinzip aus Art. 53 EMRK als eine „Folge“ der Subsidiarität428. Mit dieser die „Wahrung der Menschenrechte“ anstrebenden Norm ist jedwede Beeinträchtigung oder Beschränkung der Grund- und Menschenrechte unter Berufung auf die Konvention verboten. Der Gerichtshof hat diese Norm (ex Art. 60 EMRK) ebenfalls mit dem Subsidiaritätsprinzip verbunden429. Auch das Diskriminierungsverbot aus Art. 14 EMRK zeugt nach Auffassung der Literatur aufgrund seines Annexcharakters zu anderen Garantien der EMRK vom subsidiären Charakter des Konventionssystems430. b) Materielle Subsidiaritätselemente in der Rechtsprechungscharakteristik Das vorstehend skizzierte Normenensemble generiert in funktioneller Hinsicht eine Primärzuständigkeit der Vertragsstaaten und eine Nachrangigkeit des regionalen Rechtsschutzmechanismus, die die subsidiäre Struktur des Konventionssystems begründen sollen. Folglich ist das Subsidiaritätsprinzip als „Strukturprinzip und Optimierungsgebot“ der EMRK qualifiziert worden431. Neben diesen in ers426

So M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 631 f. 427 ECHR, 05.03.1998, Clooth v. Belgium, No. 12718/87, Rn. 14: „The Contracting States that are parties to a case are in principle free to choose the means whereby they will comply with a judgment in which the Court has found a breach. This discretion as to the manner of execution of a judgment reflects the freedom of choice attaching to the primary obligation of the Contracting States under the Convention to secure the rights and freedoms guaranteed (Article 1).“ 428 T. Altwicker/A. Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 1. 429 ECHR, 30.01.1998, United Communist Party of Turkey and Others v. Turkey, No. 19392/92 Rn. 28: „the Convention reinforces, in accordance with the principle of subsidiarity, the protection afforded at national level, but never limits it (Article 60 of the Convention).“ 430 M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 630 f. 431 I. Hoffmann, Der Grundsatz der Subsidiarität im Rechtsschutzsystem der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2007, S. 219 f.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

ter Linie funktionalen bzw. „prozeduralen“ 432 Subsidiaritätselementen lassen sich nach der Literatur aber auch in der Rechtsprechungscharakteristik weitere Ausformungen der Subsidiarität erkennen. Insbesondere der den nationalen Behörden seitens des Gerichtshofes zuerkannte Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum, die sog. margin of appreciation, gilt als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips433 und ist zum Teil sogar zu dessen Synonym erklärt worden434. Danach hat die jeweilige nationale Institution einen gewissen Freiraum bei der Entscheidung über die Mittel zur Erreichung eines Ziels, der je nach Sachbereich und Zweck variiert435. Hierin scheint die Zuständigkeitsvermutung zu Gunsten der sachlich näheren, untergeordneten Ebene und die Wahrung von Autonomie und Selbstbestimmung auf, die dem Subsidiaritätsprinzip inhärent ist. Sie vermittelt nicht nur eine höhere Legitimität als bürgernahe Entscheidung und geht von einer besseren Informationsbasis aus, sondern wahrt zugleich kulturelle Diversität und Rechtspluralismus, erhält Heterogenität436. Besonders augenscheinlich ist die vom Gerichtshof gewährte Einschätzungsprärogative in jenen Bereichen, wo sich Konventionsrecht und nationales Recht unmittelbar „berühren“, also dort, wo bestimmte Rechtsgarantien mit konkret auferlegten Handlungsweisen und Ausgestaltungen verbunden werden,

432 H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 49. 433 T. Altwicker/A. Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 4. Auch M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 629 f. 434 So H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 55 ff. Der jedenfalls engen Verbundenheit zwischen beiden, wenngleich nicht Synonymität, trägt auch die Diskussion um den Reformprozess Rechnung. Neben dem Subsidiaritätsprinzip ist nämlich auch die Aufnahme der margin of appreciation in § 12 b) der Erklärung von Brighton diskutiert worden. Aufgrund seiner Einzelfallbezogenheit, seiner Funktion als „Interpretationstool“ ist es allerdings lediglich als ein Element der Subsidiarität anzusehen, nicht als Inbegriff dessen. Es lotet die Grenze zwischen überstaatlichen Menschenrechten und Souveränität aus. Dazu treffend J. G. Merrills, The Development of International Law by the European Court of Human Rights, 1988, S. 157 „Where the one ends, the other begins“. 435 Zu Ausführungen der margin of appreciation sei statt vieler auf ECHR, 25.11. 1996, Wingrove v. United Kingdom No. 17419/90, Rn. 58 und ECHR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, No. 5310/71, Rn. 207 verwiesen. 436 Auch dadurch rückt das Rechtsprechungsinstrument der margin of appreciation in die Nähe des Subsidiaritätsprinzips, vgl. dazu O. v. Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, 1990 S. 87 f., (. . .) „wie Symphonie und Harmonie der Stimmen schwinden, wenn alle denselben Ton singen“. Vgl. in Bezug auf die EMRK, P. Mahoney, Marvellous Richness of Diversity or Invidious Cultural Relativism?, Human Rights Law Journal 19 (1998), S. 1 ff.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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wie beispielsweise in Art. 5 Abs. 1 lit. a) bis f)437 EMRK oder Art. 6 EMRK438. Gleiches ist auch für die durch die Konvention statuierten „Rechtmäßigkeitsanforderungen“ in Art. 7 und den Absätzen zwei der Art. 8 bis 11 EMRK erkannt worden. Subsidiarität offenbart sich hier in zweifacher Form: Zum einen erhebt die Konvention keinen umfassenden Regelungsanspruch, sondern enthält nur gewisse strukturelle Mindestvorgaben, zum anderen übt sich der Gerichtshof in Zurückhaltung bei der Beurteilung der Anwendung innerstaatlicher Normen439. Weiterhin wird die richterliche Zurückhaltung, der sog. judicial self-restraint, als „Folge“ des subsidiären Charakters gewertet440. Damit ist zunächst jener Umstand bezeichnet, dass in ca. 95% aller vor den Gerichtshof gebrachten Fällen keine Konventionsverletzung festgestellt wird und diese Beschwerden entweder als unbegründet oder als unzulässig klassifiziert werden. Darüber hinaus fungiert judicial self-restraint aber auch als Interpretationsmaxime bei der Auslegung von Gesetzen und Bewertung von Sachverhalten. Als Konsequenz aus dem subsidiären Charakter wird schließlich eine Beschränkung des Prüfungsumfangs des EGMR deduziert, so dass grundsätzlich fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen441 und fehlerhafte Anwendungen des innerstaatlichen Rechts durch die nationalen Gerichte nicht daran teilhaben442. Der Gerichtshof stellt insofern fest: 437 Vgl. ECHR, 24.10.1979, Winterwerp v. Netherlands No. 6301/73, Rn. 46 „(. . .) the logic of the system of safeguard established by the Convention sets limits upon the scope of this review. It is in the first place for the national authorities, notably the courts, to interpret and apply the domestic law, even in those fields where the Convention ,incorporates‘ the rules of that law: the national authorities are, in the nature of things, particularly qualified to settle the issues arising in this connection.“. ECHR, 10.06.1996, Benham v. United Kingdom, No. 19380/92, Rn. 41: „It is in the first place for the national authorities, notably the courts, to interpret and apply domestic law. However, since under Article 5 para. 1 (art. 5-1) failure to comply with domestic law entails a breach of the Convention, it follows that the Court can and should exercise a certain power to review whether this law has been complied with.“ 438 H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 52 ff., der insbesondere auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 III lit. d) EMRK aufmerksam macht. 439 M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 628 f. 440 T. Altwicker/A. Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 5. 441 Dieses weit verbreitete Argument als Unterscheidungsmerkmal zu der Fachgerichtsbarkeit heranzuziehen, ist sowohl bezogen auf die Verfassungsgerichtsbarkeit als auch auf den EGMR scheinheilig. Auch im innerstaatlichen Instanzenzug sind fehlerhafte Sachverhaltsfeststellungen grundsätzlich nur im Berufungs-, nicht aber im Revisionsverfahren, beachtlich. 442 T. Altwicker/A. Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 7 mit Verweis auf ECHR, 10.09.2010, Mc Farlane v. Ireland, No. 31333/06,

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

„As a general rule, it is for the national courts, and in particular the court of first instance, to assess the evidence before them as well as the relevance of the evidence which the accused seeks to adduce“ 443.

Als beispielhaft für die Beschränkung des Prüfungsumfangs gilt etwa die Rechtsprechung des Gerichtshofes zum Recht auf ein faires Verfahren gemäß Art. 6 EMRK444, in der der Gerichtshof seine Jurisdiktionskompetenz explizit bis auf eine Willkürkontrolle zurücknimmt und eine Überprüfung allein am Maßstab des Konventionsrechts vornimmt445. In Analogie zum deutschen Verfassungsrecht ließe sich dies als die Überprüfung „spezifischen Konventionsrechts“ interpretieren – der EGMR ist danach keine „vierte Instanz“, keine „Superrevisionsinstanz“. Sodann hat der Gerichtshof konstatiert, dass das Subsidiaritätsprinzip auch im Zusammenhang mit den Piloturteilen stünde: „Another important aim of the pilot-judgment procedure is to induce the respondent State to resolve large numbers of individual cases arising from the same structural problem at the domestic level, thus implementing the principle of subsidiarity which underpins the Convention system.“ 446

Schließlich kommt dem Subsidiaritätsprinzip auch in Sondervoten Bedeutung zu. So ist jüngst von einem „spirit of subsidiarity“ 447 gesprochen worden, ist dieses als „fundamental tenet of interpretation of the Convention“ qualifiziert448

Rn. 113. Ebenso H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 50 mit Verweis auf weitere Urteile. 443 ECHR, 06.12.1988, Barberà, Messegué and Jabardo v. Spain, No. 10590/83 Rn. 68: 444 Dies betont vor allem M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 627. 445 ECHR, 12.07.1988, Schenk v. Switzerland, No. 10862/84, Rn. 45: „In particular, it is not its function to deal with errors of fact or of law allegedly committed by a national court unless and in so far as they may have infringed rights and freedoms protected by the Convention.“ Bestätigt und ergänzt in ECHR, 21.01.1999, Garcia Ruiz v. Spain, No. 30544/96 Rn. 28: „In particular, it is not its function to deal with errors of fact or law allegedly committed by a national court unless and in so far as they may have infringed rights and freedoms protected by the Convention. Moreover, while Article 6 of the Convention guarantees the right to a fair hearing, it does not lay down any rules on the admissibility of evidence or the way it should be assessed, which are therefore primarily matters for regulation by national law and the national courts.“ 446 ECHR, 10.01.2012, Case of Ananyev and others v. Russia, No. 42525/07 und 60800/08 Rn. 182. 447 ECHR, 22.04.2013, Case of Animal Defenders International v. United Kingdom Sep. Op. Ziemele, Sajó, Kalaydjieva, Vucinic und De Gaetano, No. 48876/08, Rn. 9. 448 ECHR, 13.12.2012, Case of De Souza Ribeiro v. France, No. 22689/07 Sep. Op. Pinto De Albuquerque und Vucinic.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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worden. Zuweilen offenbaren die Sondervoten zudem Vermutungen über Herkunft und Wesen der Subsidiarität449. 2. Subsidiaritätselemente im interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystem Auch in der AMRK ist das Subsidiaritätsprinzip bislang nicht positivrechtlich niedergelegt. Im Gegensatz zum europäischen System kommt dem Prinzip aber auch in Rechtsprechung und Literatur wenig Relevanz zu, ist es selbst „theoretisch“ kaum existent. Möglicherweise hat die „Inkubation“ mit Subsidiaritätsüberlegungen im interamerikanischen Raum noch nicht begonnen, wenngleich es merkwürdig anmutet, dass bei der sonst gegebenen Rezeptions- und Adaptionsdichte dieses Kardinalprinzip unberücksichtigt geblieben sein sollte. Vielleicht erlaubt dieser Umstand aber auch Rückschlüsse auf die Tragfähigkeit und Überzeugungskraft des Subsidiaritätsgedankens in regionalen Menschenrechtsschutzsystemen im Allgemeinen. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Struktur der AMRK grundsätzlich der EMRK nachgebildet ist450. Wenn demnach die EMRK unabweislich subsidiären Charakter trüge, dann müsste dies auch für die AMRK Geltung beanspruchen können. In Anlehnung daran ließen sich auch unabhängig von einem Positivierungsdefizit parallel zu den oben genannten Normen und Instituten der EMRK einzelne Ausprägungen und Elemente der Subsidiarität im interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystem erkennen. Parallel zur EMRK ist auch in der AMRK an vorderster Stelle in Art. 1 AMRK den Staaten als Vertragsparteien der Schutz von Rechten und Freiheiten aufgegeben („undertake to respect“/„to ensure“). Dieser Schutzauftrag wird in Art. 2 AMRK noch einmal dahingehend spezifiziert, dass die Staaten auch aktiv alle notwendigen und gebotenen Maßnahmen unternehmen, um die aus der Konven-

449 ECHR, 21.01.2011, Belgium v. Greece, No. 30696/09 Sep. Op. Villiger 4. b) „Without stating as much, the Court is very likely applying here the principle of subsidiarity, as it transpires from Article 1 of the Convention. According to this principle, it falls primarily to the States to guarantee and implement the rights enshrined in the Convention. The function of the Convention and the Court remains to provide a European minimum standard (Handyside v. the United Kingdom, 7 December 1976, § 48, Series A No. 24). I am all in favour of the principle of subsidiarity, but I think here is the wrong place to apply it. Tribute has already been paid to subsidiarity in this case by testing the complaint expressly or implicitly with various admissibility conditions and in particular with that of the exhaustion of domestic remedies (which is in itself an application of the principle of subsidiarity par excellence). Subsidiarity plays an important part, for instance, in applying the second paragraphs of Articles 8–11 of the Convention. Its role must surely be more restricted in the light of a cardinal provision such as Article 3 and in view of the central importance of the applicant’s refoulement for this case. In any event, in my opinion, subsidiarity does not permit such a complaint to be ,downgraded‘ so that it is no longer independently examined.“ 450 Siehe dazu bereits Zweiter Teil.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

tion resultierenden Pflichten zu verwirklichen. Dies gebietet zudem die oben skizzierte Control de Conventionalidad. Ebenfalls in Verwandtschaft zu dem durch Art. 13 und Art. 6 EMRK aufgespannten Rechtsschutzkomplex und durch deren Auslegung stark geprägt451, gewährt auch das Normentandem von Art. 8 und Art. 25 AMRK ein Recht auf juristischen Schutz durch die innerstaatlichen Institutionen, dem ein Subsidiaritätselement innewohnt: Rechtsschutz erfolgt danach zunächst und vornehmlich auf nationaler Ebene, erst sekundär durch das Konventionssystem. Weiterhin enthält auch die AMRK in Art. 46 Abs. 1 lit. a das Erfordernis der Rechtswegerschöpfung („remedies under domestic law have been pursued and exhausted“), was als evidentes Subsidiaritätsmerkmal gilt452. Es überlässt den nationalen Gerichten zunächst die Deutungshoheit und gibt Gelegenheit, die Konventionskonformität herzustellen bzw. Verstöße gegen diese zu rügen. Erst wenn diese Mittel ausgeschöpft sind, ist der nachgeordnete, regionale Menschenrechtsschutz zulässig und eröffnet. Art. 63 Abs. 1 AMRK regelt parallel zu Art. 41 EMRK die Jurisdiktionsgewalt des IAGH. Wenngleich der Normgehalt zunächst identisch anmutet, weil nach dem Wortlaut auch der IAGH lediglich Feststellungsurteile treffen kann („finds that there has been a violation“), besteht doch im Hinblick auf die Subsidiarität ein entscheidender Unterschied: Die EMRK statuiert im Fall eines Konventionsverstoßes kumulative Kriterien für eine gerechte Entschädigung. Der EGMR ist dazu nur berechtigt, wenn die Wiedergutmachung nach dem innerstaatlichen Recht unvollkommen ist („allows only partial reparation“) und weiterhin eine gerechte Entschädigung zuzusprechen notwendig ist („if necessary“). Demgegenüber verlangt die AMRK eine derart strikte Notwendigkeit nicht, sondern lässt die Angemessenheit genügen („if appropriate“). Der IAGH hat vom Rechtsinstitut der just satisfaction auch regen und weitausgreifenden Gebrauch gemacht453. Ein Rekurs auf Entschädigungsmöglichkeiten durch die innerstaatliche Rechtsordnung, wie in der EMRK vorhanden, fehlt gänzlich. Letztlich stehen deshalb die Anordnungen der AMRK zur Entschädigung nicht unter dem Vorbehalt der innerstaatlichen Rechtsordnung. Somit fehlt hier ein der EMRK vergleichbares Subsidiaritätselement. 451 A. Úbeda de Torres, in: L. Burgorgue-Larsen/A. Úbeda de Torres (Hrsg.), The Inter-American Court of Human Rights – Case Law and Commentary, 2011, Rn. 25.01 und 25.03, S. 645 f. 452 So I. Feichtner, Subsidiarity, in: R. Wolfrum (Hrsg.), Max Planck Enzyclopedia of Public International Law, Volume IX, 2012, S. 657. 453 Beispielhaft sind die vielfältigen „remedies“ in IACHR, 12.08.2008, HeliodoroPortugal v. Panama, Series C, No. 186, Rn. 241 ff., die unter anderem wegen eines „Verschwindenlassens“ die Benennung einer Straße nach dem Opfer vorsah. Vgl. hierzu J. J. Vasel, Innovationsimpulse des interamerikanischen Gerichtshofes, JÖR 62 (2014), S. 737 ff.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Allerdings kann in Art. 68 AMRK, der die Befolgungsanordnung der Urteile des interamerikanischen Gerichtshofes normiert, ein subsidiäres Element erkannt werden. Der Normgehalt („to comply with the judgement“) ähnelt stark dem europäischen Pendant in Art. 46 EMRK („to abide by the final judgement“). Ebenso wie im europäischen Schutzsystem lässt sich der lediglich deklaratorische Charakter als Respektsbekundung gegenüber dem nationalen Recht deuten und als Anerkenntnis von dessen Vorrangigkeit verstehen. Ein weiteres Subsidiaritätsmoment scheint in den durch Art. 29 AMRK etablierten Interpretationsgrenzen der Konvention auf. Ähnlich wie auch durch das Günstigkeitsprinzip in Art. 53 EMRK ist eine Beschränkung von Grund- und Menschenrechten aus dem Recht der Vertragsparteien untersagt. Der Bezug auf das innerstaatliche Recht ist in der ohnedies konkreter gefassten AMRK-Norm enger und differenzierter, indem deren Zusammenhang mit repräsentativer Demokratie hergestellt wird, vgl. Art. 29 c) AMRK. Respekt und Rücksichtnahme gegenüber innerstaatlicher Rechtssetzung kommt hier also unmissverständlich zum Ausdruck und kann als Subsidiaritätselement qualifiziert werden. Auch die Rechtsfigur der margin of appreciation, die in der EMRK als vermeintlich deutlichstes Zeugnis von Subsidiarität gedeutet worden ist454, findet im interamerikanischen System Anwendung und ist einzelnen Verbürgungen inhärent455. Gleichwohl ist betont worden, dass ihr in Ermangelung eines positivrechtlichen Anknüpfungspunktes und der dadurch reduzierten Kontrolldichte mit Misstrauen, wenigstens aber mit Vorsicht zu begegnen sei456. Ungeachtet des restriktiveren Verständnisses und Umgangs mit der margin of appreciation, ist der AMRK in diesem Zusammenhang dennoch ebenfalls eine „subsidiary nature“ attestiert worden457. Schließlich lässt sich im Hinblick auf die Subsidiarität als Theorem eine Rezeptionslücke diagnostizieren. In Konkordanz mit der geringeren Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips in der Rechtsprechung des Interamerikanischen Gerichtshofes hat auch die Literatur diesem Prinzip wenig, im Grunde bislang gar keinen Stellenwert zuerkannt.

454 Grundsätzlich dazu A. Legg, The Margin of Appreciation in International Human Rights Law: Deference and Proportionality, 2012. 455 So H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Aufl. 2008, S. 58 f. mit Verweis auf die Art. 2, 10, 13 II, 14 I, 15, 16, 18, 20, 23 I lit. a) und b), 25 und 27 AMRK. 456 H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Aufl. 2008, S. 58. 457 H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Aufl. 2008, S. 60.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

3. Zwischenergebnis und Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips Im Ergebnis können also zwei unterschiedliche Kategorien an Subsidiaritätselementen innerhalb der Konventionssysteme unterschieden werden458, wenngleich ein Substanzunterschied vereinzelt bezweifelt wird459: Einerseits wirkt Subsidiarität als ein prozedurales oder funktionelles Strukturprinzip, das die Aufgaben und Kompetenzen zwischen Konventionsorganen und Mitgliedstaaten dahingehend verteilt, dass in erster Linie den Vertragsstaaten die Aufgabe zukommt, die Rechte zu gewähren, zu achten und zu schützen. Ausdruck dessen sind vor allem die Primärverantwortung der Staaten (Art. 1 EMRK bzw. Art. 1 und 2 AMRK), das Gebot der innerstaatlichen Beschwerde und der Rechtswegerschöpfung (Art. 13 und 35 EMRK bzw. Art. 8, 25 und 46 AMRK), der Entschädigungsumfang und Feststellungscharakter der Urteile (Art. 41 und 46 EMRK bzw. Art. 63 und 68 AMRK) sowie das Günstigkeitsprinzip (Art. 53 EMRK bzw. Art. 29 AMRK). Sodann entfaltet Subsidiarität als materielles Prinzip Wirkung in der Anwendung und Auslegung der Konventionen und offenbart sich in bestimmten Rechtsprechungsinstrumenten wie der margin of appreciation, dem beschränkten Prüfungsumfang („Vierte-Instanz-Formel“), einem gewissen judicial self-restraint und soll schließlich – im europäischen Schutzsystem – auch den Hintergrund für die Piloturteile bilden. Als diesen einzelnen, konkreten Subsidiaritätsausprägungen vorausliegende Gründe werden für den subsidiären Charakter der Konventionssysteme ferner historische, praktische, kulturrelativistische und faktische Argumente angeführt460: Da es sich bei Menschenrechten um eine verhältnismäßig neue Materie des traditionell durch Staatensouveränität geprägten Völkerrechts handele, sei ein zurückhaltender Umgang mit der internationalen Supervision geboten. Subsidiarität solle eine „sanfte“ Relativierung der Souveränitätsvorstellungen sicherstellen und die Folgewilligkeit erhöhen. Subsidiarität sei auch aus dem immensen und gewichtigen Einfluss der Konventionen auf das Recht der Mitgliedstaaten abzuleiten und als „Konzession“, als „Preis“ für die Relativierung der staatlichen Souve-

458 So explizit H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 60. 459 Verweisend auf die „Polysemie“ und „Synonymie“ im Bereich der Subsidiarität, geht J. Christoffersen davon aus, dass Subsidiarität, „4. Instanz-Formel“, margin of appreciation, discretion und implementation freedom lediglich verschiedene Fallkonstellationen voneinander scheiden, aber keinen substanziellen Unterschied aufweisen, ders., Fair Balance: Proportionality, Subsidiarity and Primarity in the European Convention on Human Rights, 2009, S. 236 und 240. 460 So mit den nachfolgenden Argumenten M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 634 ff.

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ränität zu begreifen461. Ferner führe der Rechts- und Wertepluralismus unter den Konventionsstaaten aufgrund von historischen, moralischen, religiösen und kulturellen Unterschieden zu einer großen Vielfalt, die nicht eingeebnet, sondern besonders berücksichtigt werden solle. Schließlich sei die EMRK Produkt und Ergebnis einst nationaler Grundrechtsverbürgungen und -dokumente, so dass ein Wettstreit mit diesen oder gar eine Invalidation der innerstaatlichen Systeme nicht angestrebt sein könne462. Insbesondere die europäische Literatur verknüpft die Subsidiaritätsbekundungen zudem mit einer näheren Bestimmung des Charakters des regionalen Schutzmechanismus. Danach sei das Konventionssystem lediglich ein „Sicherheitsnetz“, ein „Mindeststandard“ und von einer „Nachrangigkeit“ gegenüber dem nationalen Grundrechtsschutz gekennzeichnet, weshalb der EGMR auch kein „Superverfassungsgericht“ darstelle463. Das Konventionssystem sei mangels eigener Vollzugskapazität ein „Kooperationsmodell“ 464 bzw. stelle eine „Auffangebene“ 465 dar. Nicht eindeutig aufklären lässt sich letztlich, ob die subsidiäre Struktur eine Konsequenz dieser Erwägungen oder umgekehrt die Subsidiarität Ursache dieser allgemeinen Erwägungen und Merkmale sein soll. Gleiches gilt für die identifizierten funktionalen und materiellen Subsidiaritätselemente: Es bleibt uneindeutig, ob diese Prämissen sind, aus denen sich der allgemein subsidiäre Charakter ergibt, oder ob sie Konsequenzen und damit Ausprägungen der subsidiären Struktur sind. Die gelegentlich anzutreffende Erläuterung, Motivation und Hintergrund des subsidiären Charakters der Konvention seien der Umstand, dass sie konzeptionell keinen umfassenden, erschöpflichen Grundrechtsschutz verbürgen solle und die Herstellung von Uniformität nicht erklärtes Ziel der Konvention darstelle466, deutet aber darauf hin, dass die angeführten Normen und Rechtsprechungsmerkmale nur Ausprägungen eines ihnen vorausliegenden subsidiären Charakters des Konventionssystems sind, mithin diesen nicht erst konstituieren.

461 M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 636. 462 M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 636. 463 T. Altwicker/A. Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 1. 464 J. Meyer-Ladewig, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2011, Einleitung S. 30. 465 Vgl. P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 109 ff. 466 H. Petzold, The Convention and the Principle of Subsidiarity, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 60.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

III. Die Zweifelhaftigkeit des subsidiären Charakters der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme Subsidiarität ist bislang ohnehin nur ein latentes, kein positivrechtlich-verbindliches Prinzip der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme. Aber auch die These, Subsidiarität ließe sich – wie aufgezeigt – in einzelnen Konventionsgarantien lokalisieren oder sei dem System als solchem immanent, erweist sich bei näherer Betrachtung ganz überwiegend als fragwürdig. So sind die skizzierten Subsidiaritätselemente uneindeutig und unterliegen aus faktischen wie normativen Gründen zumindest einer Relativierung. In der Rechtsprechungscharakteristik erweist sich Subsidiarität überwiegend als bloßes Etikett, als Legitimationsvehikel. Ferner zeigt ein Rechtsvergleich mit dem Europarecht im engeren Sinne, dass für die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Hinblick auf den regionalen Menschenrechtsschutz kaum Raum verbleibt. Schließlich lassen sich Auftrag und Entwicklungsprozess der regionalen Menschenrechtssysteme nur sehr bedingt mit dem Subsidiaritätsgedanken vereinbaren. 1. Uneindeutigkeit und Relativität der Subsidiaritätselemente Bereits die Identifikation des Subsidiaritätsprinzips in Art. 1 EMRK bzw. Art. 1 und 2 AMRK begegnet ersten Zweifeln. Die schlichte Verpflichtung der Staaten, die Menschenrechte zu achten, reicht dafür nicht aus. Adressiert wird – in üblicher Weise – die Gefahrenquelle, der potentielle Verletzer. Eine sinnvolle Alternative dazu, die Staaten als grundrechtsgefährdende Akteure in die Pflicht zu nehmen, also ein anderer Normadressat, existiert nicht. In Betracht käme allenfalls eine Garantenstellung des Gerichtshofes („der Gerichtshof sichert zu“). Eine solche Konstellation wäre aber atypisch und unzweckmäßig. Auch im nationalen Verfassungsrecht trifft die Verpflichtungswirkung der Grundrechte unmittelbar den Staat und ist an ihn in Erscheinungsform aller öffentlichen Gewalt adressiert (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG). Aus der Formulierung der Art. 1 EMRK und AMRK bereits den subsidiären Charakter des Konventionssystems zu folgern, kann daher kaum überzeugen. Der local remedies rule bzw. dem Gebot der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung in Art. 35 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 46 Abs. 1 lit. a) AMRK wohnt zweifelsohne ein subsidiärer Gehalt in Form von Nachgeordnetheit inne. Gleichwohl unterliegt auch dieses der Relativierung bzw. begegnet Bedenken: Denn der EGMR kontrolliert die Rechtswegerschöpfung mit gutem Grund undogmatisch und großzügig467. Die Kontrolle erfolgt ohne übertriebenen Formalismus, auf 467 Statt vieler etwa ECHR, 01.03.2006, Sejdovic v. Italy, No. 56581/00, Rn. 44 „In the context of machinery for the protection of human rights, the rule on exhaustion of domestic remedies must be applied with some degree of flexibility and without excessive formalism.“

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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den Beschwerdeführer zugeschnitten und am Einzelfall orientiert, nicht an der innerstaatlichen Rechtslage468. Es handelt sich mithin nicht um ein absolutes, sondern ein relatives Gebot. Diese Zurückhaltung in der Anwendung und Durchsetzung des Kriteriums der Rechtswegserschöpfung469 bleibt für den subsidiären Charakter nicht folgenlos. Wird das Erfordernis mit einer gewissen Großzügigkeit behandelt, folgt daraus, dass sich auch der daraus ableitbare subsidiäre Gehalt und Charakter abschwächt. Im Konflikt zwischen dem Interesse eines effektiven Individualrechtsschutzes bzw. der Vermeidung eklatanter Rechtsschutzlücken einerseits und der Subsidiarität des Rechtsschutzsystems in Gestalt des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung andererseits gebührt im Zweifel dem Rechtsschutz der Vorrang470. Der großzügige Umgang der Konventionsorgane mit der local remedies rule zeigt, dass sich die Konventionssysteme ihrem Selbstverständnis nach gerade nicht als subsidiär, als bloße Auffangebene verstehen, sondern in die (Verfassungs)rechtsordnung der Mitgliedstaaten hineinwirken wollen. Die Ausführungen des EGMR, die Konvention sei ein „constitutional instrument of European public order“ 471, und vergleichbare Qualifikationen des IAGH im Hinblick auf das interamerikanische System472, lassen daran keinen Zweifel. Ferner ist die local remedies rule als solche rein prozessualer Prägung, transportiert keinen materiellen Gehalt, der die Systeme über die Zulässigkeitsfragen hinaus in ihrer Charakteristik determiniert. Sie rührt nicht an der Bedeutung, dem fundamentalen quantitativen und qualitativen Einfluss der Konventionssysteme auf die innerstaatlichen Rechtsordnungen473. Auch überzeugt es nicht, die mit dem Erfordernis der Rechtswegerschöpfung in Verbindung stehende Verfahrensgarantie aus Art. 13 EMRK als Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips zu deuten. Aus dem Umstand, dass die Konventionssysteme gewisse Verfahrens- und Justizgarantien beinhalten, die ohnehin zum Kanon der Grund- und Menschenrechte gehören, kann lediglich auf die Existenz weiterer Rechtsschutzmechanismen geschlossen werden, nicht aber auf deren 468 C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 13 Rn. 20 m.w. N. 469 Beispielhaft ECHR, 18.09.2009, Varnava et al. v. Turkey, No. 16064/90 et al. 470 Exemplarisch dazu unter Ausdehnung der sechsmonatigen Frist auf einen Zeitraum von 10 Jahren seit dem Verschwinden des Opfers, ECHR, 31.10.2012 Er et al. v. Turkey, No. 23016/04. Dazu N. Simonsen, The Strasbourg Court, the Exhaustion of Domestic Remedies Rule, and the Principle of Subsidiarity: Between a Rock and a Hard Place?, abrufbar unter http://ohrh.law.ox.ac.uk/?p=1235, zuletzt abgerufen am 17.04.2014. Zum Paradox zwischen restriktiven und damit subsidiären Zuständigkeitskriterien einerseits und deren flexibler und großzügiger Anwendung andererseits auch A. Tickell, Dismantling the Iron-Cage: the Discursive Persistence and Legal Failure of a „Bureaucratic Rational“ Construction of the Admissibility Decision-Making of the European Court of Human Rights, German Law Journal (2011), S. 1786 ff. 471 ECHR, 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, No. 15318/89, Rn. 75. 472 Dazu ausführlich bereits Dritter Teil B. II. 2. 473 Dazu ausführlich unter Dritter Teil D. III. 4.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Verhältnis zueinander. Die Gewährleistung des Verfahrensrechts bedingt zwar das Erfordernis eines weitergehenden, konkretisierenden Normbestandes und zeichnet damit eine gewisse Stufung vor. Sie trifft aber noch keine allgemeinen, systemrelevanten und verbindlichen Aussagen über die Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes. Gleiches gilt für den im Günstigkeitsprinzip in Art. 53 EMRK bzw. Art. 29 AMRK vermuteten Subsidiaritätsgehalt. Dem Verbot einer Beschränkung der in den Mitgliedstaaten anerkannten Menschenrechte durch die Konvention lässt sich kein subsidiärer Gehalt entnehmen. Selbstverständlich streben die regionalen Konventionssysteme keine Beschränkung oder Verkürzung des nationalen und internationalen Menschenrechtsschutzes an. Gleichwohl darf der nationale Grundrechtsschutz sich auch nicht in Widerspruch zum durch die Konvention gewährten Schutz begeben. Damit wird deutlich, dass dem Günstigkeitsprinzip keine Nachrangigkeit im Sinne der Subsidiarität innewohnt. Das Prinzip stellt lediglich für den zweiten, außerstaatlichen Konventionsmaßstab sicher, dass er nicht zur Beschränkung und Beeinträchtigung führen darf. Der Günstigkeitsgrundsatz gebietet jedoch keinesfalls, dass der konventionsrechtliche Schutz nur dann eingriffe, wenn nationaler Grundrechtsschutz versagte oder im Hinblick auf Schutzniveau und Schutzumfang hinter diesem zurückzubleiben hätte. Damit trifft der Günstigkeitsgrundsatz bzw. das Beschränkungsverbot gerade keine Aussage über das strukturelle Verhältnis zwischen nationalem und regionalem Schutz im Sinne einer Vor- bzw. Nachrangigkeit. Im Gegenteil: es zielt auf die Verwirklichung des höchsten Schutzniveaus im Interesse des Grund- und Menschenrechtsberechtigten. Schließlich beschränken sich beide Gerichtshöfe in ihren Urteilen nicht länger auf den Feststellungscharakter, sondern geben zuweilen konkrete Änderungen der nationalen Rechtsordnung auf und judizieren umfassende Entschädigungen auch nicht monetärer Art474. Auch diese Subsidiaritätselemente finden sich mithin relativiert. Sodann erweisen sich die in der Literatur angeführten Subsidiaritätsargumente „hinter“ dem Normtext ebenfalls als unbefriedigend. Gegen die These, Subsidiarität sei auf die Neuartigkeit der menschenrechtlichen Materie zurückzuführen475, ergäbe sich gewissermaßen aus der Rücksichtnahme und Gewöhnung der Staaten an diese Form der überstaatlichen Kontrolle, ist einzuwenden, dass dieses Argument zwar nicht einer historischen Richtigkeit entbehrt, jedoch nicht mehr zeitgemäß ist. Es erklärt subsidiäre Tendenzen der EMRK im Zeitpunkt ihrer 474 Beispielhaft IACHR, 12.08.2008, Heliodoro Portugal v. Panama, Series C, No. 186, Rn. 241 ff. 475 So M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 634 f.

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Entstehung, trägt aber nicht hinsichtlich der Entwicklung in der Gegenwart. Auch das Argument, dass bereits praktische Erwägungen für eine Lösung in sachlich-räumlicher Nähe zum Streitgegenstand und damit für Subsidiarität sprächen, überzeugt nicht vollends. Zuweilen lässt sich gerade in der Distanz Objektivität über einen Sachstand am ehesten gewinnen476. Abstand erlaubt einen tieferen, unvoreingenommenen Rechtsvergleich und das Auffinden anderer, möglicherweise besserer Lösungsansätze. Ein solcher regelrechter „Wettbewerb“ der Rechtsordnungen um einen „best practice“-Ansatz kann unter Ägide der Rechtsvergleichung praktizierenden Konventionsgerichtshöfe stattfinden477, erfordert aber eben Distanz, nicht subsidiaritätsinduzierte Nähe. Eine solche erstrebenswerte Ebenenkonkurrenz um den „höchsten“, das heißt freiheits- und gleichheitsmaximierenden Grundrechtsschutz wird sich aber nicht ohne gewisse Invalidationserscheinungen der nationalen (Grund)rechtsordnungen realisieren lassen478. Ferner kommt auch dem Argument, dass Subsidiarität die Vielfalt und den Pluralismus schütze, nur begrenzt Bedeutung zu. Bei aller berechtigten und bejahenswerten Vielfalt ist daran zu erinnern, dass dem regionalen Menschenrechtsschutz auch eine „Einheitsbildung“ aufgegeben ist, wie es etwa die Präambel der EMRK unmissverständlich zum Ausdruck bringt479. Schließlich trägt auch die in der Literatur vertretene Ableitungsrichtung nicht, derzufolge Subsidiarität die Ursache und Rechtswegerschöpfung, Günstigkeitsprinzip, margin of appreciation und judicial self-restraint deren Folge sei480. Wie aufgezeigt, ist Subsidiarität kein expressis verbis verankertes, positivrechtlich umgrenztes Prinzip, von dem aus sich „Folgen“ ergeben könnten. Wenn überhaupt konstitutieren die genannten Strukturmerkmale und Eigenarten erst den subsidiären Charakter des Konventionssystems. Ursache und Wirkung, Grundsatz und Folge sind demnach gerade entgegengesetzt: Der subsidiäre Charakter ist – sofern man ihn überhaupt zugesteht – Konsequenz der (positiv)rechtlichen Wesensmerkmale, die die Konventionen und ihre Anwendung steuern und dominieren. Im Ergebnis überzeugen die insbesondere von der Literatur vorgetragenen 476

Dazu m.w. N. Dritter Teil E. III. 2. Vgl. dazu Dritter Teil E. III. 2. 478 Dagegen M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 634 f.: „The Convention has been created to safeguard these domestic rights and to ensure their protection, and slowly to extend and to raise them, but certainly not to enter into competition with the domestic systems, let alone invalidate them.“ 479 Dazu weiterführend unter D. III. 4. 480 T. Altwicker/A. Peters, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 2 ff. Darüber hinaus besteht Zweifelhaftigkeit an der Unterscheidbarkeit von margin of appreciation und judicial self-restraint. Das eine scheint vielmehr die Kehrseite des anderen zu sein. Die margin of appreciation ist lediglich Instrument zur Umsetzung des judicial self-restraint. 477

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Ableitungszusammenhänge des subsidiären Charakters des regionalen Menschenrechtsschutzes nur bedingt. 2. Das asymmetrische Selbstverständnis der Konventionsorgane – Paradoxe Subsidiaritätsbekundungen in der Jurisdiktion Auch die Subsidiaritätsbekundungen der Rechtsprechungskörper in beiden Systemen sind mit Zweifeln behaftet. Sie sind Beispiel für das eingangs erwähnte Diktum Talleyrands, nachdem die Sprache mehr verschleiert als klärt (La parole a été donnée à l’homme pour déguiser sa pensée) und bestätigen die Einsicht des Pragmatismus, dass oftmals gerade jenes vollzogen wird, was zuvor in Abrede gestellt worden ist481. Ferner verdeutlichen sie, dass das Recht keineswegs kohärent und widerspruchsfrei ist, sondern ad hoc und opportunistisch erzeugt wird482. So trägt der EGMR in ständiger Rechtsprechung demonstrativ vor, dass das Konventionssystem eine „subsidiary nature“ aufweise. Er argumentiert im Einklang damit und aus dem Selbstverständnis richterlicher Zurückhaltung (judicial self-restaint) für eine margin of appreciation, den Respekt vor dem demokratischen Gesetzgeber und die eminente Bedeutung der sachlichen und räumlichen Nähe der innerstaatlichen Vollzugsorgane. Im Gegensatz dazu stellt der Gerichtshof gleichermaßen die besondere Natur der EMRK heraus und weist auf die Notwendigkeit einer autonomen Auslegung durch ihn hin. Diese habe sich nicht am Willen der vertragsschließenden Staaten, sondern am Telos des Menschenrechtsschutzes zu orientieren. Im Zusammenhang mit der Betonung von Ziel und Zweck des Vertrages legt er auch sein Verständnis der Konvention als ein living instrument dar, in Folge dessen sie evolutiv-dynamisch zu interpretieren sei. Gegensätzlicher könnten diese Ansätze kaum sein. Margin of appreciation und judicial self-restraint einerseits und die besondere autonome, dynamische und evolutive Auslegung der EMRK als living instrument andererseits lassen sich nicht nur nicht schwer miteinander vereinen, sondern stehen einander geradezu entgegen. Die Gerichtshöfe und die Kommission produzieren also in ihrer Rechtsprechung eine fundamentale Asymmetrie, die schon mit einem divergierenden Selbst- und Systemverständnis anhebt und sich in widerstreitenden Auslegungsmaximen fortsetzt483. Einerseits wird die subsidiäre Natur der Konventionssysteme betont und 481 Vgl. dazu beispielhaft S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/ M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2008, S. 117 f. 482 S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2008, S. 154. 483 Solche Asymmetrien finden sich im Recht häufig, sind gewissermaßen der „Vorgang“ des Recht, wie S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), 2008, S.146 f. treffend bekennt: „Man erzählt zwei Geschichten zur selben Zeit, eine, in der die Freiheit der Vertragspartei behauptet und geschützt wird, und eine andere, in der diese Freiheit als Möglichkeit negiert und durch fast alles, was das

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zur Zurückhaltung gemahnt, andererseits deren Bedeutung als „constitutional instrument of public order“ 484 in den Mittelpunkt gestellt. Die tatsächlich vorgenommene anspruchsvolle und bis weit in die innerstaatlichen Angelegenheiten hineinreichende Rechtskontrolle485 gibt sodann Zeugnis, dass die auf judikativen Expansionsdrang gerichteten Grundsätze de facto obsiegen. Diese mangelnde Kongruenz zwischen Deklaration und Handlung erinnert daran, dass Recht in erster Linie auf Rhetorik, auf Überzeugung basiert486. Mit den Worten S. Fish: „Was ein ,vernünftiges Konstrukt‘ ist oder nicht, erweist sich als Funktion der Überzeugungskraft des Konstrukteurs und nicht als Funktion irgendeiner formalen Tatsache, die schon deutlich ist, bevor irgendein Überredungsakt stattgefunden hat.“ 487

Die Subsidiaritätsausführungen sind Bestandteil dieses „Überredungsaktes“ und stiften einen Teil der Überzeugungskraft des EGMR. Typischerweise leitet der EGMR seine Ausführungen zum konkreten Fall mit der Betonung des Subsidiaritätsprinzips ein, um dann im Folgenden – dieser widersprechend – eine detaillierte Prüfung des Falles vorzunehmen und im vorliegenden Sachverhalt („ausnahmsweise“) eine Konventionsverletzung festzustellen488. Subsidiarität fungiert demnach primär als Etikett, dass der EGMR zur Autorisierung seines Handelns verwendet. Seine Subsidiaritätsbekundungen in unterschiedlicher Gestalt erweisen sich also als Floskeln, sind in erster Linie ein Schein erzeugendes Legitimations- bzw. Legitimitätsvehikel. Sie camouflieren mehr die Rechtsschöpfungstätigkeit des Gerichtshofes und die hohe Kontrolldichte, als dass sie in ernstzunehmende Jurisdiktionszurückhaltung mündeten. Hinter ihnen verbirgt sich vor allem das rechtspolitische Motiv, die Folgewilligkeit zu erhöhen und Kritiker zu besänftigen. Indes hat sich der EGMR der Sache nach vom Subsidiaritätspostulat zunehmend emanzipiert. Es entspricht nicht seinem Selbstverständnis. Zustimmung verdient daher auch die Analyse J. P. Müllers, nach der es sich bei der margin of appreciation um eine „vordergründige“ Zurücknahme des EGMR handelt, diese nur als „Etikett dient, um in schwierigen Grenzfragen der Tragweite von Konventionsgarantien den intuitiven oder schöpferischen Entscheid des Gericht macht, unterminiert wird. Aber um sie stimmig erscheinen zu lassen, erzählt man die beiden Geschichten so, als seien sie eine einzige, als ob die zweite Geschichte, statt die angeblich formale Basis des Vertragsrechts auszuhöhlen, nur die Kanten abschleife und die zentralen Behauptungen (die auch Behauptungen über die Stabilität des Rechts sind) intakt ließe“. 484 ECHR, 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, No. 15318/89 Rn. 75. 485 Dazu eingehend Dritter Teil, E. II. 486 Siehe dazu bereits oben Methodenfragen B. II. 487 S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), 2008, S. 125. 488 Statt vieler etwa ECHR, 13.12.2012, Case of De Souza Ribeiro v. France, No. 22689/07, Rn. 84 ff. Ebenso ECHR, 20.04.2014, Simecki v. Croatia, No. 15253/ 10, Rn. 28 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

EGMR hinter einer dogmatischen Konstruktion zu verbergen“, so dass im Ergebnis von einer „unechten Subsidiarität“ gesprochen werden kann489. Die Subsidiaritätsbekundungen folgen insofern dem Grundsatz reculer pour mieux sauter490. Ein ähnlicher Querstand, eine solche Evidenz an Gegensätzen, existiert in der AMRK nicht. Direkte Bezugnahmen auf die Subsidiarität kommen in der Rechtsprechung des interamerikanischen Gerichtshofes ohnehin nicht vor. Gleichwohl bedient auch dieser sich etwa der Rechtsfigur der margin of appreciation, in der überwiegend ein Subsidiaritätselement erkannt wird491. Aber auch diesem Instrument kommt in der AMRK nicht der gleiche Stellenwert zu wie in der EMRK. Im Gegenteil: Es unterliegt massiven Einschränkungen. So wird zur Beschränkung der margin of appreciation inbesondere das pro homine-Prinzip aus Art. 29 AMRK angeführt, dass eine Konventionsinterpretation zum größtmöglichen Individualschutz verlangt, sowie Art. 33 AMRK, der die Supervisionsverantwortung unmissverständlich den Konventionsorganen zuschreibt492. Selbst der Gerichtshof ist dem Instrument der margin of appreciation gegenüber – trotz grundsätzlicher Anerkennung und Anwendung – zuweilen skeptisch eingestellt493. Deutlichsten Ausdruck findet dies im von ihm angewandten Prinzip des effet util 494. Dieses zielt auf die Ausweitung seiner Befugnisse, nicht auf deren subsidiaritätsindu489 So J. P. Müller, Menschenrechte und Subsidiarität, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates 2001, S. 41 f. 490 Derartige Hypokrisie durch die Judikative ist weit verbreitet. Bereits H. Lauterpacht diagnostizierte in Bezug auf den Ständigen Internationalen Gerichtshof im berühmten Danzig-Gutachten von 1928: „It began by paying lip service to the established doctrine; it receded pour mieux sauter.“, ders., The Development of International Law by the International Court, 2. Aufl. 1958, S. 174. 491 Insgesamt bestehen trotz der Betonung der Literatur, dass die margin of appreciation geradezu der Inbegriff des Subsidiaritätsprinzips sei, vgl. etwa P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law 97 (2003), S. 40 und insbesondere S. 69 ff., konkret Zweifel an dieser Position. Die margin of appreciation steht zwar im Einklang mit dem der Subsidiarität inhärenten Absorptionsverbot. Gleichwohl zielt sie auf Teilung und Trennung und soll regionalen Menschenrechtsschutz begrenzen, die Einflussnahme des Gerichtshofes verringern und verkürzen. Ein materielles Subsidiaritätsverständnis im Sinne von O. v. Nell-Breunings Diktum „soviel Freiheit wie möglich, soviel Staat wie nötig“ müsste aber den Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum von Staatlichkeit im Verhältnis zu seinen Bürgern begrenzen und die suprastaatliche Supervision favorisieren. 492 H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Auflage 2008, S. 59 f. 493 So judiziert er bspw. in Bezug auf die Nationalität als Inbegriff staatlicher Souveränität: „although it has been traditionally accepted that the determination and regulation of nationality are the competence of each State, the evolution in this matter shows that international law imposes certain limits on a State’s discretionality and that, in the regulation of nationality, it is not only the competence of States, but also the requirements of the integral protection of human rights that intervene.“, IACHR, 06.02.2001, Ivcher Bronstein, Serie C, Nr. 74, Rn. 88. 494 Vgl. H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Auflage 2008, S. 84.

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zierte Beschränkung. Im Ergebnis ist dem IAGH deshalb auch keine Asymmetrie zu attestieren – eine „unechte Subsidiarität“ (J. P. Müller) wie im europäischen Pendant besteht in der interamerikanischen Rechtsprechung nicht. 3. Rechtsvergleichender Exkurs: Das Subsidiaritätsprinzip im Recht der Europäischen Union Von tragender Bedeutung ist das Subsidiaritätsprinzip innerhalb der Europäischen Union. Ein Vergleich mit dem Prinzip im Recht der Europäischen Union verspricht dabei aus zwei gegenläufigen Gründen instruktiv zu sein495. Zum einen zeigt er, dass das Prinzip im Unionsrecht einen sinnvollen Anwendungsgegenstand gefunden hat, der im regionalen Menschenrechtsschutz fehlt und stellt die Geeignetheit des Subsidiaritätsprinzip zur Beschreibung und Steuerung des regionalen Menschenrechtsschutz deshalb in Frage. Zum anderen vermag die Beschäftigung mit dem unionsrechtlichen Subsidiaritätsprinzip auch im Hinblick auf eine künftige positivrechtliche Verankerung im Konventionsrecht – wie für die EMRK derzeit zur Ratifikation ausliegend – anleitend zu sein, indem sie über die effektive Ausgestaltungsmöglichkeiten des Prinzips und dessen Leistungsfähigkeit Auskunft gibt. a) Subsidiarität als Kompetenzregulativ Wenngleich einige Elemente schon früh vom Subsidiaritätsprinzip im Europarecht Zeugnis geben496, hat es – nicht zuletzt aufgrund von deutscher497 und britischer Einflussnahme – erst mit dem Vertrag von Maastricht von 1992/1993 positivrechtlichen Niederschlag im Primärrecht gefunden498. Im Unterschied zu den 495 So grundsätzlich auch das Interlaken Follow-Up des Jurisconsult des EGMR vom 08.07.2010, S. 2 zum Subsidiaritätsprinzip. 496 So etwa die Grundstruktur, nach der Vollzug und Umsetzung des EG-Rechts durch die Mitgliedstaaten erfolgt oder die Richtlinie als das entscheidende Rechtssetzungsinstrument, die nur das Ziel verbindlich vorgibt, den Staaten aber Gestaltungsspielräume belässt. Auch zahlreiche Berichte, Entschließungen und Stellungnahmen von Kommission und Parlament geben Zeugnis vom frühzeitigen Diskurs über das Subsidiaritätsprinzip, vgl. F. Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 147 ff. 497 Hier sind insbesondere die Bundesländer federführend gewesen, wie bspw. die „10 Münchner Thesen zur Europapolitik“ vom 27. Oktober 1988 dokumentieren. Ebenso postuliert die Konferenz „Europa der Regionen“ vom Oktober 1989 in München: „Subsidiarität und Föderalismus müssen die Architekturprinzipien Europas sein.“ Vgl. F.-L. Knemeyer, Subsidiarität – Föderalismus, Dezentralisation – Initiativen zu einem „Europa der Regionen“, DVBl. 1990, S. 453 f.; M. Heintzen, Subsidiarität und Europäische Gemeinschaft, JZ 1991, S. 317 ff. 498 Eine erste „Textstufe“ (P. Häberle) lässt sich aber auch schon mit der Vertragsreform durch die Einheitliche Europäische Akte erkennen. Art. 130 IV EWGV sah auf dem Gebiet des Umweltschutzes eine Kompetenz der EWG dann vor, wenn die Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können, vgl. http://www.europarl.eu ropa.eu/brussels/website/media/Basis/Vertragsartikel/Pdf/Art_130r_t_EEA.pdf. Zuletzt

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

regionalen Menschenrechtsschutzsystemen ist das Subsidiaritätsprinzip im Recht der EU in erster Linie Kompetenzregulativ und steht im engen Zusammenhang mit den Zuständigkeitsregeln in Art. 2 ff. AEUV. Es stützt das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung aus Art. 5 Abs. 1 EUV und bildet Maßstab und Korrekturmöglichkeit für die Ausübung der geteilten Zuständigkeit zwischen EU und Mitgliedstaaten. Subsidiarität teilt hier Kompetenzen auf, fungiert also maßgeblich als Teilungs- und Abgrenzungs- bzw. Organisationsprinzip499. Konkret erfolgt die Regulierung des bipolaren Zuständigkeitsverhältnisses von Mitgliedstaaten und EU im Rahmen geteilter Zuständigkeiten (Art. 2 Abs. 2, Art. 4 AEUV) durch Kompetenzallokation nach den Kriterien der Erforderlichkeit und Effizienz. Vorbedingung für die Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips ist, dass keine ausschließliche Zuständigkeit der Union begründet ist, Art. 3 AEUV. Sodann statuiert Art. 5 Abs. 3 EUV eine zweistufige, positive und negative Prüfung500: Zunächst darf – als sog. Negativkriterium – das Ziel nicht „ausreichend“ durch das alleinige Handeln der Mitgliedstaaten verwirklicht werden können501. Sodann muss es – nach dem Positivkriterium – kumulativ und kauabgerufen am 09.03.2013. De lege lata findet sich im EUV ein Bekenntnis zum Subsidiaritätsprinzip bereits ostentativ im 12. Erwägungsgrund der Präambel des EUV, der ihm die Absicherung der Bürgernähe im weiteren Integrationsprozess aufgibt, sowie in Art. 1 II EUV. Über diese Normierung als übergreifendem politischem Ordnungs- und Entwicklungsgrundsatz hinaus wird es in Art. 5 III EUV präzisiert, erfährt Absicherung und justiziable Ausdifferenzierung in Art. 12 b) EUV und Protokoll Nr. 2 über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zum AEUV. Schließlich findet es sich auch in der Präambel und Art. 51 I der Europäischen Grundrechtecharta und ist somit erstmalig in einen direkten Zusammenhang mit den Menschenrechten gesetzt worden. Eine besondere Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips findet sich schließlich im Bereich der Bildungs- und Kulturpolitik, Art. 165 ff. AEUV, so A. Haratsch/C. Koenig/M. Pechstein, Europarecht, 9. Auflage 2014, Rn. 1321. Da hier Traditionen und Vielfalt von besonderer Bedeutung sind, darf die Union in diesem Bereich nur unterstützend, fördernd und ergänzend tätig werden, eine Harmonisierung ist ihr hingegen untersagt, vgl. Art. 165 IV, 166 IV, 167 V AEUV. Ferner finden sich Subsidiaritätsausprägungen auch im Titel „Transeuropäische Netze“ (Art. 170 AEUV), „Industrie“ (Art. 173 AEUV) und bei ergänzenden Maßnahmen im Bereich Forschung und Entwicklung (Art. 180 AEUV). 499 Vgl. etwa C. Stewig, Das Subsidiaritätsprinzip als Kompetenzverteilungsregel im Europäischen Recht, DVBl. 1992, S. 1516 ff. Für diesen Funktionsschwerpunkt spricht auch, dass „statt des Subsidiaritätsprinzips besser „ein klarer und restriktiver Kompetenzkatalog“ im Zuge einer späteren Vertragsänderung geschaffen werden könnte. So P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 205 mit Verweis auf und Zitat von G. Konow, Zum Subsidiaritätsprinzip des Vertrags von Maastricht, DÖV 1993, S. 411 f. 500 Grundlegend dazu bereits bezogen auf die vergleichbare Vorgängerregelung, C. Calliess, Subsidiaritäts- und Solidaritätsprinzip in der EU, 1996, S. 92 ff. 501 Während die Kommission das Negativkriterium als vergleichenden Effizienztest deutet und der EuGH aus dem Vorliegen des Positivkriteriums auf die Einhaltung des Negativkriteriums schließt, vgl. EuGH Rs. C-58/08, EWS 2008, 256, Rn. 78 (Vodafone u. a.), s. a. EuGH Rs. C-491/01, Slg. 2002, I-11453, Rn. 180 (British American Tobacco); Rs. C-233/94, Slg. 1997, I-02405, 02405 Rn. 26./Deutschland/EP u. Rat), deu-

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sal502 bezogen auf Umfang oder Wirkung „besser“ durch die Gemeinschaft realisiert werden können. Das Positivkriterium beinhaltet ausweislich Art. 5 Satz 4 des Protokolls Nr. 2 qualitative und quantitative Aspekte. Die Kommission verlangt einen „Mehrwert“ durch Unionshandeln, die Literatur interpretiert es als einen Abwägungsvorgang und (Effizienz)vergleich zwischen unionalem Integrationsgewinn und mitgliedstaatlichem Kompetenzverlust503. Subsidiarität erhält dadurch also einen komparativen Charakter. Mithin ist nicht eine absolute Unfähigkeit, die Aufgabe zu bewältigen bzw. ein Ziel zu erreichen, sondern komparativ eine bessere Verwirklichung zur Wahrung der Subsidiarität ausreichend. Das Subsidiaritätsprinzip auf europäischer Ebene in Art. 5 Abs. 3 EUV ist strukturell gekoppelt an ein Mitwirkungs- und Überwachungsmandat der nationalen Parlamente, vgl. Art. 12 b) EUV und Protokoll Nr. 2 zum AEUV über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit. Letzteres statuiert mit Konsultations- und Zuleitungspflichten (Art. 2 ff.) sowie einem Einrederecht (Art. 6) sowohl ex-ante Kontrollmöglichkeiten als auch ein ex-post Kontroll- und Korrekturinstrument in Gestalt einer Klagemöglichkeit vor dem EuGH (Art. 8 ) in Form der Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV504. Mit diesen Vorschriften auf der europarechtlichen Ebene korrespondieren nationale Vorschriften und Rügemechanismen, wie sie etwa in der Neufassung des Art. 23 Abs. 1a GG mit Vorlagemöglichkeit beim EuGH und dem Integrationsverantwortungsgesetz normiert worden sind. Überstaatliches Integrationsziel und staatliche Struktursicherung werden also verbunden. b) Subsidiarität als Begrenzungsprinzip der Kompetenzdrift Bereits die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in den Maastrichter Vertrag ist als eine Reaktion auf die Kompetenzdrift von den Mitgliedstaaten hin zur Europäischen Gemeinschaft, der zunehmenden Grenzenlosigkeit deren Handelns und die damit korrelierende Erosion des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung

tet die Literatur dieses teilweise als „Erforderlichkeit“, teils als Überforderung der Mitgliedstaaten gemessen an ihrem objektivem Leistungspotential zur Erreichung von Kernzielen der Union. Dazu insgesamt C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUVKommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 34 ff. 502 So R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 5 Rn. 25. Ebenso C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 31. 503 C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 40 ff. 504 Die Konkretisierungen des Protokolls Nr. 2 zum Vertrag von Lissabon sind gegenüber ihrer Vorläuferformulierung in Protokoll Nr. 30 zum Amsterdamer Vertrag auf den prozeduralen Aspekt beschränkt und als „entmaterialisiert“ kritisiert worden, vgl. m.w. N. C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 26.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

zu verstehen505. Sie wird primär zur Begrenzung der EU-Kompetenzen verstanden, zielt daher auf die Ausübung bestehender Kompetenzen ab, nicht deren Verteilung506. Sie regelt das „ob“ eines Tätigwerdens der Union, kann und soll die Ausübung einer Kompetenz ggf. verhindern507. Somit kommt ihr maßgeblich eine „Schutz- und Garantiefunktion“ gegenüber Ländern, Regionen und autonomen Gemeinschaften zu508. Die Bewertung der Literatur, bei dem Subsidiaritätsprinzip handele es sich um ein Begrenzungsprinzip, verdient deshalb weitestgehend Zustimmung509. Aufgrund dieser Beschränkungsfunktion – nicht nur der Art, sondern auch der Sache nach – ist konstatiert worden, die Einführung des Subsidiaritätsprinzips habe den Maastricht-Vertrag „gerettet“ 510. Subsidiarität ist auf europäischer Ebene also aus und als Negation entstanden. Sie soll den vertikalen Kompetenzkonflikt zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft nicht nur ausbalancieren, sondern europäischer Zentralisierung entgegenwirken511 bzw. diese lediglich unter dem Primat der Effizienz erlauben – bei gleichzeitiger Rücksichtnahme auf historisch gewachsene Traditionen und Kulturphänomene. Subsidiarität gilt damit als ein zentrales, positivrechtlich normiertes Strukturprinzip Europas, das die weitere Ausentwicklung des Mehrebenensystems prägt und reguliert. Zwar wird durch dieses keine „harte Ordnung“ etabliert, doch ist durch die konkrete Rügeund Klagemöglichkeit nationaler Organe vor dem EuGH eine instrumentelle Absicherung eröffnet, das Subsidiaritätsprinzip mithin prozeduralisiert worden.

505 So U. Haltern, Europarecht – Dogmatik im Kontext, 2. Aufl. 2007, S. 47 Rn. 79, der als Beleg für die „Kompetenzdrift“ auf die Grundrechtskreation des EuGH, die nicht im Vertrag vorgesehene Klagebefugnis des Europäischen Parlamentes, die implied-powers Doktrin und den intensiven Gebrauch von der Abrundungskompetenz aus Art. 306 EGV (a. F.) verweist. 506 C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 21 m.w. N. 507 C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 24 und 36. 508 P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 180 mit Verweis auf den „Subsidiaritätsbogen“ zur Einführung des Maastrichter Vertrages. 509 Sie verkennt lediglich, dass sich in einem gewissen Punkt Kompetenzausübung und Kompetenzverteilung schneiden. Da durch die Subsidiaritätsklage als ultima ratio nicht die Modalität, sondern ein Ausübungsverzicht erzwungen werden kann, mithin nicht Art und Weise, sondern die Tätigkeit als solche angezweifelt wird, kommt es zu einer Überlagerung. Ein Totalverzicht der Kompetenzausübung gleicht einer geänderten Kompetenzverteilung. Demnach ist das Subsidiaritätsprinzip nicht auf die Kompetenzausübung beschränkt, sondern umfasst auch distributive bzw. allokative Aspekte. 510 D. Z. Cass, The Word that saves Maastricht? The Principle of Subsidiarity and the Division of Powers Within the European Community, Common Market Law Review 29 (1992), S. 1107 ff. 511 Vgl. U. Haltern, Europarecht – Dogmatik im Kontext, 2. Aufl. 2007, S. 117 Rn. 229.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Wenngleich die Wirksamkeit des Subsidiaritätsprinzips maßgeblich davon abhängt, ob von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht wird und ob der Gerichtshof gewillt und in der Lage ist, diesem Konturen und konkrete Wirkungsmöglichkeiten zu geben512, ist der Subsidiaritätsgrundsatz im Europarecht jedenfalls „ernst zu nehmen“ 513. c) Ergebnis: Interventions- und Integrationscharakter als Differenz Im regionalen Menschenrechtsschutz findet kein mit demjenigen der EU vergleichbarer Integrationsprozess statt. Im Unterschied zur EU werden keine Kompetenzen abgegeben, verlagert, entzogen oder verdoppelt. Regionaler Menschenrechtsschutz schafft lediglich – funktional auf die Menschenrechte begrenzt – einen weiteren Korrekturmaßstab und eine Korrekturmöglichkeit auf anderer Ebene. Während durch die EU tatsächlich Souveränität neu distribuiert wird, bewirkt regionaler Menschenrechtsschutz lediglich eine gewisse Relativierung, eine punktuelle Erosion derselben514. Zwar entstehen auch im regionalen Menschenrechtsschutz zuweilen vertikale Konflikte und Spannungen, allerdings mit weitaus geringerer Intensität. Subsidiarität als Prinzip zur Auflösung dieser „vertical tensions“ ist daher anwendungsarm. Kompetenzverteilung oder Kompetenzdrift stellt – auch eingedenk aller Dynamisierung durch teleologisch-evolutive Auslegung – keine Kernproblematik des regionalen Menschenrechtsschutzes dar. Die Organisationsfunktion der Subsidiarität und die ihr im europäischen Recht immanente Trennungsfunktion liefern somit keine adäquate Beschreibung regionaler menschenrechtlicher Supervision. Diese stellt lediglich Menschenrechtsverletzungen fest, trägt im Vergleich zum Unionsrecht den Charakter eines „Pointilimus“. Regionaler Menschenrechtsschutz trägt demnach primär herrschaftskorrigierenden Interventionscharakter, nicht herrschaftsbegründenden oder herrschaftsformenden Integrationscharakter515. Integration und Synchronisation unterscheiden 512 Das Subsidiaritätsprinzip in seiner Ausprägung als Positivkriterium ist lediglich in EuGH, Rs. C-491/01, British American Tobacco, Slg. 2002, I-11 606 vom EuGH bemüht worden. So kritisiert etwa R. Streinz, der EuGH habe das Kriterium lediglich „angesprochen“, nicht „geprüft“, R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 2. Aufl. 2012, Art. 5 Rn. 40. Andererseits wird in der Kontrolldichte des EuGH bereits die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips erkannt, wonach diese am höchsten bei Gemeinschafts-/Unionshandeln ist, sich bei Umsetzung von Richtlinien durch die Mitgliedsstaaten bereits abschwächt und abermals verringert, wenn nationales Recht auf die Vereinbarkeit mit Europarecht überprüft wird; die positive Dimension der Subsidiarität wird verwirklicht, wenn der EuGH den Mitgliedstaaten Maßstäbe und Kriterien an die Hand gibt, P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law 97 (2003), S. 55 f. 513 Vgl. bereits zum Maastrichtmodell G. A. Bermann, Taking Subsidiarity seriously: Federalism in the European Community and the United States, Columbia Law Review 94 (1994), S. 331 ff. 514 Dazu bereits Dritter Teil B. 515 Dazu Dritter Teil B. IV. 2. c).

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

sich aber fundamental von Intervention und Sanktion. Zu harmonisieren ist etwas grundlegend anderes, als zu korrigieren. Schließlich bestehen Konkretisierungs- und Operationalisierungsdifferenzen. Während Subsidiarität in der EU ein justiziables positivrechtliches Rechtsinstrument ist, „Basiselement und Ferment“ 516 der EU zu sein vermag, wirkt sie im überstaatlichen Menschenrechtsschutz lediglich als (noch ungeschriebener) Topos. Direktionskraft und determinierende Wirkungen des Subsidiaritätsprinzips sind im regionalen Menschenrechtsschutz mithin gering. Subsidiarität erzeugt – anders als etwa im Unionsrecht – keinen Rechtfertigungsdruck oder verlangt qualifizierte Begründungspflichten517. Sie ist bislang auch nicht durch außenstehende Institutionen etabliert worden, sondern maßgeblich eine Eigenkreation der Konventionsorgane, über die sie relativ frei disponieren können. Auch nach einer möglichen Positivierung der Subsidiarität im Zuge des Reformprozesses der EMRK durch das 15. Zusatzprotokoll änderte sich dies nicht, erlangte sie doch nur als mahnender Vorspruch in der Präambel Wirksamkeit und würde nicht zu einem konkreten Rügemechanismus ausgeformt. Eine Analogie zum Subsidiaritätsprinzip der EU kann im regionalen Menschenrechtsschutz allenfalls darin erkannt werden, dass das Subsidiaritätsprinzip auch hier auf Legitimation durch Limitation zielt, zuvorderst ein eindimensionales518, negatorisches Begrenzungsprinzip sein soll. 4. Begrenzte Anwendbarkeit des Subsidiaritätsprinzips aufgrund von Eigenart, Auftrag und Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes a) Eigenart und Auftrag Bereits die Gattung der Konventionen als internationale Vertragswerke, die die Staaten autonom ratifiziert haben, ihre Kündbarkeit, das souveränitätsschonende System der Zusatzprotokolle und die Möglichkeit, Vorbehalte zu erklären, lassen kaum Raum für Subsidiarität. Das darin liegende Konsenselement und die insbesondere für das interamerikanische System gesondert abzugebenden Unterwerfungserklärungen zur Anerkennung der Jurisdiktionsgewalt des Gerichtshofes vertragen sich nicht recht mit dem Subsidiaritätsgedanken, dessen Anwendung eher in schwerlich reversiblen, sich stetig und selbständig ausweitenden Integra516 So P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 173. 517 Vgl. dazu im Europarecht R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 2. Auflage 2012, Art. 5 EUV Rn. 31. 518 C. Calliess/M. Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EUV Rn. 22. C. Calliess steht dieser Vereinfachung kritisch gegenüber und stellt es in einen engen Zusammenhang mit dem Solidaritätsprinzip (Art. 222 AEUV), versteht sie als „gegenseitige Korrektive“.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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tionsordnungen erforderlich ist. Im Gegensatz dazu ist das Verhältnis zwischen nationalem Recht und Konventionsrecht bereits ausreichend bestimmt, indem die Konventionen eine von vornherein sachlich-begrenzte, funktionale Vertragsgemeinschaft zur kollektiven Überwachung des Menschenrechtsschutzes etablieren. Das Subsidiaritätsprinzip erscheint insofern unnötig. Wie der Vergleich mit dem Subsidiaritätsprinzip des Unionsrechts verdeutlicht hat, finden auch die Begrenzungs- und Beschränkungsfunktion des Subsidiaritätsprinzips im regionalen Menschenrechtsschutz keine Anwendung. Schließlich ist regionaler Menschenrechtsschutz auf Umsetzung angewiesen und etabliert keine andere begrenzungsbedürftige Gewalt. Ebenso wie es für eine etwaige Konstitutionalisierung keine zu verfassende Hoheitsgewalt gibt, findet auch Subsidiarität mangels Begründung oder vertikaler Teilung von Hoheitsgewalt keinen Anwendungsgegenstand. Das institutionelle Gefüge ist für diese Funktion der Subsidiarität ungeeignet. Ferner bewirkt der regionale Menschenrechtsschutz mit seinem interventionistischen Charakter auch keine „Auszehrung“, keine Gefährdung der Eigenständigkeit der Staaten, der Subsidiarität als gegen Absorption gerichtetes Prinzip entgegenwirken müsste. Vielmehr droht die der Subsidiarität historisch anhaftende Begrenzungswirkung durch die Transposition in den überstaatlichen Kontext nachgerade in ihr Gegenteil verkehrt zu werden: Das subjektzentrierte, Eigeninitiative wahrende und deshalb anti-etatistische Subsidiaritätsprinzip wird nämlich vielfach zu einem souveräne Staatlichkeit und domain reservé vor überstaatlichen Kontrollinstitutionen schützenden, Integration und Regionalisierung mindestens begrenzenden Instrument519. Ähnlich wie Souveränität und demokratische Selbstbestimmung wird Subsidiarität vereinnahmt, um die Öffnung von Staatlichkeit gegenüber internationalen Menschenrechtsregimen zu hindern oder zu beschränken. So birgt sie die Gefahr, trotz ihres paradoxen janusköpfigen Gepräges, einmütig in ihrer negativen Dimension gegen überstaatliche Integration und Regionalisierung bemüht und zum Vehikel staatlicher Impermeabilität zu werden520. 519 Vor einer solchen Einseitigkeit des Subisidiaritätsprinzips warnt bereits O. v. NellBreuning. Als „echtes und tragendes sozialphilosophisches Prinzip ist sein Gehalt positiv, erschöpft sich nicht in der Negation, im unfruchtbaren „Anti”, zitiert nach F. Ronge, Legitimität durch Subsidiarität, 1998, S. 159. 520 Für ein anderes Verständnis der Subsidiarität, das sich nicht in der rein negatorischen Dimension erschöpft, streitet – soweit ersichtlich – allein Richter am EGMR Pinto De Albuquerque in seinem Sondervotum: „However, if the States Parties abide by the standards set in the Court’s case-law, even when they have not been involved in the particular disputes in respect of which the case-law was established, they not only avoid future findings of a violation, but also anticipate the implementation of the rights and freedoms foreseen in the Convention. This proactive approach by the States Parties is also required by a rigorous application of the principle of subsidiarity. The full implementation of the Convention at national level requires States Parties to take all measures necessary to redress, and preferably to prevent, violations. Failure to comply with the Court’s case-law, even by States not party to the disputes in respect of which this

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Weiterhin fehlt es aber aufgrund der Eigenart der Konventionssysteme nicht nur an einer zu beschränkenden, sondern auch an einer näher durch Kompetenzallokation zu organisierenden Hoheitsgewalt. Angesichts der eindeutigen Strukturierung und Rationalisierung der Zuständigkeiten ist diese weder erforderlich noch möglich. Auch das der Subsidiarität inhärente Unfähigkeits- bzw. Erforderlichkeitskriterium, nach dem die Aufgabenwahrnehmung der nächst größeren Einheit nur erfolgen darf, wenn und soweit die Ziele nicht ausreichend auf einzelstaatlicher Ebene verwirklicht werden können, ist im Hinblick auf den regionalen Menschenrechtsschutz regelmäßig nicht erfüllt. Eine Vielzahl der Konventionsstaaten ist grundsätzlich durchaus in der Lage, Grundrechtsschutz zu gewährleisten und tut dieses auch. Dieser Grundrechtsstandard entspricht lediglich einem anderen Maßstab, dem nationalen, nicht dem konventionsrechtlichen. Regionaler Menschenrechtsschutz greift aber nicht nur da ein, wo nationaler Grundrechtsschutz versagt, sondern zusätzlich zu diesem, „neben“ oder „über“ ihm und unter einem anderen, nämlich außerstaatlich-regionalen Menschenrechtsverständnis. Damit offenbart sich, dass es nicht stets die Unfähigkeit oder Unzulänglichkeit auf nationaler Ebene ist, die den regionalen Menschenrechtsschutz auslöst, sondern vielmehr die Intention, öffentliche Gewalt einer weiteren Grund- und Menschenrechtsbindung mit anderem, eigenen Maßstab zu unterziehen. Sodann kann auch das zweite, komparative Kriterium der Effizienz für den regionalen Menschenrechtsschutz kaum Brauchbarkeit beanspruchen. Schon die Idee des regionalen Menschenrechtsschutzes ist nicht an Effizienzgesichtspunkten orientiert, sondern durch ein regionales, unverzichtbares und unteilbares Erbe an Grund- und Menschenrechten, die zentral und kollektiv überwacht werden sollen, gekennzeichnet521. Schließlich sind die Konventionsorgane auch auf die Folgewilligkeit der Staaten und die Umsetzung ihrer Feststellungsurteile vollends angewiesen, wären insofern weder als „effektiv“ noch als „effizient“ zu qualifizieren. Damit liegt auch der Effizienzgedanke des Subsidiaritätsprinzips dem regionalen Menschenrechtsschutz erkennbar nicht zugrunde. Schließlich versucht Subsidiarität den Konflikt unterschiedlicher Ebenen durch Hierarchisierung aufzulösen, in höhere und niedere Ebenen aufzuteilen522. Dies has been established, would run counter to the aforementioned obligation to act effectively, promptly and in a preventative way in order to secure to everyone the rights and freedoms of the Convention. These developments have culminated in the recognition of the Convention as a „constitutional instrument of European public order“ and therefore of the Court as „Europe’s Constitutional Court“, ECHR, 07.02.2013, Case of Fabris v. France, No. 16574/08 Sep. Op. Pinto de Albuquerque. 521 Vgl. J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechte, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates 2001, S. 38. 522 Vgl. P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 185.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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wird der Ebenen durchdringenden, „vertikalen“ Eigenart der Menschenrechte nicht in ausreichendem Maße gerecht. Es korrespondiert nicht mit einem menschenrechtszentrierten Verständnis, das Bezugs- und Mittelpunkt aller weiteren staatlichen und überstaatlichen Ebenen ist. Angesichts der überragenden Bedeutung des Individualrechtsschutzes ist die Funktion des regionalen Menschenrechtsschutzes keinesfalls „von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führ(t)“ 523. Die eminente Bedeutung der Menschenrechte lassen den regionalen Menschenrechtsschutz grundsätzlich unvereinbar mit Subsidiarität im Sinne einer Nachrangigkeit und einer Reservebzw. Auffangfunktion erscheinen. Es entspricht nicht seinem Telos auf einen Ersatz, eine Aushilfe oder eine ultima ratio beschränkt zu sein. Im Gegenteil: Er zielt auf die Entwicklung und Einhaltung eines menschenrechtlichen acquis conventionnel. Diese Entwicklungsrichtung wird insbesondere aus der Präambel des Europarates evident. Sie gibt das Ziel auf 524 „eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herzustellen“, nicht nur die „Wahrung“, sondern auch die „Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ zu unternehmen und schließlich aufgrund der „gemeinsamen Auffassung und Achtung der Menschenrechte“ eine „kollektive Garantie“ zu schaffen. Eine derartige „engere Verbindung“ und „kollektive Garantie“ wird jedoch nicht ohne eine gewisse Zentralisierung realisierbar sein. Subsidiarität hingegen ist ein dezentralisierendes Prinzip525 und stünde dieser Entwicklung entgegen. Subsidiarität bedeutet ein „anstatt“, ein „entweder oder“, ein „stattdessen“ ein „nach“. Regionaler Menschenrechtsschutz aber zielt auf ein „neben“, „auch“, „zugleich“, „beides“, ein „Ergänzendes“ 526. Subsidiarität korrespondiert deshalb – jedenfalls in ihrer negatorischen Dimension als Absorptionsverbot und Teilungsprinzip – nicht mit diesem dem regionalen Menschenrechtsschutz eingeschriebenen Telos. Indessen besteht durchaus eine Kongruenz zwischen dem Verständnis der Subsidiarität als ein ethisches Prinzip, das auf die Entfaltung des Einzelnen zielt, 523 Aus Quadragesimo anno, zitiert nach J. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001, S. 335. 524 Grundsätzlich zu Funktion und Wesen von Präambeln, P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J. Listl/H. Schambeck (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und Bewährung. Festschrift für Johannes Broermann, 1982, S. 211 ff., fortentwickelt in ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 920 ff.; in Bezug auf Europa und die Grundzüge einer „europaverfassungsrechtlichen Präambeltheorie“ entwerfend, ders., Europäische Verfassungslehre, 7. Auflage 2011, S. 277 ff. 525 A. L. Paulus, Subsidiarity, Fragmentation and Democracy: Towards the Demise of General International Law, in: T. Broude/Y. Shany (Hrsg.), The Shifting Allocation of Authority in International Law, 2008, S. 196. 526 Dieser Status der amerikanischen und europäischen Konvention offenbart sich darin, dass sie – unabhängig von dem ihnen de jure zugewiesenen konkreten Rang – direkt anwendbar und berufungsfähig für die Bürger sind. Das zeigt, dass sie nicht subsidiär sind, sondern ebenbürtig, gleichrangig, neben, nicht unter oder hinter dem nationalen (einfachen) Recht zu lokalisieren sind, diesem nicht nachstehen.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

und dem regionalen Menschenrechtsschutz. Dieser ermächtigt das Individuum qua Individualbeschwerde, drängt den Staat zurück durch außerstaatliche Rügefähigkeit staatlicher Akte, schafft Entwicklungsmöglichkeiten des Einzelnen. Damit erscheint regionaler Menschenrechtsschutz zwar als Inbegriff einer gegen Obrigkeit und auf die Freiheit des Subjekts gerichteten Subsidiarität, unterliegt dieser aber gerade nicht in der viel gebräuchlichen Lesart als negatorisch-begrenzendes Strukturprinzip. Dass regionaler Menschenrechtsschutz in seinem Kern diese positive Subsidiärität aufweist, offenbart zudem die Vergegenwärtigung der prägnanten Subsidiaritätsdefinition O. v. Nell-Breunings „Soviel Freiheit wie möglich, so wenig Staat wie nötig“. Wenngleich O. v. Nell-Breuning freilich eine andere Wirklichkeit vor Augen hatte, lässt sich sein Subsidiaritätsverständnis dergestalt deuten, dass es für einen extensiven regionalen Menschenrechtsschutz streitet, indem es die strikte, auch außerstaatliche Kontrolle des Staates im Freiheitsinteresse des Einzelnen postuliert. Status negativus der Menschenrechte und das Kernanliegen der Subsidiarität stimmen darin überein, Staatlichkeit zu instrumentalisieren. Unter Beachtung der aus dem Subsidiaritätsprinzip folgenden Reihung, an deren erster Stelle der Mensch steht, die dann um Familie, Gemeinschaft, Staat und Weltgesellschaft ergänzt wird527, tritt der Individualrechte verbürgende Menschenrechtsschutz an erster Stelle ein. Menschenrechte als Fundament von Selbstbestimmung und Selbstentfaltung bilden die Grundlage für Subsidiarität. Der außerstaatliche Überwachungs- und Rügemechanismus des regionalen Menschenrechtsschutzes steht gerade für das Individuum und seine Rechte ein. Seine Freiheit ist durch die regionalen Konventionsorgane in kritischer Distanz zur Staatlichkeit zusätzlich geschützt und aufgehoben528. Die Orientierung auf das Subjekt hin sichert das dienende Staatsverständnis zum Schutz des Individuums ab. Die menschenrechtsschützenden Konventionsorgane sind in diesem Sinne „bürgernäher“ als viele Erscheinungsformen des Staates, dessen öffentliche Gewalt zugleich das Subjekt gefährdet. Denn die Konventionsorgane machen sich ausschließlich um das Subjekt verdient. Insofern korrespondiert regionaler Menschenrechtsschutz mit dem materiellen Kern des positiven, subjektzentrierten Subsidiaritätsprinzips. Indes entspricht dies nicht jener negativen Lesart von Subsidiarität, die weit überwiegend vorgenommen wird, sondern steht dieser Deutung diametral entgegen. b) Entwicklung Nicht nur Eigenart und Auftrag des regionalen Menschenrechtsschutzes begründen Zweifel am subsidiären Charakter, sondern auch dessen genommene 527 Vgl. P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 191. 528 Dazu vertiefend Dritter Teil E. III 2. In diese Richtung auch J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechte, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates 2001, S. 38.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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Entwicklung. Der oben bereits skizzierte Prozess, der vielfach als „Konstitutionalisierung“ bezeichnet worden ist, konfligiert ebenfalls mit einem subsidiären Charakter der Konventionssysteme. „Konstitutionalisierung“ steht – wie dargestellt – für Vorrangigkeit, für paramount law und einen umfassenden Regelungsanspruch. Die Konstitutionalisierung des Völkerrechts umschreibt einen Prozess der Hierachisierung und Objektivierung. Diese Merkmale lassen sich nicht ohne weiteres vereinbaren mit Subsidiarität verstanden als Nachgeordnetheit oder Reservefunktion und deren etymologischer Bedeutung im Sinne einer „Hilfe“ oder eines „Beistandes“. Demnach gilt entweder die „Konstitutionalisierungsthese“ oder die des subsidiären Charakters der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme. Sowohl der EGMR als auch weite Teile des Schrifttums zum europäischen System begründen also mit der Anerkennung beider einen Widerspruch. Selbst bei Ablehnung des Konstitutionalisierungsbegriffes und dessen normativen Implikationen hinsichtlich des regionalen Menschenrechtsschutzes bleibt das damit bezeichnete Phänomen der unzweifelhaft zunehmenden Kontrolldichte und gesteigerten Rechtsschöpfungstätigkeit der Konventionsorgane spannungsreich zum Subsidiaritätsgedanken. So haben sich die regionalen Menschenrechtsschutzgebilde, zumal die EMRK, qualitativ verändert und zu einem regionalen ordre public entwickelt. Vermöge der autonomen, dynamisch-teleologischen Auslegung durch den EGMR und seines Verständnisses der Konvention als living instrument, ist sie kein reines Supplement mehr, kein bloßes „ultimate remedy“. Sie ist nicht länger auf „Wesensgehalte“ 529, einen Minimalstandard der Menschenrechte reduziert, sondern tendiert zu Maximalpositionen530, hat sich – in Anlehnung an M. Walzers’s Konzept – für „Thick“ statt „Thin“ entschieden531. Je mehr sich die Schutzbereiche ausdehnen, desto mehr Bedeutung kommt den Konventionssystemen zu. Die Ausweitung bedeutet zunächst eine qualitative Ausdehnung in dem Sinne, dass das Schutzniveau steigt und potentiell mehr Handlungen durch das Konventionsrecht geschützt sind. Der verbürgte Rechtsschutz nimmt an Tiefe und Dichte zu. Diese Ausweitung der Schutzbereiche und der Rechtsprechungstätigkeit ist bereits unvereinbar mit dem Verständnis eines nachgeordneten, lediglich als Auffangordnung532 konzipierten regionalen Menschenrechtsschutzes. Regionale Menschenrechtsgerichtshöfe sind längst nicht mehr zu reduzieren auf eine subsidiäre Garantenstellung, einer zurückgenommenen Prüfungskompetenz und ein Wächteramt. Die Konventionsorgane schreiten nicht nur dann ein, wenn materiell unabdingbare Standards unterschritten wer-

529 So etwa P. Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, 3. Aufl. 1983, S. 434 f., der von ungeschriebenen Wesensgehalten spricht. 530 J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechte, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates 2001, S. 40. 531 M. Walzer, Thick and Thin: Moral Argument at Home and Abroad, 1994. 532 Vgl. P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 109 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

den, absolute Wesensgehalte der Grundrechte und Menschenrechte verletzt werden, sondern legen einen autonomen, von Staatlichkeit unabhängigen Maßstab an, der eine aktive Korrektur zweiter Ordnung darstellt533. Aber selbst in jenen Fällen, in denen keine erhöhte Kontrolldichte festgestellt werden kann, sondern der regionale Menschenrechtsschutz durch einen allgemein unzureichenden, rudimentären Grundrechtsschutz der Staaten ausgelöst wird, wie dies in einem Teil der lateinamerikanischen und europäisch-postkommunistischen Staaten immer noch der Fall ist, passt das Subsidiaritätsprinzip nicht auf die beschriebene Wirklichkeit. Die Gerichtshöfe sind hier – entgegen ihrer Bekundung – gewissermaßen eine vierte Instanz, die aber oftmals funktional die erste echte Instanz bildet534. Das unterstreicht auch die hohe Anzahl an festgestellten Verletzungen des Rechts auf ein faires Verfahren in beiden Schutzsystemen. Regionaler Menschenrechtsschutz fungiert also auch in diesen Fällen nicht als „Auffangordnung“ 535 und als Reserve, ist nicht subsidiär, sondern de facto primär536. Die außerstaatlichen Institutionen sind oftmals die einzigen und damit die ersten Adressaten, die sich in dem gebotenem Maße mit dem Menschenrechtsschutz auseinandersetzen. Auch die Umsetzung des Rechtsschutzes erfolgt mittlerweile in einer Weise, die im Widerspruch zu der Reserve- und Begrenzungsfunktion des Subsidiaritätsgrundsatzes steht. Beispielhaft dafür ist die Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen537. Auch die Pilot-Urteile des EGMR seit der Entscheidung Broniowski 533

Dazu eingehend Dritter Teil E. und F. Indes ist das Agieren als „erste Instanz“ nicht nur auf Fälle des rudimentären nationalen Grundrechtsschutzes begrenzt, sondern kommt auch darüber hinaus vor wie Richter Pinto de Albuquerque in seinem Sondervotum zu ECHR, 07.11.2013, Vallianatos et al. v. Greece, No. 29381/09 und 32684/09 feststellt: „The particular interest of the Vallianatos and Others case is that the Grand Chamber performs an abstract review of the „conventionality“ of a Greek law, while acting as a court of first instance. The Grand Chamber not only reviews the Convention compliance of a law which has not been applied to the applicants, but furthermore does it without the benefit of prior scrutiny of that same legislation by the national courts. In other words, the Grand Chamber invests itself with the power to examine in abstracto the Convention compliance of laws without any prior national judicial review. (. . .) the core of the principle of subsidiarity was infringed.“ 535 Vgl. P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 109 ff. 536 Antizipativ deshalb ECHR, 13.12.2012, De Souza Ribeiro v. France, Nr. 22689/ 07 Sep. Op. Pinto De Albuquerque und Vucinic „The principle of subsidiarity itself also points in that direction. Member States should assume their responsibility in dealing fully and as swiftly as possible with (. . .) claims of breaches of Convention rights, (. . .) in order to avoid putting the Court in the situation of a first-instance court (. . .)“ 537 Diese bereits im Fall Asanidse angewandte Praxis hat keine explizite Rechtsgrundlage, kann aber als „Annexkompetenz“ verstanden werden, M. Breuer, Karlsruhe und die Gretchenfrage: Wie hast du’s mit Straßburg?, NVwZ 2005, S. 414 sowie M. Breuer, Zur Anordnung konkreter Abhilfemaßnahmen durch den EGMR. Der Ge534

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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v. Poland geben davon Zeugnis. Durch sie nimmt der Gerichtshof eine Art „inzidente Normenkontrolle“ vor, beschränkt sich also nicht länger auf die konkrete Anwendung des streitgegenständlichen Gesetzes und den Einzelfall538, sondern nimmt ein allgemeines Prüfungsrecht in Anspruch. Neben diesen qualitativen Veränderungen sprechen aber auch quantitative Veränderungen gegen die Annahme eines subsidiären Charakters. Die Erweiterung des Schutzbereiches hat zur Konsequenz, dass auch die Zahl der Beschwerden und der ihr korrespondierenden Urteile notwendig zunimmt. Die signifikant hohe, immens gestiegene Zahl an Individualbeschwerden von derzeit knapp 30.000 jährlich im europäischen System und den daraufhin ergangenen Urteilen von insgesamt ca. 17.000 seit 1959 ebenso wie die mehr als 10.000 Rügen im interamerikanischen System indizieren, dass die Systeme de facto kaum mehr als subsidiär zu klassifizieren sind. Der quantitative Aspekt der regelrechten Klageund Entscheidungsflut schlägt – in Anlehnung an G. W. F. Hegel – ab einem bestimmten Punkt in einen qualitativen Aspekt um und verändert so den Charakter des regionalen Menschenrechtsschutzes. Insgesamt zeigen die qualitativen und quantitativen Veränderungen also an, dass die Institutionen des regionalen Menschenrechtsschutzes die nationalen Rechtsordnungen massiv beeinflussen und mitgestalten. Sie sind nicht länger bloße Auffangebene und wollen dies gemäß ihrem Selbstverständnis auch nicht sein. Vielmehr zielen sie darauf ab, aktiv in die nationalen Rechtsräume hineinzuwirken und tun dies de facto in einem solchen Ausmaß und in einer solchen Form, dass ihre Subsidiarität zunehmend in Frage gestellt wird. Insofern lässt sich die genommene Entwicklung der Konventionssysteme mindestens als eine Emanzipation vom Subsidiaritätsgedanken beschreiben.

IV. Resümee: Emanzipation vom Subsidiaritätsprinzip und subsidiäre Residuen Während die Frage nach der „verfassungsrechtlichen Dignität“ 539 des Subsidiaritätsprinzips mittlerweile eindeutig geklärt ist und das Prinzip auch im Europarecht im engeren Sinne durch Positivierung und Konkretisierung überzeugend Anwendung findet, ist die Übertragung auf den regionalen Menschenrechtsschutz bzw. die Qualifizierung dessen als subsidiär, ungeachtet der jüngsten Positivierichtshof betritt neue Wege im Fall Asanidse gegen Georgien, EuGRZ 2004, S. 257. Legitimiert und bestätigt wird dies auch durch die Parlamentarische Versammlung des Europarates, Entschließung 1226 (2000), Nr. 11 B ii, wiedergegeben in BT-Dr. 14/6751, S. 39 (40). 538 So M. Breuer, Das Recht auf Individualbeschwerde zum EGMR im Spannungsfeld zwischen Subsidiarität und Einzelfallgerechtigkeit, EuGRZ 2008, S. 122. 539 Dazu grundlegend J. Isensee, Subsidiarität und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2001.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

rungsversuche, mindestens zweifelhaft, wenn nicht sogar unzutreffend540. Unbestritten besteht auch für den Menschenrechtsschutz im Mehrebenensystem der Zwiespalt zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Harmonisierung und Differenzierung, zwischen Zentralisation und Dezentralisation541, so dass Anleihen an das Subsidiaritätsprinzip nahe liegen. Gleichwohl ist das Anwendungsobjekt ein anderes, so dass das Subsidiaritätsprinzip nicht auf den regionalen Menschenrechtsschutz passt bzw. nur äußerst beschränkt Anwendung finden kann. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass regionaler Menschrechtsschutz – anders als die Europäische Union – keinen Herrschaftsverband etabliert bzw. rekonstruiert, nicht auf eine Integration dieser Qualität und Dichte abzielt, die sämtliche Politikfelder umfasst. So droht regionaler Menschenrechtsschutz auch nicht, die Mitgliedsstaaten zu „zerschlagen oder aufzusaugen“. Hingegen erschöpft er sich in einer ausschließlich menschenrechtlichen Überformung der nationalen Rechtsordnung. In Folge dessen teilt er auch keine Kompetenzen zu und trägt allein interventionistischen Charakter. Subsidiarität verstanden als Zuständigkeitsprärogative der „kleineren Einheit“ respektive der Mitgliedstaaten findet im regionalen Menschenrechtsschutz kein Regulierungsobjekt. Auch die der Subsidiarität eigentümlichen Erforderlichkeits- und Effizienzvorbehalte – wie im nationalen und europäischen Recht identifizierbar, finden keine sinnvolle Anwendung, keinen sinnvollen Vergleichsmaßstab im regionalen Menschenrechtsschutz. Schließlich stehen auch die Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung der Schutzsysteme – anders als etwa jene der EU – nicht unter dem Vorbehalt, Subsidiaritätsanforderungen zu genügen, sondern vollziehen sich in struktureller Unabhängigkeit dazu. Bezogen auf den regionalen Menschenrechtsschutz erschöpft sich Subsidiarität deshalb im rein prozessualen Gehalt des Gebots der Rechtswegerschöpfung und dem Umstand, dass es die Staaten sind, denen im Ersten und im Letzten die Sicherung bzw. die Umsetzung des Grund- und Menschenrechtsschutzes obliegt. Aus alledem ergibt sich, dass Subsidiarität kein maßgebliches Strukturprinzip des regionalen Menschenrechtsschutzes ist und eine schematische Rückführung oder Gründung auf dieses nur höchst unvollständig gelingt. Subsidiarität wird dem Entwicklungsstand und dem Wesen des regionalen Menschenrechtsschutzes nicht gerecht, vermag nur einen Teil dessen angemessen zu erfassen. Zu sehr 540 Vergegenwärtigt man sich, dass selbst für das Europarecht, in dem Subsidiarität als einziger Bereich Positivität und Justiziabilität erlangt hat, das Verhältnis zwischen Aufwand bzw. Betonung und Ertrag des Subsidiaritätsprinzips angezweifelt wird (so R. Streinz, in: R. Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV-Kommentar, 2. Auflage 2012, Art. 5 EUV Rn. 32.), so gilt dies erst recht für die regionalen Menschenrechtsschutzregime, indem es bislang lediglich programmatisch-unverbindlichen Charakter trägt. Zweifel an der Tragfähigkeit des Prinzips, insbesondere im Menschenrechtsschutz, äußert auch J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechte, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates 2001, S. 43. 541 So statt vieler P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law 97 (2003), S. 56 ff.

D. Subsidiarität des regionalen Menschenrechtsschutzes?

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trägt Subsidiarität als teilendes Regulativ konditionalen Charakter, ist mit partieller Surrogation und Substitution verbunden. Menschenrechtsschutz im Mehrebenensystem ist aber nicht konditional oder im Hinblick auf die einzelnen Ebenen kompetitiv, sondern konjunktiv. Im Vordergrund steht die Effektivität des Menschenrechtsschutzes. Öffentliche Gewalt unterliegt durch ihn einer dualen Bindung542 und gleichermaßen zweierlei Maßstäben: dem nationalen wie dem konventionsrechtlichen. Dieser Umstand erfordert ein verbindend-mediierendes, kein trennendes und teilendes Prinzip. Das beschriebene „osmotische“ Verhältnis zwischen nationalem und regionalen Grund- und Menschenrechtsschutz kann durch das Subsidiaritätsprinzip nur unzureichend angeleitet werden. Die Überwindung der Dichotomie von Staatlichem und Überstaatlichem, die Vermittlung zwischen Souveränität und Intervention543, deutet deshalb nicht auf Subsidiarität hin, der stets auch etwas Negatorisches und Exkludierendes anhaftet, sondern verlangt ein andersgeartetes Struktur- und Entwicklungsprinzip. Aus ähnlichen Erwägungen hat L. R. Helfer deshalb den Begriff der „Embeddedness“ vorgeschlagen und zutreffend als vorzugswürdig gegenüber der Subsidiarität erkannt544. Im Gegensatz zur Subsidiarität erlaubt dieses Konzept – ebenso wie das in dieser Arbeit vertretene Komplementaritätsprinzip 545 – nicht an formale und prozedurale, sondern materielle Tatbestände anzuknüpfen und wirkt nicht trennend und teilend, sondern verbindend. Die Deklaration bzw. Etikettierung des regionalen Menschenrechtsschutzes als subsidiär beruht entweder auf einem verkürzten und beschränkten Verständnis von Subsidiarität als formalorganisatorischer Maxime546 in Gestalt prozeduraler Nachgeordnetheit (local remedies rule) oder auf einem Missverständnis von Aufgabe und Entwicklungsstand der überstaatlich-regionalen Konventionsregime. Es sind die vordergründige Zweigliedrigkeit zwischen Staaten und Konventionssystemen, die Primärverantwortung der Staaten für den Grundrechtsschutz und der Mehrebenencharakter, die zu der Annahme verleiten, dass Subsidiarität eine 542

Vgl. Art. 19 EMRK „Einhaltung der Verpflichtung“ und Art. 46 EMRK. Insofern lässt sich ein Stufenverhältnis erkennen: Das Souveränitätskonzept steht für einen „rigiden Dualismus“ von Staat und internationaler Gemeinschaft. Subsidiarität als paradoxes Prinzip von Intervention und Non-Intervention geht bereits über dieses hinaus, vgl. dazu P. G. Carozza, Subsidiarity as a Structural Principle of International Human Rights Law, American Journal of International Law 97 (2003), S. 67. 544 L. R. Helfer, Redesigning the European Court of Human Rights: Embeddedness as a Deep Structural Principle of the European Human Rights Regime, European Journal of International Law 19 (2008), S. 125 ff., insbesondere S. 131 ff. und 142 sowie 151. 545 Zuweilen wird Komplementarität fälschlicherweise mit Subsidiarität gleichgesetzt, vgl. Interlaken Follow-Up des Jurisconsult des EGMR zum Subsidiaritätsprinzip vom 08.07.2010, S. 2. 546 Von einem „formal subsidiären Charakter der EMRK“ spricht bspw. auch J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechtsschutz, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 36. 543

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

angemessene Beschreibung der Schutzmechanismen liefert, nicht aber deren Funktionslogik, Eigenart und Auftrag. Damit ist Subsidiarität nicht Bestandteil und Wesensmerkmal der durch die regionalen Konventionen etablierten Menschenrechtsschutzsysteme, ist keine Konstituente von EMRK oder AMRK. Sie wird deren raison d’être nicht gerecht. Allenfalls kommt Subsidiarität im regionalen Menschenrechtsschutz als anleitende „heuristische Maxime“ 547 der Rechtsprechung Bedeutung zu. Als sozialethisches, das heißt freiheitssicherndes Prinzip, vermag sie Wirkung für die Bestimmung von Schutzbereich, Eingriffscharakter und Rechtfertigungsanforderungen zu entfalten. Allein bei der Konturierung, nicht bei der Konstituierung einer vom Individuum ausgehenden politischen Ordnung und der dazu erforderlichen Bestimmung der verbürgten Menschenrechtsgehalte kann das Subsidiaritätspostulat hilfreich sein. Der intendierten Positivierung der Subsidiarität in der Präambel der EMRK und den Subsidiaritätsbekundungen der Rechtsprechung vermag gleichwohl eine nicht zu unterschätzende Funktion zuzukommen: Obgleich der Subsidiaritätsbegriff nicht auf die zu beschreibenden Phänomene passt, die Bezeichnung als Subsidiarität also sachlich unrichtig ist, erweist er sich als hilfreich, um gerade jenen judikativen Expansionsdrang, der dem Subsidiaritätsgedanken zuwiderläuft, zu legitimieren und Kritiker zu besänftigen548. Insofern ist Subsidiarität Beispiel für die „kreative Rhetorizität des Rechts“ 549. So, wie Subsidiarität möglicherweise einst den Maastricht-Vertrag „gerettet“ hat, vermögen die Aufnahme der Subsidiarität in die Präambel der EMRK und der stete Rekurs auf dieses Prinzip durch den EGMR auch der EMRK über Legitimitätsschwierigkeiten und nationale Widerstände hinweghelfen zu können. Ob diesem Unterfangen Erfolg beschieden ist, bleibt abzuwarten.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes Sowohl der regionale Menschenrechtsschutz als solcher als auch das beschriebene quantitative und qualitative Ausgreifen der Konventionsorgane bringen Le547 Vgl. P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 183. 548 Dies zeigt, „dass Wörter niemals eine buchstäbliche Bedeutung haben, außer im Kontext der Absicht, die sie verwirklichen sollen, und dass der intendierte Kontext (. . .) die Bedeutung der Wörter bestimmt, statt durch die Bedeutung , die die Wörter schon (zu Recht) haben, bestimmt zu werden. Kurzum, das Problem ist nicht und kann niemals die angebliche Wahl zwischen wörtlicher und kontextgebundener Lektüre sein, sondern die relative Überzeugungskraft alternativer Kontexte, wie sie in ideologisch beladenen Erzählungen dargestellt sind.“, S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 134. 549 S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2011, S. 156 ff.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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gitimationsfragen und -probleme auf. Zum einen ist die Einwirkung regionaler Rechtsprechungskörper auf das nationale System und die dadurch etablierte Begrenzung innerstaatlicher Handlungsmöglichkeiten von außen als solche rechtfertigungsbedürftig. Zum anderen gilt: je weiter sich die Systeme ausdifferenzieren, je effektiver sie arbeiten und je mehr sie Elemente der „Konstitutionalisierung“ und „Supranationalisierung“ aufweisen bzw. ihren subsidiären Charakter ablegen, sich also zu einem Rechtsgebilde sui generis550 emanzipieren, desto wichtiger und drängender werden die Fragen und das Bedürfnis nach ihrer Begründung und Rechtfertigung. Schließlich erstreckt sich die Jurisdiktion der Organe beider Systeme zusammengenommen auf insgesamt mehr als 70 einzelstaatliche Rechtsordnungen und erhebt hunderte Millionen Menschen qua Individualbeschwerde zu potentiellen Klägern. In der Konsequenz verfügen die Konventionsorgane über die Kompetenz, sämtliche staatliche Akte – einschließlich der in ihrer demokratischen Legitimation überlegenen Parlamentsgesetze – am Maßstab der Konventionen zu überprüfen. Obgleich es sich bei den Verdikten um Feststellungsurteile ohne kassatorische Wirkung handelt und die Bindungswirkung abhängig vom Mitgliedstaat variiert, sind Macht und Einfluss de facto immens. Auf der anderen Seite sind die Konventionsorgane angesichts der bloßen Feststellungswirkung der Urteile auf eine Stärkung ihrer Autorität und Überzeugungskraft angewiesen, die sie aus einer erklärenden Rechtfertigung zu gewinnen vermögen. Ihre Funktionsfähigkeit und Wirkmächtigkeit sind untrennbar mit dieser verbunden. Das besondere Legitimationsproblem des regionalen Menschenrechtsschutzes verdeutlicht sich, wenn man es mit dem nationalen und internationalen Kontext vergleicht. Sowohl auf einzelstaatlicher Ebene im verfassungsrechtlichen Kontext als auch im universalen Menschenrechtsschutz der Vereinten Nationen besteht ein Gleichklang, eine gewisse Kongruenz von Macht und Legitimation, „Supervisionseingriff“ und „Legitimationsniveau“ korrespondieren miteinander. Dem Schutz auf universeller Ebene durch treaty bodies und reporting systems der Vereinten Nationen ist in hohem Maße ein demokratisches Defizit zu attestieren, das aber der institutionellen und instrumentellen Schwäche dieser Regime und ihrer jedenfalls quantitativ geringeren Einflussnahme auf das innerstaatliche Recht entspricht. Übereinstimmung findet sich auch im nationalen Grundrechtsschutz, in dem Gestaltungsmacht und tiefere demokratische Verankerung der Kontrollorgane – jedenfalls tendenziell – miteinander im Einklang stehen. Anderes gilt hingegen für den regionalen Menschenrechtsschutz. Hier scheinen Gestaltungspotenz und Legitimation auseinanderzutreten. Der Einfluss der Konventionsorgane auf das Recht der Mitgliedstaaten ist qualitativ und quantitativ beträchtlich,

550 So schon früh im Hinblick auf die EMRK A. Drzemczewski, The Sui Generis Nature of the European Convention of Human Rights, International and Comparative Law Quarterly, 29 (1980), S. 54 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

deren „demokratische Legitimationsketten“ 551 hingegen sind lang, schwach und brüchig. Aus all diesen Umständen folgen spezifische Legitimationsprobleme und Legitimationsbedürfnisse des regionalen Menschenrechtsschutzes.

I. Legitimationsprobleme Legitimation verstanden als Voraussetzung effizienter und liberaler Herrschaft552, als deren Begründung und Rechtfertigung, ist Produkt des Zusammenwirkens unterschiedlicher Elemente. Nachfolgend sollen dazu Legalität, Legitimität und Legitimation im engeren Sinne553 unterschieden werden. Diese verkörpern positivrechtlich-präskriptive, empirisch-faktische und normative Gründe der Rechtfertigung. 1. Legalität und Legitimität des regionalen Menschenrechtsschutzes Rechtfertigung durch Legalität, also durch Berechtigung und Rechtsbindung, hat den Vorteil von Transparenz und Eindeutigkeit. Die aus der freiwilligen Selbstbindung der Staaten durch Ratifikation der Konventionen und etwaigen Unterwerfungserklärungen entspringende Legalität ist ebenso unabweisbar554 wie die klaren Zuständigkeitszuweisungen der Konvention an die durch sie etablierten Organe. Der Eindeutigkeit der Legalität entspricht aber ihre Unbrauchbarkeit zu einer tatsächlichen Rechtfertigung der regionalen Jurisdiktionsgewalt. Der Umstand, dass die Konventionsorgane beider Systeme sich aus einer Ordnung rechtfertigen, die sie selber autonom auslegen, dass heißt die Kompetenzfrage selbst beantworten und nicht der Kontrolle durch eine andere Institution unterliegen, mündet in einem tautologischen Dilemma. Grund und Grenze der eigenen Kompetenzen ergeben sich aus eben jenem Dokument, über das die Organe interpretatorisch autonom verfügen. Der Struktur ist somit ein permanenter, alternativloser555 Verstoß gegen den Grundsatz nemo judex in sua causa inhärent556. 551 Dazu E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/ P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 11 ff. 552 F. W. Scharpf, Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, in: G. F. Schuppert/I. Pernice/U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 706. 553 In Anlehnung an C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 281 ff. Diesem Werk entstammen maßgebliche Anregungen für diesen Abschnitt aus der Auseinandersetzung mit der parallel und doch andersartig gelagerten Problematik hinsichtlich des BVerfG. 554 Dazu schon Dritter Teil A. II. 555 Alternativlos ist dieser deshalb, weil eine Überantwortung der Kompetenzfrage an die Staaten ebenso in ein, wenn auch geweitetes, tautologisches Dilemma mündete: Die Urheber und Adressaten der Garantie bestimmten in diesem Fall selbst über Gehalt und Reichweite ihrer (Selbst)Bindung. 556 Wenngleich nicht auflösend, so doch relativierend, wirkte es sich aus, wenn zumindest die Verfahrensordnungen der Gerichtshöfe nicht durch diese selbst, sondern

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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Ebenso wie auf nationaler Ebene existiert auch in den Konventionssystemen keine rechtfertigende Rechtsbindung durch Fremdbindung, wie es der Legalität eigentümlich ist, sondern lediglich eine Selbstbindung der Konventionsorgane, die sich als selbstreferentielle „Legalitätsschleife“ 557 begreifen lässt. Der schlichte positivrechtliche Verweis auf Entstehung und Ratifikation der Konventionen im Allgemeinen sowie der Aufgabenzuweisung an die Konventionsorgane im Besonderen, kann also die Frage nach der Rechtfertigung des regionalen Menschenrechtsschutzes nicht befriedigend beantworten. Ein auf die Vertragsstaaten gewendetes volenti non fit iniuria vermag keine substantielle Begründung zu liefern. Der Fragekomplex der Legitimität der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme, also ihrer faktischen Anerkennung und Akzeptanz, ist zunächst an die allgemeinen Erwägungen zur Begründung der normativen Kraft des Rechts und der Menschenrechte überwiesen558. Sie entspringt grundsätzlich dem aus dem positiven Recht herausreichenden, genuin Vorrechtlichen, insbesondere einem überzeugenden Narrativ, der die Rechtsgeltung fundiert und überzeugende Kraft generiert559. Für die institutionelle Akzeptanz sind sodann Organstruktur und Verfahrensordnung maßgeblich. Entscheidend ist insofern die Einrichtung eines permanenten Gerichtshofes, der ein höheres Maß an Autorität verkörpert, sowie ein Individualbeschwerdeverfahren, das es den Bürgern erlaubt, unmittelbar mit der Gerichtsbarkeit in Kontakt zu treten. Diesbezüglich ist insbesondere die Struktur des interamerikanischen Systems noch defizitär ausgeprägt560. Hingegen gibt im Rahmen der EMRK die hohe Zahl der beim EGMR eingereichten Beschwerden ein erstes faktisches Zeugnis für dessen Anerkennung und Ansehen, ja nachgerade für dessen Popularität. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass zwei wesentliche, allgemeine Legitimitätsfaktoren der Judikative im regionalen Menschenrechtsschutz nicht bzw. nur unzureichend gegeben sind: Die Einbeziehung der Konventionsorgane in die Gesamtheit eines Legitimität vermittelnden Rechtssystems und die Akzeptanzstiftung durch die spezifische Individualisierung und Entpolitisierung des Verfahrens561. Anders als auf nationaler Ebene sind die Institutionen und Instrumente des regionalen Menschenrechtsschutzes

durch Organe des Europarates – etwa der Parlamentarischen Versammlung – bzw. der Organisation Amerikanischer Staaten – durch die General Assembly – verabschiedet würden. 557 So in Bezug auf das BVerfG C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 295 f. 558 Dazu Erster Teil A., B. und C. 559 Siehe dazu Erster Teil A. II. 560 Vgl. Zweiter Teil B. II. und III. 561 Vgl. in Bezug auf das Verfassungsgericht m.w. N. C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 304.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

nicht integraler Bestandteil eines komplexen und vielschichtigen Rechtssystems, sondern bilden gewissermaßen eine isolierte Ebene eigener Art. Entscheidend für die faktische Akzeptanz des regionalen Menschenrechtsschutzes ist aber nicht nur die Inanspruchnahme der durch die Konventionen berechtigten Individuen, sondern auch die Anerkennung der Verpflichteten respektive der Staaten. Schließlich verfügen die Konventionsorgane über keinen eigenen Durchsetzungsmechanismus, sondern sind auf die Bereitschaft der einzelstaatlichen Gewalten angewiesen. Hierfür erweisen sich bestimmte Strategien der Konventionsorgane, die bei Subsidiaritätsbekundungen ansetzen und über die Figur der margin of appreciation bis hin zu anderen Formen des judicial self-restaint reichen, als wirkungsvoll. Die kontinuierliche Praxis und Fortentwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes, seine grundsätzliche Akzeptanz bei Berechtigten und Verpflichteten, schafft also ein hohes Maß an Legitimität. Gleichwohl ist diese nur ein Rechtfertigungselement neben der augenscheinlichen Legalität. Für eine tiefere Rechtfertigung der regionalen Rechtsregime reichen diese nicht hin. Erforderlich sind normative Gründe, ist eine prinzipielle Rechtfertigung und Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes. 2. Legitimationsschwierigkeiten des regionalen Menschenrechtsschutzes Eine solche erklärende Rechtfertigung des regionalen Menschenrechtsschutzes muss das prekäre Verhältnis zwischen Grund- bzw. Menschenrechten und Demokratie berücksichtigen. Wenngleich beide zusammengehören, ist das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv nicht durchweg konfliktfrei. Das Spannungsverhältnis bildet sich institutionell zwischen Legislative und Judikative, zwischen unmittelbar demokratisch legitimierten Organen und der sie kontrollierenden Gerichtsbarkeit ab. A. M. Bickel hat für diese Problematik im innerstaatlichen Raum den Begriff der „counter-majoritarian difficulty“ geprägt562. a) Potenzierung der „counter-majoritarian difficulty“ durch regionalen Menschenrechtsschutz Gemäß der Analyse A. M. Bickels ist judicial review eine „counter-majoritarian force“, bedeutet eine Kontrolle der gewählt-repräsentativen Mehrheit durch eine unrepräsentative Minderheit, konterkariert und durchkreuzt den Willen der Majorität, übt Kontrolle nicht im Auftrag und Interesse dieser, sondern gegen diese aus, ist deshalb letztlich undemokratisch563. Sie steht dem politischen Prozess repräsentativer Institutionen und Organe, der legislativ organisierten Mehr562 563

A. M. Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl. 1986, S. 16 ff. A. M. Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl. 1986, S. 16 f.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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heit entgegen564. Judicial review lässt sich deshalb auch als Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Legislative begreifen565 und hat die Schwächung des demokratischen Prozesses als solchem zur Konsequenz566. Das dem judicial review immanente Misstrauen betrifft letztlich aber nicht nur die Legislative in Gestalt der judikativen Normverwerfungskompetenz, sondern auch die Exekutive, da sich jegliches hoheitliches Handeln nach dem Grundsatz von Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes auf Mehrheitsentscheidungen zurückführen lassen. Aufgrund des darin enthaltenen antidemokratischen Charakters innerhalb eines fundamental auf demokratischer Legitimation beruhenden und durch diese bestimmten Systems, ist letztlich auch die Effektivität des judicial reviews angezweifelt worden567. Die vor allem am Beispiel des U.S. Supreme Court exemplifizierte und viel diskutierte counter-majoritarian difficulty568 ist auch anderen Obersten Gerichtshöfen bzw. Verfassungsgerichten immanent569: Während die Legislative Freiheit 564

A. M. Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl. 1986, S. 19 f. Dazu grundlegend J. H. Ely, Democracy and Distrust: A Theory of Judicial Review, 1980, der die Judikative zur Kontrolle des politischen Prozesses, zur Sicherung der Repräsentation und zur Stärkung von Minderheitsrechten berufen sieht, diese aber auf das Partizipative im Gegensatz zum Substantiellen beschränkt. Aus deutscher Sicht und unter Rückgriff auf das Menschen- und Bürgerbild, U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1998. 566 A. M Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl. 1986, S. 21. 567 A. M. Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl. 1986, S. 23. Dieser verweist auf das Zitat von J. B. Thayer „under no system can the power of courts go far to save a people from ruin; our chief protection lies elsewhere“ und L. Hand „(. . .) I think I do know – that a society so riven that the spirit of moderation is gone, no court can save; that a society where that spirit flourishes, no court need save; that in a society which evades its responsibility by thrusting upon the courts the nurture of that spirit, that spirit in the end will perish.“ 568 Vgl. etwa früh, noch vor A. M. Bickel, C. Black, The People and the Court: Judicial Review in a Democratic Society, 1960. J. H. Choper, Judicial Review and the National Political Process: A Functional Reconsideration of the Role of the Supreme Court, 1980, der den Fokus auf die Justiziabilität legt und u. a. auf den „fragilen Charakter“ des Judicial Review aufmerksam macht, vgl. insbesondere S. 129 ff. Kritisch zuletzt L. D. Kramer, The People Themselves. Popular Constitutionalism and Judicial Review, 2004, der eine historisch orientierte Rückbesinnung auf das unmittelbar Demokratische fordert und sich gegen die „Höherrangigkeit“ der judikativen Kontrolle ausspricht, S. 249 ff., ders. polemisch, „We the Court“, Harvard Law Review 115 (2001), S. 4 ff. Zuweilen ist die Debatte um die counter-majoritarian difficulty auch als „unresolveable“ und deshalb für obsolet erklärt worden, vgl. P. Brest, The Fundamental Rights Controversy: The Essential Contradictions of Normative Constitutional Scholarship, Yale Law Journal 90 (1981), S. 1063 ff. 569 Gleichwohl weist der insbesondere in Amerika intensiv geführte Diskurs um die demokratische Legitimation des judicial review einige Besonderheiten auf. Dies hebt bereits damit an, dass sich das Mandat für einen judicial review nicht explizit auf einer Verfassungsnorm gründet. Sodann sind die Richter am U.S. Supreme Court auf Lebenszeit bestimmt und gewinnen damit ein statisches Unabhängigkeitsmoment, was weder in den meisten Verfassungsstaaten noch im überstaatlichen Kontext Nachahmung gefun565

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

durch Herrschaft etabliert, kommt der Judikative die Aufgabe zu, Freiheit vor Herrschaft zu schützen – sie setzt Schutz und Interessen gegen die Mehrheit durch570. Die Aufgabenverteilung zwischen Legislative und Judikative ist also antagonistisch. Da ein demokratisches Legitimationsgefälle zwischen der unmittelbar legitimierten Legislative und der schwächer legitimierten Judikative besteht, dem ein gegenläufiges Bindungsverhältnis entspricht, trägt der Verantwortungszusammenhang der Judikative den geringsten demokratischen Charakter. Bereits daraus entsteht ein Legitimationszwiespalt. Dieser, der judikativen Kontrolle immanente Konflikt, findet sich analog zur einzelstaatlichen Ebene – gleichwohl aber multipliziert und potenziert – im Bereich des regionalen Menschenrechtsschutzes. Zunächst liegt dies daran, dass die counter-majoritarian difficulty institutionell ansetzt, abstrakt das Verhältnis der Gewalten zueinander zum Gegenstand hat. Die Problematik verschärft sich aber unter Berücksichtigung des Materiellen der Konventionssysteme. Während judicial review unterschiedliche Verfahrensformen und Sachgegenstände kennt, so etwa organisationsrechtliche Fragestellungen und das Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander respektive die Kollision demokratisch legitimierter und repräsentativer Kräfte betrifft, konzentrieren sich die Menschenrechtskonventionen allein auf Individualschutz. Neben das institutionelle Problem von Legislative und Judikative tritt damit ein inhaltliches in Gestalt des intrikaten Verhältnisses von Menschenrechten und Demokratie571, zwischen volonté géneral und volonté particulière. Einerseits konfligieren Demokratie und Menschenrechte miteinander, bilden die Menschenrechte einen „republikanischen Stachel“ 572. Grund- und Menschenrechte sind Schutzmechanismen, des Einzelnen, der Minderheit, haben primär abwehrenden Charakter. Dieser steht gerade nicht im Zeichen der Volksherrden hat. Die zeitliche Restriktion des richterlichen Amtes bedeutet für diese einen Machtverlust und reduziert die Legitimationsanforderungen. Ferner erfolgt der judicial review in den Vereinigten Staaten anhand eines nahezu 200 Jahre alten Dokuments als Maßstab, dessen Reformierung mittels amendments sich äußerst begrenzt ausnimmt. Auch das verändert in der Konfrontation zwischen von der Legislative gesetztem Recht und dessen Kontrolle durch die Judikative das Verhältnis. Die Menschenrechtskonventionen sind lediglich etwa ein halbes Jahrhundert alt und entspringen einer jüngeren Erfahrung, werden nicht nur interpretatorisch, sondern zudem auch materiell durch Konventionsänderungen und in Form von Zusatzprotokollen fortlaufend Realitätsänderungen angepasst. 570 C. Möllers, Demokratie – Zumutung und Versprechen, 2008, Rn. 81, S. 64. 571 Zweifelsohne stellt sich dieses – wenn auch nicht so verschärft – auch auf einzelstaatlicher Ebene, vgl. dazu etwa M. J. Perry, The Constitution, the Courts, and Human Rights: An Inquiry into the Legitimacy of Constitutional Policymaking by the Judiciary, 1982, S. 91 ff., der im Gegensatz zu J. H. Ely auch substantielle Entscheidungn insbesondere im Bereich der Menschenrechte für gerechtfertigt hält. 572 So treffend im anderen Kontext G. Lohmann, Menschenwürde und Staatsbürgerschaft, MRM Nr. 2, 2012, S. 165 ff.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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schaft, dem „Diktat der Mehrheit“, sondern ist diametral dazu konzipiert. Menschenrechte fungieren also als „antidemokratische“ Begrenzungskonzeption, brechen die Dominanz der Mehrheit auf, bedeuten stets die Behauptung und Durchsetzung des Individuellen gegen das Prinzipielle, des Subjekts gegen das demokratisch-mehrheitlich Repräsentierte. Demos und polites, res publica und civis stehen sich also antagonistisch gegenüber. Insofern sind die Menschenrechte der Inbegriff des Majoritätsgegensatzes. Sie begrenzen, modifizieren und korrigieren den politischen Prozess, hegen ihn ein und fordern die auf dem Mehrheitssystem beruhende Demokratie heraus. Andererseits ermächtigen die Menschenrechte erst zu einem offenen, freiheitlichen und demokratischen Politikprozess, sind Fundament dessen. Menschenrechte sind geradezu Vorbedingung der Demokratie. Auch sie tragen zum wesentlichen Auftrag der Machtkontrolle bei. Grund- und Menschenrechte sind also zugleich Grundlage und Grenze der Demokratie. Die Konkurrenz von Menschenrechten und Volkssouveränität, von Legitimation kraft Würde des Einzelnen und kraft Mehrheit, um den Status als Fundament der politischen Ordnung und die diesbezügliche Verfügungsmacht573, fällt mit dem regionalen Menschenrechtsschutz im Letzten zugunsten des Individuums aus. Es kommt zu einer Ermächtigung des Einzelnen aufgrund der nahezu alle Lebenssachverhalte tangierenden und umspannenden Menschenrechte, die für die Volkssouveränität unverfügbar und unverrückbar sind. Die Menschenrechte entziehen damit Teile der Rechtsordnung der Ausgestaltung und dem unmittelbaren Zugriff des Souveräns – paradoxerweise um dessen Schutz willen. Rechts- und Gesellschaftsordnungen werden partiell einem „menschenrechtlichen Diktat“ unterworfen, haben sich Entscheidungen, basierend auf dieser Bewertungsgrundlage, zu beugen. Gewissermaßen wird das Subjekt zum „Souverän“. Korrelat des Primats der Menschenrechte ist – zu deren Durchsetzung und Behauptung – eine judikative Machtkonzentration. Die Menschenrechte „inthronisieren“ die Konventionsorgane gewissermaßen als „letzte“ und höchste Gewalt. Das verschärft die Legitimationsprobleme, droht deren Legitimation zu überfordern. Im Ergebnis ist dem regionalen Menschenrechtsschutz also nicht nur ein institutioneller Gegensatz zur legislativen Gewalt eingeschrieben, sondern auch ein materiell-inhaltlicher. Das allgemein mit der counter-majoritarian difficulty bezeichnete Spannungsverhältnis innerhalb der Gewaltenteilung wird nun also um den menschenrechtlichen Gehalt aufgeladen und unter ihrer Ägide ausgetragen574.

573 Zu diesen beiden Quellen politischer Ordnung C. Menke/F. Raimondi (Hrsg.), Die Revolution der Menschenrechte, 2011, S. 16. 574 Allgemein dazu E. Klein (Hrsg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2. Aufl., 2010.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Ein zweiter gewichtiger Aspekt der Konfliktverschärfung liegt im distanzierten außerstaatlichen Charakter begründet. Die counter-majoritarian difficulty des regionalen Menschenrechtsschutzes tritt nicht innerhalb des staatlichen Gewaltengefüges auf, sondern jenseits dessen. So erfolgt nicht nur eine interinstitutionelle Verschiebung der Gewichte von der innerstaatlichen Legislative zur innerstaatlichen Judikative, die sich noch affirmierend als Entwicklung „Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat“ 575 bezeichnen ließ und als ein „neues“, andersgeartetes institutionelles Gleichgewicht begriffen werden konnte576. Vielmehr ist die innerstaatliche Symbiose von Judikative und Legislative „zur institutionellen Garantie des Rechtsstaates“ 577 durch eine Verlagerung nach außen, jenseits des demokratischen Verantwortungsbereiches mindestens modifiziert, wenn nicht gefährdet oder sogar beschädigt. Die Letztentscheidung obliegt nicht mehr einer innerstaatlichen Gewalt, sondern einer außerstaatlichen Institution. Das Primat des nationalen Gesetzgebers ist dahingehend tangiert, dass diesem im Zweifel nur der Konventionsaustritt verbleibt, weil er nicht imstande ist, einseitig eine Veränderung des Beurteilungsmaßstabes durch eine Konventionsänderung durchzusetzen. Mangels eines weiter gefassten institutionellen Gefüges auf regionaler Ebene ist der konventionsrechtliche Schutz gegen oder vor staatlicher Gewalt auch nicht in ein Korsett wechselseitig ver- und beschränkter Gewaltengliederung eingebunden. Vielmehr steht er eben ausserhalb und über den gegliederten Gewalten. Regionaler Menschenrechtsschutz steht damit nicht nur einzelnen staatlichen Gewalten gleichberechtigt und auf gleicher Höhe gegenüber, sondern richtet sich gegen den Staat als Summe staatlicher Gewalt. Evident wird dies an der Konstellation, dass der Beschwerdeführer seine Beschwerde gegen einen Vertragsstaat zu richten hat, was sich auch in der Urteilsbezeichnung abbildet („X gegen Deutschland“). Der überstaatliche Charakter des regionalen Menschenrechtsschutzes führt weiterhin dazu, dass demokratische Legitimation und Kontrolle im Vergleich zu nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit deutlich reduziert sind. Die Fiktion einer ununterbrochenen „demokratischen Legitimationskette“ 578 lässt sich nur unter 575

So R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957. R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 340, führt an: „In diesem Fall ist nicht nur ein formaler, sondern auch ein materialer demokratischer Rechtsstaat gegeben.“ Europa sei „unterwegs zur konstitutionellen Demokratie, in der die materialen und realen Elemente den formalen vorausgehen und diese binden und bestimmen“. „Material- und Realdemokratie tritt an die Stelle der Formaldemokratie; auf den Platz der schematisch-egalitären und radikalen Demokratie lässt sich die rechtstaatliche Demokratie nieder; der Monismus der absoluten Parlamentsdemokratie wird durch einen Dualismus verdrängt (. . .).“ „Das ist die Linie: Der Richterstaat ersetzt nach und nach den Gesetzesstaat.“ 577 G. Hirsch, Auf dem Weg zum Richterstaat? JZ 2007, S. 856. 578 E.-W. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: J. Isensee/P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 24 Rn. 11 ff. 576

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

267

Rückgriff auf das nationale Zustimmungsgesetz aufrechterhalten. Auch wenn die Legitimation von Gerichten allgemein nicht rein demokratischer Natur ist579, ergibt sich ein grundsätzlicher Legitimationsstrang aus ihrer Bindung an demokratische Gesetze. Die Konventionen selbst sind als völkerrechtliche Verträge nicht unmittelbar demokratisch legitimiert. Erst das (nationale) Zustimmungsgesetz führt zu einer Rückkopplung an den (nationalen) demokratischen Prozess. Aufgrund des Primats der Exekutive im Bereich der Auswärtigen Gewalt sind die Einflussmöglichkeiten des parlamentarischen Gesetzgebers indes traditionell äußerst begrenzt. Ihm bleibt letztlich nur die Möglichkeit, das Verhandlungsergebnis in Gänze anzunehmen oder abzulehnen. Letzteres bleibt freilich Theorie, wenn Regierung und regierungstragende Parlamentsmehrheit parteipolitisch verschränkt sind. Der demokratischen Legitimation der Konventionen ist all dies nicht förderlich. Darüber hinaus verstärkt sich die counter-majoritarian difficulty auch dadurch, dass regionaler Menschenrechtsschutz den Schutz der Freiheit vor Herrschaft dupliziert und verstärkt, während der legislative Schutz der Freiheit durch Herrschaft nicht mitgeführt wird, auf nationalstaatlicher Ebene verharrt und also gegenüber dem regionalen Schutz zurückfällt. Weiterhin wohnt dem überstaatlichen Kontrollmoment insgesamt mindestens ein besonderes „Misstrauen“ inne, dass leichthin in eine „Missachtung“ des politisch-demokratischen Entscheidungsprozesses umschlagen kann. Der außer- oder überstaatliche Charakter der Rechtskontrolle führt so eine genuin eigene Legitimationsproblematik mit sich. Schließlich liegt eine Potenzierung der counter-majoritarian difficulty darin, dass die Ratio bzw. der Quotient ein gänzlich anderer ist: das Individuum setzt sich im Zweifel nicht nur gegen die Mehrheitsverhältnisse innerhalb eines Staates, sondern gegenüber der gesamten Konventionsgemeinschaft durch. Zwar kommt den Urteilen der Konventionsorgane de lege nur inter partes Wirkung zu, de facto reicht sie aber darüber hinaus und zeitigt eine Ausstrahlungs- oder Orientierungswirkung580. Der Menschenrechtsschutz des Einzelnen wirkt sich also zumindest faktisch auf sämtliche Konventionsstaaten und ihre Rechtsordnungen aus. Polemisch formuliert, stellt die judikative Kontrolle und Durchsetzung von Menschenrechten einen früheren Status unter neuen Vorzeichen wieder her: Wenn die Revolutionen des 18. Jahrhunderts den Übergang von der Herrschaft des Einzelnen zu der durch Mehrheit schufen, mithin das Legitimationssubjekt ausgewechselt worden ist581, so wird mit der Supremität der Menschen579

C. Möllers, Demokratie – Zumutung und Versprechen, 2008, Rn. 91, S. 70. Zu dieser auch als „Präjudizwirkung“ oder „indirekte Wirkung“ bezeichneten Funktion m.w. N. C. Grabenwarter/K. Pabel, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 16 Rn. 8 f. 581 Siehe dazu Erster Teil. 580

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

rechte in gewisser Weise die Herrschaft des Einzelnen – aber auch potentiell jedes Einzelnen – vermöge individualrechtlich durchsetzbarer, die republikanische Selbstregierungsform durchbrechender, überstaatlicher Gerichtsbarkeit wieder eingeführt. Zugespitzt formuliert droht sich die „Tyrannei der Mehrheit“ in eine „Tyrannei des Einzelnen“ zu verwandeln. Diese Ermächtigung des Subjekts hat die Ermächtigung der (überstaatlichen) Judikative zum Korrelat und nimmt an einer allgemein kritisch betrachteten Entwicklung teil: Je mehr sich der Konstitutionalismus samt Individualbeschwerde und judicial review durchsetzt und auch die suprastaatliche Ebene erfasst, desto stärker verschieben sich die Gewichte zur Judikative hin. b) Forcierte „Justizialisierung“ durch regionalen Menschenrechtsschutz Regionaler Menschenrechtsschutz erfolgt maßgeblich judikativ. Als solcher ist er Bestandteil einer judikativen Expansionsentwicklung582, die weit über die bloße, zweipolig diametrale counter-majoritarian difficulty hinausreicht und auch als „Judicialization“ 583 oder kritisch als „Juristocracy“ 584 bezeichnet worden ist. Was in den Ausführungen des britischen Chief Justice E. Coke’s im Dr. Bonham’s Case 1610 seinen Ausgangspunkt nahm, in der französischen Revolution lediglich Forderung blieb585 und folgenreich 1803 mit der Entscheidung Marbury v. Madison als judikative Kontrolle begann586, hat sich sehr bald ausgebreitet587. 582

Früh und grundlegend bereits R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat,

1957. 583 C. N. Tate/T. Vallinder, Judicialization and the Future of Politics and Policy, in: C. N. Tate/T. Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, New York 1995, S. 515 ff. 584 R. Hirschl, Towards Juristocracy, 2004. 585 So hatte schon A. Sieyès eine „jurie constitutionaire“ gefordert. 586 Dazu P. W. Kahn, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Construction of America, 2002. 587 Insbesondere in den Staaten des heutigen interamerikanischen Schutzsystems fand es baldige Verbreitung. Dazu trug u. a. die spanische Übersetzung A. de Tocquevilles Werk „Über die Demokratie in Amerika“ bei. Unter Rückgriff darauf und durch das Bestreben von M. C. G. Rejón hat die Prüfungskompetenz auch Eingang in die Verfassung von Yucatán von 1841 gefunden und ist Bestandteil der mexikanischen Bundesverfassung von 1847 geworden. Gleichwohl ist das Prüfungsrecht enger gefasst, beschränkt sich nach der auf M. Otero zurückgehenden Otero-Formel auf den Einzelfall. Individualrechtsschutz (juicio de amparo) ist in mindestens 14 lateinamerikanischen Staaten etabliert, designierte Verfassungsgerichte bestehen in Guatemala, Peru und Kolumbien. Das dort „tutela“ benannte Individualbeschwerdeverfahren hat sich zu einem regelrechten „tutelismo“ entwickelt. Auch die Obergerichte in Mexiko und Costa Rica bilden verstärkt verfassungsrechtliche Züge aus. Zu all diesem H.-R. Horn, Richter versus Gesetzgeber, JöR 55 (2007), S. 276, 285 und 290 ff.; H. Fix-Zamudio/S. V. Carmona, Derecho constitucional mexikano y comparado, 4. Auflage 2005, S. 845 ff. Ferner J. Carpizio/H. Fix-Zamudio, La necesidad y la legitimidad de la revisión judicial en Amé-

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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Im Zuge des new constitutionalism des 20. Jahrhunderts hat sich diese durch die enge Kopplung von verfassungsrechtlich garantierten Individualrechten mit deren constitutional review, maßgeblich unter Rückgriff auf die Arbeiten H. Kelsens, zu einer designierten Verfassungsgerichtsbarkeit, zu einem Phänomen entwickelt588, das sich auch als Investitur der Judikative als „höchste“ und „finale“ Gewalt begreifen lässt. Konnte der bedeutende Vertreter der Interessenjurisprudenz P. v. Heck trotz kritischer Haltung gegenüber der Freirechtsschule zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Verhältnis des Gesetzgebers zum Richter noch mit dem eines Herren zum Diener beschreiben, scheinen sich die Rollen seither grundlegend gewandelt, wenn nicht verkehrt zu haben. Zweifelsohne hat sich dieser Bedeutungszuwachs der Judikative vornehmlich als Produkt der Durchsetzung des Typus Verfassungsstaat als Reaktion auf die totalitären Diktaturen des 20. Jahrhunderts entwickelt, zunächst in den postfaschistischen, später auch in den post-kommunistischen Staaten. Neben diesen historischen und verfassungsstrukturellen Gründen für die Expansion werden primär durch die Politikwissenschaft noch weitere genuin strategisch-politische Faktoren angenommen. Danach können parlamentarische Opposition und Minderheiten vermöge der Judikative ihre Ziele gegenüber der demokratischen Mehrheit durchsetzen589. Zum Teil wird der Verlagerungsprozess auch als ein von Eliten initiiertes und gesteuertes Projekt begriffen590. rica Latina. Desarrolo Reciente, in: Boletín mexicano de Derecho Comparado, Nr. 52/ 1985, S. 31 ff.; G. P. Lopera Mesa, La problemática legitimidad del la justicia constitucional, in: Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional, 5 (2001), S. 227 ff. 588 Dazu T. Ginsburg, The Global Spread of Constitutional Review, in: K. E. Whittington u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, S. 81 ff., der anführt, dass mittlerweile 158 von 191 Verfassungen eine solche Kontrollmöglichkeit vorsehen. 589 C. N. Tate, Why the Expansion of Judicial Power?, in: C. N. Tate/T. Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, 1995, S. 30 ff. 590 Diese sogenannte „hegemonic preservation thesis“ findet sich insbesondere bei R. Hirschl, Towards Juristocracy, 2004, S. 12 und 213 ff. sowie ders.: The Judicialization of Politics, in: K. E. Whittington u. a. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, S. 119 ff., insbesondere S. 136 ff. vertreten. Danach sichern sich bedrohte politische Eliten und Splittergruppen auf diese Weise einen überproportionalen Einfluss, der ihnen im demokratischen Prozess nicht zukäme; wirtschaftliche Eliten verhindern qua negatorischen Freiheitsrechten staatliche Intervention; juristische Eliten vergrößern dadurch ihren politischen Einfluss. Vermögen der deskriptive Gehalt seiner Analyse und die Auswirkungen auf den politischen Prozess zustimmungswürdig sein und auch für den hier in den Blick genommenen regionalen Menschenrechtsschutz gelten, sind die von ihm skizzierten normativen Aussagen zu Motivlage und Ursprung dieser Entwicklung grundsätzlich zweifelhaft und nicht übertragbar. Sie scheinen ideologisch durchfärbt und unbrauchbar für den regionalen Menschenrechtsschutz. Gleichwohl ist R. Hirschl’s Untersuchung dahingehend zutreffend und aussagekräftig, dass es der Judikative durchaus gelingen kann, Freiheitsrechte des status negativus und prozedurale Rechte zu wahren, sie aber andererseits keine Kapazität besitzen, distributive Gerechtigkeit zu schaffen, mithin die Aufgabe, sich der Verwirklichung von Rechten der zweiten und dritten Generation anzunehmen, dem politischem Prozess und seiner Gestaltung verbleibt (S. 218).

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Unabhängig von diesen umstrittenen Deutungen ist die Entwicklung einer Gewichts- und Bedeutungsverschiebung zwischen den Gewalten, von der repräsentativ-demokratischen Legislative hin zur Judikativen, unbestreitbar. Diese „Transition“ stellt das Verhältnis von demokratischem Mehrheitsprinzip und individualrechtlichem Minderheitsschutz nicht nur in Frage, sondern definiert es gänzlich neu und wirkt sich unweigerlich auf Herrschaftsausübung, Gewaltenteilung und Demokratieverständnis aus591. Gewaltenteilung relativiert sich, Legislative und Judikative scheinen nicht mehr gleichberechtigte Komplementärelemente zu sein, sondern die gegen die „Tyrannei der Mehrheit“ gerichtete Judikative bemächtigt sich zunehmend genuin politischer Fragestellungen592, überführt sie aus einem demokratischen Diskurs in einen exklusiv rechtlichen und limitiert somit Demokratie als solche und im Ganzen. Maßgebliche und letztverbindliche Entscheidungen werden nicht länger allein in direkt demokratisch legitimierten und verantwortlichen Institutionen gefällt, sondern auch durch die Judikative. Gerichten kommt nicht nur das „letzte“, sondern vermehrt auch das „erste Wort“ zu. Die dritte Gewalt wird gewissermaßen zur ersten593. Zunehmend erteilen Gerichte dem nationalen Gesetzgeber Aufträge und geben inhaltliche Vorgaben für die Gesetzgebung pro futuro auf 594. Der Richter ist nicht „la bouche de la loi“ (Montesquieu), beschränkt sich auch nicht mehr auf die bloße Interpretation und Fortentwicklung, sondern setzt zunehmend Recht595. Gerichte sind damit von einem „negativen“ Gesetzgeber im Sinne H. Kelsens zu einem „positiven“ und „kreativen“ Gesetzgeber geworden, betreiben „constitutional politics“ 596. Diese Entwicklung führt im Ergebnis zwar nicht zu einem „government of judges“, aber zu einem „governing with judges“ 597. So droht der politische Prozess von Partizipation, Mehrheitsprinzip und dem unsteten Wechselspiel von Interessenartikulation isoliert und durch juristisch-rationale Abwägungs- und Entscheidungsprozesse ersetzt zu werden598. Diese unterscheiden sich grundlegend: Während das Vorgehen der Judikative durch eine 591

Vgl. A. Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 131 ff. R. Hirschl, The Judicialization of Politics, in: K. E. Whittington et al. (Hrsg.), The Oxford Handbook of Law and Politics, 2010, S. 119 ff. 593 Vgl. T. Vallinder, When the Courts Go Marching In, in: C. N. Tate/T. Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, 1995, S. 15. 594 Am deutlichsten wird dies in der Piloturteilstechnik des EGMR. Weitere Beispiele finden sich unter II. 595 Überspitzt ließe sich diagnostizieren, dass die einst erfolgte Ablösung der Souveränität vom absolutistischen Herrscher oder von einer sakralen Institution und die Transformation zur Volkssouveränität im Sinne J. J. Rousseau (siehe oben Dritter Teil, II.) sich nunmehr involutiv hin auf einzelne Institution, nämlich die der judikativen Supervision, verformt. 596 A. Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 138 ff., S. 20 ff. und S. 178 ff. 597 Grundlegend, A. Stone Sweet, Governing with Judges, 2000. 598 R. Hirschl, Towards Juristocracy, S. 16. 592

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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klare und eng umgrenzte Rollenverteilung der Parteien, eine autoritative und unabhängige Entscheidungsform bezogen auf einen speziellen Fall und basierend auf vorgetragenen Fakten gekennzeichnet ist, charakterisiert den legislativen Prozess Partizipation und Offenheit, das kompromisshafte Aushandeln der Ergebnisse und das Prinzip der Mehrheitsentscheidung unter maßgeblicher Berücksichtigung von Werten599. Der einstige judicial activism scheint entgrenzt und hat eine transformierte politische Ordnung hervorgebracht600, die in der politikwissenschafrtlichen Literatur auch als „post-demokratisch“ apostrophiert wird. Die Bedeutungsmodifikation der Gewalten führt dazu, dass die sovereignty und supremacy of parliament erodiert, partiell sogar für „tot“ erklärt worden ist601. Ist diese „Justiziabilität“ des legislativen Handelns und sich anschließende „Justizialisierung“ ein im Konstitutionalismus allgemein zu beobachtendes Phänomen602, das schon auf einzelstaatlicher Ebene erhebliche Kritik hervorgerufen hat603, spitzt sich die damit umschriebene Problematik im regionalen Menschenrechtsschutz noch zu.

II. Entgrenzungstendenzen des regionalen Menschenrechtsschutzes Die Demokratiedevianz judikativer Kontrolle – in der counter-majoritarian difficulty angelegt und sich zu einer allgemeinen „Judizialisierung“ auswachsend – birgt die Gefahr der Entgrenzung604 in sich. Dies hebt bereits damit an, dass sich die skizzierte Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes, die sich in Souveränitätserosion, partikularen Konstitutionalisierungs- und Supranationalisierungserscheinungen sowie Subsidiaritätstranszendenz abbildet,605 kritisch auch als „Entfernung“ bzw. Ablösung von Legalitäts- und Legitimitäts-

599 Vgl. T. Vallinder, When the Courts Go Marching In, in: C. N. Tate/T. Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, S. 14. 600 R. Hirschl, Towards Juristocracy, 2004, S. 222. 601 A. Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 1 und S. 193. 602 Sowohl die Untersuchung von C. N. Tate und T. Vallinder als auch die R. Hirschls, gleichermaßen eher empirisch-politikwissenschaftliche, konstitutionalismusskeptische Analysen, beziehen sich auf einzelne Staaten. 603 Für eine deutsche Kritik etwa B. Rüthers, Demokratischer Rechtsstaat oder oligarchischer Richterstaat?, JZ 2002, S. 365 ff. und H. Honsell, Wächter oder Herrscher – Die Rolle des Bundesverfassungsgerichts zwischen Politik und Recht, ZIP 2009, S. 1689 ff. Zu der Problematik allgemein und rechtsvergleichend auch H.-R. Horn, Richter versus Gesetzgeber, JöR 55 (2007), S. 275 ff. 604 Anregung und Idee für die nachfolgenden Ausführungen entstammen maßgeblich dem Werk „Das entgrenzte Gericht“ von M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger (Hrsg.), 2011, das sich allerdings auf den nationalen Kontext bezieht und die Fragestellung im Hinblick auf das Bundesverfassungsgericht erörtert. 605 Hierzu oben Dritter Teil A., B. und C.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

grundlagen, als Anmaßungs- und Entgrenzungstendenzen deuten lässt. Insbesondere hinsichtlich des ältesten regionalen Menschenrechtssystems, des europäischen, sind solche „überlastenden“ 606 Judikate auszumachen. Die beschriebene Legitimationsproblematik wird so zusätzlich verschärft. Für die faktische Relevanz und Schwere der Entgrenzungsthematik spricht schließlich auch die partiell heftige Kritik, die sowohl dem EGMR607 als auch den interamerikanischen Organen entgegengebracht wird608. Inbesondere im Hinblick auf den EGMR drängt sich der Eindruck auf, dieser sei ebenfalls zu einer „maßstabsetzenden Gewalt“ 609 geworden. Schließlich stehen Gefahr und Tendenz der legitimatorisch-institutionellen Entgrenzung auch in einem engen Zusammenhang mit der „unaufhaltsamen Trivialisierung“ 610 von Grund- und Menschenrechten. Nachfolgend soll der Versuch unternommen sein, einige Legitimation erschwerende Entgrenzungsphänomene anhand von Methodik, Judikaten und Rechtsprechungslinien zu verdeutlichen. 1. Entgrenzung durch konventionsspezifische Methodik Prämisse zur Ermöglichung der Entgrenzung ist eine spezifische Auslegungsmethodik611 der Konventionsorgane.

606 L. Wildhaber, Der Menschenrechtsgerichtshof für Europa – überlastet, überlastend oder gerade richtig?, menschenrechte konkret, Bd. 4, 2011, S. 17 ff., wobei dieser offenbar das „Überlastende“ in nicht leicht aufzuklärenden Fragen innerhalb pluralistischer Gesellschaften sieht. Dem ist aber zu entgegnen, dass die Wertungsvielfalt sich zum einen in den abweichenden Stimmen innerhalb einer Kammer widerspiegelt und zum anderen dieser Umstand jeder Wertungsentscheidung inhärent ist. 607 So warnte der ehemalige Präsident des BVerfG H.-J. Papier eindringlich, eine zu extensive Rechtsprechungstätigkeit des EGMR werde „dauerhaft zu bedrohlichen Erschütterungen der Akzeptanz und der Befolgungsbereitschaft führen“, vgl. H.-J. Papier, Abschiedsrede vom 14. Mai, EuGRZ 2010, S. 368. Kritik, der EGMR entfalte zuviel menschenrechtlichen Aktivismus, wird auch von vielen Regierungen und Staatschefs vorgebracht. 608 So vor allem jüngst gegenüber der Interamerikanischen Menschenrechtskommission, siehe oben Zweiter Teil. 609 Zu Idee und Begriff dieser allerdings mit Blick auf das BVerfG O. Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 161 ff. 610 L. Wildhaber, Der Menschenrechtsgerichtshof für Europa – überlastet, überlastend oder gerade richtig?, menschenrechte konkret, Bd. 4, 2011, S. 11. 611 Zuweilen werden Methoden, Regeln und Prinzipien unterschieden, vgl. H. Senden, Interpretation of Fundamental Rights in a Multilevel Legal System. An Analysis of the European Court of Human Rights and the Court of Justice of the European Union, 2011, S. 43 ff. Mit der überwiegenden Mehrzahl der Literatur wird diese Differenzierung – wenngleich sinnvoll – nicht strikt nachvollzogen.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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a) Auslegungsmethoden des EGMR Ausgangspunkt ist zunächst die autonome Auslegung der Konvention, also die von den nationalen Rechtsordnungen unabhängige und eigenständige Interpretation ihrer Begrifflichkeiten und Normen612. Wollen die Konventionen nicht bloß nationalen Grundrechtsschutz reformulieren und soll der von ihnen angestrebte Schutz effektiv sein, ist diese Autonomie unausweichlich. Der Kontrollierbarkeit der Staaten ist damit zwangsläufig ein Moment der Unkontrollierbarkeit jener Institutionen immanent, die zu dieser Aufgabe berufen sind. Die autonome Auslegung erfolgt allerdings nicht vollständig losgelöst, weil der jeweilige Normgehalt in wertender Rechtsvergleichung ermittelt wird613 und im Grundsatz die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten berücksichtigt614 werden. Gleichwohl liegt in der autonomen Auslegung sowohl der Ausgangspunkt für eine Distanzierung vom historisch-subjektiven Willen der vertragsschließenden Staaten als auch die Grundlage für ein von den Rechtsordnungen losgelöstes, emanzipiertes Verständnis. Schließlich bildet sie die Grundlage zur Rechtsfortbildung durch den Gerichtshof615. In Anwendung der autonomen Auslegung begreift der EGMR seit der Entscheidung Tyrer v. Vereinigtes Königreich aus dem Jahre 1978 die EMRK als living instrument: „The Court must also recall that the Convention is a living instrument which (. . .) must be interpreted in the light of present-day conditions (. . .) the Court cannot but be influenced by the developments and commonly accepted standards.“ 616

Damit ist der Boden für eine dynamische und evolutive Interpretation bereitet. Eine solche Aktualisierung des Sinngehalts einer Norm aufgrund von Umweltänderungen ist selbstverständlich und nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten. Schließlich sind gesellschaftliche Entwicklung, Verständnis und Schutzniveau der Menschenrechte nicht statisch, sondern unterliegen über die Zeit Wandlungsprozessen. In Übereinstimmung damit sieht der EGMR sich auch nicht zwangsläufig an seine eigene Rechtsprechung, an seine Präjudize, gebunden617. 612

Vgl. statt vieler K. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 79 ff. ECHR, 28.06.1978, König v. Germany, No. 6232/73 Rn. 89. 614 Statt vieler ECHR, 08.06.1976, Engel et al. v. Netherlands, No. 5100/71, Rn. 82 sowie ECHR, 28.06.1978, König v. Germany, No. 6232/73, Rn. 89. 615 C. Grabenwarter/K. Pabel, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 11. 616 ECHR, 25.04.1978, Tyrer v. United Kingdom, No. 5856/72, Rn. 31 und seither ständige Rechtsprechung. 617 ECHR, 27.09.1990, Cossey v. United Kingdom, No. 10843/84, Rn. 35: „(. . .) the Court is not bound by its previous judgments; (. . .). However, it usually follows and applies its own precedents, such a course being in the interests of legal certainty and the orderly development of the Convention case-law. Nevertheless, this would not prevent the Court from departing from an earlier decision if it was persuaded that there were 613

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Von eminenter Bedeutung ist sodann die teleologische Auslegung. Angesichts des fragmentarischen und abstrakten Konventionstextes betont der Gerichtshof besonders Ziel und Zweck der Konvention, hebt bereits früh ihren außerordentlichen, vom traditionellen Völkerrecht abweichenden Charakter hervor, um einen optimalen Schutz zu erreichen: „Unlike international treaties of the classic kind, the Convention comprises more than mere reciprocal engagements between contracting States. It creates, over and above a network of mutual, bilateral undertakings, objective obligations which, in the words of the Preamble, benefit from a “collective enforcement“. 618

So objektiviert er den Vertragsinhalt, transportiert ihn aus dem Entstehungskontext heraus, versucht dessen Gehalt in der Gegenwart zu ermitteln und verschränkt auf diese Weise das evolutive Element mit dem teleologischen zu einer dynamisch-teleologischen Auslegungsmethode. In engem Zusammenhang mit der teleologischen Interpretation – im Grunde deren Konkretisierung und Präzisierung619 – steht auch die vom EGMR in Parallele zur effet utile-Orientierung des EuGH vorgenommene wirksamkeitssteigernde, „effektivitätssichernde Auslegung“ 620: „The Convention is intended to guarantee not rights that are theoretical or illusory but rights that are practical and effective.“ 621

Im Ergebnis nimmt der EGMR aufgrund seiner Interpretationsautonomie eine evolutiv-dynamische, effektivitätssichernde und vor allem teleologische Interpretation vor. Diese findet auch grundsätzliche Zustimmung und positivrechtlichen Rückhalt. So kann ihre Grundlage – wenngleich unter konventionseigener Akzentuierung – in den allgemeinen völkerrechtlichen Auslegungsgrundsätzen der Art. 31 ff. WVK erkannt werden, gemäß derer ein Vertrag „im Lichte seines Zieles und Zweckes“ auszulegen ist (Art. 31 Abs. 1 WVK), während dem historischen Entstehungskontext lediglich „ergänzende“ Bedeutung zukommt (Art. 32 WVK). Im Besonderen beziehen sich Gerichtshof wie Schrifttum auf den in der Präambel fixierten Auftrag, „eine engere Verbindung“ zwischen den Mitgliedern herzustellen und deshalb „die Wahrung und Fortentwicklung der Menschenrechte

cogent reasons for doing so. Such a departure might, for example, be warranted in order to ensure that the interpretation of the Convention reflects societal changes and remains in line with present-day conditions.“ 618 ECHR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, No. 5310/71, Rn. 239. 619 So K. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 104. 620 A. Peters/T. Atwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 2 Rn. 42. Grundlegend zu diesem Prinzip im Rahmen der EMRK, ECHR, 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, No. 14038/88, Rn. 87. 621 ECHR, 06.02.1982, Airey v. United Kingdom, No. 6289/73, Rn. 24. Vgl. dazu auch eingehend ECHR, 04.02.2005, Mamatkulov and Askarov v. Turkey, No. 46827/99, Rn. 93 ff., 101, 108, 121, 125.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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und Grundfreiheiten“ anzustreben, sowie auf Art. 19 EMRK, der den Gerichtshof ermächtigt, die „Einhaltung der Verpflichtungen sicherzustellen“ 622. Ferner verweist der Gerichtshof zu ihrer Begründung auf den besonderen Charakter der Menschenrechtskonvention als „kollektive Garantie“ 623 und ihren speziellen, nicht reziproken Charakter624. Gleichwohl geht der Gerichtshof aber weit über die anerkannten Grenzen der Interpretationsmethoden hinaus und dehnt die teleologische Auslegung „bis hin zur Ermächtigung zur Rechtsfortbildung“ aus625. Waren einst in dem Tyrer-Urteil mit den „commonly accepted standards“ noch lediglich jene der Konventionsstaaten gemeint, hat der EGMR auf diesen methodologischen Grundlagen für sich die Möglichkeit eröffnet, weit über die Konvention hinauszugreifen und andere völkerrechtliche Verträge zu berücksichtigen: „(. . .) the Court has never considered the provisions of the Convention as the sole framework of reference for the interpretation of the rights and freedoms enshrined therein.“ 626

So rekuriert er nicht nur auf das innerstaatliche Recht der Konventionsstaaten und die von ihnen geschlossenen völkerrechtlichen Verträge, sondern auch auf das außerhalb der Konvention liegende internationale Recht als solches627. Schließlich nimmt er für sich in Anspruch, die Konventionsstaaten für an Verträge und Vertragsauslegung gebunden zu erklären, die sie nicht ratifiziert haben: „In this context, it is not necessary for the respondent State to have ratified the entire collection of instruments that are applicable in respect of the precise subject matter of the case concerned. It will be sufficient for the Court that the relevant international instruments denote a continuous evolution in the norms and principles applied in international law or in the domestic law of the majority of member States of the Council of Europe and show, in a precise area, that there is common ground in modern societies (see, mutatis mutandis, Marckx, cited above, § 41).“ 628

622 Vgl. dazu etwa H.-J. Cremer, Regeln der Konventionsinterpretation, in: O. Dörr/ R. Grote/T. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG Konkordanzkommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2013, Kapitel 4, S. 162 ff. Rn. 35 ff.; P. Mahoney, Judicial Activism and Judicial Self-Restraint in the European Court of Human Rights: Two Sides of the Same Coin, Human Rights Law Journal 1990, S. 65. 623 M. w. N. ECHR, 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, No. 14038/88, Rn. 87. 624 Vgl. bereits oben grundlegend ECHR, 18.01.1978, Ireland v. United Kingdom, No. 5310/71, Rn. 239. 625 C. Grabenwarter/K. Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 12. Dazu auch ausführlich M. Breuer, Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des EGMR, ZÖR 2013, S. 729 ff. 626 ECHR, 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, No. 34503/97, Rn. 67. 627 ECHR, 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, No. 34503/97, Rn. 85. 628 ECHR, 12.11.2008, Demir and Baykara v. Turkey, No. 34503/97, Rn. 86.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Neben der Einbeziehung anderer völkerrechtlicher Verträge und der Konstituierung einer Rechtsbindung629 erhebt er zuweilen auch unverbindliches „soft law“ zum autoritativen Bestandteil der EMRK630. Ferner nutzt der Gerichtshof sein Selbstverständnis und seine Auslegungsinstrumente nicht nur, um Menschenrechtsstandards aus anderen Schutzverträgen zu importieren, sondern bezieht diese auch explizit auf die Kompetenznormen, maßt sich die vom historischen Konventionsgeber losgelöste eigenmächtige Disposition darüber an631. Dies führt unweigerlich zu einer – wenn auch sehr limitierten und bereichsspezifischen – Kompetenz-Kompetenz, der Festlegung des eigenen Befugnisbereiches und zu einer Erweiterung der eigenen sachlichen Zuständigkeit unter Beschränkung fremder Zuständigkeiten. Darin liegt ein Element der Selbstautorisierung632, das als Ursprung und Ausdruck der Entgrenzung gewertet werden kann. Im Ergebnis hat der EGMR auf Grundlage seines autonomen Verständnisses und mit dem Topos des living instruments 633 sowie der darauf gründenden evolutiven, dynamisch-teleologischen Interpretationsmethode einen Fundus an Argumentationsfiguren geschaffen, mit der er die von ihm unternommene Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung nicht nur legitim, sondern unausweislich erscheinen lässt. Schließlich erweckt doch eine aktualisierend-dynamische, Effektivität sichernde und teleologische Auslegung nicht nur den Eindruck zulässig, sondern geboten zu sein. Es ist die Rhetorik dieser Auslegungsmaximen, nicht ein Sachzwang, der dem Gerichtshof seine persuasive Kraft verleiht. Unter dieser Einkleidung geht der EGMR aber nicht nur „hart an die Grenzen gerichtlicher Befugnisse“ 634, sondern unternimmt anerkanntermaßen die „Überschreitung der

629 Beispielhaft auch ECHR, 07.01.2010, Rantsev v. Cyprus and Russia, No. 25965/ 04, Rn. 282. Obgleich Russland die „Council of Europe Convention on Action against Trafficking in Human Beings“ nicht ratifiziert hat, wurde diese als Maßstab zur Auslegung des Art. 4 EMRK herangezogen. 630 ECHR, 07.07.2011, Bayatyan v. Armenia, No. 23459/03, Rn. 107. 631 ECHR, 23.03.1995, Loizidou v. Turkey, No. 15318/89, Rn. 71. 632 Vgl. dazu bereits Dritter Teil, C. 633 Treffend stellt S. Fish, Das Recht möchte formal sein, in: H. Bude/M. Dellwing (Hrsg.), Das Recht möchte formal sein, 2008, S. 276, in Bezug auf das Pendant der „lebendigen Verfassung“ fest: „Die These der „lebendigen Verfassung“ bringt sich selbst aus dem Spiel, da es sich überhaupt nicht mehr um eine Beschreibung von Interpretation handelt. Sie ist vielmehr eine Empfehlung, Interpretation zugunsten der Wünsche des Interpreten aufzugeben.“ 634 C. Grabenwarter/K. Pabel, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 13 mit Verweis auf F. Matscher, Methods of interpretation of the Convention, in: R. St. J. Macdonald et al. (Hrsg.), The European System for the Protection of Human Rights, 1993, S. 69 f. Dazu grundsätzlich auch M. Breuer, Zulässigkeit und Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung in der Rechtsprechung des EGMR, ZÖR 2013, S. 729 ff.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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Grenzen üblicher (verfassungs)gerichtlicher Befugnisse“ 635. Aktualisierung einer Norm und Anhebung eines Standards sind nämlich zu unterscheiden und etwas kategorial anderes als die Neuschaffung normativer Verpflichtungen oder die Erstreckung dieser aufgrund eines Trends636. Somit nutzt der Gerichtshof die obfuskativen Auslegungstopoi und -formeln also für die Expansion seiner Kontrolltätigkeit und die Einhegung des einzelstaatlichen Handelns. Seine spezifische Auslegungsmethodik fungiert gewissermaßen als „Inkompetenzkompensation“ (O. Marquard) bzw. Kompetenzarrogation. Autonomie, Evolution, Dynamik und Telos zielen allesamt gleichermaßen auf das eine: die Distanzierung und Emanzipation des Konventionssystems von dem historisch-subjektiven Willen der Staaten und ihren Rechtsordnungen zur Herausbildung eines genuin eigenen Maßstabes. Diese Form der „Textentfernung“ lässt sich neutral als Emanzipation, kritisch als Entgrenzung deuten und verstärkt die aufgezeigte Legitimationsproblematik zusätzlich. b) Auslegungsmethoden des IAGH Die Auslegungsmethoden des Interamerikanischen Gerichtshofes gleichen im Grundsatz denen des Europäischen Gerichtshofes, sind diesen ohne weitere Modifikation nachempfunden. So basiert auch seine Interpretation auf einem autonomen Verständnis der Konvention, da es sonst zu einer Fragmentierung des „international legal order of human rights protection“ käme637.Auch der IAGH begreift die AMRK als living instrument, deren Normen notwendig aktualisierend-dynamisch auszulegen sind. Unter Bezugnahme auf den Internationalen Gerichtshof und den EGMR führt er zusammenfassend aus: „This guidance is particularly relevant in the case of international human rights law, which has made great headway thanks to an evolutive interpretation of international instruments of protection. That evolutive interpretation is consistent with the general rules of treaty interpretation established in the 1969 Vienna Convention. Both this Court, in the Advisory Opinion on the Interpretation of the American Declaration of the Rights and Duties of Man (1989), and the European Court of Human Rights, in Tyrer v. United Kingdom (1978), Marckx v. Belgium (1979), Loizidou v. Turkey (1995), among others, have held that human rights treaties are living instruments whose interpretation must consider the changes over time and present-day conditions.“ 638 635 C. Grabenwarter/K. Pabel, Die Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 5 Rn. 11. 636 Vgl. etwa ECHR, 11.07.2002, Goodwin v. United Kingdom, No. 28957/95, Rn. 54 f. und 84 f. 637 IACHR, 01.09.2001, Hilaire v. Trinidad and Tobago, Series C, No. 80, Rn. 93. 638 IACHR, 01.10.1999, The Right to Information on Consular Assistance in the Framework of the Guarantees of the Due Process of Law, Advisory Opinion OC-16/99, Series A, No. 16, Rn. 114. IACHR, 31.08.2001, Mayagna (Sumo) Awas Tingni Community v. Nicaragua, Series C, No. 79, Rn. 146.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Auch das effet utile-Prinzip hat der IAGH unter Verweis auf die Soering-Entscheidung des EGMR und gleichartiger Charakterisierung des Konventionssystems als besonderen, nicht reziproken Vertrag in Form einer „kollektiven Garantie“, rezipiert639. Schließlich nimmt der IAGH für sich auch eine KompetenzKompetenz in Anspruch640. Gar für ein tendenziell grenzenloses Verständnis tritt Richter A. A. Cançado Trindade ein: „In the domain of the international protection of human rights, there are no ,implicit‘ limitations to the exercise of the protected rights; and the limitations set forth in the treaties of protection ought to be restrictively interpreted.“ 641

Gleichen die Interpretationsmethoden des IAGH jenen des EGMR, ist seine positivrechtliche Grundlage doch weiter gefasst und deutlich expliziter. Parallel zu Art. 19 EMRK ist auch ihm gemäß Art. 33 AMRK die Überwachung der Einhaltung der Konventionsverpflichtungen anvertraut. Zusätzlich dazu legitimiert sich seine zum Teil extensive Konventionsinterpretation aber aus der besonderen Unterwerfungserklärung der Staaten nach Art. 62 Abs. 1 AMRK und der extrem weit gefassten Kompetenz zu Interpretationsfragen sämtlicher Menschenrechtsschutzverträge aus Art. 64 Abs. 1 AMRK. Schließlich deutet auch Art. 29 AMRK, insbesondere dessen Ziffer c), die Erlaubnis zu einer weiten Auslegung unter gleichzeitiger Begrenzung an. Diese Norm statuiert das Verbot, die Konvention so auszulegen, als präkludiere sie „other rights or guarantees that are inherent in the human personality or derived from representative democracy as a form of government“. Während der zweite Satzteil die Interpretation auf den Kreis der durch den demokratischen Gesetzgeber konzedierten Rechte beschränkt und für eine restriktive Auslegung spricht, lässt sich dem ersten Satzteil durch den Verweis auf die dem Menschen angeborenen, natürlichen Rechte eine sehr weite Interpretationsermächtigung entnehmen. Insgesamt steht mit dem Normenensemble aus Art. 29, 33, 62 Abs. 1, 63 Abs. 1 und 64 Abs. 1 AMRK zumindest ein weiteres Fundament zur Legitimation extensiver Auslegungspraxis zur Verfügung als im europäischen Pendant. 2. Rechtsfortbildung und Rechtskreation als Entgrenzungsphänomene Die in der Methodik angelegte und vorbereitete Entgrenzung findet ihre Realisation und Fortsetzung auch in der Rechtsprechungspraxis, wie nachfolgend 639 IACHR, 24.09.1999, Ivcher Bronstein v. Peru, Serie C, Nr. 54, Rn. 37 und 45. IACHR, 24.09.1999, Constitutional Court v. Peru, Series C, No. 55, Rn. 36. IACHR, 01.09.2001, Benjamin et al. v. Trinidad and Tobago, Series C, No. 81, Rn. 74. 640 IACHR, 01.09.2001, Hilaire v. Trinidad and Tobago, Series C, No. 80, Rn. 78 sowie ausdrücklich und ausführlich dazu das Sondervotum von Richter A. A. Cançado Trindade in diesem Urteil, Rn. 2 ff.; IACHR, 24.09.1999, Constitutional Court v. Peru, Series C, No. 55, Rn. 31. und 33. 641 IACHR, 01.09.2001, Hilaire v. Trinidad and Tobago, Series C, No. 80, Sep. Op. A. A. Cançado Trindade, Rn. 17.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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exemplarisch aufgezeigt wird. Damit soll nicht konstatiert sein, dass die Gerichtshöfe ultra vires gehandelt hätten oder die korrekturbedürftige Unrechtmäßigkeit bzw. der Ungerechtigkeitsgehalt im Einzelfall bestritten werden. Die Aufführung erhebt auch nicht den Anspruch, „vollständig“ oder „abschließend“ 642 zu sein. Vielmehr soll, anhand einiger repräsentativer Judikate, die grundlegend problematische Entwicklung illustriert werden, dass die mangelnde Selektivität eine Vereinnahmung sämtlicher Rechtsbereiche durch den regionalen Menschenrechtsschutz begründet. So erscheinen Korrekturbedürftigkeit und Interventionsberechtigung unter dem Gesichtspunkt, dass es sich zum einen um eine suprastaatliche Kontrolle handelt, zum anderen diese den Menschenrechtsschutz beabsichtigt bzw. diesem verpflichtet ist, fragwürdig. Es mangelt zuweilen – zumindest im europäischen System – an einer gewissen Mindestschwere. Konsequenz der überstaatlichen Korrektur ist eine unnötige Ausdifferenzierung643. Die ohnehin spezifischen Legitimationsprobleme des regionalen Menschenrechtsschutzes verschärfen sich dadurch. Wenngleich nicht trennscharf, lassen sich die Entgrenzungsphänomene insbesondere vier Bereichen zuordnen: Schutz- und Leistungspflichten, Schutzbereichsexpansion- und Garantiekreation, Bagatellfälle und Trivialverletzungen sowie mehrpolige Grundrechtskonstellationen. a) Grenzverlust in der Praxis des EGMR Grenzüberschreitungen lassen sich insbesondere im Bereich der Schutzpflichten und Leistungspflichten identifizieren. Dies ist dadurch zu erklären, dass die EMRK in erster Linie negatorisch-abwehrrechtlich konzipiert ist. Die positiven Verpflichtungen der Staaten aus der Europäischen Menschenrechtskonvention sind folglich vornehmlich ein Produkt schöpferischer Rechtsprechung des EGMR644, wodurch die Entgrenzungsproblematik vorgegeben ist. Ein Beispiel 642 Auf eine Vielzahl der nachfolgend angeführten Beispiele ist der Verfasser durch A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, aufmerksam geworden. Wertvolle Hinweise verdankt er M. Burbergs von der Universität Gent, der über die „Inflationierung“ der Rechte in der Rechtspraxis des EGMR forscht. Zur „Inflationierung“ von Menschenrechten in der EMRK, G. Letsas, A Theory of Interpretation of the European Convention on Human Rights, 2007, S. 120 ff. 643 So etwa J. Gerards, The scope of the ECHR rights and institutional concerns. The relationship between proliferation of rights and the case load of the ECHR, in: E. Brems/J. Gerards (Hrsg.), Shaping Rights in the ECHR, 2013, S. 84 ff. 644 Die Rolle bei der Entwicklung betonend insbesondere A. R. Mowbray, The Development of Positive Obligations under the European Convention on Human Rights by the European Court of Human Rights, 2004. Grundlegend zu positiven Verpflichtungen auch, C. Dröge, Positive Verpflichtungen der Staaten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, 2003. Grundlegende Urteile sind insoweit ECHR, 13.06.1979, Marckx v. Belgium No. 683374 Rn. 31 und ECHR, Young, 13.08.1981, James and Webster v. United Kingdom No. 7601/76 Rn. 49.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

bildet die Zubilligung von sozialen Leistungspflichten, obgleich solche in der EMRK nicht vorgesehen sind. Diese leitet der Gerichtshof etwa in Ausnahmefällen für einzelne, besonders schutzbedürftige Personengruppen aus Art. 3 EMRK ab, obgleich der Wortlaut der Norm unmissverständlich den Charakter des status negativus trägt. So hat er einen Anspruch auf Wohnmöglichkeiten und eine materielle Mindestversorgung für Asylbewerber statuiert und in dessen Missachtung eine Konventionsverletzung gesehen645. Während hier die Menschenwürdeorientierung die Rechtsfortbildung über den expliziten Wortlaut der EMRK hinaus zumindest noch verständlich werden lässt, gilt dies nicht uneingeschränkt für alle Bereiche der extensiven Fortentwicklung. Beispielhaft sind die Schutzpflichten im Hinblick auf bestimmte Vereinigungen oder der vom Gerichtshof entwickelte Anspruch auf Akteneinsicht in familienrechtlichen Streitigkeiten646. Ebenso fragwürdig ist etwa der Fall Danilenkov v. Russland, in dem der Gerichtshof eine Verletzung des ohnehin schwachen, dogmatisch erst konzipierten Diskriminierungsverbotes aus Art. 14 i.V. m. Art. 11 EMRK dadurch annahm, dass gegen Diskriminierungen wegen Gewerkschaftszugehörigkeit in Russland kein zivilgerichtlicher Schutz bestand647. Noch weiter greift die Expansion des EGMR in Khurshid Mustafa und Tarzibachi v. Schweden aus: Er sah in der durch die schwedischen Gerichte bestätigten mietrechtlichen Kündigung wegen Weigerung des Rückbaus einer TV-Satellitenschüssel eine Verletzung des Rechts auf Informationsfreiheit aus Art. 10 EMRK, weil die irakische Immigrantenfamilie diese zum Empfang von arabischen Fernsehprogrammen und Sendungen in Farsi benötigt hätte648. Trotz ausdrücklicher Anerkennung der rein privatrechtlichen Natur des Streitgegenstandes649, der Bemühung der margin of appreciation650 und Sub-

645 ECHR, 21.01.2011, M. S. S. v. Belgium and Greece, No. 30696/09, Rn. 235 ff., insbesondere Rn. 263 f. Dazu A. v. Arnauld, Konventionsrechtliche Grenzen der EUAsylpolitik, EuGRZ 2011, S. 238 ff. 646 ECHR, 10.05.2001, T. P. and K. M. v. United Kingdom, No. 28945/95, Rn. 73 und 83. Auch hier gingen Ausführungen über die Subsidiarität bzw. die Sachnähe der nationalen Behörden und die Konzedierung einer margin of appreciation voran, ohne erkennbar signifikanten Einfluss auf das Ergebnis zu haben, vgl. Rn. 71 f. 647 ECHR, 30.07.2009, Danilenkov v. Russia, No. 67336/01, Rn. 135 f. 648 ECHR, 16.12.2008, Khurshid Mustafa u. Tarzibachi v. Sweden, No. 23883/06. 649 Der Gerichtshof erkannte zwar zunächst, dass es sich um ein Privatrechtsverhältnis handelte, zog daraus aber dennoch nicht die gebotene Konsequenz, sich – auch angesichts der mangelden Eingriffsintensität – in Zurückhaltung zu üben: „Admittedly, the Court is not in theory required to settle disputes of a purely private nature. That being said, in exercising the European supervision incumbent on it, it cannot remain passive where a national court’s interpretation of a legal act, be it a testamentary disposition, a private contract, a public document, a statutory provision or an administrative practice appears unreasonable, arbitrary, discriminatory or, more broadly, inconsistent with the principles underlying the Convention.“, ECHR, 16.12.2008, Khurshid Mustafa u. Tarzibachi v. Sweden, No. 23883/06, Rn. 33. 650 ECHR, 16.12.2008, Khurshid Mustafa u. Tarzibachi v. Sweden, No. 23883/06, Rn. 42 und 50.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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sidiaritätsbekundungen651 stellte der EGMR im Ergebnis eine Konventionsverletzung fest652. Insbesondere die zuletzt angesprochenen Entscheidungen fallen in einem weiteren Punkt unter die Kategorie der Entgrenzung: sie sind bei aller Bedeutsamkeit für die Klageberechtigten in menschenrechtlicher Hinsicht doch eher als Bagatellfälle zu klassifizieren. Die überschießende Kontrolldichte und Entscheidungsreichweite653 führt die Gefahr der Trivialisierung mit sich654. Es ist sehr zweifelhaft, ob es Aufgabe eines überstaatlichen Menschenrechtsgerichtshofes ist, derartige Bagatelldefizite zu identifizieren und der Dispositionsgewalt des demokratischen Gesetzgebers Vorgaben zu machen. Mag seine Legitimität dadurch auch erstarken, strapaziert es doch seine Legitimation. Der EGMR täte gut daran, den Grundsatz de minimis non curat praetor strikter zur Anwendung zu bringen655. Mit der Neufassung des Art. 35 Abs. 3 b) EMRK durch das 14. Zusatzprotokoll, das einen erheblichen Nachteil („significant disadvantage“) verlangt, ist auch ein positivrechtlicher Anknüpfungspunkt hierfür gegeben656.

651 ECHR, 16.12.2008, Khurshid Mustafa u. Tarzibachi v. Sweden, No. 23883/06, Rn. 43, „The Court’s task in exercising its supervisory function is not to take the place of the competent domestic courts (. . .).“ 652 Die Parallele zum deutschen Verfassungsrecht könnte augenscheinlicher nicht sein. So ist seit BVerfGE 90, 27 ff. geklärt, dass das Recht auf Informationsfreiheit zu beachten ist und ein Anspruch des ausländischen Mieters auf Anbringung einer Parabolantenne zum Empfang von Heimatsendern besteht. In dieser Parallele liegt zugleich ein Indiz der „Konstitutionalisierung“ und der Subsidiaritätstranszendenz. 653 Zur überschießenden Entscheidungsreichweite begriffsbildend im deutschen Verfassungsrecht, O. Lepsius, Zur Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen, in: R. Scholz u. a. (Hrsg.), Realitätsprägung durch Verfassungsrecht. Kolloquium aus Anlass des 80. Geburtstags von Peter Lerche, 2008, S. 104 f. 654 Exemplarisch ist jüngst auch ECHR, 18.09.2012, Bjelalac v. Serbia, No. 6282/06, in der der Gerichtshof eine Verletzung von Art. 1 des Zusatzprotokolls Nr. 1 darin erkannte, dass der Staat ein letztinstanzliches Zivilrechtsurteil aufgrund eines undichten Daches nicht durchgesetz hatte und sah darin eine Eigentumsverletzung. 655 Erfolgt ist dies in ECHR, 19.01.2010, Bock v. Germany, Nr. 22051/07. Der Gerichtshof sah mit Recht in der Beschwerde eines deutschen Beamten gegen die Verweigerung der Rückerstattung von 7,99 A für Magnesiumtabletten angesichts dessen Monatseinkommens von 4.500 A, des Umstandes, dass es sich nicht um Medikamente, sondern um Nahrungsergänzungsmittel handelte und der Zahl anhängiger Beschwerden beim Gericht, einen Missbrauch im Sinne des Art. 35 III EMRK a. F. 656 Der Gerichtshof hat davon bereits Anwendung gemacht in ECHR, 01.07.2010, Korolev v. Russia, No. 25551/05, in der es um den Anspruch des Beschwerdeführers auf Zahlung von 22,50 Rubel ging und der eine Verletzung von Art. 6 I EMRK geltend machte. Aufgrund des geringen Wertes („petty amount“) und der Bedeutungslosigkeit („minimal significance“) hat der EGMR die Beschwerde unter Erwähnung des „de minimis“-Grundsatzes abgewiesen. Beispielhaft ist auch ECHR, 01.06.2010, Ionescu v. Romania, No. 36659/04, in der es um die Zahlung von 90 A ging. All diese Fälle erinnern eher an H. v. Kleists „Michael Kohlhaas“ als an rügebedürftige Menschenrechtsverletzungen.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Dies bedeutet zugleich, dass selbst dann, wenn in einigen Fällen der EGMR keinen Verstoß gegen die EMRK erkannte, allein der Beschäftigung mit dem Fall eine Entgrenzung immanent ist. Anschauliches und kontrovers diskutiertes Beispiel eines Bagatellfalls aufgrund überschießender Kontrolldichte und Entscheidungsreichweite ist auch der Fall Heinisch v. Deutschland, der den nationalen Entscheidungsspielraum durch suprastaatliche Vorgaben massiv verkürzt, ohne dass dem eine krasse Menschenrechtsverletzung rechtfertigend gegenüber stünde. In Rede stand das sogenannte „Whistleblowing“, also die Enthüllung oder Preisgabe von bestimmten Informationen und etwaigen Missständen. Der Gerichtshof erkannte hier in der Kündigung durch den Arbeitgeber gemäß § 626 Abs. 1 BGB eine Verletzung der Informationsfreiheit nach Art. 10 EMRK, weil es trotz offensichtlich geschäfts- und rufschädigenden Verhaltens der Arbeitnehmerin das Interesse der Öffentlichkeit an der Offenlegung der Informationen als überragend ansah. Konsequenzen daraus sind insbesondere weit in die nationale Rechtsordnung hineinreichende arbeitsrechtliche Folgeprobleme in Hinblick auf die Loyalitätspflicht des Arbeitnehmers und die Sanktionierung etwaiger Verstöße gegen diese. Auch der Fall Sigurdur A. Sigurjonsson v. Island, in dem es um die Zwangsmitgliedschaft in einer Taxifahrervereinigung ging, die nach Ansicht des EGMR die Vereinigungsfreiheit nach Art. 11 EMRK in ihrer negativen Dimension verletzte657, lässt keine signifikante Menschenrechtsverletzung erkennen. Ähnliches gilt für das Verbot des EGMR bezüglich sog. „closed shop“-Vereinbarungen. Aufgrund der negativen Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK sind derartige Verpflichtungen der Arbeitgeber, Arbeitnehmer, die nicht der Gewerkschaft beitreten, zu entlassen, konventionsrechtswidrig658. Zumindest Zweifel an der überstaatlichen Menschenrechtsrelevanz bestehen auch im Fall Jankovskis v. Litauen, indem die passive Informationsfreiheit aus Art. 10 EMRK dadurch betroffen war, dass Gefängnisinsassen der Zugang zu Zeitungen und Internet verwehrt wurde659. Als eines überstaatlichen Menschenrechtsgerichtshofes unwürdig und mithin entgrenzt vermag auch der Fall Herrmann v. Deutschland 660 angesehen werden, in dem es um die Duldung der Jagd aufgrund automatischer Mitgliedschaft in einer Jagdgenossenschaft ging, obwohl der Grundstückseigentümer diese aus ethischen Gründen ablehnte. Im Ergebnis nahm der EGMR eine Verletzung des Eigentumsrechts aus Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK an.

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ECHR, 30.06.1993, Sigurdur A. Sigurjonsson v. Island, No. 16130/90, Rn. 35. Vgl. ECHR, 13.08.1980, Young, James and Webster v. United Kingdom, No. 7601/76. 659 ECHR, 27.09.2010, Jankovskis v. Lithuania, No. 21575/08. 660 ECHR, 26.06.2012, Herrmann v. Germany, No. 9300/07. Die Entscheidung hat ihre Grundlage in ECHR, 28.04.1999, Chassagnou et al. v. France, Nr. 25088/94, 2833195, 28443/95. 658

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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Eine weitere fragwürdige Ausweitung des Menschenrechtsschutzes erfolgt durch Schutzbereichsexpansion. Erkennbar ist dies etwa in der Einbeziehung von Werbung in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit nach Art. 10 EMRK661, deren menschenrechtliche Schutzwürdigkeit grundsätzlich bezweifelt werden kann. Fragwürdig ist auch die mit dem Urteil Eskelinen v. Finnland 662 vollzogene Rechtsprechungsänderung, nach der nunmehr arbeitsrechtliche Streitigkeiten des öffentlich rechtlichen Dienstverhältnisses weitestgehend in den Schutzbereich des Art. 6 EMRK einbezogen werden, hierfür sogar eine Vermutung besteht663. Bezüge und Zulagen, Urlaubs- und Pensionsansprüche unterliegen mithin zukünftig der potentiellen Letztkontrolle durch den EGMR. Dies illustriert nicht nur die Schutzbereichsexpansion des Art. 6 Abs. 1 EMRK, sondern kann zugleich auch als ein Beispiel der bereits angedeuteten Trivialisierung der Menschenrechte eingeordnet werden. Ähnliches gilt für die Ausweitung des Art. 6 Abs. 1 EMRK im Hinblick auf einzelne Sozialrechtsstreitigkeiten wie etwa die zusätzliche Hinterbliebenenrente einer Witwe eines deutschen Beamten664 oder die Ausgestaltung der Gewährung von Arbeitslosenhilfe665. Als problematisch erweist sich zuweilen auch die Erfassung des Ordnungswidrigkeitsrechts durch Art. 6 Abs. 1 EMRK, wenngleich die rechtssystematische Einordnung dieser Rechtsmaterie als strafrechtliches Verfahren durch den EGMR grundsätzlich unbedenklich ist. Beispielhaft ist der Fall Kadubec v. Slowakei666, in dem es um eine Buße wegen Störung der öffentlichen Ordnung in einer Badeanstalt ging. Aus menschenrechtlicher Hinsicht Bagatellcharakter ist auch der Verhängung von Strafpunkten wegen Verkehrsverstößen zu attestieren, die der Fall Malige v. Frankreich667 zum Gegenstand hatte. Auch dieser Schutzbereichsexpansion des Art. 6 I EMRK ist eine Banalisierung inhärent. Trotz der hohen Bedeutung der Verfahrensgarantie aus Art. 6 Abs. 1 EMRK zum Schutz vor Willkür und als Ausdruck der Rule of Law 668

661 Vgl. ECHR, 05.03.2009, Hachette Filipacchi Presse Automobile and Dupuy v. France, No. 13353/05, Rn. 29 f.; ECHR, 05.03.2009, Sociéte de Conception de Presse et d’Edition et Ponson v. France, No. 26935/05, Rn. 33 f., ECHR, 24.02.1994, Casado Coca v. ESP, No. 15450/89, Rn. 33 ff., der Inserate eines Anwaltes nach dem spanischen Rechtsanwaltgesetz, dem Statut der Anwaltskammer von Barcelona betraf. Der EGMR nahm im Ergebnis allerdings keine Verletzung von Art. 10 EMRK an. Allgemein zu diesem Thema, A. Hatje, Wirtschaftswerbung und Meinungsfreiheit, 1993. G. Nolte, Werbefreiheit und Europäische Menschenrechtskonvention, RablesZ 63 (1999), S. 507. 662 ECHR, 19.04.2007, Eskelinen v. Finland, No. 63235/00. 663 A. Peters/T. Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, § 19 Rn. 11. 664 ECHR, 29.05.1986, Deumeland v. Germany, No. 9384/81, Rn. 60 ff. 665 ECHR, 07.04.2009, Mendel v. Sweden, No. 28426/06, Rn. 42 ff. 666 ECHR, 02.09.1998, Kadubec v. Slovakia, No. 27061/95, Rn. 50 ff. 667 ECHR, 23.09.1998, Malige v. France, No. 27812/95, Rn. 39. 668 Vgl. zum Wert von Art. 6 I EMRK, ECHR, 17.01.2008, Ryakib Biryukov v. Russia, No. 14810/02, Rn. 37.

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sowie eingedenk der verhältnismäßig detaillierten und umfassenden Regelung ergeben sich berechtigte Zweifel, ob eine derartige Dehnung des Art. 6 Abs. 1 EMRK erforderlich ist. Exempel par excellence für eine extensive Schutzbereichsinterpretation, die zu einer Kreation neuer Menschenrechtsgarantien führt, ist die Fortentwicklung des Rechts auf Schutz der persönlichen Lebensgestaltung nach Art. 8 EMRK durch den EGMR. In Ermangelung eines Rechts auf allgemeine Handlungsfreiheit hat er daraus regelrecht eine Art Auffanggarantie entwickelt. Während Art. 8 EMRK mit der Achtung des Privatlebens, des Familienlebens, der Wohnung und der Korrespondenz vier eindeutige Schutzbereiche benennt, sind im Laufe der Zeit judikativ weitere Schutzbereiche angefügt worden. Zweifelsohne begründet der fragmentarische Charakter menschenrechtlicher Normen die Notwendigkeit einer ergänzend-aktualisierenden Auslegung etwa im Hinblick auf neue Medien und moderne Telekommunikationsformen. Die unternommene Erweiterung des Art. 8 EMRK zu einer umfassenden Freiheitsgarantie, einer „allgemeinen Handlungsfreiheit“, stößt indes – ungeachtet der statuierten Bagatellgrenze669 – auf berechtigte Zweifel. Dies liegt primär daran, dass damit potentiell jedes staatliche Handeln Menschenrechtsrelevanz erhält670. Eindringliches Beispiel für die Schutzbereichsextension ist zunächst die Herleitung eines Rechts auf Umweltschutz aus Art. 8 EMRK. Dies gilt schon deshalb als problematisch, weil Art. 8 EMRK unverkennbar ein den Privatheitsschutz bezweckendes Individualgrundrecht ist, Umweltschutz hingegen tendenziell ein Kollektivrecht der dritten Generation ist. Der subjektive Gehalt wird objektiviert, geht in diesem auf. Das schwächt die im Individualrechtsschutz entspringende legitimatorische Kraft des Gerichts und droht Recht und Politik bedenklich weit ineinander zu schieben. Zudem hat der Gerichtshof dieses Recht als – dogmatisch schwächere – Schutzpflicht des Staates durch Unterlassen entwickeln müssen, weil die meisten Umweltauswirkungen von Privatrechtssubjekten ausgehen. Demgemäß hat er in Fadeyeva v. Russland einen Verstoß gegen Art. 8 EMRK angenommen, weil die Emissionen eines Eisenhüttenwerkes die zulässigen Grenzwerte dauerhaft überstiegen und der bestehenden Pflicht zur Umsiedlung nicht entsprochen worden ist671. Wenngleich der Gerichtshof grundsätzlich anerkennt, dass dem Einzelnen kein Recht auf eine saubere Umwelt 669 So hat der Gerichtshof keine Verletzung nach Art. 8 EMRK in dem Umstand erkannt, dass den Eltern eines Kindes eine gewisse Namensgebung untersagt worden ist, vgl. ECHR, 24.10.1996, Guillot v. France, No. 22500/93, Rn. 23 ff. oder im Tragen von Handschellen durch Gefängnisinsassen, vgl. ECHR, 16.12.1997, Ranninen v. Finland, No. 20972/92, Rn. 64. 670 Parallel dazu ist im deutschen Recht die sog. „Elfes“-Entscheidung zu sehen, BVerfGE 6, 32 mit der auch das BVerfG prinzipiell jeden Akt öffentlicher Gewalt für grundrechtsrelevant erklärt hat. 671 ECHR, 09.06.2005, Fadeyeva v. Russia, No. 55723/00.

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zusteht672, er immer wieder seine Subsidiarität betont und die Kontrolle auf evidente innerstaatliche Fehleinschätzungen beschränkt673, hat er eine Vielzahl emissionsrechtlicher Entscheidungen getroffen. So hat er etwa im Hinblick auf eine Abfallentsorgungsanlage674, eine ehemalige Mülldeponie675, Lärmemissionen des Flughafens London Heathrow676, Emissionen einer Kohlemine und -fabrik677 sowie Staubpartikeln durch Dieselfahrzeuge678 judiziert. Im Zusammenhang mit dem Recht auf Umweltschutz hat der Gerichtshof auch diverse Verfahrens-679 und Informationspflichten680 geschaffen. Einen Ausblick auf weitere, zukünftig mögliche umweltbezogene Ausdehnungen der Konventionsgarantie bieten schließlich die Sondervoten. So sah Richter P. Pinto de Albuquerque in Herrmann v. Deutschland auch Tiere als von der Menschenrechtskonvention geschützt an681. Ferner hat der EGMR auch den Schutz der Berufsfreiheit als von Art. 8 EMRK umfasst angesehen. Obwohl sich die Berufsfreiheit noch als Annex oder Konnex des Privatheitschutzes deuten lässt, begegnet auch diese Anerkennung und Zuordnung682 Bedenken, bietet dafür der Wortlaut des Art. 8 EMRK doch keinerlei Anhaltspunkte. Eine Kreation von „neuen“ Grund- und Menschenrechten durch Rechtsfortbildung bildet auch der sog. Soering-Grundsatz. Danach kann eine Auslieferung bzw. Ausweisung einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK bedeuten, sofern die Behandlung im Empfangsstaat ihrerseits hypothetisch gegen Art. 3 EMRK verstieße683. Obgleich die EMRK ein Asylrecht nicht kennt, hat der EGMR insofern eine Art „Ersatzasylrecht“ (K. Hailbronner) geschaffen und in seiner nachfolgenden Rechtsprechung entfaltet. Als ein Interim zwischen Schutzbereichsexpansion und Neuschöpfung einer Garantie erscheint die Anerkennung der in der EMRK nicht erwähnten „Kunstfreiheit“, die der EGMR in dem Recht auf Meinungsäußerung verankert sieht. Sie umfasst verschiedene Gattungen wie bildende Kunst, Literatur und Film672

ECHR, 09.06.2005, Fadeyeva v. Russia, No. 55723/00, Rn. 68. ECHR, 09.06.2005, Fadeyeva v. Russia, No. 55723/00, Rn. 105 sowie ECHR 10.11.2004, Taskin et al. v. Turkey, No. 46117/99, Rn. 117. 674 ECHR, 09.12.1994, López Ostra v. Spain, No. 16798/90. 675 ECHR, 07.04.2009, Branduse v. Romania, No. 6586/03. 676 ECHR, 08.07.2003, Hatton v. United Kingdom, No. 36022/97. 677 ECHR, 10.02.2011, Dubetska et al. v. Ukraine, No. 30499/03. 678 ECHR, 12.05.2009, Greenpeace et al. v. Germany, No. 18215/06. 679 ECHR, 03.07.2007, Gaida v. Germany, No. 32015/02. 680 ECHR, 19.02.1998, Guerra v. Italy, No. 14967/89. 681 Partly concurring and partly dissenting opinion of Judge Pinto de Albuquerque, in: ECHR, 26.06.2012, Herrmann v. Germany, No. 9300/07. 682 Vgl. ECHR, 27.07.2004, Sidabras et al. v. Litauen, No. 55480/00, Rn. 47 ff. 683 ECHR, 07.07.1989, Soering v. United Kingdom, No. 14038/88. 673

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

kunst684. Gleichwohl ist zu konzedieren, dass der EGMR diese eng auslegt und im Besonderen künstlerisch artikulierte Kritik an Politik und Regierung schützt. Kunst fungiert in diesen Fällen allerdings primär nur als Medium zur Meinungsäußerung, so dass die Auffassung des EGMR durchaus verständlich erscheint. Parallel dazu findet die Wissenschaftsfreiheit ebenfalls keine positivrechtliche Grundlage in der EMRK, wird aber vom EGMR als von Art. 10 EMRK umfasst angesehen. Bedeutung erlangt hat etwa der Fall Hertel v. Schweiz 685, in dem es um das Publikationsverbot und die Wettbewerbsgesetzwidrigkeit der Behauptung ging, dass in Mikrowellen erhitzte Speisen gesundheitsschädlich seien. Die Entscheidung kann zugleich auch als Bagatellverletzung klassifiziert werden. Gleiches gilt für den Fall Lombardi Vallauri v. Italien, der die Bewerbung eines Forschers auf eine Neuausschreibung nach über 20-jähriger Lehrtätigkeit an einer katholischen Universität in Form von Zeitverträgen zum Gegenstand hatte und die nicht erneut berücksichtig wurde, weil seine Anschauungen im Widerspruch zur katholischen Lehre standen686. Ferner hat der Gerichtshof zahlreiche Ansprüche und Rechte geschaffen – dies insbesondere auch im Hinblick auf die von der EMRK nicht positivrechtlich umfassten wirtschaftlichen und sozialen Rechte, wie ein Recht auf eine Minimalrente oder ein Recht auf Gesundheitsversorgung, die partiell als unmittelbar aus der Konvention ableitbar angesehen werden687. Die Zweifelhaftigkeit dieser vom EGMR erschaffenen, ungeschriebenen Konventionsgarantien liegt in dem Umstand, dass eine Erweiterung des Normbestandes nicht durch den EGMR erfolgen sollte, sondern hierfür die Möglichkeit besteht, Zusatzprotokolle zu ratifizieren. Die Figur der „inherent power“ stößt deshalb von vornherein nur auf begrenzte Überzeugungskraft. Als weiterer Entgrenzungstypus erweisen sich tendenziell sog. mehrpolige Grundrechtskonstellationen. Prominentes Beispiel ist der Fall C. v. Hannover v. Deutschland 688, in dem es um das in Boulevardzeitungen veröffentlichte Recht am eigenen Bild ging. Die Presse- und Meinungsfreiheit stand hier dem Recht auf Privatheit gegenüber. Zwar ist sich der Gerichtshof des Umstandes bewusst, dass in solchen konfligierenden Grundrechtssituationen ein erhebliches Maß an judicial self-restraint geboten ist, und gewährt den Staaten bei der Bewertung einer „fair balance“ zwischen den divergenten Grundrechtspositionen eine weite

684 ECHR, 25.01.2007, Vereinigung bildender Künstler v. Austria, No. 68354/01. ECHR, 03.05.2007, Kar et al. v. Turkey, No. 58756/00. ECHR, 25.11.1996, Wingrove v. United Kingdom, No. 17419/90. 685 ECHR, 25.08.1998, Hertel v. Switzerland, No. 25181/94. 686 ECHR, 20.10.2009, Lombardi Vallauri v. Italy, No. 39128/05. 687 Vgl. dazu besonders progressiv m.w. N. das Sondervotum von Richter P. Pinto de Albuquerque in: ECHR, 22.03.2012, Markin v. Russia, No. 30078/06. 688 ECHR, 24.06.2004, Caroline v. Hannover v. Germany, No. 59320/00.

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margin of appreciation, doch judiziert er dennoch erstaunlich häufig und auch dann, wenn – wie im Fall Caroline von Hannover – keine eklatanten Menschenrechtsverstöße in Rede stehen. Die spezifische Entgrenzungsgefahr liegt hier vor allem darin, dass mehrpolige Grundrechtsverhältnisse denknotwendig nicht nur einen Freiheitsschutz, sondern auch eine Verkürzung als deren Kehrseite für den anderen Grundrechtsberechtigten mit sich bringen. In Anbetracht dieser „Freiheitsdistribution“ in derartigen Konstellationen sollten sich insbesondere suprastaatliche Menschenrechtsgerichte in Zurückhaltung üben. Eine kategoriale Form der Entgrenzung kann schließlich in den Piloturteilen erkannt werden689, die der Gerichtshof richterrechtlich unter Berufung auf Art. 46 EMRK in der Entscheidung Broniowski v. Polen690 im Jahr 2004 begründet und nachfolgend mehrfach zur Anwendung gebracht hat691. Der Gerichtshof diagnostiziert in diesen Fällen ein „systemisches Defizit“ in der Rechtsordnung des Konventionsstaates, dass zu sog. „clone cases“, also gleichgelagerten Fällen vor dem EGMR führt. Er überprüft die nationale, vermutet menschenrechtlich defizitäre Rechtsordnung am Maßstab der EMRK, entscheidet über deren Anwendbarkeit und gibt gegebenenfalls Änderungsempfehlungen. Dadurch nimmt der EGMR eine Art retrospektive „Normenkontrolle“ bzw. „Rechtsordnungskontrolle“ vor und für sich de facto ein menschenrechtliches „Prüfungsmonopol“ in Anspruch. Problematisch ist dieses Vorgehen insbesondere deshalb, weil in der Erkennung systemischer Defizite eine Objektivierung des subjektiven Klagegegenstandes liegt, der Gerichtshof also vom fremdinitiativen Einzelfall abstrahiert. Weitreichend und deshalb problematisch ist ferner, dass der EGMR in diesem Zusammenhang nicht selten Veränderungen der Rechtsordnung aufgibt, wie etwa die Sache Ananyev et al. v. Russland veranschaulicht. Durch die mit dem Piloturteilsverfahren verbundene Desubjektivierung und die autoritativen Vorgaben an den Konventionsstaat pro futuro verkommt judicial review zu judicial preview. Sphären der Rechtsprechung und Gesetzgebung, Recht und Politik sind nicht mehr gekoppelt, sondern miteinander vertauscht bzw. ineinandergesetzt. Auch dadurch verschärft sich das Legitimationsproblem. b) Grenzverlust in der Praxis des IAGH Die Entgrenzungsphänomene des IAGH fallen ungleich geringer aus als im europäischen Schutzsystem. Das hat mehrerlei Ursachen. Zunächst fällt bereits 689 Kritisch etwa J. A. Frowein, The Binding Force of ECHR Judgments and Its Limits, in: Human Rights, Democracy and the Rule of Law/Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat/Droits de l’homme, démocratie et état de droit. Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 261 ff. 690 ECHR, 22.04.2004, Broniowski v. Poland, No. 31443/96, insbesondere Rn. 188 ff. 691 Vgl. etwa ECHR, 10.01.2012, Ananyev et al. v. Russia, No. 42525/07 und 60800/ 08, ECHR, 02.09.2010, Rumpf v. Germany, No. 46344/06. Dieses Vorgehen hat er mittlerweile in Art. 61 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes ausführlich kodifiziert.

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die Anzahl der Beschwerden und Urteile signifikant niedriger aus und macht nur einen Bruchteil des europäischen Volumens aus. Sodann umfasst die knapp zwei Dekaden später abgefasste interamerikanische Konvention weitaus mehr Menschenrechte und Normen als die rein negatorische EMRK in ihrer nüchternen Beschränktheit. Der interamerikanische Konventionstext ist also weitaus fruchtbarer und bietet bereits „textlich“ vielerlei normative Anknüpfungspunkte. Schließlich bildet die Härte und Schwere der Menschenrechtsverletzung im interamerikanischen Raum einen maßgeblichen Grund dafür, dass der Eindruck der Entgrenzung ausbleibt. Beispielhaft seien Folter, staatliche Hinrichtungsakte und Massaker, willkürliche Festnahmen und gewaltsames Verschwindenlassen, politische Unterdrückung und Zensur genannt. Bagatell- und Trivialfälle sind in der Rechtsprechung des IAGH quasi nicht existent. Für eine expansive Schutzbereichsinterpretation und die Kreation neuer Menschenrechte besteht aufgrund der Verletzungstatbestände im Kernbereich kaum ein Bedürfnis. Schutzpflichten und Leistungspflichten haben überwiegend existentielle Problemlagen zum Gegenstand. Kurzum: Angesichts der gravierenden Menschenrechtsverletzungen im interamerikanischen Raum wird der regionale Menschenrechtsschutz nicht als entgrenzt wahrgenommen. Allerdings haben die interamerikanischen Organe nicht immer auf einer positivrechtlichen Grundlage gehandelt, so dass sich einige institutionelle Grenzfälle identifizieren lassen. Beispielhaft ist etwa der zuvor skizzierte Entwicklungsprozess der Interamerikanischen Menschenrechtskommission als paravertragliches Organ. Die Kommission hat sich wie dargelegt zunächst ohne bzw. jenseits einer vertraglichen Grundlage entwickelt. Sie ist ursprünglich Produkt eines Konsultationstreffens der Außenminister im Jahre 1959 und gründete sich auf einer Resolution. Sie hat ihren Einfluss sukzessive vergrößert und durch extensive, partiell exzessive Interpretationsvorgänge Kompetenzarrogation geübt692. Evident wird dies vor allem auch an ihrer einjährigen Präsenz in der Dominikanischen Republik 1965/1966, während derer ihr Handeln weit über bloße Beobachtungen und Empfehlungen hinausreichte693. Gleiches gilt für nachfolgende Unterfangen in anderen Staaten. Dieser Prozess der Selbstautorisierung lässt sich wegen des Vorgriffes auf zukünftige Entwicklungsstufen als „positive“ Form der Entgrenzung beschreiben. Ein Mandat, welches über die bloße Förderung der Menschenrechte hinausreicht und deren Überwachung und Kontrolle beinhaltet, erhielt die Kom-

692 Vgl. auch A. A. Cançado Trindade, Die Entwicklung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte, ZaöRV 70 (2010), S. 636. 693 Dazu A. P. Schreiber, The Inter-American Commission on Human Rights, 1970, S. 119, 144 f., die auf folgendes Zitat von D. V. Sandifer verweist: „the urgent demands of the situation in terms of human suffering, the national and international pressures for action, and its own history and approach of a maximum exploitation of its powers all pointed in the direction of making „the law fit to crime“ (The Hammarskjöld Forums, 1967, S. 123).

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mission erst mit dem Protokoll von Buenos Aires von 1970. Aber selbst mit der Legitimation dieses Aktionsspektrums verbleibt ein institutionelles Problem mit Entgrenzungstendenz: Die Kommission erfüllt wie dargestellt eine Vielzahl an unterschiedlichen Aufgaben, die von der Informationsgewinnung durch Tatsachenerhebungen und Vorortuntersuchungen über allgemeine Förderung der Menschenrechte bis hin zur Kontrolle, Überwachung und Jurisdiktion reichen. Sie verschränkt also legislative, exekutive und judikative Gewaltformen in ihrem Handeln. Ein Entgrenzungsphänomen ließe sich auch darin identifizieren, dass die Kommission mit dem subsidiaritätswahrenden Zulässigkeitserfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges überaus „flexibel“ umging694. Gleichwohl ist dieses ein effektivitätssicherndes, ganz allgemeines Phänomen menschenrechtlicher Schutzverträge in Reaktion auf den Menschenrechtsschutz gegenüber obstruktiven nationalen Rechtsordnungen. Ferner könnte man im siebten Gutachten des Gerichtshofes aus dem Jahre 1986 eine Entgrenzungstendenz erkennen. Der Gerichtshof konstatierte hier die unmittelbare und direkte Anwendbarkeit der Konventionsnormen im innerstaatlichen Recht695. Mit dieser an sich fortschrittlichen, integrierenden Rechtsprechung geht er aber über dualistische Völkerrechtsverständnisse der einzelnen Signatarstaaten hinweg und beraubt die Staaten ihrer Verfassungsautonomie, indem er die Rechtsgeltung autoritativ vorgibt. Schließlich kann materiellrechtlich ein weites Ausgreifen in der sog. „life plan“-Rechtsprechung gesehen werden696. Danach scheint der „Lebensentwurf“ sowohl Schutzgut als auch Maßstab der Rehabilitierung zu bilden. So ist zum einen durch Grundrechtseingriffe und Menschenrechtsverletzungen eine Beschädigung des „life plan“ möglich697, zum anderen eine sich daran orientierende Wiedergutmachung geboten698. Zwar bietet Art. 63 der EMRK mit dem Begriff 694 Vgl. dazu etwa Ausführungen bei A. A. Cançado Trindade, Die Entwicklung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte, ZaöRV 70 (2010), S. 639 f. und sehr früh ders., Exhaustion of Local Remedies in the Inter-American System, Indian Journal of International Law 18 (1978), S. 345 ff. Zur „Exhaustion of local Remedies“ und ihren Ausnahmen auch H. Faúndez Ledesma, The Inter-American System for the Protection of Human Rights, 3. Aufl. 2008, S. 279 ff. 695 A. A. Cançado Trindade, Die Entwicklung des interamerikanischen Systems zum Schutz der Menschenrechte, ZaöRV 70 (2010), S. 656. 696 Erstmals in IACHR, 27.11.1998, Loayza Tamayo v. Peru 1998, Series C No. 42, Rn. 83 ff. und insbesondere 147 ff. sowie Sep. Op. von A. A. Cançado Trindade Abs. 6 und 10. 697 IACHR, 27.11.1998, Loayza Tamayo v. Peru, Series C No. 42, Rn. 83 ff., 147 ff. 698 IACHR, 03.12.2001 Cantoral-Benavides v. Peru, Series C, No. 88, Rn. 99, Urteilstenor Nr. 6, wonach der Staat dem Beschwerdeführer aufgrund erlittener Foltermaßnahmen die finanzielle Ermöglichung eines Hochschulstudiums und eines Universitätsabschlusses sicherstellen muss.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

„fair compensation“ einen Anknüpfungspunkt für unterschiedliche Wiedergutmachungsformen, doch scheint hier aufgrund der Mannigfaltigkeit von Lebensplänen und deren Unbestimmbarkeit zumindest zukünftiges Entgrenzungspotential identifizierbar. Eine weitere Rechtsprechungsexpansion im Kontext der Reparation ist in der Erweiterung des Opferbegriffes erkennbar. So hat der Gerichtshof in mehreren Fällen auch die Angehörigen einbezogen und auch ihnen gegenüber eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 AMRK erkannt699. Dieser entspricht auch eine weite Interpretation des „Opferbegriffes“ auf der Zulässigkeitsseite im interamerikanischen System, die zwar in der Formulierung des Art. 44 AMRK eine textliche Grundlage hat, aber de facto zu einer actio popularis führt und langfristig Überlastungstendenzen zur Konsequenz haben könnte. Ferner kommt es auch im interamerikanischen System zu Rechtskreationen. Beispielhaft ist etwa das Recht auf Wahrheit, dass allerdings nur nach Auffassung der Kommission ein „neues Recht“ darstellt, während der Gerichtshof darin lediglich ein Annex des ebenfalls in richterlicher Rechtsfortbildung entstandenen Rechts gegen das Verschwindenlassen erkennt. In den Bereich der Rechtsfortbildung fällt letztlich auch das vom IAGH etablierte Regressionsverbot. Auf diesem basierend hat der Gerichtshof in der Sache Acevedo Buendía et al.700 judiziert, dass die Veränderung der Berechnungsmethoden für Pensionen zum Nachteil von Staatsbediensteten konventionswidrig sind. Das Regressionsverbot beschneidet im Ergebnis das Haushaltsrecht des nationalen Parlaments und bedeutet damit einen fundamentalen Eingriff in den Souveränitätskern von Staatlichkeit. Letztlich hat der IAGH aber weder funktionell-institutionell die Grenzen der Legitimation überschritten noch hat er sachlich den Schutzgehalt einer Norm überdehnt. Dies wird schon daran deutlich, dass der gesamte corpus juris des interamerikanischen Systems – also Deklaration, Konvention, Zusatzprotokoll und OAS-Charta – Elemente wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte aufweist701. Dieser normative Rahmen stützt das progressive Vorgehen des Gerichtshofes. Im Ergebnis hat er Art. 26 AMRK mit dem „principle of non regression“ lediglich einer praktikablen Interpretation zugeführt, indem er das Gebot des Fortschritts, „Desarrollo Progresivo“, in ein Verbot des Rückschritts verkehrte. Schon diese Umkehrung des vorzeichnend-pater699 IACHR, 25.11.2000, Bámaca-Velásquez v. Guatemala, Series C, No. 70, Rn. 159 ff. Zur Einbeziehung von Angehörigen etwa auch IACHR, 01.10.1999, Blake v. Guatemala, Series C, No. 57 und IACHR, 26.05.2001, Villagrán-Morales et al. v. Guatemala, Serie C, No. 77. 700 IACHR, 01.07.2009, Acevedo Buendía et al. v. Peru, Series C, No. 198. 701 Dazu M. Craven, The Protection of Economic, Social and Cultural Rights under the Inter-American System of Human Rights, in: D. J. Harris, S. Livingstone (Hrsg.), The Inter-American System of Human Rights, 1998, S. 289 ff.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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nalistischen Gebots in ein begrenzendes, aber ausgestaltungsbedürftiges Verbot zeigt, dass die Konkretisierung dem politischen Prozess verbleibt. Die diesbezügliche Judikatur ist damit vielmehr begrüßenswert und anleitend als entgrenzt. Strukturell könnte eine Entgrenzung schließlich darin zu sehen sein, dass der Gerichtshof für sich selbst dann eine Prüfungskompetenz in Anspruch nimmt, wenn der betroffene Staat von seinem Verlangen, ein Gutachten einzuholen, Abstand genommen hat702. Nach Auffassung des Gerichtshofes besteht also ab dem Zeitpunkt der Konsultation nicht nur ein subjektives, sondern auch ein objektives Interesse an der Klärung der Rechtsfrage. Mit der Beauftragung des Gerichtshofes korreliert demnach ein gewisser Souveränitätsverzicht. 3. Fazit: Notwendigkeit und Rechtmäßigkeit von Entgrenzung Erst die Interpretation und Anwendung verleiht Rechtstexten Bedeutung. Die daraus folgende „semantische Autorität“ 703 kommt vornehmlich der Judikative zu. Mit dieser überantworteten Gestaltungsmacht ist allerdings maßvoll umzugehen. Auch wenn man Rechtsfindung nicht als einen Akt „interpretatorischer Archäologie“ 704 begreift, sondern Aktualisierung und Kontextualisierung erwartet, lassen die skizzierten Entgrenzungsphänomene an einem solchen maßvollen Umgang zweifeln. Der Wortlaut der Konventionstexte und die ratio legis geben für die vorgenommene Fortentwicklung oftmals keinen Halt705. Historische und systematische Interpretation tragen diese Entwicklung nicht mehr. Die Rechtsprechung ist zu detailliert und zu extensiv ausgefallen, als dass sie als zulässige Konkretisierung und Präzisierung bestehender Rechte angesehen werden könnte. Wenngleich die Urteile nicht „contra legem“ ausfallen, dass heißt die Konventionstexte nicht negieren, liegen sie doch gewissermaßen „supra legem“ 706. Angeleitet wird dies allein durch die konventionsspezifische Dominanz der teleologischen Auslegungsmethode. Da Ziel und Zweck einer Norm abstrakt sind und sich nur schwerlich fixieren lassen, ihnen per se ein überschießender Gehalt immanent ist, eignet sich die teleologische Auslegungsmethode im Besonderen zur 702

IACHR, 14.11.1997, OC-15/97. Grundsätzlich, I. Venzke, How Interpretation Makes International Law, 2012. 704 E. A. Kramer, Juristische Methodenlehre, 4. Aufl. 2013, S. 138. 705 Anders und bedenkenlos zulässig noch ECHR, 21.02.1975, Golder v. United Kingdom, No. 445170, Rn. 28: „Again, Article 6 para. 1 (art. 6-1) does not state a right of access to the courts or tribunals in express terms. It enunciates rights which are distinct but stem from the same term basic idea and which, taken together, make up a single right not specifically defined in the narrower sense of the term. It is the duty of the Court to ascertain, by means of interpretation, whether access to the courts constitutes one factor or aspect of this right.“ 706 Anders zumindest im Hinblick auf die effektivitätssteigernde Auslegungsmethode, die er nur als vervollständigend begreift, K. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 112 f. und 133 f. 703

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Camouflage einer Rechtsfortbildung707, die bis an die Grenze der den Konventionsorganen untersagten Vertragsrevision reicht. Diese sukzessive und intensive Fortentwicklung entspricht nicht mehr dem in Art. 19 EMRK bzw. Art. 33 AMRK niedergelegten Mandat zur „Sicherstellung“ der „Einhaltung“ der Konventionsverpflichtungen. Vergegenwärtigt man sich etwa die in der Präambel eingefasste raison d’être der EMRK, nach der dem Konventionssystem zwar aufgegeben ist, eine „immer engere Verbindung“ zwischen den Staaten des Europarates und eine „kollektive Garantie“ zu schaffen, dieser Auftrag jedoch dadurch relativiert wird, hierzu lediglich „die ersten Schritte“ zu unternehmen und eine Garantie nur „gewisser in der Allgemeinen Erklärung verkündeter Rechte“ zu schaffen, ergeben sich mindestens erhebliche Zweifel ob der Berechtigung des EGMR zu der von ihm vorgenommenen Praxis. Selbst unter Einbeziehung des Umstandes, dass es sich um ein law making treaty708 handelt, fällt es schwer, Teile der aufgezeigten Rechtsprechungsentwicklung noch zu rechtfertigen. Gemessen an der immer noch viel bemühten Charakterisierung der EMRK als „Rückversicherung“ oder „Auffangordnung“ 709, der die Aufgabe zukommen soll, einen „Mindeststandard“ 710 zu setzen, lässt sich die genommene Entwicklung kaum anders als entgrenzt beschreiben. Der unstreitige Befund einer stark expansiven Entwicklung der Konventionssysteme, die deterministisch als „Konstitutionalisierung“ etikettiert wird, gibt davon eindeutig Kunde. Auch der EGMR hat mit der Selbstcharakterisierung als „constitutional instrument of European public order“ 711 im Grunde Zeugnis von einer Entwicklung gegeben, die sich unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es sich um Menschenrechtsschutz durch ein überstaatliches System handelt, zuweilen an die Grenzen des Zulässigen gelangt. Angesichts der entgrenzten Urteile und der damit illustrierten hohen Kontrolldichte drängt sich der Eindruck auf, dass der EGMR nach dem Grundsatz „Fiat iustitia, et pereat mundus“ handelt. Dagegen nehmen sich die Entgrenzungsphänomene im interamerikanischen System gelinde aus, zumal eine breitere positivrechtliche Basis vorhanden ist. Aus der expansiven Kontrolltätigkeit des EGMR und zuweilen eigeninitiativen Systementwicklung den Befund der „Entgrenzung“ abzuleiten, setzt allerdings 707 Treffend stellt K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, § 2 Rn. 57 fest: „Teleologische Interpretation ist kaum mehr als ein Blankett, weil mit der Regel, daß nach dem Sinn eines Rechtssatzes zu fragen ist, nichts für die entscheidende Frage gewonnen ist, wie dieser Sinn zu ermitteln sei.“ 708 ECHR, 27.06.1968, Wemhoff v. Germany, No. 2122/64 Rn. 8. ECHR, 21.02. 1975, Golder v. United Kingdom, No. 445170 Rn. 36. 709 Vgl. P. M. Huber, Offene Staatlichkeit: Vergleich, in: Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 26 Rn. 109 ff. 710 Dazu zu Recht kritisch, K. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 134 ff. 711 ECHR, 28.07.1998, Loizidou v. Turkey, No. 15318/89 Rn. 71 ff.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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die Bestimmung von Grenzen voraus. Eine solche Abgrenzung und Trennung von Erlaubtem und Unerlaubtem vorzunehmen, erweist sich im Bereich der Menschenrechte und der judikativen Kontrolle als besonders schwierig, ist ihnen beiden doch gerade die Begrenzung und Bestimmung des prinzipiell Unverfügbaren aufgegeben. Für eine angemessene Bewertung als zulässig und unzulässig gilt es, Kontextund Umweltänderungen zu berücksichtigen. Hierzu zählen die Internationalisierung des Rechts, Globalisierungsschübe und überstaatliche Integration im allgemeinen, die zu einer immensen nomologischen Verdichtung geführt haben, außer- und überstaatliche Kontrolle bzw. Einflussnahme zur Gewohnheit werden lassen. Zugleich gilt es, zwei Besonderheiten des internationalen Rechts, die auch den Konventionssystemen eigen sind, zu berücksichtigen: Als völkerrechtliche Vertragswerke sind sie – jenseits der Verabschiedung von Zusatzprotokollen – in ihrer Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit sehr schwerfällig und beschränkt. Ihnen fehlt ein effizienter Mechanismus der Modernisierung und Reformierung712, um auf Umweltveränderungen adäquat reagieren zu können. Diese Aufgabe fällt demnach den Richtern zu, die notwendig eine Normanpassung und Aktualisierung vorzunehmen haben. Zum anderen sind die Konventionen als völkerrechtliche Vertragswerke keine lückenlosen Systeme, sondern in hohem Maße fragmentarisch. Die Konkretisierung der Verbürgungen durch Gerichte ist nicht nur zulässig, sondern diesen aufgegeben und anvertraut. Einzustellen sind auch institutionelle Veränderungen. Struktur und Selbstverständnis der Konventionsorgane sahen sich innerhalb des letzten halben Jahrhunderts einem tiefgreifenden Wandlungsprozess ausgesetzt. So ist etwa mit den Änderungen durch das 11. Zusatzprotokoll zur EMRK eine institutionelle und instrumentelle Stärkung erfolgt, die gänzlich auf einem rein voluntativen Akt der Staaten beruht und sich als Ermächtigung zu einer weiteren Expansion des Konventionssystems deuten lässt. Sodann ist strukturellen Eigentümlichkeiten Rechnung zu tragen. Das Korrelat aus Individualrechtsschutz und überstaatlicher Judikative, die notwendig am Ende eines langwierigen Prozesses steht, dessen letztverbindlichen Abschluss bildet und deshalb mit einer Macht- und Gewaltkonzentration einhergeht, führt zwangsläufig zu einem „Diktat des Einzelnen“. Individuelle Verfahren erzeugen individuelles Recht. Diese Struktur ist es, die für Detailreichtum und Ausdifferenziertheit verantwortlich zeichnet. In diesem Zusammenhang gilt es auch zu berücksichtigen, dass es sich bei den Judikaten nicht um dogmatikzentrierte Urteile handelt, die allgemein-generelle Geltung beanspruchen. Vielmehr sind sie als Einzellfallentscheidungen wahrzunehmen. Gerade in Deutschland scheint das 712 Vgl. A. Cassese, Realizing Utopia, S. xviii mit Verweis auf R. Y. Jennings, International Law Reform and Progressive Development, in: Liber Amicorum Ignaz SeidlHohenveldern, 1998, S. 325.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Bewusstsein für ein kasuistisches Rechtsverständnis noch nicht sehr ausgeprägt zu sein. Die Urteile des EGMR sind nicht als striktes common law, sondern als normgestützes case law713 zu begreifen714. Auch das schwächt die Annahme einer Entgrenzung. Schließlich ist Entgrenzung auch wegebnend für die Ausbildung von Konstitutionalisierungserscheinungen und Supranationalitätselementen. Vorrangigkeit und Eigenständigkeit einer rechtlichen Materie samt ihrer Institutionen und Instrumente kommen nicht ohne Loslösung von vorab Bestehendem aus. In diesen emanzipativen Akten liegen zwangsläufig immer Teilaspekte der Entgrenzung. Sie ist also notwendiges Pendant jeder Entwicklung und mit Innovation zwangsläufig verbunden. Selbst wenn man unter Berücksichtigung dieser Umstände zu dem Befund gelangt, dass insbesondere in der jüngeren Rechtsprechung eine Entgrenzungstendenz identifizierbar ist, sollte man sich des Umstandes gewahr werden, dass diese letztlich auf ein höheres Schutzniveau für das Individuum zielt, also auch positive Effekte zeitigt. So wie Menschenrechtsverletzungen durch „Entgrenzungen“ erfolgen, werden sie durch und unter Entgrenzung korrigiert bzw. sanktioniert. Die Unverbrüchlichkeit von Menschenrechten verlangt zuweilen Außerordentliches, Entgrenzung wird mit Entgrenzung begegnet. Gleichwohl ist der grenzenlose judikative Expansionsdrang nicht zu leugnen und mit tiefgreifenden Problemen behaftet. Eine externe Maßstabskontrolle für sämtliche Grund- und Menschenrechtsfragen durch einen außerhalb des nationalen Gewaltengliederungsgebildes stehenden Akteur hat die massive Verkürzung des politischen Entscheidungs- und Handlungskorridors zur Konsequenz. Durch eine derartige suprastaatliche Einwirkung auf die nationale Rechtsordnung droht sich die Distanz zwischen Politik und Recht aufzulösen und die Entscheidungsbefugnis aus dem nationalen Diskurszusammenhang in den regionalen Raum zu verlagern. Wollen die regionalen Konventionsorgane ihre Autorität und die normative Kraft der Konventionen nicht gefährden, sind sie gut beraten, sich bei der Auslegung in mehr Zurückhaltung zu üben715. Das gilt insbesondere für den EGMR. 713

K. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 86. Dazu früh auch G. Ress, Die „Einzelfallbezogenheit“ in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, in: R. Bernhardt (Hrsg.), Festschrift für Hermann Mosler, 1983, S. 719 ff. 715 So hat der Fall Hirst v. Vereinigtes Königreich (ECHR, 06.10.2005, Hirst v. United Kingdom, No. 74025/01.), der das Wahlrecht von Strafgefangenen betraf und die jahrhunderte alte Representation of the People Act für mit Art. 3 ZP Nr. 1 unvereinbar erklärte, zu vehementer Kritik seitens Großbritanniens geführt und nahezu dessen Austritt aus der EMRK bewirkt. Man sah darin einen unbotmäßigen Angriff auf die traditionsreiche sovereignty of parliament. Der EGMR hat dennoch seine Rechtsprechungslinie in Greens v. Vereinigtes Königreich (ECHR, 23.11.2010, Greens v. United Kingdom, No. 60041/08.) in Form eines Piloturteils fortgesetzt. 714

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Legitimation zehrt sich nämlich in dem Maße auf, wie von ihr übermäßiger Gebrauch gemacht wird. Normative Kraft droht durch Beliebigkeit und Verunsicherung zu verkümmern. Menschenrechte müssen auf einen Kernbestand begrenzt bleiben, sonst verlieren sie ihre Unverbrüchlichkeit und büßen ihren herausgehobenen Stellenwert ein. Den Konventionsgerichten ist deshalb vermehrt der tatsächliche Gebrauch von judicial self-restraint, der margin of appreciation, der doctrine of political question und des „in dubio pro legislatore“ Grundsatzes anzuempfehlen, nicht nur eine vordergründige Zitation dessen. Im Ergebnis vermag das exzessive Ausgreifen des regionalen Menschenrechtsschutzes also nicht zwangsläufig als Entgrenzung zu bewerten sein. Gleichwohl bewegt es sich zuweilen an der Grenze des Zulässigen und Vertretbaren mit dem Risiko der Selbstbeschädigung. Gerade um der eigenen Autorität willen ist mehr Zurückhaltung geboten. Schließlich ist die Selbstbeschränkung der Gerichtshöfe gegenüber einer Fremdbeschränkung durch Austritt, Vertragsänderung oder Folgeunwilligkeit vorzuziehen.

III. Legitimationsmöglichkeiten: Elemente zur Rechtfertigung des regionalen Menschenrechtsschutzes 1. Die allgemeine Legitimationsgrundlage der Rechtfertigung von Judicial Review und Verfassungsgerichtsbarkeit Die unternommene Analyse offenbart erhebliche und tiefgreifende Legitimationsschwierigkeiten des entwickelten regionalen Menschenrechtsschutzes – in seiner Grundform wie in seinen Entgrenzungstendenzen. Die Beschäftigung mit Legitimationsmöglichkeiten judikativer Kontrolle im Allgemeinen und die damit verbundene Frage nach dem Verhältnis von Legislative und Judikative im Besonderen, weist eine lange Geschichte auf und reicht bis in die Anfänge des Konstitutionalismus zurück. Bereits A. Hamilton diagnostizierte in den Federalist Papers Nr. 78 die der Judikative inhärente „Schwäche“ und gleichzeitige Bedeutung für die in der Verfassung geschützten Rechte716. Erklärungs- und Deutungsansätze finden sich sodann im Liberalismus des 19. Jahrhunderts, etwa bei A. de Tocqueville und J. S. Mill717. 716 „The complete independence of the courts of justice is peculiarly essential in a limited Constitution. By a limited Constitution I understand one which contains certain specified exceptions to the legislative authority (. . .) Limitations of this kind can be preserved in practice no other way than through the medium of the courts of justice, whose duty it must be to declare all acts contrary to the manifest tenor of the Constitution void. Without this, all the reservations of particular rights or privileges would amount to nothing.“ A. Hamilton, Federalist Papers Nr. 78, auf den im Übrigen die „Hüterterminologie“ zurückgeht („faithful guardians of the Constitution“), abrufbar unter http://thomas.loc.gov/home/histdox/fed_78.html, zuletzt abgerufen am 11.02.2015. 717 Dazu T. Vallinder, When the Courts Go Marching In, in: C. N. Tate/T. Vallinder (Hrsg.), The Global Expansion of Judicial Power, 1995, S. 17 ff. mit Verweis auf A. de

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Grundsätzlicher, konkreter und bis heute maßgebend wurde sodann die kontroverse staats- und demokratietheoretische Diskussion in der zweiten Entwicklungsstufe des Konstitutionalismus zu Beginn des 20. Jahrhundert um die Notwendigkeit und Legitimation einer spezifischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Abbild und Höhepunkt dieser ist der zwischen den Kontrahenten C. Schmitt und H. Kelsen ausgetragene Streit um den „Hüter der Verfassung“ 718. Während C. Schmitt diese Funktion letztlich dem Staatsoberhaupt zusprach719 und entsprechend dem von ihm angenommenen Wesensgegensatz von Recht und Politik Verfassungsgerichtsbarkeit als Politisierung der Justiz konsequent ablehnte, entgegnete H. Kelsen dem mit einem pluralistischen Demokratieverständnis, das sich zugleich als eine Rechtfertigung moderner Verfassungsgerichtsbarkeit versteht720. Verfassungsgerichtsbarkeit ist danach nicht nur mit Gewaltenteilung und Demokratie vereinbar, sondern als deren Bestandteil und Garant nachgerade erforderlich. Pluralistische Demokratie basiert nicht nur auf einer „schrankenlosen Majoritätsherrschaft“ 721, sondern beinhaltet auch Minoritätsschutz. Minderheitenschutz aber ist „die wesentliche Funktion der sogenannten Grund- und Freiheitsoder Menschen- und Bürgerrechte“ 722. Minoritätsschutz lässt sich wiederum insbesondere durch Verfassungsgerichtsbarkeit gewährleisten und verwirklichen723. Auf diese Weise avanciert Verfassungsgerichtsbarkeit zu einem notwendigen Bestandteil und Garanten einer offenen, pluralistischen Demokratie. Weil Politik und Recht keine isolierten Wesensgegensätze sind und jeder gerichtlichen Entscheidung notwendig ein politischer Gehalt immanent ist724, kann die institutionell verselbständigte Verfassungsgerichtsbarkeit als „negativer GesetzgeTocqueville’s „Demokratie in Amerika“ und J. S. Mill’s „On Liberty“ sowie „Considerations on Representative Government“. 718 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, AöR 16 (1929), S. 161 sowie ders., Der Hüter der Verfassung, 3. Auflage 1985. H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, Die Justiz, Bd. VI 1930/1931, S. 576 ff. und ders., Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 2008. Ausgangspunkt des Streites in der Weimarer Republik bildet die Wiener Staatsrechtlehrertagung von 1928 (VVDStRL 5 (1975)), die „Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit“ zum Gegenstand hatte und auf der H. Kelsen als Berichterstatter seine Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit vorstellte. 719 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 3. Aufl. 1985, S. 132 ff. 720 Er sah in der Schrift C. Schmitts eine Reformulierung der Lehre B. Constants vom pouvoir neutre des Monarchen und damit ein „aus der Rumpelkammer des konstitutionellen Theaters“ stammendes „verstaubtes Requisit“, H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 2008, S. 61. 721 H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1975), S. 50 f. 722 H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929, S. 53. 723 H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1975), S. 45 und S. 50 f., allerdings bezogen auf die „Minorität im Parlament“. 724 H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 2008, S. 66 f. Nach Kelsen besteht „nur eine quantitative, keine qualitative Differenz“. Grundsätzlich in diese Richtung auch P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: ders., Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980, S. 57 ff., der im

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ber“ 725 angesehen werden und ist als solcher nicht nur integraler Bestandteil der Gewaltenteilung726, sondern vertieft und erweitert diese sogar. Auch in der Folgezeit nach H. Kelsens „Grundlegung“ sind Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Legitimation immer wieder Gegenstand der Staatsrechtslehre gewesen727. Die zahlreichen ausgearbeiteten Legitimationsansätze sollen nachfolgend allerdings nicht im Einzelnen rekapituliert werden. So bedeutsam und fruchtbar ihre Rechtfertigungsversuche für die Verfassungsgerichtsbarkeit bis in die Gegenwart bleiben728, verlangt die außerstaatliche Form des regionalen Menschenrechtsschutzes nach einer spezifischen Rechtfertigung, die der legitimatorische Gehalt verfassungsgerichtlicher Theorie einzelstaatlichen Zuschnitts nicht gänzlich zu befriedigen vermag729. Gleichwohl können unter Anerkennung des sogenannten „Konstitutionalisierungsprozesses“ des regionalen Menschenrechtsschutzes730 und der Ähnlichkeit zwischen Konventionsgerichtshöfen und Verfassungsgerichten Anleihen an diese Konzepte genommen und Legitimationsansätze übertragen werden. So bilden verfassungsrechtliche und -gerichtliche Legitimationsmodelle zwar nicht den Schlusspunkt, zumindest aber den Ausgangspunkt für die Rechtfertigung regionalen Menschenrechtsschutzes. Gleichwohl scheiden unter den für Verfassungsgerichtsbarkeit diskutierten Legitimationsmodellen731 von vornherein einige Konstrukte aus. Verfassungsgericht einen „Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag“ erkennt. 725 H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1975), S. 26. 726 H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1975), S. 25. 727 Auch wenn die Diskussion in den Vereinigten Staaten deutlich intensiver geführt wird (dazu bereits oben), sind für die deutschsprachige Staatsrechtslehre beispielhaft „Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit“, VVDStRL 9 (1950). Aus dieser Zeit auch J. Wintrich, Aufgaben, Wesen und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: T. Maunz (Hrsg.), Festschrift für Hans Nawiasky, 1956, S. 191 ff. Dazu auch die Staatsrechtslehrertagung 1980 mit dem Thema „Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen“, VVDStRL 39 (1980). 728 Das BVerfG hat im KPD-Urteil (BVerfGE 5, 85) zur Eigentümlichkeit des Grundgesetzes konstatiert: „die starke Betonung der „dritten“, der richterlichen Gewalt, das Bestreben, auch Vorgänge des politischen Bereichs, Handlungen politischer Organe in ungewöhnlich weitem Maße der Kontrolle durch unabhängige Gerichte zu unterwerfen und damit die Postulate des Rechtsstaates auch verfahrensmäßig zu realisieren.“ 729 Dies gilt umso mehr, da H. Kelsen sich gegen die Inkorporation von Grund- und Menschenrechten in der Verfassung verwehrt hatte und durch eine solche eben jene Entwicklung der „Politisierung“ der Judikative vom „negativen“ hin zum „positiven Gesetzgeber“ befürchtet hatte, vgl. m.w. N. A. Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 35 f. 730 Hierzu oben B. 731 Die hier aufgegriffenen Legitimationsmodelle finden sich allesamt bei C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 328 ff. vorgestellt und diskutiert.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

In Ermangelung eines der demokratischen Verfassunggebung gleichkommenden Entstehungsaktes für die völkervertragsrechtlich geschaffenen Konventionssysteme steht schon keine qualifizierte historische Legitimationsquelle, kein einem constitutional moment ähnlicher conventional moment zur Verfügung. Ein weiterer traditionsreicher Legitimationsstrang der Verfassungsgerichtsbarkeit ist die Sicherung föderaler Strukturen und ihrer Eigenständigkeit. Auch diese scheidet für den regionalen Menschenrechtsschutz aus. Legitimationsmöglichkeiten eines judicial review ergeben sich ferner aus der Sicherung des demokratischen Charakters der Politik, dass sich auch als representation-reinforcement theory ausgearbeitet findet732. Zwar zielen die Konventionssysteme ebenfalls auf eine „wahrhaft demokratische politische Ordnung“ (Präambel EMRK)733 bzw. liegen „within the framework of democratic institutions“ (Präambel AMRK), ihr Kernanliegen ist aber der individuelle Menschenrechtsschutz. Demokratiesicherung ist darin allenfalls basal mit enthalten und aufgehoben. So verbleiben lediglich der Minderheiten- bzw. Grundrechtsschutz734 und deliberative Legitimationskonstrukte als auf den regionalen Menschenrechtsschutz anwendbar. Zweifelsohne sind bei der zu unternehmenden legitimationstheoretischen Betrachtung die grundsätzlichen Eigenheiten der Judikative einzustellen735: Auch wenn überstaatliche Gerichtsbarkeit ebenso wie Verfassungsgerichtsbarkeit die den Gerichten sonst eigene „Individualisierungsleistung“ nicht in vollem Maße erfüllen kann, erfolgt auch hier die „judikative Rechtserzeu732 Vgl. J. H. Ely, Democracy and Distrust: A Theory of Judicial Review, 1980, S. 73 ff. Seine These eines „policing“ des „process of representation“ erinnert zuweilen stark an eine moderne, US-amerikanische Interpretation der Minderheitsschutzthese H. Kelsens. 733 Deutlich wird dies auch an der Schrankenformulierung der Art. 8 bis 11 EMRK „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“. 734 Diese können, müssen aber nicht ineinanderfallen und sollten deshalb grundsätzlich unterschieden werden; zumeist verbirgt sich hinter dem Minderheitenschutz jedenfalls im Verfassungsrecht Grundrechtsschutz, weil die Minderheit nicht als solche geschützt wird, vgl. überzeugend C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 342 ff. Anderes gilt allerdings mit Blick auf das Völkerrecht. 735 Insbesondere das deutsche Verfassungsrecht weist eine bemerkenswerte Eigenheit auf. Zwar ordnet Art. 97 I GG unmissverständlich an, dass Richter „unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen“ sind, doch ergibt sich aus dem mit Ewigkeitsgarantie versehenen Art. 20 III GG eine Bindung des Richters an „Gesetz und Recht“. Damit ist keine Tautologie, sondern der Einbezug des Außerrechtlich-Gerechten formuliert, da diese sich „zwar faktisch im Allgemeinen, aber nicht notwendig und immer decken“ (BVerfGE 34, 269, 286.). Es lehnt also „wertungsfreien Gesetzespositivismus“ ab (BVerfGE 3, 225, 232) und bezieht materielle Gerechtigkeitserwägung mit ein. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass diese Formulierungen eine eindeutige Reaktion auf die totalitären Erfahrungen der NS-Diktatur sind und auf die Situation abzielen, da das positive Recht keine Gerechtigkeitsorientierung mehr in sich trägt. Der Normzweck liegt also gänzlich anders und ist für die hier untersuchte Fragestellung nur bedingt, in seiner Grundlage, instruktiv.

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gung“ auf fremde Initiative hin, befasst sie sich retrospektiv mit einem konkret vorgetragenen Streitgegenstand736, ist also punktuell-individualisiert und trägt repressiven Charakter737. Wie die Judikative im Allgemeinen bietet auch das Verfahren vor regionaler Menschenrechtsgerichtsbarkeit einen Raum, in dem Freiheit nicht durch, sondern vor demokratischer Herrschaft geschützt wird738. Nachfolgend wird es darum gehen, vor diesem Hintergrund der allgemeinen Legitimationsgrundlage739 spezifische Legitimationselemente für die Eigenartigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes anzufügen. Es wird also der Frage nachzugehen sein, worin die Rechtfertigung dafür gesehen werden kann, dass mit den Institutionen des regionalen Menschenrechtsschutzes ein weiterer judikativer, außerstaatlicher „Hüter“ 740, zumal mit besonders langer und brüchiger demokratischer Legitimationskette, zur Verfassungsgerichtsbarkeit hinzutritt. 2. Spezifische Legitimationselemente des regionalen Menschenrechtsschutzes a) Legitimation aus der dem Verfassungsrecht eigentümlichen Schwäche aa) Die historische Legitimation Die EMRK wurde als Reaktion auf die totalitären Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg errichtet. Aus dem kollektiven Versagen aller Staatsgewalten einschließlich der Legislative, die an der Ermächtigung teilhatte, folgte die Einsicht, dass Demokratie und Gewaltenteilung selbst keine Garantie, keinen sicheren Halt gegen diktatorische Entwicklungen bieten. Der Faschismus hat prägend und bis heute wirkmächtig illustriert, dass Demokratie Opfer antidemokratischer Strömungen sein kann, demokratische Strukturen und Kultur als solche nicht ausreichen, um die offene Gesellschaft gegen ihre Feinde zu verteidigen741. Der Totali736

C. Möllers, Demokratie – Zumutung und Versprechen, 2008, Rn. 91, S. 71. Dazu allgemein C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 100 ff. 738 Vgl. C. Möllers, Demokratie – Zumutung und Versprechen, 2008, Rn. 91, S. 71. 739 Ausführlich US-amerikanische und deutsche Theorien darstellend, U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen, 1998, S. 241 ff. 740 Vgl. zu Europa im engeren Sinne, F. C. Mayer, Wer soll der Hüter der europäischen Verfassung sein?, AöR 129 (2004), S. 411 ff. Die bereits von H. Kelsen selbst vorgebrachte Warnung vor der mit „ideologischen Tendenzen“ verbundenen Phrase vom „Hüter“, vgl. ders., Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 2008, S. 66, greift P. Häberle auf und zieht daraus die Konsequenz, die Verfassungswahrung der gesamten Gesellschaft zu überantworten, P. Häberle, Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, und ders., Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. „Hüterideologien“ und der Idee von Letztverbindlichkeit haftet etwas Hegelsches an. Kann, soll und darf es überhaupt Letztverbindlichkeit geben? 741 Grundlegend dazu, K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 8. Auflage 2003. 737

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

tarismus des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass nicht nur die Legislative versagt hat, sondern dass auch die nationale Judikative dieser Entwicklung keinen Einhalt zu geben vermochte und von diesen Strömungen erfasst wurde742. Aus diesem historisch begründeten Misstrauen entspringt als institutionelle Reaktion nicht nur Verfassungsgerichtsbarkeit743, sondern auch die Überlegung, dass es einer überstaatlichen, außerstaatlichen Kontrolle bedürfe. Je mehr Stränge, je mehr Netze und je dichter diese geknüpft sind, desto geringer die Gefahr für Anfälligkeiten und Menschenrechtsverletzungen. Die nicht ausreichende innere Kontrolle und Korrektur wird also von außen zusätzlich abgesichert. Als Konsequenz entstand die Bindung an außerstaatlich positivierte Menschenrechte und die Unterwerfung unter ein suprastaatliches Überwachungsregime. Auch die Entstehung der AMRK erklärt sich aus der mitunter bis in die Gegenwart reichenden (Nach)wirkung autoritärer, wenngleich nicht totalitärer Regime und repressiver Strukturen. Mithin sind es die Erfahrungen mit diktatorischen Regimen und der „schurkische“ 744 Charakter des Staates, die den Boden für regionale Supervision bereiten. Die Begrenzung und Kontrolle von außen ist Reaktion auf das Versagen des Nationalstaates als Garant der inneren und äußeren Sicherheit745. Dieses macht eine weitere „Bändigung des Leviathan“, die über staatliche Grundrechtskataloge und innerstaatliche Gewaltenteilung hinausreicht, erforderlich. Regionaler Menschenrechtsschutz ist deshalb eine strukturelle äußere Korrektursicherheit. „Conventional review“ ergänzt „constitutional review“. So gewichtig diese historische Legitimation ist, die sich zunächst zu einem Narrativ verdichtet und sodann die weitere Entwicklung legitimiert hat, schwächt sie sich doch mit gewonnenem Abstand immer weiter ab. Dieses maßgeblich für Europa aus totalitären Erfahrungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und für den lateinamerikanischen Raum in den 70er und 80er Jahren entstandene Narrativ geht in jener Bedeutung der Konventionen als „Mindeststandard“ vorpolitischer, auch der demokratischen Definition entzogener Rechte auf. Wenngleich er sich in Europa durch die Mitgliedschaft der postdiktatorischen Staaten Osteuropas und in Lateinamerika durch Gräueltaten einzelner Regime bis in die 742 Vgl. dazu M. Stolleis, Recht im Unrecht, 2. Aufl. 2006; B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7. Aufl. 2012. 743 Dazu etwa U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie, Misstrauen, 1998. 744 Der Staat ist wesensmäßig „schurkisch“, so J. Derrida, Schurken, 2006. 745 Letztlich kann dies auf eine lange Tradition verweisen. Nicht erst durch die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts ist das Versagen des Nationalstaates evident. Schon die Terreur der französischen Revolution lassen die Erforderlichkeit erkennen, das demokratische Selbstregierung als solche keine Heilsgarantie birgt. So findet sich der hier in den regionalen Menschenrechtsschutz projizierte Urgedanke etwa schon bei B. Constant, der die demokratische Freiheit durch die Grenzen eingeschränkt wissen will, die ihr „(. . .) die Rechte des Individuums“ ziehen, vgl. B. Constant, Grundprinzipien der Politik, in: Werke, Bd. IV, 1972, S. 28.

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Gegenwart immer wieder aktualisiert hat, trägt er dennoch die Ausdifferenzierung und Fortentwicklung der Konventionssysteme, ihre heutige Kontrolldichte, nur unvollständig. Regionaler Menschenrechtsschutz wäre unter dieser retrospektiven Legitimation tatsächlich auf einen „Mindeststandard“, auf eine „Rückversicherung“ zu beschränken, die beide Systeme aber längst transzendiert haben. bb) Das „Identitäts- und Konfusionsdilemma“ Eine weitere Legitimationsmöglichkeit könnte sich aus einer dem nationalen Verfassungsrecht eingeschriebenen, unüberwindbaren Konstruktionsschwäche ergeben. D. Grimm formuliert diese pointiert: „Während dieses [das Gesetzesrecht] die organisierte Sanktionsgewalt des Staates hinter sich hat, so dass Zuwiderhandlungen mit Zwang begegnet werden kann, steht jenes, weil an die oberste Gewalt selbst gerichtet, ohne einen solchen Schutz da. Regelungsadressat und Regelungsgarant sind identisch. Es gibt keine höhere Gewalt, die die Anforderung der Verfassung im Konfliktfall mit Zwang durchsetzen könnte. Darin liegt die eigentümliche Schwäche gerade des höchstrangigen Rechts“ 746.

Reaktion auf diese Schwäche war im ausgehenden 18. Jahrhundert in den USA die Ausbildung einer Verfassungsgerichtsbarkeit, um dem Gefahrpotential, das von allen Gewalten ausgeht, zu begegnen. Doch auch die Judikative, der judicial review, ist anfällig für totalitäre Ideologien. Dies gilt insbesondere, weil sie als innerstaatliche Gewalt letztlich auch dem „Identitäts- und Konfusionsdilemma“ von Regelungsadressat und Regelungsgarant unterliegt. Das Ineinanderfallen von Schutz und Gefährdung von Grund- bzw. Menschenrechten in Gestalt des Staates ist auch als „Aporie der Menschenrechte“ (H. Arendt) bezeichnet worden. Um diese Aporie zu transzendieren und dem Identitätsdilemma zu entgehen, bedarf es einer weiteren Ebenendifferenzierung in Form des regionalen Menschenrechtsschutzes. Erst durch ihn, durch überstaatlichen Schutz, entsteht eine Trennung, treten Garant und Adressat auseinander. Diese strukturelle Entkoppelung, das Auseinandertreten von Gefahrenquelle und Schutzmöglichkeit, bildet das Proprium des regionalen Menschenrechtsschutzes. Er vermag einen zu Staatlichkeit distanzierten, menschenrechtlichen Rechtfertigungszwang des Politischen herzustellen. Mit dem regionalen Menschenrechtsschutz entsteht in der Terminologie D. Grimms also gewissermaßen eine „höhere Gewalt“. Wenngleich es den Konventionsgerichten vermöge ihrer Feststellungsurteile747 und in Ermangelung einer kassatorischen Urteilswirkung nicht möglich ist, das Konventionsrecht im Konfliktfall mit Zwang durchzusetzen, die Konventionssysteme ergo auf den Befolgungswillen des Einzelstaates angewiesen bleiben, üben sie doch einen faktischen Druck aus, dem sich die Mitgliedstaaten kaum widersetzen können. 746 747

D. Grimm, Die Zukunft der Verfassung II, 2012, S. 27. Vgl. oben Zweiter Teil.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Nun wird man einwenden können, dass auch die Konventionskontrolle, der „regional review“, fehlbar ist. Dies führt zu einem „Garantenskeptizismus“ – mit den Worten des römischen Satirikers Juvenal: „(. . .) sed quis custodiet ipsos custodes?“ – „Wer aber soll die Wächter selbst bewachen?“ 748. Die Frage nach der Überwachung der Menschenrechte scheint somit in einen infiniten Regress, in eine unbegrenzte Schutz- bzw. Ebenenvervielfältigung zu münden. Aus dieser Erkenntnis darf aber nicht der fehlerhafte Schluss gezogen werden, die Sinnhaftigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes bzw. seine Legitimation in Zweifel zu ziehen. Vielmehr nimmt er eine zweckmäßige Ergänzung des sich herausbildenden multi-level-protection system, eines verschränkten Mehrebenensystems des Menschenrechtsschutzes aus nationaler und universaler Ebene vor749. Insofern lässt sich auf Juvenal mit Juvenal antworten: „(. . .) defendit numerus“ – „sie schützt die große Zahl“ 750. Die spezifische Legitimation liegt neben dieser Schutzverfielfältigung aber eben vor allem darin, dass das „Konfusions- und Identitätsdilemma“ überwunden wird. Der Grundsatz „nemo iudex in sua causa“, der auch den Ausgangspunkt von H. Kelsens „Hüter“-Überlegung bildet751, wird erst durch die suprastaatliche Kontrolle vollends realisiert. Erst damit ist das Defizit behoben, dass auch ein Verfassungsgericht als Teil des Staates geneigt sein kann, Macht zu missbrauchen und unrechtmäßig zu handeln. In Anknüpfung an H. Kelsens Überlegungen zur Vertiefung und Erweiterung der Gewaltenteilung in horizontaler Hinsicht durch Verfassungsgerichtsbarkeit tritt mit dem regionalen Menschenrechtsschutz noch die vertikale Dimension hinzu. Seine Daseinsberechtigung und seine Legitimation ergeben sich aus der Eigenart, außerstaatlicher Garant zu sein, einen vom potentiellen Agressor gelösten und unabhängigen Status inne zu haben, Schutz ohne Zwangsgewalt entstehen zu lassen und mit der Überwindung des „Identitätsdilemmas“ zu einem ideologieunanfälligen, rechtskulturellen Pluralismus beitragen zu können. Wenngleich im Ersten und im Letzten die Signatarstaaten über Existenz und Wirkung des regionalen Menschenrechtsschutzes entscheiden, ist damit strukturell die Möglichkeit geschaffen, die Nachachtung der Menschenrechte nicht nur im und durch den Staat, sondern überwölbend in Distanz und Neutralität von 748

Juvenal, Satiren VI., 1993, Zeile 347 f. Die Risiken eines Minus an Grund- und Menschenrechtsschutzsystemen überwiegt die Gefahren weiterer Menschenrechtsschutzringe. Nie hat ein Mehr an Menschenrechtsschutz negative Konsequenzen gezeitigt. Die Gefahren liegen allein in einem overlapping und der damit korrelierenden Intransparenz. Ein Verlust an Effektuierung ist hingegen nicht zu erwarten, weil jedem System ein Garant zugeordnet ist. 750 Juvenal, Satiren II., 1993, Zeile 46. 751 Siehe H. Kelsen, Wer soll Hüter der Verfassung sein?, 2008, S. 59. „Denn über keinen anderen rechtstechnischen Grundsatz ist man sich so einig wie über den: daß niemand Richter in eigener Sache sein soll.“ Daraus schloss er, dass die Verfassungsgarantie einem eigenständigen Verfassungsgericht anvertraut werden soll. 749

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außen zu gewährleisten. Ihre republikanische Revidierbarkeit und demokratische Verfügbarkeit sind damit relativiert. Zugleich sind sie aber auch der Dispositionsgewalt eines potentiellen diktatorischen Regimes entzogen. In dieser übergesetzlichen Gesetzlichkeit, diesem Korrektiv zweiter Ebene, dass das Strukturdefizit national-staatlichen Grundrechtsschutzes zu überwinden vermag, liegt das Wesen und zugleich ein zentrales Legitimationselement des regionalen Menschenrechtsschutzes. b) Legitimation aus Distanz und Interesselosigkeit aa) „Veil of ignorance“ und „veil of distance“ In engem Zusammenhang mit der aufgezeigten Überwindung des Strukturproblems des Verfassungsrechts steht auch Unabhängigkeit als das Kerncharakteristikum der Judikative. Diese wiederum manifestiert sich in Distanz. Distanz ist Gerichten deshalb immanent, weil sie die Gestalt einer „triadic dispute resolution“ aufweisen und als präexistente, konfliktexterne, autonome Institutionen dazu geeignet und geschaffen sind, einen „dyadisch“ nicht mehr beizulegenden Disput aufzulösen752. Distanz zu beiden Parteien führt zu Neutralität und Sachlichkeit, begründet oder rechtfertigt erst die Delegation eines Streitgegenstandes an die Judikative. Konzise stellt J. P. Müller fest: „Nur wer Distanz zu einem Konflikt hat, ist auch fähig, diesen ,gerecht‘ zu lösen. Distanz wird in der Regel durch die institutionelle und personenbezogene Garantie richterlicher Unabhängigkeit geschaffen.“ 753

Staatliche Judikative ist allerdings weiterhin mit dem Distanz- und Neutralitätsmakel behaftet, integraler Bestandteil der staatlichen Gewaltengliederung zu sein, worin eine potentielle Gefahr für den Grundrechtsberechtigten zu erkennen ist754. Aufgrund dieses Identitäts- oder Konfusionsdilemmas ist die unabhängige und unparteiische Lösung eines Konflikts erst in der Transzendenz von Staatlichkeit zu sehen. Das streitet für die Herauslösung des Menschenrechtsschutzes aus dem nationalen Reservat durch Internationalisierung. Erst in dieser gesteigerten Distanzierung liegt ein wahrhaft „triadisches“ Verhältnis, wirkt die Konventionsgerichtsbarkeit „super partes“. Distanz, illustriert in der langen Legitimationskette hin zur regionalen Menschenrechtsgerichtsbarkeit, erweist sich deshalb nicht nur als Legitimationsproblem, sondern zugleich als dessen Lösung. Neben diesem strukturellen Grund sprechen aber auch Wesen und Inhalt der Menschenrechte für ein gewisses Maß an Distanz. Ihre Universalisierbarkeit lässt 752

A. Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 12 ff. J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechte, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 38. 754 Exemplarisch sei auf die Richterbriefe im Dritten Reich verwiesen, die die Judikative beeinflussen sollten. Deutlich wird das auch an der Verschiebung von der historischen zur objektiven und damit tendenziell entgrenzten Auslegung, vgl. B. Rüthers, Die entgrenzte Auslegung, 7. Aufl. 2012. 753

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es konsequent erscheinen, dass Konkretisierung und Überwachung nicht durch Nähe, sondern durch und in Distanz erfolgen755. Diametral zu der vom EGMR stets betonten These, dass „(b)y reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, State authorities are in principle in a better position than the international judge to give an opinion on the exact content of these requirements (. . .)“ 756,

erschließt sich der grund- und menschenrechtliche Gehalt eben nicht nur aus dieser Nähe, sondern auch aus bewusster Abstraktion, Distanzierung von allen Implikationen und Interessen, einem „veil of ignorance“ 757. Insofern gilt „ignorance through distance“. Einerseits judizieren die Konventionsgerichtshöfe in Distanz zum nationalen Recht, transzendieren lokale und konkrete Bedingungen, indem Sie einen „veil of ignorance“ herstellen, andererseits tragen sie kulturellen Vorbedingungen Rechnung. Partikularität und Universalität werden durch regionalen Menschenrechtsschutz auf der Grundlage eines „gemeinsamen Erbes“ miteinander vereint. So entsteht eine kontingente „Semiuniversalität“, die einem „postepochalen Zeitalter“ am ehesten gerecht wird758. Gleichwohl ist nur ein Kern an Menschenrechten universalisierbar, kann und soll deshalb auch nur ein Minimalstandard in der Distanz gewährleistet werden759. Die regionalen Menschenrechtsschutzsysteme, die ihre Jurisdiktion quantitativ und qualitativ immer mehr ausweiten, sollten sich des Umstandes bewusst werden, dass die Stärke des Rechts mit der Erkennbarkeit seiner Grenzen irreversibel zusammenhängt760. Kurzum: Unabhängigkeit und dadurch erwirkte Neutralität als das entscheidende Charakteristikum von judicial review entsteht eben auch aus und in Distanz, die sich gerade im regionalen Menschenrechtsschutz verwirklicht findet761. 755 J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechte, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 39 unter Rekurs auf J. Rawls. 756 ECHR, 07.12.1976, Handyside v. United Kingdom, No. 5493/72, Rn. 48. 757 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 2005, S. 159 ff. 758 So P. W. Kahn, Political Theology, 2011, S. 118 „. . . we live in a ,postepochal age‘. We find that people operate with diverse systems of belief, which do not fall into any coherent order. They simultaneously affirm the universality of rights and the particularity of meaning. Conflicts are solved on an ad hoc basis, without any sense that there must be a single theory applied uniformly in every conflict. Everything is relative, until it is not.“ 759 Vgl. J. P. Müller, Subsidiarität und Menschenrechte, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 39. 760 Vgl. C. Möllers, Legalität, Legitimität und Legitimation des Bundesverfassungsgerichts, in: M. Jestaedt/O. Lepsius/C. Möllers/C. Schönberger (Hrsg.), Das entgrenzte Gericht, 2011, S. 406. 761 Mit der Neutralitätsthese beschäftigt sich auch H. Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law, Harvard Law Review 73 (1959), S. 1 ff. Ihm geht es aber um rationalitätsorientiertes Entscheiden als Erscheinungsform von Neutralität, ohne die der U.S. Supreme Court zu einem „naked power organ“ degenerierte.

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bb) Interesselosigkeit und pouvoir neutre Neutralität als legitimatorischer Faktor kann aber nicht nur aus Distanz gewonnen werden, sondern auch daraus, dass die Judikative allgemein und zumal die überstaatlichen regionalen Menschenrechtsgerichtshöfe im Vergleich zu den anderen staatlichen Gewalten ein geringeres Maß an Eigeninteresse, institutionellem Willen und Initiative ausbilden762. Jenseits von Selbsterhaltung (Autopoiesis) agieren sie nur auf Initiative und zugunsten des (menschen)rechtsschutzsuchenden Subjekts. Die damit korrellierende institutionell-politische Neutralität eignet sie dazu, ihnen den Status eines pouvoir neutre zuzusprechen763. Mit der aus dem Zeitalter der konstitutionellen Monarchie stammenden, auf B. Constant zurückgehenden Konzeption der pouvoir neutre ist ursprünglich eine eigenständige vierte Gewalt bezeichnet worden. Sie soll die anderen Gewalten mäßigen, zwischen ihnen vermöge ihrer Neutralität vermitteln und schlichten. Kam diese Aufgabe nach B. Constant noch dem Monarchen zu, ist sie später von C. Schmitt dem Reichspräsidenten als „Hüter“ attribuiert764 und schließlich dem Verfassungsgericht zugesprochen worden765. Sofern man die Figur der „geheimnisvollen“ 766 pouvoir neutre nicht ohnehin als nicht einlösbare und verzichtbare Fiktion qualifiziert oder als historisch diskreditiert ansieht und trotz aller Fragwürdigkeit an ihr festhalten will, kann sie in den Konventionsorganen des regionalen Menschenrechtsschutzes erkannt werden. Sofern sie überhaupt bemüht wird, sollte sie nicht einem Staatsorgan zugeordnet werden, sondern im Überstaatlichen lokalisiert werden. Auch unter Anerkennung eines funktionalen Verständnisses767 ist eine neutrale Gewalt nicht innerhalb des Gewaltengefüges, sondern allenfalls außerhalb dessen identifizierbar. Die eigentliche „Verfassungsreserve“ liegt nämlich nicht in einem Verfassungsorgan begründet, sondern in den extrakonstitutionellen Konventionssystemen. So kann den Konventionsgerichtshöfen eine „hemmende, ausgleichende, zum Teil auch excedierende Funktion“ attestiert werden768. Wenngleich ihre Mäßigungs-, Koordinations- und Schlichtungswirkung in Ermangelung von Organstreitigkeiten

762

Vgl. C. Möllers, Die drei Gewalten, 2008, S. 100. G. Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), S. 289 ff. 764 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 3. Aufl., 1985. 765 K. Doehring, Der „pouvoir neutre“ und das Grundgesetz, in: Der Staat, 3 (1964), S. 201 ff. 766 Vgl. M. Herdegen, Verfassungsgerichtsbarkeit als pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), S. 257. 767 M. Herdegen, Verfassungsgerichtsbarkeit als pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), S. 258. 768 Vgl. G. Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), S. 291. 763

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

beschränkt ist, sie kein „politischer Schiedsrichter“ sind769, dem die Aufgabe zufällt, „Spannungen zwischen aktiven politischen Gewalten zu lenken und zu entschärfen“ 770, verstehen sie sich doch als ein „Arbiter (. . .) zwischen dem Individuum und einem Vertragsstaat“ 771. Die „Suche nach einem die politischen Mächte begrenzenden pouvoir neutre“, der „die Bindung des pouvoir constitué an den pouvoir constituant“ 772 garantiert, endet letztlich nicht in staatlicher Verfassungsgerichtsbarkeit, sondern führt aus dem staatlichen Kontext heraus. So sind es im letzten die von Staatlichkeit losgelösten, unparteiischen Konventionsorgane, die den Missbrauch staatlicher Gewalt „neutralisieren“. Auch darin liegt ein legitimierendes Element des regionalen Menschenrechtsschutzes. cc) Input- und Output-Legitimation, Individualismus und Utilitarismus Das bereits skizzierte Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Menschenrechten, das sich in der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative spiegelt, lässt sich auch in der maßgeblich von F. W. Scharpf geprägten Dichotomie zwischen Input- und Output-Legitimation beschreiben773. Erstere soll „herrschaftliche Anforderungen möglichst unverfälscht aus den Präferenzen der Mitglieder des Gemeinwesens“ abbilden, letztere zielt darauf, dass „die Ausübung der Herrschaft die Interessen der Mitglieder wirksam“ fördert774. Dieser Differenzierung in zwei unterschiedliche Legitimationsrichtungen entspricht A. Lincolns berühmtes Diktum in der Gettysburg Address „Government of the people, by the people, for the people, shall not perish from the earth.“ Mit der Präposition „by“ ist die Input-Seite beschrieben, mit der Präposition „for“ jene Orientierung hin auf die salus publica, die als Output-Legitimation begriffen werden kann. Regionaler Menschenrechtsschutz ist mangels unmittelbarer demokratischer Legitimation ebenso wie judikative Gewalt im Allgemeinen maßgeblich auf eine Output-Legitimation verwiesen. Zwar ist der Individiualbeschwerde, als ein fremd769 Dazu auch explizit („The Court as Referee“), J. H. Ely, Democracy and Distrust: A Theory of Judicial Review, 1980, S. 73 ff. 770 K. Doehring, Der „pouvoir neutre“ und das Grundgesetz, in: Der Staat, 3 (1964), S. 212. 771 G. Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), S. 297 und 306 f. 772 K. Doehring, Schlusswort – Auf der Suche nach einem die politischen Mächte begrenzenden pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), S. 311 und 312. 773 Grundlegend F. W. Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970. V. A. Schmidt hat diesem Dualismus im Hinblick auf die EU „throughput“ als ein drittes Kriterium hinzugefügt, vgl. V. A. Schmidt, Democracy and Legitimacy in the European Union Revisited: Input, Output and Throughput, Political Studies 61 (2013), S. 2 ff. 774 F. W. Scharpf, Legitimationskonzepte jenseits des Nationalstaats, in: G. F. Schuppert/I. Pernice/U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 708 f.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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initiiertes Verfahren mit unverfälschter775 subjektiver Interessenartikulation des rechtsschutzsuchenden Individuums, auch ein gewisses „partizipatorisches“ 776 Input-Element immanent, doch ist dieses exklusiv und nicht aggregationsfähig. Der durch die Konventionssysteme erstrebte Schutz des Einzelnen, seine Ausnahme vom allgemeinen Gesetz, steht den unter dem demokratischen Mehrheitsprinzip gebildeten Kollektivpräferenzen, die sich in staatlichem Handeln repräsentiert finden, im Zweifel und im Grundsatz diametral entgegen. Das subjektive Schutzinteresse konfligiert mit dem aus kommunizierten Präferenzen gebildeten „Konsens“ 777. Gerichtliche Entscheidungen lassen sich allenfalls als gemeinwohlfördernde „Herrschaft für das Volk“, nicht als „Herrschaft des Volkes“ charakterisieren. So greift auch die Individualbeschwerde des regionalen Menschenrechtsschutzes ein vorgebrachtes Einzelanliegen auf und deutet dieses in objektive, gemeinwohlorientierte Anforderungen an staatliche Hoheitsgewalt um. Insofern wirkt der regionale Menschenrechtsschutz auch an einer neuen „WirIch-Balance“ 778 mit. Eine solche Output- bzw. Ergebnisorientierung779 indiziert auch bereits die von den Konventionsgerichtshöfen praktizierte teleologische und verobjektivierende Auslegungsmethodik. Die Gemeinwohlorientierung des regionalen Menschenrechtsschutzes ist daran ablesbar, dass er – mit Ausnahme von sogenannten mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen, in denen der Freiheitsgewinn des einen Subjekts notwendig eine Freiheitsverkürzung des anderen nach sich zieht – ein Pareto-Optimum herstellt: Der Beschwerdeführer wird bessergestellt ohne die Position eines anderen Rechtsschutzberechtigten schlechter zu stellen. Regionaler Menschenrechtsschutz als „Vertrag zugunsten Dritter“ verpflichtet und belastet, von genannter Ausnahme abgesehen, allein die Vertragsstaaten. Damit schützt er strikt individualistisch, ohne das dem demokratischen Mehrheitsprinzip eingeschriebene Utilitarismusprinzip der „greatest happiness of the greatest number“ zu unterminieren. c) Legitimation aus Pluralismus Die suprastaatliche Judikative verfügt über eine Form der inhärenten Legitimation780. Gemeint ist nicht der auch der Verfassungsgerichtsbarkeit innewohnende 775 Zum Problem der unverfälschten Interessenartikulation in der Demokratie mit der Forderung eines „enlightened understandings“, R. A. Dahl, Democracy and its Critics, 1989, S. 307. 776 F. W. Scharpf, Regieren in Europa: effektiv und demokratisch, 1999, S. 17. 777 Dies als ein Element der Input-Legitimation herausstellend, F. W. Scharpf, Regieren in Europa: effektiv und demokratisch, 1999, S. 17. 778 Vgl. dazu N. Elias, Wandlungen der Wir-Ich-Balance, in: ders., Die Gesellschaft der Individuen, 1987, S. 207 ff. 779 M.w. N. C. D. Classen, Demokratische Legitimation im offenen Rechtsstaat, 2009, S. 27. 780 Maßgeblich bei der Betrachtung von Legitimationsdefiziten und Legitimationsmöglichkeiten regionaler Jurisdiktion erscheint, dass man sich die Rechtskultur des

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Legitimationszusammenhang durch demokratische Richterwahl781, sondern der Binnenpluralismus eines Spruchkörpers, in dem – wie etwa im EGMR – 47 Richter aus 47 Staaten und Rechtsordnungen repräsentiert sind782. Dies fungiert nicht nur als Ausgleich für die vertikalen Spannungen zwischen Konventionsstaaten und den regionalen Menschenrechtsgerichtshöfen, sondern verringert die potentielle Anfälligkeit des Spruchkörpers für Parteilichkeit, politische Vereinnahmung und Ideologisierung. Das Aufeinandertreffen unterschiedlicher Vorverständnisse und Hintergründe, ihr deliberatives Zusammen- und Widerspiel sorgt zwangsläufig dafür, dass der institutionellen Machtkonzentration in Gestalt der Konventionsgerichte eine personelle und rechtskulturelle Dekonzentration immanent ist. Die finale Deutungshoheit der überstaatlichen Gerichtshöfe ist also in sich „zergliedert“ und nimmt den Plural in sich auf. Schwächer fällt eine solche Legitimation allerdings dann aus, wenn der Spruchkörper signifikant kleiner ist783. So setzt sich der IAGH lediglich aus 7 Richtern zusammen784. Gleichwohl herrscht auch hier ein nationale Verfassungsgerichtsbarkeit übersteigendes, spezifisches Kontroll- und Legitimationsmoment vor, da alle sieben Richter aus unterschiedlichen Rechtsordnungen entstammen. Der personelle Pluralismus innerhalb der Konventionsorgane führt demnach bereits ein gewisses Maß an struktureller Eigen- und Selbstlegitimation mit sich, setzt sich sodann aber auch maßgeblich in der Urteilsfindung fort. Die Beurteilung der causa aus der Perspektive von 2, 6 oder 16 weiteren Richtern – je nach Kammer und Konventionssystem – gewährleistet eine Objektivierung des Urteils und wendet sich gegen unilaterale Vereinnahmungen. Der Gehalt von Grund- und Menschenrechten ist der singulären Deutungshoheit eines nationalen Obergerichts oder Verfassungsgerichts entzogen785. Eine mögliche unbecommon law vor Augen führt und die regionalen Menschenrechtsgeflechte als stark durch diese Tradition geprägt begreift. Dadurch wird notwendig dem Gericht als Institution und dem Richter als Person eine stärkere und zentralere Rolle eingeräumt als dies in der kontinentaleuropäischen Rechtskultur der Fall ist. Gerichte sind in Rechtsordnungen des common law zur Rechtsfindung auf die Rechtserfindung angewiesen. 781 Ebenso wie auch das Wahlverfahren der Verfassungsrichter im nationalen Rahmen immer wieder in Frage gestellt wird, ist auch in Bezug auf den EGMR das Prozedere in jüngster Zeit verstärkt Kritik ausgesetzt gewesen. Demokratischer Wahlakt und das Ideal der Unparteilichkeit bzw. Neutralität der Justiz konfligieren miteinander. 782 Dieser findet sich nicht zuletzt in den dissenting opinions abgebildet und artikuliert. Sie können als eine Form der inneren Demokratisierung von Entscheidungen aufgefasst werden. 783 Als problematisch erweisen sich unter dieser Lesart allerdings gegenläufige Reformentwicklungen der EMRK, die aus Effizienzgesichtspunkten die Prüfung der Rechtssache zunehmend in die mit lediglich 3 Richtern besetzen Ausschüsse oder dem Einzelrichter übertragen. So sehr dies der Überlastung des Gerichtshofes entgegenwirken mag, so sehr zehrt es dennoch die dargetane Legitimationswirkung auf. 784 Vgl. auch oben Zweiter Teil. 785 Der Nachteil einer solchen Deutungskonzentration ist deutlich erkennbar im Wirken der Justiz während des Nationalsozialismus. Unverdächtige Normen sind ideologi-

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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grenzte bzw. unkontrollierte Auslegung wird durch die regionalen Rechtsprechungskörper unterbunden und erhält ein multirechtskulturelles Korrektiv. Unilateraler „Constitutional Review“ wird um einen pluralistischen „Conventional Review“ ergänzt. Gleichwohl wird dem soziokulturellen und rechtlichen Kontext im jeweiligen Vertragsstaat Rechnung getragen, indem im europäischen System die obligatorische Anwesenheit eines Richters aus dem beklagten Staat vorgeschrieben ist. Ein vergleichbares Institut fehlt im interamerikanischen Raum zwar, doch nehmen sich die rechtskulturellen Divergenzen aufgrund des kolonialen Erbes auch ungleich geringer aus786. In der multikulturell inspirierten, deliberativen Urteilsformung liegt ein entscheidendes Moment der Legitimation regionaler Judikatur. Die Ermittlung eines möglichen Menschenrechtsverstoßes und seiner gerechten Auflösung erfolgt rechtsvergleichend787 im Kontext eines corpus iuris, der auf die Rechts- und Gerechtigkeitserfahrungen von zahlreichen Staaten, einer Fülle von Instrumenten und rechtskulturellen Vor- und Hintergründen zurückgreifen kann. In dieser rechtsvergleichenden Rechtsfindung788 offenbart sich nicht nur das Verständnis der Menschenrechte durch und aus Kultur, ihre tiefe Diversität789, die erst relativ zueinander erschlossen werden kann, sondern auch ein Wettbewerb um eine Art „best practice“-Ansatz. Beispielhaft für einen solchen sind etwa der Fall Jalloh790, S. H. et al. v. Austria791 oder jüngst Vinter v. United Kingdom792. Mögen sich zuweilen Erwartungs- und Rechtssicherheit durch den vergleichenden Rückgriff auf fremde Rechtsordnungen verringern, gewinnen in demselben Maße Perspektivenvielfalt, Konkurrenz und Wettbewerb um die „beste“ Lösung an Raum. siert und mit nationalsozialistischem Gedankengut durchsetzt worden. Dies nachweisend und vertiefend für den Bereich des Zivilrechts, B. Rüthers, Die unbegrenzte Auslegung, 7. Auflage 2012. 786 So D. Shelton, Mitglied der Interamerikanischen Menschenrechtskommission im Gespräch mit dem Verfasser im November 2012. 787 Dazu eingehend L. Wildhaber, The Role of Comparative Law in the Case-Law of the European Court of Human Rights, in: J. Bröhmer (Hrsg.), Festschrift für Georg Ress 2005, S. 1102 ff. 788 Der Wert dieses Vorgehens ist indes zuweilen Kritik ausgesetzt gewesen. So ist angeführt worden, sie sei durch objektive Bindung an die Auslegung ebenso wie durch fehlende Ressourcen begrenzt und dass es sich dabei häufig um einen auf zufälligen Kenntnissen und Erfahrungen der Richter gestützten Grobvergleich handele, vgl. K. Gaede, Fairness als Teilhabe, 2007, S. 87 f. 789 Dazu Erster Teil A. 790 ECHR, 11.07.2006, Jalloh v. Germany, No. 54810/00. Der Gerichtshof stellte in Rn. 31 bis 47 zunächst die Rechtslage und Praxis in Deutschland sowie medizinische Einschätzungen dar, bevor er in Rn. 48 völkerrechtliche Grundlagen heranzieht, dann Rechtsprechung von US-Gerichten heranzieht (Rn. 49 ff.) und schließlich in Rn. 53 ff. die Rechtslage in den Mitgliedstaaten des Europarates skizziert. 791 ECHR, 01.04.2010, S.H. et al. v. Austria, No. 57813/00, Rn. 32 ff. 792 ECHR, 09.07.2013, Vinter et al. v. United Kingdom, No. 66069/09, 130/10 und 3896/10 sehr ausführlich ab Rn. 59 und insbesondere Rn. 68 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Diese „bessere“, das heißt verletzungsverhindernde oder grundrechtsschonendere Lösung kompensiert aber den Verlust an Rechtssicherheit und kann als ein maßgeblicher Legitimationsfaktor des regionalen Menschenrechtsschutzes qualifiziert werden. d) „Least dangerous“ und „non-dangerous“ branch Die Judikative als solche ist eine schwache Gewalt. Klassische Definition dieser Erkenntnis findet sich in A. Hamiltons „The Judiciary Department“, Federalist Nr. 78: „The judiciary, on the contrary, has no influence over either the sword or the purse; no direction either of the strenght or of the wealth of the society; and can take no active resolution whatever. It may truly be said to have neither FORCE nor WILL, but merely judgement; and must ultimately depend upon the aid of the executive arm even for the efficacy of its judgements.“ 793.

Daraus folgert A. Hamilton: „(. . .) the judiciary, from the nature of its functions, will always be the least dangerous to the political rights of the Constitution; because it will be least in a capacity to annoy or injure them“ 794.

Auch der regionale judikative Menschenrechtsschutz unterfällt dieser allgemeinen Charakterisierung als „least dangerous branch“, vereinigt auf sich das legitimatorische Privileg, Macht ohne Zwangsgewalt zu sein. Im Hinblick auf den regionalen Menschenrechtsschutz erfährt diese Eigenart aber noch eine Steigerung. Anders als Verfassungsgerichtsbarkeit verfügen die Konventionsgerichtshöfe weder über die Möglichkeit der Kassation noch der Reformation. Sie können einen konventionswidrigen einzelstaatlichen Akt hoheitlicher Gewalt weder vernichten noch ersetzen. Ihre Urteile tragen lediglich Feststellungscharakter. Die Wirkungsweise des regionalen Menschenrechtsschutzes unterscheidet sich damit kategorial von der innerstaatlichen Judikative und dem von ihr ausgehenden Grundrechtsschutz. Regionaler Menschenrechtsschutz wirkt nämlich anders als diese maßgeblich über Öffentlichkeit, schafft einen internationalen „Pranger“, setzt ein äußeres Zeichen. Er ist ausschließlich deklaratorisch, basiert auf „rational persuasion“ ohne „power“, „coercison“, oder „physical force“ 795. Regionalem Menschenrechtsschutz steht auch kein „executive arm“ als Nebengewalt zur Umsetzung zur Verfügung. Er basiert auf der Folgewilligkeit und Selbstrealisation der verpflichteten Konventionsstaaten. Die von A. Hamilton be793 A. Hamilton, Federalist No. 78, abrufbar unter http://thomas.loc.gov/home/hist dox/fed_78.html, zuletzt abgerufen am 14.03.2015. 794 A. Hamilton, Federalist No. 78, abrufbar unter http://thomas.loc.gov/home/hist dox/fed_78.html, zuletzt abgerufen am 14.03.2015. 795 Vgl. dazu R. A. Dahl, The Concept of Power, Behavioral Science, 2 (1957), S. 201 ff.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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schriebene Abhängigkeit zur Durchsetzung steigert sich damit im Hinblick auf den ausschließlich judikativen regionalen Menschenrechtsschutz zusätzlich. Die dem regionalen Menschenrechtsschutz eigentümliche Schwäche – seine Umsetzungsbedürftigkeit und Durchsetzungsschwierigkeit in Folge von „Beachtungs-“ bzw. „Befolgungspflichten“ sowie die inter partes Wirkung der Verdikte – gereichen so zu seinem legitimatorischen Vorteil. Regionaler Menschenrechtsschutz ist selber „neither FORCE nor WILL“ und verfügt auch nicht über diese als gleichgeordnete, verpflichtungsfähige Nebengewalten. Das Legitimationsbedürfnis sinkt durch das darin begründete geringe Gefährdungspotential deutlich ab. Regionaler Menschenrechtsschutz lässt sich deshalb als „non-dangerous branch“, als gewaltlose Gewalt qualifizieren. Hat A. M. Bickel in seinem maßgebendem Werk „The Least Dangerous Branch: The Supreme Court at the Bar of Politics“ die Frage „(. . .) which institution of our government – if any single one in particular – should be the pronouncer and guardian of such values.“ 796 dahingehend beantwortet, dass der Supreme Court bzw. pars pro toto die Judikative und insbesondere die Höchst- und Verfassungsgerichtsbarkeit der beste Garant für solche „enduring values“ sei, ist dies zumindest zu relativieren bzw. zu ergänzen797: Die beste Versicherung dieser vorpolitischen, unverfügbaren Werte, ob chiffriert als „Pronouncer“, „Guardian“, „Hüter“ oder „pouvoir neutre“, liegt nicht in der „least dangerous branch“ im Innerstaatlichen, sondern in der „non-dangerous branch“ des Außer- und Überstaatlichen. Auch staatliche Judikativkontrolle begriffen als „sober second 796 A. M. Bickel, The Least Dangerous Branch, 2. Aufl. 1986, S. 24. Mit „values“ meint er: „The point of departure is a truism; perhaps it even rises to the unassailability of a platitude. It is that many actions of government have two aspects: their immediate, necessarily intended, practical effects, and their perhaps unintended or unappreciated bearing on values we hold to have more general and permanent interest. It is a premise we deduce not merely from the fact of a written constitution but from the history of the race, and ultimately as a moral judgment of the good society, that government should serve not only what we conceive from time to time to be our immediate material needs but also certain enduring values. This in part is what is meant by government under law. But such values do not present themselves ready-made. They have a past always, to be sure, but they must be continually derived, enunciated, and seen in relevant application. 797 A. M. Bickel lässt in seiner Frage bereits deutliche Zweifel erkennen, ob diese Aufgabe überhaupt einer einzigen Institution anzuvertrauen ist. A. Stone Sweet hat unter Negation einer strengen Dichotomie von Recht und Politik eine partizipatorische Legitimation von Verfassungsgerichtsbarkeit vorgeschlagen. Legitimation resultiert danach aus dem dauerhaften aktiven Zusammenwirken von drei Akteuren – initiierender Kläger, reagierender Richter sowie Vertreter aus Lehre und Wissenschaft bilden diese gemeinsam durch Interaktion über die Zeit durch Praxis aus, vgl. A. Stone Sweet, Governing with Judges, 2000, S. 139 ff. und 151 f. Legitimation erfolgt also nicht mehr einseitig, von einem bestimmten Punkt aus, sondern vielseitig, divers. Insofern handelt es sich um eine multilaterale Splitterlegitimation, die vieles gemein hat mit der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“, vgl. P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 275 ff. Diese Idee greift im Grundsatz auch für den regionalen Menschenrechtsschutz, der instrumentell der verfassungsrechtlichen Individualbeschwerde gleicht.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

thought“ 798 bedarf des regionalen Menschenrechtsschutzes als „third reflective thought“ 799. e) Ausblick: Legitimation durch Referendum? Eine noch uneingelöste, mögliche Verstärkung der Legitimation regionaler Supervision läge in einem Volksentscheid über internationale menschenrechtliche Verträge, die eine Gerichtsbarkeit etablierten800. Auf diese Weise könnte die überstaatliche Bindung des Staates ohne Verlust demokratischer Legitimation erfolgen. Gegenstand, Form und Schutzweite der außerstaatlichen Bindung der pouvoir constitue ließen sich direkt und unmittelbar auf die pouvoir constituant zurückführen. Tatsächlich hätte ein solches Prozedere ein überschießendes konstitutionelles Moment. Menschenrechtskonventionen näherten sich dadurch tatsächlich regionalen Menschenrechtsverfassungen an. Freilich ist eine derartige Entwicklung derzeit nicht zu erwarten.

IV. Resümee: Die Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes im Spannungsverhältnis mit Demokratie und Gewaltenteilung Legitimationsprobleme und Legitimationsversuche des regionalen Menschenrechtsschutzes verweisen letztlich auf das intrikate Verhältnis von Menschenrechten und Demokratie, das sich institutionell auf den gewaltenteilungsbedingten Konflikt zwischen Legislative und Judikative durchschlägt801. Demokratie verstanden als Mehrheitsprinzip hat einen konsequentialistischen Gehalt, ist an Präferenzen und Nutzen orientiert. Dies lässt sich begreifen als ein dem Utilitarismus nahestehendes Konzept, versucht sich in Vorteilsmaximierung („greatest happiness of the greatest number“). Judicial review hingegen, hat mit seinem ihm eingeschriebenen counter majoritarian-Charakter etwas Antiutilitaristisches, verwehrt sich der Aggregation und Maximierung. Die Lösung des Konflikts zwischen diesen beiden Axiomen liegt in der Suche nach einer Syn798 So Justice H. F. Stone, The Common Law in the United States, Harvard Law Review 50 (1936), S. 25. 799 Zum Begriff „reflective thought“ grundlegend J. Dewey, How We Think, 1910, mit der Definition: „Active, persistent, and careful consideration of any belief or supposed form of knowledge in the light of the grounds that support it and the further conclusion to which it tends“. 800 Eine Pflicht, wichtige völkerrechtliche Verträge vom Volk billigen zu lassen, ist jüngst in der Schweiz diskutiert worden. Diese Initiative der „Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz“ (Auns) ist allerdings wiederum an einer Volksentscheidung gescheitert, vgl. SZ Nr. 138 vom 18.06.2012, S. 8, „Referenden abgelehnt“. 801 Zu diesem Spannungsverhältnis U. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Misstrauen, 1998, S. 172 ff.

E. Legitimation des regionalen Menschenrechtsschutzes

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these802 aus Mehrheitsdiktat und Minderheitsschutz, demokratischer Repräsentation und gerichtlichem Schutz des Einzelnen. Legitimationsprämisse ist also die Vereinbarkeit von Menschenrechten und Demokratie. Demokratie ist nicht auf die Annahme zu reduzieren, dass keine Werte jenseits der Wahl und Meinung von Individuen bestehen. Nur unter einem solchen Demokratieverständnis stünden Demokratie und Menschenrechte unverrückbar miteinander im Konflikt. Demokratie ist aber mit Werten vereinbar, wird durch sie strukturiert, gebunden und konditioniert803. Demokratie wäre sonst kollektive Willkür. Menschenrechte sind vorstellbar als stabilisierende Säulen in der sonst offenen res publica. Für derart unverfügbare, vorpolitische Rechte bietet der regionale Menschenrechtsschutz das adäquate, weil außerstaatliche Medium. Die Menschenrechte sind dadurch dem staatlichen Zugriff entzogen. Regionale Supervision bedeutet damit das Ende der stets gefährlichen Omnipotenz kollektiver Selbstregierung. Die durch sie geschützten Menschenrechte erfordern also nicht die Aufgabe demokratischer Volksherrschaft, sondern sind lediglich als „Schranke der politischen Allmacht der Demokratie“ 804 zu begreifen. Der Konflikt zwischen Menschenrechten und judicial review ist unter diesem Verständnis, dass Mehrheitsprinzip und Individualrechtsschutz nicht gegeneinander stehen, sondern als Ergänzendes zu begreifen sind, überwunden. Treffend führt der EGMR in Chassagnou v. France805 aus: „Although individual interests must on occasion be subordinated to those of a group, democracy does not simply mean that the views of a majority must always prevail: a balance must be achieved which ensures the fair and proper treatment of minorities and avoids any abuse of a dominant position.“

Als Schwierigkeit einer solchen Synthese verbleibt allerdings der institutionelle Konflikt im Zeichen der Gewaltenteilung. Ist im staatlichen Raum eine Ausbalancierung zwischen Legislative und Judikative erfolgt, verändert überstaatlicher, regionaler Menschenrechtsschutz – wie dargelegt – dieses Gleichgewicht, indem er zu einer einseitigen Verstärkung des Individualinteresses durch judikativen Schutz führt. So sehr die davon ausgehende Dominanz der Menschenrechte im Grundsatz zu goutieren ist, bleibt sie nicht ohne Kritik. Menschenrechte sind nicht omnipotent. Sie sind nur ein, wenn auch tragendes Konstruktionselement einer gelingenden öffentlichen Ordnung, eines politischen 802

Vgl. M. Cappelletti, Judicial Review in the Contemporary World, 1971, S. VII. Vgl. in diese Richtung auch M. J. Perry, The Constitution, the Courts, and Human Rights, 1982, insbesondere S. 91 ff. in der Kontroverse mit J. H. Ely. 804 Vgl. C. Menke in: C. Menke/F. Raimondi, Die Revolution der Menschenrechte, 2011, S. 248. 805 ECHR, 29.04.1999, Chassagnou v. France, No. 25088/94, Rn. 112. Auch in ECHR, 13.08.1981, Young, James and Webster v. United Kingdom, No. 7601/76, 7806/ 77, Rn. 63, führt der Gerichtshof aus: „democracy does not simply mean that the views of a majority must always prevail“. 803

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Gemeinwesens. Mögen die Menschenrechte Grundlage und Grenze eines demokratischen Prozesses sein, so können sie diesen nicht ersetzen. Die drohende Vereinnahmung des politischen Diskurses durch Grund- und Menschenrechte ist ernst zu nehmen, vor Überspannungen ist zu warnen. Die Orientierung auf den Einzelnen hin, die Anerkennung auch überstaatlich einklagbarer Rechtspositionen korreliert nicht nur zwangsläufig mit einem impliziten Machtzuwachs der Gerichte, sondern auch mit einer Multiplikation an Rechtspositionen, Interessen und Individualbedürfnissen von ungeahntem Ausmaß. Durch die Individualbeschwerde kommt es zur „Mobilisierung des Einzelnen“ (J. Masing), ausnahmslos jeder wird zum potentiellen Korrektiv des Politischen. Eine Verklammerung, die Konstituierung einer objektiven Ordnung, wird immer widriger, die Fragmentierung nimmt zu. Schließlich drohen die Menschenrechte dadurch – um die berühmte Wendung G. Dürigs bezogen auf die Menschenwürde zu gebrauchen – „zur kleinen Münze“ zu verkommen806. Die skizzierten Bagatellfälle in der Rechtsprechung des EGMR geben davon einen ersten Eindruck. Unabhängig von dieser berechtigten Kritik ist einzugestehen, dass die Besorgnis um demokratische Legitimationsdefizite der Judikative, eine Erosion des demokratisch-politischen Prozesses und mangelnde Gewaltenteilung nicht einer gewissen Übertreibung entbehrt und in theoretischen Idealvorstellungen ihren Ausgang nimmt, die in den meisten repräsentativen Demokratien uneingelöst bleiben, illusorisch-fiktiven Charakter tragen. Hilfreich ist in diesem Zusammenhang die frühe Mahnung R. Marcics, dass Gewaltenteilung kein Selbstzweck sei: „Es ist ein Irrtum, zu meinen, dass dem Grundsatz der Gewaltenteilung ein absoluter Zweck innewohne. Der Sinn der Trennung erschöpft sich darin, daß eine wirksame Kontrolle verbürgt wird. Wenn daher politische und juristische Strömungen den Gedanken an eine Vertiefung und Erweiterung der richterlichen Gewalt mit dem Hinweis ablehnen, dies widerspräche dem Grundsatz der Gewaltentrennung, dann sehen sie am Kern der Sache vorbei.“ 807

Die Konventionsgerichte sollten demnach trotz ihres unleugbar politischen Elements nicht als Beschränkung der Gewaltenteilung oder -gliederung verstanden werden, sondern als deren Erweiterung und Ergänzung in vertikaler Hinsicht. Die Konventionsgerichte sind als weitere „Vetospieler“ 808 zu qualifizieren, die zur Gründung von „Polyarchie“ beitragen809. In erster Linie handelt es sich deshalb um eine fortgesetzte Gewaltenteilung ohne Gewaltergänzung. Die Mahnung R. Marcics lässt sich ceteris paribus auf das demokratische Problem übertragen. Auch demokratische Legitimation ist kein Selbstzweck, sondern zielt 806 Vgl. G. Dürig, in: T. Maunz/G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetzkommentar, 1958, Art. 1 Rn. 16. 807 R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 338. 808 G. Tsebelis, Veto Players: How Political Institutions Work, 2002. 809 R. A. Dahl, Polyarchy: Participation and Opposition, 1973.

F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes

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übergeordnet auf die Sicherung der dignitas humana. Gerade hierzu leisten die Konventionssysteme aber zweifellos einen substantiellen Beitrag, nehmen an der „anthropozentrischen Wende“ 810 Teil und katalysieren diese. Bleiben dennoch im Ergebnis Zweifel an der demokratischen Verantwortbarkeit dieser Subjektzentrierung und unüberwindbare Legitimationsdefizite des regionalen Menschenrechtsschutzes bestehen, vermögen zwei Einsichten Orientierung zu geben: Zum einen überwiegt historisch ebenso wie faktisch die Gefährlichkeit des „Diktats der Mehrheit“ jene des „Diktats des Einzelnen“, so dass mit Grund menschenrechtsgebundener, individueller Legitimität Vorrang gegenüber demokratischer Legitimität, Legalität und Legitimation zukommt811: „Rule of Law trumps Majority Rule“. Hierin liegt die eigentliche Grundlage für ein „Age of Rights“ 812. Zum anderen ist es von Bedeutung, sich eines vielfach erkennbaren, empirisch bestätigten Legitimationsparadox des judicial review gewahr zu werden: dass gerade jene Institution, die die geringste demokratische Legitimation aufweist, demokratische Teilhabe am meisten stärkt und schützt813.

F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes I. Einordnungs- und Beschreibungsproblem des regionalen Menschenrechtsschutzes Die Analyse des regionalen Menschenrechtsschutzes mündet in die Erkenntnis, dass der regionale Menschenrechtsschutz zwar auf völkervertragsrechtlichen Grundlagen beruht, seine Strukturmerkmale – Konventionsgarantien, Institutionen und Instrumente – ungeachtet dessen jedoch ganz überwiegend dem nationalen Verfassungsrecht entstammen. Sie sind in den überstaatlichen Raum projiziert bzw. in diesem reproduziert worden und erweisen sich aufgrund dieser Gestalt als 810 M. Kotzur, Die anthropozentrische Wende – menschenrechtlicher Individualschutz im Völkerrecht, in: M. Sachs/H. Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat. Festschrift für Klaus Stern, 2012, S. 811 ff. 811 Insofern gilt: „An das formaldemokratische Moment der Rousseauschen volonté général muß das materialrechtliche Element gefügt werden“, R. Marcic, Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat, 1957, S. 340. 812 L. Henkin, The Age of Rights, 2000. Ebenso, N. Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte: Ist Toleranz durchsetzbar?, 1999. 813 Beispielhaft für dieses „Legitimationsparadox“ ist im interamerikanischen Menschenrechtsschutz jüngst die Verurteilung Brasiliens zu demokratischen Abstimmungsund Beteiligungsformen über ein Staudammprojekt am Amazonas (Belo Monte). Im nationalen Recht ist hierfür etwa die Rolle des BVerfG exemplarisch. Insbesondere im Prozess der Europäischen Integration hat es das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament stetig an seine demokratische Verantwortung erinnert und dessen Beteiligung verlangt. Illustriert findet sich das in der „Integrationsverantwortung“ und dem daraufhin beschlossenen Integrationsverantwortungsgesetz.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

besonders effektiv. Die Kombination aus völkerrechtlichem Rahmen und dem nationalen Recht entlehnten Funktionsstrukturen führt jedoch zu Problemen. Die Kopplung beider Materien verändert diese wechselseitig in Wesen und Inhalt. Das Reproduzierte relativiert das Produzierende814, ist selbst aber nur Unvollständiges. Zugleich entsteht aus den beiden Ursprungsmaterien Staats- und Völkerrecht der regionale Menschenrechtsschutz als etwas genuin Eigenes. Vorhandene Kategorien werden dadurch gewissermaßen aufgesprengt. Gleichwohl versucht man, das Neue mit den bisherigen Bezugsgrößen und der vertrauten Systematik zu erfassen und verharrt dabei in überkommenen Begrifflichkeiten und Theoriegebilden. Tradierte Axiome, Prinzipien und Semantik des Staats- und Völkerrechts werden in neue Phänomene eingetragen, obwohl diese nicht ohne weiteres auf den regionalen Menschenrechtsschutz anwendbar sind. So unterliegt regionaler Menschenrechtsschutz einem partikulären Konstitutionalisierungsprozess und wird dennoch den Anforderungen einer Verfassung ohne wesentliche Entwertung der materiellen Inhalte des Begriffes nicht gerecht815. Er verbleibt in Ermangelung eines organisationsrechtlichen Bestandteils und angesichts der spezifisch-engen Aufgabe des Menschenrechtsschutzes lediglich als eine „Schwundstufe“. Regionaler Menschenrechtsschutz ist subsidiär und dennoch transzendiert seine Entwicklung faktisch dieses Funktionsprinzip816. Auch normativ passt der negatorische Charakter des Subsidiaritätsprinzips nicht zum ebenenübergreifenden Ziel des Menschenrechtsschutzes. Schließlich supranationalisiert sich der regionale Menschenrechtsschutz in Teilbereichen und bleibt trotzdem weit hinter den typischen Charakteristika und dem normativen Gehalt dieses bereits besetzten Begriffes zurück817. Es handelt sich eben nur um Konstitutionalisierungstendenzen, Supranationalisierungssplitter und Subsidiaritätselemente. Dass sämtliche Einordnungsversuche unter Verwendung vertrauter Semantik und Theorien des Staats- bzw. Verfassungsrechts erfolgen, ist einerseits verständlich818 – besteht das Neue doch „häufig nur in neuartigen Arrangements bereits bekannter Versatzstücke“ 819. Gleichwohl wird regionaler Menschenrechtsschutz 814 Vgl. zur Relativierung der nationalen Verfassungen, P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 221 ff. 815 Hierzu oben Dritter Teil B. 816 Hierzu oben Dritter Teil D. 817 Hierzu oben Dritter Teil C. 818 Schon A. de Tocqueville benannte die Herausforderung, Neues adäquat zu beschreiben angesichts seiner Erkenntnisse über die Vereinigten Staaten: „Der menschliche Verstand erfindet leichter Neues als neue Wörter, und wir sind daher gezwungen, viele ungeeignete und unzureichende Ausdrücke zu verwenden (. . .).“, zitiert nach W. Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, S. 39 f., der dies im Hinblick auf Europa im engeren Sinne feststellt und schließlich den Begriff der Gemeinschaft für geeignet erachtet. 819 W. Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, 1999, S. 18 f., der instruktiv den „konstruierten“, „erfundenen“ Charakter von Systemen herausarbeitet, sie als „Gedankengebäude“ zur theoretischen Lösung politischer Probleme klassifiziert.

F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes

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durch eine bloße reproduktive Betrachtung nur unzureichend erfasst. Das Neue kann nicht vollends aus Bestehendem erklärt werden. Die alten Kategorien und Konzepte erweisen sich zur Beschreibung und Erfassung der Systeme als unzureichend, werden dem changierenden Charakter des regionalen Menschenrechtsschutzes nicht gerecht, camouflieren aufgrund des ihnen innewohnenden Vorverständnisses mehr, als dass sie klären. „Geborgte“ Terminologie erweist sich als nicht weiterführend. Daraus resultiert das Beschreibungsproblem des regionalen Menschenrechtsschutzes: Er entzieht sich einer erschöpfenden Beschreibbarkeit durch herkömmliches verfassungsrechtliches oder völkerrechtliches Instrumentarium, nimmt für sich eine neue Form in Anspruch, verlangt nach einer anderen, neuen Semantik.

II. Regionaler Menschenrechtsschutz als Emanzipationsprozess 1. Derivativ-synkretistischer Charakter im Ursprung Regionaler Menschenrechtsschutz ist – wie dargelegt – eine Rekombination verfassungsrechtlicher Elemente im völkerrechtlichen Kontext, ist aus Verschmelzungen staatlicher und überstaatlicher Strukturmerkmale hervorgegangen. Er entstammt dem Völkerrecht, steht aber strukturell-inhaltlich dem Verfassungsrecht näher. Insofern lässt sich von einer „funktional-äquivalenten Reproduktion nationaler Formen“ 820 auf regionaler Ebene sprechen. Aufgrund dieser verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Elemente lässt sich ihm schon im Ursprung ein derivatives und synkretistisches Wesen attestieren. 2. Emanzipationsprozess zum Gebilde sui generis Regionaler Menschenrechtsschutz führt diese Vergangenheit mit, reicht aber mittlerweile weit über diese hinaus. Er erschöpft sich nicht in dem Verweis auf seinen hybriden Charakter im Ursprung. Die Entstehungsform deckt sich nicht notwendig mit der inneren Natur821, Grundlage und Wesen822 fallen nicht mehr in eins. Das ursprünglich voluntaristisch geschaffene Recht souveräner Staa820

Begrifflich U. Haltern, Was bedeutet Souveränität?, 2007, S. 20. Vgl. A. Haenel, Die vertragsmäßigen Elemente der Deutschen Reichsverfassung. Studien zum Deutschen Staatsrecht, 1873, S. 38. 822 Die Problematik und Diskussion um das Wesen des regionalen Menschenrechtsschutzes hat eine lange Tradition. Im Hinblick auf Europa wurde schon seit den Anfängen der Entwicklung eine Auseinandersetzung zwischen Föderalisten und Unionisten geführt, also zwischen jenen, die einen europäischen Bundesstaat forderten und solchen, die der Form einer intergouvernementalen Zusammenarbeit den Vorzug gaben. Die Kontroverse ist keineswegs auf Europa im engeren Sinne beschränkt gewesen, sondern hatte allgemein für die „Idee Europas“ Bedeutung. Vgl. diese Dichotomie aufzeigend K. Carstens, Das Recht des Europarates, 1956, S. 14. 821

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

ten823 hat seine „völkerrechtliche Qualität inhaltlich weitgehend abgelegt“ 824 und insbesondere verfassungsrechtliche Elemente in sich aufgenommen. Durch Rezeption und Negation sind sodann Andersartigkeit und Eigenständigkeit entstanden. Emanzipation meint also deskriptiv-formal zunächst das Verlassen der Grundform als völkerrechtlicher Vertrag und beschreibt darüber hinaus die Ausbildung einer genuin eigenen Identität825. Prozess und Problematik der Emanzipation von staats- und völkerrechtlichen Grundlagen finden Parallelen in der Europäischen Integrationsgeschichte826. Auch die EU hat sich einst vom Völkerrecht abgesondert und unter Einschluss staatlicher Elemente verselbständigt, folgt nicht den überkommenen Grundsätzen. Ergebnis dieses Emanzipationsprozesses des regionalen Menschenrechtsschutzes von den völkerrechtlichen und verfassungsrechtlichen Grundlagen ist die Ausbildung einer eigenen MezzaninEbene als ein Aliud zu diesen. So hat sich in Europa ein extrakonstitutioneller ordre public européen herausgebildet. Regionaler Menschenrechtsschutz schreibt Grundrechte zur Beschränkung von Macht im Überstaatlichen fort, dupliziert und potenziert diese durch Internationalisierung, radiziert Freiheit und Gleichheit ein weiteres Mal. Das Instrumentarium ist damit das gleiche, Kontext und Verankerung aber sind verschieden. Regionaler Menschenrechtsschutz stellt einen weiteren, kontrollierenden Verantwortungs- und Legitimationszusammenhang für staatliche bzw. öffentliche Gewalt her, ohne solche selber auszuüben827. Gewissermaßen handelt es sich um ein „checks and balances checked“. In Anlehnung an J. H. Ely’s „representation reinforcing theory“ 828 zur Rechtfertigung des konstitutionellen judicial review 823 N. Purvis beschreibt das mit den Attributen „atomistische Psychologie“ und „radikale Epistomologie“, Critical Legal Studies in International Law, Harvard International Law Journal 32 (1991), S. 81 ff., v. a. 93 ff. Wiedergegeben bei U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 540. 824 So zur EMRK C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2000), S. 290. 825 Beispielhaft, den Prozess allerdings als supranational ausdeutend, D. Buschle in seiner Anmerkung zum Görgülü-Beschluss des BVerfG, ders., Ein neues „Solange“? Die Rechtsprechung aus Karlsruhe und Straßburg im Konflikt, VBlBW 2005, S. 296. Er konstatiert treffend, dass es einer Anerkennung bedürfte, „dass die Europäische Menschenrechtskonvention im Bereich des Grundrechtsschutzes ein Integrationssystem geschaffen hat, das auch in der zunehmenden Verschmelzung mit dem Gemeinschaftsrecht, der Supranationalität näher steht als dem klassischen Völkerrecht.“ 826 Die EU ist nachgerade Paradebeispiel für eine Emanzipation. Auch ihr Ursprung liegt im allgemeinen Völkerrecht, sie hat sich aber weit davon entfernt, vgl. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, Van Gend & Loos, S. 25: „(. . .) daß die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt“. Durch diese ist es zur Eigenständigkeit gekommen, die einen Nexus zur Vorrangigkeit aufweist. 827 In Spiegelung der von R. Koselleck beschriebenen „indirekten Gewalt“ aus dem bürgerlichen Raum heraus lässt sich allenfalls von einer äußeren, „indirekten Gewalt“ sprechen, vgl. dazu R. Koselleck, Kritik und Krise, 1973, S. 41 ff. 828 J. H. Ely, Democracy and Distrust, 1980.

F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes

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lässt sich regionaler Menschenrechtsschutz als ein „individual protection reinforcement“ deuten. Regionaler Menschenrechtsschutz ist aber nicht nur Korrektiv von nationaler Einseitigkeit, erschöpft sich nicht im Sichern und Bewahren, sondern vertieft „eine, aber in sich vielfältige Rechtskultur“ 829 in menschenrechtlicher Hinsicht. Insofern hat er teil und bestärkt gemeineuropäisches und gemeinamerikanisches Verfassungsrecht830, das heißt, er setzt bei gemeinsamen Strukturen an und entwickelt diese fort. Er soll nicht unitarisieren, aber aus Gemeinem erwachsen und Gemeines erschaffen. Ziel ist die Errichtung einer regionalen Diskursgemeinschaft der Menschenrechte, ein „Rechtsgespräch“ (A. Arndt) zwischen den nationalen und regionalen Gerichten auf der Suche nach einem best practice-Ansatz. Die regionalen Systeme erhalten Zugriff auf nationale und internationale verallgemeinerungsfähige Prinzipien zur Problemlösung. So lässt sich dank „rechtsvergleichender Umschau mit Hilfe des Fremden das Eigene lösen“, lassen sich durch „Anleihen“ Text- bzw. Regelungsdefizite ausgleichen831. Durch derlei Produktions- und Rezeptionszusammenhänge bildet sich der acquis conventionnel der Mezzanin-Ebene als ein eigener regionaler menschenrechtlicher Standard heraus. Folglich setzt regionaler Menschenrechtsschutz nicht nur Mindeststandards, ist keine bloße „Rückversicherung“, kein bloßer „Lückenfüller“ (R. Wahl) oder bildet eine „Auffangordnung“ (P. M. Huber), die einen „negativ consensus“ definiert832, sondern entstammt der gemeinen konstitutionellen Basis und nimmt Teil an der gemeinen konstitutionellen Programmatik833. Kern dessen ist das einzelne Subjekt. Der Mensch ist zum Maß aller Dinge, ist zum exklusiven Anliegen des regionalen Menschenrechtsschutzes geworden. Dieser bewirkt, dass „[d]er Einzelne in der Welt jenseits des Staates“ 834 angesiedelt wird. Keine andere Rechtsmaterie jenseits des Staates stärkt so effektiv die Rechtsposition des Individuums wie der regionale Menschenrechtsschutz. Das Individuum ist hier nicht mehr mediatisiert, sondern wird zur Rechtsdurchsetzung der Konventionen und damit zur Etablierung der übergeordneten Güter Demokratie und Rechtsstaatlichkeit mobilisiert835. Mit dem regionalen Menschenrechtsschutz erreicht die moderne, individuelle Freiheit einen neuen Höhepunkt, 829

Vgl. in Bezug auf Europa, P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 7. Aufl. 2011, S. 213. 830 Grundlegend in Bezug auf Europa, P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 831 P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 269. 832 So etwa G. Ress, Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als pouvoir neutre, ZaöRV 69 (2009), S. 294. 833 Vgl. P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 266. 834 R. Wahl, Der Einzelne in der Welt jenseits des Staates, Der Staat 40 (2001), S. 45 ff. 835 Vgl. begrifflich und in Bezug auf die EU, J. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, 1997.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

indem der Einzelne den Staat mittels außerstaatlicher, neutraler, das heißt keinen eigenen Willen ausbildender Institutionen (be)zwingt. Auf diese Weise verfestigt er das instrumentelle, „dienende“ Staatsverständnis, dass am konzisesten in Art. 1 Abs. 1 des Herrenchiemsee-Entwurfs zum Ausdruck kommt: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“. Regionaler Menschenrechtsschutz erweist sich damit als eine Metaregulation staatlicher Macht im Interesse und zugunsten der Autonomie des Individuums. Er verändert das Subjektionsverhältnis zwischen Staat und Individuum tiefgründig und nachhaltig, versucht die Asymmetrie zwischen ihnen auszugleichen. Mit dieser weiteren „Bändigung des Leviathan“ ist ein zweifacher Paradigmenbruch verbunden: Zum einen hat das Individuum einen anderen völkerrechtlichen Status erhalten, seine Rechte sind in Anlehnung an die Worte R. Dworkins auch auf dieser Ebene „ernst“ zu nehmen836. Das Völkerrecht wird dadurch in Anknüpfung an das Diktum P. Häberles zunehmend von seinem „spätabsolutistischen Kopf auf demokratische Füße“ 837 gestellt838. Zum anderen wird im gleichen Maße, wie das Subjekt überstaatliche Geltung erlangt, der Verbund von Staatlichkeit und demokratischem Mehrheitsprinzip depotenziert, Souveränität begrenzt und relativiert. Regionaler Menschenrechtsschutz zeichnet also auch dafür mitverantwortlich, dass die Menschenrechte als Fundament der politischen Ordnung gegenüber der Gründung auf der Souveränität des Volkes oder der Nation obsiegt haben, indem er diesen die Verfügungsmacht zwar nicht entzieht, aber diese doch einschränkt. In einer Letztbetrachtung löst das Primat der Menschenrechte also das Primat der politischen Selbstregierung ab. Diese wird materiell nachgeordnet, hat sich an den vereinbarten, in überstaatlichen Konventionen niedergelegten Rechten, einer Art „völkerrechtlichen Ewigkeitsgarantie“, auszurichten. Die Menschenrechte sind somit zur Grundlage der ganzen Rechts- und Gesellschaftsordnung geworden. An dieser „anthropozentrischen Wende“ 839 hat der regionale Menschenrechtsschutz maßgeblichen Anteil, ist dessen treibende Kraft. In dieser individualrechtlichen Fokussierung unterscheidet sich der regionale Menschenrechtsschutz auch maßgeblich von den universellen Regimen und gleicht den nationalen. Während internationaler Menschenrechtsschutz auf die Entgegnung systematischer Menschenrechtsverletzung zielt und Sanktionsmöglichkeiten der quasi universellen Staatengemeinschaft gewährt, bildet nationaler 836

R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977. Vgl. P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1971), S. 80 im Hinblick auf den „Umbau“ der Statuslehre. 838 Vgl. zu dem immensen Einfluss menschenrechtlicher Verträge auf das Völkerrecht die Kompilation von M. T. Kamminga/M. Scheinin, The Impact of Human Rights Law on General International Law, 2009. 839 M. Kotzur, Die anthropozentrische Wende – menschenrechtlicher Individualschutz im Völkerrecht, in: M. Sachs u. a. (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat. Festschrift für Klaus Stern, S. 811 ff. 837

F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes

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Grundrechtsschutz idealiter den umfassendsten und effektivsten Schutz. Dazwischen, also auf Mezzanin-Ebene, etabliert sich der doppelt emanzipierte regionale Menschenrechtsschutz. Mit dem internationalen Schutz vereint die Konventionssysteme ihre Unabhängigkeit von und Distanz zu Staatlichkeit – der Umstand, dass Garant und Aggressor auseinanderfallen. Mit dem nationalen Grundrechtsschutz verbindet sie ihre instrumentelle und institutionelle Effektivität und ihre punktuelle, auf das Individuum ausgerichtete Wirkung. Die Durchsetzungsschwäche des Völkerrechts scheint gerade deshalb im regionalen Menschenrechtsschutz überwunden. Wächst dem Individuum im allgemeinen Völkerrecht immerhin partielle Völkerrechtssubjektivität zu, so dass man illustrativ vom Status eines „globalen Bourgeois“ 840 sprechen kann, geht die Entwicklung im regionalen Völkerrecht weit darüber hinaus: Hier lässt sich bereits von einem „regionalen Citoyen“ sprechen. Während das internationale Recht immer noch „unausgereift“ ist, zuweilen von postmodernen Völkerrechtstheoretikern wie M. Koskenniemi sogar als inkohärent und als „indeterminate“ bezeichnet wird841, gilt anderes für den regionalen Menschenrechtsschutz. Menschenrechte finden sich hier positiviert, spezifiziert und konkretisiert, ihnen kommt hohe normative Kraft und Verbindlichkeit zu. So existiert mit dem regionalen Menschenrechtsschutz bereits eine ausgereifte eigene Materie, eine mezzanine Rechtsschutzordnung sui generis842 als vierte Stufe der Menschenrechtsentwicklung, deren Ausbreitung und Ausdifferenzierung allerdings noch nicht abgeschlossen ist. Die weitere Entwicklung des bereits emanzipierten regionalen Menschenrechtsschutzes wird zwar auch auf Widerstände stoßen und sich nicht weiterführen lassen ohne die intensive Bemühung und Bekräftigung einer Begleitnarration843, doch könnte sie sich im Ergebnis als von eben so grundsätzlicher Bedeutung für das öffentliche Recht erweisen wie einst die Ausbildung von Souveränität und Staatlichkeit im 16. Jahrhundert, der Konstitutionalisierung im 18. Jahrhundert und der Gründung universellen Menschenrechtsschutzes zur Mitte des 20. Jahrhunderts. 3. Auswirkungen der Emanzipation auf das umliegende Recht – Liquidisierung? Dieser Emanzipationsprozess des regionalen Menschenrechtsschutzes bleibt für die ihn umgebenden Rechtsmassen, aus denen er ursprünglich hervorgegangen ist, nicht folgenlos. Standen einst nationales Recht und internationales Recht 840 A. Peters, Vortrag am Wissenschaftskolleg, besprochen in FAZ Nr. 113 vom 17. Mai 2013, S. 7. 841 Grundlegend dazu M. Koskenniemi, From Apology to Utopia, 2007. 842 Früh in diese Richtung im Hinblick auf die EMRK, A. Drzemczewski, The sui generis nature of the European Convention of Human Rights, International and Comparative Law Quarterly, (29) 1980, S. 54 ff. 843 Dazu bereits oben II. Methodikfragen.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

einschließlich des diesem noch zurechenbaren regionalen Menschenrechtsschutzes unverbunden nebeneinander und wiesen eigene Identitäten auf, durchformen und überlagern sich diese immer mehr, modifizieren sich gegenseitig. „Innen“ und „Außen“ verschwimmen zunehmend. Als Konsequenz dessen lassen sich staatliches und überstaatliches Recht nicht mehr streng scheiden, werden verschränkt und bilden Komplementärordnungen zueinander. Staatlichkeit unterliegt ebenso einem rapiden Wandel wie die gesamte Funktionslogik des traditionellen Völkerrechts. Der aus der französischen Revolution stammende lange Zeit geltende Grundsatz „Il n’y a que l’individu et l’Etat“ erweist sich als überholt. Aufgrund dieser „epochalen Umbrüche“ wird der tradierte Territorialstaat „das kommende Jahrhundert nicht überleben“ 844. Gleiches gilt für viele Grundsätze des allgemeinen Völkerrechts. So passt das klassische, kooperative Völkerrecht, welches auf der souveränen Gleichheit aller Staaten basiert und überwiegend dualistisch verstanden wird, nicht mehr auf die Realität internationaler menschenrechtlicher Verträge, vestiert mit Gerichtsbarkeit und Befolgungspflichten. Mit diesen tektonischen Veränderungen verliert auch die traditionelle Dichotomie in monistische und dualistische Verständnisse ihre Bedeutung845 – der Dualismus von Völkerrecht- und Staatsrecht scheint sich mehr und mehr zu relativieren. Am Ende stehen nicht zwei voneinander trennbare Rechtsordnungen, sondern eine Symbiose aus nationalem und internationalem Recht, die durch „reach-in“ und „reach-out“ Effekte zunehmend ineinandergreifen und die beide in Wesen und Substanz massiv verändern846. Weil regionaler Menschenrechtsschutz ein Hybrid aus Staats- und Völkerrecht ist, er an deren Schnittstelle als eine Art „Brücke“ oder „Scharnier“ fungiert, kann er die Veränderungsimpulse wechselseitig vermitteln. Die Veränderungsprozesse zeichnen sich nicht nur besonders deutlich in ihm ab, sondern werden durch ihn katalysiert847. Die „emanzipierte“ Rechtsmaterie forciert die Funktionsverschiebung des Völkerrechts von der Kooperationsordnung hin zu einer unleugbar normativ durchsetzten internationalen Ordnung. Aufgrund dieser Veränderungen stellt sich die Identitätsfrage und -problematik nicht nur in Bezug

844 O. Kimminich, Einführung in das Völkerrecht, 6. Aufl. 1997, S. 96. Auch K. Hesse konstatiert im Vorwort seiner Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1999, allerdings mit Blick auf das Europarecht, „den Anbruch einer neuen Ära, in welcher der nationale Staat sich zu einem Staat hin wandelt, der nur noch als Teil eines größeren Ganzen begriffen werden kann und dessen Verfassung ihre bisherige Suprematie und Reichweite verloren hat.“ 845 In diese Richtung, N. Petersen, Determining the Domestic Effect of International Law through the Prism of Legitimacy, ZaöRV 72 (2012), S. 223 ff. 846 So U. Haltern, Internationales Verfassungrecht?, AöR 128 (2003), S. 515 mit Verweis auf N. McCormick, Beyond the Sovereign State, Modern Law Review 56 (1993), S. 1 ff. 847 Dazu vertiefend M. T. Kamminga/M. Scheinin, The Impact of Human Rights Law on General International Law, 2009.

F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes

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auf den regionalen Menschenrechtsschutz, sondern auch hinsichtlich dessen Ursprünge – des Verfassungs- und Völkerrechts. Der Transformationsprozess bewirkt schließlich auch, dass starre und statische Ordnungskonzeptionen, die an im Auslaufen befindliche Vorstellung von Staatlichkeit und Souveränität anknüpfen, angesichts von Globalisierung und Dynamisierung des Rechts allgemein an Beschreibungswert verlieren. Das gilt selbst für fortschrittliche Konzepte wie das des „multi-level-constitutionalism“, das weiterhin statische Ebenen und Hierarchiestrukturen impliziert. Die Durchgriffe der internationalen und regionalen Regime auf die nationale Rechtsordnung erfolgen einzelfallorientiert848, unstrukturiert und unsystematisch, verfolgen nicht notwendigerweise ein ganzheitliches, übergeordnetes Ziel849. Insgesamt erinnern Gebaren und Praxis der überstaatlichen Rechtsprechungskörper an das, was in der Organisationslehre als „Adhocracy“ bezeichnet wird850. So finden sich die Charakteristika eines geringeren Formalisierungsgrades, dynamischer Strukturen, uneindeutiger Rollenverteilung, selektiver Dezentralisation, horizontaler inhaltlicher Differenzierung und Machtverschiebungen auch im modernen Völkerrecht wieder. Maßgebliche Gemeinsamkeit ist auch die Abwesenheit einer klaren Hierarchie und die zunehmende funktionale wie sektorale Differenzierung ohne identifizierbares Zentrum und Peripherie. Aufgrund dieser kommt es nicht nur vermehrt zu „Regime-Kollisionen“ 851, sondern zum Verlust eines klaren Zurechnungsobjekts des Rechts. Der Verschmelzung und dem Ineinandergreifen von nationalem, regionalem und internationalem Recht werden starre und hierarchische Ordnungsvorstellungen nicht mehr gerecht, sie lassen sich eher als „Heterarchy“ (W. S. McCulloch) deuten. Die nicht mehr trennscharf abgrenzbaren, ineinander fließenden Rechtsmassen erfordern eine neue Architektur, verlangen eine flexiblere Neukonzeption, die der Dynamik standhält. Eine solche Entwicklung tendiert zumindest in die Richtung einer „liquiden Ordnung“ 852. So treffend ein solches Konzept bestimmte Gegenwartsphänomene zu beschreiben vermag, so zweifelhaft ist dennoch dessen Brauchbarkeit für die Rechtswissenschaft. Eine liquide Ordnung ist am Ende keine Ordnung mehr. Ihr 848 Beispielhaft sind die Smart-Sanctions Fälle vor den europäischen Gerichten, zuletzt „Kadi II“, EuGH, 18.07.2013, C-584/10 P. 849 Diese Charakterisierung ließe sich in Anlehnung an M. P. Maduro auch als „contrapunctual law“ bezeichnen, das als Alternative zu einem streng hierarchischen Rechtsdenken zu begreifen ist, ders., Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: N. Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, S. 501 ff., 525. 850 A. Toffler, Future Shock, 3. Aufl. 1990; R. H. Waterman, Adhocracy: The Power to Change, 1993. 851 A. Fischer-Lescano/G. Teubner, Regime-Kollisionen, 2006, S. 43 ff. 852 Z. Bauman, Liquid Modernity, 2000, S. 16 ff., S. 91 ff. und S. 168 ff.; ders., Liquid Times: Living in an Age of Uncertainty, 2007, S. 55 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

kommt lediglich deskriptiver Wert zu, sie greift aber nicht als zuordnendes, normatives Konzept. 4. Fragmentierung und Konstitutionalisierung als Emanzipationsprozess? Wie aber verhält sich die skizzierte Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes zur Debatte um Fragmentierung und Konstitutionalisierung des Völkerrechts? Die genannten Phänomene sind keineswegs unvereinbar, wenn man die Entwicklung des regionalen Menschenrechtsschutzes als Emanzipationsprozess versteht. Zunächst fragmentiert sich das etatistisch basierte und souveränitätsfixierte Staats- wie Völkerrecht und lässt Paradoxien entstehen. Diese sind Resultat des synkretistischen Ursprungs, eines inkrementalistischen Entstehungsprozesses und der weiteren Emanzipation aus dem staat(srecht)lichen und völkerrechtlichen Kontext. Erst diese Inkonsequenzen geben Gestaltungsspielraum und Formfreiheit für zukünftige Entwicklungen des internationalen und nationalen Rechts853. Brüche, Verwerfungen und Kollisionen sind deshalb unausweichlich. Resultat ist eine „structural contradiction between the parent discipline of international law and its awkward human rights stepchild“ 854. Sie sind Signien des Umbruchs tradierter Prinzipien. Aus diesen Fragmenten der bisherigen Grundlagen des Staats- wie des Völkerrechts erwächst erst die Möglichkeit einer sich neu formierenden Ordnung, deren Entstehungsprozess zuweilen als „Konstitutionalisierung“ beschrieben wird. Scheinen also prima facie Fragmentierung und Konstitutionalisierungsprozess gegeneinander zu stehen, vollzieht sich tatsächlich beides. Sie stehen nicht im Verhältnis der Kontravalenz, sondern sind konditional – Konstitutionalisierung setzt Fragmentierung voraus. Beides ist Teil eines einheitlichen Transformationsprozesses, der eine immense Aufwertung, einen qualitativen Sprung des Völkerrechts eben durch Anreicherung mit staatsrechtlichen Funktionselementen zur Konsequenz hat. Jedenfalls für den regionalen Menschenrechtsschutz besteht keine Dichotomie in Fragmentierung oder Konstitutionalisierung des Völkerrechts. Das Ergebnis ist weder das eine, noch das andere, sondern ein beidseits relativiertes, eben emanzipiertes Recht.

III. Komplementarität als Entwicklungsprinzip des regionalen Menschenrechtsschutzes Emanzipation eignet sich also zur Beschreibung der paradigmatischen Veränderungen des regionalen Menschenrechtsschutzes, seiner Entwicklung aus den 853 In diese Richtung instruktiv und inspirierend A. Cassese (Hrsg.), Realizing Utopia: The Future of International Law, 2012. 854 M. Koskenniemi, The Future of Statehood, Harvard International Law Journal 32 (1991), S. 397 ff.

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ihn umgebenden Rechtsmassen heraus. Sie erschöpft sich jedoch in einem deskriptiven Gehalt, verkörpert keinen normativen Anspruch. Emanzipation erweist sich deshalb nicht als förderlich, den Antagonismus von staatlichen und überstaatlichen Rechtsordnungen zu überwinden. Zum Schutz des Individuums ist deren Zusammenfassung und Einheitlichkeit aber erforderlich. Beide Ordnungen sind gleichermaßen darauf verpflichtet. Zu diesem Zweck der „Harmonisierung“ scheint sich weniger das vielbemühte negatorische Subsidiaritätsprinzip zu eignen als der noch relativ unvoreingenommene Grundsatz der Komplementarität. 1. Komplementarität als Prinzip a) Begriff und Idee der Komplementarität Komplementarität, vom lateinischen „complementum“ abgeleitet, bezeichnet allgemein eine wechselseitige Entsprechung oder Ergänzung. Auch wenn der Begriff Komplementarität der Quantenmechanik entstammt855, findet er vielfältige Verwendung856 und gewinnt selbst in der Rechtswissenschaft857 und insbesondere im Völkerstrafrecht zunehmend an Aufmerksamkeit und Bedeutung. Komplementarität trägt dabei Prinzipiencharakter, ist also ein normativ wirkender, übergeordneter Grundsatz, eine Leitlinie858, und reiht sich unter andere wirkmächtige Prinzipien859 ein. Allerdings handelt es sich, anders als etwa bei der Subsidiarität, nicht um ein tradiertes, durch 2000 Jahre Geistesgeschichte durchgereichtes und ausdifferenziertes, sondern um ein verhältnismäßig neues, noch konturenloses Prinzip. Gleichwohl hat es den Status des Vorrechtlich-diffusen, der jeder Entstehung eines neuen Prinzips als Durchgangsstadium einer komplexen kulturellen Entwicklungsgeschichte gemein ist, bereits verlassen, seinen „Aggregatzustand“ gewechselt860 und einen ersten positivrechtlichen Niederschlag gefunden. 855 Er geht maßgeblich auf N. Bohr zurück, der diese aber auch nicht exklusiv-naturwissenschaftlich verstand, Atomphysik und menschliche Erkenntnis, 1985, S. 102. 856 Diese reicht von der Farbenlehre über die analytische Psychologie, Logik und Wirtschaftstheorie bis hin zur Pädagogik. 857 H.-P. Schwintowski, Recht und Gerechtigkeit, 1996, S. 120. 858 Prinzipien unterliegen anders als Regeln nicht dem Gebot strikter Observanz. In diesem Zusammenhang ist vertreten worden, Grundrechte seien Prinzipien, keine Regeln. Grundlegend R. Dworkin, Taking Rights Seriously, 1977; R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 5. Aufl. 2006. 859 Prominent etwa E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1985, entstanden im amerikanischen Exil von 1938 bis 1947 mit dem ursprünglichen Titel „Dreams of a better life“, vom Autor selbst als „Enzyklopädie und Phänomenologie menschlicher Hoffnungsinhalte“ beschrieben, sowie H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, 13. Aufl. 1998, entstanden als eine Heuristik der Furcht aus dem Wissen um die Irreversibilität bestimmter Verletzungen, ferner das bereits besprochene Subsidiaritätsprinzip. 860 So P. Häberle in Bezug auf die Entwicklung des Subsidiaritätsprinzips, ders., Das Prinzip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, AöR 119 (1994), S. 176.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

Bereits die allgemeine Bedeutung von Komplementarität im Sinne einer Ergänzung eignet sich für die vorliegend in den Blick genommene Einordnungssproblematik des regionalen Menschenrechtsschutzes. Die Grenzen zwischen staatlichem und überstaatlichem Recht lösen sich immer mehr auf, beide Rechtsmassen verschwimmen ineinander, ergänzen sich wechselseitig. Aber auch Komplementarität im spezifisch quantenmechanischen Sinne passt auf das Phänomen des regionalen Menschenrechtsschtzes. Sie meint zwei Dinge, die einander zugleich bedingen und ausschließen, Teilaspekte einer Ganzheit sind, die wiederum stets mehr ist als die Summe ihrer Teile861. Dabei entsteht eine gewisse Widersprüchlichkeit. Auch dieser Aspekt der Komplementarität spiegelt sich im zuweilen konfliktträchtigen Verhältnis von staatlichem und überstaatlichem Recht wider. Nationales und internationales bzw. regionales Recht bedingen einander862, sie schließen sich aber aufgrund diametralen Inhalts in ihrem normativen Anspruch und ihrer Gültigkeit zuweilen aus. Dies tritt dann auf, wenn der Inhalt eines internationalen Judikats mit den höchstinstanzlichen nationalen Urteilen nicht deckungsgleich ist. Augenscheinliches Beispiel eines solchen „clash of verdicts“ geben die unterschiedlichen Richtersprüche von nationalen Verfassungsgerichten und den Konventionsgerichtshöfen863. Beide Urteile und die ihnen zugrundeliegenden Rechtsverständnisse sind an sich und in sich legitim, schlüssig und rechtmäßig, enthalten eine Wahrheit. Zugleich stehen sie sich aber diametral entgegen, schließen einander aus864. Komplementarität eignet sich damit in besonderem Maße, die durch regionalen Menschenrechtsschutz entstehenden Jurisdiktionskonflikte zu beschreiben und zu steuern. b) Die Unterscheidung von Subsidiarität und Komplementarität – Konditionalität und Konjunktionalität Komplementarität wird oftmals als mit Subsidiarität identisch begriffen865, zumindest aber mit dieser verglichen866. Zweifelsohne besteht auch eine gewisse Ähnlichkeit, versuchen doch beide das Verhältnis zwischen staatlicher und über861

M. Bonifacio, Komplementäres Recht, 2004, S. 25. Vgl. zur „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“, W. v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965, S. 185 ff. Ferner P. Häberle/J. Schwarze/W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Die überstaatliche Bedingtheit des Staates, Europarecht, Beiheft 1, 1993. In Praxi folgt diese Bedingtheit bereits aus der innerstaatlichen Rechtswegerschöpfung als Zulässigkeitsbedingung, des Feststellungscharakters der Konventionsurteile und ihrer Umsetzungsbedürftigkeit durch die Mitgliedstaaten sowie deren erforderliche Folgewilligkeit. 863 Das gilt vor allem für den Bereich der mehrpoligen Grundrechtsverhältnisse. Aufsehenerregendes Beispiel bildet etwa der Fall Caroline v. Hannover und die divergenten Urteile von BVerfG und EGMR. Allgemein zum prekären Verhältnis der Gerichtshöfe, S. Mückel, Kooperation oder Konfrontation? Das Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, Der Staat 44 (2005), S. 403 ff. 864 Vgl. M. Bonifacio, Komplementäres Recht, 2004, S. 30. 862

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staatlicher, zwischen dezentraler und zentraler Ebene zu erfassen und zu regeln. Gleichwohl geht eine Ineinssetzung von Komplementarität und Subsidiarität fehl, da signifikante Differenzen bestehen. So birgt Subsidiarität wie aufgezeigt, jedenfalls in seiner europarechtlichen Gestalt, ein Erforderlichkeits- und Effizienzkriterium, das der Komplementarität fremd ist. Zwar begrenzt das Komplementaritätsprinzip ebenfalls Kompetenzdrift, erlaubt jedoch eine gewisse Parallelität. Subsidiarität enthält eine strikt negatorische Komponente in Form des Absorptionsverbots, während Komplementarität ein zusammenführendes Prinzip bildet. Subsidiarität zielt also auf Exklusion, Komplementarität auf Inklusion oder Inkorporation, mindestens auf Kooperation867. Aus diesem Charakteristikum ergibt sich die Anwendbarkeit und Fruchtbarkeit der Komplementarität für das Völkerrecht im Allgemeinen und den regionalen Menschenrechtsschutz im Besonderen: Sie hilft den Antagonismus von Staatlichem und Überstaatlichem aufzulösen bzw. abzumildern, ohne dass dies – wie unter Subsidiaritätsaspekten – zu Gunsten bzw. zu Lasten einer Ebene ausfällt. Mithin visiert Komplementarität ebenso wie das von L. R. Helfer vorgeschlagene Konzept der „Embeddedness“ 868 die Verschränkung der unterschiedlichen Rechtsordnungen, deren Überwölbung und Über- bzw. Durchformung, nicht deren Trennung und Teilung. Während Subsidiarität, wie analysiert, das Gepräge eines „anstatt“, eines „entweder oder“, eines „stattdessen“, eines „wenn, dann“, bzw. einer „solange“-Formel trägt, ist der Komplementarität ein „sowohl als auch“, ein „neben“, ein „auch“, ein „zugleich“, ein „beides“, eben ein sich „Ergänzendes“ eigentümlich. Im Ergebnis unterscheiden sich die beiden Prinzipien deshalb dahingehend, dass Subsidiarität ein konditionales Prinzip und Komplementarität ein kumulatives bzw. konjunktionales Prinzip ist. c) Komplementarität als „Textstufe“ im Völkerstrafrecht Komplementarität hat in der Präambel, Art. 1 und Art. 17 ff. des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofes, positivrechtlichen Niederschlag ge865 Vgl. statt vieler M. E. Villiger, The Principle of Subsidiarity in the European Convention on Human Rights, in: M. G. Kohen (Hrsg.), Promoting Justice, Human Rights and Conflict Resolution through International Law. Liber Amicorum Lucius Caflisch, 2007, S. 624. 866 K. Miskowiak, The International Criminal Court: Consent, Complementarity and Cooperation, 2000, S. 45. 867 Vgl. in diese Richtung etwa R. Jaeger, Menschenrechtsschutz im Herzen Europas, Zur Kooperation des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaft, EuGRZ 2005, S. 193. 868 L. R. Helfer, Redesigning the European Court of Human Rights: Embeddedness as a Deep Structural Principle of the European Human Rights Regime, European Journal of International Law, 19 (2008), S. 125 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

funden, eine „Textstufe“ 869 erreicht. Die Präambel konstatiert in ihrem vierten Erwägungsgrund, dass bestimmte Sachverhalte „die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren“ und deren wirksame Verfolgung „durch Maßnahmen auf einzelstaatlicher Ebene und durch verstärkte internationale Zusammenarbeit gewährleistet werden muss“. Im zehnten Erwägungsgrund der Präambel und in Art. 1 Satz 2, 2. Halbsatz heißt es sodann, dass der Internationale Strafgerichtshof die nationale, innerstaatliche Strafgerichtsbarkeit nicht ersetzt, sondern „ergänzt“. Den damit umrissenen materiellen Gehalt der Komplementarität überführt Art. 17 IStGH-Statut in eine prozessuale Form. Die darin enthaltene Zulässigkeitsprüfung weist zwei Elemente auf: Zum einen enthält sie eine Erheblichkeitsschwelle870, die sog. Minima-Klausel871, bis zu deren Erreichen es bei einer exklusiven Zuständigkeit innerstaatlicher Strafgerichte bleibt (lit. d)), zum anderen erklärt sie die Zulässigkeit internationaler Verfahren, sofern und solange in derselben Sache von keinem Staat Ermittlungs- und Verfolgungsmaßnahmen eingeleitet bzw. durchgeführt worden sind872. Für diesen Fall differenziert Art. 17 Abs. 1 lit. a) bis c) IStGH-Statut drei Szenarien mit unterschiedlichen Kriterien. Bemerkenswert erscheint, dass Art. 17 IStGH-Statut negativ formuliert ist, das heißt vier Unzulässigkeitsvoraussetzungen enumeriert („a case is inadmissible“), so dass argumentum e contrario grundsätztlich von einer Zulässigkeit des internationalen Verfahrens auszugehen ist873. Ferner erlaubt Art. 17 des Statuts selbst bei grundsätzlicher Unzulässigkeit eines internationalen Verfahrens im Sinne der Komplementarität Rückausnahmen in Abhängigkeit von der Willigkeit und Fähigkeit des Staates, die Sache zu verfolgen874. Zulässigkeit und Gerichtsbarkeit des Gerichtshofes können zwar angefochten werden (Art. 19 IStGH-Statut), dem Gerichtshof verbleibt aber in diesem Rahmen ein weiter Einschätzungs- und Entscheidungsspielraum875, ihm obliegt es, über seine Zuständigkeit letztverbindlich 869 P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: J. Jekewitz/K. H. Klein u. a. (Hrsg.), Des Menschen Recht zwischen Freiheit und Verantwortung: Festschrift für Karl Josef Partsch zum 75. Geburtstag, 1989, S. 555 ff. Ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff. 870 Diese wird, wenngleich häufig kritisiert, vor allem mit quantitativen Kriterien auskonstruiert, so m.w. N. H. Farthofer, Complementarity, in: C. Safferling (Hrsg.), International Criminal Procedure, 2012, S. 107. 871 Dazu L. Lafleur, Der Grundsatz der Komplementarität, 2011, S. 186 ff. 872 G. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Auflage 2012, S. 128, Rn. 287. 873 H. Farthofer, Complementarity, in: C. Safferling (Hrsg.), International Criminal Procedure, 2012, S. 96 mit Verweis auf M. Benzing, The Complementary Regime of the International Criminal Court: International Criminal Justice between State Sovereignty and the Fight against Impunity, Max Planck Yearbook of United Nations Law, 2003, S. 591, 601. Anders hingegen offenbar A. Cassese/G. Acquaviva/M. Fan/A. Whiting (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Commentary, 2011, S. 525. 874 G. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Auflage 2012, S. 129, Rn. 288 ff. 875 A. Cassese/G. Acquaviva/M. Fan/A. Whiting (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Commentary, 2011, S. 531.

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zu entscheiden. Schließlich etabliert das Statut keine Pönalisierungspflicht der Staaten, sondern lediglich eine „Obliegenheit“: Verfolgen die Staaten die Straftat nicht, so können sie sich auf ihre (alleinige) Zuständigkeit nicht mehr berufen. Über diese konkreten Zulässigkeitsnormen hinaus wird Komplementarität allgemein als Gegenbegriff zur Vorrangigkeit (primacy versus complementarity) verstanden, wie sie den ad-hoc Straftribunalen zukam. Diese konnten das Verfahren nach autoritativer Ermächtigung des Sicherheitsrates jederzeit an sich ziehen876. Dem entgegenwirkend sollte mit dem Begriff der Komplementarität nicht dem IStGH, sondern den nationalen Gerichten Vorrangigkeit beschieden sein877. Im Ergebnis etabliert das IStGH-Statut Komplementarität als einen neuen Grundsatz sui generis, der die Aufgabenverteilung zwischen internationaler und staatlicher Ebene anleitet878. Dieser Grundsatz wahrt einerseits staatliche Souveränität, garantiert den näheren, unmittelbaren Zugriff und eine effiziente dezentrale Verfolgung, kombiniert dies aber mit einer Aufsichts-, Kontroll- und Interventionskompetenz des Gerichtshofes, die weit in die Staatlichkeit hineinreicht879. Ungeachtet der Positivierung bedarf der Komplementaritätsgrundsatz einer weiteren Konturierung880. Die intensive Diskussion während der Verhandlungen des Statuts gibt dazu lediglich erste Hinweise881. Einerseits gilt Komplementarität als „cornerstone“, „underlying principle“ oder „key concept“ des Statuts und als conditio sine qua non für dessen Ratifikation882. Andererseits verbleibt sie aufgrund der bestehenden Unsicherheiten und Unklarheiten weiterhin eine der 876 So etwa im Fall Dusko Tadic vor der deutschen Gerichtsbarkeit nach seiner Festnahme in München 1994, der sodann auf Verlangen an den Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) überstellt wurde. Deutsches Petitum bei der Aushandlung des Vertragstextes des Römischen Statuts, insbesondere des Bundesministeriums der Verteidigung, war es, mit dem Komplementaritätsgrundsatz eine Überstellung deutscher Soldaten auszuschließen und über die Primärzuständigkeit der einzelstaatlichen Gerichtsbarkeit eine hohe Ratifikationsanzahl sicherzustellen. Diese Hinweise verdanke ich A. Zimmermann, der die Verhandlungen zur Entstehung des IStGH für die Bundesrepublik Deutschland begleitet hat. 877 Zu diesem Themenkomplex M. El Zeidy, From Primacy to Complementarity and Backwards: (Re)-Visiting Rule 11 bis of the Ad Hoc tribunals, International and Comparative Law Quarterly 57 (2008), S. 403 ff.; A. Cassese/G. Acquaviva/M. Fan/A. Whiting (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Commentary, 2011, S. 525. 878 Vgl. G. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Auflage 2012, S. 116, Rn. 263 f. 879 G. Werle, Völkerstrafrecht, 3. Auflage 2012, S. 117, Rn. 264. 880 Eine umfassende Darstellung des derzeitigen Sachstandes gibt L. Lafleur, Der Grundsatz der Komplementarität, 2011. 881 Die Dokumente geben Aufschluss über ein „enges“ Verständnis, C. Kreß/F. Lattanzi, The Rome Statute and Domestic Legal Orders, 2000, S. 29 ff. 882 M.w. N. M. Benzing, The Complementary Regime of the International Criminal Court: International Criminal Justice between State Sovereignty and the Fight against Impunity, Max Planck Yearbook of United Nations Law, 2003, S. 593.

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umstrittensten Normen des Römischen Statuts überhaupt883. Aus diesem Zusammenspiel von Uneindeutigkeit und Bedeutsamkeit folgte eine intensive Beschäftigung mit der Thematik in der Literatur884, die insbesondere in Gestalt von Zulässigkeitsproblemen auch weiterhin Fragen aufgibt885. Pro futuro wird es maßgeblich darauf ankommen, den Komplementaritätsgrundsatz nicht zu sehr in die Nähe der Subsidiarität zu rücken886, diese miteinander zu vermengen und den neuen Grundsatz dadurch seiner Eigenständigkeit zu berauben. Eine Orientierung an dem Präambeltext, der eine Verbindung von nationaler und internationaler Ebene als materielle Komplementarität aufgibt, könnte diesem vorbeugen bzw. entgegenwirken. 2. Der komplementäre Charakter des regionalen Menschenrechtsschutzes a) Kongruenzen zwischen völkerstrafrechtlichem Komplementaritätsgrundsatz und regionalem Menschenrechtsschutz Die skizzierte allgemeine Charakteristik des Komplementaritätsgrundsatzes und dargetane Aussagen über das Prinzip im spezifischen Zusammenhang des IStGH lassen sich gleichermaßen für den regionalen Menschenrechtsschutz fruchtbar machen887. Die im Präambeltext des Römischen Statuts genannten drei Merkmale der Komplementarität können auch im regionalen Menschenrechtsschutz erkannt bzw. auf diesen übertragen werden. Es besteht ein gewisser normativer Gleichklang zwischen dem internationalen Strafrecht und dem internationalen Menschenrechtsschutz888: Beide berühren staatliche Souveränität in ihrem Kern und bringen, bedingt durch ihre Eigenart als „overlapping legal orders“, 883

H. Farthofer, Complementarity, in: C. Safferling (Hrsg.), International Criminal Procedure, 2012, S. 95. 884 Als Beispiele seien genannt: B. S. Brown, Primacy or Complementarity: Reconciling the Jurisdiction of National Courts and International Criminal Tribunals, Yale Journal of International Law 23 (1998), S. 383 ff., K. Miskowiak, The International Criminal Court: Consent, Complementarity and Cooperation, 2000. 885 A. Cassese/G. Acquaviva/M. Fan/A. Whiting (Hrsg.), International Criminal Law: Cases and Commentary, 2011, S. 534 . 886 Vgl. etwa „The Court is only meant to act when domestic authorities fail to take the necessary steps (. . .)“ M. Benzing, The Complementary Regime of the International Criminal Court: International Criminal Justice between State Sovereignty and the Fight against Impunity, Max Planck Yearbook of United Nations Law, 2003, S. 591. 887 Die Idee, das Komplementaritätsprinzip generell auf das Verhältnis von nationalem Recht und Völkerrecht zu erstrecken, unterbreitet auch R. Wahl, Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht, in: S. Breitenmoser/B. Ehrenzeller/M. Sassòli/W. Stoffel/B. Wagner-Pfeiffer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 892. 888 Zwar geht es im Rahmen des ersteren um Verfolgung, im Kontext des letzteren um Schutz, ist also das eine täterzentriert, das andere opferzentriert. Gleichwohl sind Konkordanzen und Kohärenzen erkennbar.

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Konkurrenz-, Vorrang- und Abgrenzungsprobleme mit sich. Schließlich sind beide Bereiche gleichermaßen von existentieller Bedeutung für Täter und Opfer, weisen auch inhaltlich eine Schnittmenge auf, indem alle internationalen Straftatbestände eine Menschenrechtsverletzung darstellen und zumindest ein Kernbestand an Menschenrechtsverletzungen einen internationalen Straftatbestand verwirklicht. Ebenso wie „schwerste Verbrechen“ ausweislich des vierten Erwägungsgrunds der Präambel des IStGH-Statuts die internationale Gemeinschaft als Ganzes berühren, betreffen Menschenrechtsverletzungen die regionale Konventionsgemeinschaft als Ganzes. Dies wird prozessual schon daraus ersichtlich, dass im Wege der Staatenbeschwerde alle Staaten die Möglichkeit eingeräumt bekommen und nachgerade dazu aufgerufen sind, Menschenrechtsverletzungen anderer Signatarstaaten anzuzeigen. Materiell zeigt es sich in der im fünften Erwägungsgrund der Präambel der EMRK benannten Aufgabe des regionalen Menschenrechtsschutzes aufgrund eines „gemeinsamen Erbes“ eine „kollektive Garantie“ zu schaffen und rechtfertigt sich dadurch, dass die grundlegenden Rechte ihren Ursprung nicht in der Staatsangehörigkeit haben, sondern in der menschlichen Persönlichkeit selbst889 bzw. in der Existenz des Menschen als solche. Parallel zum Statutstext des IStGH ist bei Vorliegen einer Menschenrechtsverletzung deren Aufarbeitung sowohl auf einzelstaatlicher als auch auf regionaler Ebene angezeigt. Zwar steht die Zulässigkeit eines regionalen Verfahrens unter dem Vorbehalt der Rechtswegerschöpfung, doch sind die Ähnlichkeiten dennoch greifbar. In beiden Fällen ist es letztlich die Unfähigkeit, Unwilligkeit oder Untätigkeit eines Staates, sich der im Hinblick auf einen außerstaatlichen Maßstab bestehenden Rechtsverletzung in adäquater Weise anzunehmen, die den überstaatlichen Kontrollmechanismus erforderlich macht und auslöst. Das kumulative, nicht alternative Verhältnis zwischen staatlicher und überstaatlicher Ebene ist im entwickelten regionalen Menschenrechtsschutz allerdings noch viel deutlicher als im Völkerstrafrecht ausgeprägt. Schließlich soll regionaler Menschenrechtsschutz – ebenso wenig wie das internationale Strafrecht – nationalen Schutz ersetzen, sondern ergänzen, ist also recht eigentlich komplementär. Die Intervention durch die regionalen Rechtsprechungsorgane verbleibt auch hier nicht die Regel, sondern eine Ausnahme. Auch die Begründungsansätze für die Komplementarität im IStGH-Statut gleichen jener des regionalen Menschenrechtsschutzes. So erinnert das Komplementaritätsmotiv „the best forum for dealing with crimes was the location where they

889 Vgl. Zweiter Erwägungsgrund der Präambel der AMRK: „Recognizing that the essential rights of man are not derived from one’s being a national of a certain state, but are based upon attributes of the human personality, and that they therefore justify international protection in the form of a convention (. . .).“

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were committed, closer to affected communities and in the local language“ 890 stark an die vom EGMR im Zusamenhang mit der margin of appreciation verwendete Formel: „By reason of their direct and continuous contact with the vital forces of their countries, State authorities are in principle in a better position than the international judge to give an opinion on the exact content of these requirements (. . .).“ 891

Endlich geht es in beiden Systemen auch nur um einen Kern an Verletzungstatbeständen und existiert parallel zur Minima-Klausel des IStGH-Statuts zumindest auch in der EMRK mit dem neuen Art. 35 Abs. 2 lit. b) eine Erheblichkeitsschwelle. Im Ergebnis besteht also eine weitreichende Kongruenz zwischen dem Völkerstrafrecht und dem Menschenrechtsschutz. Wenngleich die menschenrechtlichen Konventionssysteme insbesondere mit Blick auf die prozeduralen Vorgaben der Art. 17 ff. IStGH-Statut ein gänzlich autonomes Komplementaritätsverständnis zu entwickeln haben, legen diese Parallelen eine grundsätzliche Rezeptionsmöglichkeit dieses Prinzips zur Verbindung von effektivem suprastaatlichem Schutz und Staatensouveränität nahe892. b) Komplementaritätselemente der Konventionssysteme Für eine weitergehende Rezeption und Ausdifferenzierung des Komplementaritätsprinzips ist in der AMRK auch positivrechtliches Fundament zur Anknüpfung vorhanden. Während die EMRK (bislang) keine explizite Aussage hinsichtlich ihrer Natur trifft, ihr systemisches Wesen nicht qualifiziert und festlegt, verweist die AMRK an prominenter Stelle im zweiten Erwägungsgrund der Präambel expressis verbis auf den komplementären Charakter des Konventionssystems: „(. . .) they therefore justify international protection in the form of a convention reinforcing or complementing the protection provided by the domestic law of the American states.“ Damit ist die Funktion des interamerikanischen Menschenrechtsschutzsystems auf ein Zweifaches fixiert: Es verstärkt und komplementiert, dass heißt ergänzt den einzelstaatlichen Schutz. Auch über diesen positivrechtlichen Befund hinaus ist die Komplementarität thematisiert worden. So führt der ehemalige Präsident des IAGH S. García Ramírez aus: 890 Mit Verweis auf die Review Conference on the Rome Statute, „Stocktaking of international criminal justice, Taking stock of the principle of complementarity: bridging the impunity gap“ vom Juni 2010, H. Farthofer, Complementarity, in: C. Safferling (Hrsg.), International Criminal Procedure, 2012, S. 96. 891 ECHR, 07.12.1976, Handyside v. United Kingdom, No. 5493/72 Rn. 48. 892 Vgl. zu dieser Funktion des Komplementaritätsgrundsatzes im Völkerstrafrecht eingehend, L. Lafleur, Der Grundsatz der Komplementarität, 2011, insbesondere S. 352 ff.

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„La Corte Interamericana no es un órgano de última instancia con respecto a los tribunales nacionales. Ni lo es, ni pretende serlo. Es complementaria de la jurisdicción interna y se atiene a esta misión, claramente establecida. Le incumbe juzgar exclusivamente sobre la compatibilidad entre los hechos de los que toma conocimiento y los derechos y las libertades consagrados en la Convención Americana y, eventualmente, en otros instrumentos que le confieren competencia. En este sentido – si se me permite emplear un símil – es corte de convencionalidad, semejante a las de constitucionalidad en los ordenamientos nacionales.“ 893

In Abgrenzung zu einer Letztinstanzlichkeit folgt also aus dem komplementären Charakter der AMRK eine Ergänzung des einzelstaatlichen Rechtsschutzes. Regionaler Menschenrechtsschutz soll demnach die Vereinbarkeit mit den Konventionsgarantien prüfen und gegebenenfalls herstellen. Komplementarität steht danach in einem engen Verhältnis zur Control de Conventionalidad. S. García Ramirez nimmt ferner in seinem Sondervotum zum Fall Tibi v. Ecuador auf die Komplementarität Bezug894. Diese erfordere – um Überlastungen vorzubeugen – eine „Brücke“ zwischen nationaler und internationaler Rechtsordnung, verlange deshalb die Inkorporation und Inklusion der durch die Konvention vorgegebenen Standards in die einzelstaatlichen Rechtsordnungen. Im Gegensatz dazu ist Komplementarität im Rahmen der EMRK bislang nur peripher diskutiert worden. Vereinzelt ist versucht worden, Komplementarität ebenfalls zur Beschreibung des Verhältnisses der EMRK zum nationalen Recht fruchtbar zu machen,895 und die Konvention als Komplementärverfassung be893 So S. García Ramírez zur Eröffnung der außerordentlichen Sitzungsperiode am 28.03.2006, S. 5, abrufbar unter: http://www.corteidh.or.cr/docs/discursos/garcia_31_ 03_06.pdf, zuletzt abgerufen am 14.03.2015. 894 IACHR, 07.09.2004, Tibi v. Ecuador, Serie C Nr. 114, Sep. Op. S. G. Ramírez Rn. 5 und 6: „It would be impossible, in addition to undesirable, taking into account the ancillary or complementary nature of international jurisdiction, for it to receive a large number of contentious cases on identical or very similar facts, to reiterate, again and again, the criteria set forth in previous contentious cases. We must insist that the States themselves, guarantors of the inter-American human rights system, are at the same time essential components of this system, in which they participate through a political and juridical will that is the best guaranty of the true effectiveness of the international system for protection of human rights, based on the effectiveness of the domestic system for protection of those rights. Therefore, in the logic of the system – and of the institutional aspirations of the Inter-American Court, as a component of the system – there lies the idea that the rulings of the Court must be reflected, in the manner and according to the terms set forth in domestic Law – as the bridge between the international and the national systems – in domestic legislation, in domestic jurisdictional criteria, in specific programs in this field, and in the daily actions of the State regarding human rights; they must, ultimately, be reflected in the national experience as a whole. This – a power to influence, rebuild, guide, inform – is what explains and justifies, ultimately, an international venue that does not have the possibility or the capacity to hear thousands of cases of identical litigation, reproducing both reasoning and rulings that have been set forth and reiterated previously.“ 895 So vor allem auf die Zeit vor 1998 bezogen R. Wahl, Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht, in: S. Breitenmoser/B. Ehrenzeller/M. Sassioli/W. Stoffel/B. Wag-

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zeichnet worden896. In diesem Zusammenhang ist der EMRK auch die Funktion der „Lückenfüllung“ zugesprochen worden. So führt R. Wahl aus: „Je mehr Lücken eine einzelstaatliche Rechtsordnung, materiell oder prozessual, bei der Durchsetzung des Grundrechtsschutzes hat, desto größer wird die Bedeutung der EMRK sein, während im entgegengesetzten Fall die EMRK eher eine lückenfüllende und Randbereiche ausfüllende Funktion hat.“ 897

Die EMRK als „Lückenfüller“ zu deuten und dies in den Kontext der Komplementarität einzutragen, beruht jedoch auf einem doppelten Missverständnis: Zum einen zeugt es von einem sehr engen, staatszentrierten Verständnis des regionalen Menschenrechtsschutzes und wird dessen Wesen, Anspruch und Entwicklungsstand nicht gerecht. Diese Position verkennt die weitreichende Wirkung der Konvention auf sämtliche Bereiche der nationalen Rechtsordnungen. Auch in Staaten mit einer weit entwickelten Grundrechtsdogmatik – wie etwa jener der Bundesrepublik Deutschland – ist die EMRK von bedeutendem Einfluss898. Die EMRK schließt zwar zuweilen auch, aber nicht nur, menschenrechtliche Schutzlücken, sondern ergänzt primär den Grundrechtsschutz durch einen eigenen regionalen Maßstab, generiert einen europäischen Standard und gibt ihrerseits wichtige Entwicklungsimpulse. Zum anderen depraviert das dargelegte Verständnis den Begriff der Komplementarität, der nachgerade etwas anderes bzw. „mehr“ bezeichnet als eine bloße Füllfunktion von Lücken. Es unterschlägt das mit der Komplementarität bezeichnete Anliegen, eine Verbindung der Rechtsregime zu schaffen899, um pro futuro Souveränitätskonflikte zu verhindern. Diese Perspektive steht deshalb eher dem Subsidiaritätsgedanken nahe. 3. Funktion und Leistung der Komplementarität im entwickelten regionalen Menschenrechtsschutz Was einst als rudimentäre Rückversicherung gegen Totalitarismus und als getrennte, parallel- bzw. koexistente Rechtsordnung begann, möglicherweise noch ner Pfeiffer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 865 ff., insbesondere S. 868 f. 896 M.w. N. C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2000), S. 294. 897 R. Wahl, Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht, in: S. Breitenmoser/ B. Ehrenzeller/M. Sassioli/W. Stoffel/B. Wagner Pfeiffer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 869. 898 Vgl. dazu insgesamt rechtsvergleichend H. Keller/A. Stone-Sweet, A Europe of Rights, 2008. 899 Vorbildlich und beispielhaft für eine Inkorporation überstaatlichen Menschenrechtsschutzes als eines der Konstitutiva von Komplementarität ist die Normierung in der Verfassung des Landes Brandenburg (Art. 2 III): „Das Volk des Landes Brandenburg bekennt sich zu den im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, in der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, in der Europäischen Sozialcharta und in den Internationalen Menschenrechtspakten niedergelegten Grundrechten.“

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als subsidiäres Schutzsystem charakterisiert werden konnte, hat diese Form längst verlassen, sich von diesem Strukturmerkmal emanzipiert und sich zu einer eng verzahnten, wirkmächtigen Rechtsordnung sui generis entwickelt. Materiell lässt sich dieser Emanzipationsprozess als Subsidiaritätstranszendenz deuten. Allein in ihrer prozessualen Dimension als Erfordernis der Rechtswegerschöpfung findet Subsidiarität weiterhin unmissverständlichen Ausdruck. Indes steht mit den entwickelten Konventionssystemen ein vollständiges Menschenrechtsschutzsystem zweiter Ordnung zur Verfügung, das es komplementär zu begreifen und zu erschließen gilt. Der Grundsatz der Komplementarität ist dabei anleitend, diese Ordnung sui generis mit staatlicher Souveränität zu verbinden, sie auszusöhnen. Insofern ist das Konzept der Komplementarität auch verwandt mit G. Scelle’s „dédoublement fonctionnel“ 900. Komplementarität zielt also auf die Organisation der „Verdopplung der Interpretation von Verbürgungen“ 901 – dies aber nicht in hierarchischer Konkurrenz, nicht in einem Gegeneinander, sondern im Einklang. Komplementarität steht deshalb weder für ein rein vertikales noch für ein rein horizontales Verhältnis, sondern ist gewissermaßen diagonal zu denken. Regionaler Menschenrechtsschutz ist nämlich – obwohl korrigierend – nicht durchgängig vorrangig-übergeordnet bzw. vertikal, sondern tritt zugleich neben, aber auch in die Ordnungen des Nationalstaates. Das kommt am deutlichsten in der Control de Conventionalidad zum Ausdruck. Dies sichernd, steht Komplementarität also für eine ergänzende Zusammenordnung von nationalem Grundrechtsschutz und regionalem Menschenrechtsschutz. Sie ist eine Verbindungsmaxime, ein balancierendes und mediierendes Korrelatprinzip, das besagte „vertikale praktische Konkordanz“ 902 von verfassungsstaatlicher und regionaler Ebene zu erzielen sucht. Als solche lebt Komplementarität vom ergänzenden Widerspruch, setzt diesen voraus, löst ihn aber nicht durch Abgrenzung, sondern durch wechselseitige Ergänzung. Insofern ist sie auch nicht gleichzusetzen mit Konvergenz, zielt nicht notwendig auf Vereinheitlichung. Komplementarität sucht demnach die „zombie doctrines“ 903 Monismus und Dualismus zu überwinden und potentielle Konflikte zwischen nationaler und re900 Dazu etwa A. Cassese, Remarks on Scelle’s Theory of „Role Splitting“ (dédoublement fonctionnel) in International Law, EJIL 1 (1990), S. 210 ff. 901 R. Wahl, Das Verhältnis der EMRK zum nationalen Recht in: S. Breitenmoser/ B. Ehrenzeller/M. Sassòli/W. Stoffel/B. Wagner Pfeiffer (Hrsg.), Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat. Liber amicorum Luzius Wildhaber, 2007, S. 872. 902 Vgl. in diese Richtung auch hinsichtlich einer „praktischen Konkordanz“ im Mehrebenensystem M. Kotzur, Deutschland und die internationalen Beziehungen – „offene Staatlichkeit“ nach 60 Jahren Grundgesetz, JöR 59 (2011), S. 394 ff. 903 A. v. Bogdandy, Pluralism, Direct Effect, and the Ultimate say: On the Relationship between International and Domestic Constitutional Law, International Journal of Constitutional Law 6 (2008), S. 397 ff.

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3. Teil: Auswirkungen und Eigenarten des Menschenrechtsschutzes

gionaler Ebene zu vermeiden. Sie löst das sklerotische Verhältnis zwischen Staatlichkeit und Überstaatlichem auf, indem auf das Gemeine, nicht das Trennende und Scheidende fokussiert wird. Insofern trägt sie auch zur Realisation der „überstaatlichen Bedingtheit des Staates“ bei904. Die anfängliche Koexistenz von konstitutionellen und regionalen Ordnungen wird dadurch nicht mehr als Dilemma und Widerstreit begriffen, sondern als Chance eines zu integrierenden dualen Individualrechtsschutzes.

IV. Ausblick: Regionaler Menschenrechtsschutz als Element des „ewigen Friedens“? Dass es im Gelingen ist, auf zwei Kontinenten politische Stabilität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auf der Basis der Menschenrechte zu formulieren, zu kontrollieren und durchzusetzen, ist ein historisch nie dagewesenes Verdienst. Mag die Grundlage dafür primär in den einzelnen Staaten liegen, so trägt der regionale Menschenrechtsschutz an der Stabilisierung und Ausentwicklung dessen signifikanten Anteil. Er vermag Individualrechtspositionen zu schützen, initiiert einen diskursiven Wettbewerb zwischen staatlicher und überstaatlicher Ebene um die Ausbalancierung von konkurrierenden Freiheitsrechten und sichert Rechtsstaatlichkeit außerstaatlich ab. Die Entwicklungsrichtung ist damit vorgezeichnet: Sie zielt auf die Bildung weiterer regionaler Menschenrechtsschutzmechanismen, um schließlich eine globale „Überspannung“ mit regionalen Konventionssystemen zu erreichen905. Menschenrechte als Matrix allen Rechts sollen jenseits des nationalstaatlichen und universellen Schutzes auch als Mezzanin regional verbürgt werden. Diese Ebene ist es, die am ehesten effektiven Schutz mit einem sich „universalisierendem“ Anspruch vereinen kann. Wenngleich regionaler Menschenrechtsschutz nicht gewährleistet, dass die „Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird“ 906 (I. Kant), ermöglicht er dieses zumindest in Bezug auf die regionalen Verantwortungsgemeinschaften und verwirklicht damit eine basale Prämisse des „ewigen Friedens“. Aufgegeben ist ferner die Effektuierung der vorhandenen regionalen Menschenrechtsschutzsysteme und ihre Fortentwicklung als komplementäre Gebilde. Größte Herausforderung ist dabei die Komplexität und damit einhergehende Fragilität der aus nunmehr 47 Staaten in Europa und 35 im interamerikanischen Raum bestehenden Systeme. Die hieraus resultierende Unklarheit und Unübersichtlichkeit, Widersprüche und 904 W. v. Simson, Die Souveränität im rechtlichen Verständnis der Gegenwart, 1965, S. 186 ff. 905 Vgl. zu dieser Entwicklung in Asien, T.-U. Baik, Emerging Regional Human Rights Systems in Asia, 2012. 906 I. Kant, Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf von Immanuel Kant, 1795, Dritter Definitivartikel, in: I. Kant, Zum ewigen Frieden und andere Schriften, 2008, S. 172.

F. Zur Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes

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Friktionen in Geltung und Rang, die rechtskulturelle Varianz sowie die Überlastung der Konventionsorgane einerseits und die Vollzugsdefizite der Staaten anderseits gefährden den regionalen Menschenrechtsschutz, weil seine normative Kraft zu verkümmern droht und seine Legitimität unterminiert wird. Erforderlich sind deshalb primär reformerische Bemühungen im Hinblick auf die Effizienz der Systeme und eine größere Vereinheitlichung in Rang, Geltung, Durchsetzung und Vollzug. Auch wenn die Architektur zum Schutz des homo singularis sich wie jedes stabile Gebilde nicht auf eine einzelne Säule gründen kann und ein mehrdimensionales Menschenrechtsgeflecht unersetzlich bleibt, mithin nationale, regionale und universale Schutzsysteme im wahrsten Sinne zu „kon-zentrieren“ sind, nehmen die regionalen Schutzmechanismen eine wesentliche, privilegierte Funktion und Stellung ein: Solange „ewiger Friede“ und universaler Individualrechtsschutz trotz eines erkennbaren „Gemeinwille(ns) zum Recht“, dem eine „universelle Geschlossenheitstendenz“ innewohnt907, nur eine konkreter werdende Utopie darstellen, erweist sich der regionale Menschenrechtsschutz als die zentrale und sichere Form des Menschenrechtsschutzes jenseits des Staates. Es zeichnet sich immer deutlicher ab, dass die Öffnung der Staatlichkeit zunächst in eine präuniversale Form mündet. Die „postnationale Konstellation“ 908 des Menschenrechtsschutzes verbleibt zumindest vorerst eine regionale.

907 So in Bezug auf das Völkerrecht im Allgemeinen, G. Radbruch, Rechtsphilosophie, 1932, § 28, S. 187 in Form der 2. Auflage, 2003. 908 J. Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998.

Zusammenfassung Methodikfragen Das Völkerrecht und insbesondere der Menschenrechtsschutz unterliegen einer zunehmenden Verdichtung und Positivierung. Dennoch verbleiben sie abstrakte Rechtsmaterien und insofern „unvollständiges“ Recht. Um den vollständigen Sinngehalt zu ergründen, ist daher zwingend auch das die Norm Umschließende miteinzubeziehen. Recht und insbesondere die Menschenrechte sind deshalb nicht nur positiv, sondern auch präpositiv und postpositiv zu begreifen. Neben dem retrospektiven Blick auf die Entwicklungsgeschichte einer Norm und den Normtext gilt es, in Anknüpfung an den (Rechts)pragmatismus von R. A. Posner und S. Fish, auch der stetigen Veränderung des Sinngehalts der Norm durch ihren Anwender Rechnung zu tragen. Gleichzeitig führen die Internationalisierung des Verfassungsrechts und die Nationalisierung des Völkerrechts zu paradigmatischen Veränderungen in der Rechtswissenschaft. Um diesen Umständen gerecht zu werden, bedarf es zwar keines „Methodenanarchismus“ (P. Feyerabend), aber doch einer Pluralisierung und Weitung der Methoden, die insbesondere durch den „kulturwissenschaftlichen Ansatz“ (P. Häberle) angeleitet wird. Schließlich verlangt die mit Postpositivität bezeichnete Entfernung der Normbedeutung vom Normtext – insbesondere in den ohnehin abstrakten Rechtsmaterien des Verfassungs- und Völkerrechts – mehr und mehr nach Narrativen zur Erhaltung bzw. Erzeugung der normativen Kraft des Rechts. Erster Teil Grundlagen und Entwicklungslinien des regionalen Menschenrechtsschutzes A. Die europäische Expansion und Inbesitznahme der „neuen Welt“ im 16. Jahrhundert provozierte grundlegende Fragen völkerrechtlicher und menschenrechtlicher Natur. Der Legitimitätsdiskurs über die Usurpationsansprüche der iberischen Mächte auf die überseeischen Gebiete hat dabei zwei Dimensionen. Einerseits zentrierte er sich um bis in die Gegenwart maßgebliche Axiome des Völkerrechts in Gestalt des Souveränitätsprinzips und des Selbstbestimmungsrechts der Völker. Andererseits versteht er sich als menschenrechtlich motivierte Kritik an den iberischen Kolonialisierungs- und Missionierungsbestrebungen. Die theoretische Reflexion der Conquista in der Spätscholastik offenbart „Kerntatbestände“ der modernen Menschenrechtsproblematik.

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Die Unterschiedslosigkeit zwischen Europäern und Indios erhebt einen auf die Realität bezogenen universalistischen Anspruch von Freiheit und Gleichheit der Menschheit. Im Verbund damit steht auch die Idee eines Urzustandes, die für alle kontraktualistischen Begründungsmodelle wegweisend ist. Zudem postuliert Francisco de Vitoria erstmals den subjektiven Charakter der Grundrechte. Schließlich erfährt der Begründungsdiskurs der Menschenrechte in dieser Epoche – ungeachtet aller theologischen Rückbindungen – einen Säkularisierungsund Rationalisierungsschub. Die Europäische Rechtsgeschichte des orbis christianus ist zugleich prägender Bestandteil der lateinamerikanischen Rechtsgeschichte und der universellen Völker- und Menschenrechtsentwicklung. Das spanische Völkerrechtszeitalter bildet deren Schnitt- und Kristallisationspunkt. B. Eine periodische Betrachtung der Menschenrechtsgeschichte beginnt mit der spanischen Spätscholastik als Phase präpositiver Universalität von Menschenrechten. Ihr folgt der Konstitutionalismus, der zu einer Positivierung der Grundund Menschenrechte führt, die allerdings auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränkt bleibt. Nach dem zweiten Weltkrieg vereint das internationale Menschenrechtsschutzsystem der Vereinten Nationen Positivität und Universalität. Schließlich rekombiniert der regionale Menschenrechtsschutz als vierte Entwicklungsstufe verfassungsrechtliche und völkerrechtliche Elemente. Über die Zeit hat er sich derart von seinen verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Grundlagen emanzipiert, dass er gewissermaßen als Mezzanine zwischen nationalem und internationalem Recht eine Materie sui generis bildet. Zweiter Teil Interamerikanisches und europäisches Menschenrechtsschutzsystem im Entwicklungs- und Strukturvergleich A. Ein Vergleich der regionalen Menschenrechtsschutzsysteme zeigt gleichermaßen Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Genese, der vertraglichen Grundlagen, ihrer institutionellen Struktur und instrumentellen Sicherungsmechanismen. Eine erste Gemeinsamkeit liegt bereits in dem Umstand, dass beiden regionalen Menschenrechtsschutzsystemen politische Vorformen in Gestalt der panamerikanischen und paneuropäischen Einigungsbewegung vorangingen. Während die panamerikanische Bewegung aber auf die Begründung des souveränen Nationalstaates zielte, war die paneuropäische Bewegung auf dessen Begrenzung ausgerichtet. Das interamerikanische System weist eine lange Entwicklungsgeschichte auf, so dass die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) mitunter als die älteste regionale Organisation überhaupt angesehen wird. Dagegen entstammt der Europarat als Reaktion auf die totalitären Herrschaftsregime des Zweiten Weltkrieges letztlich einem singulären Entwicklungsimpuls.

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Somit lässt sich für das europäische System in Anlehnung an einen constitutional moment (B. Ackerman) ein andachtsvoller conventional moment identifizieren. B. Auch die OAS und der Europarat als intergouvernementale Foren weisen Gemeinsamkeiten wie Unterschiede auf. Ein wesentlicher Unterschied ergibt sich hinsichtlich ihrer Aktionsfelder und Aktionsvielfalt. Die OAS umfasste von Anbeginn ein kollektives Sicherheits- und Verteidigungssystem und zeichnet sich insgesamt durch die Weite ihrer Aufgaben aus, weshalb sie auch als „Völkerbund sui generis“ (C. O. Stoetzer) bezeichnet worden ist. Indes hat der Europarat trotz geringerem Kompetenzumfang eine höhere Dichte an Abkommen und Konventionen produziert. Die inneren Verhältnisse der beiden Organisationen unterscheiden sich seit jeher grundlegend. Zwar ist beiden Systemen eine gewisse strukturelle Trennung zwischen Nord- und Süd(amerika) bzw. Ost- und West(europa) gemein, doch bleibt die Entwicklungsgeschichte der OAS maßgeblich durch die Dominanz der Supermacht USA, hegemonielle Bestrebungen und ein insgesamt asymmetrisches Kräfteverhältnis gekennzeichnet. Zudem unterschied sich der interamerikanische Raum lange Zeit signifikant von Europa, da politische Instabilität, organisierte Kriminalität, Terrorismus und bewaffnete Konflikte sowie weitverbreitete Armut und extreme Wohlstandsgefälle die Anerkennung und Durchsetzung von Menschenrechten erschwerten und erschweren. Gleichwohl sieht sich der Europarat seit der Ost-Erweiterung auf 47 Staaten vermehrt mit ähnlichen Widrigkeiten konfrontiert, so dass sich die faktischen Gegebenheiten der beiden Systeme zumindest annähern. C. Das interamerikanische System liegt seinem europäischen Pendant zeitlich in einzelnen Facetten voraus, wie die noch vor der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verabschiedete Amerikanische Deklaration der Rechte und Pflichten des Menschen von 1948 beispielhaft zeigt. Auch inhaltlich reicht das interamerikanische Schutzsystem – jedenfalls positivrechtlich – über das europäische hinaus. So finden viele Garantien der Amerikanischen Deklaration von 1948 und der AMRK von 1969 keine Entsprechung im europäischen System. Besonders augenscheinlich ist das Defizit der EMRK in Bezug auf soziale und wirtschaftliche Rechte. Während diese in Europa in die Europäische Sozialcharta ausgelagert sind und keinen der EMRK vergleichbaren Durchsetzungs- und Schutzmechanismus aufweisen, sind sie integraler Bestandteil der AMRK. Die AMRK hat insofern als zeitlich spätere Konvention vieles auf eine „Textstufe“ (P. Häberle) gebracht, was im lakonischen Text der EMRK ursprünglich keine Aufnahme gefunden hatte und erst durch diverse Zusatzprotokolle bzw. die Rechtsprechung in Form von Rechtsfortbildung und Rechtsschöpfung ergänzt worden ist. Insgesamt lässt sich die EMRK vornehmlich als Freiheitsordnung des status negativus qualifizieren, während die AMRK daneben auch Egalitätselemente beinhaltet.

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Institutionell bestanden lange Zeit Parallelen zwischen dem interamerikanischen und europäischen System, da beide gleichermaßen über eine Kommission und einen Gerichtshof als Schutzorgane verfügten. Während dieser Dualismus in der EMRK jedoch mit dem 11. Zusatzprotokoll von 1998 aufgehoben und ein ständiger Gerichtshof geschaffen worden ist, besteht er in der AMRK fort. Auch hat der Interamerikanische Gerichtshof bislang (noch) nicht den Status einer corte permanente inne. Ferner divergiert auch die quantitative Rechtsprechungsleistung prima facie signifikant. Während der EGMR bislang knapp 17.000 Urteile erlassen hat, sind von seinem interamerikanischen Pendant bislang erst ca. 300 Urteile gefällt worden. Doch gilt es zu relativieren: In den ersten dreißig Jahren seiner Tätigkeit hat auch der EGMR lediglich knapp 100 Urteile erlassen. Zudem sind die mehr als 12.000 Entscheidungen der Interamerikanischen Menschenrechtskommission zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Schutzinstrumente der Menschenrechte bestehen weitgehende Parallelen. So verfügen beide Systeme über die Möglichkeit der Individual- und Staatenbeschwerde sowie ein Gutachtenverfahren. Bedeutende Unterschiede ergeben sich jedoch in der Ausgestaltung und Anwendung dieser Verfahren. Ferner stehen im interamerikanischen System weitere wirksame Instrumente wie die Vorortuntersuchungen, Länderund Sachberichte zum Menschenrechtsschutz zur Verfügung. Ingesamt lässt der Vergleich beider Systeme in Genese und Struktur erkennen, dass es sich trotz Konkordanzen und Rezeptionen bei der EMRK von 1950 und der AMRK von 1969 nicht bloß um Prototyp und Ektypus handelt. Dritter Teil Die Auswirkungen und Eigenarten des regionalen Menschenrechtsschutzes A. Der regionale Menschenrechtsschutz steht in einem intrikaten, geradezu paradoxen Verhältnis zu staatlicher Souveränität. Einerseits ist staatliche Souveränität für regionalen Menschenrechtsschutz konstitutiv, andererseits relativiert der überstaatliche Schutzmechanismus die staatliche Allmacht. An den Rechtsprechungskonflikten zwischen nationalen und internationalen Gerichten lässt sich ersehen, wie staatliche Souveränität mit demokratischem Gehalt aufgeladen und zur Abwehr außer- und überstaatlicher Rechtsregime instrumentalisiert worden ist. Der regionale Menschenrechtsschutz erfordert ein gewandeltes Souveränitätsverständnis. Die Transformation des Souveränitätsverständnisses erfolgt vorrangig durch die Judikative, also ohne formelle Übertragung von Hoheitsrechten, ohne konkreten Integrationsakt und ohne gouvernementale Steuerung, sondern aus den Wechselwirkungen staatlicher und überstaatlicher Rechtsprechung heraus. Beispielhaft ist die jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Souveränität ist danach nicht mehr die Grenze, sondern vielmehr die Grundlage zur Einbindung in internationale Zusammenhänge. Völkerrechtliche

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Bindung und Gebundenheit werden nicht länger als Gegensatz zur Souveränität, sondern als deren Ausdruck verstanden. Mit dieser Betonung der externen Souveränität, die ein entscheidendes Konstruktionselement des internationalen Rechts bildet, ist aber zwangsweise eine Veränderung der internen Souveränität verkoppelt, die durch die sukzessive und expansive Rechtsprechungstätigkeit der Konventionsorgane bedingt ist. Die daraus resultierenden Erosionswirkungen sind allerdings – ungeachtet des bedeutenden Einflusses des Konventionsrechts auf die nationalen Rechtsordnungen – nicht derart umfassend oder tiefgreifend, dass die staatliche Souveränität insgesamt verloren ginge. Durch regionalen Menschenrechtsschutz werden weder Herrschaftsbefugnisse geteilt und in anderer Form wieder verschmolzen, noch werden ganze Kompetenzbereiche verlagert. Es kommt lediglich zu menschenrechtsspezifischen Korrekturen. Diese Modifikationen rühren nicht am Identitätskern von Staatlichkeit und den Grundfesten interner Souveränität. Regionaler Menschenrechtsschutz bedingt also nicht die Aufgabe oder den Verlust von Souveränität, sondern lediglich punktuellen Verzicht und partielle Erosion. Ist damit der Antagonimus zwischen Völkerrecht und staatlicher Souveränität in der Theorie überwunden, bedarf es zur Vermeidung von Normkollisionen und Rechtsprechungskonflikten, die auf Grund der sich stetig ausdifferenzierenden Materie des regionalen Menschenrechtsschutzes vorprogrammiert sind, in Anlehnung an das nationale Verfassungsrecht einer Vertikalisierung der „praktischen Konkordanz“. Normkollisionen bzw. Interpretationskonflikte sind durch eine simultane Optimierung aufzulösen: In Anlehnung an K. Hesse müssen menschenrechtliche Konventionsgarantien und verfassungsrechtliche Grundrechte so zugeordnet werden, dass jedes von ihnen Wirklichkeit gewinnt. Beide Rechtspositionen sind zu begrenzen, damit beide zu optimaler Wirksamkeit gelangen können. Um die nationalen Rechtsordnungen mit dem Konventionsrecht zu „harmonisieren“, sollte die gelungene Rechtsschöpfung der interamerikanischen „Konventionskontrolle“ durch alle staatlichen Organe im europäischen Rechtsraum rezipiert werden. Durch eine derartige Inklusion kann es zu einer „fertilizacion cruzada“ (V. Bazán) kommen. Konventionsrecht wird „konkretisiertes Verfassungsrecht“ und Verfassungsrecht „konkretisiertes Konventionsrecht“. Konsequenz einer solchen Konventionskontrolle wäre eine Art Infrakonventionalität, weil sämtliche nationale Gewalten unmittelbar an der Durchsetzung der Konvention aktiv teilhätten. B. Die vielbemühte Beschreibung des regionalen Menschenrechtsschutzes als Konstitutionalisierung ist inadäquat. Sie verkennt konstitutionelle Defizite der Konventionen, die sich bei einer funktionalen Betrachtung offenbaren. Von den beiden konstitutiven Verfassungselementen – instrument of government und bill of rights – erfüllen sie lediglich das Letztgenannte. Auch mangelt es an einer verfassungsbedürftigen Hoheitsgewalt. Die Konventionssysteme weisen nur die hinreichenden, nicht die notwendigen Elemente einer Verfassung auf und reichen materiell-funktional gerade nicht an die Errungenschaften des Konstitutionalis-

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mus heran. Ebenso wie sich eher eine „Konstitutionalisierung im Völkerrecht“ als eine „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ konstatieren lässt (T. Kleinlein), weist der regionale Menschenrechtsschutz zwar konstitutionelle Elemente auf, aber konstitutionalisiert sich nicht als solcher. Indes verbirgt sich hinter der Konstitutionalismusterminologie primär das Motiv einer semantischen Aufwertung. Das Bemühen dieser Begrifflichkeiten dient weniger der adäquaten Beschreibung von im internationalen Kontext reproduzierten strukturellen Parallelen mit dem nationalen Verfassungsrecht, sondern zielt vor allem auf einen Achtungs- und Autoritätsgewinn. Die Etikettierung als Konstitutionalisierung, die bloße Semantik des Konstitutionellen, ist insofern beispielhaft für eine pragmatistische Deutung des Rechts. Die Konventionssysteme als Verfassungen zu bezeichnen ist sachlich genauso unzutreffend und unterstellend wie in ihnen schlichte völkerrechtliche Verträge zu erkennen. Vielmehr entzieht sich der regionale Menschenrechtsschutz den etablierten Kategorien von Verfassungs- und Völkerrecht. Um der Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes gerecht zu werden und um eine Überdehnung und Entwertung des Verfassungsbegriffes zu vermeiden, sollte der Entwicklungsprozess des regionalen Menschenrechtsschutzes nicht als Konstitutionalisierung bezeichnet werden und der Rückgriff auf verfassungsanaloges Denken unterbleiben. C. Diskutabel scheint es zunächst, die Entwicklungen der Konventionssysteme als „Supranationalisierung“ zu qualifizieren. Dafür spricht die unter staatlicher Souveränitätsveränderung erfolgende Ausdifferenzierung und Autonomisierung der regionalen Menschenrechtsschutzmechanismen, ihre spürbare Einwirkung auf das innerstaatliche Recht und die Möglichkeit des Einzelnen, sich unmittelbar auf das Konventionsrecht zu berufen. Jedenfalls der EGMR ist in Parallele zum EuGH als „Motor der Integration“ zum „Motor eines europäischen Grundrechtsstandards“ geworden und hat, dem acquis communautaire der EU vergleichbar, eine Art menschenrechtlichen acquis conventionnel kreiert. Auch die „Rangaufwertung“ durch den – unionsrechtlich verpflichtenden – Beitritt der EU zur EMRK wird zu einer Supranationalisierung des Konventionsrechts führen. Insgesamt hat der regionale Menschenrechtsschutz – ähnlich wie das Europarecht – eine „Besonderheit“ gegenüber dem klassischen Völkerrecht erlangt, ist zu einer Materie eigener Art herangereift. Um eine umfassende Supranationalisierung konstatieren zu können, bedürfte es jedoch weiterer Gewalten außerhalb der Judikative, anderer als judikative Handlungsformen und vor allem integrativ gestaltbarer Politikbereiche. Es ist zweifelhaft, ob sich der Begriff des Supranationalen vom legislativ-exekutiven und politischen Bereich lösen und auf die judikative ex-post Kontrolle übertragen lässt, ohne ihn des ihm Eigentümlichen zu berauben. Das Wesen der Konventionsgemeinschaft unterscheidet sich doch signifikant von jenem der Europäi-

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schen Union mit ihrer Kompetenzfülle, ihren breiten Aufgabenfeldern, unterschiedlichen Politiken und ihrer intensiven Rechtsetzungstätigkeit. Ungeachtet einzelner supranationaler Tendenzen, sollte der Begriff der Supranationalität daher nicht auf den regionalen Menschenrechtsschutz übertragen werden. Er wird der Eigenständigkeit des regionalen Menschenrechtsschutzes letztlich nicht gerecht. D. Die Übertragung des im Verfassungsrecht und Europarecht etablierten Subsidiaritätsprinzips auf den regionalen Menschenrechtsschutz ist, ungeachtet der jüngsten Positivierungsversuche, ebenfalls nicht überzeugend. Unbestritten besteht auch für den Menschenrechtsschutz im Mehrebenensystem der Zwiespalt zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen Harmonisierung und Differenzierung, zwischen Zentralisation und Dezentralisation, so dass Anleihen an das Subsidiaritätsprinzip nahe liegen. Gleichwohl ist das Anwendungsobjekt ein anderes. Regionaler Menschrechtsschutz etabliert bzw. rekonstruiert – anders als die Europäische Union – keinen Herrschaftsverband und zielt nicht auf eine an Qualität und Intensität vergleichbare Integration. Er erschöpft sich in einer ausschließlich menschenrechtlichen Überformung der nationalen Rechtsordnung. In Folge dessen teilt er auch keine Kompetenzen zu und trägt allein interventionistischen Charakter. Bezogen auf den regionalen Menschenrechtsschutz erschöpft sich Subsidiarität deshalb im rein prozessualen Gehalt des Gebots der Rechtswegerschöpfung (local remedies rule) und der Primärverantwortung der Staaten für den Grund- und Menschenrechtsschutz. Sie ist gerade kein maßgebliches Strukturprinzip des regionalen Menschenrechtsschutzes, da sie dessen Funktionslogik, Eigenart, Auftrag und Entwicklungsstand nicht gerecht wird. Zu sehr trägt Subsidiarität als teilendes Regulativ konditionalen und abgrenzenden Charakter. Menschenrechtsschutz im Mehrebenensystem ist aber nicht konditional, sondern konjunktiv. Öffentliche Gewalt unterliegt durch ihn einer dualen Bindung. Dieser Umstand erfordert ein verbindend-mediierendes, kein trennendes und teilendes Prinzip. Für ein derart „osmotisches“ Verhältnis zwischen nationalem und regionalem Grund- und Menschenrechtsschutz erscheint der Begriff „Embeddedness“ (L. R. Helfer) vorzugswürdig. Allein bei der Konturierung, nicht bei der Konstituierung einer vom Individuum ausgehenden politischen Ordnung und der dazu erforderlichen Bestimmung der verbürgten Menschenrechtsgehalte durch die Rechtsprechung kann das Subsidiaritätspostulat hilfreich sein. Die intendierte Positivierung der Subsidiarität in der Präambel der EMRK durch das 15. Zusatzprotokoll und die Subsidiaritätsbekundungen der Rechtsprechung könnten sich gleichwohl als hilfreich erweisen, um gerade jenen judikativen Expansionsdrang, der dem Subsidiaritätsgedanken zuwiderläuft, zu legitimieren und Kritiker zu besänftigen. Insofern ist Subsidiarität beispielhaft für die „kreative Rhetorizität des Rechts“ (S. Fish). E. Sowohl der regionale Menschenrechtsschutz als solcher als auch das beschriebene quantitative und qualitative Ausgreifen der Konventionsorgane kre-

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ieren Legitimationsprobleme und Legitimationsbedürfnisse. Zum einen ist die Einwirkung regionaler Rechtsprechungskörper auf das nationale System und die dadurch etablierte Begrenzung innerstaatlicher Handlungsmöglichkeiten von außen als solche rechtfertigungsbedürftig. Insofern kommt es zu einer Potenzierung der im verfassungsrechtlichen Diskurs unter dem Begriff der „counter-majoritarian difficulty“ (A. M. Bickel) diskutierten Spannung zwischen legislativer Entscheidungsgewalt und judicial review. Zum anderen gilt: Je weiter sich die Systeme ausdifferenzieren, je effektiver sie arbeiten und je mehr sie Elemente der „Konstitutionalisierung“ und „Supranationalisierung“ aufweisen bzw. ihren subsidiären Charakter ablegen, desto wichtiger und drängender wird das Bedürfnis nach ihrer Begründung und Rechtfertigung. Schließlich erstreckt sich die Jurisdiktion der Organe beider Systeme zusammengenommen auf insgesamt mehr als 70 einzelstaatliche Rechtsordnungen und erhebt hunderte Millionen Menschen qua Individualbeschwerde zu potentiellen Klägern. In der Konsequenz verfügen die Konventionsorgane über die Kompetenz, sämtliche staatliche Akte – einschließlich der in ihrer demokratischen Legitimation überlegenen Parlamentsgesetze – am Maßstab der Konventionen zu überprüfen. Dass Gestaltungspotenz und Legitimationsniveau im regionalen Menschenrechtsschutz nicht miteinander korrespondieren, gilt um so mehr, als dass sich in der Rechtsfortbildung und Rechtskreation durch die Konventionsorgane gewisse Entgrenzungstendenzen offenbaren. Wenngleich die „demokratischen Legitimationsketten“ (E.-W. Böckenförde) der Konventionsorgane besonders lang, schwach und brüchig sind, lässt sich eine wesentliche Legitimationsgrundlage in Parallele zur Rechtfertigung der nationalen Verfassungsgerichtsbarkeit finden. Darüber hinaus reichende spezifische Legitimationselemente des regionalen Menschenrechtsschutzes resultieren aus der dem Verfassungsrecht eigentümlichen Schwäche, aus der Distanz und „Interesselosigkeit“ sowie dem Pluralismus eines überstaatlichen Schutzmechanismus. Ist die Judikative allgemein als „least dangerous branch“ (A. M. Bickel) zu bezeichen, gilt für den stets umsetzungsbedürftigen konventionsrechtlichen Schutz, dass er eine non-dangerous branch bildet. Die Konventionsorgane sind als eine fortgesetzte Gewaltenteilung bzw. Gewaltengliederung in vertikaler Hinsicht ohne Gewaltergänzung zu qualifizieren. Für die unverfügbaren, vorpolitischen Rechte bietet der regionale Menschenrechtsschutz damit das adäquate, weil außerstaatliche Medium. F. Die Analyse des regionalen Menschenrechtsschutzes mündet in die Erkenntnis, dass der regionale Menschenrechtsschutz zwar auf völkervertragsrechtlichen Grundlagen beruht, seine Strukturmerkmale – Konventionsgarantien, Institutionen und Instrumente – jedoch ganz überwiegend dem nationalen Verfassungsrecht entstammen. Sie sind in den überstaatlichen Raum projiziert bzw. in diesem reproduziert worden und erweisen sich aufgrund dieser Gestalt als besonders effektiv. Die Kombination aus völkerrechtlichem Rahmen und dem nationalen Recht entlehnten Funktionsstrukturen verändert beide Materien wechselseitig in

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Wesen und Inhalt. Der aus den beiden Ursprungsmaterien Staats- und Völkerrecht entstandene regionale Menschenrechtsschutz ist zu etwas genuin Eigenem herangereift. Er entzieht sich einer erschöpfenden Beschreibbarkeit durch herkömmliches verfassungsrechtliches oder völkerrechtliches Instrumentarium, nimmt für sich eine neue Form in Anspruch, verlangt nach einer anderen, neuen Semantik. Gleichwohl versucht man, das Neue mit den bisherigen Bezugsgrößen und der vertrauten Systematik zu erfassen und verharrt dabei in überkommenen Begrifflichkeiten und Theoriegebilden. Anstatt tradierte Axiome, Prinzipien und Semantik des Staats- und Völkerrechts in den regionalen Menschenrechtsschutz einzutragen, sollte diese mezzanine Schutzebene als Materie sui generis anerkannt und gedeutet werden, die sich komplementär zum nationalen und internationalen Grund- und Menschenrechtsschutz verhält.

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Stichwortverzeichnis Acquis communautaire 214, 343 Acquis conventionnel 201, 205, 214, 251, 319, 343 Actio popularis 124, 128, 290 Advisory opinion 129, 141, 144 f., 151, 277 Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 35, 63 ff., 95, 100 Auffangebene 217, 235, 237, 255 Auslegungsmethode 24 ff., 105, 169, 272 ff., 291 Autodeklaration 209 f. Autonomie 21, 29, 47, 147, 149, 152 f., 165, 189, 197, 207 ff., 220 f., 228, 273 f., 277, 289, 320 Autopoiesis 210, 305 Bagatellgrenze 284 Beitritt 206 ff. Berücksichtigungspflicht 153 ff. Bill of Rights 37, 58 ff., 67 ff., 172, 192 ff., 342 Bindungswirkung 59, 95 ff., 112, 146, 149 ff., 189, 202, 259, 281 Bundesverfassungsgericht 21, 30, 152 ff., 199, 212, 260 f. 271, 341 Coloniaje 40 ff. Conquista 40 ff., 70, 338 Constitutional instrument 179 ff., 211, 237, 241, 250, 292 Constitutional moment 80 f., 189, 298, 340 Control de Conventionalidad 159 ff., 184, 188, 232, 333, 335 Counter-majoritarian difficulty 262 ff., 271, 345

Democratic override 166 f. Demokratie 58 f., 82, 86 ff., 94, 100, 110, 140, 144, 220, 233, 262 ff., 296 ff., 312 ff. Dezentralisation 256, 323, 344 Diskurs 30, 40, 42 ff., 82, 158, 171, 270, 297, 319, 336, 338 f., 345 Domaine réservé 65, 144, 249 Dualismus 23, 117, 121, 123, 134 f., 178, 183, 322, 335, 341 Ebenenkonkurrenz 239 Effektivität 69, 103, 124, 146, 257, 263, 274, 276, 289, 321 Effet utile 161 ff., 170, 242, 274, 278 Effizienz 114, 216, 220, 225, 244 ff., 250 ff. 337 Eigenständigkeit 17, 199 ff., 249, 294, 298, 315 ff. Einzelermächtigung 244 Emanzipation 57, 73, 195, 255 ff., 277, 317 ff., 335 Embeddedness 257, 327, 344 Entgrenzung 271 ff., 295, 345 Erga omnes 66, 176, 182 Europäische Menschenrechtskommission 114 ff., 179 Europäische Union 192 f., 197 ff., 243 ff., 256, 344 Europäischer Gerichtshof 199 ff., 207 ff., 245 f., 274, 343 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 32, 99, 111, 114 f., 119 f., 129, 135 ff., 148, 150. 153 ff., 166, 180 ff., 201 ff., 211 ff, 240 ff., 273 ff., 279 ff., 332, 341, 343

Stichwortverzeichnis Europarat 78, 80, 87 ff., 99, 119, 122 f., 132, 134, 145, 186, 201, 203, 222, 251, 292, 339 f. Exklusion 170, 327 Feststellungscharakter 147, 234, 238, 310 Folgewilligkeit 134, 136, 146, 234, 241, 250, 310 Fragmentierung 177, 187, 277, 314, 324 ff. Französische Revolution 59 ff., 74 ff. Gewaltengliederung 143, 174, 266, 294, 303, 345 Gewaltenteilung 58, 60, 143, 173 f., 190, 265, 270, 296 f., 299 f., 302, 306, 312 ff. Gewaltmonopol 142 Good Governance 140 Gouvernement de juges 180 Günstigkeitsprinzip 227, 233 f., 238, 239 Gutachten 97, 121, 128 ff., 191, 207 f., 212 ff., 289, 291, 341 Herrschaftsgewalt 52 f., 139, 172 f. Heterogenität 63, 228 Hierarchie 149 ff., 323 Höchstrangigkeit 59, 174 f., 194, 202 Homogenität 70, 192 Hüter (der Verfassung) 296, 299, 302 Individualbeschwerde 66 f., 99, 116, 118, 123 ff., 178 ff., 215, 252 ff., 307, 314, 345 Infrakonventionalität 169 ff., 342 Inklusion 170, 221, 327, 333, 342 Instrument of government 172, 192 f., 196, 342 Integration 33 f., 38, 73 ff., 81, 85, 88, 92, 142 f., 158, 167 f., 191, 193, 198 ff., 209, 212, 214 f. 223, 245, 247 ff., 256 Interamerikanische Menschenrechtskommission 86, 87, 96 ff., 114 ff., 136, 201

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Interamerikanischer Menschenrechtsgerichtshof 86, 99, 104, 119, 120 ff., 135 ff., 148, 159, 183 f., 233, 242, 277, 341 Intergouvernemental 86, 89, 91, 199 ff., 223, 340 Invalidation 235, 239 Ius gentium 44, 53, 55 Judicial activism 271 Judicial review 59, 176, 180, 183, 190, 262 ff., 287, 295 ff., 312 ff., 345 Judicial self-restraint 229, 234, 239 f., 286, 295 Judicialization 268 Jus cogens 73 Justizialisierung 268, 271 Kompetenz-Kompetenz 148, 202, 276, 278 Komplementarität 257, 324 ff. Konstitutionalisierung 171 ff., 324 ff., 342 ff. Kontingenz 35, 70 Kontrolldichte 207, 233, 241, 253 f., 281 f., 287, 296 Kulturelle Rechte 111, 113 Kulturwissenschaftlicher Ansatz 23 ff., 338 Länderberichte 131 ff. Least dangerous branch 310 ff., 345 ff. Legalität 56, 142, 260 ff., 315 f. Legitimation 42 ff., 258 ff. Legitimität 60, 81, 160, 228, 241, 258 260 ff., 315, 338 Leistungspflichten 279 ff. Living instrument 182, 240, 253, 273, 276 f. Local remedies 225, 236 f., 257, 344 Locus standi 118, 120, 122, 183 Magna Charta 37, 64 Margin of appreciation 228, 233 f., 239 ff., 262, 280, 287, 295, 332

378

Stichwortverzeichnis

Mehrebenensystem 187, 221, 246, 256 f., 302, 344 Menschenbild 218, 221 Menschenrechtspakte 66 ff., 94 f. Mezzanine 68 ff., 321, 339, 346 Minderheitenschutz 296 Mindeststandard 176, 235, 292, 300 f., 319 Monismus 266, 335 Narrativ 32 ff., 43, 52 ff., 139, 197, 261, 300, 338 Naturrecht 28, 43 ff., 55 ff., 100, 189 Normative Kraft 31 ff., 52, 63, 134, 154, 196, 294 f., 321, 337 Ordre public européen 128, 181, 318 Organisation Amerikanischer Staaten 75 f., 83 ff., 201, 203, 290, 339 f. Panamerikanismus 72 ff. Paneuropa 77 ff., 87 f., 339 Pflichten 65 ff., 94 ff., 113 Piloturteile 204, 230, 234, 254, 287 Positivismus 25 ff., 56, 338 f. Postnationalisierung 196, 337 pouvoir constituant 143, 150,175, 189, 306, 312 pouvoir constitué 306, 312 pouvoir neutre 305 ff. Pragmatismus 25 ff., 154, 180, 196, 210, 240, 338 Praktische Konkordanz 168 f., 335 Rechtsfortbildung 31, 134, 273, 275, 278 ff., 285, 290 ff., 340, 345 Rechtsprechungskonflikt 150, 166, 168, 170, 341 f. Rechtswegerschöpfung 125, 171, 206, 225 f., 232, 234 ff., 256, 331, 344 Rule of law 61, 135, 171, 283, 315

Sachberichte 131, 137, 341 Säkularisierung 54, 339 Schutzpflicht 106 f., 279 f., 284, 288 Selbstbestimmung 49 ff., 72, 80, 83, 144, 149, 165 f., 174, 189, 204, 220, 228, 249, 252, 338 Souveränität 21, 50, 52, 57, 58, 66, 93, 109, 120, 124, 135, 138 ff., 177, 187, 197, 204, 220, 234, 247 f., 249, 257, 265, 271, 290, 291, 317, 320 ff., 335, 341 ff. Soziale Rechte 62, 75, 98 Spätscholastik 42 ff., 338 Staatenbeschwerde 66 ff., 99, 124, 127, 137, 331 Subsidiarität 89, 113 f., 216 ff., 262, 271, 285, 289, 304, 316, 325, 326 ff., 335, 344 Supranationalität 197 ff., 344 Textstufe 23 ff., 31, 56, 64, 134, 327 f., 340 Universalität 34 ff. 52, 55, 63, 304, 339 Urzustand 54, 56, 339 Veil of ignorance 303 ff. Verfassung 20, 38, 57 f., 102 f., 135, 139, 152, 172 ff., 295 ff. Völkerrechtsfreundlichkeit 153, 157 f. Volkssouveränität 50, 57 ff., 140, 144, 165, 265 Vorbehalt 61, 65, 82, 112, 145 ff., 232, 248, 256, 263, 331 Vorortuntersuchungen 119, 131 ff., 289, 341 Wirtschaftliche Rechte 133, 340 Zusatzprotokoll 99, 104, 110 f., 113 ff., 134 f. 183, 206, 216, 223, 248, 281 f., 290, 293, 340 ff.