Regionale Auxiliarvariation: Interaktion, Schrift, Kognition 9783110708875, 9783110708721

This study looks at the synchronous variation of the regional-syntactical [_sein_angefangen_] construction in the repert

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Regionale Auxiliarvariation: Interaktion, Schrift, Kognition
 9783110708875, 9783110708721

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Tabellenverzeichnis
1. Einleitung
2. Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung
3. Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation
4. Auxiliarvariation in der Interaktion
5. Auxiliarvariation in regionaler Schriftlichkeit
6. Auxiliarvariation im kognitionslinguistischen Experiment
7. Regionale Auxiliarvariation: Rückblick und Ausblick
Literaturverzeichnis
Anhang
Index

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Kathrin Weber Regionale Auxiliarvariation

Sprache und Wissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat Markus Hundt, Wolf-Andreas Liebert, Thomas Spranz-Fogasy, Berbeli Wanning, Ingo H. Warnke und Martin Wengeler

Band 46

Kathrin Weber

Regionale Auxiliarvariation Interaktion, Schrift, Kognition

D6

ISBN 978-3-11-070872-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070887-5 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070894-3 ISSN 1864-2284 Library of Congress Control Number: 2020943468 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Vorwort Die Genese einer Dissertation ist von einer Vielzahl an Personen und ihren fachlichen als auch emotionalen Beiträgen begleitet. Mein herzlichster Dank gilt meinen Betreuern Prof. Dr. Helmut H. Spiekermann und Prof. Dr. Peter Auer. Ich danke dir, Helmut, dafür, dass du mir den Weg in die Sprachwissenschaft geebnet hast. Du warst stets ein wertvoller Ansprechpartner und hast mir eine freie wissenschaftliche Entwicklung fern aller Schulzwänge ermöglicht. Ich danke Ihnen, Herr Auer, für Ihre Zeit und das Engagement, das Sie mit kreativen Ideen und stets hilfreicher, konstruktiver Kritik in meine Arbeit investiert haben. Neben meinen Betreuern fühle ich mich Prof. Dr. Jens Bölte und Prof. Dr. Sarah Schimke überaus verbunden, da sie mir den Zugang zur psycholinguistischen Forschungsdisziplin eröffnet haben. Vor allem für das Vertrauen und die Expertise, welche Jens Bölte in mein Eye-Tracking-Experiment investierte, und den Zuwachs an Wissen, den ich daraus gewinnen konnte, danke ich ihm sehr. Für meine Arbeit im Bereich Mehrsprachigkeit an der Universität DuisburgEssen bedanke ich mich bei Prof. Dr. Evelyn Ziegler und Prof. Dr. Wolfgang Imo für unsere enge, gute Zusammenarbeit und die Unterstützung in allen Bereichen. Auch Prof. Dr. Pia Bergmann fühle ich mich aufgrund unserer aktuellen Zusammenarbeit an der Universität Jena sehr verbunden. Ferner danke ich allen KollegInnen an den Universitäten Münster, Duisburg-Essen und Jena für wertvolle Feedbackgespräche, fürs Zuhören, Diskutieren und Motivieren. Besonders danke ich Jana Gamper, Katharina König und Christian Groß, die mit kritischem Blick und wertvoller Detailtreue die Arbeit Korrektur gelesen haben. Mein herzlicher Dank geht auch an Sophie Elsässer, die mir geduldig die Grundlagen in der Anfertigung räumlicher Verbreitungskarten vermittelt hat. Ferner danke ich meiner linguistischen Seelenverwandten, die nicht nur mein Sprachverständnis teilt, sondern auch zu einer wichtigen Freundin außerhalb der Linguistik geworden ist. Darüber hinaus möchte ich meinen Eltern und meiner Schwester danken, die mich immer auf meinem Weg unterstützt haben. Auch meinen Studienfreundinnen übermittle ich meinen herzlichsten Gruß in die südliche Heimat. Mein größter Dank gilt jedoch dir, Chris. Danke für deine Intelligenz, deine Emanzipation und deine Liebe. Zum Schluss gilt mein Dank den an der empirischen Erhebung beteiligten SprecherInnen und ExperimentteilnehmerInnen. Sie haben meist ohne finanzielle Entschädigung Zeit und Engagement in mein Projekt investiert. Ohne Ihre Hilfe wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

https://doi.org/10.1515/9783110708875-202

Inhaltsverzeichnis Abbildungsverzeichnis | XI Tabellenverzeichnis | XIII 1 1.1  1.2 

Einleitung|1 Gegenstand der Untersuchung|2  Aufbau der Untersuchung|7 

2 Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung|11 2.1  Die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion|11  2.2  Auxiliarselektionsforschung und Telizität|19  2.2.1  Aktionsart und Telizität|20  2.2.2  Telizität in synchronen Auxiliarselektionsmodellen|23  2.2.3  Sprachhistorische Grundlagen|27  2.2.4  Steuerungsfaktoren der Auxiliarselektion|38  2.2.4.1  Transitivität|39  2.2.4.2  Resultativ und Zustandspassiv|43  2.2.4.3  Aspekt und Tempus|46  2.3  Methoden der Auxiliarselektionsforschung|51  2.4  Zusammenfassung|53  3 3.1  3.1.1  3.1.2 

Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation|56 Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik|57  Konstruktionen und sprachliches Netzwerk|58  Methodische Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen|71  3.2  Syntaktische Variation|76  3.2.1  Variation und Grammatiktheorie|76  3.2.2  Syntaktische Variation in Sprachhandeln und Sprachverarbeitung|83  3.2.2.1  Variation, Sprachhandeln und Funktionale Äquivalenz|86  3.2.2.2  Variation, Sprachverarbeitung und entrenchment|93  3.3  Zusammenfassung|96

VIII | Inhaltsverzeichnis

4 Auxiliarvariation in der Interaktion|99 4.1  Methode|101  4.1.1  Interview und Alltagsgespräch|101  4.1.2  Korpora – Erhebungsdesigns und Aufbereitung|105  4.1.3  Deskriptive Statistik|117  4.1.4  Auswertungsmethoden|126  4.1.4.1  Rekonstruktive Gesprächsanalyse|127  4.1.4.2  Statistik: Generalized linear mixed effects models (glmer)|134  4.2  Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion|136  4.2.1  Gesprächsanalytische Auswertung der angefangenAuxiliarvariation|136  4.2.1.1  Gebrauchsformate der angefangen-Konstruktionen in der Interaktion|136  4.2.1.2  (Nicht-)funktionale Variation in der Interaktion|152  4.2.2  Statistische Analyse der interaktionalen angefangenKonstruktionen|157  4.2.2.1  Prädiktoren der angefangen-Variation|159  4.2.2.2  Auxiliarvariation und Präteritumschwund|165  4.3  Diskussion|174  4.3.1  Interaktion, syntaktische Variation und funktionale Äquivalenz|175  4.3.2  Varietätenbindung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion|177  4.3.3  Telizität und Produktivität des SEIN-Perfekts|179  4.3.4  Refunktionalisierung der SEIN-Variante im Tempus-AspektSystem|182  4.4  Ausblick|190  5 5.1  5.1.1  5.1.2  5.1.3  5.2  5.2.1  5.2.2 

Auxiliarvariation in regionaler Schriftlichkeit|191 Methode|192  Regionalzeitungen|193  Korpus und deskriptive Statistik|196  Auswertungsmethoden: Literale Praktiken und glm(er)|204  Analyse Auxiliarvariation in regionaler Schriftlichkeit|206  Auxiliarvarianten als literale Praktiken|207  Statistische Analysen der Auxiliarvariation im Schriftgebrauch|211  5.2.2.1  Variation in Perfekt (Aktiv) und Plusquamperfekt|213 

Inhaltsverzeichnis | IX

5.2.2.2  5.2.2.3  5.3  5.3.1  5.3.2  5.3.3  5.4  6 6.1  6.1.1  6.1.2  6.1.3  6.1.4  6.1.5  6.1.6  6.2  6.2.1  6.2.2  6.3  6.3.1 

Variation in Resultativ und Zustandspassiv|222  Transitivität und Grammatikalisierungsgrad telischer Partizipien|228  Diskussion|232  Medialer Transfer und das Tempus-Aspekt-DiatheseInterface|232  Telizität und Produktivität des sein-Types|236  Auxiliarvariation, Transitivität und Grammatikalisierung|239  Ausblick|241 

6.3.2  6.4 

Auxiliarvariation im kognitionslinguistischen Experiment|243 Methode|244  Eye-Tracking|244  Hypothesen|249  Sample|251  Sprachgebrauchsbasierte Testsätze|256  Durchführung|261  Deskriptive Statistik und Auswertungsmethode|262  Ergebnisse|267  Telizität und regionale Nähe|267  Transitivität und Variantenverarbeitung|274  Diskussion|276  Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und syntaktische Repräsentation|277  Eye-Tracking-Methodik|285  Ausblick|288 

7 7.1  7.2  7.3  7.4  7.5  7.6  7.7 

Regionale Auxiliarvariation: Rückblick und Ausblick|290 Theorie, Methode und Methodologie|291  Syntaktische Variation|292  Medialer Transfer und vertikales Varietätenspektrum|293  Handlung, Praktik, Ressource|295  Die angefangen-Konstruktion im sprachlichen Netzwerk|297  From Corpus-to-Cognition?|302  Stabilität der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion|303 

Literaturverzeichnis | 305 Anhang | 341 Index | 379

Abbildungsverzeichnis Abb. 1: Abb. 2: Abb. 3: Abb. 4: Abb. 5: Abb. 6: Abb. 7: Abb. 8: Abb. 9: Abb. 10: Abb. 11: Abb. 12: Abb. 13: Abb. 14: Abb. 15: Abb. 16: Abb. 17: Abb. 18: Abb. 19: Abb. 20: Abb. 21: Abb. 22: Abb. 23: Abb. 24: Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36: Abb. 37:

Übersicht Methodentriangulation der Untersuchung |5  Raumbildung der anfangen-Konstruktion mit haben oder sein (AdA) |12  Modell Dialektsyntax-Syntax gesprochener Sprache nach Auer (2004) |16  Entwicklung niederdeutscher Varietäten nach Auer (2005) |18  Aktionsart der Phasenverben anfangen, beginnen und aufhören |22  Grammatikalisierungspfad des Perfekts nach Bybee, Perkins & Pagliuca (1994) |28  Konstruktion als Form-Bedeutungspaar nach Croft (2001) |60  Type-Token-Beziehung in der Kognitiven Grammatik |64  Netzwerkrelation von Konstruktionen mit Partizip II nach Gillmann (2016) |68  Methodische Ansätze zur Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen |71  Konstruktionale Allostructions nach Cappelle (2006) |80  Diakonstruktionen durch Varietätenkontakt in der DCxG (Höder 2014a) |81  Untersuchungstypen diskurssyntaktischer Variation nach dem Type-TokenModell |90  Type-Token-Modell funktionaler und nicht-funktionaler angefangen-Variation |92  Grundkarte Erhebungsorte der gesprochensprachlichen Korpora |110  Verteilung telischer Konstruktionen in der Interaktion |117  Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Alter |118  Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Geschlecht |119  Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Objektart |119  Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Spracherwerb |121  Verteilung angefangen-Varianten im vertikalen Varietätenspektrum (Interaktion) |122  Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf regionale Herkunft |123  Raumverteilung der angefangen-Varianten in interaktionalen Daten |124  Streuung der angefangen-Belege pro SprecherIn in interaktionalen Daten |126  Gesprächsorganisatorische narrative Jobs nach Quasthoff (2001) |129  Intonationskontur [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend) |139  Narrative Jobposition [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend) |139  Intonationskontur [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend) |143  Narrative Jobposition [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend) |143  Intonationskontur [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug) |146  Narrative Jobposition [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug) |147  Intonationskontur [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug) |149  Narrative Jobposition [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug) |150  Verteilung der angefangen-Gebrauchsformate in interaktionalen Daten |157  Verteilung der angefangen-Gebrauchsformate nach Spracherwerbstypen |162  Verteilung der angefangen-Gebrauchsformate nach Alter (Bilingual, Fremdsprache) |162  Reg. (4–2): Soziolinguistische Prädiktoren der funktionalen angefangenVariation |164 

https://doi.org/10.1515/9783110708875-204

XII | Abbildungsverzeichnis Abb. 38: Präteritumschwund in Abhängigkeit von Flexionsklassen |174  Abb. 39: Modellierung angefangen-Variation im vertikalen Varietätenspektrum |178  Abb. 40: CxG-Modellierung telischer Konstruktionen im vertikalen Varietätenspektrum |181  Abb. 41: CxG-Modellierung haben-angefangen-Perfekt |183  Abb. 42: CxG-Modellierung sein-angefangen-Perfekt |183  Abb. 43: CxG-Modellierung kontaktbedingter Transfer von [_SEIN(AUX)_an(ge)fangen(PP)_] (L1) |184  Abb. 44: CxG-Modellierung [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (monolingual) |185  Abb. 45: CxG-Modellierung nicht-funktionaler angefangen-Variation (ältere Bilinguale) |186  Abb. 46: CxG-Modellierung funktionaler angefangen-Variation (jüngere Bilinguale) |187  Abb. 47: Tokenfrequenzen telische Partizipien (Gesamtkorpus Neue Westfälische) |197  Abb. 48: Verteilung Auxiliarvarianten telischer Konstruktionen im Schriftkorpus |199  Abb. 49: Verteilung Auxiliarvarianten in Perfekt und Plusquamperfekt im Schriftkorpus |200  Abb. 50: Verteilung Auxiliarvarianten in Resultativ und Zustandspassiv im Schriftkorpus |200  Abb. 51: Verteilung Auxiliarvariation mit angefangen nach Objektart |216  Abb. 52: Verteilung Zeitreferenzen der angefangen-Konstruktionen |216  Abb. 53: Verteilung Auxiliarvariation mit gestartet nach Objektart |221  Abb. 54: Verteilung angefangen-Auxiliarvariation in Zustandspassiv und Resultativ |224  Abb. 55: Zeitreihe angefangen-Auxiliarvariation in Zustandspassiv und Resultativ |225  Abb. 56: Verteilung geendet-Auxiliarvariation in Resultativkonstruktionen |227  Abb. 57: Modellierung medialer Transfer der angefangen-Konstruktion in den Schriftstandard |233  Abb. 58: CxG-Modellierung angefangen-Variation im Perfekt Aktiv (Schrift) |234  Abb. 59: CxG-Modellierung angefangen-Variation im Tempus-Aspekt-DiatheseInterface |235  Abb. 60: CxG-Modellierung gestartet-Variation im Perfekt Aktiv (Schrift) |237  Abb. 61: CxG-Modellierung geendet-Variation im Tempus-Diathese-Interface (Schrift) |238  Abb. 62: Sprachgebrauch angefangen-Varianten in Borken und Olpe |254  Abb. 63: Konzeption Testsätze im Eye-Tracking-Experiment |257  Abb. 64: Boxplot Fixationszeiten (log.dwell) ohne und mit minimal trimming |264  Abb. 65: Histogramm log.dwell-Fixationszeiten (mit minimal trimming) |264  Abb. 66: Lesezeiten [_seinAUX)_angefangen(PP)_] nach regionaler Gruppe |269  Abb. 67: Durchschnittliche Lesezeiten [_sein(AUX)_begonnen(PP)_]-Variante nach Region |273  Abb. 68: CxG-Modellierung Sprachgebrauch telischer Konstruktionen (Borken) |278  Abb. 69: CxG-Modellierung Sprachverarbeitung telischer Konstruktion (Borken) |278  Abb. 70: CxG-Modellierung Sprachgebrauch telischer Konstruktionen (Olpe) |282  Abb. 71: CxG-Modellierung Sprachverarbeitung telischer Konstruktionen (Olpe) |282  Abb. 72: CxG-Modellierung Sprachgebrauch telischer Konstruktionen (Rheinfränkisch) |284  Abb. 73: CxG-Modellierung Sprachverarbeitung telischer Konstruktionen (Rheinfränkisch) |284 

Tabellenverzeichnis Tab. 1: Tab. 2: Tab. 3: Tab. 4: Tab. 5: Tab. 6: Tab. 7: Tab. 8: Tab. 9: Tab. 10: Tab. 11: Tab. 12: Tab. 13: Tab. 14: Tab. 15: Tab. 16: Tab. 17: Tab. 18: Tab. 19: Tab. 20: Tab. 21: Tab. 22: Tab. 23: Tab. 24: Tab. 25: Tab. 26: Tab. 27: Tab. 28: Tab. 29: Tab. 30: Tab. 31: Tab. 32: Tab. 33:

Verbeinteilung in vier Aktionsarttypen nach Vendler (1957) |21  Typologisches SIH-Modell der Auxiliarselektion |25  Diachrone Entwicklung des sein-Perfekts nach Gillmann (2011) |32  Entwicklung Auxiliarselektion mit beginnen im (Mittel-)Niederländischen |36  Prototypische Transitivitäts- und Mutativitätsparameter der Auxiliarselektion |41  Komplexitätsebenen von Konstruktionen nach Goldberg (2013) |66  Erhebungsdesigns und Umfang spontansprachlicher Korpora |106  Quantitative Varietätenklassifikation syntaktischer Belegstellen (Korpusaufbereitung) |114  Integriert qualitative und quantitative Varietätenklassifizierung (Korpusaufbereitung) |115  Variablenkodierung Korpora gesprochener Sprache |116  Rekonstruierte Funktionen formaler angefangen-Varianten in der Interaktion |137  Kontext elaborierender angefangen-Formate (1) und (2) (Interaktion) |144  Kontext origobezogener angefangen-Formate (3) und (4) (Interaktion) |151  Erweiterung der Variablenkodierung um gesprächsbezogene Prädiktoren |158  Reg. (4–1): Einflussfaktoren auf die angefangen-Variation in der Interaktion |160  Type- und Token-Frequenzen von Perfekt und Präteritum (WEMS-Korpus) |166  Reg. (4–3): Einflussfaktoren auf den Perfektgebrauch in der Interaktion |168  Abbauhierarchie der Flexionsklassen im Zuge des Präteritumschwunds (Fischer 2018) |169  Frequenzen von Präteritum und Perfekt (WEMS, Sprecher mit angefangenVariation) |170  Reg. (4–4): Zusammenhang Präteritumschwund und angefangen-Variation |172  Variablenkodierung Zeitungskorpus ‚Neue Westfälische‘ |212  Übersicht Datensets Analyse Schriftgebrauch |213  Reg. (5–1): Auxiliarvariation Perfekt/Plusquamperfekt von angefangen in der Schrift |215  Reg. (5–2): Zeitreihenanalyse Auxiliarvariation angefangen im Schriftkorpus |218  Reg. (5–3): Auxiliarvariation Perfekt/Plusquamperfekt von gestartet in der Schrift |220  Reg. (5–4): Auxiliarvariation Resultativ/Zustandspassiv von angefangen in der Schrift |223  Reg. (5–5): Auxiliarvariation Resultativkonstruktionen von geendet in der Schrift |226  Reg. (5–6): Grad prototypischer Transitivität telischer Partizipien im Schriftkorpus |228  Reg. (5–7): Grammatikalisierung telischer Perfektkonstruktionen im Schriftkorpus |231  Zusammenhang Auxiliarvariation, Transitivität und Grammatikalisierung |239  Sample Eye-Tracking-Studie |253  Unterscheidungskriterien Experimental- und Vergleichsgruppe in Eye-TrackingStudie |255  Areas of Interest (AOIs) |258 

https://doi.org/10.1515/9783110708875-205

XIV | Tabellenverzeichnis Eye-Tracking-Testsätze nach Faktor Transitivität |259  Eye-Tracking-Testsätze nach SIH-Modell |260  Variablenkodierung Eye-Tracking-Studie |265  Übersicht Datensets Eye-Tracking-Studie |266  Reg. (6–1): Regionaler Effekt in Sprachverarbeitung der angefangenVarianten |268  Tab. 39: Reg. (6–2): Regionaler Effekt in Sprachverarbeitung der begonnen/aufgehörtVariante |272  Tab. 40: Reg. (6–3): Einfluss Transitivität auf Sprachverarbeitung der angefangenVarianten |275  Tab. 34: Tab. 35: Tab. 36: Tab. 37: Tab. 38:

1 Einleitung Die Untersuchung der Perfektbildung im Deutschen mit den Auxiliaren haben und sein ist ein viel bearbeitetes Forschungsgebiet der germanistischen Sprachwissenschaft. Es existiert eine schier unüberschaubare Anzahl an Untersuchungen, die sich mit grammatiktheoretischen, formalen sowie semantischen Fragen der Bedingungen und kognitiven Organisation von Auxiliarselektion beschäftigen. Die Anfänge der Auxiliarselektionsforschung finden sich in theoretischen Arbeiten generativer Prägung zur Selektion und Derivation der Auxiliare aus der kognitiven Tiefenstruktur. Diese theoretisch motivierten Selektionsprozesse begründeten auch den Namen des Forschungsfeldes als Auxiliarselektionsforschung. Erst seit der Jahrtausendwende entwickeln sich in diesem Bereich auch Forschungen und Modelle mit semantischem, kognitivem, typologischem oder gebrauchsbasiertem Ansatz. Dabei ist ein deutliches Übergewicht an diachronen Studien zu verzeichnen. Synchrone Auxiliarselektionsphänomene werden vornehmlich durch indirekte, elizitierende Methoden und nur in seltenen Fällen durch sprachgebrauchsbasierte Studien operationalisiert. Vor allem die Vernachlässigung spontansprachlicher Daten innerhalb der Auxiliarselektionsforschung aufgrund statistisch unzureichender Frequenzen wird teuer erkauft – über kommunikative Relevanzen dieser Konstruktionen in ihrer funktionalen, gesprächsbezogenen Einbettung und ihrem Variationsverhältnis zu anderen Konstruktionen ist bisher wenig bekannt. Auch ein medialitätsdifferenzierender Blick wurde bislang nicht unternommen. Obgleich die Auxiliarselektionsforschung eine lange Tradition aufweist, sind auch Studien zu Phänomenen arealer und funktional bedingter Auxiliarvariation ein nach wie vor aktuelles Desiderat. Die Verzerrung zugunsten standardsprachlicher Erscheinungen versperrt den Blick auf regionalspezifische Phänomene wie beispielsweise die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion. In der Alltagsinteraktion autochthoner SprecherInnen des westfälischen und emsländischen Sprachraums sind standardabweichende Konstruktionen des sein-Perfekts mit telischen Verben wie angefangen konventionalisiert und augenscheinlich wenig salient, wie die folgende Interviewsituation aus Eichinger (2010: 446) verdeutlicht (Bsp. (1)): (1)

Int. G Int. G

Also, was mir als eigentümlich vorkommt, ist, wenn ich höre: „ich bin angefangen heute morgen“. Ja, das hört sich auch scheiße an. Würdest du das nicht sagen? Nein, ich würde sagen: „ich bin heute morgen angefangen“.

https://doi.org/10.1515/9783110708875-001

2 | Einleitung

Obgleich die einschlägige Niederdeutschforschung diese Konstruktion als „typisch” (vgl. Elspaß 2016: 363) für den westfälischen Sprachraum und seine SprecherInnen1 bezeichnet, wurde sie bisher keiner systematischen empirischen Analyse unterzogen. Es existieren keine Studien zur diachronen oder synchronen Entwicklung, dem funktionalen Spektrum, dem Variationsverhältnis, der Medialitätsbindung oder der kognitiven Verarbeitung des Phänomens. Allein diachrone Untersuchungen zum mittelniederländischen Auxiliarwechsel von nl. hebben (dt. ‚haben‘) nach nl. zijn (dt. ‚sein‘) (z.B. nl. ik ben begonnen ‚ich bin begonnen/angefangen‘) können erste Hinweise auf das zentrale systemische Spannungsfeld zwischen Transitivität und Telizität bei inchoativen und egressiven Verben liefern (vgl. Kern 1912; Rooij 1981). Dieses Spannungsfeld wird sich im Rahmen der Untersuchung als ein entscheidender Faktor für die synchrone Auxiliarvariation im historisch verwandten niederdeutsch-westfälischen Gebiet herausstellen.

1.1 Gegenstand der Untersuchung Forschungsgegenstand dieser Arbeit ist zusammengefasst die areale, synchrone und funktionale Auxiliarvariation von Konstruktionen mit telischen Partizipien wie angefangen, begonnen und aufgehört im Repertoire autochthoner westfälischer und emsländischer SprecherInnen, SchreiberInnen und LeserInnen. Im Zentrum des Interesses steht die Frage der grammatiktheoretischen, gebrauchsbasierten Rekonstruktion medialitäts- und sprachverarbeitungsbedingter Variation der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion und die daraus resultierende Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen im Rahmen der Konstruktionsgrammatik. Methodisch verschreibt sich die Arbeit einem mixed-methodsAnsatz zur Untersuchung der angefangen-Konstruktion im regionalen spontansprachlichen und schriftlich-publizistischen Sprachgebrauch als auch in der experimentellen Sprachverarbeitung. Die Untersuchung ist somit im interdisziplinären Spannungsfeld zwischen (syntaktischer) Variations- und Varietätenlinguistik (vgl. Labov 1978b; Lavandera 1978), Gesprächsforschung (vgl. Bergmann

|| 1 Die vorliegende Arbeit berücksichtigt die Konventionen einer gendergerechten Formulierung. Im Folgenden wird daher bei genderneutralen Begriffen (z.B. Schreiber, Sprecher) auf die Binnen-I-Schreibung zurückgegriffen. Nur unter drei Voraussetzungen wird von dieser gendergerechten Formulierung abgesehen: (1) Bei adjektivischen und substantivischen Komposita (z.B. sprecherzentriert, Sprecherperspektive), (2) bei feststehenden wissenschaftlichen Termini (z.B. Sprecherwechsel, Sprecher-Hörer, primärer Sprecher) oder (3) in Zitationen.

Gegenstand der Untersuchung | 3

& Luckmann 1995; Deppermann 2008) und Psycholinguistik (vgl. Bard, FrenckMestre & Sorace 2010) angesiedelt. Die Fragestellung verfolgt gleich in mehrfacher Hinsicht entscheidende Desiderate der traditionellen Auxiliarselektionsforschung. Zunächst erweitert die Untersuchung den Forschungsstand durch einen arealen, niederdeutschen Fokus. Das vorrangige Untersuchungsinteresse der einschlägigen Auxiliarselektionsforschung liegt bisher auf typologischen Fragestellungen gesplitteter Intransitivsysteme und damit auf Selektionsfaktoren von Perfektauxiliaren innerhalb nationaler Standardsprachen (vgl. Perlmutter 1989; Lieber & Baayen 1997; Sorace 2000; Gillmann 2016). Nur wenige Arbeiten in diesem Forschungsfeld – vor allem im deutschsprachigen Raum – adressieren Besonderheiten arealer Variation (vgl. Paul 1918: 172–179; Eichhoff 1978: 35/125; Haider & RindlerSchjerve 1987: 1054; Grewendorf 1989: 10; Grønvik 1986: 43–44; Kaufmann 1995: 407–411; Diedrichsen 2002: 43–44; Keller & Sorace 2003: 75–87). Die bestehenden Untersuchungen konzentrieren sich bislang ausschließlich auf Phänomene im oberdeutschen Sprachraum wie die süddeutsche sein-Tendenz bei Positionsverben wie sitzen, liegen oder stehen (z.B. ich bin gestanden vs. ich habe gestanden). Niederdeutsche Formen der Auxiliarvariation, wie die in Bsp. (1) vorgestellte [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion, sind bisher noch nicht in den Forschungsfokus gerückt worden. Auch areale empirische Arbeiten mit Fokus auf kleineren regionalen Sprechgemeinschaften, die dem Standardbias in der bisherigen Auxiliarselektionsforschung entgegenwirken, sind selten. Ferner erweitert die Untersuchung das Gebiet der Auxiliarselektionsforschung auf grammatiktheoretischer und methodologischer Ebene. Grammatiktheoretische Grundlage zur Erklärung westfälischer Auxiliarvariation mit telischen Partizipien bildet eine konsequente gebrauchsbasiert-konstruktionsgrammatische Methodologie (vgl. Goldberg 1995, 2006; Croft 2001, 2012; Bybee 2010; vgl. im Rahmen der Auxiliarselektionsforschung dazu auch Hinze & Köpcke 2007 sowie Gillmann 2016). Vor diesem Hintergrund wird auch der im Rahmen der generativen Grammatik geprägte Begriff der Auxiliarselektion durch den Terminus der Auxiliarkonstruktion ersetzt. Die Untersuchung basiert auf der theoretischen Annahme, dass regionalsyntaktische Phänomene wie das seinPerfekt mit angefangen als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare in einem taxonomisch organisierten kognitiven Netzwerk gespeichert sind. Innerhalb dieses Netzwerks wird die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion im wechselseitigen Zusammenspiel mit anderen telischen Perfektkonstruktionen und weiteren sprachlichen Kategorien des Tempus-Aspekt- beziehungsweise des Tempus-Diathese-Interface beleuchtet. In Abgrenzung zur einschlägigen Auxiliarselektionsforschung geht die Untersuchung davon aus, dass Auxiliarvariation

4 | Einleitung

nicht nur ein Phänomen des Perfekttempus ist, sondern auch eine Rolle bei ähnlichen historisch verwandten Konstruktionen wie dem Resultativum und dem Zustandspassiv spielt. Der konstruktionsgrammatische Zugang bildet ferner die Grundlage für die Untersuchung des theoretisch-methodischen Zusammenhangs zwischen Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und kognitiver Repräsentation. Die Methodiken gebrauchsbasierter Ansätze, die zur theoretischen Rekonstruktion syntaktischer Konstruktionen im Sprachwissen herangezogen werden, reichen von rein korpusbasierten, über gemischt-methodische Ansätze bis hin zu rein sprachverarbeitungsbezogenen Studien (vgl. Gilquin & Gries 2009). Rein korpusbasierte Ansätze – qualitativer wie auch quantitativer Art – gehen im Rekonstruktionsprozess kognitiver Konstruktionen von einer „flache[n] Ontologie“ (Krämer 2001: 269) zwischen aktualisiertem Konstrukt und systemgebundener Abstraktion aus. Diese theoretische Annahme macht es möglich, Konstruktionen als sich wiederholende Muster aus dem Sprachgebrauch korpusbasiert zu operationalisieren (vgl. das From-Corpus-to-Cognition-Prinzip nach Schmid 2000: 38–40). Psycholinguistische Ansätze hingegen fokussieren stärker das kognitive Postulat gebrauchsbasierter Ansätze und definieren syntaktische Repräsentationen als Ergebnis des entrenchments, das durch allgemeine kognitive Prozesse wie Wiederholung, Frequenz und Kategorisierung geprägt ist. Sprachverarbeitungsbasierte Methodiken können somit Aussagen über unterschiedliche Grade der kognitiven Verankerungen von (syntaktischen) Konstruktionen treffen. Kombinierte korpus- und sprachverarbeitungsbasierte Ansätze zeigen, dass sich grammatiktheoretische Rekonstruktionen von sprachlichen Phänomenen in Abhängigkeit von der zugrundeliegenden Methode unterscheiden können (vgl. Gilquin 2008; Blumenthal-Dramé 2012). Sie plädieren für eine methodische Triangulation, um einen multiperspektivischen Zugang zu (syntaktischen) Repräsentationen zu schaffen (vgl. Blumenthal-Dramé 2012: 205–211). In Anlehnung an diesen kombinierten Ansatz verfolgt die vorliegende Untersuchung einen mixed-methods-Ansatz (vgl. Creswell & Creswell 2014: 215–240) aus qualitativen und quantitativen Analysen von spontansprachlichen und schriftlichen Sprachgebrauchsdaten in Kombination mit einem Sprachverarbeitungsexperiment. Die Arbeit nimmt damit eine methodische Erweiterung der Ansätze innerhalb der einschlägigen Auxiliarselektionsforschung vor, die sich bisher vornehmlich auf elizitierende oder auschließlich schriftliche Sprachgebrauchsdaten beschränkt. Abb. 1 fasst die Methoden der Untersuchung im Überblick zusammen.

Gegenstand der Untersuchung | 5

Mündlicher Sprachgebrauch

Authentische Spontansprache

Schriftlicher Sprachgebrauch

Regionales Zeitungskorpus

Verarbeitung schriftlicher Daten

Lesestudie Eye Tracking

Sprachgebrauch (korpusbasiert) Methoden Kognitive Verarbeitung

Abb. 1: Übersicht Methodentriangulation der Untersuchung

Der Sprachgebrauch der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion wird relativ zur haben-Variante zunächst in spontansprachlichen Daten in den Interaktionssituationen Interview und Alltagsgespräch bei autochthonen westfälischen und emsländischen SprecherInnen untersucht. Im Sinne einer medialitätsdifferenzierenden Perspektive wird anschließend der schriftliche Sprachgebrauch der Konstruktionen im Medium öffentlicher Publizistik in Form eines regionalen Zeitungskorpus analysiert. Ergänzt werden diese Sprachgebrauchsanalysen durch eine Eye-Tracking-Lesestudie als chronometrische on-line-Methode zur Erforschung des kognitiven entrenchments der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion bei bilingualen Niederdeutsch- und DialektsprecherInnen. Aus theoretischer Sicht soll damit der Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und kognitiver Repräsentation der westfälischen Konstruktion kritisch beleuchtet werden. Die Methodentriangulation adressiert sowohl den funktionalen als auch den kognitiven Aphorismus des gebrauchsbasierten Ansatzes und verfolgt ein kombiniert induktives als auch deduktives Erkenntnisinteresse. Ziel des mixedmethods-Ansatzes ist es, unterschiedliche qualitative und quantitative Perspektiven auf die regionale [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion zu eröffnen und gleichzeitig eine gegenstandsangemessene Herangehensweise durch die Bezugnahme auf die „Konstitutionseigenschaften der Daten“ (vgl. Deppermann 2008: 2) zu garantieren: Jedes Datum hat vielmehr seine eigene Art von ‚Natürlichkeit‘, in Bezug auf die es adäquat untersucht werden kann. Statt generell ‚natürliche Daten‘ zu fordern, ist es deshalb zutreffender, wenn man verlangt, daß das Datenmaterial und die Art seiner Erhebung und Auswertung geeignet sein müssen, die Forschungsfragen in bestmöglicher Weise zu beantworten. (Deppermann 2008: 25)

6 | Einleitung

Gegenstandsangemessenheit bezieht sich zum einen auf die Aussagekraft einzelner Methoden über Formen und Funktionen der angefangen-Konstruktionen. Zum anderen eröffnet der Terminus die Frage nach der Art, wie syntaktische Konstruktionen methodologisch angemessen untersucht werden sollten. Für die Korpusanalysen bedeutet dies im strengen Sinne, die Medialität der Konstruktionen in die Analyse einzubeziehen. Medialität wird als performative und gleichsam ontologische Wesenseigenschaft von Medien verstanden, die einen Einfluss auf die Bedeutung und Funktion von Konstruktionen hat. Der zeichenbasierte Ansatz richtet sich damit gegen die bisher stark formzentrierte Auxiliarselektionsforschung, indem Funktions- und Bedeutungskonstitution von regionalsyntaktischen Konstruktionen stärker in den Blick genommen werden. Dieser funktionale Ansatz zur Untersuchung regionalsyntaktischer Konstruktionen hat in der bisherigen einschlägigen Auxiliarselektionsforschung noch keine Anwendung gefunden und orientiert sich methodologisch an dem in der Konversationsanalyse gängigen Konzept der kommunikativen Gattung (vgl. Bergmann & Luckmann 1995; Günthner & Knoblauch 1996) und dem Praktikenansatz (vgl. Deppermann, Feilke & Linke 2016; Selting 2016; Feilke 2016). In der spontansprachlichen Interaktion werden Funktionen von Auxiliarkonstruktionen daher in erster Linie handlungs- und sprecherzentriert in der Zeitlichkeit des emergenten Interaktionsprozesses rekonstruiert. Die angefangen-Auxiliarkonstruktionen werden als interaktionale Praktiken und (temporale) Ressourcen zur Durchführung globaler Handlungen in rekonstruktiven Gattungen verstanden. Die methodologische Fassung einer Konstruktion als Praktik in der Interaktion kann auch in der Schrift zur gegenstandsangemessenen Rekonstruktion der Konstruktionsfunktion als literale Praktik genutzt werden. Der vorliegende Ansatz geht demnach davon aus, dass sprachliche Handlungen, die SprecherInnen und SchreiberInnen mithilfe der Auxiliarkonstruktionen herstellen, die Bedeutung der Konstruktionen und das Variationsverständnis derselben prägen. Zusätzlich zum Terminus der Auxiliarkonstruktion wird auch der Begriff der Auxiliarvariation in die bestehende Forschungsrichtung eingeführt und theoretisch mithilfe der variations- und sprachkontaktbezogenen Konstruktionsgrammatik motiviert (vgl. Leino & Östman 2005; Höder 2012; Östman & Trousdale 2013; Boas 2018; Weber 2018). Die Idee der syntaktischen Variation zwischen den Auxiliarvarianten mit haben und sein wird in der einschlägigen Auxiliarselektionsforschung sowohl in der Theorie als auch in der methodischen Operationalisierung nicht explizit thematisiert. Allein der Gradienzbegriff bei Sorace (2011: 70) bildet einen ersten Ansatzpunkt, der sich allerdings dezidiert vom Variationsbegriff abgrenzt. Die areale Perspektive auf Auxiliarkon-

Aufbau der Untersuchung | 7

struktionen bedingt jedoch, dass unterschiedliche Formen der Variation zwangsläufig in den Fokus der Analyse und der anschließenden theoretischen Modellierung rücken. Durch die Verzerrung zugunsten standardorientierter Untersuchungen der Auxiliarselektion wurde diesem Faktor bisher keine theoretische oder methodische Relevanz beigemessen. Ferner zwingt der Begriff der Auxiliarvariation zu einer stärkeren Definition von (regional-)syntaktischer Variation im Allgemeinen. In Abgrenzung zum gängigen phonologischen Variationskonzept nach Labov (1966c) haben nur wenige Ansätze ein funktionales syntaktisches Variationskonzept entwickelt (vgl. Lavandera 1978; Dines 1980; Cheshire 1987; Scheutz 2005; Levey 2006; Pichler 2013). Die korpuslinguistischen Untersuchungen der vorliegenden Arbeit basieren daher auf dem theoretischen syntaktischen Konzept funktionaler Äquivalenz (vgl. Lavandera 1978) und dem kombiniert konversationsanalytischen und soziolinguistischen Ansatz syntaktischer Variationsforschung (vgl. Levey 2006; Scheutz 2005; Pichler 2013). Davon abgrenzend wird der syntaktische Variationsbegriff in der Sprachverarbeitung im Sinne variierender Verarbeitungszeiten als Hinweis auf unterschiedliches kognitives entrenchment von Auxiliarkonstruktionen operationalisiert (vgl. Blumenthal-Dramé 2012; Schmidt 2016). Zusammengefasst möchte die vorliegende Untersuchung nicht nur den Blick auf ein neues linguistisches Phänomen in der arealen Auxiliarselektionsforschung werfen, sondern auch ein neues gebrauchsbasiert theoretisches wie methodisches Verständnis von (regional-)syntaktischer Auxiliarvariation prägen. Die Methodentriangulation bietet dabei einen wichtigen Einblick in den Zusammenhang von Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und theoretischer Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen innerhalb der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik.

1.2 Aufbau der Untersuchung Die Untersuchung beginnt in Kap. 2 mit einem Forschungsüberblick zum Untersuchungsphänomen und zu einschlägigen Forschungen innerhalb der (arealen) Auxiliarselektionsforschung. Abschnitt 2.1. rezipiert zunächst den Forschungsstand zur westfälischen [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion. Als diatopische Variante wird in diesem Abschnitt auch der westfälische und emsländische Sprachraum und die bestimmenden phonologischen Varietätenspektren vorgestellt. Regionalsyntax wird hier nach dem Modell von Auer (2004) als Subtyp der Syntax gesprochener Sprache mit arealer und medialer Determination verstanden. Abschnitt 2.2. verdeutlicht die Rolle der telischen Aktionsart für die

8 | Einleitung

synchrone und diachrone Auxiliarselektion. Dazu wird das Konzept der Telizität (2.2.1) und seine Rolle für das sein-Perfekt in synchronen Auxiliarselektionsmodellen (2.2.2) vorgestellt. Aufbauend auf den allgemeinen sprachhistorischen Voraussetzungen der Grammatikalisierung des haben- und sein-Perfekts führt Abschnitt 2.2.3 mit Blick auf die historische Verwandtschaft zwischen westniederdeutschem und niederländischem Sprachraum in den sprachhistorischen Auxiliarwechsel mutativer Verben von nl. hebben (dt. ‚haben‘) nach nl. zijn (dt. ‚sein‘) ein. Abschnitt 2.2.4 fasst die in der einschlägigen Forschung gewonnenen Einflussfaktoren auf die Auxiliarselektion wie Transitivität (2.2.4.1), Resultativität und Diathese (2.2.4.2) sowie Tempus und Aspekt (2.2.4.3) und ihr Verständnis in der vorliegenden Arbeit zusammen. Abschnitt 2.3 stellt die einschlägigen Methoden im Bereich der Auxiliarselektionsforschung vor. Abschnitt 2.4 bietet eine Zusammenfassung und einen Überblick über die Forschungsdesiderate. Kap. 3 führt in den theoretischen und methodologischen Rahmen der Untersuchung ein, indem es zentrale Grundlagen der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik (3.1) und das Verständnis von syntaktischer Variation (3.2) vorstellt. Dazu werden in Abschnitt 3.1.1 die Grundlagen des grammatiktheoretischen Verständnisses von Auxiliarkonstruktionen als sprachlichen Form-Bedeutungspaaren herausgearbeitet. Abschnitt 3.1.2 skizziert die unterschiedlichen Methodiken zur Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen im Rahmen des gebrauchsbasierten Ansatzes. Im Rahmen der Entwicklung eines syntaktischen Variationsbegriffs wird in Abschnitt 3.2.1 zunächst die Rolle von Variation innerhalb der konstruktionsgrammatischen Theorie skizziert. Darauf aufbauend stellt Abschnitt 3.2.2 die gegenstandsangemessenen Variationsbegriffe, die dieser Arbeit zugrundeliegen, vor. Abschnitt 3.2.2.1 entwickelt den gebrauchsbasierten Variationsbegriff der funktionalen Äquivalenz nach dem Vorbild der diskurspragmatischen soziolinguistischen Variationsforschung und überträgt ihn auf die vorliegende Fragestellung. Abschnitt 3.2.2.2 stellt die Definition und Operationalisierung des Variationsbegriffs in sprachverarbeitungsbasierten Untersuchungsansätzen vor. Abschnitt 3.3 fasst die theoretischen Überlegungen zusammen. Im Rahmen des mixed-methods-Ansatzes werden in Kap. 4 zunächst die Analysen der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als Praktik in spontansprachlicher Interaktion autochthoner SprecherInnen des westfälischen und emsländischen Sprachraums präsentiert. Abschnitt 4.1 führt in die Methodik des Kapitels ein. Hier werden die den Daten zugrundeliegenden Interaktionssituationen Interview und Alltagsgespräch (4.1.1), die Erhebungsdesigns der einzelnen Korpora und die Aufbereitung der Daten (4.1.2) sowie die deskriptive Statistik der angefangen-Konstruktionen (4.1.3) dokumentiert. Anschließend

Aufbau der Untersuchung | 9

stellt Abschnitt 4.1.4 die gegenstandsangemessenen Auswertungsmethoden der rekonstruktiven Gesprächsanalyse (4.1.4.1) und multivariater Regressionsmodelle (4.1.4.2) vor. Abschnitt 4.2.1 präsentiert die Analysen der angefangenKonstruktionen in der Interaktion als temporale Praktiken zur Anzeige narrativrekonstruktiver Handlungen. Dabei wird in Abschnitt 4.2.1.1 zunächst die FormFunktionsbeziehung zwischen den angefangen-Varianten und sprachlichen Handlungen in der Interaktion erarbeitet. Darauf aufbauend werden in Abschnitt 4.2.1.2 unterschiedliche Variationsformate der angefangen-Varianten individuenbasiert rekonstruiert. Ergänzt und validiert werden die Gesprächsanalysen in quantitativer Hinsicht durch multivariate Regressionsanalysen in Abschnitt 4.2.2. Dabei wird der Gebrauch der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion nicht nur in Abhängigkeit zu interaktionalen, soziolinguistischen und grammatischen Prädiktoren berechnet (4.2.2.1), sondern auch der Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Art der angefangen-Variation und dem Fortschritt des Präteritumschwunds nach Smith (2007) nachgegangen (4.2.2.2). In Abschnitt 4.3 folgt eine Diskussion der Ergebnisse im Hinblick auf die theoretischen Implikationen der Verbindung von Gesprächsanalyse und syntaktischer Variation (4.3.1), die Varietätenbindung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion (4.3.2), die Rolle von Telizität und der Produktivität des sein-Perfekts (4.3.3) und die Refunktionalisierung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion im Zuge des apparent-time-Vergleichs (4.3.4). Modelliert werden die Ergebnisse auf Basis der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatiktheorie. Abschnitt 4.4 bietet eine Zusammenfassung und einen Ausblick. Bezugnehmend auf das Modell von Auer (2004) verfolgt Kap. 5 die Frage, ob ein medialer Transfer der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion vom mündlichen Primärbereich in den Sekundärbereich öffentlicher Schriftlichkeit stattgefunden hat. Es steht demnach die Medialitätsspezifik der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion und ihre Variation mit der [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion im Fokus. Darüber hinaus wird in diesem Kapitel die netzwerkbasierte Reichweite der Auxiliarvariation von Tempuskonstruktionen (Perfekt) hin zu Resultativ- und Zustandspassivkonstruktionen untersucht. Abschnitt 5.1 stellt die Methodik des Kapitels vor. Abschnitt 5.1.1 führt in den Untersuchungsgegenstand des regionalen Zeitungskorpus als Untersuchungsgrundlage für Transfererscheinungen von Regionalismen in den arealen Schriftstandard ein. Abschnitt 5.1.2 präsentiert das der Analyse zugrundeliegende ostwestfälische Regionalzeitungskorpus der Neuen Westfälischen, seine Aufbereitung und die deskriptive Statistik. Abschnitt 5.1.3 führt in die Auswertungsmethoden der praktikenorientierten Textanalyse und der statistischen glmer-Regressionsanalysen ein. Im Rahmen der Datenanalyse in Abschnitt 5.2 wird die

10 | Einleitung

[_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als literale Praktik in der Gattung Zeitungsbericht im Vergleich zur haben-Variante und weiteren telischen Konstruktionen untersucht (5.2.1). Abschnitt 5.2.2 vertieft und validiert die qualitativen Untersuchungen durch statistische Analysen. Hier stehen vor allem die Untersuchung der angefangen-Konstruktionen im Perfekt- und Plusquamperfekt (5.2.2.1), als Resultativ und Zustandspassiv (5.2.2.2) und im Zusammenhang mit dem Transitivitäts- und Grammatikalisierungsgrad der telischen Partizipien (5.2.2.3) im Fokus. Abschnitt 5.3 diskutiert die Ergebnisse mit Blick auf Fragen des medialen Transfers und des Tempus-Aspekt-Diathese-Interface (5.3.1), der Rolle der Telizität (5.3.2) und dem makroperspektivischen Zusammenhang zwischen Auxiliarvariation, Transitivität und Grammatikalisierung (5.3.3). Abschnitt 5.4 fasst die Ergebnisse zusammen und gibt einen Ausblick. Aufbauend auf den medialitätsdifferenzierenden Sprachgebrauchsanalysen in Kap. 4 und Kap. 5 bietet das Eye-Tracking-Experiment in Kap. 6 einen kognitionslinguistischen Zugang zur Frage der Verarbeitung und dem entrenchment der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion. Entscheidend an der Konzeption des Experiments ist, dass es im Rahmen des From-Corpus-to-Cognition-Prinzips nach einer Analogie zwischen der Rekonstruktion kognitiver Repräsentationen der angefangen-Konstruktion aus dem Sprachgebrauch und der Sprachverarbeitung fragt. In Abschnitt 6.1 werden dazu die methodischen Voraussetzungen des Experiments im Hinblick auf die Eye-Tracking-Methode (6.1.1), die Hypothesen (6.1.2), das Sample (6.1.3), die sprachgebrauchsbasierten Testsätze (6.1.4), die Durchführung (6.1.5) sowie die deskriptive Statistik und Auswertungsmethoden (6.1.6) vorgestellt. Abschnitt 6.2 präsentiert die Ergebnisse der Lesestudie mit besonderem Fokus auf die Rolle von Telizität, Sprachgebrauch und regionaler Nähe (6.2.1), als auch dem Einfluss von Transitivität (6.2.2) auf die Lesezeiten der telischen Varianten. Abschnitt 6.3 diskutiert vergleichend die Ergebnisse aus Sprachgebrauchs- und Sprachverarbeitungsanalysen mit Blick auf die Produktivität des sein-Types, die Rolle von Telizität und regionaler Nähe (6.3.1). Auch die Eignung der Eye-Tracking-Methodik im Vergleich zu anderen Verfahren der Neurodialektologie wird im Rahmen der Diskussion adressiert (6.3.2). Abschnitt 6.4 gibt einen Ausblick. Kap. 7 schließt die Arbeit mit einer Zusammenfassung und Reflexion zu arealer Auxiliarvariation in Sprachgebrauch und Sprachverarbeitung und zu den Auswirkungen unterschiedlicher Methodiken auf die Rekonstruktion kognitiver Repräsentationen.

2 Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung Die Variation der Auxiliare haben und sein in der deutschen Perfektbildung sind typische formale Ausprägungen eines gesplitteten intransitiven Sprachsystems. Die Frage, welche Faktoren die Konstruktion des Perfekttempus mit dem einen oder anderen Auxiliar bedingen, wurde in theoretischer Hinsicht zunächst ausschließlich durch generative Arbeiten unter dem Begriff der Auxiliarselektion untersucht (vgl. Perlmutter 1978, 1989; Hoekstra 1994; Burzio 1986: 20–84; Perlmutter & Postal 1984; van Valin 1990; Levin & Hovav 1995; Lieber & Baayen 1997). Erst seit der Jahrtausendwende entwickeln sich in diesem Bereich auch Forschungen und Modelle mit semantischem (vgl. Sorace 2000; Diedrichsen 2002; Keller & Sorace 2003; Sorace & Keller 2005; Sorace 2011), kognitivem (vgl. Shannon 1990, 1993a, 1993b, 1995) oder gebrauchsbasiertem Ansatz (vgl. Hinze & Köpcke 2007; Gillmann 2016). Nur wenige Arbeiten zur Auxiliarselektion – vor allem im deutschsprachigen Raum – betrachten areale Variation.

2.1 Die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion Die areale Auxiliarselektionsforschung wurde bisher am nachhaltigsten mit Blick auf oberdeutsche Positionsverben wie sitzen, liegen, (an)stehen oder hängen und ihre standardabweichende Konstruktion mit dem Perfektauxiliar sein verfolgt (vgl. Palander 1903: 131; Paul 1918: 172–205; Curme 1974: 289; Eichhoff 1978: 125; Grønvik 1986: 43; Kaufmann 1995: 409–410; Diedrichsen 2002: 43–44; Duden 2006: 472). Daneben stehen Bewegungsverben wie gehen oder laufen im Fokus der arealen Auxiliarselektionsforschung (vgl. Paul 1918: 184; Niebaum 1977: 86; Grewendorf 1989: 10; Gillmann 2016: 264–305; Elspaß 2016: 366). Alle Arbeiten fokussieren in erster Linie Selektionsphänomene im oberdeutschen und weniger im niederdeutschen Sprachraum. Dies gilt sowohl für synchrone wie auch für diachrone Arbeiten. Der enge Fokus auf der oberdeutschen Auxiliarselektion bedingt, dass Phänomene wie die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion bisher nicht systematisch und empirisch analysiert wurden. Innerhalb der einschlägigen Niederdeutschforschung finden sich vereinzelte Anmerkungen, welche die Konstruktion als typisch für den westfälischen Sprachraum beschreiben (Niebaum 1977: 86; Saltveit 1983: 291–292; Elspaß 2016: 363–367). Elspaß (2016: 366) zeigt aus sprachhistorischer Perspektive, dass die Konstruktion bereits in westfälischen Auswandererbriefen des Frühneuhochdeutschen frequent auftritt (vgl. Bsp. (2)):

https://doi.org/10.1515/9783110708875-002

12 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

(2)

Da ist er auf seinen Lande angefangen zu arbeiten [Lengerich, 1839] Da bin ich aufgehört [Schüttorf, 1869] Ich bin noch nicht wieder angefangen zu arbeiten [Laer, 1875] (Elspaß 2016: 366)

Im 19. Jahrhundert sind diese Konstruktionen auf westfälische SchreiberInnen beschränkt (vgl. Elspaß 2016: 366). In Feldpostbriefen aus dem Ersten Weltkrieg sowie in Interviews aus Hamburg und Rostock aus den 1960er Jahren wird die Perfektbildung dieser telischen Verben mit sein jedoch auch von SchreiberInnen aus der Umgebung von Bremen verwendet (vgl. Der achte Monat ist bereits angefangen [Wulsbüttel b. Bremen, 1915]; zitiert aus Elspaß 2016: 366). Interessant ist an dieser Stelle, dass sich die Konstruktion nicht nur auf das telischinchoative Partizip angefangen beschränkt, sondern auch mit dem telischegressiven Partizip aufgehört verwendet wird. Telizität scheint als zentraler Faktor für die Bildung der regionalen sein-Konstruktion zu fungieren und wird daher in den Abschnitten 2.2.1 bis 2.2.3 im Hinblick auf ihre aktionsartbasierte Definition und ihre Rolle in der deutschen Perfektbildung genauer betrachtet.

Abb. 2: Raumbildung der anfangen-Konstruktion mit haben oder sein (AdA)

Die sprachhistorischen deskriptiven Einzelbeobachtung wurden im Rahmen einer Fragebogenerhebung des Atlas zur deutschen Alltagssprache (AdA, Erhebungsrunde 4) auch für den synchronen Gebrauch bestätigt (vgl. Abb. 2). Die

Die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion | 13

Belegstellen für die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion konzentrieren sich vor allem auf den westniederdeutschen, grenznahen Sprachraum zu den Niederlanden (v.a. Westfalen, Emsland), einzelne Belege sind in nördlicheren Niederdeutschgebieten (v.a. Bremen, Schleswig-Holstein), aber auch am Niederrhein, zu finden.2 Aufgrund der wenigen Belege der sein- relativ zur habenVariante im Rahmen der Fragebogenerhebung des AdA konstatiert Elspaß (2016) einen Gebrauchsrückgang der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion, der durch die erhöhte Salienz des syntaktischen Phänomens bedingt sei: Ein Gebrauchsrückgang scheint bei salienten syntaktischen Konstruktionen, wie etwa der Verwendung von anfangen mit der Kopula sein in analytischen Formen der Vergangenheitstempora oder der Auxiliarfunktion von gehen (sitzen gehen), sowie Lexemen wie los (i. S. von ‚offen‘) vorzuliegen. (Elspaß 2016: 377)

Auf Basis der Fragebogenmethode kann die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion aufgrund ihrer Massierung im westniederdeutschen Sprachraum als areal begrenztes Phänomen definiert werden. Problematisch an der indirekten Fragebogenmethodik ist jedoch, dass sie nur wenig über den tatsächlichen Sprachgebrauch aussagen kann und sich damit nur bedingt als Instrument zur Messung eines konstruktionalen Gebrauchsrückgangs eignet (vgl. 2.3). Aus varietätenlinguistischer3 Perspektive kann bis hierhin festgehalten werden, dass es sich bei der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion aufgrund ihrer arealen Begrenztheit im Sprachgebrauch um eine diatopische Variante handelt (vgl. einführend in die Varietätenlinguistik Sinner 2014; Felder 2016). Als diatopische Variante muss aus variationslinguistischer Sicht davon ausgegangen werden, dass die sprachhistorischen Besonderheiten des Verbreitungsgebiets einen Einfluss auf den Gebrauch der Konstruktion haben. Das Verbreitungsgebiet der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion umfasst in erster Linie die westniederdeutschen insbesondere die westfälischen und emsländischen Sprachgebiete, welche in der vorliegenden Arbeit als Untersuchungsgebiet festgelegt werden (vgl. zur phonologischen Abgrenzung des Westfälischen und

|| 2 http://www.atlas-alltagssprache.de/runde-4/f01c/; [letzter Zugriff 27.07.2020] 3 Eine Varietät ist definiert als „ein System (partiell) distinkter Sprachgebrauchsformen, die in Abhängigkeit vom außersprachlichen Kontext variieren. Man unterscheidet v.a. eine diatopische (= regionale), diachrone (= zeitliche), diastratische (= schichtenbezogene) und diaphasische (= situationsbezogene) Dimension sprachlicher Variation“ (Szmrecsanyi 2012: 262). Nabrings (1981) nimmt zudem diamesische Varietäten mit Blick auf medialitätsbezogene Unterschiede im Gebrauch von Konstruktionen an. Diese etische Perspektive auf Varietäten muss nicht deckungsgleich mit emischen Varietätendefinitionen sein (vgl. Stil in Auer 2013a).

14 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

Emsländischen: Schönhoff 1908: 5–25; Foerste 1957; Wiesinger 1983: 872–874/ 880; Jellinghaus 1884; Damme, Goossens & Taubken 1996). Wiesinger (1983) grenzt das Westfälische von benachbarten Dialektgebieten wie folgt ab: Die unter Westfälisch zusammengefaßten Dialekte liegen im Südwesten des niederdeutschen Raumes. Sie grenzen im Süden an das Niederfränkische, an das ripuarische und moselfränkische Mittelfränkische und an das Nordhessische, mit welchen es in den Grenzbereichen auch kleinräumige Interferenzen gibt. Im Norden schließt das Nordniederdeutsche und im Osten das Ostfälische an. (Wiesinger 1983: 872)

Insgesamt vier sprachliche Erscheinungen bilden nach Damme, Goossens & Taubken (1996: 2–3) die zentralen phonologischen Abgrenzungskriterien des Westfälischen. Im Süden grenzt sich das Westfälische lautgeographisch vom mitteldeutschen Sprachraum durch das Isoglossenbündel der Zweiten Lautverschiebung und im Südwesten zum Rheinischen Fächer ab. Ferner markiert der Einheitsplural im Indikativ Präsens auf –t beziehungsweise –et die Abgrenzung zu hochdeutschen und niederfränkischen Mundarten. Im Osten grenzt der Einheitsdativ (mī, dī) das Westfälische in formgeographischer Hinsicht vom Ostfälischen ab. Die westfälischen Brechungen (z.B. ea, ie, oa) definieren die nördliche und westliche phonologische Isoglosse. Während Foerste (1957: 1830) das Westfälische noch in Nord- und Südwestfälisch einteilt, legt Taubken (1996) in seiner Karte eine Vierteilung des Gebiets in Westmünsterländisch, Münsterländisch, Ostwestfälisch und Südwestfälisch an, welche hier als Forschungsgrundlage dienen wird (vgl. Verteilungskarte Abb. 15). In der Kartierung des Emsländischen folgt Taubken (1996) der Einteilung Schönhoffs (1908: 6) im Sinne einer sprachlichen Dreiteilung des münsterländischen Nordens und der beiden Grafschaften Bentheim und Lingen. Taubken (1985: 400) konstatiert zudem ein Übergangsgebiet des Emsländischen zum Westfälischen im Süden und betont im Westen einen niederländischen Einfluss (vgl. Wiesinger 1983: 879). Die heutige niederländisch-(nieder-)deutsche Sprachgrenze existierte bis zum 16. Jahrhundert weder als eigentliche Sprach- noch als Dialektgrenze. Goossens (2000: 449) betont, dass sprachhistorisch von einem Übergangsgebiet zwischen dem Mittelniederdeutschen und dem Mittelniederländischen ausgegangen werden muss (vgl. auch Peters 1984: 55/59; Macha, Neuss & Peters 2000: 105). Während durch den Schreibsprachenwechsel im 16. Jahrhundert auf deutscher Seite und der holländischen Expansion auf niederländischer Seite der Grundstein für die heutige Sprachgrenzbildung der beiden Standardsysteme Deutsch und Niederländisch gelegt wurde, nahmen die Dialekte im Grenzgebiet eine andere Entwicklung. Sie bildeten bis ins frühe 20. Jahrhundert ein sogenanntes kontinentalwestgermanisches Dialektkontinuum, das erst später durch

Die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion | 15

den Einfluss der eigenen überdachenden Standardsprache geprägt wurde (vgl. Kremer & Niebaum 1990). Synchron ist die jeweilige Standardorientierung bei allen grenznahen Dialekten auf allen linguistischen Ebenen zu beobachten (vgl. Smits 2011). Die sprachhistorische Verwandtschaft der (west-)niederdeutschen und niederländischen Varietäten könnte als Erklärungsgrundlage für die Konventionalisierung der regionalen angefangen-Konstruktion von Bedeutung sein und wird in den Abschnitten 2.2.2 und 2.2.3 durch einen Vergleich der Auxiliarselektion im Deutschen und Niederländischen genauer beleuchtet. Neben der Klassifikation der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als diatopische Variante stellt Elspaß (2016: 366) mit Blick auf das vertikale Varietätenspektrum fest, dass die Konstruktion nicht als syntaktisches Merkmal des norddeutschen Standards eingestuft werden könne. Obgleich die Untersuchung des AdA die Verbreitung der Konstruktion auf den gesamten niederdeutschen Sprachraum zurückweisen konnte, bleibt die Frage, ob die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion ausschließlich als dialektsyntaktische Variante oder auch als Variante des regionalen Gebrauchsstandards oder des Regiolekts eingesetzt wird. Dazu muss zunächst der Zusammenhang zwischen syntaktischen Konstruktionen und dem vertikalen Varietätenspektrum diskutiert werden. Regionalsprachliche Konstruktionen unterscheiden sich von standardsprachlichen insofern, als sie keinen top-down Regulierungsprozessen und Kodifizierungen, sondern in erster Linie Paradigmen des ‚natürlichen Sprachwandels‘ unterliegen. Sie sind primär an das gesprochensprachliche „Archimedium“ gebunden (vgl. Weiß 2004: 25; Ehlich 1998: 20). Der Zusammenhang zwischen Regionalsyntax und Syntax gesprochener Sprache wird innerhalb der variationslinguistischen Disziplin jedoch kontrovers diskutiert (vgl. Auer 2004; Lötscher 2004; Scheutz 2005; Kappel 2007; Fleischer 2010). Bei Auer (2004) gehören regional- und dialektsyntaktische Phänomene in erster Linie dem Teilbereich der gesprochenen Syntax an, die sich – im Gegensatz zur standardsprachlichen Syntax – durch eine areal eingeschränkte Reichweite auszeichnen. Abb. 3 veranschaulicht das Verhältnis zwischen Dialektsyntax und Syntax gesprochener Sprache nach Auer (2004: 72). In der Untersuchung regionalsyntaktischer Konstruktionen spielen zwei Faktoren eine entscheidende Rolle: (1) Arealität und (2) Medialität. Mit Blick auf die horizontale Arealität unterscheidet Auer (2004: 72) drei Typen syntaktischer Variation: (1) Der A-Typ umfasst generelle syntaktische Eigenschaften gesprochener Sprache, die aus der strukturellen Konsequenz der Mündlichkeit erwachsen (z.B. Prolepse, Anakoluth etc.); (2) Der B-Typ umfasst areal beschränkte syntaktische Konstruktionen, die weder in der Standardvarietät, noch in allen Dialekten vorkommen. Diese sind Dialektkonstruktionen sensu stricto (z.B. Prä-

16 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

teritumschwund, Subjunktionen (wo, der wo), Bairische Topikalisierung); (3) Unter dem C-Typ werden nicht-dialektale, nicht-standardsprachliche Konstruktionen gefasst, welche in den meisten Dialekten konventionalisiert sind – und damit keiner arealen Beschränkung unterliegen – jedoch im Standard sanktioniert werden (z.B. doppelte Negation, tun-Periphrase). Die angefangen-Konstruktion kann nach dem bisherigen Forschungsstand als Variante des Typs B eingeordnet werden. Neben der horizontalen Ausbreitung einer regionalsyntaktischen Variante spielt auch das vertikale Varietätenspektrum zwischen Dialekt und Gebrauchsstandard eine entscheidende Rolle im Modell von Auer (2004). Genuin gesprochensprachliche dialektsyntaktische Konstruktionen können durch Konvergenzprozesse und varietätenkontaktbedingtem Transfer auch in mündlichen Gebrauchsstandardvarietäten konventionalisiert sein. Bis auf die Beobachtung von Elspaß (2016) zum norddeutschen Standard wurde die angefangen-Konstruktion in ihrer Konventionalisierung im vertikalen Varietätenspektrum bisher nicht untersucht. Syntax of spoken standard

medium

Syntax of written standard

area

Dialect syntax (almost always spoken)

Abb. 3: Modell Dialektsyntax-Syntax gesprochener Sprache nach Auer (2004)

Während der Faktor der Arealität in regionalsyntaktischen Untersuchungen häufig den Fokus der Untersuchung bildet (vgl. für die niederdeutsche Syntaxforschung Rohdenburg 1991; Appel 2007; Berg, Höder & Langhanke 2012; Langhanke 2012; Berg 2013), spielt bei Auer (2004) auch die Medialität regionalsyntaktischer Konstruktionen eine entscheidende Rolle. Regionalsyntaktische Phänomene sind zwar primär an das gesprochensprachliche Archimedium gebunden, können in sekundärer Hinsicht aber auch in den schriftlichen Sprachgebrauch transferiert werden, wobei die Quelle des Transfers sowohl der gesprochene Gebrauchsstandard, aber auch die Dialektvarietät selbst sein kann (vgl. gestrichelte Linie in Abb. 3). Zusammengefasst vereint das Modell von Auer (2004) Perspektiven der horizontalen und vertikalen Arealität als auch der Me-

Die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion | 17

dialität regionaler Syntaxkonstruktionen. Die vorliegende Arbeit teilt die Ideen des Modells4 und versteht Regionalsyntax fortan als Subtyp der Syntax gesprochener Sprache, der jedoch auch mit dem medial schriftlichen Sprachgebrauch interagieren kann. Sowohl das Kriterium der Arealität als auch jenes der Medialität werden eine entscheidende Rolle für die theoretische und methodische Fassung von regionaler Variation spielen (vgl. Abschnitt 3.2.2). Um die Bindung der regionalsyntaktischen [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion an das vertikale Varietätenspektrum im Westfälischen und Emsländischen untersuchen zu können, muss auch der Forschungsstand zum phonologischen vertikalen Varietätenspektrum im Untersuchungsgebiet skizziert werden. Die sprachgeschichtliche Ausbildung regionaler Varietätenspektren im Westfälischen war zwischen 1650–1850 zunächst durch eine mediale Diglossie zwischen neuhochdeutscher Schriftlichkeit und niederdeutscher Mundart geprägt (vgl. einschlägig Peters 2003: 2645). Von 1850 bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fand schließlich ein Sprechsprachenwechsel von der niederdeutschen Dialektvarietät zur hochdeutschen Umgangssprache zunächst in den Städten, später auch in der westfälischen Landbevölkerung statt. Der Prestigeverlust der niederdeutschen Varietät bedingte, dass der Dialekt als moribunde Varietät nicht mehr an die nächste Generation weitergegeben wurde. In diesem Prozess entwickelte sich nach Auer (2005: 29–30) aus der medialen Diglossie eine gesprochene Standardvarietät, die domänenspezifisch als offizielle, formelle Varietät gebraucht wurde (vgl. Abb. 4).

|| 4 Das Modell von Auer (2004) wurde bisher in zwei Punkten kritisiert: Im Hinblick auf (1) die Definition von ‚dialektal‘ (vgl. Scheutz 2005) und (2) die fehlende Berücksichtigung konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit (vgl. Kappel 2007; Fleischer 2010). Scheutz (2005: 308) fragt mit Blick auf Formen der Typ-C-Variation, „inwieweit syntaktische Phänomene, die keine engere regionale Beschränkung zeigen, tatsächlich als ‚nicht-dialektal‘ zu klassifizieren sind. Dies würde zwangsläufig bedeuten, dass auch bei einem ‚monolingualen‘ Dialektsprecher die syntaktische Komponente seiner Grammatik größtenteils als ‚standardsprachlich‘ einzustufen wäre“. Diese Auffassung wird hier nicht geteilt, weil es in der Typ-C-Variation von Auer (2004) offensichtlich nicht um eine ex negativo Definition zwischen ‚nicht-dialektal‘=‚standardsprachlich‘ geht, sondern um das fehlende Kriterium der arealen Begrenztheit. Fleischer (2010: 96) erweitert das Modell von Auer (2004) unter Zuhilfenahme der von Koch & Oesterreicher (1985) entwickelten Unterscheidung zwischen konzeptioneller und medialer Mündlichkeit beziehungsweise Schriftlichkeit. Obgleich die konzeptionelle Ebene durchaus eine Erweiterung des Auerschen Modells darstellen könnte, ist sie m.E. im von Fleischer (2010) präsentierten Modell nicht hinreichend umgesetzt. Die Erweiterung des Auerschen Modells bei Fleischer zielt nur auf einen Einbezug geschriebener Dialektsyntax, jedoch nicht auf die konzeptionellen Unterschiede zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit ab.

18 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

Die Ausbildung einer gesprochenen Standardvarietät und der zunehmende Dialektabbau durch Prestigeverlust führten zu Konvergenz- und strukturellen Ausgleichsprozessen zwischen den Varietäten auf phonologischer Ebene sowie syntaktischen Transferprozessen im Rahmen des Varietätenkontakts (vgl. Hansen-Jaax 1995; Elmentaler & Rosenberg 2015). Durch den synchron weiter fortschreitenden Verlust der niederdeutschen Dialektvarietäten (vgl. Stellmacher 1987; Möller & Windzio 2008; Adler et al. 2016) entstehen Regiolekte5 in Gebieten mit vollständigem Dialektverlust, die kommunikative Aufgaben der Dialekte im nähesprachlichen Bereich übernehmen und sowohl durch standardsprachliche als auch regionale Merkmale geprägt sind. Dabei ist die Distanz zwischen gesprochener Standardsprache und Regiolekten im vertikalen Varietätenspektrum gering. Typ B

Standardvarietät

Typ D/1 Standardvarietät

geschrieben gesprochen

Dialektverlust

Regiolekte

Dialekte

Abb. 4: Entwicklung niederdeutscher Varietäten nach Auer (2005)

Während die Untersuchung diaglossischer Standard-Dialekt-Spektren in der deutschsprachigen Varietätenlinguistik entscheidende Fortschritte gemacht hat (vgl. Lenz 2003; Lameli 2004; Spiekermann 2008), sind niederdeutsche Standard-Regiolekt-Dialekt-Konstellationen weitgehend unerforscht (vgl. Elmentaler 2008; Lanwer 2015; Spiekermann 2016). Einschlägige Studien zum Gebrauch westniederdeutscher Varietäten belegen synchron die Tendenz zur Registervariation, die den Gebrauch niederdeutscher Varietäten auf den informellfamiliären Nahbereich, die standardnahen Sprechlagen in formell-öffentlichen

|| 5 Zur Beschreibung diaglossischer Dialekt-Standard-Konstellationen, welche sich im Zuge der Entdiglossierung im ober- und mitteldeutschen Sprachraum entwickelt haben, wurden die Begriffe der Umgangssprache (vgl. Menge 1982: 59/63; Mihm 2000: 2107) und später der des Neuen Substandards (vgl. Bellmann 1983: 116) eingeführt. Der Begriff der Regionalsprachen nach Schmidt & Herrgen (2011: 63–68) beschreibt die Sprechlagen des Regionalakzents und des Dialekts unterhalb der Standardvarietät innerhalb einer Diaglossie. Aufgrund des Dialektabbaus im niederdeutschen Sprachraum ist der Begriff der Regionalsprachen nicht auf den niederdeutschen Raum übertragbar (vgl. Schmidt & Herrgen 2011: 75).

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 19

Kontexten verortet (vgl. Reershemius 2004; Spiekermann 2016). In einem stärker individuenzentrierten Ansatz konnte Lanwer (2015) zeigen, dass autochthone westfälische DialektsprecherInnen auch synchron vertikale Sprachvariation in der Face-to-Face-Interaktion kontextualisierend einsetzen und sowohl vom Regiolekt in Richtung des (regionalen) Gebrauchsstandards als auch zum Dialekt funktional switchen können. Von einem vollständigen Dialektverlust im westfälischen Sprachgebiet kann daher nicht ausgegangen werden. Zusammenfassend wurde die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion bisher keiner systematischen Analyse auf empirisch korpuslinguistischer Basis oder im Rahmen von Sprachverarbeitungsexperimenten innerhalb der Auxiliarselektionsforschung unterzogen. Die Funktion der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion im alltäglichen Sprachgebrauch und soziolinguistische Voraussetzungen, die zur Konventionalisierung der Konstruktion im Repertoire von westniederdeutschen SprecherInnen führen, wurden bisher nicht untersucht. Aus variations- und varietätenlinguistischer Perspektive ist zudem ungeklärt, wie die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion an das vertikale Varietätenspektrum gebunden ist und ob sie mit der haben-Variante im natürlichen Sprachgebrauch variiert. Wenn Variation im Untersuchungsgebiet existiert, stellt sich zudem die Frage, welche Steuerungsfaktoren die Variation zwischen den beiden Varianten bedingen. Ferner bestehen keine Erkenntnisse darüber, ob die angefangen-Konstruktion allein im Primärmedium der Mündlichkeit oder auch im Sekundärmedium der regionalen Schriftlichkeit konventionalisiert ist. Überdies wird zu fragen sein, ob Variation nicht nur innerhalb der angefangenKonstruktion, sondern auch bei ähnlichen telischen Verben wie begonnen oder aufgehört im Sinne eines kognitiv produktiveren sein-Perfekts und erweiterten Telizitätsprinzips bei westniederdeutschen SprecherInnen beobachtet werden kann. Abschnitt 2.2 wird daher die theoretischen Grundlagen zur Rolle von Telizität für die Auxiliarselektion im Deutschen vorstellen.

2.2 Auxiliarselektionsforschung und Telizität Ausgehend von den Beispielen aus Elspaß (2016) wurde in Abschnitt 2.1 die These formuliert, dass die Telizität von angefangen eine wichtige Voraussetzung für die Bildung mit dem sein-Perfekt darstellen könnte. Abschnitt 2.2.1 stellt daher zunächst die Definition von Aktionsart und Telizität in der einschlägigen Grammatikforschung vor. Anschließend präsentiert Abschnitt 2.2.2 die Rolle der Telizität im synchronen sprachtypologischen Vergleich zwischen dem Deutschen und weiteren germanischen Sprachen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf dem Vergleich mit dem standardniederländischen Auxiliarsystem lie-

20 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

gen, da – wie in 2.1 beschrieben – eine sprachhistorische Verwandtschaft der westniederdeutschen und ostniederländischen Varietäten aufgrund des kontinentalwestgermanischen Dialektkontinuums besteht. Die sprachhistorischen Hintergründe für die typologischen Unterschiede in der Auxiliarselektion telischer Verben zeigt Abschnitt 2.2.3. Hier wird besonders auf den sprachhistorischen Auxiliarwechsel von nl. hebben (dt. ‚haben‘) nach nl. zijn (dt. ‚sein‘) im Mittelniederländischen und Mittelniederdeutschen eingegangen, um einen besseren Einblick in die sprachkontaktbedingten Voraussetzungen der [_sein(AUX)_ angefangen(PP)_]-Konstruktion zu gewinnen. Abschnitt 2.2.4 gibt anschließend einen Überblick über die zentralen Steuerungsfaktoren der Auxiliarselektion wie Transitivität, Resultativität, Diathese und Tempus-Aspekt, die im Spannungsfeld mit der Telizität des Verbs angefangen stehen.

2.2.1 Aktionsart und Telizität Um die Rolle von Telizität als Faktor der Auxiliarselektion besser verstehen zu können, muss zunächst eine Definition des aktionsartbasierten Terminus vorgenommen werden. Die Verbklassifikationseinheit der Aktionsart (auch lexical aspect) „bezieht sich auf Zusammenhänge zwischen dem vom Verb bezeichneten Geschehen oder Sachverhalt und dem Verlauf der Zeit“ (Duden 2006: 414). Aktionsart kann nach Helbig & Buscha (2006: 63–65) durch eine Reihe sprachlicher Mittel ausgedrückt werden: (i) Durch die Bedeutung des Verbs selbst (telische: schmelzen vs. nicht-telische Verben: wissen), (ii) durch Wortbildung in Form perfektiver Affixe (z.B. er-, auf(wachen), an, los(laufen), ein(schlafen)), (iii) durch zusätzliche lexikalische Mittel wie Adverbien (z.B. heute, morgen), inchoative und egressive Phasenverben (z.B. anfangen, aufhören, beginnen) oder Modalitätsverben (z.B. pflegen (iterativ)), sowie (iv) durch syntaktische Konstruktionen wie Progressivkonstruktionen (z.B. Er ist am Arbeiten). Mit Blick auf die semantische Differenzierung des lexical aspects sind einschlägige Modelle in der angloamerikanischen Forschung entstanden (vgl. Vendler 1957; Comrie 1976; Dowty 1977). Die erste systematische Unterteilung in vier abstrakte (semantische) Situationstypen wurde von Vendler (1957) unternommen (vgl. Tab. 1; vgl. auch Pustejovsky 1991: 55–61). Eingeteilt werden Verben nach folgenden Parametern: (i) Dynamizität, (ii) Grenzbezogenheit beziehungsweise Telizität und (iii) Durativität (für eine Erweiterung des Vendler’schen Systems siehe Croft 2012: 44).

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 21

Tab. 1: Verbeinteilung in vier Aktionsarttypen nach Vendler (1957)

Verbklasse

Beispiel

Telizität

Dynamik und Punktualität

Erweiterung nach Croft (2012: 44)

(1) state (Zustand)

wissen

atelisch [–Endpunkt]

statisch

inhärent; permanent; vorübergehend; punktuell

(2) activity (Tätigkeit)

rennen

dynamisch

gerichet; nicht-gerichtet

(3) achievement (plötzl. Existenz)

erscheinen telisch [+Endpunkt]

punktuell

reversibel; irreversibel zyklisch („Semelfaktive“)

(4) accomplishment (sukzes. Existenz)

schmelzen

nicht-punktuell

Im Hinblick auf die (ontologische) Verbsemantik können grenzbezogene [telische] von nicht-grenzbezogenen [atelische] Verben unterschieden werden. Differenzierendes Klassifikationskriterium telischer und nicht-telischer Verben bildet die Denotation eines inhärenten Kulminationspunktes (Anfangs- oder Endpunkt). Während ein atelisches Verb wie schlafen nur den Prozess des Schlafens an sich ohne Grenzziehung denotiert, wird bei einem telischen, grenzbezogenen Verb wie einschlafen die Übergangsphase [einschlafen] in Abgrenzung zum Vorzustand des Nicht-Schlafens [–schlafen] und dem Nachzustand [+schlafen] perspektiviert. Telische Verben können als inchoative Verben den Beginn (z.B. anfangen, beginnen) oder als egressive Verben einen Endzustand einer Handlung (z.B. gestorben, verblüht) fokussieren.6 Der Zustandswechsel an sich kann in Form einer längeren Phase (z.B. einschlafen) oder eines punktuellen Übergangs (z.B. enden) organisiert sein. Der Resultatszustand bei

|| 6 Leiss (1992: 36–40) kritisiert die Klassifikation aller grenzbezogenen Verben als Aktionsartverben. Nur Grundverben, die mithilfe von Präfixen, Suffixen oder Infixen und damit durch Wortbildung veränderbar sind, werden in ihrem Ansatz als Aktionsartverben bezeichnet (z.B. schlafen–einschlafen). Das Verb muss im aspektuellen Sinne die Perspektivierungsklasse wechseln können (Innenperspektive (einschlafen) vs. Außenperspektive (schlafen)). (Nicht-) Grenzbezogene Verben ohne ein durch Derivation entstandenes perfektives Pendant werden als Verbalcharaktere gefasst. Das Verb anfangen ist zwar ein historisches Präfixverb (vgl. 2.2.3), es existiert jedoch synchron kein imperfektives Pendant mehr. Es ist damit fraglich, ob dieses Verb nach Leiss (1992) als Verbalcharakter oder Aktionsartverb beschrieben werden würde. In Anlehnung an die traditionelle Grammatikforschung werden Verben wie anfangen in dieser Untersuchung dennoch als telische grenzbezogene Aktionsartverben behandelt.

22 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

telischen Verben ist heute noch durch die attributive Verwendung ersichtlich (z.B. das angefangene Spiel). Aktionsarttechnisch werden Verben wie anfangen, beginnen und aufhören, die im Zentrum des Untersuchungsinteresses der vorliegenden Arbeit stehen, in den einschlägigen Grammatiken als punktuelle Achievements im Sinne eines telischen Übergangs von ‚nichtexistent‘ zu ‚existent‘ bei angefangen und beginnen ([–Zustand, Vorgang, Tätigkeit] zu [+Zustand, Vorgang, Tätigkeit]; z.B. Das Spiel fängt an [–Vorgang  +Vorgang]) beziehungsweise von ‚existent‘ zu ‚nichtexistent‘ bei aufhören ([+Zustand, Vorgang, Tätigkeit] zu [–Zustand, Vorgang, Tätigkeit]; z.B. Der Schmerz hört auf [+Zustand  –Zustand]) verstanden. Diese Einordnung gilt auch für telische Verben wie starten oder enden. Was telische Verben wie anfangen, beginnen und aufhören jedoch von solchen wie enden unterscheidet, ist, dass sie als sogenannte Phasenverben in Phasenverbkonstruktionen mit Infinitiv (z.B. Ich habe angefangen, zu schreiben) auch einen phasalen Übergang zwischen Vor- und Nachzustand und nicht nur einen punktuellen Zustandswechsel anzeigen können (vgl. Engerer 2008, 2010). Dies wird auch dadurch deutlich, dass Phasenverben mit Adverbien wie langsam kookkurrieren können und damit den Vorgang oder die Handlung des Beginnens oder Aufhörens selbst als längeren Übergang konstruieren (z.B. Er begann langsam, sich auf die Prüfung vorzubereiten; aus Engerer 2010: 154). Abb. 5 macht deutlich, dass Phasenverben wie anfangen, beginnen und aufhören als Verben mit telischer beziehungsweise grenzbezogener Aktionsart eingestuft werden können, im Hinblick auf die Art des Zustandswechsels jedoch zwischen punktuellem Achievement und phasenbezogenem Accomplishment changieren. [Zustandswechsel] [+punktuell]

[−Tätigkeit] [anfangen] [+Tätigkeit] [−Prozess] [+Prozess]

[Zustandswechsel] [+sukzessiv]

[−Tätigkeit] [anfangen] [+Tätigkeit] [−Prozess] [+Prozess]

Abb. 5: Aktionsart der Phasenverben anfangen, beginnen und aufhören

Der Aktionsartbegriff fasst in erster Linie ontologische Verbsemantiken, die unabhängig vom Sprachgebrauch und ihrer syntaktisch-kontextuellen Einbettung beschrieben werden. Aktionsarten werden daher auch als „sprecherunabhängige Bestimmungen der Art und Weise des Verlaufs eines verbalen Geschehens“ definiert (Leiss 1992: 32). Ein (ontologisch) telisches Verb wie anfangen ist zwar in seiner Verbsemantik telisch, jedoch muss das Ereignis auf grammati-

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 23

scher Ebene, das im Textzusammenhang mit anfangen konstruiert wird, nicht notwendigerweise temporal oder aspektuell grenzbezogen konstruiert sein. Aktionsarten beschreiben daher in erster Linie semantische Primitiva und sagen nichts über Grenzbezogenheiten auf syntaktischer Ebene aus (vgl. lesen vs. ein Buch lesen; siehe dafür Aspekt in 2.2.4.3). Die einschlägige Forschung hat jedoch gezeigt, dass die Aktionsart eines Verbs weitreichende Konsequenzen für verschiedene grammatische Erscheinungen haben kann. Sie „beeinflusst nicht nur die Selektion spezifischer Passiv- oder Perfektkonstruktionen; [sie] determiniert die Tempusbedeutungen des Imperfekts und ist dafür verantwortlich, ob das Futur temporale oder modale Bedeutung hat“ (Leiss 1992: 22). Auch in den einschlägigen synchronen Auxiliarselektionsmodellen spielt die Aktionsart der Telizität eine entscheidende Rolle, wie die Ausführungen in 2.2.2 zeigen werden.

2.2.2 Telizität in synchronen Auxiliarselektionsmodellen Das standarddeutsche Auxiliarsystem mit seinen Perfektvarianten haben und sein steht in einer Reihe mit anderen indoeuropäischen Sprachen, die ebenfalls eine gesplittete Intransitivität, also Variation zwischen sein und haben bei Intransitivkonstruktionen, aufweisen. Typologisch unterscheiden sie sich damit von Sprachen, die ausschließlich die Perfektauxiliare HABEN7 (z.B. Englisch, Spanisch, Schwedisch, Portugiesisch) oder SEIN (z.B. Schottisch, Gälisch, Walisisch) grammatikalisiert haben (vgl. für einen Überblick siehe McFadden 2007). Transitive Sätze werden in Sprachen mit gesplittetem System ausschließlich mit dem Auxiliar HABEN gebildet. Innerhalb der Auxiliarselektionsforschung wurden diverse Modelle entwickelt, um die Variation zwischen SEIN und HABEN bei intransitiven Verben erklären zu können. Anfangs wurde das Forschungsfeld von Arbeiten im Rahmen der generativen Government-and-Binding-Theorie (GB) auf Basis der Unakkusativitätshypothese (vgl. Perlmutter 1978, 1989; Hoekstra 1994; Burzio 1986) und der Universal Alignment Hypothesis (vgl. Perlmutter & Postal 1984; Levin & Hovav 1995) dominiert. Später entwickelten sich logische Ansätze im Rahmen der Role and Reference Grammar (vgl. van Valin 1990; Lieber & Baayen 1997), aber auch semantische Modelle (vgl. Sorace 2000; Diedrichsen 2002; Keller & Sorace 2003; Sorace 2011) mit kognitivem (vgl. Shannon 1990, 1993a, 1993b, 1995), prototypenbasiertem (vgl. Hinze & Köpcke 2007) und gebrauchsbasiertem Fokus (vgl. Gillmann 2016).

|| 7 Die Großschreibung von HABEN und SEIN verweist auf alle möglichen formalen Ausprägungen der Varianten in den jeweiligen Sprachen aus typologischer Perspektive.

24 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

Formale Ansätze im Bereich der Unakkusativitätshypothese erklären Auxiliarselektion bei intransitiven Verben rein syntaktisch und unterteilen intransitive Verben in unakkusative (z.B. telische Verben wie sterben oder einschlafen) und unergative Verben (z.B. atelische Verben wie arbeiten oder tanzen).8 Im Rahmen formaler Ansätze wurden Tests entwickelt, die der Identifizierung von Unakkusativität dienen sollen (vgl. partitive clitics bei Burzio 1986; unpersönliches Passiv bei Perlmutter 1978 und Zaenen 1993; reflexive Klitika in romanischen Sprachen bei Grimshaw 1997; vgl. für das Deutsche Grewendorf 1989: 18– 25). Problematisch an formalen und projektionistischen Ansätzen ist, dass mit der Unterscheidung unergativ-unakkusativ auch die systemische Annahme in sich abgeschlossener Kategorien einhergeht. Damit werden Formen der Variation innerhalb semantischer Verbklassen a priori ausgeschlossen. Zudem sind viele der Tests nicht hinreichend, um Verben eindeutig zuordnen zu können (vgl. mismatches in Aranovich 2007: 9–10). Die Arbeiten von Sorace (2000, 2011) und Keller & Sorace (2003, 2005) knüpfen an die Arbeiten zur gesplitteten Intransitivität mit dem semantischen Modell der Split Intransitivity Hierarchy (SIH)9 an und verfolgen einen dezidiert sprachtypologischen Ansatz zur Erklärung (west-)europäischer Auxiliarsysteme bei monadisch intransitiven Verbklassen. Im Gegensatz zur GB-Theorie wird Auxiliarselektion in diesem Ansatz nicht als dichotomes, sondern als gradientes Phänomen verstanden. Sorace (2011: 70) definiert Gradienz10 in Abgrenzung zu || 8 Syntaktisch verhält sich das Subjekt eines unakkusativen Verbs auf der Oberfläche wie das direkte Objekt eines transitiven Verbs in der Tiefenstruktur. Das Subjekt eines unergativen Verbs hingegen funktioniert wie das Subjekt eines transitiven Verbs in der Tiefenstruktur. Das Argument eines unergativen Verbs wird daher als extern, das eines unakkusativen Verbs als intern bezeichnet (vgl. Perlmutter 1978; Burzio 1986). 9 Die Split Intransitivity Hierarchy (SIH; vgl. Sorace 2011) ist eine Erweiterung des noch stärker generativ geprägten Modells der Auxiliary Selection Hierarchy (ASH; vgl. Sorace 2000). 10 Der Gradienz-Begriff wird innerhalb der Linguistik unterschiedlich definiert. Im Rahmen der Grammatikalisierungsforschung ist synchrone Gradienz ein Effekt diachroner Entwicklungsprozesse (vgl. Traugott & Trousdale 2010a: 6–7). Daneben wird Gradienz als Ergebnis von Frequenzeffekten gefasst (vgl. constraints on collocations bei Hilpert 2008: 39). Sorace (2011: 70) grenzt innerhalb des SIH-Modells den Gradienzbegriff vom Variationsbegriff wie folgt ab: „Variation refers to the existence of linguistic structures that may alternate freely […]; in contrast, gradience refers to alternations that obey tighter constraints and result in degrees of variation (in the sense of graded likelihood to alternate) and graded perception of (un)acceptability. […] Gradience is a property of speakers’ mentally represented grammar because individual speakers agree on intermediate degrees of unacceptability“. Dass Variation insbesondere in der Variationslinguistik nicht allein als zufällige oder freie Alternation definiert wird, muss kaum erwähnt werden. Diese definitorische Reduktion des Variationsbegriffs greift m.E. zu kurz und wird in Kap. 3.2 neu gefasst.

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 25

Variation im Sinne unterschiedlicher Grade der Grammatikalität beziehungsweise Akzeptabilität der Auxiliarbildung innerhalb des Sprachwissens. Tab. 2 aus Legendre (2007: 1524) zeigt die typologischen Unterschiede der semantischen Klassen innerhalb der SIH. Tab. 2: Typologisches SIH-Modell der Auxiliarselektion

Factors

SIH

[+telic], Change of location [–agentiv] Change of state

Example

English German Dutch Italian Bulgarian

came

A

E

E

E

E

died

A

E

E

E

E

went up

A

E

E

E

E

dissappeared A

E

E

E

E

11

lost weight

A

A

E

E

E

lasted

A

A

A

E

E

Existence of state

existed

A

A

A

E

E

Uncontrolled process

shivered

A

A

A

A

E

A

E

A

A

E

A

A

A

A

E

Continuation of state

[–telic] Motional process ran [+agentiv] Non-motional process worked

Legende: E= ital. essere (‚sein‘); A= ital. avere (‚haben‘)

Die hierarchische Anordnung der semantischen Verbklassen ist durch zwei zentrale Schlüsselfaktoren determiniert: Telizität und Agentivität. Die oberen Verbklassen sind maximal telisch und fokussieren einen das affizierte Subjekt betreffenden Nachzustand. Sie werden als Kern-unakkusativ, in Anlehnung an die GB-Theorie, bezeichnet. Verbklassen am unteren Ende der SIH sind maximal atelisch und denotieren agentive Handlungen eines nicht-affizierten Subjekts. Sie sind Kern-unergativ. Variation im Sinne ausgeglichener Akzeptabilitätsgrade zwischen sein und haben sind sprachübergreifend nur in intermediären Verbklassen nicht aber in den bereits beschriebenen Kernverbklassen zu erwarten. Die typologische Perspektive macht deutlich, dass die semantischen Faktoren, welche die Auxiliarselektion bei monadisch intransitiven Verben bedingen,

|| 11 Bei Legendre (2007: 1524) wird die gesamte semantische Klasse der Change of state-Verben im Deutschen innerhalb der sein-Selektion verortet. Im deutschen Standardsystem werden jedoch Verben wie abnehmen oder zunehmen mit haben gebildet und gelten nach Maßgabe des Duden (2006: 471) als Ausnahme vom sonst telisch gesteuerten sein-Perfekt. Daher wird dieser Subklasse hier – abweichend von Legendre (2007) – die Kategorie A für haben zugeteilt.

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sprachbezogen variieren. Die Produktivität des sein-Perfekts, im Sinne der Anzahl an semantischen Verbklassen, mit welchen das sein-Perfekt gebildet wird, nimmt in Tab. 2 von links nach rechts zu. Der Unterschied zwischen Sprachen mit gesplitteter Intransitivität liegt in der Anlage des sogenannten cut-off-points, also den semantischen Verbklassen, bei denen es einen Umschlagpunkt zwischen der Konstruktion mit SEIN („E“) und HABEN („A“) gibt. Während das französische, das deutsche und das niederländische Standardsystem den cutoff-point innerhalb der Klasse der Change of state-Verben, also bei telischen Verben eines Zustandswechsels haben, ist der cut-off-point im Italienischen zwischen Existenzverben und unkontrollierten Prozessverben angesiedelt. Die Produktivität des sein-Perfekts ist damit im Italienischen größer als im Deutschen oder Niederländischen. Mit Blick auf das deutsche und niederländische Standardsystem bildet Telizität im Rahmen der Change-of-state-Verben den entscheidenden Faktor für den Umschlagpunkt zwischen der Bildung des Perfekts mit haben oder sein. Im direkten Vergleich zeigt das Niederländische keine Einschränkungen des Telizitätsprinzip in der Bildung des zijn-Perfekts mit dieser Verbklasse. Die Telizität eines Verbs ist im Niederländischen damit ein hinreichender Steuerungsfaktor für die formale Perfektbildung. Im Deutschen ist Telizität ebenfalls ein entscheidendes Prinzip des sein-Perfekts, im Gegensatz zum Niederländischen jedoch mit Einschränkungen. Telische Verben wie zunehmen oder anfangen, die nicht monadisch intransitiv sind, werden im Deutschen mit dem Auxiliar haben gebildet – entgegen der telischen Verbsemantik. Darüber hinaus triggert im Deutschen das semantische Merkmal der gerichteten Bewegung [+ locomotion] die Produktivität des sein-Perfekts stärker als der Faktor Telizität (vgl. auch Diedrichsen 2002: 40–42; Keller & Sorace 2003: 71; Gillmann 2016: 264–305). Für das Deutsche konnte die Untersuchung von Keller & Sorace (2003) zeigen, dass präfigierte Verben eines Zustandswechsels stärker im Produktivitätsbereich des sein-Perfekts liegen, als nicht präfigierte telische Verben. Im Gegensatz zu einem klaren cut-off-point fanden sich für das Deutsche zudem intermediäre Verbklassen, die zwischen der sein- und haben-Perfektbildung oszillierten. Dazu gehören die sogenannten Degree Achievements12 (vgl. einschlägig Dowty 1979: 88–90; aktuell für das Deutsche vgl. Gillmann 2016: 252–264) und Positionsverben wie sitzen im Oberdeutschen.

|| 12 Diese Verben denotieren keinen punktuellen, sondern einen inkrementellen Zustandswechsel. Sie können damit telisch oder atelisch gebraucht werden (vgl. Die Wäsche ist bei dem heißen Wetter in drei Stunden getrocknet. vs. Die Wäsche hat schon acht Stunden getrocknet (ist aber noch nicht trocken)).

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Das SIH-Modell bietet einen ersten hilfreichen semantischen Ansatz zur Erklärung von Auxiliarselektion bei monadisch intransitiven Verben. Durch die typologische Ausrichtung kann das SIH-Modell jedoch sprachspezifische Abweichungen von der semantischen Regelhaftigkeit nur schwer erklären (für inchoative und egressive Verben wie anfangen, beginnen vgl. Kaufmann (1995: 406–407); für agentive haben-Verben wie fehlen, stagnieren, hungern vgl. Diedrichsen (2002: 48–50)). Vor allem für Verben, die sowohl transitiv als auch intransitiv gebraucht werden, bietet das Modell keinen Erklärungsansatz für Variation. Ferner ist das Modell auch in methodisch-konzeptioneller Hinsicht durch eine gebrauchs- und kontextbezogene Analyse und durch eine differenziertere, regionalspezifische Betrachtung von Auxiliarvariation vor allem in der Mündlichkeit erweiterbar. Die Arbeit von Keller & Sorace (2003) gibt in erster Linie Auskunft über Grammatikalitätsurteile der Auxiliarwahl von deutschen MuttersprachlerInnen, die nicht deckungsgleich mit dem tatsächlichen Sprachgebrauch sein müssen. Vor allem in den intermediären Klassen wird nicht spezifiziert, welche Einflussparameter die jeweilige Variation bedingen. Dies liegt unter anderem auch an der kontextunabhängigen Analyse semantischer Primitiva und dem damit zusammenhängenden Ausschluss verbaler Polysemien. In Abschnitt 2.2.2 wurde deutlich, dass sich das niederländische Auxiliarsystem vom deutschen vor allem durch eine höhere Produktivität des sein-Perfekts und größere Reichweite des Telizitätsfaktors als hinreichendem Steuerungselement der Auxiliarselektion bei Verben des Zustandswechsels unterscheidet. Welche sprachhistorischen Prozesse zur Stärkung der Telizität im niederländischen im Vergleich zum deutschen Auxiliarselektionssystem geführt haben, zeigt Abschnitt 2.2.3.

2.2.3 Sprachhistorische Grundlagen Dass Telizität ein zentraler Faktor für die synchrone gesplittete Intransitivität in der deutschen Auxiliarselektion ist, geht auf die Umschichtung des germanischen Aspektsystems zum Tempussystem zurück. Für das Perfekt in germanischen und romanischen Sprachen beschreiben Bybee, Perkins & Pagliuca (1994: 51–106) einen universellen Grammatikalisierungspfad, der sich vom Resultativ über das Präsensperfekt hin zum Vergangenheitstempus entwickelt hat (vgl. Abb. 6). Ausgangskonstruktionen des Grammatikalisierungspfads bilden aspektuelle Resultativkonstruktionen, die innerhalb der Eventstruktur einen aus einem vorherigen Vorgang erwachsenen Nachzustand fokussieren (vgl. Bybee, Perkins & Pagliuca 1994: 54). Diese Konstruktionen sind historisch zunächst auf

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perfektive und damit telische Verben beschränkt, da nur diese aufgrund ihrer aktionsartbedingten Grenzbezogenheit einen Nachzustand fokussieren können (vgl. Abschnitte 2.2.1 und 2.2.4.3). Perfektive (telische) oder mit dem gi-Präfix perfektivierte imperfektive Verben in aspektuellen Resultativkonstruktionen bilden demnach den Ausgangspunkt der Grammatikalisierung des Perfekts von der Aspekt- zur Tempuskonstruktion.

SEIN ‚be‘ HABEN ‚have‘

Resultativ

• Telische Verben • Fokus: Resultat einer vorausg. Handlung

Anterior

• Stative/dynamische Verben • Fokus: Vorausg. Handlung + Relevanz Gegenwart

Englisch, Schwedisch, (Castilian-)Spanisch

Perfective (Französisch)

• Fokus: abgeschlossene Handlung (Vergangenheit) Simple past (Deutsch)

• Fokus: abgeschlossene Handlung (Vergangenheit)

>> Französisch >>Niederländisch >> Deutsch

Abb. 6: Grammatikalisierungspfad des Perfekts nach Bybee, Perkins & Pagliuca (1994)

Im Folgenden werden die Entwicklungen des haben- und sein-Perfekts im Deutschen getrennt dargestellt. Das haben-Perfekt entwickelt sich sprachhistorisch aus einer aspektuellen Besitzkonstruktion zu einer vergangenheitsbezogenen Tempuskonstruktion (vgl. Bsp. (3); vgl. auch Szczepaniak 2011: 129–136). (3) a. Besitzkonstruktion, haben-Perfekt-Periphrase Dir. Objekt prädikativ

ahd. ich habēn inan nhd. ich besitze ihn

gibuntanan

als Gebundenen

b. Strukturelle Reanalyse der haben-Konstruktion Verbalkomplex

ahd. ich habēn nhd. ich habe

Dir. Objekt

inan ihn

gibuntanan gebunden

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In der ursprünglichen Vorläuferkonstruktion des haben-Perfekts, der sogenannten Perfekt-Periphrase, bindet das besitzanzeigende Vollverb habēn (‚halten, besitzen‘) das Akkusativobjekt inan (‚ihn‘) als Komplement, während sich das Partizip gibuntan-an (‚als Gebundenen‘) prädikativ auf das kongruente Akkusativkomplement bezieht. Dabei liegt der Fokus auf dem präsentischen Zustand der zuvor stattgefundenen Verbalhandlung und bildet einen zum Sprechzeitpunkt vorliegenden resultativen Zustand ab. Während in der Resultativkonstruktion allein das Resultat zum Sprechzeitpunkt aus einem vorherigen Vorgang fokussiert wird, verschiebt sich durch konversationelle Implikatur der Fokus auf die dem Resultat vorausgehende Handlung. In dieser Übergangsphase bestehen zwei semantische Deutungen der habēn-Konstruktion, wobei das Partizip sowohl passivisch (im Sinne der Vorläuferkonstruktion) als auch aktivisch interpretiert werden kann. Die jeweilige Deutung hat zudem Einfluss auf die semantische Rolle des Subjekts als Possessor oder Agens. In syntaktischer Hinsicht verliert das Partizip in der weiterentwickelten Konstruktion die Bindung an das direkte Objekt und wird als Teil des Verbalkomplexes strukturell reanalysiert. Aus dem besitzanzeigenden Lexem habēn entsteht ein resultatives Hilfsverb habēn, das als aktivisches Resultativum bezeichnet werden kann (vgl. Grønvik 1986: 25–28 für das passivische Resultativum sein + Partizip II). Durch die aktivische Reanalyse hatte die habēn-Konstruktion im Althochdeutschen präsentischen Bezug und war Ausdruck eines perfektiven Aspekts (vgl. Oubouzar 1974: 14). Die Konstruktion stellte damit eine Interimskategorie zwischen Aspekt und Tempus dar. Der Fokus der Konstruktion lag in dieser Phase nun sowohl auf der Handlung, die das Resultat herbeiführt, als auch auf dem zum Sprechzeitpunkt vorliegenden Resultat. Nach Grønvik (1986: 31) vergrößert die haben-Konstruktion im Zuge der Expansion ihre Typefrequenz von ursprünglich ausschließlich perfektiven und imperfektiven Transitiva auf imperfektive Intransitiva (z.B. schlafen).13 Da imperfektive intransitive Verben keinen Übergang in einen neuen Zustand denotieren, verlagerte sich der Fokus der resultativen haben-Konstruktion vom aspektuellen, präsentischen Zeitbezug weiter auf den temporal-präteritalen, was eine fortschreitende Umdeutung von der aspektuellen zur temporalen Konstruktion zur Folge hatte. Auf intransitive Verben mit perfektiver Aktionsart (z.B. einschlafen, gekommen) konnte sich das haben-Perfekt nach Grønvik (1986: 40) nie langfristig ausbreiten, obgleich für

|| 13 In den Texten Otfrieds (spätes 9. Jh.) breitete sich die haben-Konstruktion über Verben mit abstrakten Objekten (z.B. hören) auf intransitive Kontexte (z.B. sagen) aus. Bei Notker wird durch die Erweiterung der Perfektkonstruktion auf imperfektive intransitive Verben (z.B. schlafen) die resultative Bedeutungskomponente weiter zurückgedrängt.

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das Altsächsische und Altenglische eine kurze Phase der Ausdehnung auf diese Verbklasse beschrieben wurde (vgl. Grønvik 1986: 60–65; Öhl 2009: 275).14 Die Entwicklung von einer aspektuellen zur temporalen Konstruktion wird auch durch die Kookkurrenz mit Temporaladverbien deutlich. Die habenKonstruktion wird als aktivisches Resultativum zunächst mit gegenwartsdenotierenden Zeitadverbien (z.B. nu ‚jetzt‘) gebildet und erweitert sich bei Notker auf indefinite Zeitangaben (z.B. früher). Der steile Anstieg der Perfektkonstruktion mit imperfektiven Verben und die Kookkurrenz mit vergangenheitsbezogenen Zeitadverbien (z.B. gestern) führen im Mittelhochdeutschen schließlich zur sogenannten Perfekterneuerung beziehungsweise Perfektexpansion und damit zu einem funktionalen Wandel, in welchem das Perfekt das Präteritum als Tempusausdruck ablöst (vgl. Lindgren 1957; Jörg 1976; Gersbach 1982; Solms 1984; Abraham & Conradie 2001; Maiwald 2002; Dentler 1997; Sapp 2009; Amft 2013). Die Kookkurrenz von rein aspektuellen Konstruktionen mit temporalen Adverbien treibt demnach die Emergenz des Tempussystems voran. Synchron werden historisch ältere Resultativkonstruktionen (haben-Stative, Objektsprädikative15) und jüngere vergangenheitsbezogene Tempuskonstruktionen mit haben im Sinne eines layerings funktional nebeneinander gebraucht (vgl. Bsp. (4)).

|| 14 Im Gegensatz zu den zahlreichen Untersuchungen der Entwicklung des haben-Perfekts im Althochdeutschen beschränkt sich die Forschungslage für das Altsächsische auf weitaus weniger Arbeiten (vgl. Grønvik 1986: 60–65; Öhl 2009: 275; Gillmann 2016: 164–231). Im Zuge der arealen Progression sind Unterschiede im Grammatikalisierungszeitpunkt des haben-Perfekts zwischen dem Althochdeutschen und Altsächsischen erkennbar. Während die Grammatikalisierung des hochdeutschen haben-Perfekts erst um die Jahrtausendwende in althochdeutscher Zeit beginnt, wird angenommen, dass das haben-Perfekt der Nordsee-Sprachen bereits in vorliterarischer Zeit grammatikalisiert war (vgl. Grønvik 1986: 62–63; Öhl 2009: 7). 15 Innerhalb der einschlägigen Forschung besteht Uneinigkeit darüber, ob Objektsprädikative als resultative Vorläufervarianten des Grammatikalisierungsprozesses angesehen werden können (vgl. dagegen Grønvik 1986: 32; vgl. dafür Businger 2013: 160–171). Objektsprädikative stellen nach Grønvik (1986: 32) „einen Sondertyp der alten haben-Fügungen“ dar, sind aber seiner Ansicht nach nicht als Ausgangspunkt der Grammatikalisierung aufzufassen. Aufgrund ihres passiven Charakters werden haben-Stative häufig als Gegenstück zu Formen des Vorgangspassivs mit bekommen (z.B. Ich bekomme die Haare geschnitten) interpretiert (vgl. u.a. Eroms 2000: 395; dagegen Businger 2013: 143–144). Davon abgrenzend wird in rezenten Arbeiten stärker der adjektivische Status des Partizips in diesen Konstruktionen herausgestellt (vgl. Rothstein 2008; Businger 2013). Businger (2013: 159) klassifiziert haben in diesen Konstruktionen als Vollverb mit adjektivischem Partizip und nicht als Auxiliar. In diesem Sinne stellt Businger (2013: 159) sehr wohl einen Bezug zur Grammatikalisierungsentwicklung im Gegensatz zu Grønvik her.

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 31

(4) Synchrones layering der haben-Konstruktionen im Standarddeutschen a. Ich habe die Haare geschnitten [Resultativ] b. Ich habe gerade aufgegessen [Präsensperfekt] c. Er hat sie gestern abgeholt [Vergangenheitstempus] Im Gegensatz zu diachronen und synchronen Untersuchungen des habenPerfekts, das gemeinhin als der default-Fall der Perfektbildung aufgrund seiner höheren Type- und Tokenfrequenz beschrieben wird (vgl. Diedrichsen 2002: 38; Aranovich 2007: 1), wurde das sein-Perfekt seltener erforscht (vgl. Grønvik 1986: 16–22; Leiss 1992: 156–163; Teuber 2005: 130–137; Gillmann 2011, 2016: 200– 232/268–279; Kotin 2014: 29–42, 2015: 44–52). Die Grammatikalisierung der seinPeriphrase verläuft diachron zeitlich verzögert zur haben-Periphrase (vgl. Kuroda 1999: 91). Grønvik (1986: 16–19/25–27) unterscheidet im Rahmen der Grammatikalisierung von sein die Entwicklung (i) des aktivischen Partizip Perfekts innerhalb eines Subjektprädikativs zum sein-Perfekt und (ii) des passivischen Partizip Perfekts zum Zustandspassiv. Im Althochdeutschen bildete die Konstruktion der sein-Periphrase mit transitiven Verben eine passivische Lesart und bedingt die Genese des heutigen Zustandspassivs, während die Bildung mit intransitiven Verben eine aktive, resultative Lesart auslöste und damit den Ausgangspunkt für eine eher temporale Entwicklung bildete (vgl. Bsp. (5)). (5) Sein-Periphrase im Althochdeutschen a. ahd. gihorit ist thin nhd. Erhört ist dein b. ahd. Argangan warun achtu nhd. Vergangen waren acht (Grønvik 1986: 17)

gibet Gebet taga Tage

(Th 2,5)

[passiv]

(T. 7,1)

[aktiv, resultativ]

Die Transitivität eines Verbs innerhalb einer Konstruktion mit sein bildete damit das distinktive Element zwischen Tempus- und Diatheseentwicklung. Prädikative Fügungen mit perfektisch-präsentischer Bedeutung fungierten nach Grønvik (1986: 17–18) im Gotischen, Althochdeutschen, Altsächsischen, Altenglischen und Altwestnordischen als Ausgangskonstruktion für die Grammatikalisierung des sein-Perfekts. Die ursprüngliche aktivische sein-Konstruktion beinhaltete einen telischen Prototyp und hatte durch die Funktion der Bezeichnung eines Nachzustandes resultativen Charakter (vgl. Kuroda 1999: 94). Ihr kommt damit eine aspektuelle Funktion zu.

32 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

Tab. 3: Diachrone Entwicklung des sein-Perfekts nach Gillmann (2011)

Resultativkonstruktion (Telische Intransitiva)

Reanalyse  Ambiguität (Telische Intransitiva)

Resultativkonstruktion Vergangen waren acht Tage

Resultativkonstruktion Er ist gestorben Perfektkonstruktion Ceasar ist gestorben

Analogie (Atelische Intransitiva)

Perfektkonstruktion Ceasar ist gestorben

Tab. 3 visualisiert die Entwicklung des sein-Perfekts aus aktivischen Resultativkonstruktionen in Anlehnung an Gillmann (2011: 230). Regional breitete sich das bis dahin an telische Aktionsarten gebundene sein-Perfekt ab dem Mittelhochdeutschen im oberdeutschen Sprachraum auf intransitive Positionsverben (z.B. sitzen, liegen) und auf intransitive Stativa sîn/wesan (ist gewesen) aus (vgl. Paul 1918: 172–176; Grønvik 1986: 43–46; Dal & Eroms 2014: 123). Im Mittelhochdeutschen bildete die Positionsverbklasse eine imperfektive (haben) und eine perfektive (sein) Lesart, wobei sich im norddeutschen Standard die imperfektive und im Süden die perfektive Lesart durchsetzte (vgl. Kaufmann 1995: 410). Zum Zeitpunkt der Bildung der ist-gewesen Konstruktion hatte nach Grønvik (1986: 44) bereits eine Reanalyse zum Vergangenheitstempus stattgefunden. In der Darstellung der Entwicklung des haben-Perfekts im Deutschen wurde deutlich, dass sich die Variante nicht oder nur zeitweise auf Bereiche intransitiver Perfektiva ausbreiten konnte. Intransitive Perfektiva, Bewegungsverben und das Verb sein bilden synchron die Kernklasse des sein-Perfekts (vgl. 2.2.2). Während in den einschlägigen Untersuchungen kein Zweifel an der Abgeschlossenheit der Grammementwicklung des haben-Perfekts besteht (vgl. Musan 2002: 64; Rothstein 2008: 25; Dammel, Nowak & Schmuck 2010: 346– 350), ist der rezente Grammatikalisierungsstand des sein-Perfekts umstritten. Leiss (1992: 156–190) vertritt die Auffassung, dass nur die haben-Konstruktion der Perfektkategorie zugerechnet werden kann, da die sein-Variante auch synchron immer noch als Resultativkonstruktion funktioniert. Teuber (2005: 170– 193) geht sogar einen Schritt weiter und klassifiziert die sein-Variante als kompositionale Kopulakonstruktionen beziehungsweise sein-Periphrase. In der theoretischen Diskussion um den synchronen Grammemstatus des sein-Perfekts schließt sich die vorliegende Untersuchung der Position Gillmanns (2011: 204) und Kotins (2014: 37) an, die aus historischer Sicht dafür plädieren, dass der Eintritt atelischer Intransitiva (z.B. sein, laufen) in die Bildung des sein-Perfekts durch Prozesse der Dekategorisierung und Desemantisierung die Grammatikali-

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 33

sierung des sein-Perfekts vorangetrieben habe. Die Vergangenheitslesart steht damit in direkter Opposition zur haben-Fügung und bildet folglich die gleiche kategoriale Zugehörigkeit ab. Zusammengefasst kann das vergangenheitsbezogene sein-Perfekt rezent als polyseme Konstruktion mit Resultativ- und Präsensperfektkonstruktionen verstanden werden, die zudem formale Ähnlichkeiten mit dem Zustandspassiv aufweist (vgl. Bsp. (6); vgl. Gillmann 2011: 230). (6) Synchrones layering der sein-Konstruktionen im Standarddeutschen a. Der Winter ist vergangen [Resultativ] b. Ich bin gerade in Berlin angekommen [Präsensperfekt] c. Er ist 1980 gestorben [Vergangenheitstempus] Telische, intransitive Verben zeigen in der deutschen Sprachgeschichte eine starke Bindung an Resultativkonstruktionen und das sein-Perfekt. Der Eintritt atelischer Intransitiva (z.B. Bewegungsverben wie laufen) in den Produktivitätsrahmen des sein-Perfekts war jedoch möglich, weil die Verbindung zwischen verbalem Aspekt und dem formalen sein-Perfekt abgenommen hat. Die Dekategorisierung des sein-Perfekts bedingte, dass einige telische intransitive Verben heute mit dem Hilfsverb haben (z.B. zunehmen, abnehmen, beginnen, anfangen), einige atelische Verben hingegen mit sein im Standarddeutschen gebildet werden (z.B. bleiben). Beim Verb anfangen (ahd. anafā-han, mhd. anevāhen, mnd. ā̌n(e)vān, mnl. aenvangen, nl. aanvangen) könnte dies vor allem dadurch bedingt sein, da die Trennbarkeit des Präfixes und damit der Status als ursprünglich perfektives Aspektverb zu ahd. fāhan (‚fangen, fassen, ergreifen‘) verloren gegangen ist (vgl. Pfeiffer 1993). Insgesamt wurde das Telizitätsprinzip in der Sprachgeschichte der deutschen Auxiliarselektion im Rahmen der Dekategorisierung des sein-Perfekts auf Bewegungsverben historisch abgeschwächt. Im Gegensatz zum Alt- und Mittelhochdeutschen hat im Mittelniederländischen eine sprachhistorische Aufwertung des Telizitätsprinzips im Rahmen eines übergreifenden Auxiliarwechsels zweiwertiger und transitiver Verben von nl. hebben (dt. ‚haben‘) nach nl. zijn (dt. ‚sein‘) stattgefunden (vgl. Kern 1912; Rooij 1988; Lieber & Baayen 1997; Hoekstra 1999; Coussé 2013, 2014). Dieser Wechsel war durch den zunehmenden Verlust des Kasussystems am Ende des 15. Jahrhunderts und der damit einhergehenden Distinktheit zwischen direktem und indirektem Objekt gesteuert (vgl. Coussé 2014). Nachdem Bewegungsverben wie nl. passeren (dt. ‚passieren‘) im Zuge der Dekategorisierung einen Grammemwechsel von hebben (dt. ‚haben‘) nach zijn (dt. ‚sein‘) vollzogen, verloren die Beschränkungen zwischen Argumentstruktur und Perfektauxiliar im Mittelniederländischen zunehmend an Bedeutung. Ab dem 18. bis 19. Jahrhun-

34 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

dert breitete sich die zijn-Variante durch analogische Extension auf ExperiencerVerben (z.B. nl. vergeten; dt. ‚vergessen‘), aber auch telische Verben (z.B. nl. beginnen, dt. ‚beginnen, anfangen‘) aus. Genau wie im Mittelhochdeutschen war für den Auxiliarwechsel telischer Verben zunächst die getrennte Entwicklung transitiver und intransitiver Konstruktionen entscheidend (Kern 1912: 24). Transitive Verben wurden mit hebben, mutative Intransitiva mit zijn gebildet. Das niederländische Verb beginnen (dt. ‚beginnen, anfangen‘) war im Altgermanischen an folgende Argumentstrukturen gebunden (vgl. Kern 1912: 60– 65): Transitivkonstruktionen mit (a) Akkusativ-Infinitiv, (b) Dativ-Infinitiv eingeleitet durch nl. te (dt. zu), (c) pronominalem Akkusativobjekt, (d) Genitiv in infinitiver Form16, (e) Genitiv eines Substantivpronomens und (f) Objektsatz; ferner (g) Konstruktionen mit ausgelassenem Objekt, (h) absolute Intransitivkonstruktionen, und (i) Intransitivkonstruktionen mit Präpositionalphrase. Die meisten der Konstruktionen findet man Kern zufolge auch im Mittelniederdeutschen, Mittelhochdeutschen und Mittelenglischen. Im Mittelniederländischen wird begonnen nur in den Gebrauchsformen (a)–(e) und (g) verwendet (vgl. Bsp. (7) aus Kern 1912: 60). hebben die dinc (7) a. mnl. wy dt. Wir haben das Ding (Troyen hs. 21555) b. mnl. God uwe ziele hevet dt. Gott eure Ziele hat (Hadew. Proza 6, 26 (141, 98)) c. mnl. die tale die dt. Die Rede mit der (Troyen var. 14953) d. mnl. Eer si vechtens dt. Ehe sie des Fechtens (Exc. Cron. (a°. 1530) 87c) e. mnl. Want het dis hevet dt. Weil es dies hat (Lev. Lutg. 2, 8550)

begonnen dryven begonnen schwimmen zu lassen beghonnen te onderstane begonnen zu verstehen ghi Ihr

hebt begonnen habt begonnen

begonnen hadden begonnen hatten ijonc jung

begonnen begonnen

|| 16 In altgermanischer Zeit regierten viele Verben sowohl den Akkusativ- als auch den Genitivkasus. Nach Paul, Klein & Solms (2007: 341) hat dies mit dem Umfang der Affiziertheit des Objekts zu tun. Während Akkusativobjekte voll affiziert sind, ist mit Genitivobjekten nur eine partielle Affiziertheit verbunden (vgl. Donhauser (1998: 72) und Ágel (2000: 1870) zum synchronen Abbau des Genitivs als verbalem Objektkasus).

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 35

f. mnl. Tierst heeft dt. Zuerst hat (Floris 28)

hi er

dus also

beghonnen begonnen

An diesen Beispielen wird bereits sichtbar, dass die mittelniederländische beginnen-Konstruktion mit transitiven Argumentstrukturen überwiegt. Hebben als Hilfsverb war daher – wie auch heute noch im neuhochdeutschen Standard – das prototypische Hilfsverb der Perfektbildung. Das Subjekt hatte dabei stets die Funktion eines Agens. Ab 1485 finden sich Konstruktionen mit unbelebten Subjekten und Intransitivformen mit beginnen, die zwischen zijn und hebben schwanken. Dabei beobachtet Kern (1912: 63) einen analogischen Ausgleich zwischen Zustandspassiv und Resultativkonstruktionen. Die zijn-Konstruktion mit nl. beginnen fand also zunächst Eingang bei Konstruktionen mit unbelebtem Subjekt als auch bei Konstruktionen mit Infinitiv und Supinum (vgl. Kern 1912: 62). Neben der Argumentstruktur spielte auch der mutative Charakter von nl. beginnen in Kombination mit der resultativen Bedeutungskomponente der zijn-Variante in intransitiver Verwendung eine entscheidende Rolle. Der niederländische Satz die strijt is begonnen (dt. ‚der Streit ist begonnen‘) kann sowohl bedeuten, dass der Streit in einen Anfangszustand geraten ist (resultativ), als auch, dass der Streit in einen Anfangszustand gebracht wurde (passiv). Resultativität und agensabgewandte Diathese konkurrieren hier in der Bedeutungskonstitution der Konstruktion und sind nur schwer zu trennen. Auch im 16. und 17. Jahrhundert sind die Parameter Transitivität und Belebtheit des Subjekts entscheidend für die Auxiliarkonstruktion mit hebben und zijn. Mit agentivischem Subjekt wird weiterhin ausschließlich mit hebben konstruiert. Seit dem 18. Jahrhundert fand nach Kern (1912: 64) jedoch die analogische Extension in den intransitiven Konstruktionsbereich mit agentivischem Subjekt statt. Die zijn-Konstruktion weitet hier ihre Produktivität in Bereiche aus, in denen das Partizip nicht mehr als „mutativ“ klassifiziert werden kann. Im 19. Jahrhundert erfasst Kern (1912: 64–65) zudem das Eindringen der zijnKonstruktion in prototypisch transitive Konstruktionen mit Akkusativobjekt. Tab. 4 veranschaulicht die historische Entwicklung des standardniederländischen Auxiliarwechsels von hebben nach zijn mit nl. beginnen (dt. ‚beginnen, anfangen‘) in Abhängigkeit von (nicht-)transitiven Argumentstrukturen.

36 | Forschungsstand Auxiliarselektionsforschung

Tab. 4: Entwicklung Auxiliarselektion mit beginnen im (Mittel-)Niederländischen

Argumentstrukturen

Mittelniederländisch

18. Jh.

19. Jh.

Transitivkonstruktionen (AkkO)

hebben hebben

hebben

hebben/zijn zijn

Infinitivkonstruktion; S[belebt]

k.B.

k.B.

hebben/zijn zijn

zijn

Intransitivkonstruktion; S[belebt]

hebben k.B.

hebben/zijn zijn

zijn

zijn

zijn

Präpositionalobjektkonstruktion k.B.

k.B.

Infinitivkonstruktion; S[unbelebt]

k.B.

hebben/zijn

Passiv/ Resultativkonstruktion

zijn

zijn

20. Jh.

zijn

zijn

zijn

zijn

zijn

zijn

Legende: k.B.= keine Belege; S= Subjekt

Diese Variation zwischen nl. hebben und nl. zijn mit dem telischen Verb beginnen findet sich im Neuniederländischen auch noch in älteren Auflagen einschlägiger Wörterbücher und wissenschaftlicher Beiträge (vgl. Van Dale 1898: 210; Honselaar 1987: 64). Auch hier wird Transitivität teilweise noch als Faktor für die Bildung der Perfektkonstruktion mit hebben angeführt (vgl. Bsp. (8)): (8) a. nl. Hij heeft zijn werk dt. Er hat sein Werk b. nl. Hij is begonnen dt. Er ist begonnen (Van Dale 1898: 210)

begonnen begonnen zich sich

te beteren zu bessern

Zusammengefasst wird die zijn-Variante synchron als Prototyp, die hebbenVariante als veraltet im niederländischen Standard definiert (vgl. van Dale 1898: 210; Donaldson 2008: 212; van Dale 2015: 372). Mit Blick auf die diatopische Entwicklung der Perfektbildung mit nl. beginnen stellt de Rooij (1981, 1988) jedoch eine immer noch anhaltende Variation in der Akzeptabilität beider Auxiliarvarianten bei niederländischen und belgischen DialektsprecherInnen fest – wenn auch mit rückläufiger Akzeptanz der hebben-Variante. Neben beginnen betrachtet Kern (1912: 66/74–75/129) auch die Entwicklung der telischen Verben nl. ophouden (dt. ‚aufhören‘), nl. eindigen (dt. ‚enden‘) und nl. aanvangen (dt. ‚anfangen‘) im Altgermanischen, Mittelniederländischen und Mittelniederdeutschen bis ins Neuniederländische. Dabei ist der Auxiliarwechsel der telischen Verben ophouden und eindigen analog zu begonnen verlaufen. Das niederländische Verb aanvangen hingegen wurde im Mittelniederländischen und im Althochdeutschen vornehmlich in prototypischen Transitivkonstruktionen mit Akkusativobjekt, in Intransitivkonstruktionen ohne Objekt und

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mit Supinum gebraucht (vgl. Kern 1912: 74–75). Das Hilfsverb ist hier regelmäßig hebben (vgl. nl. de plage heeft aengevangen, hadde aengevangen (zitiert aus Kern 1912: 74)). Genau wie bei nl. beginnen existierte zunächst ein Passiv mit nl. zijn, aber keine perfektischen Konstruktionen mit unbelebtem Subjekt. Selbst als diese Konstruktionen an Produktivität zunahmen, dringt das nl. aanvangen im Mittelniederländischen nicht in den Produktivitätsbereich der zijn-Variante. Das gleiche gilt für Althochdeutsch anafâhan (vgl. Kern 1912: 74). Im Gegensatz zu nl. beginnen wird nl. aanvangen im Mittelniederländischen stärker in nichtmutativer Bedeutung gebraucht. Dies hat zwei Ursachen: (1) Die relativ engere Bindung von aanvangen an (prototypisch) transitive Argumentstrukturen und (2) die generelle Ungebräuchlichkeit des Verbs aanvangen im Mittelniederländischen (vgl. Kern 1912: 74). Zudem wurde das Verb 1285 nach van Dale (2015: 37) ursprünglich im Sinne von ‚in Besitz nehmen‘ gebraucht und erhielt die Bedeutung ‚beginnen‘ erst durch althochdeutschen Einfluss. Die Ungebräuchlichkeit des Verbs aanvangen im Neuniederländischen spiegelt sich auch synchron im Wörterbuch von van Dale (2015: 37) wieder. Während im (Mittel-)Niederländischen das Verb beginnen zunehmend an Produktivität gewinnt und aanvangen an Gebräuchlichkeit verliert, verhält es sich im (Standard-)Deutschen nach Kern (1912: 74) genau umgekehrt. Durch die sprachhistorische Verwandtschaft des westniederdeutschen Sprachgebiets mit dem Niederländischen im kontinentalwestgermanischen Dialektkontinuum stellt Kern (1912) für die Zeit ab Ende des 17. Jahrhunderts Variation zwischen zijn und hebben mit dem Verb anfangen fest (vgl. Bsp. (9a–b)). Auch im Neuhochdeutschen kann sowohl im norddeutschen Regiolekt aber auch innerhalb der niederdeutschen Varietät der Gebrauch der sein-Variante nach Kern (1912: 75) konstatiert werden (vgl. Bsp. (9c)). (9) a. As se buten rut kamt, weur’t anfungen to règen Als sie nach draußen kamen, war es angefangen zu regnen (Sch. Weichs. 2, 241, 22) b. Woröver hat de grove osse met ju anfungen? Worüber hat der grobe Ochse mit dir angefangen (zu streiten)? (ald. 118, 33 (J. Sackmann, Hannover)) c. Ich bin eben erst angefangen Die versammlung [sic!] ist schon angefangen (Kern 1912: 75)

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Insgesamt muss für die mittel- und neuniederländische Entwicklung der betrachteten telischen Verben festgehalten werden, dass Kern (1912: 75) von einer eigenständigen Entwicklung des Niederdeutschen und keinem Interferenzprozess aus dem Niederländischen in der Entwicklung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion ausgeht – obgleich ähnliche Steuerungsmechanismen angenommen werden können. Im Gegensatz zum althochdeutschen und synchronen standarddeutschen System gewinnt der Parameter Telizität im (west-) niederdeutschen und niederländischen System bei diesen Partizipien an Einfluss auf die Auxiliarvariation, vergrößert die Produktivität der sein-Auxiliarkonstruktion und tritt in Konkurrenz zur Kategorie Transitivität beziehungsweise dominiert diese im Standardniederländischen schließlich sogar. Aufgrund der zunehmenden Standardorientierung niederdeutscher und niederländischer Varietäten (vgl. Abschnitt 2.1) muss davon ausgegangen werden, dass sich die telischen Perfektonstruktionen in den niederländischen Regionalvarietäten zugunsten der zijn-Variante, in den niederdeutschen Varietäten jedoch hin zur haben-Variante entwickeln und konventionalisieren werden. Für die vorliegende Untersuchung können wir vor allem drei Erkenntnisse aus der diachronen Perspektive auf das Mittelniederländische gewinnen: (1) Der Parameter Transitivität und seine prototypischen und weniger prototypischen Argumentstrukturen spielen eine entscheidende Rolle für die formale Perfektbildung der im Fokus stehenden telischen Verben; zudem zeigt (2) das TempusResultativ-Diathese-Interface einen Einfluss auf die Auxiliarselektion bei intransitiven Konstruktionen. Dabei lässt sich beobachten, dass sich die Durchsetzung der jeweiligen Variante nicht nur in aktiven Perfektkonstruktionen beobachten lässt, sondern auch in Konstruktionen mit unbelebtem Subjekt wie dem Resultativum und dem Zustandspassiv, die – wie Kern (1912) andeutet – häufig nur schwer im Gebrauch zu trennen sind; (3) die Standardsprachen Niederländisch und Deutsch haben sich mit Blick auf die Auxiliarselektion bei den telischen Partizipien dt. angefangen, begonnen und nl. begonnen sprachhistorisch auseinander entwickelt, indem unterschiedliche Parameter im System gestärkt wurden: Im niederländischen Standardsystem setzte sich die durch Telizität geprägte zijn-Variante, im deutschen System die durch Transitivität geprägte haben-Variante durch.

2.2.4 Steuerungsfaktoren der Auxiliarselektion Die Ausführungen zu sprachhistorischen und synchronen Grundlagen der Grammementwicklung eröffneten folgende Steuerungsfaktoren der Auxiliarse-

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lektion: Telizität, Transitivität, Resultativität und Diathese. In Abschnitt 2.2.4.1 soll daher das der Untersuchung zugrundeliegende Verständnis von Transitivität vorgestellt werden. Abschnitt 2.2.4.2 präsentiert die grammatischen Kategorien des Resultativs und Zustandspassivs. Abschnitt 2.2.4.3 wird ferner den Einfluss von Aspekt und Tempus auf die Auxiliarselektion vorstellen, die bisher noch nicht Teil des Forschungsstands waren, jedoch im Rahmen eines semiotischen ganzheitlichen Zugangs zu sprachlichen Zeichen einbezogen werden. 2.2.4.1 Transitivität Transitivität wird in der einschlägigen Forschung als universale sprachtypologische Kategorie beschrieben (vgl. Hopper & Thompson 1980: 251). Gleichwohl sind die Definitionen von Transitivität in formalen (vgl. Hoekstra 1984), semantischen (vgl. DeLancey 1987; Givón 2001) und semantisch-diskursbasierten (vgl. Hopper & Thompson 1980) Ansätzen sehr unterschiedlich. Dabei wird das Zusammenspiel zwischen form- und inhaltsbezogenen Merkmalen von Transitivität selten thematisiert (vgl. Næss 2007). In formal-syntaktischer Hinsicht zeigt Næss (2007: 13), dass die prototypische Organisation von Transitivität bereits auf der formalen Ebene in Form unterschiedlicher Kasusmarkierung deutlich wird (vgl. Bsp. (10)). Während der transitive Prototyp mit direktem Akkusativobjekt und der intransitive Prototyp ohne grammatisches Objekt gebildet wird, sind Konstruktionen mit Dativ- oder Präpositionalobjekten durch einen intermediären Status zwischen den jeweiligen Prototypen geprägt. (10) Grade formaler Transitivität nach Objektart im Deutschen a. Er schlägt den Jungen Prototypisch transitiv NOM FV.-3SG ACC b. Er hilft der Frau NOM FV.-3SG DAT c. Er fliegt (nach München) NOM FV.-3SG (PREP) d. Er weint NOM FV-3SG Prototypisch intransitiv (Næss 2007: 13) Die Idee einer gradienten Transitivität in den Beispielen von Næss (2007) fußt auf dem von Hopper & Thompson (1980) entwickelten semantisch-pragmatischen Ansatz prototypischer Transitivität. Transitivität wird hier als Kontinuum verstanden, das sich nicht alleine an der Verbvalenz und der Art des Objekts

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festmachen lässt, sondern als Zusammenspiel aller Einheiten eines Satzes gesehen werden muss: It is a relationship, which obtains THROUGHOUT A CLAUSE. It is not restricted to one constituent or pair of constituents. Consequently, the presence of an over O is only one feature of a Transitive clause; it co-exists with other defining properties (such as Agency, Kinesis etc.) […] Because Transitivity is not dichotomous, but is a continuum. (Hopper & Thompson 1980: 266)

Ein prototypisch transitiver Satz zeichnet sich dabei vor allem durch drei Voraussetzungen aus: (1) Ein volitional handelndes Agens, das, (2) eine konkrete, dynamische Aktion ausführt, welche (3) einen wahrnehmbaren und nachhaltigen Effekt auf ein Patiens hat. Dabei hängt der Transitivitätsgrad von der graduellen Beschaffenheit der Partizipantenrollen ab (vgl. auch prototypisches Agens und Patiens bei Dowty 1991: 603). Volitionalität, Kontrolle, Intentionales Handeln und Verursachung sind dabei häufig wiederkehrende Parameter in der Diskussion um prototypische Eigenschaften eines Agens (vgl. Langacker 1991: 238; Næss 2007: 44; vgl. auch Agens-Actor bei Jackendoff 1987). Prototypische Intransitivkonstruktionen können hingegen als formal und semantisch (maximal) distinkte Konstruktionen vom transitiven Prototyp beschrieben werden. Im Gegensatz zu hoch transitiven Konstruktionen wird bei intransitiven Argumentstrukturen nur ein Partizipant realisiert, der weniger volitional und agentiv ist. Die Semantik des Objekts – sofern es überhaupt realisiert wird – ist hier weder affiziert noch individuiert.17 Auch Modus und Perfektivität18 spielen eine entscheidende Rolle für prototypisch semantische Transitivität (vgl. Hopper & Thompson 1980: 262; Næss 2007: 118–119). Zusammengefasst bedingt die Distinktheit der Partizipanten in den Kategorien Belebtheit, Agentivität und Affi|| 17 Generell tragen Definitheit (vgl. Leiss 2000) und Belebtheit (vgl. Silverstein 1976) dazu bei, die Affiziertheit des Objekts zu verstärken. Dieser Punkt ist in der funktionalen Typologie nicht unumstritten. Es gibt Ansätze, die dem Einfluss von Individuiertheit auf den Transitivitätsgrad direkt widersprechen und annehmen, dass ein Satz mit einem nicht belebten Objekt im Sinne von „Comrie’s generalisation“ einen höheren Grad der Affiziertheit zeigt (vgl. Comrie 1989: 128). Transitive Konstruktionen, in welchen auch das Patiens individuiert ist, wären nach dieser Generalisierung „markiert“. Die maximale Distinktheit der Partizipanten in physikalischer und konzeptueller Hinsicht ist demnach entscheidend für die Definition von prototypischer Transitivität (vgl. The maximally distinguished argument hypothesis in Næss 2007: 30). 18 Der perfektive Aspekt präsentiert die Situation als geschlossenes Ganzes, während der imperfektive Aspekt die Situation aus der Innenperspektive als andauernden Prozess abbildet (vgl. Sasse 2002 zur Problematik des Begriffs Perfektivität). In typologischer Hinsicht zeigt sich, dass der perfektive Aspekt mit transitiven Konstruktionen korreliert, während der imperfektive Aspekt mit einem geringen Grad an Transitivität einhergeht.

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ziertheit den Grad semantischer Transitivität einer Konstruktion. Obgleich das Modell von Hopper & Thompson (1980) typologischen Anspruch verfolgt, sind die tatsächliche Definition eines transitiven Prototyps und der Umfang der ihn definierenden semantischen Eigenschaften höchst sprachspezifisch. Im Rahmen der Erklärung von Auxiliarselektion erweitert Shannon (1995) die graduell-prototypischen Transitivitätsparameter nach Hopper & Thompson (1980) um die Kategorie der (prototypischen) Mutativität und entwickelt ein kognitiv-funktionales Modell der Auxiliarselektion. Tab. 5 visualisiert die Transitivitätsparameter nach Hopper & Thompson (1980: 252) und die Erweiterung nach Shannon (1995: 133). Tab. 5: Prototypische Transitivitäts- und Mutativitätsparameter der Auxiliarselektion

Semantic parameters High Transitivity (Transitivity)

High Mutativity

Low Transitivity

Participants

2 or more (A and O)

1 participant

1 participant

Kinesis

Action

action (event)

nonaction

Aspect

Telic

Telic

Atelic

Punctuality

Punctual

Punctual

Nonpunctual

Volitionality

Volitional

Nonvolitional

Nonvolitional

Affirmation

Affirmative

Affirmative

Negative

Mode

Realis

Realis

Irrealis

Agency

A high in potency

A low in potency

A low in potency

Affectedness of O

O totally affected

O (=A) totally affected

O not affected

Individuation of O

O highly individuated O(=A) highly individuated

O non individuated

Auxiliary

have

have

be

Dabei werden prototypisch transitive Events formal mit dem Auxiliar haben, prototypisch mutative Events mit sein konstruiert. Prototypisch mutative Ereignisse werden bei Shannon (1995) wie folgt definiert: [They] transpire in physical space; involve only a single entity, differentiated from the setting and from the observer; describe an event in which the single participant is affected and changes externally by changing state of moving. Shannon (1995: 102)

Prototypisch mutativ sind jene intransitiven Sätze, die kein agentives Subjekt, sondern einen Zustandswechsel oder eine Ortsveränderung in Bezug auf den

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affizierten Subjektreferenten „in eine neue Seinsphase“ (Leiss 1992: 43) anzeigen. Mutativität bildet nicht den prototypischen Gegenpol zu hoher Transitivität. Es teilt sogar in vielerlei Hinsicht semantische Merkmale mit prototypischer Transitivität (u.a. Kinesis, Aspekt, Punktualität, Modus). Die entscheidende Gemeinsamkeit mit einer geringen Transitivität ist jedoch, dass das Subjekt in mutativen Sätzen die gleiche Affiziertheit wie ein Patiens-Objekt und damit eine geringe Ausprägung an Agentivität aufweist (vgl. Unakkusativität in GB-Theorie in 2.2.2). Dieser Klasse prototypischer Mutativität entsprechen die telischintransitiven Kernverbklassen der sein-Selektion im SIH-Modell (vgl. 2.2.2). Argumentstrukturen weisen eine geringe Transitivität auf, wenn sie mit nur einem agentivischen Partizipanten konstruiert werden, der jedoch im Gegensatz zu hoch-transitiven Sätzen durch einen geringen Grad an Volitionalität gekennzeichnet ist. Im Gegensatz zu mutativen Verben zeigen sie zudem keinen Zustandswechsel an. Geringe Transitivität bei Shannon korreliert daher mit der Kategorie unergativ in generativen Theorien oder der Gruppe agentiver intransitiver Verben im SIH-Modell nach Keller & Sorace (2003). Das kognitive Prototypenmodell wurde bereits in einigen diachronen und synchronen Arbeiten zur Auxiliarselektion angewendet und validiert (vgl. Arnett 1997; Hinze & Köpcke 2007; Coussé 2013, 2014) und mit den Arbeiten zur semantischen Auxiliarselektionshierarchie verbunden (vgl. Coussé 2014). Der entscheidende Unterschied zum SIH-Modell ist jedoch der Fokus auf die gesamte Argumentstruktur bei Shannon (1995) im Gegensatz zur Annahme semantischer Primitiva im SIHModell. Je mehr die Argumentstruktur eines Satzes dem jeweiligen Prototyp entspricht, desto eher wird das Perfekt mit haben oder sein gebildet. Neben den semantischen Kriterien definieren Hopper & Thompson (1980: 280–294) Transitivität auch als Teil des diskursbasierten narrativen groundings19. Sätze des narrativen Foregrounds, die den Hauptstrang einer Narration bilden, werden demnach häufiger mit prototypisch transitiven Konstruktionen realisiert, während Sätze des narrativen Backgrounds, die Zusatzinformationen zur Hauptnarration beitragen, häufiger prototypisch intransitiv konstruiert werden. Der Grad semantischer Transitivität eines Satzes kann in diesem Sinne als pragmatisches Signal verstanden werden (vgl. Hopper & Thompson 1980: || 19 Hopper & Thompson (1980: 280–281) definieren grounding wie folgt: „That part of a discourse that does not immediately contribute to a speaker’s goal, but which merely assists, amplifies, or comments on it, is referred to as BACKGROUND. By contrast, that material which supplies the main points of the discourse is known as FOREGROUND. […] The foregrounded portions together comprise the backbone or skeleton of the text, forming its basic structure; the backgrounded clauses put flesh on the skeleton, but are extraneous to its structural coherence“.

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280–288). Zusammengefasst spielt Transitivität eine entscheidende Rolle für die Untersuchung von Auxiliarselektion. In der vorliegenden Untersuchung wird Transitivität als graduell-prototypische Kategorie im Sinne von Hopper & Thompson (1980) verstanden. Der Transitivitätsgrad eines Satzes bemisst sich nicht nur nach formalen (Kasusmarkierung) und semantischen (Anzahl der Partizipanten, Agentivität), sondern auch diskursfunktionalen Parametern (Background, Foreground). Im Hinblick auf die Untersuchungsfrage wird zu klären sein, inwiefern ein Prototypenansatz der Transitivität zur Erklärung der westfälischen [_sein(AUX)_ angefangen(PP)_] Konstruktion und ihrer Variation mit der haben-Konstruktion beitragen kann. Neben der aktionsartbezogenen Telizität zeichnen sich die in der vorliegenden Untersuchung fokussierten Phasenverben anfangen, beginnen und aufhören durch ihre oszillierende Argumentstruktur zwischen Transitivität und Intransitivität aus (vgl. Ich habe das Spiel angefangen – Ich habe angefangen – Das Spiel hat angefangen). Teliziät und Transitivität werden daher als zentrale Faktoren für die Untersuchung der Auxiliarvariation herangezogen. 2.2.4.2 Resultativ und Zustandspassiv In Abschnitt 2.2.3 wurde gezeigt, dass aspektuelle Resultativkonstruktionen den Ursprung für die Entwicklung der Perfektgrammeme bilden und dass die parallele Entwicklung des sein-Perfekts und des Zustandspassivs ein Tempus-Resultativ-Diathese-Interface nahelegen könnte. Litvinov & Nedjalkov (1988: 1) definieren das Resultativum als „eine Form, die einen Zustand bezeichnet, bei dem ein vorangehender Vorgang vorausgesetzt ist“. Leiss (1992: 156–163) versteht das Resultativum in Anlehnung an die historische Entwicklung als Übergangskategorie zwischen Passiv und Aspekt. Problematisch in der einschlägigen Forschungsliteratur ist jedoch die Abgrenzung zwischen Resultativum und Zustandspassiv (auch passivisches Resultativum bei Grønvik 1986: 25–28). Im Rahmen der Definition des Zustandspassivs (auch sein-Passiv oder seinKonverse (vgl. Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997b: 1809)) besteht keine Einigkeit darüber, ob die Kategorie (i) als Ableitung des Vorgangspassivs (vgl. Behagel 1924: 206; Lenz 1993: 49–54), (ii) als eigenständige Genus verbi-Kategorie (vgl. Helbig 1989: 216–218; Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997b: 1809) oder (iii) als Teil der Kategorie Resultativum klassifiziert werden sollte (vgl. Litvinov & Nedjalkov 1988: 2; Leiss 1992: 164–173). Einschlägige Arbeiten im Bereich der grammatischen Kategorienabgrenzung entwickelten eine Reihe von Diagnoseverfahren, um (i) das Zustandspassiv vom Vorgangspassiv, (ii) das Zustands-

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passiv vom Perfekt Aktiv20 oder (iii) das Zustandspassiv von Kopulakonstruktionen abzugrenzen (vgl. für eine Übersicht Maienborn 2007: 87–102). Dennoch stellt Maienborn (2007: 96) fest, dass „exakte Rekonstruktionen der Bedeutung des Zustandspassivs bislang Mangelware“ geblieben sind. Im Allgemeinen verbindet das Zustandspassiv mit dem Vorgangspassiv sowie Kopula- und PerfektAktiv-Konstruktionen eine formale Ähnlichkeit (Bsp. (11)). (11) a. b. c. d.

Der Brief ist geöffnet Der Brief wird geöffnet Der Brief ist offen Der Brief ist angekommen (Maienborn 2007: 84)

Zustandspassiv [Part.II + sein-Passiv] Vorgangspassiv [Part. II + werden-Passiv] Kopula [Adjektiv + sein-Kopula] Perfekt Aktiv [Part. II + sein-Auxiliar]

Zwei Kriterien werden regelmäßig als Voraussetzung zur Klassifikation des Zustandspassivs in Abgrenzung zu ähnlichen, polysemen Konstruktionen angeführt: (1) Agensabgewandte Diathese beziehungsweise Konversebeziehung und (2) resultative Zustandsbezeichnung (vgl. Duden 2006: 558; Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997a: 1810). Die Bildung des sein-Passivs beschränkt sich auf Verben, die (i) transitiv sind und damit ein Vorgangspassiv bilden können21 und (ii) zugleich telische Bedeutung haben (v.a. transformative beziehungsweise telische Verben; vgl. Helbig 1987: 217/230; Zifonun et al. 1997a: 1808–1811). Zumindest müssen die Verben nach Zifonun et al. (1997a: 1814) eine „Disposition zur Telizität“ aufweisen.22 Gemein ist allen Definitionen, dass das Zustandspassiv einen Zustand als Resultat einer vorausgehenden ‚Handlung‘ – im Gegensatz zum vorausgehenden ‚Vorgang‘ beim Resultativum – beschreibt. Das Subjekt des Zustandspassivs muss daher einen stärkeren Affiziertheitsgrad aufweisen (vgl. Helbig & Buscha 2006: 162). Klassifikationsschwierigkeiten zwischen Zu-

|| 20 Der Unterschied zwischen Resultativum und Zustandspassiv wird im Duden (2006: 558) als Abgrenzung zwischen Perfekt Aktiv und Zustandspassiv diskutiert. M.E. ist die DudenDefinition von Sätzen wie Die Frucht ist gereift als Perfekt Aktiv irreführend, da sie einer terminologischen Eindeutigkeit mit eigentlichen Perfekt-Aktiv-Konstruktionen wie Ich habe den Brief geschrieben entgegensteht. 21 Das Zustandspassiv unterscheidet sich von Kopulakonstruktionen darin, dass letztere kein Vorgangspassiv bilden können (z.B. Der Brief ist geschrieben Der Brief ist geschrieben worden; Der Mann ist schön  *Der Mann ist schön worden; vgl. Helbig & Buscha 2006: 157–158). 22 Das sein-Passiv kann auch von telischen Verben gebildet werden, die keinen eigentlichen Zustandswechsel beschreiben. Das Geschehen muss aber Folgen von gewisser Dauer aufweisen (z.B. Endlich war der Schlüssel gefunden). Transitive Verben mit durativer Aktionsart lassen im Normalfall die Bildung des Zustandspassivs nicht zu (*Der Mann ist bewundert).

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standspassiv und Resultativ treten immer dann auf, wenn Verben zwischen unterschiedlichen Transitivitätsgraden changieren (z.B. heilen als transitiv kausativ vs. intransitiv rezessives Verb). Auch für die in dieser Arbeit untersuchten telischen Partizipien angefangen, begonnen und aufgehört besteht die Problematik des Changierens zwischen transitivem und intransitivem Gebrauch (vgl. 2.2.4.1). Obgleich die semantischen Kriterien zur Abgrenzung zwischen Zustandspassiv und Vorgangspassiv auch auf die telischen Verben angefangen oder begonnen anwendbar sind, ist innerhalb der Standardsprache keine Konstruktion des sein-Passivs möglich (vgl. Bsp. (12)). (12) a. Der Krieg ist seit zwei Tagen beendet *Der Krieg ist vor zwei Tagen beendet b. Das Spiel hat vor zwei Stunden angefangen Das Spiel hat seit zwei Stunden angefangen *Das Spiel ist angefangen Diese Beobachtung auf der formalen standardsprachlichen Ebene kann zwei Konsequenzen in Bezug auf die grammatische Klassifikation nach sich ziehen: (1) Die formale Zustandspassivbildung ist bei telischen Verben wie angefangen und begonnen nicht möglich, obgleich sie alle funktional-semantischen Kriterien eines resultativen Zustands aus einer vorausgehenden Handlung erfüllen; oder (2) die funktionale Zustandspassivbildung muss sich nicht zwingend im formalen Auxiliar sein ausdrücken, sondern kann auch mit dem haben-Auxiliar gebildet werden. Da die vorliegende Arbeit der kognitiv-funktionalen Grammatiktheorie der Konstruktionsgrammatik verpflichtet ist (vgl. 3.1.1), geht sie nicht von formalen Kriterien der Zustandspassivbildung mit dem Auxiliar sein aus, sondern definiert die Kategorie semantisch-funktional (vgl. auch 5.1.2). In Anlehnung an Litvinov & Nedjalkov (1988) bezeichnen wir im Folgenden Sätze wie Die Frucht ist gereift als Resultativkonstruktion, da sie einen Zustand eines unbelebten Subjekts aus einem vorausgehenden Vorgang bezeichnet. Diese Konstruktionen können nicht als passivisch im Sinne einer agensabgewandten Diathese analysiert werden, da ein Agens logisch nicht möglich ist. Meist wird diese Konstruktion mit telischen intransitiven Verben gebildet. Konstruktionen wie Das Fenster ist geöffnet, die einen Zustand eines unbelebten affizierten Subjekts aus einer vorausgehenden Handlung fokussieren, werden im Folgenden als Zustandspassiv bezeichnet. Im Gegensatz zu (intransitiven) Resultativa sind diese Konstruktionen agensabgewandt konstruiert. Meist dominiert hier die Konstruktion mit transitiven Verben. Aus den bisherigen Ausführungen wurde deutlich, dass das Resultativum und Zustandspassiv eine

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starke formale wie funktionale Ähnlichkeit auszeichnet. In der tatsächlichen Operationalisierung muss mit Maienborn (2007: 110) eine „kontextgebundene Kategorisierung“ innerhalb des Diskurses vorgenommen werden. Vor allem die Ideen der kontextgebundenen, funktionalen Prägung des Zustandspassivs und der Zusammenhang mit Formen der Auxiliarvariation im Tempus-DiatheseInterface sollen neben der Frage um den Einfluss des Telizitäts- und Transitivitätsparameters im Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit stehen. 2.2.4.3 Aspekt und Tempus Die Entwicklung des Perfekttempus aus einer resultativen Aspektkonstruktion wurde bereits in Abschnitt 2.2.3 aufgezeigt. Abschnitt 2.2.4.3 möchte nun auf die Rolle der Faktoren Aspekt und Tempus in der Auxiliarselektionsforschung eingehen. Während der Begriff der Aktionsart in den einschlägigen Grammatiken des Deutschen als etablierte Kategorie zur Beschreibung der verbbezogenen Semantik konventionalisiert ist (vgl. 2.2.1), wird der Begriff des Aspekts weitaus seltener als Beschreibungskategorie angewendet. Zunächst ist der Begriff stark mit dem Konzept von Aspektpaaren in slavischen Sprachen verbunden (vgl. Nespital 1983). Zudem wird der englische Terminus aspect sowohl zur Beschreibung des lexikalischen als auch grammatischen Aspekts angewendet, was zu einer Reihe terminologischer Inkonsistenzen führt (vgl. Sasse 2002: 214/245). Insgesamt lassen sich drei Forschungsrichtungen zur Definition von Aspekt als grammatischer Kategorie unterscheiden: Die Definition von Aspekt als (1) einzelsprachlicher morphologischer Kategorie, die ausschließlich in slavischen Sprachen existiert (vgl. Nespital 1983), oder (2) als universale Kategorie, welche sprachunabhängig vorkommt und in erster Linie morphologisch, aber auch grammatisch oder semantisch ausgedrückt werden kann (vgl. Bybee 1985), oder (3) als gebrauchsbasierte, universale Kategorie, die unabhängig von der morphologischen Markierung existiert und untrennbar mit der Tempus-Kategorie verbunden ist (vgl. Henriksson 2006; Croft 2012). Nach der einschlägigen universalistischen Definition nach Comrie (1976) ist Aspekt in Abgrenzung zu Tempus keine deiktische Kategorie, sondern beschreibt die interne temporale Struktur der Prädikation: Aspect is not concerned with relating the time of the situation to any other time-point, but rather with the internal temporal constituency of the one situation; one could state the difference as one between situation-internal time (aspect) and situation-external time (tense). Comrie (1976: 5)

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Aspekt kann demnach nicht nur durch Flexion wie in slavischen Sprachen ausgedrückt werden, sondern auch durch Derivation von Aspektpaaren wie blühenerblühen. Aspekt ist damit als von der Aktionsart abhängige grammatische Perspektivierung definiert. Durch dieses Aspektpaar kann ein Verbalgeschehen auf zwei Arten perspektiviert werden: (1) Als ungeteiltes Ganzes, in welchem sich der Sprechende außerhalb des Geschehens befindet und (2) ohne den Totalitätsbezug, wodurch der Sprechende zum Teil des Verbalgeschehens wird. Die Innenperspektive wird dabei als imperfektiv (blühen), die Außenperspektive als perfektiv (erblühen) bezeichnet. Während die Aktionsart eines Verbs sprecherunabhängig kategorisiert wird, ist der Standpunkt des Sprechenden für die Klassifikation von Aspekt als auch Tempus entscheidend. Der Unterschied der Sprecherperspektive zwischen Tempus und Aspekt besteht darin, dass „beim Tempus das Geschehen lokalisiert wird (in einem Jetzt, Vorher oder Nachher), während beim Aspekt der Sprecher lokalisiert wird“ (Leiss 1992: 34). Leiss (1992) fasst daher alle sprachlichen Mittel, die der Unterscheidung zwischen Perfektivität, im Sinne von lexikalischer oder grammatischer Grenzbezogenheit, und Imperfektivität, im Sinne von lexikalischer oder grammatischer Nicht-Grenzbezogenheit, unter dem Terminus der Aspektualität zusammen. Dazu zählt auch der Artikel als Mittel der syntaktischen Perfektivierung (z.B. Er trank Tee vs. er trank den Tee). Mit der Abgrenzung von Tempus und Aspekt bei Comrie (1976) sind mehrere Problemstellen verbunden: Zunächst differenziert Comrie nicht explizit nach lexikalischem und grammatischem Aspekt. Zudem trennt er im ersten Teilsatz die Definition von Aspekt von jeglicher temporalen Dimension ab, bezieht sie in der Formulierung „internal temporal constituency“ aber wieder mit ein. Die Definition von Aspekt als zwar temporaler aber nicht-deiktischer Kategorie bei Comrie stellt m.E. einen Widerspruch in sich dar, da der Einbezug des Betrachterstandpunkts Deixis nicht ausschließen kann – vor allem nicht in der Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs (vgl. 4.1.4.1). Problematisch an einer dichotomen Trennung zwischen Tempus und Aspekt ist, dass Kategorien unter anwendungsbezogener Perspektive nicht homogen, sondern kontinuierlich organisiert sind. Dieser graduelle Übergang ist bereits in der Idee der Grammatikalisierung von einer Aspekt- zu einer Tempuskategorie angelegt (vgl. 2.2.3). Die Semantik der aspektuellen Verbprädikation ist damit nicht von der temporalen Bedeutung des Gesamtsatzes im Sprachgebrauch zu trennen. Traditionelle Ansätze zu Aspekt orientieren sich meist an wahrheitslogischen, intrinsischen, invarianten Ansätzen der Tempusforschung (vgl. Reichenbach 1947; Fabricius-Hansen 1986; Grewendorf 1995). Typologische (vgl. Dahl 1985; Bybee & Dahl 1989; Bybee, Perkins & Pagliuca 1994), kognitive (vgl.

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Evans 2005; Henriksson 2006; Croft 2012), prototypensemantische (vgl. Welke 2005) und vor allem diskursbasierte (vgl. Weinrich 2001) Arbeiten im Bereich der Tempusforschung verstehen Tempora gegen das Invariantenpostulat als polyseme, dynamische Konstruktionen, die keine feste Bedeutung aufweisen, sondern zwischen unterschiedlichen Bedeutungen changieren können. Vor dem Hintergrund der Idee eines deiktischen Zentrums, dem Sprechenden, der in der Interaktionssituation Verweise in temporaler und aspektueller Hinsicht vornimmt, ist Perspektivierung nicht unabhängig vom Sprechenden zu denken (vgl. Henriksson 2006: 21–23; Croft 2012: 37–41; dagegen Leiss 1992: 32–33). Dies gilt nicht nur für Aspektualität, die einen Resultatszustand einer verbalen Prädikation zum Sprechzeitpunkt ausdrückt, sondern auch für Temporalität: Dementsprechend können wir Zeit nicht objektiv mit Sprache wiedergeben. […] Mit der Sprache können wir nun zeitliche Relationen, Zeitbedeutungen erfassen. […] Temporalität ist der subjektive Ausdruck der objektiven Zeit; Temporalität ist durch Sprache wiedergegebene Zeit. Hennig (2006: 34)

Für die gesprochene Sprache ist demnach die Origo zentraler Dreh- und Angelpunkt jeglicher Form der Deixis und auch der Konstruktion von Aspektualität. In einem tatsächlichen Anwendungsbezug existieren keine primitiven Verbsemantiken, die unabhängig von der gesamten Argumentstruktur und der temporalen Deixis analysierbar wären (vgl. dazu auch 3.1.1). Sprachliche Zeichen im Gebrauch existieren nicht als „unmodifizierte Basissätze“ (Leiss 1992: 49). Resultativkonstruktionen, welche beispielsweise mit temporalen Adverbien kookkurrieren, sind aus einer Gebrauchsperspektive nicht als „sekundäre modifizierte Sätze“ (Leiss 1992: 49) zu behandeln, sondern bilden die natürliche graduelle Ontologie sprachlicher Kategorien ab. Die vorliegende Untersuchung versteht Aspektualität und Temporalität als anwendungsbezogene sprachliche Mittel, mit denen ein/e SprecherIn oder SchreiberIn die Konstruktion von Zeit eines Events vornimmt. Dies passiert immer relativ zur Origo als zentralem Ausgangspunkt der Referenz (vgl. 4.1.4.1). Tempus und Aspekt werden dabei als miteinander verbundene graduelle Kategorien im Sinne des Grammatikalisierungspfads nach Bybee, Perkins & Pagliuca (1994) verstanden. Im Rahmen der Auxiliarselektionsforschung spielen Aspekt und Tempus im Gegensatz zu Aktionsart eine Nebenrolle. Aspekt wurde als Steuerungsfaktor innerhalb der Auxiliarselektion bisher nur mit Blick auf syntaktische Telizität von Events behandelt. Besonders häufig wird dies am Beispiel von Bewegungsverben im Niederländischen diskutiert (vgl. Bsp. (13); vgl. auch für das Niederdeutsche Niebaum 1977: 86). Durch die Präpositionalphrase naar huis (dt. ‚nach

Auxiliarselektionsforschung und Telizität | 49

Hause‘) in Bsp. (13) wird das Ereignis syntaktisch und semantisch begrenzt und damit auf grammatisch-eventbezogener Ebene perfektiviert, was den Gebrauch der zijn-Variante bedingt. Im Deutschen spielt syntaktische Telizität bei Bewegungsverben synchron hingegen keine Rolle (vgl. Gillmann 2016: 317). (13) a. nl. Hij heeft/*is nhd. Er hat/ *ist b. nl. Hij is/ ?heeft naar huis nhd. Er ist/ ?hat nach Hause (Aranovich 2007: 11)

lopen gelaufen lopen gelaufen

Im Hinblick auf die Rolle von Tempus in der Auxiliarselektionsforschung findet eine kombinierte Betrachtung von Auxiliarselektion und Perfektentwicklung durch die ausschließliche Konzentration auf die formalen Allo-Varianten haben und sein nur selten statt. Es existieren ausschließlich Forschungen zum Grammatikalisierungsgrad des Perfekts in Abgrenzung zum Präteritum (vgl. Kuroda 1999; Lindstedt 2000; Tagliamonte 2000; Musan 2002; Rothstein 2008; Dammel, Nowak & Schmuck 2010) oder zur Grammementwicklung der einzelnen Perfektauxiliarvarianten (vgl. Grønvik 1986; Keller & Sorace 2003; Legendre 2007; McFadden 2007; Öhl 2009; Gillmann 2016). Nur Smith (2007) stellt in einer kleinen diachronen Untersuchung zur Auxiliarselektion im Mittelhochdeutschen fest, dass die zunehmende Frequenz des Perfekts im Rahmen des im Mittelhochdeutschen einsetzenden Präteritumschwunds23 zur Stabilisierung der formalen Auxiliarselektion und der sie steuernden Faktoren geführt hat. Die zunehmende Type- und Tokenfrequenz des Perfekts führte kognitiv zu einer mentalen Stabilisierung von Form und Funktion der Perfektauxiliarvarianten

|| 23 Mit Blick auf die Gründe für den einsetzenden Präteritumschwund gehen die einschlägigen Arbeiten von einem multifaktoriellen Zusammenspiel aus. Folgende Faktoren spielen für die Perfektexpansion beziehungsweise die Abbauhierarchie des Präteritums eine entscheidende Rolle: (i) Morphologische Prinzipien, insbesondere die Konjugationsklassenzugehörigkeit (vgl. Dammel 2011; Sapp 2009: 427; Amft 2013: 196), e-Apokope (vgl. Reis 1891: 13; Behagel 1924: VI) und Personalform (Schwund zuerst in 2. P.Sg.; vgl. Hauser-Suida & Hoppe-Beugel 1972: 103; Latzel 1977: 93; Sapp 2009: 431; Amft 2013: 218), (ii) Token- und Typefrequenz (vgl. Harnisch 1997: 123; Dammel, Nowak & Schmuck 2010: 350–353), (iii) Syntaktische Klammerbildung (vgl. Sieberg 2002: 248–249) und kognitive Ökonomie (vgl. Sieberg 1984: 253–256; Abraham & Conradie 2001: 60–66) sowie (iv) Verbsemantik (vgl. Harnisch 1997: 118–119). Daneben haben auch (v) areale (vgl. Lindgren 1957), (vi) soziolinguistische (vgl. Gersbach 1982) und (vii) medialpragmatische Faktoren (vgl. Jackson 1959: 69; Latzel 1977: 104; Hennig 2000: 179–188; Duden 2006: 520; Amft 2013: 312) einen Einfluss auf den Präteritumschwund.

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und ihren semantischen und funktionalen Steuerungsfaktoren. Wenn nach Smith (2007) von einem Zusammenhang zwischen der funktionalen Entwicklung des Perfekttempus und Formen der Auxiliarvariation- beziehungsweise Auxiliarstabilisierung ausgegangen werden kann, muss für die Untersuchung der angefangen-Konstruktion auch die Perfekt- bzw. Präteritumfunktion im niederdeutschen Untersuchungsgebiet in den Blick genommen werden. Die Diskussion um die rezente Funktion des Perfekts im Deutschen reicht von einer reinen Aspekthypothese (vgl. Brinkmann 1971: 338–342) über eine Ambiguitätshypothese, in welcher das Perfekt als Kategorie zwischen Tempus und Aspekt definiert wird (vgl. Ehrich & Vater 1989; Ehrich 1992; Musan 2002), bis hin zu einer strikten Tempushypothese (vgl. Fabricius-Hansen 1994; Eisenberg 2006; Rothstein 2008). Im kontrastiven Vergleich der germanischen Sprachen Niederländisch, Englisch und Schwedisch zeigen Dammel, Nowak & Schmuck (2010) für das deutsche Perfekt den stärksten Grammatikalisierungsgrad zum Vergangenheitstempus. Eine einfache Übertragbarkeit typologischer Ergebnisse auf synchrone regionale Varietäten ist jedoch nicht ohne Weiteres möglich und stellt immer noch ein dringendes Forschungsdesiderat dar (vgl. auch Girnth 2000: 216–219). Auch der Präteritumschwund wurde diachron und synchron in erster Linie für den oberdeutschen Sprachraum untersucht (v.a. Reis 1910; Dentler 1997; Lindgren 1957, 106-126; Gersbach 1982; Solms 1984; Oubouzar 1974; Jörg 1976; Maiwald 2002; Sapps 2009; Amft 2013). Für dieses Gebiet wurde das Perfekt als Erzähltempus analysiert, während das Präteritum zum Hintergrundtempus refunktionalisiert ist (vgl. Maiwald 2004: 325). Unter Einbezug einer gesamtdeutschen regionalen Varietätenperspektive konstatiert Lindgren (1957: 44) für das Nieder-, Mittel- und Oberdeutsche eine Zunahme analytischer Tempusformen von Norden nach Süden.24 Auch im Zuge neuester Untersuchungen zum

|| 24 Aus diachroner Sicht setzt die Perfektexpansion im mittelniederdeutschen Sprachraum später als im oberdeutschen Sprachraum ein und verläuft insgesamt langsamer (vgl. Gabrielsson 1983). Das Tempus-Aspekt-System des Mittelniederdeutschen mit seiner semantischfunktionalen Perfekt-Präteritum-Opposition bleibt lange, mindestens bis ins 16. Jahrhundert, erhalten. Im Niederdeutschen des 15./16. Jahrhunderts wird das Perfekt noch stärker in dialogischen, sprecherbezogenen Textpassagen verwendet, während es im Hochdeutschen bereits in monologische, nicht-sprecherbezogene Textteile vordringt. Erst im Rahmen des Schreibsprachenwechsels ab dem 15. Jahrhundert vom Mittelniederdeutschen zum Neuhochdeutschen nimmt der Einfluss des Hochdeutschen auf das Niederdeutsche zu (vgl. Gabrielsson 1983: 122). Erklärungsansätze hierfür sind zum einen die frühen lautlichen und morphologischen Vereinfachungen in den niederdeutschen Verbalparadigmen, die zu einer einfacheren Memorierung der Formen im Spracherwerb führten (vgl. Kaiblinger 1929/30: 275), oder das Fehlen der e-

Methoden der Auxiliarselektionsforschung | 51

Präteritumschwund kann das nord-niederdeutsche Sprachgebiet allgemein als präteritalstärker als der ober- oder mitteldeutsche Sprachraum eingestuft werden (vgl. Fischer 2015, 2018), wodurch eine geringere Frequenz und Funktionalisierung des Perfekts auch im westfälischen Sprachgebiet erwartet wird. Die Vernachlässigung von Tempus und Aspekt im Rahmen der Auxiliarselektionsforschung ist in erster Linie durch die Fokussierung auf die AlloVarianten sein und haben und der generellen Vernachlässigung eines semiotischen Ansatzes zur Untersuchung des ganzheitlichen Tempus-Aspekt-Zeichens bedingt. Dies hängt auch mit der überwiegend generativen Ausrichtung auf Auxiliarselektion und der Annahme semantischer Primitiva zusammen. Ein zeichensemiotischer Ansatz könnte die Parameter Tempus und Aspekt und ihre Rolle in der Auxiliarvariation stärker herausarbeiten (vgl. 3.1.1).

2.3 Methoden der Auxiliarselektionsforschung Neben der Frage, wie zentrale Steuerungsfaktoren den Gebrauch der [_sein(AUX)_ angefangen(PP)_]-Konstruktion bestimmen, liegt ein weiterer Schwerpunkt der Arbeit auf dem mixed-methods-Ansatz zur Untersuchung der Auxiliarvariation mit sein und haben. In methodischer Hinsicht konzentrierte sich die einschlägige Auxiliarselektionsforschung bisher vornehmlich auf schriftliche Korpora (vgl. Grønvik 1986; Sorace 2000; Öhl 2009; Gillmann 2016), elizitierte Grammatikalitätsurteile (vgl. Keller & Sorace 2003; Hinze & Köpcke 2007) oder – vor allem im Bereich der generativen Grammatik – auf introspektive Beispiele (vgl. Burzio 1986; Perlmutter 1989). Dass vor allem schriftliche Korpora für die Untersuchung von Auxiliarselektion herangezogen werden, liegt unter anderem am überwiegend diachronen Forschungsinteresse in diesem Bereich. Die schriftsprachliche Medialität spielt dabei jedoch keine Rolle für die Untersuchung der sprachlichen Zeichen. Auxiliarselektion wird unabhängig von den jeweiligen Gebrauchskonditionen analysiert. Die einschlägige Methodik im Bereich der Auxiliarselektionsforschung entspricht auch der Präferenz der allgemeinen Regionalsyntaxforschung für indirekte Erhebungsmethoden (vgl. für einen Überblick Fleischer, Kasper & Lenz 2012; Glaser 1997). Dies ist zum einen durch die statistische Belastbarkeit der Ergebnisse begründet (vgl. Berg, Höder & Langhanke 2012: 274), zum anderen, um klare areal-horizontale Verteilungen im Sinne der Raumbildung syntakti-

|| Apokope (vgl. Birkenes 2014: 136). Die morphologische Vereinfachung trifft jedoch nicht auf das westfälische Sprachgebiet zu (vgl. Kaiblinger 1929/30: 276).

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scher Konstruktionen aufzeigen zu können (vgl. Glaser 1997: 13). Drittens führt der zeitökonomische Faktor, der mit der Erhebung, Aufbereitung und Auswertung gesprochensprachlicher Daten einhergeht, zum vielfachen Ausschluss dieses Datentyps (vgl. Glaser 2000: 260; Patocka 1989: 51). Auch wird häufig die Problematik einer gezielten Untersuchung syntaktischer Konstruktionen in alltäglichen Gesprächen aufgrund der geringen Frequenzen und der Heterogenität des gesprochensprachlichen Materials angeführt (vgl. Lenz 2008: 163). Der statistische Einwand gegen die Untersuchung des mündlichen Sprachgebrauchs hat durchaus Berechtigung (siehe auch Abschnitt 4.1.3). Jedoch sind Elizitationsverfahren, welche die Akzeptabilität syntaktischer Strukturen mithilfe vorgegebener Beispielbatterien testen, in vielerlei Hinsicht problematisch. Zunächst können Grammatikalitätsurteile wenig über den tatsächlichen Sprachgebrauch und gruppenspezifische Sprachnormen aussagen, da Akzeptabilität nicht mit dem Gebrauch gleichzusetzen ist (vgl. Wölck 1980: 26–28). Zum anderen können sie keine Aussage über funktionale und kontextsensitive Differenzierungen von Varianten machen, sondern meist nur die Formseite des sprachlichen Zeichens betrachten (vgl. Glaser 2000: 270). Neben der Dominanz indirekter Erhebungsmethoden in der synchronen und diachronen Auxiliarselektionsforschung wurden Untersuchungen zur Variation der Perfektauxiliare sein und haben in psycholinguistischen und neurowissenschaftlichen Studien in zwei Richtungen unternommen: (1) Vor dem Hintergrund der generativen Grammatiktheorie zum Nachweis einer gesplitteten Intransitivität in der Kognition (vgl. Friedmann et al. 2008; Shetreet, Friedmann & Hadar 2010; Romagno et al. 2012) oder (2) zum Nachweis eines „kognitiven Fingerabdrucks“ des in 2.2.2 vorgestellten SIH-Modells nach Keller & Sorace (2003) (vgl. Bard, Frenck-Mestre & Sorace 2010; Sorace 2015). Bard, Frenck-Mestre & Sorace (2010) untersuchten beispielsweise, inwiefern die SIHHierarchie als kognitiv realistisches Modell gefasst werden kann. Dazu führten sie eine Lesestudie mit 16 italienischen MuttersprachlerInnen zwischen 20 und 24 Jahren durch, in welcher sie die Sprachverarbeitung 32 monadisch intransitiver Verben testeten. Im Fokus stand die Frage nach graduell abweichenden Lesezeiten und der grammatiktheoretischen Verarbeitung von Auxiliar und Partizip im Spannungsfeld zwischen konstruktivistischer und projektionistischer Theorie. Operationalisiert wurde die grammatiktheoretische Fragestellung in Form früher und später Effekte auf die Lesezeit. Die Ergebnisse der Studie belegten eine kontextsensitive, konstruktivistische Verarbeitung der Auxiliarvarianten, welche in einem weiteren Eye-Tracking-Experiment repliziert werden konnte (vgl. Sorace 2015: 32). Daneben wurden drei weitere Ergebnisse auf der Basis später Effekte gemessen: (1) Intermediäre Verbklassen wurden langsamer

Zusammenfassung | 53

gelesen als Kernklassen, (2) die Lesezeiten für Kernverben mit ‚nicht-korrektem‘ Auxiliar waren signifikant langsamer als mit ‚korrektem‘ und (3) unergative Verben wurden signifikant länger gelesen als unakkusative Verben. Die Auxiliarselektion im deutschen Perfekt wurde vornehmlich mithilfe von EEG-Studien untersucht (vgl. Roehm, Sorace & Bornkessel-Schlesewksy 2010; Roehm, Sorace & Bornkessel-Schlesewsky 2013; vgl. methodisch einführend Kutas, van Petten & Kluender 2010). Hier konnte gezeigt werden, dass Auxiliarverletzungen mit unakkusativen und unergativen Verbklassen ein biphasisches N400-P600 Muster erzeugten, welches mit Prozessierungsschwierigkeiten auf der syntaktischen (P600) beziehungsweise semantischen (N400) Ebene assoziiert wird. Die Ergebnisse der Studie von Roehm, Sorace & BornkesselSchlesewsky (2013: 20–26) lassen sich wie folgt zusammenfassen: (i) Auxiliarselektion ist bei kompositionaler Telizität prozessierungsaufwändiger als bei lexikalischer (z.B. einschlafen vs. anfangen) und (ii) innerhalb der unpräfigierten change of state-Verben (z.B. rosten) wurde kein Unterschied in der Verarbeitung der haben- oder sein-Variante festgestellt. Zusammenfassend kann für die methodische Ausrichtung der Auxiliarselektionsforschung ein Übergewicht introspektiver, elizitierender Methoden und mit Blick auf Sprachgebrauchsdaten eine ausschließliche Konzentration auf schriftliche Korpora konstatiert werden. Untersuchungen zur Auxiliarselektion innerhalb der kognitionslinguistischen Forschungsdisziplin stehen noch am Anfang. Untersuchungen zur Auxiliarselektion in authentischen (regionalen) Interaktionen hingegen fehlen gänzlich. Auch medialitätsdifferenzierende Ansätze zwischen Interaktion und Schrift wurden im Bereich der Auxiliarselektionsforschung bisher nicht unternommen. Aufgrund der methodischen Einseitigkeit der Auxiliarselektionsforschung strebt die vorliegende Untersuchung einen mixed-methods-Ansatz im Sinne einer Kombination aus sprachgebrauchsund sprachverarbeitungsbezogenen Methoden an (vgl. Übersicht in 1.1).

2.4 Zusammenfassung Der Forschungsstand in Kap. 2 machte deutlich, dass die westfälische [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion ein Desiderat der linguistischen Forschung insbesondere der arealen Auxiliarselektionsforschung darstellt. Die standardabweichende Auxiliarselektion bei diesem Phänomen betrifft vornehmlich telische Phasenverben wie angefangen, begonnen oder aufgehört, die zwischen transitiver und intransitiver Argumentstruktur oszillieren. Neben dem Faktor Telizität wurde auch die sprachhistorische Verwandtschaft des westniederdeutschen Verbreitungsgebiets zum Niederländischen als sprachkontaktbe-

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dingter Erklärungsfaktor diskutiert, da im Niederländischen synchron ausschließlich die zijn-Variante im Standard konventionalisiert ist. Allgemein wird Regionalsyntax in Anlehnung an das Modell von Auer (2004) als arealer Subtyp der Syntax gesprochener Sprache verstanden, der medialitätsbedingte Transferprozesse mit dem (regionalen) Schriftstandard aufweisen kann. In Abschnitt 2.2 wurde zunächst die Definition von aktionsartbasierter Telizität und ihre Auswirkung auf die synchrone und diachrone Auxiliarselektion im Deutschen und Niederländischen dargestellt. Abschnitt 2.2.1 definierte Telizität als einen inhärenten Kulminationspunkt in der Aktionsart eines Verbs. Phasenverben wie angefangen denotieren den Anfangspunkt eines Vorgangs oder einer Handlung, changieren jedoch zwischen punktuellem und phasenbezogenem Zustandswechsel. Abschnitt 2.2.2 führte in die Rolle der Telizität im synchronen, typologischen SIH-Modell der Auxiliarselektionsforschung nach Keller & Sorace (2003) ein. Während transitive Perfektkonstruktionen im deutschen Standard ausschließlich mit dem haben-Auxiliar gebildet werden, ist das gesplittete Intransitivsystem durch die Parameter Telizität und Agentivität geprägt. Je telischer und weniger agentiv ein intransitives Verb ist, desto eher wird es mit dem sein-Auxiliar im Perfekt gebildet. Je atelischer und agentiver ein intransitives Verb, desto eher wird es mit dem haben-Auxiliar konstruiert. Dabei zeigte sich im typologischen Vergleich, dass sich das niederländische im Vergleich zum deutschen Auxiliarsystem durch ein weitreichenderes Telizitätsprinzip und damit ein produktiveres sein-Perfekt auszeichnet. In Abschnitt 2.2.3 wurden die sprachhistorischen Grundlagen für die Unterschiede in der deutschen und niederländischen Auxiliarselektion erarbeitet. Dazu wurde zunächst eine allgemeine Einführung in die Grammementwicklung von haben und sein im Deutschen und die Rolle telischer Verben in diesem Prozess gegeben. Im Zuge konversationeller Implikaturen und den Prozessen der Dekategorisierung, Desemantisierung und Extension haben sich aus aspektuellen Resultativkonstruktionen vergangenheitsbezogene Perfektkonstruktionen entwickelt. Daran anschließend wurde mit Blick auf das Untersuchungsphänomen der telizitätsgesteuerte Wechsel von nl. hebben (dt. ‚haben‘) nach nl. zijn (dt. ‚sein‘) im Mittelniederländischen diskutiert. Dieser Auxiliarwechsel ist nach Kern (1912) in erster Linie durch die systematische Stärkung der Kategorie Telizität zuungunsten des Faktors Transitivität bedingt. Telische Verben wie nl. beginnen (dt. ‚anfangen, beginnen‘) werden daher heute im niederländischen Standard mit zijn konstruiert. Die Entwicklung im deutschen Standardsystem ist durch die Stärkung des Transitivitätsparameters diametral verlaufen, sodass synchron die haben-Variante als Standardvariante kodifiziert ist. Die Arbeiten von de Rooij (1981, 1988) zeigten darüber hinaus eine zunehmende Standar-

Zusammenfassung | 55

dorientierung niederländischer Dialektvarietäten bei diesen Verben hin zur zijnVariante. Daran angelehnt wird in dieser Arbeit die Entwicklung westfälischer und emsländischer Dialektvarietäten hin zur standarddeutschen habenVariante hypothetisch angenommen. In Abschnitt 2.2.4 wurden neben dem Telizitätsfaktor weitere zentrale Steuerungsfaktoren der Auxiliarselektion diskutiert: (i) Transitivität, (ii) Resultativität und Zustandspassiv sowie (iii) Aspekt und Tempus. Angelehnt an Hopper & Thompson (1980) und Næss (2007) wird (In-)Transitivität in dieser Untersuchung als graduelle Kategorie verstanden, welche nach prototypischen formalen, semantischen aber auch pragmatischen Merkmalen organisiert ist. In Anlehnung an die sprachhistorischen Ausführungen wird zudem ein besonderes Augenmerk auf dem Diathese-Aspekt-Tempus-Interface und damit dem Zusammenhang zwischen Zustandspassiv, Resultativum und Perfekttempus liegen. Als Resultativkonstruktion werden jene Konstruktionen gefasst, die einen Zustand eines unbelebten Subjekts aus einem vorausgehenden Vorgang abbilden. Konstruktionen, die einen Zustand eines unbelebten affizierten Subjekts aus einer vorausgehenden Handlung agensabgewandt fokussieren, werden als Zustandspassiv klassifiziert. Tempus und Aspekt spielten in der einschlägigen Auxiliarselektionsforschung bisher eine untergeordnete Rolle. Nur der Zusammenhang zwischen Perfektexpansion und der Stabilisierung formaler Perfektauxiliarselektion im Mittelhochdeutschen von Smith (2007) gibt erste Hinweise auf einen Einfluss der Tempusentwicklung auf die formale Auxiliarbildung. Abschnitt 2.3. stellte schließlich die einschlägigen Methoden im Bereich der Auxiliarselektionsforschung vor, welche sich vornehmlich auf experimentelle Grammatikalitätsurteile, Introspektion und die Analyse schriftlicher Sprachgebrauchsdaten konzentrieren. Eine systematische Erhebung von Auxiliarvariation in regionalen, gesprochensprachlichen Varietäten, aber auch eine medialitätsdifferenzierende Untersuchung zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sind dringende Desiderate auf diesem Forschungsgebiet. Zudem wurden bisher nur vereinzelte Arbeiten im Bereich der kognitionslinguistischen Untersuchung von Auxiliarselektion durchgeführt. Die Verbindung der Forschungsdisziplinen Variationslinguistik, Gesprächs- und Textlinguistik und Psycholinguistik bilden daher einen aussichtsreichen Ansatz zum besseren Verständnis des Zusammenhangs zwischen Sprachgebrauch und Sprachverarbeitung von arealer Auxiliarselektion. Die vorliegende Untersuchung möchte die bestehende Auxiliarselektionsforschung zusammengefasst mit einem (i) arealniederdeutschen, (ii) funktional-anwendungsbezogenen und (iii) methodischen mixed-methods-Ansatz sowohl theoretisch als auch methodisch erweitern. Die theoretischen Grundlagen der Arbeit werden dafür in Kap. 3 vorgestellt.

3 Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation Abgesehen von einem fehlenden funktionalen Konzept der Auxiliarselektionsforschung und der methodisch einseitigen Konzentration auf Elizitationen oder schriftliche Sprachgebrauchsdaten, wird auch der Terminus der Auxiliarselektion an sich und seine Bindung an die generative Sprachtheorie in den einschlägigen Arbeiten nur selten reflektiert (vgl. Chomsky 1965: 119/123 für den Begriff der selection in der generativen Syntaxtheorie). Da die vorliegende Arbeit einen gebrauchsbasiert-konstruktionsgrammatischen und variationslinguistischen Ansatz vertritt, ersetzt sie den Terminus der Auxiliarselektion im Folgenden durch die Begriffe der Auxiliarkonstruktion und Auxiliarvariation.25 Der Terminus der Auxiliarkonstruktion unterstreicht den semiotisch-konstruktionsgrammatischen Zugang der Untersuchung. Der Terminus der Auxiliarvariation betont die Bestrebungen, Fragen (arealer) Variation mit der Auxiliarselektionsforschung zu verbinden. Ziel von Kap. 3 ist es, diese beiden Begriffe für die Analyse der regionalen [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion zu definieren. In Abschnitt 3.1 wird zunächst das der Arbeit zugrundeliegende Sprach- und Grammatiktheorieverständnis der gebrauchsbasierten Konstruktionsgrammatik vorgestellt. Die Untersuchung versteht sprachliche Zeichen als Form-Bedeutungspaare, die in strukturierten Netzwerken organisiert sind und deren Bedeutung sich kontextsensitiv aus kommunikativen Handlungen entwickelt (Abschnitt 3.1.1). Ferner fungiert auch die Medialität als unabdingbarer Bestandteil eines sprachlichen Zeichens. Der handlungsbezogene Bedeutungsbegriff und der Einbezug der Medialität sprachlicher Zeichen manifestiert den Unterschied zu bereits existierenden gebrauchsbasierten Ansätzen der Auxiliarselektionsforschung (vgl. Hinze & Köpcke 2007; Gillmann 2016). Gebrauchsbasierte Ansätze unterscheiden sich ferner in der Methodik, mit der sie den theoretischen Konstruktionsbegriff und damit syntaktische Repräsentationen im Sprachwissen operationalisieren. Abschnitt 3.1.2 stellt die unterschiedlichen methodischen Richtungen innerhalb der Konstruktionsgrammatik vor. Korpuslinguistische Methoden rekonstruieren mentale Repräsentationen auf Basis der Idee einer flachen Ontologie zwischen Sprachgebrauch und Kogni-

|| 25 Der Terminus Auxiliarselektion wird im Folgenden nur noch verwendet, wenn auf ältere Arbeiten vor dem Hintergrund einer generativen Sprachtheorie verwiesen wird oder sich die zitierten Arbeiten selbst im entsprechenden Forschungsfeld verorten. https://doi.org/10.1515/9783110708875-003

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tion entweder (i) handlungsbezogen qualitativ oder (ii) frequenzbezogen quantitativ (vgl. Barlow & Kemmer 2000; Bybee 2010). Sprachverarbeitungsbasierte Methodiken rekonstruieren syntaktische Repräsentationen hingegen auf Basis automatisierter und routinisierter Verarbeitungszeiten im Rahmen psycholinguistischer Experimente. Die vorliegende Untersuchung erforscht den Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und kognitiven Repräsentationen im Rahmen einer kombinierten sprachgebrauchs- und sprachverarbeitungsbasierten Methodik im Sinne eines mixed-methods-Ansatzes. Im zweiten Teil von Kap. 3 wird der Variationsbegriff, welcher der Untersuchung der regionalsyntaktischen angefangen-Variation mit sein und haben zugrunde liegt, eingeführt (Abschnitt 3.2). Abschnitt 3.2.1 beschreibt zunächst die Rolle von Variation und Alternanz innerhalb der Konstruktionsgrammatik. Hierzu werden vor allem die Konzepte der Allo-Konstruktion nach Cappelle (2006) und der Diakonstruktion nach Höder (2012) diskutiert. Abschnitt 3.2.2 fragt nach der Übertragbarkeit des phonologischen Variationskonzepts nach Labov (1966b) auf die syntaktische Ebene. Mit Bezug auf den Sprachgebrauch wird dazu das Konzept funktionaler Äquivalenz nach Lavandera (1978) vorgestellt und auf seine Operationalisierbarkeit im Sprachhandeln diskutiert. Davon abgrenzend präsentiert Abschnitt 3.2.2.2 den Variationsbegriff in der Sprachverarbeitung als das Ergebnis relativer variierender Reaktions- oder Verarbeitungszeiten, die Aussagen über das individuelle entrenchment von Konstruktionen zulassen. Abschnitt 3.3 fasst die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Untersuchung zusammen.

3.1 Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik In Abgrenzung zu den meisten Arbeiten in der Auxiliarselektionsforschung basiert das Sprachverständnis der vorliegenden Arbeit auf dem gebrauchsbasierten Ansatz der Konstruktionsgrammatik (usage-based construction grammar (CxG)). Dieser wird in Abschnitt 3.1. als grammatiktheoretische Grundlage zur Untersuchung der westfälischen [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion vorgestellt. Dabei werden Auxiliarkonstruktionen nicht als das Ergebnis von generativen Auxiliarselektionprozessen, sondern als semiotische Form-Bedeutungspaare innerhalb eines strukturierten kognitiven Netzwerks beschrieben (vgl. 3.1.1). Ferner zeigt Abschnitt 3.1.2 den theoretischen Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und (syntaktischer) Repräsentation in der einschlägigen CxG-Forschung auf und erarbeitet, wie eine Kombination aus handlungstheoretischen und kognitionslinguistischen Ansätzen aussehen könnte.

58 | Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation

3.1.1 Konstruktionen und sprachliches Netzwerk Die CxG ist als Zusammenschluss von Theorien zu bezeichnen, der sich vornehmlich in zwei grundlegenden Richtungen unterscheidet (vgl. einführend Fischer & Stefanowitsch 2006; Hoffmann 2013): (1) Der unifikationsbasiertformale Ansatz beziehungsweise die sogenannte Berkeley-Constuction Grammar (vgl. Fillmore 1982; Fillmore 1968; Fillmore 2013) und (2) der kognitionsorientiert-funktionalistische CxG-Ansatz26 (vgl. Langacker 1987; Goldberg 1995, 2006; Croft 2001). Die kognitionsorientiert-funktionalistische Ausrichtung basiert stärker als der formalistische Ansatz auf einem gebrauchsorientierten Sprachverständnis und bindet bewusst psycholinguistische Erkenntnisse der kognitiven Organisation von Sprache in ihre Theorie ein (usage-based; vgl. Bybee 2010: 1–14). Zudem zeigt diese Theorierichtung in den letzten Jahren eine verstärkte Hinwendung zu Untersuchungsfragen der Sozio- und Variationslinguistik (vgl. Leino & Östman 2005; Östman & Trousdale 2013; Höder 2012, 2014a; Geeraerts & Kristiansen 2015; Boas 2018; Weber 2018). Da diese Forschungsrichtung zentral für die vorliegende Arbeit ist, wird der theoretische Fokus im Folgenden allein auf der gebrauchsbasierten CxG liegen. Die wichtigsten Grundannahmen der CxG-Theorie lassen sich in folgenden Schlagworten zusammenfassen: (i) Symbolisch-semiotische Organisation der Konstruktion, (ii) Input-Orientierung, sowie (iii) die systemische Annahme eines monostratalen, taxonomischen Sprachmodells, das als Lexikon-SyntaxKontinuum verstanden wird. Wie der Name der Theorie nahelegt, geht die CxG von Konstruktionen als Basiseinheiten grammatischer Repräsentationen in der Kognition aus. Die Frage, was genau unter einer Konstruktion in der CxG zu verstehen ist, variiert innerhalb der einschlägigen Untersuchungen (vgl. Definitionen (1)–(4)):

|| 26 Entscheidende Unterschiede zwischen unifikationsbasierten und kognitiv-sprachgebrauchsbasierten CxG-Ansätzen lassen sich an vier Punkten festmachen: (1) Formalismus, (2) Typen von Vererbungsbeziehungen, (3) Semantikverständnis und (4) Grad an Fokussierung des Sprachgebrauchs und kognitionspsychologischen Erkenntnissen. Aus Gründen der Übersichtlichkeit und weil diese Ansätze der CxG für die vorliegende Untersuchung keine Relevanz haben, wird von einer detaillierten Darstellung der mit dem unifikationsbasierten Ansatz verwandten Sign-Based-Construction Grammer sowie der computationellen Ansätze der Embodied Construction Grammar und der Fluid Construction Grammar abgesehen. Für eine einführende Lektüre sei das Handbuch von Hoffmann (2013) empfohlen.

Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik | 59

Definition (1): Each construction will be a forming – meaning pair (F, M) where F is a set of conditions on syntactic and phonological form and M is a set of conditions on meaning and use. (Lakoff 1987: 467) Definition (2): C is a CONSTRUCTION ifdef C is a form-meaning pair such that some aspect of Fi or some aspect of Si is not strictly predictable from C’s component parts or from other previously established constructions. (Goldberg 1995: 4) Definition (3): All levels of grammatical analysis involve constructions: learned pairings of form with semantic or discourse-function, including morphemes or words, idioms, partially lexically filled and fully general phrasal patterns. (Goldberg 2006: 5) Definition (4): Grammatical constructions in construction grammar, like the lexicon in other syntactic theories, consist of pairings of form and meaning that are at least partially arbitrary. […] Thus, constructions are fundamentally SYMBOLIC units […] The term ‚meaning‘ is intended to represent all of the CONVENTIONALIZED aspects of a construction’s function. (Croft 2001: 18–19; [Hervorhebung i.O.])

Konstruktionen sind symbolische27 konventionalisierte sprachliche Zeichen28, sogenannte Form-Bedeutungspaare, welche taxonomisch in Kognitionsnetz-

|| 27 In seiner semiotischen Zeichentheorie versteht Peirce (1998: 43–44) das Symbol als ein „echte[s] Zeichen“: „Ein Symbol ist als ein Zeichen definiert, das geeignet ist, als ein solches zu dienen, weil es so interpretiert wird. […] Die Sprache und alles abstrakte Denken, wie es zu einem Geist gehört, der in Wörtern denkt, sind von symbolischer Art. […] Ein Symbol ist die einzige Art von Zeichen, die eine Argumentation sein kann“. Eine Argumentation ist im Peirce’schen Sinne gleichbedeutend mit der synchronen Interpretation eines Zeichens in einer spezifischen historischen Gesellschaft (vgl. Peirce 1998: 37). 28 In der einschlägigen konstruktionsgrammatischen Forschungsliteratur werden mit Blick auf den Konstruktionsbegriff wiederholt Analogien zu Saussures Zeichenbegriff hergestellt. Hier ist m.E. eine schärfere Differenzierung nötig, da die Konstitution des sprachlichen Zeichens in der CxG nicht ohne Weiteres mit den Grundzügen eines strukturalistischen Sprachverständnisses kompatibel ist (u.a. strukturalistisches Verständnis eines homogenen, abgeschlossenen Systems; kein Zusammenhang von Sprachsystem und Individuum; das strukturalistische Sprachsystem existiert unabhängig von Sprachwandel und damit dem Sprachgebrauch). Nach Krämer (2002: 98–99) überwiegt in Saussures Cours de linguistique générale ein „logischgenealogische[r] Vorrang der Sprache gegenüber dem Sprechen“ sowie die „Marginalisierung der Seite des Sprachgebrauchs“ (vgl. auch Taylor 2003: 38–42). Es muss daher eine stärkere Abgrenzung zwischen dem sprachlichen Zeichen im homogenen strukturalistischen System und dem gebrauchsbasierten, semantisch-funktionalen sprachlichen Zeichen im Konstruktikon der CxG vorgenommen werden. Eine Möglichkeit könnte der weiterentwickelte Zeichenbegriff Saussures in den posthum veröffentlichten Theorieskizzen Notes sein (vgl. Jäger 2008; Schneider 2014). Hier wird das Sprachzeichen (‚Sème‘) „als Element eines assoziativen Gedächtnisnetzwerkes (‚Parasème‘) konzeptualisiert […], das ohne seine Prozessierung im Diskurs (‚Aposème‘) deshalb nicht gedacht werden könnte, weil der Diskurs der Ort ist, dem sich Konstitution und Transformation des parasemischen Netzwerkes verdanken“ (Jäger 2008: 51).

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werken gespeichert und in Form von Knoten hierarchisiert sind (vgl. Fischer & Stefanowitsch 2006: 7). Abb. 7 zeigt die Darstellung einer Konstruktion in ihrer semiotischen Organisation nach Croft (2001: 18). Die symbolische Struktur einer Konstruktionseinheit ist dabei nicht allein durch die Form bestimmt, sondern vor allem durch semantische, pragmatische und diskursfunktionale Merkmale auf der (konventionellen) Bedeutungsseite. Konstruktion Phonologische Merkmale Morphologische Merkmale Syntaktische Merkmale

Form

Symbolischer Korrespondenzlink Semantische Merkmale Pragmatische Merkmale Diskursfunktionale Merkmale

(Konventionelle) Bedeutung

Abb. 7: Konstruktion als Form-Bedeutungspaar nach Croft (2001)

Wie die unterschiedlichen Definitionen zeigen, unterliegt die Konstruktionsdefinition bei Goldberg (1995, 2006) einem Wandel. Während ihr Konstruktionsverständnis von 1995 (Def. 2) noch stark auf die Paradigmen der Idiomatizität und Nicht-Kompositionalität29 zugeschnitten ist (vgl. hier den Einfluss durch Fillmore, Kay & O’Connor 1988), kennzeichnet die Konstruktionsdefinition von

|| Der Begriff des Aposèmes berücksichtigt die parole und damit die Materialität und Prozeduralität eines Zeichens im Gegensatz zum traditionellen Zeichenbegriff. 29 Die Zurückweisung des Kompositionalitätsprinzips erinnert an Lakoffs frühe Anhängerschaft der Gestaltpsychologie, „die davon ausgeht, dass unsere Wahrnehmung entlang komplexer Ganzheiten verlaufe und durch das Prinzip der Übersummativität gesteuert“ wird (Schröder 2012: 31). Auch in der rezenten Forschung wird der Ansatz der idiomatischen, nichtkompositionellen Konstruktion in einigen Bereichen verstärkt vertreten (vgl. Stefanowitsch 2009). Problematisch an diesen Ansätzen ist m.E., dass sie durch die eingeschränkte Definition von Konstruktion (i) für kompositionelle Einheiten auf Begrifflichkeiten anderer Theorien zurückgreifen müssen (z.B. den Begriff des Satzmusters bei Stefanowitsch 2009: 569) und (ii) Gefahr laufen, den Phänomenbereich der CxG zu stark einzuschränken, obwohl dies freilich nicht intendiert zu sein scheint (vgl. Stefanowitsch 2009: 570). Aus pragmatischer Sicht ist das Kriterium der Kompositionalität nur dann als hinreichendes Kriterium zu verstehen, wenn ein enger Begriff von Semantik angelegt wird. Im tatsächlichen Sprachgebrauch kann es „keine vollständig kompositionellen sprachlichen Ausdrücke geben […], da immer zumindest pragmatische Informationen auf nicht-vorhersagbare Art hinzutreten“ (Imo 2015: 570).

Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik | 61

2006 (Def. 3) ein ausgeprägteres pragmatisches Postulat zuungunsten des Kompositionalitätsprinzips. Das pragmatische Postulat macht deutlich, dass unter dem Bedeutungspol des sprachlichen Zeichens nicht alleine semantische, sondern auch pragmatische und gebrauchsbedingte Kriterien gefasst werden (z.B. sequenzielle Realisierung, Gesten etc.). In Abgrenzung zu formalen generativen Ansätzen liegt der Fokus der gebrauchsbasierten CxG auf der Semantik von Konstruktionen, weshalb Fragen zu Polysemie oder Argumentstrukturen das Forschungsfeld dominieren. Die zentralen theoretischen Annahmen gebrauchsbasierter kognitiver Ansätze wie der CxG können nach Tomasello (2009: 69) in zwei Aphorismen zusammengefasst werden: (1) Bedeutung ist Gebrauch (meaning is use) und (2) kognitive Strukturen emergieren aus dem Sprachgebrauch (structure emerges from use). Sprache wird in der CxG damit als Phänomen einer „Zwei-WeltenOntologie“ (vgl. Krämer 2002: 323) angesehen, das zugleich kognitiv („Sprache als mental repräsentierte Struktur“) als auch sprachgebrauchsbasiert („Sprache als Handlung“) theoretisch gefasst und analysiert wird. Zunächst nimmt der Bedeutung ist Gebrauch-Aphorismus an, dass sich die Bedeutung sprachlicher Zeichen aus der sozialen Interaktion heraus emergent entwickelt und damit in erster Linie durch (Sprach-)Erfahrungen geformt wird (vgl. Langacker 1999: 2, 2008: 17; Goldberg 2006: 12–15). Mit dem Einbezug funktionaler handlungsbezogener Eigenschaften eines sprachlichen Zeichens ist auch eine spezifische Auffassung von Semantik verbunden, die analog zum Sprachspiel von Wittgenstein (vgl. Wittgenstein 2017: § 43) oder der Bedeutungskonstitution in der Interaktion verstanden werden kann (vgl. Kallmeyer 1981: 90; Deppermann 2006: 12; vgl. auch meaning potential bei Linell 2009: 99). Bedeutung wird nicht als logisches, wahrheitskonditionales Phänomen, sondern als soziosemiotisches Produkt definiert. In handlungszentrierten Ansätzen wie der Konversationanalyse oder der Interaktionalen Linguistik (vgl. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974; Selting & Couper-Kuhlen 2000) bilden sich sprachliche Zeichen stets aus sozialen Handlungszusammenhängen heraus und müssen in diesem Sinne in ihrer Funktionalität als sogenannte sprachlich-kommunikative Praktiken kontextsensitiv in ihrer Personen-, Objekt- und Materialitätbezogenheit analysiert werden (vgl. Deppermann, Feilke & Linke 2016: 4–8). Praktiken werden nach Deppermann, Feilke & Linke (2016) wie folgt definiert: Praktiken zeichnen sich durch den kontextsensitiven Einsatz von bestimmten sprachlichkommunikativen Formen als Ressourcen zur Lösung grundlegender Aufgaben der Interaktionskonstitution und zur Herstellung bestimmter Handlungen aus. Deppermann, Feilke & Linke (2016: 1)

62 | Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation

Praktikenansätze versuchen sprachliche Aktivitäten beobachtungsnah in ihrer phänomenologischen Gestalt zu beschreiben und induktiv zu erschließen. Die strenge Auslegung der Gebrauchsbasiertheit im CxG-Ansatz bringt daher mit sich, dass die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens im aktualisierten Sprachgebrauch und in seiner Funktion als handlungsbezogene Praktik im SemantikPragmatik-Interface analysiert werden muss (vgl. 4.1.4.1 und 5.2.1). Die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens ist ferner durch die Medialität geprägt, an welche das Zeichen im Gebrauch gebunden ist (vgl. Luhmann 1997; Krämer 1998a; 1998b, 2004; Schneider 2008; Jäger 2014; Linz 2016). Die Idee einer Zeichenmaterialität spielt eine entscheidende Rolle innerhalb einschlägiger semiotischer Ansätze (z.B. in Saussures Aposème-Begriff (vgl. Jäger 2008: 57–58), in der Type-Token-Unterscheidung30 (vgl. Peirce 1967: 200) und im Zusammenhang von Medium und Konzeption (vgl. Koch & Oesterreicher 1985: 17– 19, 2016: 18–22)). Aber auch für die Untersuchung von Regionalsyntax bildet sie im Modell von Auer (2004) einen zentralen Faktor (vgl. 2.1). Die Frage der Materialität eines Mediums ist insofern relevant, als „mit ihr […] unterschiedliche Annahmen über den Einfluss der Medialität auf die Konstitution von Sinn verbunden sind“ (vgl. Linz 2016: 102; vgl. auch Krämer 1997: 12; Jäger 2014: 113). Medialität wird dabei als operative Eigenschaft beziehungsweise Prozeduralität von Medien verstanden, die „den Blick auf performative, mit medialen Verfahren verknüpfte […] ‚Wesenseigenschaften‘ der Medien“ lenkt (Jäger 2014: 111). Sprachliche Zeichen haben demnach keinen prämedialen Sinn, sondern gewinnen diesen erst aus der medialitätsbezogenen Performanz. Medialität hinterlässt damit eine Spur in der Bedeutung des sprachlichen Zeichens. Aus kognitiver Perspektive kann das „Spurtheorem“ noch weiterentwickelt werden, da das einzelne Individuum nicht über einen medialitätsunabhängigen Zugang zu eigenen kognitiven Prozessen und der Semantik eines Zeichens verfügt – oder um mit Jäger (2000: 26) zu sprechen: „Medialität ist eine Möglichkeitsbedingung von Mentalität“. Die Medialität von Konstruktionen im Sinne einer konsequenten Gebrauchsbasiertheit zu berücksichtigen heißt daher auch, der Analyse von Sprachgebrauchsdaten ein gegenstandsangemessenes Verständnis von Kategorien wie Satz oder Tempus zugrundezulegen (vgl. Abschnitt 4.1.4.1).

|| 30 Peirce (1967: 200) unterscheidet neben Type und Token auch die Kategorie des tuone. Unter tuone versteht er die „materiellen Qualitäten eines Zeichens“ – das Zeichenmedium, „die an sich zu ihm gehören und nichts mit seiner repräsentativen Funktion zu tun haben“ (Peirce 1967: 200). Die materielle Zeichenqualität (tuone) wird nur durch die performative Konkretisierung einer individuellen Zeichenverwendung (token) als Qualität erkennbar.

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Im Hinblick auf die Rekonstruktion der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens aus dem Gebrauch besteht das übergreifende Ziel des CxG-Ansatzes in der Analyse des Inventars31 einer Sprech- oder Sprachgemeinschaft (vgl. Langacker 1987: 222). Diese Formen gemeinsam ausgehandelter kulturspezifischer Bedeutungskonstitutionen basieren auf dem in Def. 4 aufgeführten Konventionalitätsbegriff, der bisher in der einschlägigen grammatiktheoretischen Auseinandersetzung jedoch weitestgehend vernachlässigt wurde (vgl. Ziem 2015: 3). Der Begriff der Konvention wurde zuerst bei Lewis (1974: 39/118–121) geprägt und hat sich vor allem in der soziologischen Forschung weiterentwickelt (vgl. conventional signaling system bei Clark 1996: 155–190; objektivierten Wissensvorrat bei Schütz & Luckmann 2003: 318). Konstruktionen stehen Mitgliedern von Sprach- und Sprechgemeinschaften als gemeinsam geteilte sprachliche Ressourcen in Folge rekurrenter Schematisierungsprozesse zur Verfügung, um soziale Ziele im Sprachgebrauch zu verwirklichen. Genau wie die einschlägige Auxiliarselektionsforschung beschäftigen sich auch die meisten CxG-Arbeiten mit überdachenden Standardsprachen (vgl. Boas 2014 für das Passiv im Deutschen) und weniger mit individuellen oder ausgehandelten, geteilten Inventaren von communities of practice (vgl. Wenger 2008) oder gefestigten sozialen Netzwerken des Alltags (vgl. Milroy 2012). Diese Mikroperspektive auf die Entstehung von Bedeutung in kleineren Sprechgemeinschaften entspricht jedoch einem engen Fokus auf Gebrauchsbasiertheit. Neben dem meaning is use-Aphorismus, sind gebrauchsbasierte CxG-Ansätze auch einem kognitiven Postulat verpflichtet. Im Rahmen der usage-basedTheorie werden kognitive Repräsentationen als emergierende Generalisierungen aus einzelnen Sprachgebrauchsevents im Sinne einer flachen Ontologie zwischen Sprachgebrauch und Kognition verstanden (vgl. Langacker 1999: 2;

|| 31 Der Terminus Inventar kann analog zum soziolinguistischen Begriff des Repertoires verstanden werden: „So ist im linguistischen Sinne von ‚Sprachrepertoire‘ (linguistic/verbal repertoire) die Rede beziehungsweise von der Gesamtheit der sprachlichen Möglichkeiten, die einem Sprecher in spezifischen Situationskontexten zur Verfügung stehen. Diese mit Rollen und Situationen variierende Sprachverwendung setzt die kommunikative Kompetenz voraus, sich mittels stilistischer und dialektaler Sprachmittel situationsadäquat (registerspezifisch) zu verhalten beziehungsweise zu artikulieren“ (Pütz 2008: 226; vgl. auch Hymes 1974: 30). Der Begriff Repertoire lässt sich sowohl auf den/die individuelle/n SprecherIn als auch auf die sprachlichen Ressourcen einer Sprechgemeinschaft anwenden (vgl. auch Unterscheidung ‚personenbezogenes‘ und ‚kulturelles‘ Repertoire bei Hymes 1974: 29; vgl. für die Bilingualismusforschung ‚Sprachrepertoire‘ bei Gumperz 1964: 137). Der Begriff der Sprechgemeinschaft steht dabei „für eine Gruppe, die sowohl ein gemeinsames Varietätenrepertoire als auch gemeinsame Regeln für den sozial angemessenen Gebrauch dieser Regeln hat“ (Raith 2008: 204).

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Barlow & Kemmer 2000: viii–x; Bybee 2010: 1–13). Theoretisch fundiert wird dies im Type-Token-Konzept (vgl. einschlägig Peirce 1906: 505–506). Der TypeToken-Ansatz impliziert, dass „das einzelne Zeichenvorkommnis [Token] als Aktualisierung eines universellen Zeichentypus [Type]” interpretiert werden kann, „als raum-zeitlich situierte Instanziierung von etwas, das nicht mehr unmittelbar gegeben ist, gleichwohl jedoch der singulären Erscheinung logisch und genealogisch vorausgeht“ (Krämer 2002: 324). Abb. 8 verdeutlicht den Zusammenhang zwischen einem einzelnen Zeichenvorkommnis (Token) als Aktualisierung eines universellen Zeichentypus (Type) in der Kognitiven Linguistik nach Taylor (2002: 24).32

[A]

[A1]

[A2]

[Type]

[abstrakter]

[Tokens; Instanziierungen]

[konkreter]

Abb. 8: Type-Token-Beziehung in der Kognitiven Grammatik

In Anlehnung an neuropsychologische Erkenntnisse werden Konstruktionen in der CxG in einem taxonomischen Netzwerk, dem sogenannten Konstruktikon, gespeichert (vgl. Goldberg 1995: 5). Die unterschiedlichen Richtungen der CxG gehen nicht wie im reduktionistisch-atomistischen Ansatz der generativen Grammatik von getrennten sprachlichen Modulen aus, welche durch bedeutungsarme Regeln verbunden sind, sondern von einem monostratalen Ansatz im Sinne eines Lexikon-Syntax-Kontinuums. Das Konstruktikon ist taxonomisch als Vererbungshierarchie aufgebaut, indem übergeordnete, abstraktere Makro-

|| 32 Die Universalienproblematik um den (ontologischen) Zusammenhang zwischen der Idee und dem Wesen der Dinge, beziehungsweise zwischen Type und Token, wurde im Rahmen dreier Ansätze kontrovers diskutiert: (1) Der Realismus versteht Types als ontologische, vom menschlichen Geist unabhängig existierende Entitäten; (2) Der Konzeptualismus geht davon aus, dass die Bedeutung in den Dingen selbst liegt und auf Basis von Ähnlichkeitsbeziehungen verstanden werden kann; (3) In nominalistischen Ansätzen wird die Bedeutung sprachlicher Zeichen als menschliches Konstrukt definiert, das aus dem Sprachgebrauch und Sprachhandeln resultiert (vgl. Albrecht 2005: 178–183). Innerhalb der unterschiedlichen Strömungen des (linguistischen) Universalienstreits lässt sich die gebrauchsbasierte CxG als nominalistischer Ansatz beschreiben, der die Genese der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens im Sprachgebrauch verankert. Entgegen streng nominalistischer Ansätze ist die CxG jedoch auch als mentalistischer Ansatz angelegt, der mentale durch den Sprachgebrauch geprägte Bedeutungsrepräsentationen und daraus erwachsene Ähnlichkeitsbeziehungen annimmt.

Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik | 65

konstruktionen Informationen top-down durch asymmetrische Links an untergeordnete, konkrete Exemplar- oder Mikrokonstruktionen33 vererben (vgl. Goldberg 1995: Kap. 3.3; Traugott 2008: 32). Diese Abstraktionen sind nicht statisch, sondern emergent und dynamisch (vgl. Bybee 1998: 421; Langacker 2001: 181; Tomasello 2009: 74). Ontogenetisch entsteht diese Hierarchie bottom-up durch allgemeine sprachunabhängige kognitive Prozesse wie Kategorisierung, Schematisierung und Analogiebildung (vgl. Bybee 2010: 33–104). Daraus resultiert eine untrennbare Interdependenz zwischen Sprachgebrauch und Sprachwissen. Im Gegensatz zum Begriff der Konventionalisierung, der den Grad der Konsolidierung eines sprachlichen Zeichens in einer Sprech- oder Sprachgemeinschaft beschreibt, zielt der Begriff des entrenchments auf die Stärke der mentalen Verankerung einer Konstruktion im Langzeitgedächtnis eines individuellen Sprechenden/Schreibenden ab. Dabei spielen vor allem Frequenzen34 im Input im Sinne der Automatisierung und Habitualisierung eine entscheidende Rolle (vgl. Bybee & Hopper 2001: 10–19; Ellis 2002: 306–322; Abbot-Smith & Tomasello 2010: 90–97; Bybee 2010: 209; Schmid 2010: 115–125). Je höher die Frequenz in Sprachgebrauch und Sprachrezeption, desto stärker sind Konstruktionen als kognitive Repräsentationen gespeichert und desto leichter können sie als solche aus der Kognition abgerufen beziehungsweise verarbeitet werden (vgl. Ellis 2002: 305; Bybee 2007: 11; Schmid 2010: 102–103). Entrenchment ist jedoch nicht nur graduell, sondern auch relativ organisiert. Das mehr oder weniger starke entrenchment von Konstruktionen entsteht erst durch den relativen Vergleich mit dem entrenchment weiterer Konstruktionen im Sinne des gebrauchsbasierten Netzwerkgedankens. Neben dem frequenzbedingten Grad des entrenchments ist das LexikonSyntax-Kontinuum durch unterschiedliche Schematizitätsgrade geprägt – von || 33 Der Exemplarbegriff entstammt der gleichnamigen Exemplartheorie (vgl. Pierrehumbert 2001: 140–144; Bybee 2013: 52–53) und ist analog zu konkreten Konstruktionen in der CxG zu verstehen. Die Exemplartheorie ist eine primär phonologische Theorie und nimmt an, dass phonologische Tokens im Sprachgebrauch mit ähnlichen bereits gespeicherten Tokens kategorisiert und in einem Exemplarcluster organisiert werden. In diesem Exemplarcluster (meist eine ‚Exemplarwolke‘) werden Bedeutung, Inferenzen und kontextuelle Besonderheiten im Sinne der rich memory-Annahme gespeichert (vgl. Bybee 2010: 14–32). 34 Auf formaler Ebene führen eine hohe Token- und Typefrequenz nicht nur zu formalen Reduktions- sondern vor allem zu Konservierungseffekten im Rahmen von Sprachwandel, welche analogisches Leveling oder Konstruktionsabbau verhindern (vgl. Bybee & Thompson 1997: 378–381). Erklärt wird der Konservierungseffekt vor dem Hintergrund der erhöhten Tokenfrequenz durch eine schnellere mentale Aktivierung und ein höheres entrenchment von Konstruktionen. Die Typefrequenz bedingt einen Konservierungseffekt durch eine gesteigerte mentale Produktivität einer Konstruktion, die ebenfalls den Abbau verhindert.

66 | Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation

der morphologischen über die lexikalische bis hin zur syntaktischen Ebene (vgl. „constructions all the way down“; Goldberg 2006: 18). Tab. 6 exemplifiziert die unterschiedlichen Abstraktionsebenen des Konstruktionsbegriffs. Tab. 6: Komplexitätsebenen von Konstruktionen nach Goldberg (2013)

Schematizitätsebene

Beispiele

Wort

z.B. Haus, kaufen

Affix- und Präfixschemata

z.B. be-V, N-chen

Idiome (gefüllt)

z.B. den Teufel an die Wand malen

Idiome (teilweise gefüllt)

z.B. auf die Palme bringen

Syntaktische Korrelativkonstruktion (Je-desto)

z.B. Je größer, desto besser

Syntaktische Ditransitivkonstruktion (Subj., V, Obj.1, Obj.2)

z.B. Er backt ihr einen Kuchen

Makrokonstruktionen können sowohl syntaktische Argumentstrukturkonstruktionen (z.B. Ditransitivkonstruktion; vgl. Goldberg 1995: Kap. 6–9), aber auch abstrakte Konzepte oder Kategorien sein (z.B. Belebtheit, Tempus; vgl. Croft 2012). Konstruktionen unterscheiden sich im Grad ihrer Spezifiziertheit und können voll-, teil, oder nicht-spezifiziert im Sprachwissen vorliegen. Vollspezifizierte Konstruktionen eröffnen keine Leerstellen (z.B. Idiome wie Die Daumen drücken), wohingegen teil- oder nicht-spezifizierte Konstruktionen eine Reihe von Slots eröffnen, die mit konkreten Lexemen gefüllt werden können. So kann die Ditransitivkonstruktion [[Subj.] [V] [Obj.1] [Obj.2]] mit unterschiedlichen Verben (z.B. backen) oder Objekten (z.B. Kuchen) gebildet werden und weist damit eine höhere Produktivität als eine vollspezifizierte Konstruktion auf. „Produktiv ist eine Konstruktion dann, wenn sich mit ihr viele neue Ausdrücke bilden lassen, wenn also die Slots einer Konstruktion mit einer Vielzahl lexikalischer Einheiten besetzt werden können“ (Lasch & Ziem 2013: 105). Netzwerke sind bei Goldberg als „networks of associations“ (Goldberg 1995: 5) in erster Linie semantisch definiert. In Abgrenzung zur zentralen Rolle des Verbs in lexikalistischen Ansätzen oder der Valenzgrammatik werden Verbbedeutung und Konstruktionsbedeutung in der CxG isomorph behandelt. Syntaktische Konstruktionen haben eine eigene, vom Verb unabhängige Bedeutung (vgl. Goldberg 1992: 37). Ein Verb kann demnach auch mit einer Konstruktion

Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik | 67

fusionieren, die nicht den prototypischen Partizipantenrollen entspricht. Bsp. (14) verdeutlicht dies anhand der Fusion35 des Verbs niesen mit einer Ditransitivkonstruktion. Die Caused-Motion-Bedeutung ist dabei nicht dem Verb niesen inhärent, sie ist Teil der Bedeutung der abstrakten Ditransitivkonstruktion. (14)

Ditransitivkonstruktion ‚niesen‘ He

sneezed

the napkin

Er

nieste

das Taschentuch vom Tisch

off the table

(Goldberg 1995: 54–55) Trotz des einschlägigen Netzwerkgedankens werden Konstruktionen in den meisten CxG-Untersuchungen isoliert und nicht in Abhängigkeit von der Entwicklung anderer Konstruktionen betrachtet (vgl. dazu auch die Kritik von Bücker 2011: 13). Die alleinige Betrachtung einer Konstruktion kann keine Aussagen über ihren Status innerhalb eines sprachlichen Netzwerks machen.36 Übertragen auf die vorliegende Fragestellung untersucht die Arbeit die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als sprachliches Zeichen – und damit Form-Bedeutungspaar –, die nach der CxG-Theorie in einem taxonomisch organisierten Netzwerk im Sprachsystem gespeichert ist. Nach Gillmann (2016: 10–

|| 35 Fusion bezeichnet in der CxG den Vorgang, wenn sich die Teilnehmerrollen des Verbs mit den Argumentrollen der abstrakten Konstruktion im Sprachgebrauchsprozess verbinden (vgl. Goldberg 1995: 65–66). Das Semantische Kohärenz Prinzip stellt dabei sicher, dass zwei Rollen (Argument- und Teilnehmerrolle) nur dann fusionieren, wenn sie semantisch kompatibel sind. 36 Darüber hinaus müssen gebrauchsbasierte CxG-Arbeiten auch deutlich machen, welche Art von Konstruktikon mithilfe der jeweiligen Daten rekonstruiert wird. Obgleich sich in jüngster Zeit eine zunehmende Beschäftigung mit der Konstitution des Konstruktikons in theoretischer und anwendungsbezogener Hinsicht entwickelt hat (vgl. Boas 2014; Lasch & Ziem 2014), birgt die Netzwerktheorie eine Reihe bisher in der CxG wenig beachteter Forschungsfragen: (i) Was beschreiben und modellieren wir mit dem Konstruktikon, (ii) welche Implikationen hat der Fokus einer netzwerkintegrierten Konstruktion und (iii) wie könnte eine statistische Umsetzung konstruktionsbasierter Netzwerke aussehen (vgl. auch Bücker 2011: 2). Im Hinblick auf diese Fragen könnte zwischen einem individuenbasierten Konstruktikon, das den Anspruch der Untersuchung mentaler Repräsentationen im Rahmen des entrenchments verfolgt, von einem (sprech-)gruppenspezifischen Konstruktikon im Sinne geteilter Ressourcen innerhalb einer community of practice, oder einem sprachgemeinschaftsbezogenen Konstruktikon im Sinne eines typologischen Sprachsystems unterschieden werden. Die meisten Arbeiten im Rahmen der CxG rekonstruieren sprachgemeinschaftsbezogene Konstruktionen einer abstrakten Standardsprache. Hierbei muss die berechtigte Frage gestellt werden, ob diese als tatsächliche kognitive Realität aller SprecherInnen einer Sprachgemeinschaft existieren oder ob sie als ein virtuelles System verstanden werden müssen.

68 | Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation

16) führt das in 2.2.3 beschriebene synchrone layering der Perfektauxiliarkonstruktionen in grammatiktheoretischer Hinsicht zu Formen der kognitiven Polysemie, die zwar formale Ähnlichkeiten, jedoch funktionale Unterschiede zwischen den Konstruktionen Resultativ, Präsensperfekt und Vergangenheitstempus bedingt. Die Funktionen der drei Konstruktionen weisen aufgrund des Grammatikalisierungsprozesses eine entscheidende semantische Nähe auf und sind metonymisch aufeinander bezogen. Das Präsensperfekt bildet dabei das Bindeglied zwischen Resultativkonstruktion mit Fokus auf einem zur Origo erreichten Zustand und der Tempuskonstruktion mit reiner Vergangenheitsreferenz. Abb. 9 zeigt den von Gillmann (2016: 15) modellierten Zusammenhang zwischen Perfektkonstruktionen und dem formal und funktional verwandten Resultativkonstruktionen im Rahmen der CxG. Die konkreten Exemplarkonstruktionen der haben- und sein-Variante sind taxonomisch mit der abstrakteren, produktiveren Perfektargumentstruktur [_[AUX]fin_[ge-V-t/en]AKT] verbunden. Während die haben- und sein-Perfektkonstruktionen als Mikrokonstruktionen vom semantischen Vergangenheitskonzept abhängig sind, ist die Resultativkonstruktion an eine abstrakte Kopulakonstruktion gebunden.

SYN: [AUX]fin + [ge-V-t/en]AKT SEM: Perfekt/Vergangenheit

Mikro-Kxn

Mikro-Kxn

SYN: [haben]fin + [ge-V-t/en]AKT

SEM1: Resultativ Das Pferd hat die Fesseln bandagiert

SYN: [Kopula]fin + [AP] SEM: Vorliegen/Eintreten/Andauern eines Zustands

SYN: [sein]fin + [AP] SEM: Vorliegen eines Zustands

SYN: [sein]fin + [ge-V-t/en]AKT

SEM2: Perfekt/Vergangenheit Sie hat gelacht Sie ist gekommen

SYN: [sein]fin + [ge-V-t/en]PASS

SEM1: Resultativ Sieben Tage sind vergangen Sieben Tage sind vergeudet

Abb. 9: Netzwerkrelation von Konstruktionen mit Partizip II nach Gillmann (2016)

Die Frage, die sich mit Blick auf die Modellierung in Abb. 9 stellt – und dies bemerkt Gillmann (2016: 13) selbst – ist, ob die resultative Konstruktion synchron tatsächlich als polyseme Erweiterung der Perfektkonstruktion in der Kognition repräsentiert ist, zumal die Kollokationen der beiden Konstruktionstypen durchaus verschieden sein dürften. Die Modellierung bei Gillmann (2016) wurde nicht korpusbasiert erstellt, sondern ist allein auf Basis des theoretischen

Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik | 69

sprachhistorischen Grammatikalisierungsprozesses des Perfekts entwickelt worden.37 Fischer (2011: 33) fasst die Problematik der einfachen Übertragung panchronischer Entwicklungen der Grammatikalisierung auf synchrone sprecherbezogene kognitive Prozesse wie folgt zusammen: For the speaker-listener, there is only the synchronic system at any moment of speech. The point is that the speaker-listener has no panchronic sense: he doesn’t necessarily see the connections between the grammaticalization variants in a historical light. In other words, in order to prove the existence of grammaticalization as an actual mechanism of change linked to human processing, one cannot fall back on the historical process itself. Fischer (2011: 33)

Dass die Modellierung nicht empirisch basiert ist, hat ferner den Nachteil, dass Formen der Variation und graduelle Übergänge keine Rolle spielen, sondern dass exhausitive Zuordnungen zwischen Makro- und Mikrokonstruktionen angenommen werden. Ein anwendungsbezogener sprachwandeltheoretischer Ansatz würde jedoch von graduellen Übergängen zwischen den Kategorien ausgehen (vgl. Traugott 2003: 629–630; Bybee 2010: 120–135; Traugott & Trousdale 2010b: 26–29). In Anlehnung an Gillmann (2016) geht die Arbeit davon aus, dass sprachhistorisch verwandte Konstruktionen wie Resultativ-, Präsensperfekt- und Perfektkonstruktionen einen Zusammenhang in der Kognition zeigen. Die Untersuchung strebt jedoch eine empirische synchrone Rekonstruktion dieses netzwerkbezogenen Zusammenhangs im Sprachwissen an (vgl. 5.2.2). Zentrale Neuerung der vorliegenden Untersuchung im Vergleich zu bisherigen gebrauchsbasierten Ansätzen der Auxiliarselektionsforschung von Hinze & Köpcke (2007) oder Gillmann (2016) ist der handlungsbezogene Bedeutungsbegriff in der Analyse regionalsyntaktischer Phänomene.38 Die vorliegende Untersuchung möchte || 37 Daher ist es zunächst spekulativ, ob die sein-Variante synchron tatsächlich noch stärker resultativ organisiert ist, und damit die semantischen Merkmale (SEM 1 & SEM 2), wie in Abb. 9 gezeigt, vereint. Auch die Abgrenzung zwischen Resultativkonstruktion und Perfektkonstruktion der haben-Variante wird in Abb. 9 nicht deutlich, da die resultative haben-Variante stärker von einer abstrakten Possessivkonstruktion abhängen müsste. 38 Einschlägige Forschungen in der Auxiliarselektionsforschung definieren Semantik meist als ontologische primitive Verbsemantiken (vgl. 2.2.2). Kognitive Ansätze verstehen Semantik als graduelle prototypische Konzepte oder Schemata, welche die formale Auxiliarselektion steuern (vgl. Hinze & Köpcke 2007: 99–101; Gillmann 2016: 9–10). Quantitative Ansätze innerhalb der kognitiven Linguistik erarbeiten Semantik weitestgehend aus statistischen Kookkurrenz- und Kollokationsverhältnissen (vgl. Gries & Stefanowitsch 2004: 97–99). Problematisch an all diesen Semantikbegriffen ist, dass sie die tatsächliche Basis des Gebrauchs einer Konstruktion – die sprachliche Handlung – nicht berücksichtigen.

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verstärkt den Blick auf eine qualitative Rekonstruktion der Bedeutung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion in ihrer konstituierenden Funktion von Gesprächs- und literalen Handlungen lenken. Dabei wird der Fokus vor allem auf der Analyse der Konstruktion als ganzheitlichem temporalem Zeichen liegen. Auxiliarvariation und Tempusbedeutung werden damit in der Untersuchung nicht künstlich getrennt (vgl. dagegen Trennung von Auxiliarselektionsund Perfektforschung in 2.2.4.3). Dies impliziert auch, dass Medialität als bedeutungskonstituierender Faktor eines sprachlichen Zeichens verstanden werden muss. Dies hatte bereits Auer (2004) in seinem Modell zu regionaler Syntax proklamiert (vgl. 2.1). Dass die Medialität eines sprachlichen Zeichens in der bisherigen Auxiliarselektionsforschung keine Rolle gespielt hat, liegt unter anderem an der ausschließlichen Fokussierung auf schriftliche Daten und der Unterschätzung des Einflusses der medialen Prozeduralität auf die Zeichensemantik (vgl. 2.3). Vor dem Hintergrund eines medialitätsdifferenzierenden Ansatzes macht es einen Unterschied, ob eine Konstruktion in der Mündlichkeit oder Schriftlichkeit untersucht wird, da Medialität einen Einfluss auf die Bedeutung und die kognitive Organisation dieser Konstruktion haben könnte. Die Wesenseigenschaften von Medien einzubeziehen heißt jedoch nicht, nur produktive und rezeptive Eigenschaften von Mündlichkeit (z.B. Fluktualität, Lautlichkeit, direkte Reziprozität) und Schriftlichkeit (z.B. Visualität, Persistenz, raumzeitlich verzögerte Rezeption) zu unterscheiden (vgl. Fiehler et al. 2004: 39–41). Vielmehr muss gefragt werden, wie sich syntaktische Konstruktionen in der Performativität unterscheiden. Der Einbezug von Medialität auf die Untersuchung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion bedeutet in der vorliegenden Untersuchung, die Konstruktion als sprachliche Praktik zur Anzeige mündlicher und schriftlicher Sprachhandlungen zu verstehen. In diesem Konzept dienen die Methoden der Gesprächsanalyse und der praktikenorientierten Textanalyse als medialitätsangemessene Untersuchungsmethoden (vgl. 4.1.4.1 und 5.1.3). Die Handlungsperspektive in der Analyse konstruktionaler Bedeutungen hat jedoch nicht zur Folge, dass grammatisch-konzeptuelle Erklärungen für den Gebrauch der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion vernachlässigt werden. Die kognitiv-gebrauchsbasierte Auxiliarselektionsforschung konnte bisher erfolgreich zeigen, dass abstrakte Konzepte wie Belebtheit, Individuierung oder Direktionalität einen entscheidenden Einfluss auf die Auxiliarbildung haben (vgl. Hinze & Köpcke 2007: 116; Gillmann 2016: 221/281). In Anlehnung an die in den Abschnitten 2.2.4 erarbeiteten Steuerungsfaktoren geht die Arbeit davon aus, dass grammatische Konzepte wie Telizität, Transitivität, Resultativität, Tempus und Aspekt den Gebrauch der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion

Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik | 71

mitbestimmen. Die Untersuchung möchte jedoch verstärkt den Zusammenhang zwischen diesen grammatischen Konzepten und sprachlichen Handlungen im tatsächlichen Gebrauch in den Fokus rücken (vgl. auch Hopper & Thompson 1980: 280–294 zum Zusammenhang zwischen Transitivität und Foreground).

3.1.2 Methodische Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen

Korpusbasierte Methoden Qualitativ Quantitativ Mixed-methods

Kombination

Wie in Abschnitt 3.1.1 gezeigt, zeichnet sich der usage-based-Ansatz durch einen funktionalen als auch kognitiven Aphorismus aus, welche – nach Lakoff (1991) – innerhalb der CxG ausschließlich empirisch untersucht werden. Im Hinblick auf die methodische Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen und der Operationalisierung der Type-Token-Relation lassen sich innerhalb der gebrauchsbasierten Ansätze drei Richtungen unterscheiden: (1) Rein korpuslinguistische Methodiken (vgl. Schmid 2000; Fischer 2006; Bücker 2012), (2) kombiniert korpuslinguistische und sprachverarbeitungsbasierte Ansätze (vgl. Blumenthal-Dramé 2012; Perek 2015) und (3) rein experimentelle sprachverarbeitungsbasierte Ansätze (vgl. Bencini & Goldberg 2000; Allen et al. 2012). Abb. 10 fasst die unterschiedlichen Richtungen zusammen.

Experimentelle Methoden u.a. sorting task, acceptability judgements

Abb. 10: Methodische Ansätze zur Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen

Korpusbasierte Ansätze, die eine Rekonstruktion der kognitiven Netzwerkstruktur auf der Grundlage von Sprachgebrauchsanalyen vornehmen, stützen sich theoretisch auf die Annahme einer „flache[n] Ontologie“ (Krämer 2001: 269) zwischen Performanz und Kompetenz und damit auf den funktionalen meaning is use-Aphorismus des usage-based-Ansatzes. Innerhalb der korpusbasierten Ansätze lassen sich rein qualitative Ansätze, vor allem innerhalb der Interaktionalen Linguistik (vgl. Günthner & Imo 2006; Fischer 2006; Bücker 2012), von gemischt qualitativen und quantitativen Ansätzen (vgl. Boas 2003; Mukherjee

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2005) und rein quantitativen Herangehensweisen auf Basis (multivariater) Statistikanalysen (vgl. Gries & Stefanowitsch 2004; Bresnan 2007; Glynn & Fischer 2010; Glynn & Robinson 2014) unterscheiden. Im Hinblick auf die Operationalisierung korpusbasierter Rekonstruktionen unterscheidet Bücker (2014: 118–119) zwischen (i) einem Datum als „Beispiel im Korpus, das zum Untersuchungsgegenstand gemacht wird“, (ii) einem Muster als „oberflächennahe Charakterisierung der strukturellen und funktionalen Eigenschaften, die mehrere Daten miteinander teilen“, (iii) einer Konstruktion als „modellhaft konstruierter kognitiver Organisationsform des menschlichen Sprachhandlungswissens“ und (iv) einem Konstrukt als „Datum, das als Aktualisierung einer Konstruktion im Sprachgebrauch eingestuft werden kann“ (vgl. auch die Unterscheidung zwischen Construct und Construction bei Fried 2008: 52). Die Operationalisierung führt dabei von der möglichst unvoreingenommenen datenbasierten Beobachtung von Musterhaftigkeit hin zur stärker theoriegesättigten Rekonstruktion von Konstruktionen und der Frage, inwiefern Konstrukte als Aktualisierungen einer abstrakten Konstruktion eingestuft werden können. Rein qualitative, meist interaktionale Ansätze konzentrieren sich auf die Rekonstruktion von Bedeutung in möglichst natürlichen, mündlichen Sprachgebrauchssettings (vgl. Günthner & Imo 2006; Fischer 2006; Bücker 2012). Im Zentrum der Rekonstruktion steht die sprachliche Handlung, die durch eine Konstruktion ausgeführt wird, um soziale gemeinsam ausgehandelte Bedeutung zu schaffen. Die Zusammenfassung mehrerer Daten zu einem Muster ist damit ein rein qualitativer bottom-up-Prozess.39 Der Vorteil interaktionaler Ansätze zur Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen liegt im direkten Handlungsbezug und der medialitätsangemessenen Fassung der Funktion einer Konstruktion. Der Nachteil rein interaktionaler Rekonstruktionen liegt in der Tatsache, dass die Definition von Musterhaftigkeit eine quantitative Frage ist, die nur mit Blick auf ein Gesamtkorpus und in Abgrenzung zu ähnlichen Konstruktionen beantwortet werden kann (vgl. Gries & Stefanowitsch 2004; Gibbs 2007). In diesem Sinne kann ein gebrauchsbasierter CxG-Forschungsansatz nie nur rein qualitativ sein, sondern muss auch die quantitative Validierung einer Konstruktion im Sinne eines mixed-method-Verfahrens sicherstellen.

|| 39 Die Übertragung handlungsbezogener Analysen auf kognitive Type-Token-Relationen wird innerhalb der antimentalistisch ausgerichteten Konversationsanalyse abgelehnt (vgl. Deppermann 2012). Der Gebrauch von Praktiken kann im Rahmen der theoretischen Verbindung zwischen CxG und Interaktionaler Linguistik jedoch nach Fischer (2015) als situationsgebundenes construal interpretiert werden und erhält dadurch eine mentalistische Deutungsebene. Diese Sichtweise wird von der vorliegenden Arbeit geteilt.

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Quantitative gebrauchsbasierte Ansätze gehen von einem direkten Zusammenhang zwischen frequenzbasierten Generalisierungen aus der Korpusanalyse und sprachlichen Repräsentationen im Sprachwissen aus (vgl. Bybee & Hopper 2001; Bybee 2007; Schmid 2010). Methodisch können dabei rein quantitative Zugänge (vgl. Gries & Stefanowitsch 2006; Hilpert 2006) von kombiniert qualitativ-quantitativen Ansätzen (vgl. Boas 2003; Mukherjee 2005) unterschieden werden. Schmid (2000) entwickelte auf der Basis dieses Zusammenhangs das From-Corpus-to-Cognition-Prinzip, einen kombiniert qualitativ-quantitativen korpuslinguistischen Ansatz zur Untersuchung nominaler Abstrakta im englischen Sprachgebrauch und im kognitiven entrenchment. Frequenzanalysen bilden dabei die zugrundeliegende Operationalisierungsmethodik zur Rekonstruktion kognitiver Repräsentationen: „frequency in text instantiates entrenchment in the cognitive system“ (Schmid 2000: 39; vgl. auch Schmitt, Grandage & Adolphs 2004: 147; Bybee 2010: 24–25). Unter entrenchment wird bei Schmid (2000: 39) die mentale Verankerung einer Konstruktion im Langzeitgedächtnis eines individuellen Sprechenden verstanden, die umso stärker ist, je frequenter eine Konstruktion im Sprachgebrauch auftritt. In der Umsetzung dieses Prinzips muss das zugrundeliegende Korpus so groß wie möglich gewählt werden, um eine statistisch hinreichende Verteilung zur Messung unterschiedlicher Frequenzwerte gewährleisten zu können. Zusammengefasst haben Korpusanalysen den Vorteil, die kommunikative Funktion einer (syntaktischen) Konstruktion in mündlichen oder schriftlichen Handlungen rekonstruieren zu können. Im Sinne des rein qualitativen interaktionalen Ansatzes der CxG ist es daher wichtig, den Gebrauch von Konstruktionen als orate oder literale Praktiken kontextsensitiv in der personen- und materialitätsbezogenen Umgebung zu rekonstruieren (vgl. 3.1.1). Dagegen fokussieren quantitative Korpusanalysen in erster Linie die frequenzbedingte Verteilung von Konstruktionen im Sprachgebrauch, um daraus Rückschlüsse auf relative Formen des entrenchments ziehen zu können. Die Nutzung großer Korpora in der quantitativen Forschungsrichtung birgt jedoch entscheidende Problematiken in Bezug auf Faktoren der (i) Repräsentativität, (ii) Balanciertheit und (iii) Natürlichkeit der kommunikativen Settings, die in diesen Korpora abgebildet werden (vgl. Gries 2006: 4–5). So sind beispielsweise die Repräsentativität und Balanciertheit unterschiedlicher Varietäten einer Standardsprache in großen Korpora häufig nicht gegeben und können daher verzerrend wirken. In Abgrenzung zum funktionalen Aphorismus wird auch das kognitive Postulat in Studien der gebrauchsbasierten CxG in erster Linie durch korpus- und frequenzbasierte Rekonstruktionen operationalisiert (vgl. dazu kritisch Gibbs 2007). Nur wenige psycholinguistische Untersuchungen zur kognitiven Organi-

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sation von Konstruktionen wurden bisher auf Basis behavioraler (u.a. priming, sorting tasks oder grammatical judgement tasks; vgl. Bencini & Goldberg 2000; Kaschak & Glenberg 2000; Ahrens 2003; Dąbrowska 2009; Goldwater & Markman 2009; Johnson & Goldberg 2012) oder neurolinguistischer Methoden unternommen (vgl. Allen et al. 2012). Nur im Bereich der gebrauchsbasierten Spracherwerbsforschung sind experimentelle Methoden weitestgehend etabliert (vgl. Tomasello & Brooks 1998; Gries & Wulff 2005; Abbot-Smith & Tomasello 2006, 2010; Kidd, Lieven & Tomasello 2010). Hier werden syntaktische Repräsentationen in erster Linie auf Basis von Reaktionszeiten, Verarbeitungszeiten oder grammatischen Akzeptabilitätsurteilen rekonstruiert. Ein Vorteil experimenteller Methoden ist, dass sie Einblicke in die Sprachverarbeitung wenig frequenter Konstruktionen aus dem Sprachgebrauch zulassen. Niedrigfrequente Konstruktionen laufen häufig Gefahr, durch unbalancierte, nicht-repräsentative Korpora bedingt zu sein. Auch ermöglichen experimentelle Methoden die Untersuchung von kognitiven Erklärungsfaktoren, die außerhalb des aktiven Sprachgebrauchs liegen (vgl. Analogie, Kategorisierung in Abschnitt 3.1.1). Nachteile rein experimenteller Methoden sind, dass Faktoren wie Variation oder Register meist keine Rolle in der Experimentkonzeption spielen und dass die ökologische Validität von Experimenten häufig infrage gestellt wird (vgl. Spinner, Gass & Behney 2013). Darüber hinaus basieren Experimente nur selten auf vorausgehenden Korpusanalysen und damit dem aktualisierten funktionalen Sprachgebrauch von Konstruktionen. Nach Gilquin & Gries (2009: 11) nehmen Korpusanalysen in gebrauchsbasierten psycholinguistischen Experimenten einen unterschiedlich großen Stellenwert ein. Zum einen dienen Korpora lediglich als Datenbasis zur Generierung von Stimulussätzen. Eine exhaustive Korpusanalyse, die auch die Balanciertheit und Repräsentativität von Korpora in den Blick nimmt, wird in diesen Ansätzen nicht verfolgt. Zum anderen können Korpusanalysen und Experimente zur gegenseitigen Validierung eingesetzt werden. Gleichberechtigte korpusanalytische und experimentelle Ansätze sind aufgrund des methodischen Aufwands jedoch selten (Gilquin & Gries 2009: 20). Die alleinige Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen aus mündlichen oder schriftlichen Korpusanalysen wurde von kombiniert psycholinguistischen und korpusbasierten Ansätzen stark kritisiert (vgl. Gries & Wulff 2005; Wulff 2009; Bybee & Eddington 2006; Blumenthal-Dramé 2012; Perek 2015). Einige Studien im Rahmen der usage-based-Theorie legen nahe, dass die Kombination aus experimentellem Design und Sprachgebrauchsdaten eine notwendige Bedingung ist, um Rückschlüsse auf das entrenchment und damit die mentale Repräsentation von Konstruktionen ziehen zu können. Diese Ansätze

Sprachgebrauchsbasierte Konstruktionsgrammatik | 75

kritisieren, dass entrenchment im kognitiven Sinn als relativer Aktivierungsgrad in der Sprachverarbeitung verstanden werden muss, der sich aufgrund der mentalen Routinisierung und Automatisierung einer Konstruktion einstellt (vgl. Langacker 2008: 17; Schmid 2010: 115). Dieser Aktivierungsgrad kann jedoch nicht durch frequenzbasierte Korpusanalysen gemessen werden, sondern fordert eine psycholinguistische sprachverarbeitungsbasierte Methodik. Eine Reihe von Arbeiten konnte durch die Kombination von Sprachgebrauchs- und Sprachverarbeitungsdaten das From-Corpus-to-Cognition-Prinzip empirisch validieren (vgl. für einen Überblick Gilquin & Gries 2009; Arppe et al. 2010; Perek 2015). Andere Arbeiten widerlegten das Prinzip (vgl. Gilquin 2008; Blumenthal-Dramé 2012). Die Kritik der einschlägigen Arbeiten am From-Corpus-to-Cognition-Prinzip konzentrieren sich auf (i) die Definition von Frequenz und (ii) den Zusammenhang zwischen korpusbasierten Durchschnittswerten und individuellen Repräsentationen. In den frühen Arbeiten zum From-Corpus-to-Cognition-Prinzip im Rahmen der kognitiven Semantik wurde unter Frequenz vor allem absolute Tokenfrequenz verstanden (vgl. Schmid 2010: 118). Neuere Ansätze fokussieren stärker die Rolle relativer Token- und Typefrequenzen, aber auch statistische Messungen der Dispersion (vgl. Gries & Ellis 2015: 232–233). Obgleich diese Ansätze bereits wichtige Erweiterungspunkte zur Frage der Definition von Frequenz bieten, stellt Schmid (2010: 125–126) einen immer noch ausstehenden Konsens auf diesem Gebiet fest. Der zweite Kritikpunkt am From-Corpus-toCognition-Prinzip betrifft die Annahme des Zusammenhangs zwischen korpusbasierten Durchschnittswerten und individuellen Repräsentationen (vgl. Dąbrowska 2010: 30–33; Blumenthal-Dramé 2012: 24–25). SprecherInnen verfügen über individuelle Repräsentationen, die nicht mithilfe von Durchschnittswerten großer Korpora erfasst werden können. Je allgemeiner und größer die Korpusgrundlage gewählt wird, desto eher repräsentiert sie einen idealisierten Input, der nicht allen TeilnehmerInnen einer Sprach- oder Sprechgemeinschaft zur Verfügung stehen muss. Zusammengefasst haben kombiniert sprachgebrauchs- und sprachverarbeitungsbezogene Ansätze gezeigt, dass auch in kognitionslinguistisch orientierten Grammatiktheorien wie der CxG nicht a priori von einer Eins-zu-EinsBeziehung zwischen Repräsentationen, die aus dem Sprachgebrauch und solchen die aus der kognitiven Verarbeitung gewonnen werden, ausgegangen werden darf. Gilquin & Gries (2009: 9) plädieren daher für kombiniert korpuslinguistische und psycholinguistische Methodiken, da sie die Vor- und Nachteile der jeweils anderen Methode ausgleichen und beide Aphorismen gebrauchsbasierter Ansätze bedienen können. Vor dem Hintergrund dieser Ergebnisse

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kann ein mixed-methods-Ansatz als kombinierter Zugriff auf Sprachgebrauchsund Sprachverarbeitungsdaten einen multiperspektivischen Blick auf kognitive Repräsentationen der regionalsyntaktischen [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion bieten und wird daher als methodische Grundlage der vorliegenden Untersuchung gewählt (vgl. Überblick in Abschnitt 1.1). Dabei werden Korpusanalysen und Experiment gleichberechtigt und aufeinander aufbauend in der Analyse behandelt.

3.2 Syntaktische Variation Neben der Frage, wie regionalsyntaktische Phänomene als Konstruktionen definiert werden können, steht in der vorliegenden Untersuchung auch die Frage nach regionaler, medialitäts- und verarbeitungsbedingter Auxiliarvariation im Zentrum des Forschungsinteresses. Variation wurde in der Auxiliarselektionsforschung bisher ausschließlich als unterschiedliche Grade der Akzeptabilität von syntaktischen Konstruktionen nach dem Gradienz-Konzept verstanden (vgl. Abschnitt 2.2.2). Abschnitt 3.2 möchte abgrenzend davon einen handlungszentrierten und verarbeitungsbasierten Variationsbegriff zur Untersuchung von Auxiliarkonstruktionen entwickeln. Abschnitt 3.2.1 wird dazu zunächst vor dem grammatiktheoretischen Hintergrund der Arbeit die Rolle von Variation in der gebrauchsbasierten CxG vorstellen. Darauf aufbauend präsentiert Abschnitt 3.2.2 den phonologischen Variationsbegriff nach Labov (1966b). Abschnitt 3.2.2.1 diskutiert die Probleme der Übertragbarkeit dieses Variationsbegriffs auf die syntaktische Ebene und stellt das diskursbasierte Konzept funktionaler Äquivalenz als mögliche theoretische Grundlage zur Operationalisierung von syntaktischer Variation im Sprachgebrauch vor. Davon abgrenzend führt Abschnitt 3.2.2.2 in die Definition syntaktischer Variation als variierende Verarbeitungszeiten im Rahmen psycholinguistischer experimenteller Methodiken ein.

3.2.1 Variation und Grammatiktheorie Variabilität ist ein essentieller Bestandteil natürlicher kognitiver Zeichensysteme auf individueller und soziokultureller Ebene (vgl. Weinreich, Labov & Herzog 1968; Mattheier 1984). Synchrone Variation geht nach dem Prinzip der Historizität natürlicher Sprachen auf diachrone Entwicklungsprozesse zurück und ist zugleich Ausgangspunkt und Motor für Sprachwandelprozesse (vgl. Coșeriu 1975; Lüdtke 1980; Martinet 1984; Ohala 1989; Traugott & Trousdale 2010b). Sie ist Ausdruck einer Momentaufnahme des variationsbedingten layerings und

Syntaktische Variation | 77

kann im Rahmen querschnittsbezogener Variation im apparent-time-Vergleich auf dynamische Strukturen des Sprachwandels hinweisen (vgl. Hopper 1991: 22–24; Labov 2001: 43–72). Obgleich diese Annahmen einen Allgemeinplatz der Linguistik darstellen, wird der Zusammenhang zwischen Sprachsystem, Sprachwandel und Variabilität respektive Heterogenität natürlicher Sprachen in den einschlägigen Grammatiktheorien erst seit relativ wenigen Jahren in den Blick genommen. Dabei unterscheiden sich die einzelnen Grammatiktheorien40 im Hinblick auf die Verortung und den Einfluss von Variation auf das Sprachsystem in folgenden Fragen: (i) Ist Variation ein Phänomen der parole oder der langue und damit des kognitiven Systems; (ii) wenn Variation im System angenommen wird, dominiert die Vorstellung von Variation innerhalb eines Systems oder Variation zwischen zwei oder mehreren Systemen; (iii) ist die Verwendung der jeweiligen Varianten soziolinguistisch oder durch das grammatische System bedingt; (iv) spielen intra- und interpersonelle Varianz eine Rolle. Mit Blick auf die CxG definiert Goldberg (2003) Formen der Variation als konstituierende Faktoren der Konstruktion und des Konstruktikons:

|| 40 In den bisher einflussreichsten Grammatiktheorien der Linguistik – dem Strukturalismus und dem Generativismus – spielt Variation eine untergeordnete Rolle. Ziel der sprachwissenschaftlichen Untersuchung im (französischen) Strukturalismus ist es, die langue als homogenes System (systeme ou tout se tient) konventionalisierter Einheiten einer Sprachgemeinschaft darzustellen (vgl. Saussure 2014: 66). Die Komplexität der parole (Sprachgebrauch), die sich durch ein hohes Maß an Variation auszeichnet, soll durch Abstraktion reduziert werden. Die Definition eines geschlossenen Sprachsystems schließt damit Formen (soziolinguistischer) Variation aus (vgl. Saussure 2014: 71). Auch innerhalb der sich daraus entwickelten Forschungsrichtung der strukturellen Dialektologie (vgl. Weinreich 1954) und dem darauf aufbauenden Konzept der Diasystematizität (vgl. Pulgram 1964; Trudgill 1974) haben soziolinguistische Faktoren keinen Einfluss auf das Sprachsystem. In der traditionellen generativen Grammatik spielt Variation als peripheres Phänomen ebenfalls keine Rolle für die Kompetenz (vgl. Chomsky 1980: 219). Gemein ist allen generativen Theorien, dass sie durch die Annahme einer Universalgrammatik Variation als Erscheinung der Performanz beziehungsweise des Outputs und nicht als Teil des Sprachsystems verstehen. Mit Blick auf alternierende Varianten bildet eine der Allo-Varianten – meist die Standardvariante – den Input-Kandidaten in der Tiefenstruktur, von dem der Output-Kandidat durch Transformationsregeln, Mikro- und Makroparameter oder constraints derivationell abgeleitet wird. Formale Ähnlichkeit und das Verhältnis zwischen Tiefen- und abgeleiteter Oberflächenstruktur sind in der generativen Grammatik von vorrangigem Untersuchungsinteresse. Dennoch widmen sich in den letzten Jahren verstärkt generative (Tochter-)Theorien im Rahmen parameter-basierter Ansätze des Minimalistischen Programms (vgl. Kroch 2001) oder constraint-basierter Ansätze der Optimalitätstheorie der Erklärung variationslinguistischer (vgl. Barbiers, Cornips & van der Kleij 2002; Seiler 2004, 2007; Herrgen 2005; Dufter, Fleischer & Seiler 2009; Schallert 2011) und soziolinguistischer Fragen (vgl. Alber 2001; Pennington 2002; Spiekermann 2008).

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Facts about the use of entire constructions, including register (e.g. formal or informal), dialect variation and so on, are stated as part of the construction as well. Because they specify a surface form and a corresponding function, constructionist approaches provide a direct way of accounting for these facts. (Goldberg 2003: 221)

Die Auffassung einer engen Verbindung zwischen Variation und Sprachsystem ist vor allem durch die usage-based-Ausrichtung der Theorie begründet (vgl. 3.1.1). Im Bereich der gebrauchsbasierten CxG fand Variation bereits Eingang in die Sprachwandelforschung (vgl. Traugott 2003; Traugott & Trousdale 2010a; Hoffmann & Trousdale 2011) und die variations- und soziolinguistische CxGForschung (vgl. Leino & Östman 2005; Höder 2012; Östman & Trousdale 2013; Geeraerts & Kristiansen 2015; Boas 2018; Weber 2018). Mit Blick auf die varietätenlinguistischen Untersuchungen von Konstruktionen wurden vor allem englische und niederländische Varietäten in den Blick genommen (vgl. Hollmann & Siewierska 2007; Grondelaers, Speelman & Geeraerts 2008; Mukherjee & Gries 2009). (Nieder-)deutsche Varietäten wurden bisher nur von Höder (2012, 2014a) und Weber (2018) analysiert und modelliert. Obgleich diese Ansätze wichtige Schritte zu einem besseren Verständnis des variationsgeprägten Konstruktikons unternehmen konnten, folgen sie in der Frage der Definition syntaktischer Variation und der Operationalisierung derselben keiner einheitlichen Linie. Die Abkehr der CxG von der formbezogenen generativen Grammatik und die Zentralisierung der Rolle der Semantik brachte bald auch in diesem theoretischen Diskurs die Frage auf, wie formal ähnliche Konstruktionen im Konstruktikon organisiert sind und ob sie im variationslinguistischen Sinne als zwei Varianten einer Variablen verstanden werden können. Die Idee alternierender Konstruktionen ist in einem monostratalen Ansatz wie dem der CxG aufgrund der Vermeidung derivationeller Prozesse und lexikalischer Regeln höchst umstritten (vgl. Jackendoff 1990: 430–440; Goldberg 2002: 329; Goldberg 2006: 25).41 Im Gegensatz zum generativen Konzept alternierender Paraphrasen (vgl. Baker 1988; Larson 1988) haben alternierende Konstruktionen in den einschlägigen CxG-Ansätzen keinen eigenständigen theoretischen Status, da sie sich || 41 Im Rahmen der CxG wurden Formen der Alternanz in Bezug auf folgende englische Verbpartikelkonstruktionen diskutiert: (1) Dative alternation (‚John sent Mary the book‘ vs. ‚John sent the book to Mary’), (2) Particle Placement (‚John picked up the book‘ vs. ‚John picked the book up‘) oder (3) Spray/load alternation (‚Jack sprayed paint on the wall‘ vs. ‚Jack sprayed the wall with paint‘). Die Arbeiten im Rahmen der CxG grenzen sich dabei stark von der generativen separation operation ab, mit der Chomsky (2002: 76) diese Phänomene erklärte. Die kontinuierliche, adjazente Serialisierungsvariante bildet in Chomskys Ansatz die Basis für die abgeleitete diskontinuierliche Variante.

Syntaktische Variation | 79

immer in – wenn auch kleinen – semantischen und pragmatischen Nuancen unterscheiden. Konstruktionen scheinen oft zu alternieren, weil sie in einem partiellen paraphrastischen Verhältnis zueinander stehen, wenn sie mit ähnlichem lexikalischen Material gefüllt werden. Ob sie auch im semantischen und pragmatischen Sinne als alternierende Konstruktionen verstanden werden können, kann nur durch eine voneinander unabhängige Analyse auf allen Ebenen – sowohl der Form als auch der Funktion – gewährleistet werden. In statistischer Hinsicht wird die Skepsis der Existenz konstruktionsbasierter Alternanz durch Gries & Stefanowitsch (2004) bestärkt: […] ‚alternation‘, there is clear evidence that each of the two members of the alternating pair is a construction in its own right with its own meaning. These meanings may overlap, thus placing the constructions in a partial paraphrase relationship with each other; still, what is primary are the constructions, and not the paraphrase relations. Gries & Stefanowitsch (2004: 124)

Entgegen dieser relativ strengen Ablehnung konstruktionaler Varianten entwickelten sich innerhalb der CxG dennoch Ansätze zu semantischer Alternation (vgl. Cappelle 2006, 2009; Perek 2015) und kontaktbedingter Variation (vgl. Höder 2011, 2014a). Cappelle (2006) führt mehrere Gründe für die Annahme von Allo-Konstruktionen in der CxG an (vgl. zum phonologischen Konzept der AlloVariante auch Abschnitt 3.2.2). Zunächst sei es aus der Sicht kognitiver Kategorisierungsprozesse unplausibel anzunehmen, dass Konstruktionen, die in der Form als auch in der Bedeutung in hohem Maße ähnlich sind, als unverbundene Konstruktionen gespeichert werden (vgl. Cappelle 2006: 187). Diese Annahme stützt er auf zwei entscheidende Argumente. Zum einen dienen semantisch und formal ähnliche Konstruktionen im Spracherwerb der statistical preemption neuer Konstruktionen und damit der Vermeidung von Übergeneralisierung (vgl. Brooks et al. 1999: 1326; Goldberg 2006: 94–96). Zudem verweist er – unabhängig vom Erstspracherwerb – auf sprecherbezogene Ähnlichkeitsassoziation zwischen Konstruktionen, die im Sinne des Clusterings zu ähnlichen Kategorisierungen und adjazenten Speicherungen im kognitiven Netzwerk führen (vgl. Cappelle 2006: 12; dazu auch Perek 2015: 175–194; Bybee 2010: 33–56). Vor diesem Hintergrund geht Cappelle auch innerhalb semantischer Netzwerke der CxG von der Existenz sogenannter allostructions aus, die er wie folgt definiert: „Allostructions are (truth-)semantically equivalent but formally distinct manifestations of a more abstractly represented construction“ (Cappelle 2009: 187). Abb. 11 verdeutlicht die CxG-Modellierung von Allostructions am Beispiel des particle placements im Englischen.

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[VP, trans V {PRT} NPDirect O {PRT}]

[VP, trans V {PRT} NPDirect O]

[VP, trans V NPDirect O {PRT} ]

[VP, trans pick {up} NPDirect O {up} ]

[VP, trans pick up NPDirect O]

[VP, trans pick NPDirect O up]

Abb. 11: Konstruktionale Allostructions nach Cappelle (2006)

Die formale und semantische Ähnlichkeit von Konstruktionen bedingt die Ausbildung einer hierarchisch übergeordneten Superkonstruktion, welche formal unterspezifiziert ist und zwei oder mehrere Allo-Varianten protegiert (angezeigt durch den Doppelpfeil). Diese Ähnlichkeit entsteht durch Analogiebildungen im alltäglichen Sprachgebrauch, ist jedoch nicht im Sinne vollständiger Synonymie zu verstehen. In den Allo-Varianten sind semantische und pragmatische Details repräsentiert, die sie – analog zur strengen CxG-Perspektive – zu eigenständigen Konstruktionen machen. Sie sind im Lexikon als unabhängige Einheiten mit identischer Bedeutung und quasi-identischer Form gespeichert und werden nicht, wie im Verständnis der generativen Grammatik, voneinander abgeleitet. Cappelle lehnt sich in seinen theoretischen Ausführungen explizit an das Konzept der linguistische Variable und der Allo-Varianten nach Labov (1966b) an (vgl. auch Abschnitt 3.2.2). Im Hinblick auf die Operationalisierbarkeit von Allo-Varianten bedingen nach Cappelle (2006: 187) nur freie, nicht aber komplementäre Formen der Variation42 die Ausbildung einer gemeinsamen Superkonstruktion. Methodisch werden Allo-Konstruktionen mithilfe der Distributionsanalyse ermittelt und müssen wahrheitskonditional äquivalent sein. Neben Cappelles Ansatz wurde die Idee variierender Konstruktionen in Verbindung mit Fragen des Sprach- und Varietätenkontakts in den Arbeiten von Pietsch (2010), Zenner, Speelman & Geeraerts (2012) und Höder (2012, 2014a)

|| 42 Cappelle (2009: 197) bezieht sich mit dem Verweis auf ‚freie Variation‘ auf den Unterschied zwischen statistischer Vorhersagbarkeit der Verwendung der einen oder anderen Variante im Gebrauch und dem tatsächlichen Gebrauch in situ. Cappelle referiert damit auf die Tatsache, dass der usage-based-Ansatz eine probabilistische Theorie ist, die nicht alle sprachlichen Faktoren exhaustiv und deterministisch erklären kann.

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ausgebaut. Den elaboriertesten Ansatz auf diesem Gebiet stellt die Diasystematic Construction Grammar (DCxG) von Höder (2012, 2014a, 2014b) dar. Die Kritik Höders an traditionellen CxG-Ansätzen konzentriert sich auf den fehlenden Bezug der Theorie auf Fragen des Multilektalismus und des Multilingualismus. Basierend auf dem Diakonzept nach Weinreich (1954) bilden Varietäten in der DCxG durch den Abgleich phonologischer, morphologischer, syntaktischer oder semantischer Ähnlichkeiten sogenannte „diasystematic link[s]“ (Höder 2012: 246) aus. Diese sprachübergreifenden Kategorisierungen können Ausgleichsund Interferenzphänomene auf kognitiver Ebene erklären. Je ähnlicher sich zwei Sprachen oder Varietäten in typologischer Hinsicht sind, desto wahrscheinlicher ist die Ausbildung eines gemeinsamen, varietätenübergreifenden Diasystems in der Kognition (vgl. Höder 2012: 24). Im Höder’schen Modell sind alle Ebenen – von der Phonologie bis zur Syntax – unter dem Blickwinkel der Diasystematizität modelliert worden (vgl. Höder 2012; 2014b). Auf der syntaktischen Ebene erklärt er beispielsweise diskontinuierliche Pronominaladverbkonstruktionen als kontaktbedingte kognitive Interferenzen zwischen dem Niederdeutschen (z.B. Ik weet dor nix vun) und dem nördlichen Hochdeutsch (z.B. Ich weiß da nichts von), die sich formal von der schriftsprachlichen Standardvariante (z.B. Ich weiß davon nichts) unterscheiden. Abb. 12 zeigt die CxG-Modellierung des sprachkontaktbedingten Zusammenhangs zwischen diesen Varietäten nach Höder (2014a: 145). Diakonstruktion DEMPART1, PREP2 (preposition, demonstrative, pro (inanimate referent)

Variante: Standardvarietät

Variante: Niederdeutsch/ nördliches Hochdeutsch

(da/dar1, PREP2 )NP

dor1… PREP2

(preposition, demonstrative, pro (inanimate referent)

(preposition, demonstrative, pro (inanimate referent)

Abb. 12: Diakonstruktionen durch Varietätenkontakt in der DCxG (Höder 2014a)

Diasystematische Netzwerke bestehen zum einen aus sprachspezifischen, konkreten Konstruktionen (gestrichelte Kästchen), zum anderen aus sprachunspezifischen, schematischen Diakonstruktionen (Kästchen mit durchgezogener Linie). Die kontinuierliche Standardvariante und die diskontinuierliche Nieder-

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deutschvariante bilden aufgrund von Varietätenkontakt eine gemeinsame Diakonstruktion mithilfe eines diasystematischen Links aus.43 Die Konstruktion in der standardnahen Umgangssprache ist isomorph mit der niederdeutschen Variante, jedoch in lexikalischer Hinsicht mit hochdeutschem Material gefüllt. Die Diakonstruktion ist nicht nur formal, sondern auch im Hinblick auf ihre syntaktische Stellung unterspezifiziert. Die Modelle von Cappelle und Höder verschreiben sich der Idee eines kognitiven tertium comparationis innerhalb der CxG-Theorie und der Frage der Implementation von Variation ins Konstruktikon. Dabei ist die Annahme kognitiver Abstraktionen – ob Superkategorie bei Cappelle oder Diakonstruktion bei Höder – psycholinguistisch durch Erkenntnisse zu Kategorisierungsprozessen und der statistical preemption als durchaus überzeugend zu werten. Theoretisch ist diese Idee auch durch den bereits in der kognitiven Linguistik eingeführten und psycholinguistisch vor allem in der Spracherwerbsforschung nachgewiesenen Schema-Begriff belegt (vgl. Bybee & Slobin 1982; für einen Überblick Bücker 2015). Ferner stützen einschlägige Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung die Theorie einer kognitiven Verbindung zwischen Übersetzungsäquivalenten zweier Sprachen oder Varietäten (vgl. dazu auch das bilinguale Verarbeitungsmodell nach Kroll & Dijkstra 2010: 351). Beide Ansätze zeichnen sich bisher durch eine rein theoretische Konzeption und eine fehlende Diskussion von zugrundeliegenden Operationalisierungskonzepten aus. Cappelle (2006) positioniert sich – deutlicher als Höder – in methodischer Hinsicht durch die Anlehnung an die (phonologische) Distributionsanalyse und den wahrheitslogischen Semantikansatz. Die Übertragung eines phonologischen Variationsbegriffs auf die syntaktische Ebene birgt jedoch entscheidende Probleme, da hier nicht nur die lexikalische Distribution, sondern auch pragmatische Faktoren Einfluss auf die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit von Konstruktionen haben (vgl. Abschnitt 3.2.2.1). Die Frage, ab welchem Ähnlichkeitsgrad syntaktische Konstruktionen eine gemeinsame Super- oder Diakonstruktion ausbilden, ist bisher nicht ausreichend diskutiert und operationalisiert worden. Dabei können unterschiedliche Formen von Ähnlichkeit eine Rolle spielen: (1) Formale Ähnlichkeit aufgrund der Füllung durch ähnliches lexikalisches Material oder (2) Funktionale Ähnlichkeit durch funktionale Äquivalenz im Sprachhandeln unabhängig von der Form. Beide Modelle fokussieren

|| 43 Da das Modell nicht auf empirischer Basis erstellt wurde, bleibt offen, ob die diskontinuierliche und die adjazente Pronominalkonstruktion – unabhängig von ihrer formalen Ähnlichkeit – auch eine semantische oder funktionale Ähnlichkeit im Gebrauch auszeichnet. Dies müsste durch eine Korpusanalyse erst noch bewiesen werden.

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ausschließlich formale Ähnlichkeit zwischen Konstruktionen. Der Ähnlichkeitsbegriff der vorliegenden Untersuchung wird sowohl formal als auch funktional definiert (vgl. Abschnitt 3.2.2.1). Ferner widerspricht die enge Anlehnung beider Modelle an strukturalistische Konzepte und Termini wie Cappelles strukturalistisches Variationsverständnis oder Höders strukturalistischer Diasystembegriff, aber auch die Vertretung einer wahrheitslogischen Semantik bei Cappelle den Grundannahmen einer gebrauchsbasierten Semantik (vgl. Abschnitt 3.1.1). Wenn wir innerhalb der konstruktionsgrammatischen Theorie nicht von ‚freier‘ und ‚komplementärer‘ Variation im strukturalistischen Sinne sprechen möchten, bleibt die Frage, wie syntaktische Variation funktional-gebrauchsbasiert redefiniert und operationalisiert werden kann. Im Sinne der Verbindung von Sprachhandeln und Sprachwissen wird in den nächsten Abschnitten daher ein funktionaler syntaktischer Variationsbegriff im Sprachgebrauch entwickelt (vgl. Abschnitt 3.2.2.1) und mit einem sprachverarbeitungsbasierten Variationsbegriff kontrastiert (vgl. Abschnitt 3.2.2.2). Beide Definitionen von Variation werden damit gegenstandsangemessen im Rahmen der kombiniert korpus- und sprachverarbeitungsbasierten Methodik der Untersuchung gefasst (vgl. 3.1.2). Als Gegenfolie zum syntaktischen Variationsverständnis wird jedoch zunächst das Konzept der phonologischen Variable nach Labov (1966b) in Abschnitt 3.2.2 vorgestellt.

3.2.2 Syntaktische Variation in Sprachhandeln und Sprachverarbeitung Die Labov’sche (quantitative) Sozio-Linguistik (vgl. Labov 1966b, 1966c, 1972a, 1972b, 1972c) versuchte als erster Ansatz die dichotomische Opposition zwischen System und Variation zu überwinden, indem sprachliche und außersprachliche Faktoren nicht mehr als voneinander unabhängige, sondern als sich gegenseitig bedingende Bereiche verstanden wurden. Labov konnte zeigen, dass alternative Wege um das Gleiche in unterschiedlichen Varietäten auszudrücken nicht auf der Basis freier Variation entstehen, sondern signifikant mit regionalen, sozialen und situativen Prädiktoren korrelieren (u.a. sozioökonomischer Status und Situation (formell-informell), vgl. Labov 1966c; Geschlecht, vgl. Gordon 1997; Sprechergruppenparadigmen, vgl. Milroy 1987). Statt freier Variation wurde also eine „strukturierte Heterogenität“ angenommen (vgl. Weinreich, Labov & Herzog 1968: 101).44 Neben dem Einfluss exogener Faktoren auf

|| 44 Dies bedeutet nicht, dass freie Variation bei Labov völlig ausgeschlossen wäre: „Free variation certainly exists, in the sense of irreducible fluctuations in the sounds of a language with-

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den Gebrauch von Varianten konnte Labov (1966a: 108) auch zeigen, dass soziale Normen in Form von offenem oder verdecktem Prestige eine Rolle für die Konstanz oder den Abbau linguistischer Varianten in einer Gruppe spielen. Für den Gebrauch regionalsyntaktischer Phänomene bedeutet dies, dass sie, entgegen des synchron zunehmenden Dialektabbaus, als gruppenspezifische, identitäre Zeichen von (autochthonen) SprecherInnen bedingt durch ein covert prestige beibehalten werden können. Zentrale Methode zur Beschreibung von Variation bei Labov ist das Konzept der linguistischen Variable.45 Labov (1966b: 15) beschreibt diese als Einheit mit zwei oder mehr Ko-Varianten, die mit anderen linguistischen, situationalen und/oder sozialen Variablen kovariieren. Die Variable muss dabei als Abstraktion oder kognitives tertium comparationis analog zum Type-Token-Konzept verstanden werden, welche allein durch die Rekonstruktion der Varianten im aktuellen Gebrauch zugänglich gemacht werden kann (vgl. Labov 1966b: 21; vgl. Abschnitt 3.1.1). Der Sprachgebrauch spielte demnach schon immer eine entscheidende Rolle für die soziolinguistische Variationsforschung. Es ist der Ort, an dem die strukturierte Heterogenität von Variation und der systematische Sprachwandel durch Variation sichtbar wird. Einschlägige Untersuchungen zur (sozio-)linguistischen Variable finden sich fast ausschließlich im Bereich der Phonologie, da sich Phoneme aufgrund ihrer hohen Frequenz und der salienten Markierung unterschiedlicher Codes besonders für die Anschaulichkeit des Konzepts eignen (vgl. Labov 1966b: 15; Lavandera 1978: 175; Cheshire 1987: 268). Für phonologische Variablen konnte Labov (1966b: 10–12) zeigen, dass sich die Variablen-Varianten-Konstellationen in (i) der Bedingtheit von Variation (sprachsysteminterner vs. –externer Einfluss auf die Varianten) und (ii) in der kategorischen Beschaffenheit der VariablenVariantenstruktur an sich (cross-structural variation vs. integral category) unterscheiden. Zentrale Methodik zur Untersuchung phonologischer Variation innerhalb der Sozio-Linguistik ist die Distributionsanalyse (vgl. Harris 1951: 15; Helbig 1983: 95). Sprachliche Einheiten werden dabei nicht aufgrund ihrer

|| out any one significant conditioning factor“ (Labov 1966b: 5). Die angesprochenen Schwankungen werden von Labov vor allem im artikulatorischen und statistischen Sinne verstanden. 45 Linguistische Variablen beziehungsweise variable Regeln haben bei Labov keinen sprachtheoretischen Status, sondern werden lediglich als „heuristische Hilfsmittel“ definiert (Labov 1966c: 59), um Varianten innerhalb einer Sprachtheorie zu dokumentieren. Winford (1984: 276–277) sieht jedoch in der Tatsache, dass die linguistische Variable in Form variabler Regeln in der Kompetenz verankert ist, einen klar kognitionsorientierten Ansatz von Variation gegeben. Damit geht seiner Ansicht nach das Konzept der linguistischen Variable selbst bei Labov über die Funktion eines heuristischen Hilfsmittels hinaus.

Syntaktische Variation | 85

Bedeutung, sondern ihrer Form, lexikalischen Umgebung und Verteilung in unterschiedlichen Distributionsklassen analysiert (vgl. Harris 1951: 7; Helbig 1983: 95).46 Varianten werden danach ausgewählt, ob sie im gleichen Lexem beziehungsweise der gleichen Distribution vorkommen. Phonologische Variablen wie beispielsweise die Untersuchung von [r] in New York City (vgl. Labov 1966c) sind in dem Sinne linguistisch äquivalent, da sie als stilistische Varianten desselben Lexems in unterschiedlichen Varietäten gebraucht werden. Dass Bedeutung im engeren Sinne keine Rolle für die Distributionsanalyse spielt, heißt jedoch nicht, dass Labov keinen Semantikbegriff vertreten würde. Das Konzept der linguistischen Variable impliziert, dass allophonische Varianten zwar sozial beziehungsweise stilistisch variieren, jedoch linguistisch äquivalente Wege sind, um den gleichen Sachverhalt auszudrücken. Labov gebraucht in seinen Texten hierfür den Begriff sameness. Social and stylistic variation presuppose the option of saying ‚the same thing‘ in several different ways; that is, the variants are identical in reference or truth value, but opposed in their social and/or stylistic significance. (Labov 1972c: 271)

Er beruft sich damit auf Bloomfields’ fundamentales Postulat, dass Äußerungen in Form und Funktion teilweise ähnlich sein können, und benennt dies im semantisch wahrheitslogischen Sinne als same (Labov 1978b: 7). Dabei räumt Labov jedoch auch ein, dass es keine vollständige Synonymie geben kann (vgl. Weiner & Labov 1983: 30). Diese Annahmen basieren auf denotations- und wahrheitskonditionalen Äquivalenzrelationen und liefern in der strukturalistischen Theorie die Basis für Allo-Relationen in der Phonologie und Morphologie. Der Begriff Allo (griech. άλλο, (allo-) ›anders als‹) verweist dabei auf die unterschiedlichen konkreten Realisierungsformen eines gemeinsamen tertium comparationis (vgl. Glück & Rödel 2016: 29). Allophone sind demnach mögliche Realisationen eines gemeinsamen Phonems (z.B. [ç] und [x] im Deutschen), Allomorphe werden als Alternanten eines gemeinsamen abstrakten Morphems definiert (z.B. {Plural} durch {-en} bei Bauern, {-er} bei Kinder). || 46 Dabei werden drei Formen der Variation beziehungsweise Distribution nach strukturalistischem Vorbild unterschieden: (1) Freie Variation, (2) komplementäre Distribution und (3) Kontrastdistribution. Während Formen freier phonologischer Variation nicht zu einer Bedeutungsdifferenzierung bei Lexemen führen (vgl. im Deutschen die regionalspezifische Realisierung von /r/), sind Formen komplementärer Distribution an unterschiedliche lexikalische Umgebungen gebunden (vgl. allophonische Varianten [ç] und [x] im Deutschen). Das Prinzip der komplementären Distribution operiert auf einem erweiterten Prinzip der Oppositionsbeziehung, nämlich des Kontrastes (vgl. Minimalpaaranalyse).

86 | Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation

In der Frage um die Erweiterbarkeit des Ansatzes der linguistischen Variable auf syntaktische Fragestellungen reformulierte Labov die Definition „saying the same thing“ in „truth-conditionally equivalent used on the whole to refer to the same states of affairs“ (Weiner & Labov 1983: 32; vgl. auch Labov 1978b). Die Definition von ‚Bedeutung‘ bemisst sich danach, ob zwei Äußerungen im wahrheitstheoretischen Sinne das gleiche Ereignis denotieren (vgl. Weiner & Labov 1983: 30). In der Übertragung des Konzepts der linguistischen Variable auf die syntaktische Ebene konzentrierten sich Weiner & Labov (1983) vornehmlich auf Äquivalenzpaare, die bereits im Rahmen der generativen Grammatik als alternierende, voneinander abgeleitete Derivationen diskutiert wurden (u.a. Aktiv vs. Passiv, Cleft-Sätze vs. kanonische Satzstruktur). Die pragmatische Bedeutung, die für diese syntaktischen Varianten bei Weiner & Labov (1983) diskutiert wurde, konzentrierten sich auf informationsstrukturierende Unterschiede zwischen den Kategorien Gegeben-Neu und Topik/Kontrast (vgl. auch den Ansatz der allo-sentences nach Lambrecht 1994). Mit Blick auf den konstruktionsgrammatischen Ansatz der Untersuchung wird deutlich, dass die wahrheitskonditionale Definition von ‚Bedeutung‘ bei Labov mit der gebrauchsbasierten Idee sprachlicher Zeichen nicht kompatibel ist (vgl. 3.1.1). Syntaktische Konstruktionen sind in ihrer Bedeutung durch die Wechselwirkung von Semantik und Pragmatik vielschichtiger als Phoneme und damit schwieriger als Varianten einer Variable zu operationalisieren. Zudem löst der Ansatz aus anwendungsbezogener Perspektive nicht die Problematik, wie semantische Äquivalenz von Sätzen außerhalb traditioneller Kontrastpaare wie Aktiv-Passiv zu definieren wäre. Abschnitt 3.2.2.1 stellt daher Ansätze vor, die einen funktional-pragmatischen Fokus auf syntaktische Variation im Sprachgebrauch entwickelt haben. Davon abgrenzend beleuchtet Abschnitt 3.2.2.2 den Variationsbegriff in der sprachverarbeitungsbasierten Forschung. 3.2.2.1 Variation, Sprachhandeln und Funktionale Äquivalenz Im Laufe der Forschung zu syntaktischer Variation sind eine Reihe von theoretischen und methodischen Konzepten entstanden, die eine einfache Übertragung der (phonologischen) linguistischen Variable auf die syntaktische Ebene zurückweisen (vgl. Lavandera 1978; Dines 1980; Romaine 1980; Winford 1984; Cheshire 1987, 2005; Macaulay 1989, 2005; Erman 1992; Stubbe & Holmes 1995; Pichler 2013). Die Forschungsschwerpunkte in diesem Bereich befassen sich vor allem mit der theoretischen und methodischen Fassung syntaktischer Variations- und Äquivalenzkonzepte und der Frage, ob syntaktische Varianten soziale und/oder stilistische Bedeutung analog zur soziolinguistischen phonologischen Variable tragen müssen. Die Kritik dieser Ansätze am syntaktischen

Syntaktische Variation | 87

Variationskonzept von Weiner & Labov (1983) konzentriert sich auf drei Punkte: (1) Die unhinterfragte Übertragung des Prinzip der semantischen Äquivalenz auf die syntaktische Ebene, (2) das Verständnis von Pragmatik und die dahinterstehende Methodologie und (3) die reduzierte Perspektive auf syntaktische Phänomene, die als Alternanzpaare innerhalb der generativen Grammatik diskutiert wurden. Der Beitrag von Lavandera (1978) mit dem Titel Where does the sociolinguistic variable stop war der erste, der die Übertragung des Konzepts der linguistischen Variable auf die syntaktische Ebene infrage stellte und damit eine theoretische wie methodische Neuorientierung in der Untersuchung syntaktischer Variation einleutete. Hauptkritikpunkt in der Verbindung des theoretischen Konzepts der (sozio-)linguistischen Variable und syntaktischen Phänomenen war die Definition und Operationalisierung semantischer Äquivalenz: What I will be questioning is whether that ground of clear semantic equivalence can be abandoned to carry out the same kind of study of variation for syntactic or morphological units which have to be proven to mean ‚the same‘ to be treated as evidence of variability, and furtheremore, whether semantic equivalence must in fact be a requirement at all. (Lavandera 1978: 175)

Statt der Annahme semantischer Äquivalenz entwickelte Lavandera (1978: 181) das Konzept einer funktionalen Äquivalenz (functional comparability) zur Untersuchung syntaktischer Variation im Sinne eines funktional-pragmatischen Ansatzes. In ihrer Besprechung der syntaktisch soziolinguistischen Variablen von Weiner & Labov (1983) zeigte Lavandera, dass syntaktische Variation nicht immer durch soziale und/oder stilistische Unterschiede erklärt werden kann, sondern das Ergebnis unterschiedlicher Informationsstrukturierung im Diskurs ist. Bei Lavandera (1978) steht damit allein die Pragmatik im Fokus der Frage nach syntaktischer Alternation. Distribution wird in Abgrenzung zur phonologischen Variation nicht anhand der lexikalischen Umgebung, sondern der Untersuchung ähnlicher informationsstrukturierender Einheiten im Gebrauch operationalisiert. Die Äquivalenz des engeren semantischen Inhalts wird in diesem Konzept vernachlässigt. Aus dem Ansatz von Lavandera entwickelten sich in den 1980er Jahren weitere informationsstrukturelle Arbeiten, die das Konzept funktionaler Äquivalenz von syntaktischen Varianten im Diskurs vor allem theoretisch ausbauten (vgl. Dines 1980; Romaine 1980; Winford 1984; Sankoff 1988). Methodisch plädieren diese Ansätze für eine quantitative Untersuchung funktionaler syntaktischer Diskursvariablen und sind damit nah an der traditionellen soziolinguistischen Forschung ausgerichtet.

88 | Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation

Parallel zur rein quantitativ ausgerichteten syntaktisch-soziolinguistischen Variationsforschung entstand in den 1980er Jahren eine qualitative Bewegung zur Untersuchung syntaktischer Variation, welche ein dezidiert interaktionsund handlungsbezogenes Sprachverständnis vertrat und damit eine theoretisch wie methodische Neuausrichtung der syntaktisch-pragmatischen Variationsforschung am konversationsanalytischen Konzept forderte (vgl. Macaulay 1977; Coupland 1983; Dittmar 1983; Cheshire 1987). Nach Dittmar (1983: 251) wird syntaktische Variation in diesem Forschungszweig im Rahmen der „soziale[n] Genese“ untersucht. In Abgrenzung zu Labovs Perspektive auf den Sprechenden als statischem Teil einer vordefinierten Gruppe sind diese Ansätze stärker auf den individuellen, sozial handelnden Sprechenden ausgerichtet. Syntaktische Variation dient in diesen Ansätzen der Bewältigung des alltäglichen Interaktionsmanagements: „Variation constitutes a social semiotic system capable of expressing the full range of a community’s social concerns“ (vgl. Eckert 2012: 94). Ausgangspunkt dieser Untersuchungen sind damit handlungsbasierte funktionale Einheiten (z.B. Handlungen der Gesprächseröffnung etc.). In einem zweiten Schritt verbinden diese Ansätze die handlungsbasierten variierenden Ressourcen mit soziolinguistischen Parametern wie Geschlecht, Region oder sozioökonomischer Status in Anlehnung an die Labov’sche Soziolinguistik. Die ersten Untersuchungen im Rahmen einer sozial-handlungsbasierten syntaktischen Variationsforschung konzentrierten sich auf pragmatisch-funktionale Einheiten der englischen Sprache wie Diskursmarker (vgl. Holmes 1986; Woods 1991; Erman 1992; Stubbe & Holmes 1995; Ferrara & Bell 1995), aber auch Pronomen (vgl. Macaulay 1989) und Adverbien (vgl. Macaulay 1995). Diese Ansätze zeigen, dass linguistische Ressourcen im Sinne einer strukturierten Heterogenität in der Interaktion variieren und Sprachwandelprozessen unterliegen. Coupland (1983) fand beispielsweise in der Analyse authentischer Beratungsgespräche in Reisebüros heraus, dass der Gebrauch bestimmter linguistischer Ressourcen in Gesprächseröffnungen, -schließungen oder der Darstellung des Anliegens im Zusammenhang mit dem sozioökonomischen Hintergrund der SprecherInnen steht. Aktuelle Forschungen der diskursbasierten Variationsforschung erweitern diese ersten Ansätze in zweifacher Hinsicht: (1) Quantitativ, durch die Anwendung elaborierter statistischer Verfahren und (2) qualitativ, durch einen stärker individuenzentrierten und kontextbasierten Ansatz der Untersuchung diskursbasierter Variation (vgl. Andersen 2001, 2016; Ito & Tagliamonte 2003; Tagliamonte & D’Arcy 2004; Levey 2006; Cheshire 2007; Drager 2010; Fox 2012; Levey, Groulx & Roy 2013; Pichler 2009, 2013, 2016; Waters 2016; Levey, Fox & Kastronic 2017). Methodisch überwiegen auch in den neueren Ansätzen der

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syntaktisch-pragmatischen Variationsforschung in erster Linie quantitative Methoden. Nur wenige Ansätze wenden einen gleichberechtigten mixedmethods-Ansatz aus qualitativer Konversationsanalyse und quantitativer Statistik an (vgl. Levey 2006; Fox 2012; Pichler 2009, 2013, 2016). Genau wie die älteren Ansätze der diskurssyntaktischen Variationsforschung betrachten auch die neueren Ansätze vornehmlich Phänomene der Diskursorganisation (v.a. Question Tags, Diskursmarker und Quotative). Fox (2012) beispielsweise zeigt in ihrer Studie zu Quotativen wie be like und this is+speaker im Sprachgebrauch Londoner Jugendlicher, dass nicht nur soziolinguistische Faktoren wie Geschlecht und Alter, sondern auch die Position der Quotative innerhalb der Narration einen Einfluss auf den Gebrauch und den Wandel der Ressource hat. Dabei wird die Variation zwischen den Quotativen als Index für unterschiedliche narrativ-inszenierende Handlungen eingesetzt. Darüber hinaus zeigt Pichler (2016), dass der Gebrauch des Tags innit im Londoner Englisch in der sequenziellen Positionierung und der interaktionalen Funktion vom ethnischen Hintergrund der SprecherIn abhängt. Ferner erarbeitet Levey (2006) mit Blick auf die Tempusvariation in Narrationen von präadoleszenten britischen Kindern, dass die Variation zwischen dem Simple Past und dem Present Perfect zunehmend als pragmatischer Marker zur Anzeige unterschiedlicher narrativer Handlungen (Eventrekonstruktion vs. Dramatisierung) verwendet wird (vgl. auch Levey, Fox & Kastronic 2017). Die vorliegende Untersuchung möchte zeigen, dass auch traditionellere kernsyntaktische Phänomene wie die angefangen-Auxiliarvariation als linguistische Ressourcen zur Anzeige funktionaler Einheiten in mündlichen und schriftlichen Handlungen eingesetzt werden. Dabei lehnt sich die Arbeit an die einschlägige diskurspragmatische soziolinguistische Variationsforschung an, welche syntaktische Variation sowohl qualitativ konversationsanalytisch als auch quantitativ statistisch untersucht (vgl. Levey 2006; Pichler 2009, 2013, 2016). Dieser Ansatz ist m.W. innerhalb der germanistischen syntaktischen Variationsforschung bisher nicht empirisch angewendet worden. Auch vor dem Hintergrund eines regionalsyntaktischen Zugriffs betont Scheutz (2005: 295) die Notwendigkeit eines interaktionalen Ansatzes zur Untersuchung von Dialektsyntax. In Anlehnung an Schegloffs (1979) Syntax-for-Conversation fordert er, „die Verankerung dieser ‚natürlichen Objekte‘ in ihrem angestammten mündlich-spontansprachlichen ‚habitat‘ ernst [zu nehmen] und [das] Augenmerk auf die wechselseitige Bedingtheit von Sprache und sozialer Interaktion [zu richten]“ (Scheutz 2005: 296). Angelehnt an das programmatische Plädoyer von Scheutz wird die Analyse regionalsyntaktischer Konstruktionen als soziale Interaktionsressourcen in der vorliegenden Arbeit umgesetzt (vgl. 4.2.1).

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Die durch Lavandera (1978) angestoßene Idee funktionaler Äquivalenz stellt dabei einen wichtigen theoretischen Ansatzpunkt für eine handlungsgeleitete Definition von syntaktischer Variation dar. Zunächst ist die Vernachlässigung des Kriteriums semantischer Äquivalenz zugunsten der Idee einer funktionalen Vergleichbarkeit im Diskurs ganz im Sinne einer anwendungsbezogenen Perspektive auf Sprache und Syntax. In Anlehnung an den semiotischen Ansatz der CxG wird Diskursfunktionalität als Teil der Semantik des sprachlichen Zeichens verstanden, da sich Bedeutung im soziosemiotischen Sinne in erster Linie aus dem handlungsbezogenen Gebrauchskontext ergibt (vgl. 3.1.1). Syntaktische Variation unterschiedlicher linguistischer Praktiken wird daher als Teil des sozialen Interaktionsmanagements verstanden. Theoretisch ist die Idee funktionaler Äquivalenz mit dem in Abschnitt 3.1.1 eingeführten gebrauchsbasierten Type-Token-Konzept vereinbar. Die syntaktisch-pragmatische Untersuchung von Variation kann ihren Ausgangspunkt im funktionalen Type (Funktion) oder den jeweiligen Tokens (Form) nehmen (vgl. Abb. 13). Wenn diskurssyntaktische Variationsforschungen vom abstrakten funktionalen Type ausgehen, z.B. der funktionalen Einheit Quotativ, besteht die primäre Forschungsfrage darin, welche formalen Ressourcen zur Bildung dieser funktionalen Einheit im jeweiligen Sprachgebrauch variierend eingesetzt werden. Dabei ist von Interesse, ob diese Praktiken tatsächlich funktional äquivalent sind oder sich in pragmatischer oder soziolinguistischer Hinsicht unterscheiden. In diesem Ansatz wird versucht, die linguistischen Formen, mit denen die jeweilige funktionale Einheit im Gebrauch gebildet werden kann, möglichst exhaustiv zu erfassen (Untersuchungstyp A in Abb. 13).

Type (2) (verb of motion)

Form 1 (go +)

Form2 (say + )

Type (1) /funktionale Einheit (z.B. Quotative actions)

Form 3 (be like +)

Untersuchungstyp A) B)

Form 4 (this is + speaker)

Abb. 13: Untersuchungstypen diskurssyntaktischer Variation nach dem Type-Token-Modell

Wenn diskurssyntaktische Variationsansätze hingegen von den linguistischen Ressourcen, z.B. den Formen say + oder be like +, ausgehen, besteht das Forschungsziel in der Rekonstruktion eines gemeinsamen funktionalen Types, der durch einflussnehmende soziolinguistische Faktoren in der Reichweite des

Syntaktische Variation | 91

Gebrauchs – zum Beispiel für bestimmte Altersgruppen – genauer definiert werden kann. Hier steht die Idee funktionaler Äquivalenz durch die Wahl bestimmter linguistischer Ressourcen (Formen) am Anfang der Forschungsfrage, die durch qualitative und/oder quantitative Methoden pragmatisch als auch soziolinguistisch bestätigt werden (Untersuchungstyp B in Abb. 13). Dabei können mit Blick auf das sprachliche Zeichen als Form-Funktionspaar zwei formal unähnliche syntaktische Konstruktionen genauso von einem gemeinsamen funktionalen Type abhängen, wie zwei formal ähnliche syntaktische Konstruktionen. Innerhalb der einschlägigen diskurssyntaktischen Variationsforschung ist der Untersuchungstyp B der am häufigsten angewendete. Im Folgenden möchte die vorliegende Arbeit einen kombiniert qualitativen und quantitativen Operationalisierungsvorschlag des syntaktischen Variationskonzepts unternehmen. Um den qualitativen Ansatz gegenstandsangemessen für interaktionale und schriftliche Daten zu operationalisieren, werden die medialitätsangemessenen Methoden der Gesprächsanalyse und der praktikenorientierten Textanalyse zur Analyse der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion und ihrem Variationsverhältnis zur haben-Variante herangezogen (vgl. 4.1.4.1 und 5.1.3). Regionalsyntaktische Konstruktionen werden dabei als Praktiken zur Anzeige kommunikativer Handlungen in kommunikativen und literalen Gattungen analysiert und das relative (nicht-)funktionale Variationsverhältnis auf Basis sprachlicher Handlungen zueinander rekonstruiert. Ähnliche interaktionale und literale Handlungen bilden damit das tertium comparationis der angefangen-Varianten. Abb. 14 visualisiert die Idee hinter einem Type-Token-Modell syntaktisch funktionaler beziehungsweise nicht-funktionaler Variation der angefangen-Konstruktionen. Im Fall von funktionaler Variation bilden die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]und die [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktionen Aktualisierungen voneinander unabhängiger handlungsbasierter Types. Mit Blick auf die praktikenbezogene Operationalisierung werden die angefangen-Konstruktionen damit zur Anzeige unterschiedlicher kommunikativer Handlungen in der Interaktion und der Schrift eingesetzt. Mit Blick auf die CxG-Perspektive und das Konzept von Cappelle (2006) funktionieren sie unabhängig von ihrer Form nicht als AlloKonstruktionen, sondern als eigenständige Konstruktionen im Konstruktikon (vgl. 3.2.2). Im Fall von nicht-funktionaler Variation bilden die angefangenKonstruktionen formale Ausprägungen desselben handlungsbasierten Types. Sie werden als orate oder literale Praktiken in der Interaktion und der Schrift für ähnliche kommunikative Handlungen eingesetzt. Sie sind im kommunikativ handlungsbezogenen Sinne funktional äquivalent. Innerhalb der CxG-Perspektive werden funktional äquivalente Konstruktionen als Allo-Konstruktionen

92 | Von der Auxiliarselektion zur Konstruktion und Variation

nach Cappelle (2006) oder Allo-Varianten im Sinne der traditionellen Variationslinguistik definiert und modelliert.47

Funktionale angefangen-Variation

Funktionaler Type (1) (Handlungstyp A)

Funktionaler Type (2) (Handlungstyp B)

Nicht-funktionale angefangen-Variation (funktionale Äquivalenz) Funktionaler Type (Handlungstyp A)

[_(sein)_(angefangen)_] [_(haben)_(angefangen)_] [_(sein)_(angefangen)_] [_(haben)_(angefangen)_]

Abb. 14: Type-Token-Modell funktionaler und nicht-funktionaler angefangen-Variation

Dieses funktionale Konzept kann in zweiter Linie mit Fragen der Frequenz, der Medialität und der Interdependenz mit grammatischen und soziolinguistischen Faktoren verbunden werden. Die Stärke der Abhängigkeit einer Konstruktion von einem kognitiven Type kann quantitativ durch statistische Verteilungen und statistische Beziehungen zwischen Variablen nach dem From-Corpus-toCognition-Prinzip in Beziehung gesetzt werden (vgl. 3.1.2). Das bedeutet, je frequenter eine angefangen-Konstruktion zur Anzeige einer bestimmten Handlung im jeweiligen Gebrauchskorpus vorkommt, desto stärker wird die kognitive Verbindung zwischen Token und Type angenommen. Ferner muss auch die Medialität des Zeichens – das tuone nach Peirce (1967: 200) – in der Betrachtung des Variationsverhältnisses der angefangen-Konstruktionen einbezogen werden, da auch sie das Verständnis von Handlung und Funktion prägt. Zudem geht die vorliegende Arbeit davon aus, dass zusätzlich zum Handlungsbezug einer Konstruktion auch soziolinguistische Faktoren wie Alter und grammatische Faktoren wie Transitivität nach dem pragmatischen Postulat von Hopper & Thompson (1980) eine integrierte Rolle spielen (vgl. 3.1.1).

|| 47 Variationslinguistische Arbeiten sind häufig am schriftlichen Standardverständnis im Sinne formaler Vergleichsvarianten ausgerichtet, ohne davon unabhängig den Prozess der Äußerung, der Rezeption oder der Verarbeitung der einzelnen Varianten zu analysieren. Der funktionale Unterschied syntaktischer Varianten wird häufig allein auf die Verwendung in unterschiedlichen Registern reduziert, ohne die Funktion in der aktualisierten Interaktion oder dem schriftlichen Text in der Perspektive einer Sprachhandlung zu berücksichtigen. Das Konzept funktionaler Äquivalenz steht daher der traditionellen Betrachung von Varianten entgegen.

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Die Idee funktionaler Äquivalenz ist ein syntaktisches Variationskonzept, das in erster Linie für Sprachgebrauchsanalysen konzipiert wurde. Abschnitt 3.2.2.2 stellt nun den einschlägigen Variationsbegriff in experimentellen Sprachverarbeitungsansätzen vor. 3.2.2.2 Variation, Sprachverarbeitung und entrenchment Die Untersuchung der Sprachverarbeitung von syntaktischer Variation mithilfe psycholinguistischer Verfahren ist in der modernen Variationslinguistik bis heute ein vernachlässigter Forschungsbereich. Innerhalb der germanistischen Linguistik wurde die Verbindung von Variation und Kognition bisher vornehmlich im Rahmen der Erforschung (kognitiver) Salienz48 oder Perzeption vorgenommen (vgl. Elmentaler, Gessinger & Wirrer 2010; Lenz 2010; Purschke 2011; Auer 2014). Die fehlende Rezeption psycholinguistischer Ansätze und Methoden in der Variationslinguistik spiegelt sich umgekehrt auch in fehlenden variationslinguistischen Fragestellungen innerhalb der Psycholinguistik wider (vgl. Choy & Dodd 1976; Floccia et al. 2006; Bresnan 2007; Ford & Bresnan 2013; Squires 2014; Scharinger & Idsardi 2014). Dies liegt nicht nur an der verzerrenden Samplestruktur psycholinguistischer Experimente, die im Allgemeinen StudentInnen älteren dialektkompetenteren SprecherInnen vorziehen, sondern auch an der häufig fehlenden Kompatibilität von Terminologie und theoretischer Ausrichtung der beiden Disziplinen (vgl. dazu auch Schmidt 2016: 56–59). Voraussetzung eines interdisziplinären variationslinguistischen und psycholinguistischen Zugriffs auf den vorliegenden Untersuchungsgegenstand ist die Frage, wie Variation in der psycholinguistischen Forschung im Gegensatz zum in 3.2.2.1 vorgestellten Konzept funktionaler Äquivalenz definiert wird. Variation bildet in psycholinguistischen Experimenten in Form von variierenden Verarbeitungszeiten die entscheidende Operationalisierungsgrundlage zur Rekonstruktion von Repräsentationen im Sprachwissen. Intrapersonelle Variation im Sinne von langsameren oder schnelleren Verarbeitungszeiten gibt Auf-

|| 48 Die variationslinguistische Salienzforschung beschäfigt sich vornehmlich mit der Wahrnehmung sprachlicher Merkmale durch einen Hörer und die möglichen Konsequenzen, die diese Wahrnehmung für Sprachwandel durch Varietätenkonvergenz (vgl. Schirmunski 1928/1929) und sprachliche Akkomodation (vgl. Auer, Barden & Großkopf 1998) hat. Für die Messung kognitiver und soziolinguistischer Salienz haben sich experimentelle Verfahren etabliert, die mit gesprochen- und geschriebensprachlichen Stimuli arbeiten (vgl. Elmentaler, Gessinger & Wirrer 2010; Lenz 2010), jedoch in experimenteller Hinsicht methodische Validitätsprobleme aufweisen (v.a. im Hinblick auf die Figure-Ground-Problematik und die Diagnose physiologischer Auffälligkeit).

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schluss über das entrenchment von Konstruktionen. Im Gegensatz zum Begriff der Konventionalisierung, der den Grad der Konsolidierung eines sprachlichen Zeichens in einer Sprech- oder Sprachgemeinschaft beschreibt (vgl. 3.1.1), zielt der Begriff des entrenchments auf die Stärke der mentalen Verankerung einer Konstruktion im Langzeitgedächtnis eines individuellen Sprechenden/Schreibenden ab. Im Gegensatz zu korpusbasierten Ansätzen des entrenchments, welche die Rekonstruktion syntaktischer Repräsentationen aus relativen Frequenzwerten erarbeiten (vgl. 3.1.2), wird der Grad des entrenchments in psycholinguistischen Experimenten am Grad des kognitiven Verarbeitungsaufwands im Produktions- und Verstehensprozess auf der Basis von Automatisierung und Routinisierung gemessen (vgl. auch Langacker 2008: 17). Untersuchungsfragen zur Sprachverarbeitung von diatopischen Varianten bei bilektalen autochthonen SprecherInnen haben sich erst in den letzten Jahren entwickelt. Hier wurde vor allem die Auswirkung dialektaler Kompetenz auf die Prozessierung variierender prosodischer und phonetischer Merkmale durch die Messung ereigniskorrelierter Potenziale (EKPs) im Rahmen der Elektroenzephalographie-Methode (EEG) beleuchtet (vgl. Conrey, Potts & Niedzielski 2005; Brunellière et al. 2009, 2011; Lanwermeyer et al. 2016; Schmidt 2016, 2017; Werth et al. 2018). Auch die Auswirkung der Dialektalität eines Textes auf den on-line-Verstehensprozess wurde mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRI)-Methodik untersucht (vgl. Schmitt, Auer & Ferstl 2018; vgl. einführend für diese Methoden Müller 2013). In beiden Ansätzen werden hirnphysiologische Reaktionen auf sprachliche Stimuli gemessen, die einen Hinweis darauf geben, „welche Hirnareale an Verarbeitungsprozessen beteiligt sind und welche Hirnstrompotenziale im Zeitverlauf aktiviert werden“ (Schmidt 2016: 64). In diesen Ansätzen werden bilektale ProbandInnen in Abgrenzung zu monolingualen StandardsprecherInnen getestet, um Gemeinsamkeiten oder Unterschiede in der kognitiven Verarbeitung regionaler Varianten zu messen. Die Items werden dabei häufig in Form von eingesprochenen Texten oder als Beispielsätze im jeweiligen Dialekt präsentiert. Die theoretischen Implikationen, die hinter der Anwendung psycholinguistischer Methoden auf dialektologische Fragen stehen, unterscheiden sich in den jeweiligen Ansätzen. Die Gruppe der EEG-Studien untersucht im Rahmen des Ansatzes der Neurodialektologie, inwiefern unterschiedliche Verarbeitungssignaturen in Form ereigniskorrelierter Potenziale Aufschluss über (kognitive) Auslöser für phonologische Sprachwandelprozesse geben können (vgl. Schmidt 2016; Lanwermeyer et al. 2016). Im Rahmen der Untersuchung deutscher Dialekte konnten beispielsweise Lanwermeyer et al. (2016) in einem oddballExperiment zeigen, dass die Verarbeitung des lechrainischen /oa/-Diphthongs

Syntaktische Variation | 95

durch Hörer aus einem geographisch nahen monophthongierten Gebiet zwar Signaturen aufgrund unerwarteter lexikalischer Einheiten zeigt, das Merkmal der Diphthongierung jedoch nicht zu auffälligen Verstehensschwierigkeiten führt. Entscheidend für die fehlenden Verarbeitungsschwierigkeiten ist die Tatsache, dass die SprecherInnen Wissen über die phonologischen Unterschiede zwischen den jeweiligen Dialekten besitzen und sie damit wie „allophonische Differenzen im eigenen Dialekt [verarbeiten]“ (Schmidt 2016: 73). Der Zusammenhang zwischen dem Wissen über sprachliche Strukturen einer geographisch nahen Sprechgemeinschaft durch regionale Nähe und der kognitiven Akzeptabilität dieser Varianten werden auch für die vorliegende Untersuchung von Interesse sein (vgl. Abschnitte 6.2.1 und 6.3.1). Clopper, Tamati & Pierrehumbert (2016) konnten diesen Effekt der regionalen Nähe auch für die Verarbeitung dialektaler Phoneme im Vergleich zwischen DialektsprecherInnen des Landesinneren und der nördlichen USA zeigen.49 Das junge Forschungsfeld der Neurodialektologie verspricht interessante Ergebnisse im Hinblick auf die Verarbeitung regionaler Konstruktionen und die Rolle des kognitiven Verarbeitungsvorteils als Faktor von Sprachwandel. Der Zusammenhang von Sprachgebrauch und Kognition, der in Abschnitt 3.1.1 auf Basis des konstruktionsgrammatischen Ansatzes aufgestellt wurde, muss daher neben der Analyse des tatsächlichen Sprachgebrauchs auch Faktoren der Sprachverarbeitung einbeziehen. Diese relativen Unterschiede in der Aktivierung regionaler Konstruktionen können, zusätzlich zum Kriterium der Konventionalisierung im Sprachgebrauch, Auskunft über die Stärke des entrenchments von Konstruktionen in der Kognition geben. Aus methodischer Sicht sind vor allem zwei Voraussetzungen für die Anwendung sprachverarbeitender Methoden in der vorliegenden Untersuchung grundlegend: (1) Die Konzeption einer Studie zur Sprachverarbeitung regionaler Konstruktionen sollte sich stets auf die Ergebnisse vorausgehender Sprachgebrauchsanalysen stützen, um die Vali-

|| 49 In der Verknüpfung von Soziolinguistik und Psycholinguistik spielt auch der Einfluss der Identität der SprecherInnen auf die syntaktische Verarbeitung von Konstruktionen eine Rolle (vgl. Scharinger, Monahan & Idsardi 2011; Hanulíková et al. 2012). Hanulíková et al. (2012) konnten zeigen, dass Genusfehler bei Testitems, welche von MuttersprachlerInnen eingesprochen wurden, auffällige syntaktische Verarbeitungssignaturen bei niederländischen muttersprachlichen HörerInnen auslösen, während dieser Effekt verschwindet, wenn Testitems von Nicht-MutterprachlerInnen mit Akzent präsentiert wurden. Die Identität Nicht-MuttersprachlerIn hat damit einen Effekt auf die Akzeptanz syntaktischer Fehler bei muttersprachlichen HörerInnen im Sinne einer kurzfristigen Anpassung des Erwartungsrahmens. Eine interessante Forschungsfrage in diesem Rahmen wäre, ob dieser Erwartungseffekt auch für regionale Sprechweisen replizierbar wäre.

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dität des Untersuchungsgegenstandes gewährleisten zu können und Parallelen zwischen Sprachgebrauch und Sprachverarbeitung ziehen zu können; (2) Die Testitems sollten im Rahmen der ökologischen Validität möglichst nah am tatsächlichen Sprachgebrauch orientiert sein. In methodischer Hinsicht ist die Präsentation unkontextualisierter Testsätze und die damit einhergehende fragwürdige ökologische Validität der Messergebnisse ein wiederkehrender Kritikpunkt an psycholinguistischen Experimenten (vgl. dazu 6.1.1). Im Rahmen der Neurodialektologie hat bisher nur die Studie von Schmitt, Auer & Ferstl (2018) Prozessierungsunterschiede mithilfe authentischer Alltagsschriftlichkeit getestet. Sie soll in methodischer Hinsicht in diesem Punkt als Vorbild dienen.

3.3 Zusammenfassung Kap. 3 stellte die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Untersuchung vor. In Abgrenzung zum generativen Begriff der Auxiliarselektion vertritt die vorliegende Arbeit einen konstruktionsgrammatischen Ansatz zur Untersuchung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion. Abschnitt 3.1 stellte dazu das semiotische Zeichenverständnis der sprachgebrauchsbasierten CxG vor, welches regionalsyntaktische Phänomene als konventionalisierte Form-Bedeutungspaare fasst. Die Organisation von Konstruktionen im monostratalen Netzwerk bedeutet für die vorliegende Fragestellung, dass die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion im Sinne eines ganzheitlichen Zeichens im TempusAspekt-Interface zwischen Resultativ, Präsensperfekt und Perfekt untersucht wird. Gillmann (2016) hat hierfür eine erste theoriegetriebene Modellierung unternommen, deren empirische Validierung noch aussteht. In Abgrenzung zu bisherigen gebrauchsbasierten Ansätzen der Auxiliarselektionsforschung wie Hinze & Köpcke (2007) oder Gillmann (2016) wird in der vorliegenden Arbeit ein stärker handlungsbezogener Bedeutungsbegriff für die Analyse der [_sein(AUX)_ angefangen(PP)_]-Konstruktion gewählt, der die Auxiliarkonstruktion kontextualisiert als linguistische Ressource zur Durchführung mündlicher und schriftlicher Sprachhandlungen analysiert. Gebrauchsbasierte Ansätze unterscheiden sich ferner in der Methodik, mit der sie syntaktische Repräsentationen im Sprachwissen rekonstruieren (vgl. 3.1.2). Korpuslinguistische Methoden rekonstruieren mentale Repräsentationen auf Basis der Idee einer flachen Ontologie zwischen Sprachgebrauch und Kognition entweder (i) handlungsbezogen qualitativ, (ii) frequenzbezogen quantitativ oder im Rahmen einer (iii) kombiniert qualitativ-quantitativen Untersuchung. Sprachverarbeitungsbasierte Methodiken rekonstruieren syntaktische Repräsentationen hingegen auf Basis automatisierter und routinisierter Verarbei-

Zusammenfassung | 97

tungszeiten im Rahmen psycholinguistischer Experimente. Die vorliegende Untersuchung erforscht den Zusammenhang zwischen Sprachgebrauch, Sprachverarbeitung und kognitiven Repräsentationen im Rahmen einer kombiniert sprachgebrauchs- und sprachverarbeitungsbezogenen Methodik im Sinne eines mixed-methods-Ansatzes. Neben der terminologischen Setzung des Auxiliarkonstruktionsbegriffs in Abgrenzung zur Auxiliarselektion wurde auch der Begriff der Auxiliarvariation eingeführt. Variation wird innerhalb der gebrauchsbasierten CxG zwar als essentieller Teil des Konstruktikons verstanden, die Idee eines kognitiven tertium comparationis wird in der strengen CxG zugunsten der konstruktionalen Eigenständigkeit jedoch verworfen. Gleichwohl haben sich im Rahmen des CxGAnsatzes Modelle wie die von Cappelle (2006, 2009) und Höder (2012) entwickelt, welche Formen der Variation im Konstruktikon theoretisch erfassen. Obgleich diese Modelle wichtige erste Ansatzpunkte in der variationslinguistischen CxG bilden, ist die Operationalisierbarkeit von Allo-Konstruktionen oder Diakonstruktionen immer noch vage. Mit Blick auf die Definition von syntaktischer Variation im Sprachgebrauch vertritt die Untersuchung den Ansatz der funktionalen Äquivalenz in Anlehnung an die pragmatisch-soziolinguistische Syntaxforschung. In der Untersuchung syntaktischer Variation wird Scheutz’ (2005) kommunikationsorientierter Ansatz zur Untersuchung von regionaler und Dialektsyntax im angestammten mündlich-spontansprachlichen ‚habitat‘ angewendet. Entscheidend für die Definition von Ähnlichkeit oder Äquivalenz von syntaktischen Konstruktionen sind vergleichbare Funktionen zur Anzeige von kommunikativen Handlungen in der Interaktion oder im Text. Zwei syntaktische Konstruktionen werden erst dann als Allo-Varianten eines gemeinsamen Types bezeichnet, wenn sie in vergleichbaren handlungsbezogenen Gebrauchskontexten oder – mit Blick auf schriftliche Daten – in ähnlichen textbezogenen Funktionen gebraucht werden. Da dieser Ansatz in der germanistischen Variationsforschung bisher nicht operationalisiert wurde, lehnt sich die Arbeit an die gegenstandsangemessenen Methodiken der Gesprächsanalyse und der praktikenbezogenen Textanalyse an (vgl. 4.1.4.1 und 5.1.3). In einem zweiten Schritt werden die handlungsbezogenen Funktionen mit soziolinguistischen und grammatischen Faktoren im Sinne eines Syntax-Pragmatik-Interface korreliert (vgl. Abschnitt 2.2.4). In der Sprachverarbeitung wird syntaktische Variation als relative variierende Verarbeitungszeiten gemessen, welche die Stärke des entrenchments einer Konstruktion im Sprachwissen operationalisieren. In Anlehnung an den sich noch entwickelnden Ansatz der Neurodialektologie wird in der vorliegenden Untersuchung die Verarbeitung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruk-

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tion bei bilektalen DialektsprecherInnen gemessen. Die regionale Variation im Sprachgebrauch und das entrenchment auf Basis der Sprachverarbeitung bilden die zentrale Operationalisierungsgrundlage zur Messung der Validität des FromCorpus-to-Cognition-Prinzips nach Schmid (2000). Aufbauend auf diesen theoretischen und methodologischen Überlegungen wurde eine Triangulation spontansprachlicher und regional-publizistischer Sprachgebrauchsanalysen sowie ein sprachverarbeitungsbasiertes Eye-Tracking -Experiments in der Untersuchung angelegt (vgl. Übersicht der Methodentriangulation in 1.1). Vor dem Hintergrund des konversationsanalytischen Konzepts der Syntax-for-Conversation (vgl. Schegloffs 1979) wird die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion in Kap. 4 zunächst individuenzentriert als Interaktionsressource im mündlich-spontansprachlichen Habitat westfälischer und emsländischer SprecherInnen untersucht. Darauf aufbauend beleuchtet Kap. 5 die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion unter medialitätsdifferenzierender Perspektive als literale Praktik zur Sinnkonstitution in regionalen Zeitungsberichten. Mit Blick auf das Modell von Auer (2004), das in Abschnitt 2.1 vorgestellt wurde, steht zudem die Frage eines medialen Transfers der primär mündlichen Praktik, ihrer Funktion und Variation in das sekundär schriftliche regionalstandardsprachliche Habitat im Forschungsinteresse. Abschließend untersucht Kap. 6 die Verarbeitung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion im Rahmen eines Eye-Tracking-Experiments zur Messung des entrenchments der Konstruktion im Sprachwissen bilektaler SprecherInnen. Im direkten Vergleich aller Ergebnisse wird der Zusammenhang zwischen Sprachhandeln, Sprachverarbeitung und kognitiver Repräsentation diskutiert.

4 Auxiliarvariation in der Interaktion In Kap. 4 werden die theoretischen Grundlagen zu Auxiliarkonstruktionen und (nicht-)funktionaler syntaktischer Variation im mündlich-spontansprachlichen Habitat westfälischer und emsländischer SprecherInnen durch die methodische Kombination aus Variationslinguistik und Gesprächsanalyse operationalisiert (vgl. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974; Selting & Couper-Kuhlen 2000; Deppermann 2008). Vor dem Hintergrund der CxG-Theorie rekonstruiert das Kapitel syntaktische Repräsentationen der angefangen-Konstruktion auf Basis des funktionalen meaning is use-Ansatzes im Rahmen einer kombiniert qualitativen und quantitativen Methodik (vgl. 3.1.2). In diesem Rahmen wird gezeigt, dass eine gesprächsanalytische Untersuchung der regionalsyntaktischen Variation zwischen [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]- und [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktionen unabdingbar für die funktionale Rekonstruktion sprachlicher Zeichen als handlungsbezogenen Zeichen ist. Im Gegensatz zu den meisten regionalsyntaktischen Studien mit areal-horizontaler Ausrichtung vertritt die vorliegende Arbeit einen individuenzentrierten Ansatz zur Untersuchung von syntaktischer Variation in den Repertoires autochthoner westniederdeutscher SprecherInnen. Die Analyse der gesprochensprachlichen Daten wird in erster Linie induktiv und corpus-driven50 vorgenommen. Abschnitt 4.1 präsentiert zunächst die Daten und methodischen Grundlagen des Kapitels. Abschnitt 4.1.1 stellt dazu die Interaktionssituationen des Interviews und des Alltagsgesprächs vor, in welchen die angefangen-Konstruktionen als Interaktionsressourcen des kommunikativen Haushalts von emsländischen und westfälischen SprecherInnen auf Basis rekurrenter oder einmaliger Wir-Beziehungen erfasst werden. Abschnitt 4.1.2 präsentiert die westniederdeutschen Gesprächsdaten aus den vier regional orientierten Korpusprojekten REDE, SiN, Emslandprojekt und WEMS in ihren Erhebungsdesigns und ihrer Aufbereitung. Abschnitt 4.1.3 gibt einen Einblick in erste quantitative Verteilungen der angefangen- und weiterer telischer Konstruktionen (u.a. begonnen, aufgehört) im gesamten gesprochensprachlichen

|| 50 Der corpus-driven-Ansatz beschreibt die induktive Vorgehensweise in der Korpusarbeit und die daraus resultierende korpusgetriebene Kategorienfindung: „While corpus linguistics may make use of the categories of traditional linguistics, it does not take them for granted. It is the discourse itself, and not a language-external taxonomy of linguistic entities, which will have to provide the categories and classifications that are needed to answer a given research question. This is the corpus-driven approach“ (Teubert 2005: 4; vgl. auch Tognini-Bonelli 2001). Im Gegensatz zum corpus-based-Ansatz wurde die Fragestellung der Arbeit an sich und Hypothesen zu syntaktischen Strukturen erst nach Sichtung des Korpusmaterials aufgestellt. https://doi.org/10.1515/9783110708875-004

100 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Korpus mit Blick auf exogene und endogene Faktoren. Abschnitt 4.1.4 fasst die methodologischen Grundlagen und Auswertungsmethoden der rekonstruktiven Gesprächsanalyse (4.1.4.1) und statistisch gemischt-linearer Regressionsmodelle (glmer) (4.1.4.2) zusammen. Abschnitt 4.1.4.1 wird dabei besonders auf temporale Zeichen als sprachliche Strukturierungs- und Anzeigemittel narrativer Handlungen in rekonstruktiven Gattungen eingehen (vgl. Bergmann & Luckmann 1995). Die Rekonstruktionshaltung der Gesprächsanalyse ist dabei der entscheidende methodische Schritt, um die Form-Funktionszusammenhänge der Auxiliarvarianten aus einem datenzentrierten Verständnis in ihrer Kontextualität, Detailgenauigkeit und Explizitheit zu gewinnen. Im Rahmen der gesprächsanalytischen Auswertung (4.2.1) untersucht Abschnitt 4.2.1.1 die angefangen-Konstruktionen zunächst im Hinblick auf ihre handlungsbezogenen Funktionen in rekonstruktiven Gattungen und modelliert die Position der Konstruktionen im emergenten Erzählprozess mithilfe des Analysetools von Quasthoff (2001). Die unterschiedlichen Formate bilden in Abschnitt 4.2.1.2 schließlich die Grundlage der Rekonstruktion syntaktischer Variation auf der Basis des in 3.2.2.1 entwickelten Konzepts (nicht-)funktionaler Äquivalenz. Hier werden funktionale und nicht-funktionale Variation in sprecherbezogenen Repertoires auf intrapersoneller Ebene rekonstruiert. Anschließend validieren die statistischen Analysen in Abschnitt 4.2.2 die qualitativen Rekonstruktionen für das Gesamtkorpus und setzen sie in Bezug zu soziolinguistischen und grammatischen Einflussfaktoren, die im Rahmen der Auxiliarselektionsforschung erarbeitet wurden (vgl. 2.2.4). Darüber hinaus, stellt die quantitative Untersuchung in Abschnitt 4.2.2.2 einen netzwerkbasierten Ansatz für das Vorliegen unterschiedlicher Variationsformate in Repertoires autochthoner westfälischer und emsländischer SprecherInnen vor. Die Arbeit greift dafür auf die von Smith (2007) aufgestellte These eines Zusammenhangs zwischen Präteritumschwund und der Auxiliarvariation im Perfekt zurück (vgl. 2.2.4.3). Dazu wird der Gebrauch des Präteritum- und Perfekttempus bei SprecherInnen mit Auxiliarvariation im vollständig transkribierten WEMS-Korpus analysiert und die Frage nach einem Zusammenhang zwischen dem Fortschritt des individuellen Präteritumschwunds und handlungsbezogener Formen der Auxiliarvariation gestellt (vgl. 4.2.2.2). Abschnitt 4.3 diskutiert die aus der Analyse gewonnenen Ergebnisse im Hinblick auf die methodischen und methodologischen Vorteile einer Untersuchung syntaktischer Variation in der Interaktion (4.3.1), die Varietätenbindung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion im vertikalen Varietätenspektrum (4.3.2), die Rolle von Telizität und der Produktivität des sein-Perfekts im Sprachwissen autochthoner westfälischer und emsländischer SprecherInnen

Methode | 101

(4.3.3) und der Refunktionalisierung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion im apparent-time-Vergleich (4.3.4). Abschnitt 4.4 bietet schließlich einen Ausblick.

4.1 Methode Abschnitt 4.1 führt zunächst in die Untersuchungsmethodik der [_sein(AUX)_ angefangen(PP)_]-Konstruktion als regionalsyntaktische Praktik in der Interaktion ein. Die zugrundeliegenden Interaktionssituationen der Analyse gesprochensprachlicher Variation bilden Interviews und Alltagsgespräche, aus welchen der Handlungssinn der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion datengetrieben rekonstruiert wird (Abschnitt 4.1.1). Abschnitt 4.1.2 gibt einen Überblick über die Erhebungsdesigns der gewählten spontansprachlichen Korpora, die Aufbereitungsmethodik und das Tagging der Daten. Abschnitt 4.1.3 wertet die Daten im Rahmen der deskriptiven Statistik aus und zeigt erste Verteilungen im spontansprachlichen Gesamtkorpus. Abschnitt 4.1.4 stellt die Auswertungsmethoden der rekonstruktiven Gesprächsanalyse (Abschnitt 4.1.4.1) und multivariater Regressionsanalysen (generalized linear mixed-effects models (glmer)) vor (Abschnitt 4.1.4.2).

4.1.1 Interview und Alltagsgespräch Abschnitt 2.3 zeigte, dass Untersuchungen gesprochensprachlicher Datenkorpora ein dringendes Desiderat der synchronen Auxiliarselektionsforschung darstellen. Der Hauptgrund dafür liegt in den häufig kritisierten geringen Frequenzen syntaktischer Konstruktionen in mündlicher Spontansprache. Im Vergleich zu den gängigen Elizitationsverfahren weist die Untersuchung des natürlichen Sprachgebrauchs jedoch drei entscheidende Vorteile auf: (1) Die empirische Messung der tatsächlichen kommunikativen Relevanz syntaktischer Konstruktionen im synchronen Sprachgebrauch, (2) die Analyse pragmatischer Faktoren, welche die syntaktische Variation in der Interaktion steuern und (3) die Validität des Erhebungsinstruments, welche Aussagen über den authentischen regionalen Sprachgebrauch im Sinne des usage-based-Ansatzes zulässt (vgl. 3.1.2). Um den funktionalen Gebrauch der telischen Auxiliarvarianten in ihren gesprächsbezogenen Funktionen analysieren zu können, werden zwei Interaktionstypen ausgewertet: (1) Das leitfadengestützte narrative Interview und (2) das Alltagsgespräch.

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In der Phänomenologie von Schütz bilden rekurrente Erfahrungen im Alltag die Grundvoraussetzung für sprachliches und soziales Handeln (vgl. Schütz & Luckmann 2003). Zentral mit der Lebenswelt als Bereich der Praxis ist der Begriff des Handelns verbunden, der reziprok auf den relevanten Anderen zugeschnitten ist (vgl. Schütz & Luckmann 2003: 445–587). Diese Ausrichtung des eigenen alltäglichen Handelns auf den/die Gegenüber bildet die Voraussetzung zur Herausbildung von Sprache im Sinne gesellschaftlicher Objektivierungen. Konstruktionen können dabei als in der Sprache abgelagerte Typisierungen gefasst werden, welche Sprach- und Sprechgemeinschaften zur Bewältigung kommunikativer Aufgaben in der Wirklichkeit einsetzen. Die (alltägliche) Interaktionssituation stellt dabei die primäre Basis zur gegenseitigen Absicherung einer geteilten Alltagswelt dar, „weil sich nur in ihr [der eigene] Bewusstseinsstrom mit dem des Anderen in echter weltzeitlicher Gleichzeitigkeit synchronisiert“ (Auer 2013b: 123). In der direkten Interaktion konstituiert sich eine WirBeziehung, die auf vergangenen Erfahrungen und zukünftigen Erwartungen basiert. Der Alltag ist demnach der primäre Bereich menschlicher Praxis. Die Vermittlung subjektiven Wissens durch Zeichen setzt dabei ein geteiltes Zeichensystem voraus (vgl. Schütz & Luckmann 2003: 376). Konstruktionen als Bedeutungskategorien des Zeichensystems basieren demnach auf der Konventionalisierung von rekurrenten Erfahrungsmustern im Sinne der Objektivierung eines gemeinschaftlich geteilten Wissensvorrats (vgl. Schütz & Luckmann 2003: 410–427) beziehungsweise kommunikativen Haushalts (vgl. Luckmann 1988: 282). Dabei kann sich dieser kommunikative Haushalt aufgrund der Historizität von Sprache im Sinne eines sozialen Apriori regional in den zeichenbasierten Objektivierungen unterscheiden (vgl. Schütz & Luckmann 2003: 376; vgl. auch die Historizität der Sprache (Coseriu 1975: 81) oder die Historizität von Praktiken (Deppermann, Feilke & Linke 2016: 10–11)). Die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion kann damit als Konstruktion des kommunikativen Haushalts autochthoner westfälischer und emsländischer SprecherInnen verstanden werden, die durch rekurrente Wir-Beziehungen im Alltag erworben und eingesetzt wird. Ziel der Untersuchung ist es demnach, den Gebrauch und die Typik der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als alltägliche sprachliche Praktik zur Organisation und Bewältigung kommunikativer Aufgaben in der Interaktion zu untersuchen. Obgleich die Analyse alltäglicher Interaktionen als einzige Methode innerhalb der Konversationsanalyse (CA) zur Messung natürlicher Alltagspraxis betont wird (vgl. Bergmann 1985: 305), unterliegt auch sie durch die Aufnahmesituation dem Beobachterparadoxon (vgl. Labov 1972c: 209) und nicht selten einem extrakommunikativen Sprechanlass (vgl. Schank 1979: 75). In den meis-

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ten dialekt- und regionalsyntaktischen Untersuchungen spielen alltägliche Interaktionen nur eine untergeordnete Rolle (vgl. 2.3), obgleich die Mündlichkeit das Primärmedium regionalsyntaktischer Phänomene bildet (vgl. 2.1). In Abgrenzung zu experimentellen standardisierten Formen der Dialekt-Kompetenzerhebung ermöglicht die Untersuchung von Alltagsgesprächen, ein möglichst spontanes, informelles Sprechverhalten in der Dialektvarietät zu dokumentieren. Dabei geht es nicht um die Erhebung einer ortstypischen Grundmundart (vgl. die Problematik dazu bei Auer 2010a), sondern um den möglichst authentischen Gebrauch regionaler Varietäten (vgl. 4.1.2). Da der Gebrauch der niederdeutschen Varietät synchron fast ausschließlich auf den informellen Nahbereich beschränkt ist (vgl. 2.1), stellt das Alltagsgespräch die einzige Interaktionssituation dar, in welcher die Dialektvarietät authentisch im Rahmen eines varietätenlinguistischen Zugriffs untersucht werden kann. Im Gegensatz zum Alltagsgespräch ist das Interview eine stark präformierte Interaktionssituation einer meist einmaligen Wir-Beziehung. In den Anfängen der soziologischen Forschung herrschte eine verbreitete Skepsis gegenüber der Erhebungsmethode des Interviews, die sich in folgenden Punkten ausdrückte: (i) Die sozialwissenschaftliche Präformierung der Daten durch festgelegte Auswahlkriterien der Interviewten und (ii) die fragliche ökologische Validität aufgrund der festgelegten asymmetrischen Rollen von InterviewerIn und Interviewtem/r, welche alltäglichen Sprechhandlungen zuwiderlaufen (vgl. Clayman & Heritage 2002: 26–56; Deppermann 2013: Kap. 4). Ferner werden die Personalunion von InterviewerIn und ForscherIn aber auch der im Forschungskontext geforderte Zwang zur Neutralität des/der InterviewerIn kontrovers diskutiert (vgl. dazu ausführlicher Diekmann 2016: 439–447). Innerhalb der Variations- und Soziolinguistik dient das Interview aufgrund seines formellen51 Charakters primär der Elizitation einer standardnahen Sprechweise, des sogenannten intendierten (regionalen) Standards (vgl. Weiss 1979: 169–170; Klein 1983: 223; Lenz 2003: 56–57; Spiekermann 2008: 94/149– 153). Im Gegensatz zum Interviewverständnis innerhalb der Variationslinguistik unterscheidet sich die epistemologische Auffassung von Interviews in der Interaktionalen Linguistik durch den konstruktivistischen Charakter (vgl. Depper-

|| 51 Formalität wird nicht allein durch die Situation, sondern auch durch das Verhalten des/der InterviewerIn bewusst gesteuert. Formalität spielt bereits in Labovs Formalitätsprinzip (vgl. Labov 1972d: 113), dem Domänenkonzept und dem situational shifting bei Fishman (1972) oder der speech accommodation theory (vgl. Giles, Coupland & Coupland 1991; Auer & Hinskens 2005) eine zentrale Rolle. Dabei steht häufig der Interviewte und die situationsbezogene Variation zwischen unterschiedlichen Sprechlagen im Zentrum des Forschungsinteresses.

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mann 2013: 8–14; vgl. zur Epistemologie von Interviews Silverman 2014; 172– 187). In diesem theoretischen Verständnis wird in Interviews soziale Wirklichkeit durch die wechselseitige Bezugnahme der InteraktionspartnerInnen gemeinsam und in situ hergestellt (vgl. Deppermann 2014: 144). Das narrative Interview wird in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls als Interaktionssituation verstanden, in der sprachliche Konstruktionen als Praktiken in sozialen Handlungen intersubjektiv auf den relevanten Anderen zugeschnitten werden (vgl. Deppermann 2013: 13–14). Selbst in einmaligen Wir-Erfahrungen wird auf typisierte sprachliche Muster des Alltags wie die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion zur Herstellung einer gemeinsamen Lebenswelt zurückgegriffen. Ziel der Untersuchung der Kommunikationssituationen Interview und Alltagsgespräch ist es, die Funktion der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als Ressource und Praktik in der sozialen Interaktion und als Typisierung aus einmaligen und rekurrenten Wir-Beziehungen in situ zu rekonstruieren. Der soziale Handlungsbezug impliziert, dass die Sequenz- und Turnpositionen der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion und die damit verbundenen intersubjektiv relevanten Signale an den/die GesprächspartnerIn, die mit dieser Konstruktion einhergehen, analysiert werden müssen, um die funktionale Bedeutung des sprachlichen Zeichens erfassen zu können. Daneben wird gefragt, ob die Interaktionssituation an sich einen Einfluss auf den Gebrauch und die Funktion der Konstruktion hat. Aus variationslinguistischer Perspektive können die Interaktionssituationen ferner zur Erhebung unterschiedlicher Varietäten in Gesprächen des (halb-) formellen und informellen Nahbereichs genutzt werden, um Aussagen über die Bindung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion an das vertikale Varietätenspektrum treffen zu können. Darüber hinaus stehen vor allem Formen (nicht-)funktionaler Auxiliarvariation zwischen der haben- und seinangefangen-Konstruktion und ihre Anzeige unterschiedlicher sprachlicher Handlungen in der Interaktion im Fokus. Vor dem Hintergrund eines gebrauchsbasierten CxG-Verständnisses ist zudem von Interesse, wie sich aus den Ergebnissen ein Type-Token-Verhältnis auf Basis funktionaler Äquivalenz rekonstruieren lässt (vgl. 3.2.2.1). Insgesamt überwiegt der Vorteil der Rekonstruierbarkeit kommunikativer Relevanz aus dem mündlichen Sprachgebrauch die methodischen Vorbehalte in regionalsyntaktischen Studien und der Auxiliarselektionsforschung (vgl. 2.3).

Methode | 105

4.1.2 Korpora – Erhebungsdesigns und Aufbereitung Für die empirische Analyse der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion nutzt die Untersuchung Audiodaten authentischer regionaler Spontansprache in Form von dyadischen Interviews und Alltagsgesprächen in Mehrpersonenkonstellationen im Umfang von knapp 200 Stunden (vgl. für eine detaillierte Aufstellung der Korpora siehe Anhang (A1)). Mit Blick auf die frequenzbedingten Schwierigkeiten einer (morpho-)syntaktischen Untersuchung wurden alle im wissenschaftlichen Kontext zugänglichen Sprachdaten für den westfälischen und emsländischen Untersuchungsraum zur Auswertung herangezogen. Dies umfasst insgesamt vier Korpora: Sprachdaten aus (1) dem Projekt Regionalsprache.de (REDE), (2) Sprachvariation in Norddeutschland (SiN), (3) dem Emslandkorpus (EMSLAND) und (4) dem von der Autorin selbst erhobenen regionalen Korpus WEMS (‚Westfälisch-Emsländisches-Korpus‘). Da die einzelnen Korpora unterschiedliche Erhebungsdesigns aufweisen, werden sie in Tab. 7 zunächst im Überblick zusammengefasst. Das Langzeitprojekt REDE besteht seit 2008 am Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas in Marburg. Das Projekt erforscht und dokumentiert systematisch die synchronen Regionalsprachen des Deutschen (vgl. für einen Überblick Ganswindt, Kehrein & Lameli 2015). Insgesamt wurden 150 Orte mit jeweils vier männlichen Sprechern aus drei Generationen erhoben: Zwei in Notrufannahmestellen arbeitende Polizeibeamte zwischen 45 und 55 Jahren, eine Person aus der ältesten Generation über 65 Jahren aus dem handwerklich-landwirtschaftlichen Bereich, und eine Person aus der jüngsten Generation der um 20jährigen Abiturienten. Eine ortsfeste Sozialisation war Voraussetzung für die Teilnahme am REDE-Projekt, (niederdeutsche) Dialektkompetenz hingegen nicht. Die Ortsauswahl wurde dem Netz des Deutschen Sprachatlasses nachempfunden, um einen diachronen Entwicklungsprozess phonologischer Varianten erforschen zu können (vgl. für eine detaillierte Aufstellung der herangezogenen Untersuchungsorte Tab. 7). Der aus dem REDE-Korpus übernommene Umfang an Interview- und Freundesgesprächen von SprecherInnen aus dem westfälischen und emsländischen Sprachraum beträgt insgesamt 32:43 Stunden. Davon umfassen die Interviews 19:13 Std. (min: 27 Min.; max: 01:15 Std.), Alltagsgespräche mit Freunden 13:31 Std. (min: 22 Min; max: 1:13 Std.).

4 Dreiteilung: alt (>65; 1P), mittel (45–55; 2P), jung (~20; 1P) Handwerk; Polizisten; Abiturienten m (kein Erhebungsfaktor) 32:43 Stunden 196:36 Stunden

Anzahl Personen/Ort

Beruf

Geschlecht

Niederdeutschkompetenz

Umfang Aufnahmen

Umfang Gesamt

82:46 Stunden

2 [+Ndt] 2 [-Ndt]

w



mittel (40–60)

4

Lähden

Emsl.

Meppen

Heiden, Südlohn, Everswinkel, Wettringen, Marienmünster, Rödinghausen, Balve, Rüthen

2007–2010

SiN

Westf. Coesfeld, Borken, Gütersloh, Sundern, HornBad Meinberg

2008–2015

Alter

Orte

Erhebungszeitraum

REDE

22:24 Stunden

[+Ndt]

m/w

Jeweils handwerklich vs. kommunikationsorientiert

Dreiteilung: alt (>65; 4– 5P), mittel (35–45; 4– 5P), jung (18–25; 4–5P)

12–18

Börger, Werlte, Lähden, Emmlichheim, Nordhorn



2016–

EMSLAND

58:40 Stunden

[+Ndt]

m/w

Pro Alter 1 [+ Landwirtschaft]

Dreiteilung: alt (61–80; 2P), mittel (41–60; 2P), jung (20–40; 2P)

6

Groß Hesepe, Börger

Neger (Olpe) , Schwaney, Leiberg, Levern, Stevern, Gellendorf, Werth

2013–2014

WEMS

106 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Tab. 7: Erhebungsdesigns und Umfang spontansprachlicher Korpora

Methode | 107

Ziel des SiN-Projekts ist die systematische Dokumentation und Untersuchung von synchronen vertikalen Varietätenspektren, der Sprachperzeption und Spracheinstellung von Sprecherinnen aus dem niederdeutschen Sprachraum (vgl. für einen Überblick Elmentaler & Schröder 2009; Elmentaler et al. 2015). Die Daten des SiN-Projekts wurden zwischen 2007 und 2010 in 36 Orten aus 18 phonologisch definierten niederdeutschen Sprachregionen mit jeweils vier Sprecherinnen erhoben. Die Orte sind Kleinstädte mit ca. 2000–10.000 Einwohnern, die infrastrukturell nicht als Touristenzentren oder Pendlergemeinden eingestuft werden können. Als Gegengewicht zum REDE-Design konzentrierte man sich im SiN-Projekt ausschließlich auf die Aufnahme weiblicher Personen zwischen 40 und 60 Jahren. Von den vier aufgenommenen Personen pro Ort weisen im Idealfall jeweils zwei Niederdeutschkompetenzen auf. Die Aufnahmesituationen umfassen neben der Erhebung standardnaher Vorleseaussprache, Übersetzungen der Wenkersätze und salienzbezogener Testbatterien auch Interviews und Freundesgespräche, die für die vorliegende Studie genutzt werden. Während die Interviews ausschließlich in hochdeutscher Varietät geführt wurden, liegen die Tischgespräche überwiegend in hochdeutsch basierter norddeutscher Alltagssprache (101 Gespräche), teilweise aber auch auf Niederdeutsch (20 Gespräche) oder mit beiden Varietäten im Wechsel (21 Gespräche) vor. Der Gesamtumfang der hier genutzten SiN-Daten beläuft sich auf 82:46 Stunden. Davon umfassen die Interviews im Schnitt 32:50 Std. (min: 18 Min.; max: 1:24 Std.), die Alltagsgespräche 49 Std. (min: 40 Min.; max: 2:26 Std.). Das Emsland-Projekt entsteht seit 2016 am Centrum für Niederdeutsch an der Universität Münster. Ziel des Projekts ist die systematische Erhebung regionaler Registervariation emsländischer SprecherInnen auf allen linguistischen Systemebenen auf der Basis von Sprachgebrauchs- und Spracheinstellungsdaten. Im Erhebungsdesign sind 21 Orte im Landkreis Emsland und in der Grafschaft Bentheim geplant, die im Hinblick auf ihre Größe variieren. Je Ort werden zwischen 12 und 18 ortsfeste, dialektkompetente Gewährspersonen erhoben, die sich im Hinblick auf die Parameter Alter (jung (18–25 Jahre), mittel (35–45 Jahre), alt (>65 Jahre)), Beruf (handwerklich orientiert vs. kommunikationsorientiert) und Geschlecht unterscheiden. Aus dem Gesamtkorpus werden in der vorliegenden Arbeit 22:24 Stunden (min: 6 Min.; max: 59 Min.) ausgewertet. Die Interaktionssituation des Interviews umfasst dabei 11:41 Std. (min: 6 Min.; max: 28 Min.), die Alltagsgespräche insgesamt 10:43 Std. (min: 6 Min.; max: 59 Min.). Der Fokus des WEMS-Korpus liegt auf der noch dialektstärkeren Landbevölkerung des westfälischen und emsländischen Sprachraums. Im Zeitraum zwischen Mai 2013 und Januar 2014 wurden auf Basis eines Querschnittdesigns 54 leitfadengesteuerte narrative Interviews und 32 Alltagsgespräche von 54

108 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Personen (6 SprecherInnen pro Ort) aus dem westfälischen und emsländischen Sprachraum erhoben, welche die niederdeutsche Varietät als Teil ihrer Alltagssprache definierten.52 Die narrativen Interviews wurden am Wohnort der SprecherInnen und damit in alltäglicher, vertrauter Umgebung durchgeführt. Nach dem Interview wurde den SprecherInnen jeweils ein Aufnahmegerät überlassen, um mit einer Person, mit der sie im Alltag noch im niederdeutschen Dialekt interagieren, ein Alltagsgespräch aufzuzeichnen. Es war demnach der subjektiven Einschätzung der SprecherInnen überlassen, welche/n aus der alltäglichen Kommunikation gefestigte/n InteraktionspartnerIn sie für das Gespräch wählen und wann es stattfinden sollte. Auch die Thematik des Tischgesprächs wurde nicht vorgegeben, um die Spontaneität der Daten nicht zu gefährden. Die Samplestruktur des WEMS-Korpus orientiert sich an den exogenen Faktoren Alter und Beruf, die nach den einschlägigen Mikrozensusbefragungen den größten Einfluss auf die Vitalität des Niederdeutschgebrauchs gezeigt haben (vgl. Möller & Windzio 2008; Adler et al. 2016). Im Rahmen der Variable Alter wurde mit dem Ziel eines intergenerationellen apparent-time-Vergleichs53 eine Dreiteilung in eine jüngste (20–40 Jahre), eine mittlere (41–60 Jahre) und eine älteste Alterskategorie (61–80 Jahre) vorgenommen. Neben der Kategorie Alter wurde im WEMS-Korpus innerhalb jeder Alterskategorie zwischen einer Person des handwerklich-landwirtschaftlichen Bereichs und einer Person außerhalb dieses Sektors differenziert. In bisherigen soziolinguistischen Untersuchungen || 52 Vorgabe für eine Teilnahme war, dass die sprachliche Erstsozialisation als auch die eines Elternteils der SprecherInnen am Erhebungsort stattgefunden haben musste. Zudem durften die SprecherInnen nicht länger als fünf Jahre außerhalb des Erhebungsortes gewohnt haben. 53 Hinter dem Konzept des apparent-time-Vergleichs steckt die Annahme, dass SprecherInnen stabile generationsspezifische Sprechweisen aufweisen, welche im Rahmen von generationsbedingtem Sprachwandel untersucht werden können (vgl. Labov 2010: 107). In der Sprachwandelforschung liegt das Hauptaugenmerk auf der altersexklusiven oder alterspräferenziellen Veränderung von Normen innerhalb von Sprach- und Sprechgemeinschaften (vgl. Cheshire 2008: 1553). Labov (2010: 46) unterscheidet in diesem Sinne zwischen einem ‚echten Wandel‘ und age grading. Ein ‚echter‘ Sprachwandel liegt dann vor, wenn in statistischer Hinsicht ein signifikanter Unterschied zwischen den Altersgruppen nachzuweisen ist, während age grading als „regular change of linguistic behaviour with age […] that repeats in each generation“ definiert wird. Dieses Konzept wurde in einigen Ansätzen infrage gestellt (vgl. Eckert 2008; Coupland 2004). Arbeiten zum age grading zeigen, dass SprecherInnen im Laufe ihres Lebens ihre individuelle Sprechweise unabhängig von allgemeinen gesellschaftlichen Sprachwandelprozessen verändern (vgl. Hockett 1950: 423; Labov 2010: 46). Dies wurde vor allem für die Phase der sprachlichen Ontogenese und des frühen Erwachsenenalters festgestellt, während sich der Idiolekt im Erwachsenenalter nur noch geringfügig verändert (vgl. Labov 2010: 111; Bailey 2008: 320–321). Die wissenschaftliche Einteilung von Altersgruppen sagt nichts über individuelle Spracherfahrungen aus. Sie ist in erster Linie eine abstrakte Idee von Generation.

Methode | 109

stellte die Variable Beruf ein entscheidendes Kriterium für den Dialekterhalt dar (vgl. Muhr 1981: 48; Macha 1991).54 Die Variable Geschlecht wurde durch die Anlehnung an Kompetenzzuschreibungen des Niederdeutschen innerhalb der jeweiligen community of practice nicht konstant gehalten. Was die Auswahl der Erhebungsorte im WEMS-Korpus betrifft, hat es sich in der Dialektologie und Variationslinguistik bewährt, SprecherInnen aus kleineren Orten mit ländlicher Prägung zu befragen, da dort der Mundartgebrauch noch vital ist (vgl. auch Abschnitt 2.1). Die neun erhobenen Orte in Tab. 7 weisen daher eine Varianz zwischen 500 und 3000 EinwohnerInnen auf. Aus diesem Korpus wurden insgesamt 58:39 Stunden Datenmaterial ausgewertet. Davon umfassen die Interviews 33 Std. (min: 21 Min.; max: 1:01 Std.), die Alltagsgespräche 26 Std. (min: 11 Min; max: 3:22 Std.). Insgesamt muss festgehalten werden, die Erhebungsdesigns der einzelnen Korpora keiner einheitlichen Verteilung folgen, weshalb Berechnungen exogener Faktoren mit stärkeren Einschränkungen vorgenommen werden müssen. Die methodische Priorisierung einer ausreichend hohen Tokenfrequenz überwiegt jedoch die Frage exogener Einflussfaktoren, sodass die Kombination der Korpora aus dieser Perspektive zulässig ist. Abb. 15 zeigt das Ortsnetz, das der gesprochensprachlichen Analyse zugrunde liegt. Die Aufbereitung der Daten wurde mit dem Transkriptions- und Annotationsprogramm EXMARaLDA (vgl. Schmidt & Wörner 2005) mit zeitbezogener Alignierung und anschließender orthographischer Transliteration im Basisstil nach den Konventionen des Gesprächsanalytischen Transkriptionssystems 2 (GAT2; vgl. Selting et al. 2009) vorgenommen. Mit Blick auf den Ausgangspunkt des Aufbereitungsprozesses standen zwei der vier Korpora untranskribiert zur Verfügung (REDE, EMSLAND), ein Korpus war im Hinblick auf die Zielperson transkribiert (SiN) und ein Korpus lag vollständig transkribiert vor (WEMS). Für die Auswertung der telischen Konstruktionen wurden die untranskribierten Daten nach den telischen Konstruktionen durchgehört und die betreffenden Stellen nach den GAT2-Konventionen transkribiert.

|| 54 Auf einen kombinierten Einbezug der Kategorie Gesprächsorientierung, wie es in der einschlägigen dialektologischen Forschung gängig ist (vgl. Muhr 1981; Lenz 2003), wurde hier verzichtet, da es dem Ermessensspielraum des Forschenden obliegt, einen Beruf als kommunikationsorientiert oder nicht-kommunikationsorientiert einzustufen. Dies widerspricht in statistischer Hinsicht der Idee einer unabhängigen Variable.

110 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Abb. 15: Grundkarte Erhebungsorte der gesprochensprachlichen Korpora

Im Sinne eines gegenstandsangemessenen Zugriffs auf gesprochensprachliche Daten mussten (i) syntaktische Basiseinheiten vor dem Hintergrund eines interaktionalen Syntaxbegriffs eingeteilt werden und (ii) ein Konzept zur Varietätenklassifizierung der syntaktischen Konstruktionen entwickelt werden. Nach Auer

Methode | 111

(2007b: 96) muss eine medialitätsangemessene Syntaxbeschreibung drei Eigenschaften der Produktion und Rezeption gesprochener Sprache berücksichtigen: Sie muss inkrementell, dialogisch orientiert und musterhaft sein.55 Vor dem Hintergrund dieses Syntaxverständnisses haben sich eine Reihe von Ansätzen entwickelt, die der Definition der Basiseinheit von Gesprächsbeiträgen, und damit dem Satzbegriff in der gesprochenen Sprache Rechnung tragen (Turn constructional unit (TCU) (vgl. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974; Selting 1995a, 2000; Ford, Fox & Thompson 1996), kommunikative Minimaleinheit (vgl. Zifonun, Hoffmann & Strecker 1997a: 86–92), Intonationskontur/-phrase (IP) (vgl. Chafe 1994; Selting 1995a, 2000), Äußerungseinheit (vgl. Rath 1990), Idea units (vgl. Chafe 1994) und Zäsurierung/Gestaltschluss (vgl. Auer 2010b)). Die Segmentierungseinheit der Intonationsphrase oder Intonationskontur hat sich dabei am stärksten innerhalb der Interaktionalen Linguistik etabliert (vgl. Selting 1995a; Selting et al. 2009).56 Auer (2010b: 8) weist jedoch darauf hin, dass Intonationsphrasen keine hinreichenden Kriterien zur Einordnung syntaktischer Einheiten darstellen, da syntaktische Einheiten in mehrere Intonationsphrasen aufgegliedert oder aber mehrere syntaktische Einheiten in einer Intonationsphrase integriert sein können. Vor dem Hintergrund der on-line Perspektive auf Produktion und Rezeption gesprochener Sprache ersetzt er ihn durch den Terminus des Zäsurierens beziehungsweise durch die Idee des Gestaltschlusses. Interaktionsteilnehmer bilden also bei der on-line-Prozessierung der Gesprochenen Sprache keine Einheiten, sie müssen aber ständig mögliche Abschlusspunkte erkennen. Diese Abschlusspunkte können mehr oder weniger gut konturiert sein. Optimale (d.h. prägnante) Gestaltschlüsse sind dann erreicht, wenn an einem Punkt sämtliche syntaktische, prosodische und semanto-pragmatische Projektionen abgearbeitet sind. (Auer 2010b: 11–12)

|| 55 Inkrementelle Syntax bedeutet, „den syntaktischen Strukturaufbau in der ‚Echtzeit‘ [zu] erfassen, denn mündliche Sprache wird linear in der Zeit produziert und rezipiert“ (Auer 2007b: 96). Grammatische Konstruktionen werden vom Produzenten in der Echtzeit on-line dynamisch entfaltet und vom Rezipienten in dieser Linearität aufgenommen (vgl. dazu Auer 2000; vgl. auch Schütz & Luckmann 2003: 81–97; 465–471). Dabei sind die Zeitlichkeit als auch die Sequenzialität der Konstruktion Voraussetzungen für die Bildung von Musterhaftigkeit. 56 Selting (1995a: 116) versteht unter einer Intonationskontur eine „aufgrund ihrer Tonhöhenverlaufsgestalt […] von Analysierenden und Rezipienten als kohäsiv wahrgenommene prosodische beziehungsweise melodische Einheit zwischen Grenzsignalen“. Mindestvoraussetzung zur Definition einer Intonationsphrase ist das Vorliegen eines Fokusakzents (Nukleusakzent). Im Bereich der Grenzsignale können sich jedoch mehrere Merkmale im Sinne einer Clusterbildung überlagern: (1) Tonhöhenbewegung am Einheitenende, (2) finale Dehnung und (3) Knarrstimme (vgl. Bergmann & Mertzlufft 2009: 89–90).

112 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Im Folgenden werden syntaktische Basiseinheiten in der Interaktion auf Basis des Konzepts der Zäsurierung nach Auer (2010b) eingeteilt (vgl. 3.2.2.1). Dabei werden sowohl prosodische Zäsuren (‡), syntaktische Zäsuren (*) als auch die abgeschlossene Gestalteinheit (|) im Transkript markiert. Im Zuge der Aufbereitung der polylektalen – hochdeutschen und niederdeutschen – Sprachgebrauchsdaten wurde versucht, den zirkulären Charakter von Klassifikations- und Analyseebene zu umgehen. Die Klassifikation einer Varietät als Merkmalsbündel wird auf der phonologischen und morphologischen Ebene vorgenommen, während sich die Analyse auf die (morpho-)syntaktische Ebene der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion konzentriert. In der Zuordnung der Varietäten setzt die Untersuchung auf eine Kombination zwischen quantitativen und handlungsbezogenen Verfahren der Varietätenklassifizierung (vgl. Auer 2000: 133; Auer 2007a: 10):57 (i) Die quantitative Markierung der Varietät pro syntaktischem Gestaltschluss auf strukturlinguistischer (phonologischer und morphologischer) Basis, in Kombination mit (ii) einer verlaufsorientierten Korpus- und Gesprächsanalyse. Zur quantitativen Klassifizierung der Varietäten auf Basis phonologischer und morphologischer Kriterien wurde der Katalog sprachlicher Variablen zur Dialektalitätsmessung des Forschungsprojekts Hamburgisch als Grundlage verwendet und um westfälische phonologische Spezifika erweitert (vgl. Schröder, Ruge & Bieberstedt 2011; siehe Anhang (A2)). Aus varietätenlinguistischer Perspektive ermöglicht die Auswertung polylektaler Daten die Beantwortung der Frage, ob die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion an bestimmte Sprechlagen im gebrauchsbasierten vertikalen Varietätenspektrum gebunden ist (vgl. 2.1). In der terminologischen Fassung der Varietäten können Klassifikationen wie intendierter regionaler Standard aufgrund seiner Bindung an öffentliche, formelle Sprechsituationen von Mo-

|| 57 Quantitative Ansätze zur Ermittlung einer sogenannten Matrixsprache in einem Satz bilden unter anderem die Arbeiten von Myers-Scotton (1993) und Herrgen et al. (2001). In deutschsprachigen dialektologischen Arbeiten hat sich das Verfahren zur Messung des Dialektalitätswerts (D-Wert) auf der Basis phonetischer Distanz etabliert (vgl. Herrgen et al. 2001). Gängige Vorgehensweise in quantitativen Ansätzen ist das Aufstellen eines Variantenkatalogs auf dessen Basis sprachliche Äußerungen nach bestimmten Punktwerten der jeweiligen Varietät zugeordnet werden. Der Vorteil dieser Herangehensweise ist augenscheinlich das Aufstellen genauer, nachvollziehbarer Klassifikationskriterien. Diese Vorgehensweise birgt aber auch die Gefahr, zirkulär zu sein und die Bestimmung der Matrixsprache in höchstem Grad theoriegetrieben vorzunehmen (vgl. Auer 2000: 133). Vor allem Strategien wie das Code-Switching und die zugrundeliegende Funktionalität des Codewechsels bleiben durch das bloße Auszählen von a priori definierten Varianten von der Untersuchung ausgeschlossen.

Methode | 113

dellsprecherInnen (z.B. Politikersprache bei Spiekermann 2008: 97–98) nicht auf die Definition halb-formeller Interaktionssituationen wie das Interview oder informeller Varietäten wie das Alltagsgespräch angewendet werden. Die vorliegende Arbeit wird daher auf den von Berend (2005) geprägten Begriff des Gebrauchsstandards zurückgreifen, der definiert ist als geographisch definierte Varietäten- und Sprachgebrauchsmuster […], die im jeweiligen regionalen Kontext ein entsprechend hohes Prestige tragen und die sowohl im informellen als auch im formellen Sprachgebrauch angemessen sind und akzeptiert werden. Sie weisen auf allen Sprachebenen spezifische regionaltypische Formen auf und unterscheiden sich von Dialekten und Umgangssprache einerseits und von der kodifizierten Schrift- und Standardsprache andererseits. Berend (2005: 143)

Berend (2005) betont mit diesem Begriff den Unterschied zwischen schriftbasierten, kodifizierten (National-)Standards und sprachgebrauchsbasierten Formen der Standardsprachlichkeit. Im Zuge der „Spät-Standardsprachlichkeit“ (Eichinger 2005: 3) fasst sie damit den Standardbegriff „variabler, domänenund medialitätsspezifischer“ (Schneider & Albert 2013: 51). Gebrauchsstandards sind weniger an die Idee von Formalität, sondern stärker an Faktoren des gebrauchsbasierten Prestiges und der Akzeptanz gebunden. Ferner ist der Begriff nicht ausschließlich auf die regionale Mündlichkeit beschränkt, sondern kann auch auf regionale Schriftlichkeit übertragen werden (vgl. 5.3.1). Auf Basis der kombinierten quantitativen und qualitativen Varietätenklassifizierung nach Auer (2007a) und der Standard-Dialektkonstellationen im niederdeutschen Sprachraum (vgl. 2.1) werden im Folgenden vier Sprechlagen unterschieden: (1) Der regionale Gebrauchsstandard (GS), (2) der Regiolekt (RL), (3) die Dialektvarietät (DV) und (4) eine ambige Klassifikation (ambig), in der weder aus quantitativer noch aus qualitativer Sicht eine exhaustive Zuordnung zu einer Sprechlage vorgenommen werden konnte. Mithilfe des in Anhang (A2) beschriebenen Katalogs wurde zunächst eine skalare quantitative Zuordnung der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion pro Gestaltschluss zur jeweiligen Varietät vorgenommen. Aufgrund struktureller Ausgleichsprozesse auf phonologischer Ebene sind die Zuordnungen jedoch teils ambig. In einem zweiten Schritt wurde die quantitative Klassifizierung durch die Rekonstruktion des lokalen Varietätendisplays der SprecherInnen im Rahmen einer gesprächsbezogenen Analyse überprüft. Betrachten wir die Notwendigkeit des Einbezugs dieser Perspektive am Beispiel in Tab. 8. In der quantitativen Varietätenzuordnung der Äußerung liegt der Fokus vor allem auf eindeutig zu klassifizierenden Lexemen. Ambige (vgl. nich) und gesprochensprachliche Allegroformen (vgl. un) können aufgrund

114 | Auxiliarvariation in der Interaktion

ihrer Varietätenindifferenz nur wenig zur Klassifikation beitragen. Die Ambiguität vieler Lexeme zwischen Gebrauchsstandard und Regiolekt oder Regiolekt und Dialektvarietät erschwert die Varietätenklassifizierung auf phonologischer und morphologischer Basis. Tab. 8: Quantitative Varietätenklassifikation syntaktischer Belegstellen (Korpusaufbereitung)

Quantitative Varietätenklassifikation syntaktischer Belegstellen Beispiel: un dat was hej ja nich gewohnt;

Varietätenklassifizierung (phonologisch, morphologisch)

un

dat was hej [hɛ̃ ɪ]

ja

%

RL DV

GS % RL

DV

DV

nich gewohnt; GS RL

%=varietätenindifferent (ambig)

Die Hinzuziehung des erweiterten Gesprächskontextes macht jedoch deutlich, dass der Sprecher durch unterschiedliche sprachliche Mittel anzeigt, dass er sich im niederdeutschen Code befindet und dass nur die Ambiguität der einzelnen Lexeme den Anschein eines Code-mixings erweckt. In Transkript (1) erzählt Sprecher BÖR07 (B) von einem schweren Unfall seines Großvaters, aufgrund dessen dieser seinen Beruf bei der Marine durch eine rangniedere Arbeit als Gastwirt eintauschen musste. (1) BÖR07 (01:59-02:07) Großvater 042 B er hieß SCHNIEders hieß er; 043 UN=äh, 044 dann HAT er äh (.) äh, 045 in der WIRTschaft ham die dAnn,=ne? 046 °h ; un dat WAS hej ja nich gewOhnt; → 047 Der Sprecher unternimmt in Z. 46 einen funktionalen Switch von der hochdeutschen Gebrauchsvarietät in die niederdeutsche, um auf der Handlungsebene eine Zitation anzuzeigen. Innerhalb dieses Switchs wird die nachfolgende Kommentierung in Z. 47 ebenfalls in der niederdeutschen Varietät vorgenommen. Der Sprecher weist damit also kein ambiges Code-Mixing im Gesprächsverlauf auf, sondern macht in funktionaler Hinsicht deutlich, dass er sich in der

Methode | 115

niederdeutschen Varietät befindet. Quantitative Varietätenklassifizierungen aus etischer Perspektive müssen demnach nicht mit der emischen Perspektive des Varietätendisplays übereinstimmen. Beide Klassifikationsansätze werden als Variablen in die Analyse einbezogen. Tab. 9 zeigt die quantitativen und qualitativen Variablen zur Varietätenklassifikation im Korpus: Tab. 9: Integriert qualitative und quantitative Varietätenklassifizierung (Korpusaufbereitung)

Varietätenklassifikation

Gebrauchsstandard (quantitativ)

Varietätendisplay (handlungsbezogen)

(Regionale) Gebrauchsstandardvarietät

1

GS

Regiolekt

RL

Ambig

Ambig

Dialektvarietät (Niederdeutsch)

0

DV

Neben der Frage, wie eine Varietätenzuordnung in qualitativer und quantitativer Hinsicht vorgenommen werden kann, wurden Echoformen oder kokonstruierende Formen der Auxiliarvarianten als interaktiv-koordinierende Handlungen nicht in die Analyse des Datenkorpus einbezogen, da der Fokus der Arbeit primär auf dem regionalen Repertoire autochthoner SprecherInnen des Westfälischen und Emsländischen liegt. Mit Blick auf die Annotation der Daten wurde für die statistische Auswertung zudem eine händische Mehrebenenannotation nach exogenen und endogenen (u.a. phonologisch, grammatisch, semantisch) Faktoren durchgeführt (vgl. Tab. 10). Diese orientiert sich zunächst nur an Parametern, die im Rahmen der bisherigen Auxiliarselektionsforschung und den Erhebungsdesigns der spontansprachlichen Daten relevant gesetzt wurden. Neben den in Abschnitt 4.1.1 aufgeführten Erhebungsparametern wurden weitere exogene Faktoren post festum in das Variablensample aufgenommen (u.a. Bildungsgrad, Spracherwerb). Nach Durchführung der interaktionalen Analysen in 4.2.2 wird die Annotation ferner um die qualitativ gewonnenen gesprächsanalytischen Variablen ergänzt.

116 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Tab. 10: Variablenkodierung Korpora gesprochener Sprache

Variable

Dummy

Skalenniveau

Erklärung

ordinal

SprecherInnensigle (z.B. BÖR07)

Soziolinguistische Faktoren (exogen) SprecherIn Herkunft (Region)

ordinal

Regionale Herkunft SprecherIn (z.B. Börger)

Alter

ordinal

3 Ausprägungen: alt (> 61), mittel (41–60), jung (20–40)

binär

1= Alter (alt); 0= Alter ( alt)

Beruf

binär

1= Landwirtschaft; 0= Nicht-Landwirtschaft

Bildung

binär

1= Abitur; 0= kein Abitur

Geschlecht

binär

m= männlich, w= weiblich

(Interaktions-) Situation

binär

1= Interview; 0= Tischgespräch

Spracherwerb

ordinal

3 Ausprägungen: Niederdeutsch L1; bilingual Niederdeutsch-Hochdeutsch; monolingual Hochdeutsch

Alter (alt)

Varietät

Spracherwerb binär (Niederdeutsch)

1= Spracherwerb (Niederdeutsch); 0= Spracherwerb ( Niederdeutsch)

Varietätendisplay

ordinal

3 Ausprägungen: Gebrauchsstandard; Regiolekt; Dialektvarietät (vgl. Tab. 9)

Gebrauchs standard

metrisch

0–1 (auf Basis quantitativer Zuordnungen des Kriterienkatalogs in Anhang (A2))

Grammatische Faktoren (endogen) Auxiliar

binär

1= sein, 0= haben

Flexionsklasse

sein

ordinal

9 Ausprägungen: gemischt; haben; hochfrequent regulär stark; hochfrequent schwach; irregulär stark; Modalverb_Präteritopräsentia; regulär stark; schwach; sein

Transitivität

metrisch

0–1; Parameter aus Transitivitätsfaktoren nach Hopper & Thompson (1980)

Objektangefangen

ordinal

5 Ausprägungen: Akkusativobjekt (AkkO), ‚Mit‘-Transitiv, Phasenverbkonstruktion, Präpositionalobjekt, Intransitiv 1= Objekt (Akkusativ); 0= Objekt ( Akkusativ)

Objekt (Akkusativ) Perfekt

binär

1= Perfekt; 0= Präteritum

Präteritum

binär

1= Präteritum; 0= Perfekt

Methode | 117

4.1.3 Deskriptive Statistik Nach der Vorstellung der Sprachgebrauchskorpora und der Aufbereitung der Daten gibt Abschnitt 4.1.3 einen Überblick über die deskriptive Statistik. Dafür werden zunächst Verteilungen der Perfektauxiliarkonstruktionen mit angefangen relativ zu Perfektauxiliarkonstruktionen mit ähnlichen telischen Verben wie begonnen oder aufgehört bereitgestellt, um die übergreifende Rolle der Telizität innerhalb der gesprochensprachlichen Auxiliarvariation in Anlehnung an die theoretischen Ausführungen in Abschnitt 2.2.2 zu prüfen. Daneben wird die Distribution der angefangen-Varianten im Hinblick auf grammatische (Objekt) und soziolinguistische (Spracherwerb, Alter, Geschlecht, Varietät) Faktoren aufgezeigt. Auch die Verteilungen der Varianten in areal-horizontaler, aber vor allem in sprecherbezogener Hinsicht werden präsentiert.

Abb. 16: Verteilung telischer Konstruktionen in der Interaktion

Mit Blick auf die Rolle der Kategorie Telizität zeigt der direkte Vergleich der Tokenfrequenzen inchoativer und egressiver Auxiliarkonstruktionen in Abb. 16, dass angefangen mit 191 Perfektbelegen relativ zu anderen telischen Verben wie begonnen, aufgehört, beendet oder gestartet am häufigsten in der Interaktion gebraucht wird. Mit Blick auf die Auxiliarverteilung beim Partizip angefangen wird zudem deutlich, dass der Gebrauch der sein-Variante (130 Belege) die Tokenfrequenz der haben-Variante (61 Belege) um mehr als das doppelte übersteigt. Neben den in Abb. 16 aufgezeigten Perfektkonstruktionen wurden ferner 10 Zustandspassiva/Resultativa (z.B. Das Spiel ist angefangen; neun Belege mit sein, ein Beleg mit haben) getaggt, die jedoch aufgrund der geringen Belegzahl

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im Folgenden nicht weiter analysiert werden. Entgegen der Hypothese von Elspaß (2016) kann damit nicht von einem Gebrauchsrückgang der seinVariante, sondern von einer tokenfrequenzbasierten Stabilität der [_sein(AUX)_ angefangen(PP)_]-Konstruktion gesprochen werden (vgl. 2.1). Perfektkonstruktionen mit begonnen und beendet werden – analog zum Schriftstandard – auch im Gesamtkorpus ausschließlich mit haben konstruiert. Auch das Partizip aufgehört wird bis auf einen niederdeutschen Beleg mit dem Auxiliar haben konstruiert. Im Vergleich zum niederländischen System hat Telizität damit keinen höheren Produktivitätsgrad im Repertoire westniederdeutscher SprecherInnen. In der synchronen Interaktion beschränkt sich die Bildung des sein-Perfekts bei diesen Verben ausschließlich auf das telische Partizip angefangen und einen in der niederdeutschen Varietät gebrauchten aufgehört-Beleg mit sein. Obwohl nicht von einem umfassend produktiveren Telizitätsprinzip im System westfälischer und emsländischer SprecherInnen ausgegangen werden kann, ist die telische Aktionsart von angefangen dennoch der zentrale Faktor, der die Konstruierbarkeit mit dem sein-Perfekt erst ermöglicht (vgl. 2.2.2). Aufgrund der geringen Frequenz der Auxiliarvariation mit begonnen und aufgehört wird sich die Auswertung im Folgenden allein auf das Partizip angefangen konzentrieren.

Abb. 17: Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Alter

Mit Blick auf die Verteilung der angefangen-Varianten im Rahmen der soziolinguistischen Variable Alter macht Abb. 17 deutlich, dass vor allem Personen der mittleren und ältesten Kategorie die sein-Variante im Vergleich zur habenVariante mehr als doppelt so häufig gebrauchen. Dass die mittlere Alterskatego-

Methode | 119

rie dabei in absoluten Zahlen überwiegt, könnte der größeren Anzahl an Daten von Sprecherinnen dieser Altersklasse aus dem SiN-Korpus geschuldet sein (vgl. Tab. 7). Im Hinblick auf die jüngste Alterskategorie fällt zudem auf, dass hier die Gebrauchsfrequenzen der jeweiligen Varianten relativ ausgeglichen sind. Abb. 18 zeigt in Bezug auf die soziolinguistische Variable Geschlecht, dass vor allem Frauen im relativen Verhältnis zu Männern die sein-Variante häufiger gebrauchen als die haben-Variante (77 zu 61 Prozent). Dennoch überwiegt bei beiden Geschlechtern die sein-Variante in absoluten Zahlen.

Abb. 18: Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Geschlecht

Abb. 19: Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Objektart

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Im Hinblick auf die Distribution der Argumentstrukturen und Objektarten deutet sich in Abb. 19 an, dass die sein-Variante relativ häufiger mit weniger transitiven Objektarten wie Präpositionalobjekten oder intransitiven Argumentstrukturen, die haben-Variante hingegen häufiger mit transitiven Phasenverbkonstruktionen oder Akkusativobjekten im Korpus gebildet wird. Dies legt den in 2.2.4.1 beschriebenen Einflussfaktor von Transitivität zunächst in den absoluten Zahlen für das vorliegende Korpus nahe. Dieser Effekt muss jedoch noch statistisch validiert werden. Abb. 20 zeigt ferner, dass der niederdeutsche Spracherwerbshintergrund58 einen Einfluss auf den Gebrauch der angefangen-Varianten hat. Hier wird deutlich, dass L1-NiederdeutschsprecherInnen bis auf zwei Belege ausschließlich die sein-Konstruktion verwenden. Bilinguale SprecherInnen weisen eine höhere Variation zwischen beiden Varianten auf, jedoch dominiert auch in dieser Gruppe die sein-Variante mit mehr als zweidrittel in absoluten Zahlen. Überraschend an der Gruppe der SprecherInnen, die mit der niederdeutschen Varietät erst im Zuge des Fremdspracherwerbs, und damit erst nach dem sechsten Lebensjahr in Kontakt gekommen sind, ist, dass diese Personen ebenfalls die seinKonstruktion im paritätischen Verhältnis mit der haben-Variante verwenden. Monolinguale SprecherInnen gebrauchen ausschließlich die haben-Variante im Gesamtkorpus.

|| 58 Der (niederdeutsche) Spracherwerb wurde mithilfe der soziodemographischen Befragungen im Rahmen des Interviews und in Anlehnung an die altersspezifischen sensiblen Phasen aus der Erst- und Zweitspracherwerbsforschung ermittelt (vgl. dazu Grießhaber 2010; KlannDelius 2016). Für die Einordnung des niederdeutschen Spracherwerbs war vor allem die Alterspanne zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr entscheidend. L1-SprecherInnen haben demnach im Rahmen des Interviews angegeben, dass sie die niederdeutsche Varietät als Erstsprache in der Familie erworben hatten, die hochdeutsche Varietät erst im Kindergarten oder der Schulzeit. Als bilingual wurden SprecherInnen eingestuft, die angaben, dass sie die niederdeutsche und hochdeutsche Varietät simultan im Zeitraum zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr erworben haben. Als Fremdspracherwerb wurden niederdeutsche Erwerbssituationen eingestuft, welche nach dem sechsten Lebensjahr erfolgten. Als monolingual wurden SprecherInnen kategorisiert, welche keinen Niederdeutscheinfluss im Erstspracherwerb oder danach benennen konnten. Entgegen der Problematik, die mit dem verzerrenden Begriff der Monolingualität einhergeht (vgl. Auer & Wei 2007: 1), wurde dieser für die vorliegende Klassifikation gewählt, um die Unterscheidung zwischen NiederdeutschsprecherInnen und NichtNiederdeutschsprecherInnen zu erleichtern. Damit soll jedoch keine Aussage über die innere Mehrsprachigkeit dieser Personen im weiteren Sinne gemacht werden (vgl. Riehl 2015: 16–17).

Methode | 121

Abb. 20: Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf Spracherwerb

Aufbauend auf diesen spracherwerbsbezogenen Verteilungen zeigt der Scatterplot59 in Abb. 21, dass die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion sowohl in der Dialektvarietät, im Regiolekt als auch im Gebrauchsstandard eingesetzt wird. Die Annahme von Elspaß (2016), dass die sein-Konstruktion nicht als Teil des norddeutschen Standards definiert werden kann, muss für den Gebrauchsstandard bei westfälischen und emsländischen SprecherInnen mit niederdeutschem Einfluss im Erst- und Fremdspracherwerb somit eingeschränkt werden. Generell überwiegen die absoluten Belegzahlen im Gebrauchsstandard und im Regiolekt, was an den überwiegend in regionalem Hochdeutsch geführten Gesprächen und dem zunehmenden Dialektverlust im Untersuchungsgebiet liegt (vgl. 4.1.2). Innerhalb der Dialektvarietät ist dabei teilweise ein starker Formverlust in den syntaktischen Konstruktionen zu beobachten.60 Monolinguale SprecherInnen weisen nur wenige regionale Merkmale im Sprachgebrauch auf.

|| 59 Der Scatterplot wurde auf Basis der quantitativen Variable Gebrauchsstandard und dem funktionalen Display der einzelnen SprecherInnen (Variable Varietätendisplay) in Anhang (A3) umgesetzt. Die einzelnen Punkte wurden mithilfe der geom-jitter Funktion in ggplot2 (RVersion 4.0.0) geplottet. Geom_jitter wird bei nicht-kontinuierlichen Daten eingesetzt, um das Überplotten von Datenpunkten zu verhindern. 60 An dieser Stelle muss betont werden, dass keine allgemeinen Aussagen über das phonologische Varietätenspektrum der einzelnen SprecherInnen oder (phonologische) Konvergenzprozesse gemacht werden können, da nicht das gesamte Repertoire eines/r SprecherIn, sondern ausschließlich die phonologischen und morphologischen Merkmale innerhalb der sein- und haben-angefangen-Konstruktionen gemessen wurden.

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Abb. 21: Verteilung angefangen-Varianten im vertikalen Varietätenspektrum (Interaktion)

Neben der Verteilung der Varianten im vertikalen Varietätenspektrum stellt auch die Darstellung der areal-horizontalen Verteilung von Konstruktionen in regionalsprachlichen und dialektologischen Arbeiten ein zentrales methodisches Untersuchungsziel dar (vgl. die einschlägigen regionalsyntaktischen Atlasprojekte SADS (Glaser 2006), SyHD (Fleischer, Kasper & Lenz 2012) und SAND (Barbiers & Bennis 2007)). In Anlehnung an die einschlägige regionalsyntaktische Forschung wird im Folgenden zunächst die Verteilung der Varianten im Raum vorgestellt. Sie wird vor dem Hintergrund eines handlungs- und individuenbasierten Ansatzes anschließend jedoch kritisch hinterfragt. Abb. 22 verdeutlicht zunächst die Verteilung der angefangen-Varianten relativ zum Herkunftsort der SprecherInnen. Hier zeigt sich, dass vor allem SprecherInnen, die aus dem Emsländischen, Münsterländischen, Ostwestfälischen, Westmünsterländischen oder Bentheimischen Gebiet stammen, relativ häufiger die sein-Variante gebrauchen. Umgekehrt zeigt das südwestfälische und das lippische Sprachgebiet den überwiegenden oder ausschließlichen Gebrauch der haben-Variante.

Methode | 123

Abb. 22: Verteilung angefangen-Varianten in der Interaktion in Bezug auf regionale Herkunft

Abb. 23 visualisiert darüber hinaus die relative Verteilung der angefangenKonstruktionen in den untersuchten Orten. Hier zeigen sich Herkunftsorte, in denen SprecherInnen ausschließlich die haben- oder ausschließlich die seinVariante nutzen. Andere Orte weisen interpersonelle Variation im Gebrauch der angefangen-Varianten auf. In syntaktischer Hinsicht verhalten sich SprecherInnen aus den Orten Neger (Olpe) und dem Gebiet Lippe im Untersuchungsort Horn Bad-Meinberg im Gebrauch der angefangen-Variante standardkonform beziehungsweise – im überregionalen Vergleich – wie andere westmitteldeutsche und oberdeutsche Sprachräume (vgl. Karte des AdA in 2.1). Als Erklärungsansatz für das Ausbleiben der regionaltypischen seinVariante bei diesen SprecherInnen könnte der relativ schnellere Abbau der niederdeutschen Varietät in diesem Gebiet durch den sprachhistorischen Einfluss aus dem mitteldeutschen Sprachraum angeführt werden. Das lippische Gebiet wird ebenfalls in der einschlägigen Literatur zum Westfälischen aufgrund des besonders starken Rückgangs der niederdeutschen Varietät und des historisch frühen süddeutschen Hochdeutscheinflusses diskutiert (vgl. Langhanke 2011: 312–314). Phonologische Untersuchungen zur dialektologischen Einordnung des südwestfälischen Gebiets um den Ort Neger (Olpe) diskutieren zudem häufig die ambige Zugehörigkeit des Gebiets zum westfälischen oder niederrheinischen Niederdeutsch aufgrund seiner direkten Lage in der Benrather Übergangszone.61

|| 61 Nach der Einteilung der Mundarten des südöstlichen Sauerlandes von Schulte (1941: 20) wird der Ort Neger (Olpe) zum sogenannten ent-Gebiet gezählt, d.h. er ist südlich der Isoglosse

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Abb. 23: Raumverteilung der angefangen-Varianten in interaktionalen Daten

|| des Einheitsplurals –et angesiedelt, aber nördlich der maken/machen-Linie. Dem ent-Gebiet wurde in der einschlägigen Literatur ein „sprachlicher Einbruch“ (Schulte 1941: 80) aufgrund der geographischen Lage und der verstärkten wirtschaftlichen Orientierung hin nach Westen und Süden attestiert (vgl. Baader 1927: 94; Schulte 1941: 81). Als Übergangsgebiet wird dieser Raum einmal zum (Süd-)Westfälischen (vgl. Beckmann & Schürholz 2008), ein anderes Mal zum niederfränkischen Sprachraum gezählt (vgl. Nörrenberg 1953/54: 118).

Methode | 125

Ob die sein-Variante mit angefangen bei SprecherInnen oder SchreiberInnen aus diesen Gebieten auch sprachhistorisch keine Rolle gespielt hat oder ob die Konstruktion erst mit zunehmendem Hochdeutscheinfluss schneller als in anderen westfälischen Regionen abgebaut wurde, müsste eine diachrone Untersuchung zeigen. Neben SprecherInnen aus Orten, die ausschließlich die haben-Variante gebrauchen, eröffnen sich in Abb. 23 auch Regionen, die im Korpus allein die sein-Variante konventionalisiert haben. Diese Verteilung folgt jedoch keiner nachvollziehbaren Systematik und könnte aufgrund der direkten Umgebung von Orten mit Variation auch durch niedrige Frequenzen im Korpus (z.B. Stevern) oder altersbedingte Verzerrungen (z.B. Schwaney) bedingt sein. Die absoluten Frequenzen der angefangen-Varianten machen deutlich, dass pro SprecherIn und Ort keine starke quantitative Grundlage zur Untersuchung von syntaktischen Konstruktionen im Sprachgebrauch besteht. Anhang (A3) gibt einen genaueren Einblick in die Distribution der Belege pro SprecherIn und regionaler Herkunft. In 25 der 28 untersuchten Orte konnten syntaktische Auxiliarkonstruktionen mit angefangen in der Interaktion festgestellt werden. Das ergibt bei einer Gesamtbelegzahl von 191 im Schnitt 7,6 Belege pro untersuchtem Ort. Die Belege verteilen sich insgesamt auf 85 SprecherInnen. Die Streuung der Belege in Abb. 24 zeigt, dass 37 SprecherInnen (43,5 %) nur einen Beleg im ausgewerteten Sprachmaterial verwenden. Eine potenzielle Untersuchung von Formen der angefangen-Variation ist daher nur bei knapp der Hälfte der SprecherInnen (56,5 %) möglich, wenn die Definition von Variation ab einer Belegzahl von zwei angesetzt wird. Von den 48 SprecherInnen, welche mehr als einen angefangen-Beleg in den untersuchten Korpora aufweisen, zeigen 17 SprecherInnen intrapersonelle Variation zwischen den angefangen-Varianten. Für die Untersuchung syntaktischer Konstruktionen im mündlichen Sprachgebrauch sind diese geringen Belegzahlen ein nicht aufzulösendes Dilemma. Diesem Konflikt wurde innerhalb der bisherigen Regionalsyntaxforschung mit zwei Ansätzen begegnet: (1) Mit der Generalisierung von Einzelbelegen auf ganze Untersuchungsorte, vor allem in den einschlägigen regionalsyntaktischen Atlasprojekten mit areal-horizontalem Forschungsinteresse (vgl. Glaser 1997; Fleischer, Kasper & Lenz 2012) oder (2) mit dem vollständigen Ausschluss gesprochensprachlicher Gebrauchsdaten (vgl. 2.3). Die Generalisierung von Gebrauchsvarianten einer Person als repräsentativ für den gesamten Untersuchungsort schließt nicht nur Variation a priori aus, sondern widerspricht auch der Idee von individuellem und gruppenspezifischem Sprachgebrauch in gefestigten sozialen Netzwerken. Durch die Eliminierung von Variation wird zudem eine nicht existente Homogenität von Sprachräumen vorangetrieben.

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Abb. 24: Streuung der angefangen-Belege pro SprecherIn in interaktionalen Daten

Der häufige Ausschluss gesprochensprachlicher Gebrauchsdaten hat insgesamt zur Konsequenz, dass innerhalb der Forschung bisher wenige Erkenntnisse über den natürlichen Gebrauch arealer syntaktischer Varianten gewonnen werden konnte. Die vorliegende Untersuchung wird im Bewusstsein der Problematik einer insgesamt geringen Tokenfrequenz mit hoher Dispersion dennoch den Fokus auf nicht-elizitierte gebrauchsbasierte syntaktische Auxiliarvariation legen. Die vorliegende Untersuchung begegnet der oben aufgezeigten Dilemmasituation mit einem individuenbasierten, soziolinguistisch-pragmatischen Ansatz zur Analyse der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion (vgl. Levey 2006; Fox 2012; Pichler 2009, 2013, 2016). Im Zentrum steht dabei die qualitativ handlungsbezogene Rekonstruktion von Konstruktionen und sprecherbezogener Variation. Statistische Analysen werden in einem zweiten Schritt mit Blick auf den Einfluss weiterer soziolinguistischer und grammatischer Faktoren im Gesamtkorpus vorgenommen.

4.1.4 Auswertungsmethoden Nicht nur die Erhebungsmethoden, sondern auch die Auswertungsmethoden folgen dem Prinzip der Gegenstandsangemessenheit. In Anlehnung an den meaning is use-Ansatz wird die Funktion der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion zunächst qualitativ als Interaktionsressource mithilfe der rekonstruktiven Gesprächsanalyse analysiert (4.1.4.1). In quantitativer Hinsicht erweitert eine multivariate Regressionsanalyse auf Basis von generalized linear mixed effects models (glmer) die qualitativ gewonnenen Ergebnisse (4.1.4.2).

Methode | 127

4.1.4.1 Rekonstruktive Gesprächsanalyse Für die Analyse regionaler Auxiliarvariation in der Interaktion wird die Gesprächsanalyse als gegenstandsangemessene Auswertungsmethode gewählt. Sie entspricht dem Plädoyer einer Syntax-for-Conversation (vgl. Schegloff 1979), das Scheutz (2005) auch für die Analyse regionaler Syntax vorantreibt (vgl. 3.2.2.1). Kernidee des Kapitels ist es, die angefangen-Auxiliarvarianten als binnenstrukturierende Mittel der temporalen Organisation rekonstruktiver kommunikativer Gattungen zu verstehen. Dabei werden die Perfektauxiliarvarianten als Zeitreferenzen im Rahmen interaktionaler sozialer Handlungen des timeworks analysiert (vgl. Bergmann 1992; Raymond & White 2017). Dafür wird im Folgenden auf (i) das Sprachverständnis der Gesprächsanalyse, (ii) die Definition rekonstruktiver kommunikativer Gattungen und ihre Modellierung im Erzählmodell von Quasthoff (2001) und (iii) den Ansatz intersubjektiver situierter Zeitreferenzen in sprachlichen Handlungen eingegangen. Die Gesprächsanalyse gehört zu den verstehenden, interpretativen Methoden, die Form- und Funktionszusammenhänge sprachlicher Zeichen aus dem kontextuellen Zusammenhang rekonstruiert (vgl. Deppermann 2008: 10–11). Die rekonstruktive Forschungslogik kann als datengetriebenes bottom-upVerfahren verstanden werden. Die abduktive Forschungslogik verfolgt dabei das Ziel, Kategorienprozesse und Zusammenhänge, an denen sich die InteraktionsteilnehmerInnen in der „Vollzugswirklichkeit“ (Bergmann 1988: 52) im Gespräch orientieren, vor dem Hintergrund eines kontextsensitiven Sinnverstehens zu analysieren. Sie ist damit ein funktionaler Ansatz, der zu zeigen versucht, inwiefern die Form linguistischer Zeichen durch ihren Gebrauch motiviert ist. Die hier betrachtete Ebene der Motivation ist vor allem eine pragmatische und im aktuellen Gebrauch als wirksam aufzuweisen, nicht eine etymologisch-sprachgeschichtliche. (Deppermann 2007: 37; [Hervorhebungen i.O.])

Die Konversationsanalyse (CA) versteht Sprechen als soziale Handlung62, die durch gesellschaftliche Wissensbestände unterschiedlichen Explizitheitsgrades || 62 Der Begriff Handlung wird hier in Anlehnung an den Begriff der activity oder action in der CA als emische Kategorie verstanden. Heritage & Sorjonen (1994: 4) definieren eine Handlung in Abgrenzung zu einer Sequenz wie folgt: „We employ the term activity […] to characterize the work that is achieved across a sequence or series of sequences as a unit or course of action meaning by this a relatively sustained topically coherent and/or goal-coherent course of action. This term is, of course, a ‚term of art‘. An activity might embrace such things as ‚talking about the weather‘, the ‚examination‘ or ‚diagnosis‘ phase of a medical consultation, or ‚claiming social security‘. Our interest in this phenomenon is ‚emic‘ in character, i.e. with how the

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und verfestigte Sinn-Einheiten geprägt ist (vgl. Luckmann 1986: 195). Nach den kultursemiotischen Arbeiten von Bakhtin gehören zu diesen verfestigten kommunikativen Vorgängen sogenannte Genres oder kommunikative Gattungen (vgl. Luckmann 1986; Bakhtin 1986; Günthner & Knoblauch 1996). Kommunikative Gattungen stellen spezifische Ethno-Kategorien dar, die als „verfestigte und formalisierte Lösungen kommunikativer Probleme […] [der] Bewältigung, Vermittlung und Tradierung intersubjektiver Erfahrungen der Lebenswelt“ dienen (Günthner & Knoblauch 1996: 35). Sie gehören als Handlungstypen zum kommunikativen Haushalt einer Gesellschaft (Luckmann 1988: 282) und sind damit Teil des Habitus (vgl. Bourdieu 1977: 78). Erzählungen sind dabei ein Teilbereich sogenannter rekonstruktiver Gattungen, die nach Bergmann & Luckmann (1995) wie folgt definiert werden: In our everyday experience events come and go but we have socially institutionalized solutions for the problems which arise from that. […] There are essentially two reasons why we speak of reconstructive genres and not simply of stories, tales, or narrations. Everyday (story, tale) or scientific (narration) concepts have a normative component which tends to make them deaf to the manifold concrete possibilities of reconstructive reference to social events. Bergmann & Luckmann (1995: 293/294)

Rekonstruktive Gattungen in der Interaktion sind nicht allein auf Erzählungen im engeren Sinne beschränkt, sondern können in Anlehnung an die Kommunikationsschemata der Sachverhaltsdarstellungen nach Kallmeyer & Schütze (1977) auch mit Gattungen des Berichts oder der Beschreibung als verfestigten Formen zur kommunikativen Bewältigung vergangener Ereignisse amalgamieren (vgl. Rehbein 1984: 86–87).63 Im Hinblick auf die makrostrukturelle Organisationen von Erzählungen in der Interaktion haben drei Ansätze einen prägenden Einfluss auf die Erzählforschung ausgeübt: (1) Das Strukturmodell nach Labov & Waletzky (1997), (2) das konversationelle Analysetool von Alltagserzählungen nach Quasthoff (1980, 2001) und (3) die konversationsanalytischen Ansätze zu Narration von Kallmeyer & Schütze (1977) und Rehbein (1984) (vgl. auch Jefferson 1978; Rehbein 1980,

|| participants display an orientation to some course of action as a coherent undertaking and as something that may be ‚departed from‘ and ‚returned to‘”. 63 Kommunikative Gattungen ergeben sich hier aus der gradienten Organisation dreier Grundtypen: (1) Einem deskriptiven, (2) einem narrativen und (3) einem argumentativen Typus. Differenzierungen entlang dieser drei Grundtypen führen zu Zwischenkategorien wie die des Berichts, der zwar eigenständige Gattungsmerkmale, jedoch auch starke Ähnlichkeit mit dem narrativen Grundtypus der Erzählung aufweist.

Methode | 129

1984; Goodwin 1984; Fina & Georgakopoulou 2008). Im Gegensatz zum Strukturmodell nach Labov & Waletzky fokussieren konversationsanalytische Ansätze der Narration lokale Strukturen der Gesprächsorganisation und definieren Erzählungen nicht als Normalformen64 (vgl. Labov & Waletzky 1997: 37). Narrative Strukturen sind stattdessen in den vorausgehenden Gesprächskontext eingebettet und damit sequenziell und prozessual geordnet. Im Rahmen ihrer Bindung an die Organisation des Sprecherwechsels werden sie von beiden KommunikationspartnerInnen gemeinsam hervorgebracht und entfalten sich emergent in der Interaktion (vgl. Jefferson 1978: 220). Aufgrund der besseren Visualisierbarkeit zeitreferenzieller Funktionen der angefangen-Perfektvarianten wird sich die Untersuchung auf das Modell von Quasthoff (2001: 1302) stützen. In diesem Modell werden Alltagserzählungen in einer nach oben abgerundeten Schüssel dargestellt (vgl. Abb. 25): Turn-by-turn talk

Turn-by-turn talk

Überleitung

Darstellung Inhaltsrelevanz

Abschließen

Thematisierung Elaborierung/ Dramatisierung

Abb. 25: Gesprächsorganisatorische narrative Jobs nach Quasthoff (2001)

Abb. 25 verdeutlicht den doppelten Situationsbezug der Erzählung und unterscheidet die „Diskurswelt der Sprechsituation“, also dem Hier und Jetzt im Sinne Bühlers (1999: 126–127), in dem erzählt wird (Erzählsituation), von der „Diskurswelt der Geschichte“, die sich auf das Damals und Dort der erzählten Situation bezieht. Quasthoff (2001: 1302) differenziert dabei drei unterschiedliche Beschreibungsebenen: (1) Die Ebene der interaktiv konstituierten Jobs, (2) die Ebene der pragmatischen Mittel und (3) jene der syntaktisch-lexikalischen Formen (vgl. auch die Strukturebenen kommunikativer Gattungen nach Günth-

|| 64 Normalform bedeutet, dass Erzählungen in einer festgelegten Reihenfolge durch die globalen Elemente Orientierung (Ort, Zeit, Personen), Komplikation (des Handlungsverlaufes), Evaluation (Markierung der erzählenswerten Qualität des Ereignisses), Auflösung (des Handlungsknotens) und Überleitung (Herstellung der Verbindung zur Erzählzeit) abgehandelt werden (vgl. Labov & Waletzky 1997: 27–37).

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ner & Knoblauch 2007: 56–57). Auf der globalen Ebene können folgende Jobs einer Erzählung unterschieden werden: (i) Darstellung der Inhalts- und/oder Formrelevanz, (ii) Thematisierung, (iii) Elaborierung/ Dramatisierung, (iv) Abschließen und (v) Überleiten. Die ‚Schüssel‘ kann je nach Aufwand bei der Erledigung der Jobs ‚tiefer‘ oder ‚flacher‘ gestaltet sein. Narrationsmodelle werden in der Alltagskommunikation oder in institutionellen Kontexten (z.B. Interviewsituationen) jedoch selten in vollem Format mit allen Jobs realisiert (vgl. Bergmann & Luckmann 1995: 294). Der Job der Darstellung der Inhalts- und/oder Formrelevanz macht den Übergang vom Turn-by-turn-talk, und damit der Hier-Jetzt-Wir-Origo, hin zur etablierten Diskurswelt konditionell relevant (vgl. Quasthoff 2001: 1302). Eine Erzählung beginnt dabei meist mit einer Präsequenz, welche die kommunikative Gattung aus dem bisherigen Turn-by-turn-talk herausgelöst und sie bewertend oder beschreibend vorcharakterisiert (vgl. Kallmeyer & Schütze 1977: 190; Rehbein 1980: 73).65 Mit diesem ticket (vgl. Sacks 1995: 257) sichert sich der Erzählende das Recht für eine längere Diskurseinheit (vgl. Prinzip des primären Sprechers, vgl. Quasthoff 1994; extensives Rederecht, vgl. Kallmeyer & Schütze 1977: 162). Analog dazu markiert die Phase der Überleitung den Übergang von der Diskurswelt der Geschichte zurück zur Diskurswelt der Hier-Jetzt-Wir-Origo der Sprechsituation. Durch die Rückführung zum Turn-by-turn-talk wird auch das Prinzip des primären Sprechers aufgehoben (vgl. Quasthoff 2001: 1303). Analog zur Phase des Abschließens bildet die Thematisierung den „entscheidenden strukturellen Umschlagpunkt der narrativen Diskurseinheit“ (Quasthoff 2001: 1303), in der die Entfaltung (Thematisierung) beziehungsweise die Beendigung (Abschließen) der Narration erwartbar wird (vgl. auch story preface bei Sacks & Jefferson 1995: Kap. 1,10). Der Abschluss wird noch in dem durch die Thematisierung etablierten Vorstellungsraum des Phantasmas vorgenommen und bildet inhaltlich häufig eine Darstellung des Gesamtergebnisses. Die Kernaufgabe des Erzählens bildet die Phase der Elaborierung beziehungsweise Dramatisierung (Boden der Schüssel), in der das Ereignis in seiner übersatzmäßigen Einheit narrativ entfaltet und die etablierten Zugzwänge sukzessiv || 65 Rehbein (1980: 73/76) hebt dabei Unterschiede mit Blick auf die Initiierung von Erzählungen in Alltagsgesprächen im Gegensatz zu institutionellen Konversationen hervor: „Erzählungen im Alltag allgemein werden von den Erlebnisträgern selbst begonnen. Dafür gibt es die Möglichkeit, ein Interesse (in der Form des Wissenwollens) beim Hörer zu unterstellen und anzufangen oder das Interesse erst mit einer Vorankündigung (»ich habe etwas Furchtbares erlebt« usw.), auf die Bewertung abhebend, abzuchecken, also eine Präsequenz vorzuschalten. […] In Interviews dagegen […] werden Erzählungen angefordert, und der Erzähler kontrolliert permanent, ob seine Erzählung den Wünschen des Interviewers entspricht.“

Methode | 131

abgewickelt werden (vgl. Kallmeyer & Schütze 1977: 162). Der Erzählkern beziehungsweise die Wiedergabe (vgl. Rehbein 1984: 71) ist dabei im Sinne einer Assertionsverkettung66 (vgl. Rehbein 1984: 71) organisiert, die das Ereignis mehr oder weniger linear rekonstruiert (vgl. zum Prinzip der Linearität Quasthoff 2001: 1302; Ochs & Capps 2001: 20; Parallelitätskomponente bei Kallmeyer & Schütze 1977: 191; temporal juncture bei Labov 1978a: 65). In allen Ansätzen zu Erzählungen wird zwischen narrativen Einheiten, die der direkten Assertionsverkettung dienen (foreground) und expandierenden background-Einheiten, die eine hörerseitige Orientierung durch Erklärungen oder evaluierende Kommentare bieten, unterschieden (vgl. Hopper 1979: 215; Rehbein 1980: 76–80). Abschnitt 3.1.1 plädierte dafür, Auxiliarvarianten im Perfekt stärker als temporale sprachliche Ressourcen zu verstehen und zu analysieren. Die Funktion der Perfektauxiliarkonstruktionen mit angefangen werden daher in den oben beschriebenen rekonstruktiven Gattungen als lokale Strukturierungsmittel und zeitreferenzielle Konstruktionen untersucht, die (i) der Bearbeitung globaler Aufgaben in der narrativen Rekonstruktion und (ii) der Steuerung der Rezeptionshaltung des Hörers dienen (vgl. Rehbein 1980; Gülich 1970; Schiffrin 1981; Weinrich 2001). Tempora haben als strukturelle Mittel innerhalb rekonstruktiver Gattungen Signalfunktion (vgl. Weinrich 2001: 39) und dienen dem grounding (vgl. Studien zur Narrativen Syntax und dem handlungsgeleiteten Tempusswitch bei Wolfson 1979; Quasthoff 1980; Schiffrin 1981; Fleischmann 1985; Levey 2006). Begleitet ist diese temporale Signalfunktion meist durch makrosyntaktische Gliederungssignale (vgl. Gülich 1970).67 In diesem Rahmen wurde vor allem das historische Präsens in seiner handlungsbezogenen Bindung an narrative Komplikationshandlungen diskutiert (vgl. historisches Präsens: Quasthoff 1980: 227; Schiffrin 1981: 47–51; Labov 2013: 19; Simple-Past vs. Present Perfekt: Levey 2006: 132–135). Das (historische) Präsens hat als sprachliches temporales

|| 66 Der Begriff der Verkettung sprachlicher Handlungen, die im Redebeitrag eines Sprechenden ausgeführt werden, ist in Abgrenzung zum Begriff der Sequenz und des interaktionalen Handelns eingeführt worden (vgl. Rehbein 1984: 71). 67 Gliederungsmerkmale sind „eine distributionell bestimmbare, einheitliche Klasse von textuellen Elementen mit einer gemeinsamen Grundfunktion […], der Funktion, gesprochene Texte zu gliedern“ (Gülich 1970: 9). Diese sind meist an spezifische prosodische Bedingungen (Pausen, Intonationsverlauf) gebunden (vgl. Selting 1995b). Gülich (1970: 20) unterscheidet zwischen reihenden und nicht-reihenden Signalen. Reihende Gliederungssignale – Quasthoff (1980: 217) bezeichnet sie auch als Verknüpfungssignale – sind Konnektoren (z.B. und, dann), die Erlebnischunks in eine zeitliche Relation setzen. Nicht-reihende Signale wie kausale Subjunktionen (z.B. weil) leiten metanarrative Sätze ein (vgl. Gülich 1970: 20).

132 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Zeichen „Anzeichencharakter und markiert globalstrukturell den ‚Kern‘ der Erzählung“ (Quasthoff 1980: 228). Daneben wurden Tempora im Rahmen von Zeitreferenzen als intersubjektive Praktiken in Verbindung mit relativen epistemischen Wissensbeständen in der CA-Forschung untersucht (vgl. Button 1990; Luckmann 1991; Bergmann 1992; Enfield 2013; Raymond & White 2017; Matsutani 2019). Nach Enfield (2013: 433) werden referierende Handlungen als jene Formulierungen in der Interaktion bezeichnet, mit denen ein Sprechender eine gemeinsame Orientierung in der Interaktion in Bezug auf Personen, Raum, Objekte, Zeit oder andere ontologische Kategorien herstellt. Wenn SprecherInnen Zeitreferenzen in der Interaktion einsetzen, müssen diese demnach als Teil einer sozial gesteuerten zeitbezogenen Agentivität oder – mit Flaherty (2011) – als time work analysiert werden. We define time references, or TRs, as the repertoire of social and linguistic resources available to members of a given society to indicate particular points on the timeline. Making references to time, we argue, is a primary means through which social actors are able to ‚temporally punctuat[e] the stream of experience‘ — and in particular ways — at the ground level of moment-by-moment interaction. (Raymond & White 2017: 111–112)

In den einschlägigen CA-Ansätzen werden mit Blick auf Zeitreferenzen verschiedene Typen unterschieden, mit denen ein/e SprecherIn bedeutungsvolle Einschnitte in einer intersubjektiv geteilten Zeitachse vornehmen kann. Raymond & White (2017) unterscheiden zwischen (1) absoluten Zeitreferenzen (vgl. auch everybody’s personal calendar bei Button 1990: 172–175) und (2) eventbezogene Zeitreferenzen (vgl. auch private calendars bei Button 1990: 168). Absolute Zeitreferenzen können von allen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft unabhängig von einer sozial geteilten Lebenswelt eingeordnet werden. Hier unterscheiden Raymond & White (2017: 114–115) zwischen nicht-zählbaren (z.B. am 23. Juli 2017) und zählbaren Referenzen (z.B. vor zwei Nächten). Eventbezogene Zeitreferenzen sind indexikalisch und mit sozialer Bedeutung aufgeladen, da sie einen Bezug zu einem Ereignis der sozial geteilten Lebenswelt herstellen können (vgl. Raymond & White 2017: 117–118). Auf Basis des Epistemikkonzepts nach Labov & Fanshel (1977: 100–101)68 werden hierbei || 68 Die Epistemikforschung innerhalb der CA untersucht, wie Wissen in der Interaktion verteilt, hergestellt oder interaktiv ausgehandelt wird (vgl. Heritage 2012). Aus der Asymmetrie von Wissensbeständen bei GesprächsteilnehmerInnen entwickeln sich unterschiedliche Konsequenzen für das Sequenzmanagement und das Turn-taking. Der Ansatz nach Labov & Fanshel (1972: 100–101), auf welches sich Raymond & White (2017) speziell beziehen, differenziert unterschiedliche epistemische Status, die das Rederecht innerhalb narrativer Einheiten

Methode | 133

drei Subtypen unterschieden: (1) Intersubjektiv markierte Referenzen können als kulturell geteilte Zeitreferenzen (O-framed, z.B. an Weihnachten) oder auch interpersonell geteilte Zeitreferenzen (AB-framed; z.B. unser Dinner letzte Woche) konstruiert werden. Daneben können Zeitreferenzen auch (2) als epistemisch-sprecherbezogene Referenzen (A-framed; z.B. nach meinem Examen) oder (3) epistemisch-hörerbezogene Referenzen (B-framed; z.B. nach deinem Examen) eingesetzt werden. Zusammengefasst werden Zeitreferenzen in der CA als Teil des persönlichen und/oder intersubjektiv geteilten Wissens verstanden, die SprecherInnen zur Herstellung von sozialen Handlungen einsetzen. Aus dieser Forschungsperspektive resultiert ein handlungsbezogenes Tempusverständnis. Entgegen der einschlägigen Forschungen zur Tempussemantik (vgl. 2.2.4.3) sind Tempora nicht bloß invariante grammatische Kategorien, sondern zeitreferenzielle Mittel, die Sprechende situativ nutzen, um eine temporale Ordnung innerhalb der Interaktion herzustellen. Sie sind Ressourcen, mit denen SprecherInnen subjektive Einschnitte auf der (sozial geteilten) Zeitachse vornehmen („making ‚cuts‘ on the timeline“; Raymond & White 2017: 111). Tempora als „deiktische Ausdrücke, die ihre Bedeutung aus diesen Situationselementen beziehen, sind folglich nur als eine Funktion dieser (sich ständig ändernden) Situationsparameter fassbar“ (Auer 2013b: 55). Das unumstößliche deiktische Zentrum aller Tempuskonstruktionen bildet dabei die Origo des/r SprecherIn. Die sprachliche Zeit im engeren Sinn (grammatisches Tempus) ist hingegen völlig vom Sprechzeitpunkt abhängig, d.h. sie ordnet sich der énonciation unter, nicht die énonciation (als ein Ereignis wie alle anderen) der chronologischen Zeit. Die Referenzachse für diese Zeit ist das Präsens der Äußerung – der Sprecher schafft sie mit jedem Äußerungsakt neu […] Daher ist das Präsens die sprachliche Zeit par excellence, wenn es auch sehr unterschiedliche referenzielle Ausdehnungen des ‚Jetzt‘ in der chronologischen Zeit zu bezeichnen erlaubt. (Auer 2013b: 59; [Hervorhebung i.O.])

|| bestimmen: In einem A-framed event besitzt ausschließlich Sprecher (A) Wissen über das besprochene Ereignis. Diese/r SprecherIn besitzt demnach (meist) das primäre Rederecht. Ein B-framed event bezeichnet ein Event, in welchem nur der Gesprächspartner (B) Wissen über ein Ereignis besitzt. Meist wird hier eine Narration durch den Sprecher A eingefordert. In einem AB-framed event besitzen beide SprecherInnen Wissen und konstruieren die Narration gemeinsam oder handeln das primäre Rederecht aus. In einem O-framed event besitzen alle GesprächsteilnehmerInnen dasselbe Wissen über ein Event, während in einem D-framed event Uneinigkeit über den (korrekten) Wissensbestand über ein Event besteht.

134 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Die Bedeutung der jeweiligen angefangen-Perfektauxiliarvarianten in ihrer Funktion als deiktische Zeichen kann damit nur in der Linearität der Zeit und innerhalb der kontextualisierten Einbettung in die jeweilige rekonstruktive Gattung erfasst werden (vgl. Benveniste 1974: 293). Daher werden Formen und Funktionen der telischen angefangen-Konstruktionen in dieser Untersuchung als temporale Ressourcen in rekonstruktiven Gattungen unter Zuhilfenahme des Erzählmodells von Quasthoff (2001) analysiert. Mit Blick auf das Untersuchungsphänomen wird speziell gefragt, inwiefern die Perfektauxiliarkonstruktionen als Tempuskonstruktionen an globale Handlungen (Jobs) in rekonstruktiven Gattungen gebunden sind und damit als sprachliche Mittel einen Anzeigecharakter analog zum historischen Präsens aufweisen. Hierzu werden „Kollektionen […] vergleichbar organisierter Phänomene“ (Deppermann 2011: 217) mithilfe der Gesprächsanalyse erarbeitet und mithilfe des Schüsselmodells von Quasthoff (2001: 1302) visualisiert. 4.1.4.2 Statistik: Generalized linear mixed effects models (glmer) Aus methodischer Sicht müssen die aus der Gesprächsanalyse gewonnenen Kollektionen – um den Status von Konstruktionen erfüllen zu können (vgl. 3.1.2) – in einem zweiten Schritt quantitativ für das Gesamtkorpus ausgewertet werden. Für die statistische Analyse des Datenmaterials werden multivariate Regressionsmodelle, sogenannte (generalized) linear mixed effects models ((g)lmer) (vgl. Barr et al. 2013: 256), im Rahmen des lme4-Pakets (Version 1.1-10; Bates et al. 2015b) in R (Version 4.0.0) berechnet. Das lme4-Paket bietet den Vorteil, Regressionsanalysen mit unterschiedlichen Datentypen, sowohl normalverteilten (Eye-Trackingdaten; metrisch kodiert) als auch nicht-normalverteilten Daten (Sprachgebrauchskorpora; binär kodiert) und Variablenausprägungen (kategoriale vs. kontinuierliche), durchführen zu können. Die mixed effectsModelle werden bisher hauptsächlich in der Psycholinguistik eingesetzt und lösen die älteren ANOVA-Schätzungen ab. Sie eignen sich jedoch auch für korpuslinguistische Analysen mit sprachwissenschaftlichen Datentypen, wie Gries (2015) feststellt: Two observations are particularly pertinent in this connection. On the one hand, corpuslinguistic observational data are typically much messier and unbalanced than psycholinguistic experimental data because many confounding and moderator variables that psycholinguists can control for (by randomising, blocking, etc.) plague corpus-linguistic analyses. On the other hand, […] corpus-linguistic statistics would stand to benefit immensely from more advanced statistics in general, and (G)LMM [(generalized) linear mixed models] in particular […]. Gries (2015: 97)

Methode | 135

Für die hauptsächlich binär kodierten gesprochensprachlichen und schriftsprachlichen Datensätze werden generalized linear mixed models (glmer; vgl. Fox 2016: 469) im Rahmen der Regressionsanalyse herangezogen (vgl. einführend Fox 2016: 418–472). Dagegen werden die normalverteilten, kontinuierlichen Eye-Tracking-Daten mit linear mixed-effects models (lmer) (vgl. Barr et al. 2013: 256) berechnet. Beide Modelle basieren auf der Schätzmethode des maximum likelihood, die nicht nur die Schätzwerte der Regressionskoeffizienten, sondern auch die geschätzten Standardfehler der Koeffizienten liefert (vgl. Fox 2016: 469). Zudem haben sie den Vorteil, bei heterogenen Versuchsgruppen, als auch kleineren Stichproben, größere statistische Belastbarkeit der Ergebnisse zu garantieren (vgl. Baayen, Davidson & Bates 2008: 410). Lineare Regressionsmodelle sind statistische Verfahren, in der die lineare Abhängigkeit einer abhängigen von einer oder mehreren unabhängigen Variablen geschätzt wird. Im Gegensatz zu einfachen linearen Regressionen wird bei multivariaten Regressionen der Erklärungsgehalt mehrerer Prädiktoren für die abhängige Variable angelegt. Zusätzlich zur Variation über die Beobachtungen wird hier also auch eine Variation über die Regressoren hinweg angenommen. ‚Gemischt‘ sind die Modelle, weil sie sowohl fixed effects als auch random effects (random intercepts; random slopes im maximal gemischt-linearen Modell nach Barr et al. 2013) einschließen. Vor allem die Berücksichtigung zufallsbedingter Variablen für den/die SprecherIn, SchreiberIn beziehungsweise Versuchsperson (subject intercepts, by-subject random slopes) können idiosynkratische Effekte im Korpus oder im Experiment ausgleichen (vgl. Barr et al. 2013: 256). Da die einzelnen random-Variablen auch untereinander korrelieren können, entwickelten Barr et al. (2013) ein maximales Modell mit VarianzKovarianz-Matrixspezifikationen für die random-Variablen subject und item, welche datengetrieben spezifiziert werden („keep it maximal“), um robuste Ergebnisse zu erlangen. Bates et al. (2015a) kritisieren am maximalen Modellansatz jedoch, dass die Modelle aufgrund von Überparametrisierung in den meisten Fällen nicht konvergieren. Das Ziel nach Bates et al. (2015a) ist es daher, ein optimales Modell zu finden, was auch die Maxime dieser Arbeit darstellt.

136 | Auxiliarvariation in der Interaktion

4.2 Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Annahmen wird in 4.2.1 zunächst eine handlungsbasierte Rekonstruktion der angefangen-Varianten innerhalb rekonstruktiver kommunikativer Gattungen als Ressourcen zur Herstellung interaktionaler Zeitferenzen vorgenommen. Vor allem im Hinblick auf das Perfekttempus betrifft dies auch die Frage, ob sie synchron als reine Tempus- oder Tempus-Aspekt-Konstruktionen im Sinne eines ganzheitlichen sprachlichen Zeichens gebraucht werden (vgl. 3.1.1). In Abschnitt 4.2.2 werden die Ergebnisse der Gesprächsanalyse in einem zweiten Schritt statistisch validiert und auf weitere soziolinguistische und grammatische Einflussfaktoren untersucht.

4.2.1 Gesprächsanalytische Auswertung der angefangen-Auxiliarvariation Hierzu werden in Abschnitt 4.2.1.1 zunächst gesprächsbezogene Gebrauchsformate der angefangen-Varianten in unterschiedlichen narrativen Jobs rekonstruktiver Gattungen analysiert. Anschließend werden diese handlungsdifferenten angefangen-Konstruktionen in Abschnitt 4.2.1.2 auf die in 3.2.2.1 entwickelte Idee funktionaler beziehungsweise nicht-funktionaler syntaktischer Variation individuenzentriert untersucht. Hier wird der Frage nachgegangen, wie regionale syntaktische Variation unter einem gesprächsanalytischen Blickwinkel verstanden und operationalisiert werden kann. 4.2.1.1 Gebrauchsformate der angefangen-Konstruktionen in der Interaktion Im Rahmen der gesprächsanalytischen Auswertung des spontansprachlichen Korpus konnten zwei handlungsbezogene Funktionen der angefangenPerfektvarianten als temporale Ressourcen in rekonstruktiven Gattungen herausgearbeitet werden: Der Einsatz der Konstruktion zur Anzeige (1) rekonstruktiver Elaborierungshandlungen69 und (2) origobezogener narrativer Jobs (vor allem präsequenzielle Einleitung einer Narration und narrativ abschließende Überleitungshandlung zum Turn-by-turn-talk). Tab. 11 fasst den Form-Funktionszusammenhang zwischen den rekonstruktiven Funktionen und den jeweiligen angefangen-Konstruktionsformen im Überblick zusammen.

|| 69 Elaborierungshandlungen werden in dieser Arbeit als narrative Einheiten der Assertionsverkettung verstanden, die der (linearen) Darstellung des Ereignisverlaufs dienen.

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 137

Tab. 11: Rekonstruierte Funktionen formaler angefangen-Varianten in der Interaktion

Gebrauchsformat

Form

Rekonstruierte Funktion

(1)

[_HABEN(AUX)_an(ge)fangen(PP)_]

Rekonstruktive Elaborierungshandlung

(2)

[_SEIN(AUX)_an(ge)fangen(PP)_]

Rekonstruktive Elaborierungshandlung

(3)

[_HABEN(AUX)_an(ge)fangen(PP)_]

Origobezogene narrative Jobs

(4)

[_SEIN(AUX)_an(ge)fangen(PP)_]

Origobezogene narrative Jobs

Betrachten wir zunächst die Formate (1) und (2), in denen die Perfektvarianten zur Konstruktion eines abgeschlossenen Vergangenheitsbezugs zur Anzeige rekonstruktiver Elaborierungshandlungen in der Interaktion gebraucht werden. In Transkript (2) wird ein Ereignis in der Vergangenheit mithilfe der [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion emergent als zeitlich abgeschlossen konstruiert (Format 1). Format 1: haben-Variante in vergangenheitsbezogenen Elaborierungseinheiten (2) WEMS-LEV06-INT (10:06-10:36) Lehre Kontext: Die Interviewerin (I) und der Sprecher aus Ostwestfalen (L) unterhalten sich im Rahmen des narrativen Interviews über die sprachbiographische Entwicklung des alltäglichen Gebrauchs der niederdeutschen Dialektvarietät. Der Ausschnitt schließt an die Unterhaltung über die Rolle der plattdeutschen Sprache in der Schule an. 512 I ähm, 513 wIE gestaltete sich dAnn die zeit NACH ihrem schUlabschluss; ‡|*70 514 (1.1) 515 L °h ja GUT→ 516 ich hAb_ne LEHre Angefangen, ‡|* 517 (1.2) 518 I hm_HM, ‡|* 519 L groß un trau (.) äh AUSsenhandelskaufmann gelErnt, ‡|* 520 (2.0) 521 I hm_HM, ‡|* 522 L (--) und bin dort in der FIRma-

|| 70 Angelehnt an den gesprochensprachlichen Syntaxbegriff des Zäsurierens nach Auer (2010b) stehen die folgenden Symbole im Transkript für folgende Zäsuren: prosodische Zäsur (‡), syntaktische Zäsur (*), abgeschlossene Gestalteinheit (|).

138 | Auxiliarvariation in der Interaktion

523 524 I 525 526 I 527 528 529

(.) in der finAnzverwaltung bis HEUTE noch; ‡|* (-) hm_HM, (2.2) ähm, WO hat denn dann-‡ die: LEHre-‡ also an welchem ORT hat die lehre stAttgefunden? ‡|*

Der request for information der Interviewerin in Z. 513 gibt mithilfe der Präpositionalphrase nach ihrem Schulabschluss den zeitlichen Referenz- und Ausgangspunkt für die Berichtsequenz von L vor (Thematisierung). Die Handlung des requests markiert gleichzeitig das epistemische Primat von L in Bezug auf die zeitliche Einordnung der Events (B-Event nach Labov & Fanshel 1977) und macht eine Elaborierung in zweiter Position konditionell relevant. L beginnt ohne größere Prä- und Orientierungssequenz mit der Aufzählung der Stationen seiner beruflichen Laufbahn mit dem syntaktischen Gestaltschluss in Z. 516, eingeleitet durch die Diskursmarkerkombination ja gut (Z. 515). Diese unangekündigte, sequenziell nicht stark ausgebaute und wenig evaluierende lineare Assertionsverkettung ist für institutionelle Gespräche wie Interviews nicht unüblich. Im Sinne der rekonstruktiven Gattung Bericht dient sie der neutralen Darstellung des Ereignisses als zielgerichtetem Prozess. L konstruiert hier die zeitliche Referenz der Aktivität („ne Lehre“, Z. 516) mithilfe der [_haben(AUX)_ angefangen(PP)_]-Konstruktion. Er nimmt keine weiteren (absoluten) Zeitreferenzen innerhalb des Past-Frames oder relativ zur Origo vor, sondern orientiert sich am interaktiv durch die Interviewerin vorgegebenen Zeitanker. L markiert die Einordnung des Events sprecherzentriert, weil nur ihm die genaue punktuelle Einordnung des Beginns dieses Events auf der subjektiven Zeitachse zugänglich ist (vgl. Raymond & White 2017: 117). Die fehlende absolute Zeitreferenz wird jedoch durch die Interviewerin intersubjektiv nicht problematisiert. In Bezug auf die temporal-aspektuelle Dimension und damit den Origobezug des konstruierten Events bleibt die Perfektkonstruktion bis zu diesem Zeitpunkt der emergenten Elaborierung ambig. Intonatorisch wird die Konstruktion mit leicht steigender Kontur versprachlicht (vgl. Abb. 26), was mit Blick auf das Interaktionsmanagement eine Fortführung der Elaborierungssequenz erwartbar macht. Erst in der Zäsurierung in Z. 522–523 konstruiert L eine zeitreferenzielle Tempus-Aspektkontur in Bezug auf den Nahzeitraum, indem er die Aktivität der Arbeit als Außenhandelskaufmann mithilfe der absoluten Zeitreferenz „bis HEUTE noch“ (Z. 523) als relevant für die Origo darstellt. Diese absolute Zeitreferenz schließt den Hörer intersubjektiv wieder in die eventbezogene Rekonstruk-

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 139

tion ein. Die Phasen des Abschließens und der Überleitung werden hier integriert vorgenommen, sodass der Übergang zum Turn-by-turn-talk im Anschluss erwartbar wird. Die bis hierhin ambige haben-angefangen-Konstruktion aus Z. 516 kann erst an dieser Stelle in der berichtenden Assertionsverkettung retrospektiv als temporal-abgeschlossen und damit als reine Tempuskonstruktion verstanden werden. Übertragen auf das Quasthoff’sche Analysetool, wird die [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als zeitreferenzielle Ressource in rekonstruktiven Elaborierungshandlungen innerhalb der origoabgewandten Diskurswelt (Boden der Schüssel) realisiert (vgl. Abb. 27). Die [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion erhält dadurch einen Anzeigecharakter für rekonstruktive Elaborierungshandlungen und der zeitreferenziellen Verortung von Events in der Vergangenheit.

Abb. 26: Intonationskontur [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend)

Turn-by-turn talk; Origo

Turn-by-turn talk; Origo

L: Abschließen/Überleiten und bin dort […] bis HEUTE noch;

I: Thematisierung; Frage temp. Referenz L: Elaborierung Ich _hab ne LEHRE Angefangen (Z. 516)

Abb. 27: Narrative Jobposition [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend)

140 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Diese vergangenheitsbezogenen, rekonstruktiven Elaborierungssequenzen, die ein abgeschlossenes Ereignis anzeigen, werden im Korpus jedoch nicht nur mit der haben-, sondern auch mit der sein-Variante konstruiert (vgl. Format (2), Transkript (3)). Format 2: sein-Variante in vergangenheitsbezogenen Elaborierungseinheiten (3) WEMS-STEV07-INT (12:39-14:30) Studienassistentin Kontext: Im unmittelbar vorangehenden Kontext werden die Schulzeit von STEV07 (S) und die Rolle der plattdeutschen Sprache in Schule und Unterricht diskutiert. Bis auf die Interaktion mit einer Mitschülerin, die aus dem gleichen Ort wie S stammt, wurde die niederdeutsche Varietät im schulischen Kontext nicht gebraucht. Nachdem der zeitliche Rahmen des Schulabschlusses geklärt ist, fragt die Interviewerin (I) nach der weiteren biographischen Entwicklung von S nach dem Schulabschluss. 698 699 700 701 702 703 704 705 706 707 708 709 710 711 712 713 714 715 716 717 718 719 720

I S I S

I S

I S

S

mh:: ‡ NACH ihrem schUlabschluss; ‡|* °h SEHR spa[nnend]; ‡|* [(hehe)] ‡| dann_äh URsprünglich wollt_ich, ‡ °h hIEr im bereich SPORT was mAchen? ‡|* ich wollt SPORT studIErn und so wEIter? ‡|* hm_HM, ‡|* ähm:, ‡|* meine Eltern hatten kein GELD dafür, ‡|* die ma (.) mEIsterschule kostete auch GELD, ‡|* °hh ähm, ‡|* (--) dann hab ich Erst ne AUSbildunk gemAcht, ‡|* zur mh indusTRIEkauffrau? ‡|* hm_HM, ‡|* (1.3) geNAU? ‡|* ne drEIjährige AUSbildung hab ich gemAcht, ‡|* (2.1) DA:nach hab ich ne, ‡|* äh ne mh:::, ‡ e_de_VAU ähm, ‡

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 141

721 mh:: so_n e_de_VAU lehrgank mItgemacht, ‡|* 722 EIN jAhr? ‡|* (Auslassung Zäsurierungen 723–759: Geburt des Kindes; Fachabitur) 760 DANN:::, ‡| 761 wAr ich ‡|* 762 ‡| 763 des=is AUCH nichts? ‡|* 764 (-) ja bIs_de wieder Angefangen zu Arbeiten? ‡|* 765 °hh gut; ‡|* → 766 DANN bin ich ähm, ‡ → 767 ‡| → 768 und noTAR angefAngen, ‡|* 769 (1.1) hab DA vier jahre geArbeitet? ‡|* 770 (1.2) DA:nach, ‡| 771 (1.7) bIn ich DANN-‡ 772 (--) in die (-) UNI gewEchselt, ‡|* 773 ‡|* 774 I (-) hm_HM, ‡|* 775 S (--) °h UND ähm, ‡| 776 WAR da erst im äh, ‡ 777 SEKtretariA:t? ‡|* 778 (-) DANN hab ich ne fOrtbildung gemacht, ‡|* 779 zur (.) STUdienassistEntin? ‡|* 780 °h hab DANN als- ‡ 781 äh STUdienassistentin dann (.) geArbeitet, ‡|* 782 (-) GEnau; ‡|* 783 =und, ‡| 784 (-) DA bin ich bei geblIEben; ‡|* 785 (hehe) 786 I

Die Interviewerin beginnt auch hier mit einem request for information bezüglich des beruflichen Werdegangs nach der Schulzeit von S (Z. 698–699). I markiert durch den request auch in diesem Ausschnitt in epistemischer Hinsicht ein BEvent nach Labov & Fanshel (1977) und damit die epistemische Priorität der Elaborierung durch die interviewte Person. S leitet ihre Berichtsequenz in zweiter Position zunächst mit einer Präsequenz in Form einer positiv-wertenden Positionierung („SEHR spannend“, Z. 700) und einem prospektiv operierenden

142 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Diskursmarker („AL::so“, Z. 702) ein. Diese Praktiken dienen der Anzeige einer folgenden längeren Elaborierungseinheit.71 Von Z. 703–709 beginnt S die Elaborierung zunächst mit einer Seitensequenz, welche die Gründe, die zum Eintreffen des ersten Events (Ausbildung) innerhalb der Assertionsverkettung führten, aufzeigt. Ab Z. 711 elaboriert die Sprecherin eine Reihe von beruflichen Ereignissen, die in ihrer zeitlichen Abfolge durch die reihenden Gliederungssignale dann (Z. 711, 760, 762, 766, 771, 778, 780, 781) und danach (Z. 718, 770) prozessual und linear entwickelt werden. Analog zur [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion in Format (1) gebraucht S die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion in der rekonstruktiven Elaborierungshandlung des Events Arbeit beim Rechtsanwalt und Notar (Z. 766–769). Dieses Ereignis wird durch die absolute Zeitreferenz (vier Jahre, Z. 769) terminiert. Die Begrenzung der zeitlichen Dauer hilft der Interviewerin bereits an dieser Stelle der on-line-Produktion die Perfektkonstruktion als vergangenheitsbezogene Zeitreferenz zu verstehen, die keine Relevanz für die Origo hat und damit temporal abgeschlossen ist. Im Vergleich zu Transkript (2) muss diese Referenz nicht erst retrospektiv in seiner temporalsemantischen Dimension rekonstruiert werden. Intonatorisch wird die vergangenheitsbezogene Konstruktion mit stark steigender Intonation realisiert (vgl. Abb. 28) und macht so die Konstruktion eines weiteren Events in der linearen Abwicklung des elaborierenden Zugzwangs erwartbar. Die Kombination aus Intonation, Tempus und der Ablösung des Events durch ein Folgeevent in der on-line Rekonstruktion impliziert Konsequenzen für die Interaktionspartnerin im Hinblick auf den Sprecherwechselmechanismus (vgl. Sacks, Schegloff & Jefferson 1974). Die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion wird von S als interaktives temporales Signal verwendet, dass ein Sprecherwechsel an dieser Stelle nicht möglich ist, da eine weitere Elaborierung folgen wird. In diesem Sinne markiert auch die Ablösung des Events durch ein in der zeitlichen Abfolge neues Event (Arbeit an Universität Dortmund, Z. 770–777) das mit der sein-Variante konstruierte Event als abgeschlossen.

|| 71 Die Berichtssequenz weist im Vergleich zu Transkript (2) stärkere Parallelen zum narrativen Modell von Quasthoff (2001) auf, da sie angekündigt, stärker sequenziell ausgebaut und häufiger evaluierend kommentiert wird. Die Amalgamierung zwischen den kommunikativen Gattungen Bericht und Erzählung ist demnach in diesem Beispiel deutlicher. Dennoch bezeichnen wir im Folgenden den Ausschnitt als Berichtsequenz, da das primäre Ziel der Interviewten in der linearen Darstellung des beruflichen Werdegangs als Sachverhaltsdarstellung liegt.

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 143

Abb. 28: Intonationskontur [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend)

Die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion wird – genau wie die habenVariante in Format 1 – innerhalb der Elaborierungssequenz ausschließlich im Past-Frame ohne Bezug zur sprecherdeiktischen Origo konstruiert. Im Sinne der sozialen Handlung dient sie der Elaborierung und Verortung der Eventdarstellung auf einer subjektiven Zeitachse. Die Elaborierungssequenz endet mit dem beruflichen Ereignis der Arbeit als Studienassistentin (Z. 778–782), das durch den retrospektiv operierenden Diskursmarker genau in Z. 782 beendet wird. Das haben-Perfekt in Z. 780–781 („HAB dann als äh STUdienassistentin dann gearbeitet“) ist im konkreten Moment der on-line Produktion im Hinblick auf seine aspektuelle Orientierung zunächst noch ambig. Erst durch die Expansionssequenz in der Zäsurierung in Z. 783–784 („und DA bin ich bei geblIEben“) wird die Ambiguität zugungsten einer origobezogenen Aspektualitätskontur des Ereignisses retrospektiv aufgelöst. Abb. 29 visualisiert den Gebrauch der seinVariante als sprachliches Mittel innerhalb rekonstruktiver Elaborierungssequenzen im Modell von Quasthoff. Turn-by-turn talk; Origo

I: Thematisierung; Frage temp. Referenz S: Präsequenz; eval. Positionierung (Z. 700)

Turn-by-turn talk; Origo

S: Überleitung (Origorelevanz) DA bin ich bei geblieben (Z. 784) S: Abschließen Arbeit Studienassistentin; S: Elaborierung Diskursmarker genau (Z. 782) Arbeit bei Rechtsanwalt/Notar dann bin ich […] angefangen (Z. 766-768)

Abb. 29: Narrative Jobposition [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Narrativ-elaborierend)

144 | Auxiliarvariation in der Interaktion

In der Analyse der Gebrauchsformate (1) und (2) wurde bis hierhin deutlich, dass diese sich lediglich in ihrer Form unterscheiden, funktional jedoch als Praktiken ähnlicher rekonstruktiver Handlungen eingesetzt werden. Beide funktionieren als zeitreferenziell vergangenheitsbezogene Konstruktionen, mit denen der/die SprecherIn ein Event on-line als origoexklusiv und damit nicht relevant für den Sprechzeitpunkt referenziert. Diese zeitreferenzielle Funktion der angefangen-Varianten wird zum einen durch die Kookkurrenz mit absoluten Zeitreferenzen (z.B. vor vier Jahren) bereits lokal hergestellt, sie kann aber auch, wie Transkript (2) zeigt, erst retrospektiv durch ein weiteres ablösendes Event im Elaborierungsprozess als abgeschlossen rekonstruiert werden. Tab. 12 fasst die bis hierhin erarbeiteten Parameter zusammen, die diese interaktionalen Gebrauchsformate der angefangen-Perfektkonstruktionen bestimmen. Mithilfe der Gesprächsanalyse wird deutlich, dass die Temporalität oder Aspektualität von Perfektkonstruktionen wie der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion in der Interaktion keine invarianten, inhärenten und a priori determinierbaren Kategorien sind. Sie entwickeln sich erst im emergenten Interaktionsprozess und erhalten im Zusammenspiel und Kontrast mit und zu anderen Tempora, ihre Bindung an globale Handlungen (Jobs) und der narrativen Turnposition ihre gebrauchsbedingte temporale Semantik. Die Formate (1) und (2) können mit Blick auf die traditionelle Einteilung des Perfekts als reine vergangenheitsbezogene Tempuskonstruktionen rekonstruiert werden. Tab. 12: Kontext elaborierender angefangen-Formate (1) und (2) (Interaktion)

Kontextbedingungen der angefangen-Gebrauchsformate (1) und (2) Narrative Jobs

Anzeige einer rekonstruktiven Elaborierungseinheit

On-line Theorie

Event wird durch ein anderes Event in der emergenten Entfaltung der Narration abgelöst, das es (retrospektiv) als temporal abgeschlossen markiert

Kookkurrenzen

Absolute Zeitreferenzen zur Terminierung des Events (z.B. damals)

Intonation

Steigende Intonation, macht nachfolgendes Event erwartbar; kein Sprecherwechsel72

|| 72 In erster Linie ist die steigende Intonation ein prosodisches Mittel zur Beibehaltung des Rederechts und damit ein Kriterium der Sprecherwechselorganisation (vgl. Couper-Kuhlen & Selting 2018: 88–93). Es ist damit kein hinreichendes Kriterium im Zusammenhang mit Tempusformen. Dennoch ist es ein sekundärer Ausdruck der spezifischen Funktion von Tempora der Assertionsverkettung, die ein Turnholding erwartbar machen.

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 145

Von den Gebrauchsformaten (1) und (2) unterscheiden sich die Formate (3) und (4) dahingehend, dass die angefangen-Perfektvarianten nicht in rekonstruktivelaborierenden Handlungen zur Anzeige einer folgenden Elaborierung der Assertionsverkettung innerhalb der erzählenden oder berichtenden Diskurswelt, sondern in narrativen Einheiten mit Origobezug (Präsequenzen; Abschluss/ Überleitungen) gebraucht werden. Transkript (4) zeigt die Bindung der habenKonstruktion an eine Präsequenz im Rahmen der Sprecherwechselorganisation (Format 3). Format 3: haben-Variante in origobezogenen Handlungen (Präsequenz) (4) SiN-OW-ROE03-INT (33:25-33:51) Grundschule Kontext: Im vorausgehenden Kontext werden einzelne Familienmitglieder im Interview genannt, die heute noch kompetente NiederdeutschsprecherInnen sind. Die Interviewte OW-ROE03 (O) erzählt, dass ihre Tochter ebenfalls ein wenig plattdeutsch sprechen könne und an einer Plattdeutsch-AG in der Schule teilnehme. Nachdem der genaue Hergang des Eintritts der Tochter in die AG skizziert wurde, setzt der Gesprächsausschnitt in Form einer bewertenden Positionierung der Interviewerin (I) ein. 226 227 228 229 230 231 → 232 233 234 235 236 237 238 239 240 241 242 243 244

I I

O I O I O I O I O

;‡|* (1.0) find ich TOLL wenn das so gemAcht wird; ‡|* °hh NIEderdeutsch find_ä::h-‡ das (-) ((schnalzt)) HOLLändisch find ich Auch gut; ‡|* wenn_man dAs schon so in der GRUNDschule? ‡|* mh_^JA:;= ham_se jetzt mit ANgefangen; ‡|* TOLL; ‡|* sie MÖCHten ganz gErn-‡ [ja], dAs_is eine ganz KLEIne [gr]Undschule; ‡|* wir haben nur HUNdert kInder an dieser grUndschule, ‡|* ;‡|* [hm_HM], °h die [sollte] geSCHLOSSen [wer]den; ‡|* ![ACH]!; jetzt verSUCHT man das so_n bIsschen damit-‡|* hm_HM, (1.1)

146 | Auxiliarvariation in der Interaktion

245 I 246 O 247

ich_bin AUCH zur eurOpaschule gegAngen; ‡|* ja? ‡|* KLASse; ‡|*

I beginnt in den syntaktischen Zäsurierungen in Z. 226 und 228–231 mit einer positiv-wertenden Positionierung bezüglich der Teilnahme der Tochter von O an der Plattdeutsch-AG als auch in Bezug auf die holländische Sprache im Allgemeinen. Im Rahmen des alignments übernimmt O in Z. 232 das Rederecht und teilt die Positionierung mit der zustimmenden Partikel ja. Sie weist im Rahmen der Präsequenz auf eine neu gestartete AG der Grundschule ihrer Tochter hin. In sprachlicher Hinsicht verbalisiert O dies mithilfe der [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion und der absoluten Zeitreferenz jetzt (Z. 232), die den Bezug zum sprechzeitreferierenden Nahzeitraum eröffnet. Im Gegensatz zu den Formaten (1) und (2) wird diese Konstruktion nicht im Rahmen rekonstruktiver Elaborierungseinheiten zur Darstellung einer (linearen) Assertionsverkettung zeitreferenziell vergangener Ereignisse verwendet. Das Ereignis wird vielmehr im origobezogenen Turn-by-turn-talk als Präsequenz im Zuge einer Relevanzdarstellung und zur Ankündigung der folgenden Berichtsequenz eingesetzt. Abb. 30 zeigt, dass die Zäsurierung intonatorisch durch eine fallende Intonationskontur realisiert wird, da die Ankündigung zunächst noch durch die Interviewerin ratifiziert werden muss, um einen endgültigen Übergang zwischen Turn-byturn-talk und Diskurswelt schaffen zu können.

Abb. 30: Intonationskontur [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug)

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 147

Die Ratifizierung erfolgt schließlich durch I in Form der positiven Bewertung TOLL in Z. 233. Die [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion leitet handlungstheoretisch die Thematisierung (Z. 234–237) und eine kurze Elaborierungsphase in Z. 240 ein, die jedoch bereits wieder durch die Überleitung in Z. 242–243 in einen origobezogenen Turn-by-turn-talk übergeht. Abb. 31 visualisiert den Gebrauch der [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion in Format (3) im Quasthoff’schen Analysetool. Turn-by-turn talk; Origo

Turn-by-turn talk; Origo I: Turn-Taking (Z. 245)

O: Turn-Taking: Präsequenz (Z. 232) O: Thematisierung ham se […] angefangen (Z. 236–237)

O: Abschließen/Überleiten (Z. 242–243)

O: Elaborierung Drohende Schulschließung (Z. 240)

Abb. 31: Narrative Jobposition [_haben(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug)

Die haben-Variante in Format (3) wird im Vergleich zu den Formaten (1) und (2) außerhalb der rekonstruktiven Elaborierungsturneinheit gebraucht. Als sprachliches Mittel zur Konstruktion einer Präsequenz ist es stark an den origobezogenen Turn-by-turn-talk gebunden und erhält dadurch seine temporal-aspektuelle Perfektfunktion. Die Kookkurrenz mit gegenwartsbezogenen absoluten Zeitreferenz wie jetzt unterstützt die temporal-aspektuelle Funktion des Perfekts. Gebrauchsformat (4) funktioniert analog mit der sein-Variante. Im Gegensatz zu Format (3) wird die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion in Transkript (5) als zeitreferenzielle Ressource zur Anzeige einer Überleitungshandlung aus einer rekonstruktiven Berichtsequenz und damit von der Diskurswelt hin zum Sprechzeitpunkt eingesetzt. Diese Funktion ist mit dem Sprecherwechselmechanismus zur Anzeige eines transition relevance place verbunden. Format 4: sein-Variante in origobezogenen Handlungen (Überleitung) (5) WEMS-GEL05-INT (7:45-8:33) Fremdlehre Kontext: Im Rahmen des Interviews wurde im vorangehenden Kontext die Rolle der plattdeutschen Sprache innerhalb der Schule diskutiert. Da die plattdeutsche Sprache keine Verbindung mit der Institution Schule für GEL05 (G) aufweist, fragt die Interviewerin (I) nach der sprachbiographischen Entwicklung zum Zeitpunkt des Schulabschlusses.

148 | Auxiliarvariation in der Interaktion

284 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 → 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305 306

I G

I G

I I

G I G

und (-) WIE ist es dann wEItergegAngen? ‡|* (--) DANN hab ich ne AUsbildung Angefangen, ‡|* zum konstrukTIONSmechaniker, ‡|* meTALLbau, ‡|* hm_HM, ‡|* die gIng dann auch (-) DREIeinhalb jAhre, ‡|* BIS-‡ (1.5) °hh äh jAnuar zweitausend ELF, ‡|* (1.2) und (.) JA;= ‡|* dann hAbe ich noch_n hAlbes jahr WEIter gearbeitet, ‡|* =als geSELle dann, ‡|* und bin dann (-) im SOMmer halt dann die lAndwirtschafliche Angefangen; ‡|* (--) vor ZWEI jahren; ‡|* (--) hm_HM, ‡|* (1.1) Okay; ‡|* m:h wenn du da mit deinen (-) kolLEgen da jetzt auch-‡ °hh vor ALlem äh auf diesem (--) äh LERNbetrieb, ‡ oder (-) WIE nennst du es noch mal? ‡|* wo ich JETZT bin? ‡|* JA genAU; ‡|* mh joa FREMDlehre; ‡|* AUSbildungsbetrieb; ‡|*

I konstruiert durch den request for information in Z. 284 den zeitlichen Referenzpunkt der rekonstruktiven Elaborierungssequenz von G (Z. 285–296) und markiert gleichzeitig den epistemischen Status eines B-events. G stellt danach im Rahmen einer Berichtsequenz die zeitliche Abfolge der beruflichen Entwicklung vom interaktional vorgegebenen Zeitpunkt des Realschulabschlusses bis zum gegenwärtigen Beruf dar. Im Sinne des alignments wird der Anschluss an den request nicht nur handlungsbezogen, sondern auch grammatisch mithilfe des Gliederungssignals dann (Z. 285) vollzogen. Genau wie in Transkript (2) steigt auch G ohne Präsequenz in die Elaborierung ein, was auch hier aufgrund der institutionellen Interviewsituation bedingt sein kann. Im Gegensatz zu den SprecherInnen im Transkript (3) und (4) verortet er die einzelnen Events durch die Konstruktion mit absoluten Zeitreferenzen (dreieinhalb Jahre (Z. 289), Januar zweitausendelf (Z. 291), halbes Jahr (Z. 293), vor zwei Jahren (Z. 296)) stärker in

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 149

einem intersubjektiv geteilten Verweisraum. Das erste Event in der linearen Assertionsverkettung nach dem Schulabschluss wird vom Sprecher in der Zäsurierung in Z. 285 mithilfe der [_haben(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion rekonstruiert und fokussiert zunächst den Beginn der Ausbildung innerhalb des PastFrames. Dabei wird die Dauer des Events durch die absoluten Zeitreferenzen in Z. 289 („die ging dann auch DREIeinhalb jahre“) und Z. 290–291 („BIS (-) h° äh JANuar zweitausend elf“) spezifiziert und gleichzeitig im Vergangenheitskontext terminiert. Zusätzlich wird der Abschluss der Rekonstruktion des Ereignisses durch den konjunktional angeschlossenen, topik-finalen Diskursmarker ja in Z. 292 angezeigt. Das mithilfe der haben-Variante konstruierte Event hat demnach keine Relevanz für die Origo. Das Event Ausbildung wird zudem in der zeitlich mentalen on-line Repräsentation durch das Ereignis Arbeit als Geselle abgelöst. Auch hier wird die Dauer des Events durch die absolute Zeitreferenz in Z. 293 („ein hAlbes jahr“) terminiert. Erst in Z. 295 konstruiert G eine Aspektualitätskontur in Bezug auf den Nahzeitraum mit der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion. Das Event der Fremdlehre/Landwirtschaftliche wird dabei mit den absoluten Zeitreferenzen „im SOMmer“ (Z. 295) und „vor ZWEI jahren“ (Z. 296) entwickelt. Auch die fallende Intonation in Z. 296 zeigt das Ende der rekonstruktiven Elaborierungseinheit und damit das ‚Angekommen-Sein‘ in der Origo an (vgl. Abb. 32).73

Abb. 32: Intonationskontur [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug)

Dadurch entsteht an dieser Stelle eine turnübergaberelevante Stelle, die durch I in Z. 297–299 auch genutzt wird. Die Aktivität der Fremdlehre bekommt damit

|| 73 Die Grundfrequenz des Sprechers ist sehr tief und zeigt wenig Tonhöhenvariation. Die Richtfrequenz von 75–300 Hz bei Männern musste auf 50 Hz nach unten korrigiert werden.

150 | Auxiliarvariation in der Interaktion

eine aspektuelle Dimension, indem sie als immer noch relevant für die Origo konstruiert wird. Abb. 33 modelliert das Gebrauchsformat (4) der [_sein(AUX)_ angefangen(PP)_]-Konstruktion mithilfe des Quasthoff’schen Analysetools. Turn-by-turn talk; Origo

Turn-by-turn talk; Origo G: Seitensequenz Bestätigung Origorelevanz (Z. 302–306)

I: Thematisierung; Frage (temp. Referenz, Z. 284)

G: Elaborierung Ausbildung Mechaniker, Arbeit als Geselle (Z. 285–294)

G: Abschließen/Überleiten (Origorelevanz) Beginn landwirtschaftliche Lehre und bin […] angefangen (Z. 295296)

Abb. 33: Narrative Jobposition [_sein(AUX)_angefangen(PP)_] (Origobezug)

Die temporal-aspektuelle Bedeutung der Perfektkonstruktion wird durch zwei weitere kontextuelle Umstände gestützt: (1) Die im Rahmen des reworks innerhalb der Seitensequenz (Z. 302–306) geäußerte Nachfrage von GEL05 („wo ich JETZT bin?“ Z. 303) unterstreicht den Origobezug der Ereignisse „Fremdlehre“ (Z. 305) beziehungsweise „landwirtschaftliche“ (Z. 295) durch das Temporaladverb jetzt (Z. 303); (2) zum anderen verweist die Modalpartikel halt74 (Z. 295) auf einen bereits früher im Gespräch hergestellten common ground zwischen dem Sprecher und der Interviewerin bezüglich des aktuellen Berufes. Wie Transkript (6) zeigt, wurde die aktuelle Berufssituation zu Beginn des Gesprächs in Anlehnung an die Klärung der aktuellen Wohnsituation bereits erörtert: (6) WEMS-GEL05-INT (1:26-2:43) Wohnen Kontext: Auf die Frage, wo GEL05 (G) aufgewachsen sei, entwickelt sich eine Seitensequenz, die um die Disambiguierung des Begriffs aufwachsen kreist. Nachdem die Bedeutung interaktiv ausgehandelt ist, beginnt die Interviewerin (I) eine Inferenz bezüglich des derzeitigen Wohnorts von G. 124 I 125 126 127 G

AH okAy; ‡|* (--) ähm und du (.) wOhnst jetzt Immer noch auch HIER,‡ auf_m (1.0) auf_m HOF,=oder? ‡|* (--) JOA; ‡|*

|| 74 Zum Thema des Rückbezugs auf einen bereits hergestellten common ground durch die Verwendung der Partikeln halt oder ja vergleiche Dittmar & Bredel (1999: 157).

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 151

128 129 → 130 131 132 133

jetzt die lEtzten zwei JAHre, ‡|* ALLE halt dann nur alle zwei WOchen war ich dann zuhAUse, =ne? ‡|* so dann mit der FREMDlehre, ‡| kommt man Abends wohl mal nach HAUse, ‡|* =aber sonst, ‡|* °h eigentlich IMMER,=joa; ‡|*

Sowohl das Gebrauchsformat (3) als auch (4) können als sprecherwechselrelevante, origobezogene Handlungen im Rahmen rekonstruktiver Gattungen definiert werden. Im temporalsemantischen Sinn funktionieren die angefangenVarianten als Tempus-Aspekt-Konstruktionen, mithilfe derer ein Event als relevant für den Nahzeitraum teils in Kookkurrenz mit absoluten Zeitreferenzen konstruiert wird. Die Bindung an den Sprecherwechselmechanismus zur Einoder Ausleitung einer rekonstruktiven Handlung wird intonatorisch durch die fallende Tonhöhenbewegung am Ende der Zäsurierungen begleitet. Tab. 13 fasst die Kontextbedingungen der origobezogenen Gebrauchsformate zusammen: Tab. 13: Kontext origobezogener angefangen-Formate (3) und (4) (Interaktion)

Kontextbedingungen der angefangen-Gebrauchsformate (3) und (4) Narrative Jobs

Anzeige origobezogener narrativer Jobs (Präsequenzen im Turn-by-turn-talk; Überleitungshandlungen)

On-line Theorie

Event wird temporal-aspektuell mit Bezug zum Sprechzeitpunkt (Origo) konstruiert

Kookkurrenzen

Absolute Zeitreferenzen zur Markierung der Gegenwartsrelevanz (z.B. jetzt)

Intonation

Fallende Intonation am Ende der Zäsurierung; macht Sprecherwechsel oder Turn-taking erwartbar

Die gesprächsanalytische Methodik konnte zusammenfassend zeigen, dass die Perfektauxiliarvarianten von angefangen mit haben und sein zur Erledigung unterschiedlicher narrativer Jobs in rekonstruktiven Gattungen auftreten. Zum einen werden die Varianten innerhalb rekonstruktiv-elaborierender Einheiten und damit als vergangenheitsbezogene Zeitreferenzen gebraucht (Format (1) und (2)). Andererseits setzen SprecherInnen diese Varianten in origobezogenen narrativen Jobs und damit als gegenwartsbezogene Zeitreferenzen ein (Format (3) und (4)). Alle Gebrauchsformate stehen in Wechselwirkung mit intonatorischen Signalen des Sprecherwechselmechanismus. Der Blick auf die Konstruk-

152 | Auxiliarvariation in der Interaktion

tion von Zeit in der Interaktion mithilfe der angefangen-Perfektvarianten hilft, Auxiliarkonstruktionen als Varianten zeitlicher Referenz und ihre Funktion in der Face-to-Face-Interaktion zu fassen. Dies sind wichtige gebrauchsbasierte Bestandteile der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens, die sowohl in der einschlägigen Perfektforschung als auch der Auxiliarselektionsforschung bisher vernachlässigt wurden. Die aus der Gesprächsanalyse gewonnenen Formate sind bisher in ihrer Funktionalität isoliert voneinander betrachtet worden. Aus variationslinguistischer Sicht stellt sich nun die Frage, in welchem syntaktischen Variationsverhältnis die angefangen-Varianten von SprecherInnen aus dem westfälischen und emsländischen Sprachraum genutzt werden und wie die Idee funktionaler Äquivalenz gesprächsanalytisch operationalisiert werden kann. 4.2.1.2 (Nicht-)funktionale Variation in der Interaktion Abschnitt 3.2.2.1 entwickelte eine theoretische Idee von (nicht-)funktionaler syntaktischer Variation beziehungsweise funktionaler Äquivalenz. Doch was bedeutet dies genau für die vorliegenden Varianten und wie kann die Gesprächsanalyse dabei helfen, diese Variationstypen individuenzentriert zu identifizieren? Entscheidend für die Ähnlichkeit oder Äquivalenz der angefangenPerfektvarianten ist in dieser Arbeit eine funktionale Vergleichbarkeit der Varianten als zeitreferenzielle Konstruktionen in rekonstruktiven Handlungen (vgl. auch die kontextuellen und funktionalen Klassifikationsvoraussetzungen in Tab. 12 und Tab. 13). Mit nicht-funktionaler Variation haben wir es dann zu tun, wenn die Varianten unabhängig von ihrer Form zur Anzeige ähnlicher rekonstruktiver Jobs und damit Zeitreferenzen in der Interaktion als temporale oder temporal-aspektuelle Konstruktionen eingesetzt werden (Varianten haben keine unterschiedlichen Funktionen: z.B. Format (1) und (2)). Grundlage zur Annahme funktionaler Variation ist das Auftreten zweier Varianten in unterschiedlichen narrativ-rekonstruktiven Jobs zur Anzeige unterschiedlicher Zeitreferenzen (Varianten haben unterschiedliche Funktionen: z.B. haben als Variante zur Anzeige von Vergangenheitsbezug (Formate (1)) und sein-Variante als origobezogene Konstruktion (Format (4))). Das (nicht-)funktionale Variationsverhältnis zwischen den angefangen-Varianten wird im Folgenden individuenzentriert als intraindividuelle Variation rekonstruiert. Transkript (7) zeigt ein Beispiel nicht-funktionaler angefangen-Variation im Repertoire einer Sprecherin aus dem emsländischen Groß Hesepe. HES02 gebraucht sowohl die haben- als auch die sein-angefangen-Konstruktion funktional äquivalent als zeitreferenzielle Ressourcen in narrativ-rekonstruktiven Elaborierung einer eventbezogenen Assertionsverkettung (Format (1) und (2)).

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 153

(7) WEMS-HES02-INT (26:56-27:45) Zuhause Kontext: Im unmittelbar vorausgehenden Kontext berichtet HES02 (H), dass sie in vielen Situationen ihrer Kindheit, auch außerhalb des familiären Umfelds, plattdeutsch gesprochen habe. Sie bemerkte jedoch, dass bereits damals in öffentlichen Kontexten zunehmend mehr Hochdeutsch verwendet wurde. Nach einer Seitensequenz, in der H darauf aufmerksam macht, dass sie nie schulische Probleme aufgrund ihres plattdeutschen Spracherwerbs gehabt habe, fragt die Interviewerin (I), ob H das Gefühl hätte, nach Schuleintritt zunehmend mehr Hochdeutsch gesprochen zu haben. 545 I 546 547 548 549 550 551 H 552 553 → 554 555 556 557 558 559 560 561 562 563 564 565 566 567 568 569 570 571 572

hm_HM, ‡|* °hh HATTEN sie dann aber das gefÜhl, ‡ dass sie dann doch (.) MEHR hochdeutsch gesprOchen haben,‡|* als VORher? ‡|* (-)

‡|* (1.6) °hh puh hh° ja VORmittags (.) gAnz klar; ‡|* sobald man dann zuHAUse war,= ‡| ähm (1.2) JA; ‡|* =is man ja automAtisch wieder (.) mit plAtt ANgefangen; ‡|* =das WAR aber auch- ‡ °h ähm (--) WEISS ich nich; ‡|* es IS vielleicht so wie- ‡ man macht ne tür AUF? ‡|* (--) man is in_nem RAUM? ‡|* (1.7) ((schnalzt)) DIE sprache; ‡|* !PLATT!deutsch; ‡|* (-) ne? ‡|* und ähm (-) WIE gesAgt; ‡|* wEnn=wEnn wir aus_m bus AUSgestiegen sind, ‡|* oder=oder ähm- ‡| wenn ich hIEr mit meiner NACHbarin nach hAUse gegangen bin,‡|* °h ‡|* das war gAnz norMAL; ‡|* ‡|* kAmen wir dann bei dem NÄCHsten nAchbarn vorbei, ‡|* wo=wer wUssten (.) die rEden ja nur HOCHdeutsch, ‡|*

154 | Auxiliarvariation in der Interaktion

573 574 → 575 576 577 578 579

I H I H

(-) hm_HM, ‡|* (--) is man AUTOmatisch, ‡ äh hat man dann mit HOCHdeutsch angefangen; ‡|* hm_HM, ‡|* das WAR also- ‡|* (--) NÄ:; ‡|* (-) ÜBERhaupt kEIn problEm; ‡|*

H beschreibt im Gesprächsausschnitt habituelle Gebrauchssituationen der hoch- und niederdeutschen Varietät nach dem Schuleintritt. Dafür wählt sie zunächst ein konzessives Muster (vgl. Barth-Weingarten 2003), indem sie den request for confirmation von I (Z. 545–549) partiell in Z. 551 bestätigt, ab Z. 552– 579 aber einen differenzierten Gegenentwurf für verschiedene Situationen konstruiert. Im Rahmen der Darstellung habitueller Sprachgewohnheiten im Domänenbereich Zuhause konstruiert H diese mit der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Variante (Z. 552–554). Die Domäne Nachbar, der nur Hochdeutsch spricht wird von ihr jedoch mit der haben-Variante in Z. 570–575 konstruiert. Die selbstinitiierte Reparatursequenz in Z. 574–575 könnte nahelegen, dass diese funktional bedingt zur Verwendung des passenden Auxiliars vorgenommen wird.75 Ein funktionaler Unterschied zwischen den Varianten lässt sich jedoch im unmittelbaren und weiteren Kontext auf lokaler Ebene handlungstheoretisch nicht begründen. Sowohl im Hinblick auf die Zeitreferenz der Konstruktionen sowie ihren grammatischen (vgl. Objektart, Subjekt) als auch intonatorischen Ausprägungen (fallende Intonationskontur) sind keine Unterschiede zwischen den Varianten festzustellen. Beide angefangen-Konstruktionen werden in rekonstruktiv-elaborierenden Handlungen als temporal-abgeschlossene Varianten mit eindeutigem Referenzpunkt in der Vergangenheit konstruiert. Im variations-

|| 75 Die selbstinitiierte Selbstreparatur in Z. 575 ist als syntaktische Korrektur realisiert, indem die Sprecherin zum Reparandum des Auxiliars retrahiert und is (Z. 574) durch hat (Z. 575) ersetzt (vgl. Pfeiffer 2015: 57–59). Begleitet wird die Selbstreparatur durch die Zögerungspartikel äh in Z. 575. Auf der kognitiven Ebene ist der Grund für die Durchführung dieser Reparatur nicht eindeutig. Zum einen wäre es möglich, dass für die Sprecherin eine funktionale Unterscheidung zwischen der Variante mit sein und haben in der Kognition relevant ist und sie durch die Selbstreparatur dem/der HörerIn anzeigen möchte, dass die sein-Variante an dieser Stelle für sie nicht normkonform ist. Dies steht in einer Linie mit der sozialen Funktion syntaktischer Korrekturen, in welchen „der Sprecher zeigt, dass er die gängigen Regeln für die syntaktische Konstruktion von Redebeiträgen beherrscht“ (Pfeiffer 2015: 59). Dennoch bleibt dieser Erklärungsansatz spekulativ, da die „Rekonstruktion aus Rezipientensicht immer mehr oder weniger unsicher ist“ (Pfeiffer 2015: 43–44).

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 155

linguistischen Sinne werden die beiden Konstruktionen im individuellen Repertoire von H als funktional-äquivalente syntaktische Allo-Varianten beziehungsweise Allo-Konstruktionen nach Cappelle (2006) verwendet (vgl. 3.2.1). In Abgrenzung zur nicht-funktionalen Variation haben wir es in Anlehnung an die in 4.2.1.1 erarbeiteten Formate mit funktionaler Variation zu tun, wenn ein/e SprecherIn eine Variante als vergangenheitsbezogene Zeitreferenz und damit als Tempusvariante, die andere als zeitreferenziell origobezogene Tempus-Aspekt-Variante zur Durchführung unterschiedlicher narrativer Jobs gebraucht. Dazu werden wir erneut das Transkript zu Format (4) (hier: Transkript (8)) analysieren, das den intraindividuellen Gebrauch der angefangen-Varianten im funktionalen Variationsverhälnis durch Sprecher GEL05 (G) zeigt. Er setzt die sein-Variante als origobezogene Zeitreferenz (Format (4)), die haben-Variante hingegen in der vergangenheitsreferierenden Funktion (Format (1)) ein. (8) WEMS-GEL05-INT (7:45-8:33) Fremdlehre 284 → 285 286 287 288 289 290 291 292 293 294 → 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304

I G

I G

I I

G I

und (-) WIE ist es dann wEItergegAngen? ‡|* (--) DANN hab ich ne AUsbildung Angefangen, ‡|* zum konstrukTIONSmechaniker, ‡|* meTALLbau, ‡|* hm_HM, ‡|* die ging dann AUch (-) DREIeinhalb jAhre, ‡|* BIS-‡ (1.5) °hh äh jAnuar zweitausend ELF, ‡|* (1.2) und (.) JA;= ‡|* dann hAbe ich noch ein hAlbes jahr WEIter gearbeitet, ‡|* =als geSELle dann, ‡|* und bin dann (-) im SOMmer halt dann die lAndwirtschafliche Angefangen; ‡|* (--) vor ZWEI jahrn; ‡|* (--) hm_HM, ‡|* (1.1) okay; ‡|* m:h wenn du da mit deinen (-) kolLEgen da jetzt auch so-‡ °hh vor ALlem äh auf diesem (--) äh LERNbetrieb, ‡ oder (-) WIE nennst du es noch mal? ‡|* wo ich JETZT bin? ‡|* ja geNAU; ‡|*

156 | Auxiliarvariation in der Interaktion

305 G 306

mh joa FREMDlehre; ‡|* AUSbildungsbetrieb; ‡|*

G gebraucht die haben-Variante als zeitreferenzielles Mittel innerhalb der rekonstruktiven Elaborierungssequenz der kommunikativen Gattung Bericht (Z. 285). Dabei wird die Dauer des Events durch die absoluten Zeitreferenzen in Z. 289 („DREIeinhalb jahre“) und Z. 290–291 („BIS JANuar zweitausend elf“) spezifiziert und gleichzeitig im Vergangenheitskontext auf der subjektiven Zeitachse terminiert. Das mithilfe der haben-Variante konstruierte Ereignis wird damit in der origoabgewandten Diskurswelt entwickelt. In temporalsemantischer Hinsicht funktioniert die haben-Variante als vergangenheitsbezogene Tempusvariante. In Z. 295 konstruiert der Sprecher das Ereignis Fremdlehre mit einer Aspektualitätskontur in Bezug auf den Nahzeitraum mithilfe der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion. Das rework innerhalb der Seitensequenz in Z. 302–306 unterstützt die Interpretation der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion als origobezogene Zeitreferenz, die im Gegensatz zur haben-Variante origoinklusiv operiert. Der direkte Vergleich der Gebrauchsweisen der angefangen-Konstruktionen im intrapersonellen Repertoire von G zeigt, dass die Konstruktionen in ihrer Funktion in der Interaktion nicht austauschbar sind und damit kein funktional-äquivalentes syntaktisches Variationsverhältnis im Vergleich zum Repertoire von H aufweisen. Die angefangen-Konstruktionen funktionieren damit nicht wie syntaktische Allo-Varianten, sondern wie eigenständige pragmatischhandlungsdefinierte Konstruktionen in der Interaktion. Die Definition von funktionaler beziehungsweise nicht-funktionaler syntaktischer Variation der angefangen-Auxiliarkonstruktionen als Zeitreferenzen in der Interaktion auf intrapersoneller Ebene kann wie folgt zusammengefasst werden: Unter nicht-funktionaler Variation wird eine solche Variationskonstellation verstanden, in welcher die sein-Variante als auch die haben-Variante funktionsäquivalent als vergangenheitsbezogene Zeitreferenzen zur Ausführung rekonstruktiv-elaborierender Handlungen im Dienste der interaktionalen Anzeige eventbezogener Assertionsverkettungen genutzt werden. Unter funktionaler Variation der haben- und sein-angefangen-Varianten hingegen wird jene Variationskonstellation verstanden, in welcher die haben-Variante als temporale Vergangenheitsvariante gebraucht wird, während die sein-Variante als temporal-aspektuelle Konstruktion refunktionalisiert ist. Eine intrapersonelle Variationskonstellation, in der die haben-Konstruktion an origobezogene Handlungen, die sein-Konstruktion an vergangenheitsbezogene rekonstruktiv-elaborierende Handlungen gebunden ist, konnte im Korpus nicht erfasst werden (vgl. auch Abschnitt 4.2.2).

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 157

Zusammenfassend wurde deutlich, dass die strenge Konzentration der bisherigen Auxiliarselektionsforschung auf die formale Variation zwischen haben und sein und der sie bedingenden semantischen Primitiva die funktionalen zeitreferenziellen Unterschiede der jeweiligen Varianten als Teil der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens vernachlässigt hat. Dies liegt unter anderem auch daran, dass die Gesprächsanalyse als methodologische und methodische Grundlage zur Operationalisierung von syntaktischer Variation bislang nicht in Betracht gezogen wurde. Der Vorteil der Methode liegt darin, dass syntaktische Konstruktionen, wie die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion, in ihrer ganzen funktionalen Breite als sprachliche Mittel narrativ-rekonstruktiver Handlungen, aber auch als temporal-aspektuelle Mittel der Verortung von Events auf einer (inter-)subjektiven Zeitachse in der Interaktion untersucht werden können. Konstruktionen werden damit gegenstandsangemessen als Interaktionsressourcen in der Mündlichkeit ernst genommen. Die Gesprächsanalyse stellt m.E. dafür die hinreichende Analysemethodik dar.

4.2.2 Statistische Analyse der interaktionalen angefangen-Konstruktionen Abschnitt 4.2.1 konnte zeigen, dass sprachliche Handlungen die Bedeutung der angefangen-Konstruktionen entscheidend prägen. Da der theoretische Fokus der Arbeit auf Konstruktionen im Sinne der CxG liegt und diese eine Quantifizierung in Abgrenzung zu einem Konstrukt oder Datum brauchen (vgl. 3.1.2), wird die Bindung der angefangen-Varianten an die Durchführung und Anzeige narrativer Jobs nun in Abschnitt 4.2.2 in Abgrenzung zu weiteren sprachlichen und außersprachlichen Einflussfaktoren statistisch geschätzt. Abb. 34 zeigt zunächst die Verteilung der angefangen-Gebrauchsformate aus 4.2.1.1 im Korpus.

Abb. 34: Verteilung der angefangen-Gebrauchsformate in interaktionalen Daten

158 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Hier wird deutlich, dass Format (2) mit 39 Prozent im Sprachgebrauch überwiegt, aber auch die Formate (1) und (4) mit jeweils 29 Prozent relativ häufig im Korpus eingesetzt werden. Allein das Format (3) spielt statistisch mit nur 3 Prozent keine Rolle in den Repertoires westfälischer und emsländischer SprecherInnen. Die folgende Regressionsanalyse in Abschnitt 4.2.2.1 wird zeigen, welche Einflussstärke gesprächsanalytische Faktoren im Vergleich zu weiteren soziolinguistischen und grammatischen Faktoren auf die angefangen-Variation im Gesamtkorpus hat. Dazu muss die Mehrebenenannotation der Daten in Abschnitt 4.1.2 um die induktiv gewonnenen gesprächsbezogenen Variablen erweitert werden. Tab. 14 fasst diese Prädiktoren im Überblick zusammen. Tab. 14: Erweiterung der Variablenkodierung um gesprächsbezogene Prädiktoren

Gesprächsbezogene Variablen

Dummy

Skalenniveau

Erklärung

Informationsstruktur/ Fore-/Background

Foreground

binär

1= Foreground; 0 = Background

(Narrativer) Job

binär

1= rekonstruktiv-elaborierende Assertionsverkettung; 0 = origobezogene Handlungen

Format (1)

binär

1= haben-Vergangenheitsbezug.; 0 = andere

Format (2)

binär

1= sein-Vergangenheitsbezug.; 0 = andere

Format (3)

binär

1= haben-Origobezug.; 0 = andere

Format (4)

binär

1= sein-Origobezug.; 0 = andere

binär

1= funktionale Variation; 0 = nichtfunktionale Variation

Formateangefangen (vgl. 4.2.1.1)

Funktionale Variation (intrapersonell)

Aus den gesprächsanalytischen Auswertungen hatten sich die Variablen narrativer Job und (nicht-)funktionale Variation auf intrapersoneller Ebene als entscheidend herausgestellt. Ferner wird auch die Variable des Fore-/Backgrounds, die nach Hopper & Thompson (1980) in engem Verhältnis zu Transitivität steht (vgl. 2.2.4.1), einbezogen. Auch die in Abschnitt 4.2.1.1 erarbeiteten Gebrauchsformate werden getaggt (Formateangefangen). Darüber hinaus entwickelt Abschnitt 4.2.2.2 einen netzwerkbasierten Ansatz für den Unterschied (nicht-)funktionaler angefangen-Variation in individuellen Repertoires von westfälischen und emsländischen SprecherInnen. Dazu wird in Anlehnung an die Untersuchung von Smith (2007) ein Zusammenhang zwischen Präteritumschwund und der Regulierung funktionaler angefangenAuxiliarvariation im Perfekt angenommen.

Analysen gesprochensprachlicher Auxiliarvariation in der Interaktion | 159

4.2.2.1 Prädiktoren der angefangen-Variation Die qualitative Analyse in 4.2.1 eröffnete wichtige Unterschiede in der interaktionalen Funktion der angefangen-Varianten, jedoch sagen diese Formate noch nichts über quantitative Verteilungen im Gesamtkorpus aus. Dies wird nun im Rahmen multivariater statistischer Analysen auf Basis aller gesprochensprachlicher Korpora aus Tab. 7 vorgenommen. Die glmer-Modelle (1)–(4) in Tab. 15 schätzen dazu in einem viergliedrigen step-up-Verfahren den Einfluss interaktionaler (Narrativer Job, Interaktionssituation), soziolinguistischer (Geschlecht, Alter, Beruf, Bildung, Varietät, (niederdeutscher) Spracherwerb) und grammatischer (Objektart) Prädiktoren und eines Interaktionsterms (Narrativer Job*Geschlecht) auf den Gebrauch der [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion. Das Datenset umfasst alle angefangen-Konstruktionen im Perfekt (191 Belege). Sowohl der AIC- als auch der R2-Wert bestätigen eine steigende Modellgüte (Maximales Modell (4): R2= 0.36; AIC= 179.7).76 Die Ergebnisse des Modells (4) zeigen zunächst einen höchst signifikanten Einfluss von drei Prädiktoren auf den Gebrauch der sein-angefangen-Variante, der über alle Modelle hinweg kostant bleibt: (1) Narrativer Job, (2) Objektart und (3) (Niederdeutscher) Spracherwerb. Die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]-Konstruktion wird relativ zur haben-Konstruktion im Gesamtkorpus höchst signifikant seltener in vergangenheitsbezogenen, rekonstruktiv-elaborierenden Jobs (E=– 3.923***) und damit stärker als gegenwartsbezogene Tempus-Aspekt-Konstruktion in origobezogenen Überleitungshandlungen gebraucht. Bezogen auf die in 4.2.1.1 erarbeiteten Gebrauchsformate kommt die sein-Variante also vermehrt in Format (4), die haben-Variante häufiger in Format (1) vor. Die Funktion als Interaktionsressource in rekonstruktiven und origobezogenen Handlungen ist jedoch nicht der einzige Faktor, der die Variation der angefangen-Konstruktionen bestimmt. Auch die kookkurrierenden Objektarten haben einen Einfluss auf die Auxiliarkonstruktion mit angefangen. Relativ zur Objektart Akkusativobjekt, welche in Abschnitt 2.2.4.1 als formaler Marker prototypischer Transitivität diskutiert wurde, wird die [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]Konstruktion signifikant häufiger mit weniger transitiven Argumentstrukturen gebraucht (Präpositionalobjekt: E=3.056***; Intransitiv: E=2.830***; mit-Transitiv: E=2.795***). In der Argumentstruktur Phasenverbkonstruktion hingegen ist gleichwertige Variation zwischen den Varianten zu beobachten (E=1.456).

|| 76 Das maximale Modell wurde nach zwei Kriterien bestimmt: (1) Nach der Modellgüte, gemessen am AIC- und R2-Wert und (2) der Güte der Schätzwerte. Wenn die Schätzwerte einer Variable oder eines Interaktionsterms das Modell aufgrund zu geringer Variation oder perfekter Korrelation verzerrten, wurde der Prädiktor aus dem Modell genommen.

160 | Auxiliarvariation in der Interaktion

Tab. 15: Reg. (4–1): Einflussfaktoren auf die angefangen-Variation in der Interaktion

Reg. (4–1): Exogene und endogene Faktoren der Auxiliarvariation mit angefangen Abhängige Variable: [_sein(AUX)_angefangen(PP)_]

(Objektart)

Grammatisch

Soziolinguistisch

Interaktion

(1)

(2)

(3)

(4)

Narrativer Job (elaborierend)

–1.753*** –2.003*** –1.903*** –3.923*** (0.423) (0.457) (0.488) (1.143)

Interaktionssituation (Interview)

0.359 (0.346)

0.522 (0.489)

0.873 (0.546)

0.888 (0.548)

Geschlecht (weiblich)

0.408 (0.404)

0.403 (0.440)

2.121* (1.208)

Alter (alt)

–0.176 (0.493)

–0.341 (0.537)

–0.647 (0.599)

Beruf (Landwirtschaft)

–0.635 (0.482)

–0.287 (0.537)

–0.376 (0.559)

Bildung (Abitur)

–0.874** (0.430)

–0.858* (0.471)

–0.933* (0.494)

Varietät (Gebrauchsstandard)

–0.090 (0.693)

0.170 (0.725)

–0.127 (0.758)

Spracherwerb (L1-Niederdeutsch)

3.261*** (0.811)

3.800*** (0.911)

3.927*** (0.960)

Intransitiv

2.520*** (0.781)

2.830*** (0.896)

‚mit‘-Transitiv

2.452*** (0.798)

2.795*** (0.911)

Phasenverb

1.086 (0.790)

1.456 (0.893)

Präpositionalobjekt

2.611*** (0.790)

3.056*** (0.907) 3.209** (1.308)

Narrativer Job* Geschlecht (w) Beobachtungen

191

191

191

191

AIC

223.212

197.551

185.961

179.676

McFadden pseudo R2

0.09

0.24

0.33

0.36

Daten Signifikanzniveau: *pe: (e2) in vormnd. Zeit

Monophthongierung des standardspr. Diphthong au [au] (1.) auf

[au]

[ɔ], [ʊ]

auf> op (südwestf. beziehungsweise Südosten) /up (münsterl., westmünsterl, ostwestf., Nordniedersächsich) Monophthongierung und Kürzung von [au] zum Kurzmonophthong [o] oder [u]

(2.) Haus

[au]

[u:], [ɪʊ], [oʊ]

Haus> Huus/Hius/hous Fehlende Frnd. Diphthongierung u:>au: + Diphthongierung der langen i, u und üLaute im Ostwestfälischen

(3.) Baum

[au]

[o:], [au], [ou], [æo]

Baum> Boom Kaufen>koopen Erhaltung von westgerm. au im HD Monopthongierung westgerm. au in allen Lagen zu o: (o2) in vormnd. Zeit

(4.) glauben

[au] ([ö], [æ])

[øː], Böse, Göse, glöwe [aɪ], [oɪ] Aus germ. au mit Umlaut  mnd. ö2

Diphthong [ᴐɪ]

[ᴐɪ]

[ʏ:] Westf.: [üe], [u:]

Leute>Lüü(t), heute>hüüt, weitere: Hüser, Füer, Lüde, Lüse, Tüne Frühneuhochdeutsche Diphthongierung [ʏ:]> [ᴐɪ] (Nichtdurchführung im ND) Westf.: Dipthongierung der langen i-, u-und ü-Laute

Brechungsdiphthonge ea

[ε],[ø],

[ea]

Brechen> breaken, dreschen>dearsken, zwölf>twealf

ie

[e]/[ε], [a], [ɪ]

[ie]

Beben>biewen; Pferd>Pierd; geben>giewen; Löffel>Liepel; Milch>Mielk; Bach>bieke ie aus germ. i und Primärumlaut von a

oa

[o:], [o]

[oa]

Oben>boawen; kochen>koaken; gebrochen>

354 | Anhang

Merkmale

Varianten GS

Beispiele RL

D broaken; Knochen> Knoaken; Korb>Koarf oa aus germ. o

öa

[o:], [ø:], [ø],

[öa]

Oberste>böawerste; Höfe>Höawe; Köchin>Köakske; Körbe>Köarwe; Tröge>Tröage [öa] aus germ. o mit Umlaut

ue

[o:], [u:]

[ue]

Klopfen> bueken; Butter>Bueter; Vogel>Fuegel [ue] aus germ. u

üe

[e], [ø], [y]

[üe]

Heben>büeren; Knöchel>Knüekel; Nüsse>Nüete; Vögel> Füegel [üe] aus germ. u mit Umlaut

[ɪä]

Ich> iäck, sich> siäck

[p]

[f]

Korp>Korf Wechsel von [b] und [v] aufgrund getrennter Entwicklung im HD und ND

Stl.Plosiv [t] im Anlaut [t] trinken

[d]

Trinken>drinken, Tach>Dach Zweite Lautverschiebung: Medienverschiebung [d]>[t]: Nichtdurchführung im ND

Brechungsdiphthonge [ɪ] in einsilbigen Wörtern Phonologie-Konsonantismus Stl. Plosiv [p] im Auslaut Korb

Stl. Plosiv [t] im Inlaut [t] zwischen Vokalen bitten

[d]

[d]

Bitten>bidden>beedn Zweite Lautverschiebung: Medienverschiebung [d]>[t]: Nichtdurchführung im ND

Stl. Plosiv [t] im Inlaut [t] zwischen Vokalen hatten

[d]

[l]/[r]

Hatten>haddn> harrn Zweite Lautverschiebung: Medienverschiebung [d]>[t]: Nichtdurchführung im ND

Stl. Plosiv [k] im [k] Auslaut/Silbenauslaut Weg

[k]/[ҫ]

[ҫ]

Weg/[k]>weech>weech Spirantisierung des stl. Plosivlautes [k] im Auslaut/Silbenauslaut ([g] in der Auslautverhärtung) zum Frikativlaut [x]/[ҫ] im ND und im Lokaldialekt

Affrikate [pf] im Anlaut, Pfunt

[pf]

[f]

[p]

Pfunt>Funt>Punt Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [p]>[pf]: Nichtdurchführung im ND

Affrikate [pf] im Inlaut [pf] zwischen Vokalen; Apfel

[p]

[b]

Apfel>Appel>Abbel Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [p]>[pf]: Nichtdurchführung im ND

Affrikate [pf] im Inund Auslaut nach

[f]

[p]

Dampf>Damf>Damp/b Zweite Lautverschiebung: Tenusverschie-

[pf]

Anhang | 355

Merkmale

Varianten GS

Beispiele RL

D

Konsonanten; Dampf

bung [p]>[pf]: Nichtdurchführung im ND

Affrikate [ts] im Anlaut; zwei

[ts]

Affrikate [ts] im Inund Auslaut schwarz

[ts]

Stl. Frikativ [f] im Inlaut laufen

[f]

[ts] ,[s]

[t]

Zwei>swai>twai Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [p]>[pf]: Nichtdurchführung im ND

[t]/[d]

Katze>Katt Schwarz>schwatt Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [p]>[pf]: Nichtdurchführung im ND

-

[p]

Laufen>lopen Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [p]>[pf]: Nichtdurchführung im N

Stl. Frikativ im Auslaut [f] Dorf

-

[p]

Dorf> Dorp Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [p]>[pf]: Nichtdurchführung im ND

stl. Frikativ [s] im Inlaut Wasser

[s]

-

[t]/[d]

Wasser>Waater/Wader Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [t]>[s]: Nichtdurchführung im ND

stl. Frikativ [s] im Auslaut das

[s]

[s]/[t]

[t]

Das>dat Zweite Lautverschiebung: Tenusverschiebung [t]>[s]: Nichtdurchführung im ND

stl. Frikativ [x] oder [ҫ] [x] im Inlaut machen

-

[k]/[g]

Kuchen>kouken Machen>mooken Zweite Lautverschiebung: Tenuesverschiebung [k]>[x] o. [ҫ]

stl. Frikativ [x] o. [ҫ] im [x] Auslaut ich

-

[k]

Ich>ik Auch>ouk Zweite Lautverschiebung: Tenuesverschiebung [k]>[x] o. [ҫ]

Vibrant [r] nach Vokal

[r]/[ʁ]

Nasal [ŋ] im Auslaut Zeitung

[ŋ]

[ŋk]

[ŋk]

[r]

Nasal [ŋ] im Inlaut vor [ŋ] Konsonant Pfingsten

[ŋk]

[ŋ]/ [ŋk] Pfingsten>Finkstn>Pinksn Realisierung von [ŋ] im Inlaut vor Konsonant als [ŋk]

Palataler Frikativ [ʃ] im [ʃ] Anlaut + Konsonant [p] oder [t] Stein

[ʃ]

[s]; [ʃ]

Zeitung>Zeitunk Realisierung von [ŋ] im Auslaut mit stl. Plosiv [ŋk] im ND und im Substandard

Schtain>Stehen Realisierung von anlautendem [ʃ] + Konsonant [p] und [t] als [s] im ND Palatalisierung im Westfälischen zu [ʃ]

356 | Anhang

Merkmale

Varianten GS

Affrikate [ks] gewachsen

Beispiele RL

[ks]

D [s]

[sk] im In- und Auslaut [ʃ] zu [ʃ]

Okse> Osse Assimilation der Affrikate

[sk], [ʃk] Auslaut: Mensch> Mensk (münsterländisch, westmünsterl., Emsländisch)/ Minsk (Ostwestfälisch)/ Menschk (südwestfälisch) Erhalt as. Form: skaft, skeppian, skînan Inlaut: Aske (Asche), wasken (waschen)  südliches Münsterländisch [ʃk] (Aschke)

Mensch

Hierzu: „sollen“ (as. „skulan“)

[s]

[s], [ʃ]

[s] (größte Teil Westfalens bis auf Ostwestfälisch): ick sall, du saßt etc. [ʃ]: (Ostwestfälisch und Nordniedersächsisch (ick schall, du schaßt etc.)

r-Metathese

dritte

Diäde, drüdde

Diäde: Westmünsterländisch, nördliches Münsterländisch und Emsländisch

Morphologie Ge-Präfigierung

-ge-

-ge-

-je-/∅

je-Präfigierung im märkischen Sauerland; im restlichen Westfälischen und im Emsländischen ∅

Prädikativer Akkusativ

Nom.

Nom. (EK)

EK

Ich bin ein feiner Kerl vs. Ik bin_n fienen kerl

Kasussynkretismus (Akk-Dat.)

Akk. Dat.

Akk. Dat. (EK)

EK

Ich habe mich erschrocken vs. ich habe mir erschrocken Legende: EK= Einheitskasus D= Dialektvarietät GS= Gebrauchstandard (gesprochen) RL= Regiolekt

alt

jung

mittel m Gellendorf Fremdspracherwerb PP

GEL02 WEMS

GEL03 WEMS

GEL04 WEMS

Bilingual HD/ND

Phasenverb Überleitung

Überleitung

Überleitung

jung

mittel w Hesepe

mittel w Hesepe

HES04 WEMS

HES06 WEMS

HES06 WEMS

jung

alt

alt

HES06 WEMS

HES08 WEMS

HES07 WEMS

HES07 WEMS

w Hesepe

w Hesepe

m Hesepe

mittel w Hesepe

mittel w Hesepe

HES06 WEMS

m Hesepe

mittel w Hesepe

mittel w Hesepe

mittel w Hesepe

HES02 WEMS

HES02 WEMS

mittel w Hesepe

HES02 WEMS

HES02 WEMS

mittel w Hesepe

Mit-Transitiv Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Phasenverb

Intransitiv

Phasenverb

Überleitung

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND Intransitiv

PP

Elaborierung

Elaborierung

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Elaborierung

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

PP

Mit-Transitiv Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Mit-Transitiv Überleitung

Fremdspracherwerb Intransitiv

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

mittel m Gellendorf Bilingual HD/ND

GEL06 WEMS

HES02 WEMS

Überleitung

m Gellendorf Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Elaborierung

m Gellendorf Fremdspracherwerb Intransitiv

w Börger

Fremdspracherwerb AKKO

jung

m Börger

jung

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

0,96

0,83

1

1

1

0,8

1

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0,033

0,166

0

0

0

0,2

0

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

RL

RL

GS

GS

GS

RL

GS

Interview sein

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview haben

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Mit-Transitiv Überleitung

Objekt

BÖR09 WEMS

Bilingual HD/ND

Spracherwerb

BÖR05 WEMS

G Ort

mittel m Börger

KORPUS Alter

BÖR02 WEMS

Sigle

Anhang | 357

A3 Verteilung angefangen-Belege

jung

jung

alt

alt

mittel m Werth

WER07 WEMS

WER08 WEMS

WER09 WEMS

m Werth

m Werth

m Werth

m Werth

m Werth

m Werth

Überleitung

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

PP

Überleitung

Phasenverb Überleitung

PP

PP

PP

PP

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Phasenverb Elaborierung

PP

AKKO

Fremdspracherwerb PP

Fremdspracherwerb Intransitiv

Fremdspracherwerb Phasenverb Elaborierung

Fremdspracherwerb Phasenverb Elaborierung

mittel m Leiberg Bilingual HD/ND

w Leiberg Bilingual HD/ND

w Leiberg Bilingual HD/ND

WER01 WEMS

LEI05

jung

jung

WER01 WEMS

WEMS

LEI01

w Leiberg Bilingual HD/ND

w Leiberg Bilingual HD/ND

jung

WEMS

LEI01

jung

jung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Phasenverb Überleitung

Fremdspracherwerb AKKO

w Leiberg Bilingual HD/ND

jung

WEMS

LEI01

AKKO

Elaborierung

Phasenverb Elaborierung Intransitiv

1

1

1

1

1

0,888

0,888

0,666

1

1

1

1

1

1

0,833

1

0,833

1

1

1

0

0

0

0

0

0,111

0,111

0,333

0

0

0

0

0

0

0,166

0

0,166

0

0

0

GS

GS

GS

GS

GS

RL

RL

RL

GS

GS

GS

GS

GS

GS

RL

GS

RL

GS

GS

GS

Interview haben

Interview haben

Interview haben

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview haben

Interview haben

Interview haben

Interview haben

Interview haben

Interview haben

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Phasenverb Elaborierung

Objekt

Fremdspracherwerb AKKO

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Spracherwerb

w Leiberg Bilingual HD/ND

WER01 WEMS

WEMS

LEI01

jung

WER01 WEMS

WEMS

LEI01

jung

WEMS

WEMS

LEI01

m Olpe

mittel m Olpe

m Olpe

jung

NEG04 WEMS

w Olpe

m Olpe

NEG12 WEMS

alt

NEG04 WEMS

w Olpe

G Ort

NEG09 WEMS

alt

alt

NEG01 WEMS

alt

KORPUS Alter

NEG01 WEMS

Sigle

358 | Anhang

WEMS

WEMS

WEMS

WEMS

BÖR01

BÖR01

BÖR01

BÖR01

alt

alt

alt

alt

alt

m Börger

m Börger

m Börger

m Börger

m Börger

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Überleitung

PP

Elaborierung

Mit-Transitiv Überleitung

Mit-Transitiv Überleitung

AKKO

Intransitiv

Mit-Transitiv Überleitung

WEMS

m Schwaney Bilingual HD/ND

BÖR01

PP

alt

Bilingual HD/ND

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Phasenverb Elaborierung

mittel m Schwaney Fremdspracherwerb PP

w Stevern

AKKO

Intransitiv

AKKO

AKKO

Fremdspracherwerb PP Bilingual HD/ND

Elaborierung

Phasenverb Überleitung

PP

SCHWA01 WEMS

jung

w Stevern

m Levern

Überleitung

Elaborierung

Narrative Jobs

Mit-Transitiv Elaborierung

PP

Intransitiv

Objekt

SCHWA05 WEMS

WEMS

STEV07

jung

jung

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Spracherwerb

mittel m Schwaney Fremdspracherwerb PP

WEMS

STEV07

m Levern

m Levern

mittel m Levern

alt

jung

mittel m Levern

mittel m Levern

mittel m Levern

mittel m Levern

mittel m Werth

mittel m Werth

G Ort

SCHWA05 WEMS

WEMS

LEV04

LEV01

WEMS

WEMS

LEV06

WEMS

WEMS

LEV06

LEV05

WEMS

LEV06

LEV02

WEMS

WEMS

LEV06

WEMS

WEMS

WER09

WER09

KORPUS Alter

Sigle

0

0

0,25

0,2

0,333

1

1

1

1

1

1

0,583

1

1

1

1

1

1

1

0,833

1

1

0,75

0,8

0,666

0

0

0

0

0

0

0,416

0

0

0

0

0

0

0

0,166

DV

DV

DV

DV

DV

GS

GS

GS

GS

GS

GS

ambig

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

RL

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

sein

sein

sein

haben

sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview haben

Interview haben

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Anhang | 359

WEMS

WEMS

NEG01

NEG01

WML-SUE01 SIN

WEMS

SIN

WER08

ML-EVE04

WEMS

WER07

GEL05

WEMS

SCHWA01

WEMS

WEMS

SCHWA01

WEMS

WEMS

LEV02

GEL05

WEMS

LEV02

GEL05

WEMS

WEMS

LEV01

WEMS

WEMS

NEG10

WEMS

WEMS

HES06

LEV01

WEMS

GEL02

NEG04

WEMS

BÖR02

G Ort

m Gellendorf

m Gellendorf

m Gellendorf

m Gellendorf

m Werth

m Werth

m Schwaney

m Schwaney

m Levern

m Levern

m Levern

m Levern

m Olpe

w Olpe

w Olpe

m Olpe

PP

Objekt

mittel w Südlohn

Elaborierung

Narrative Jobs

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

PP

Überleitung Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

AKKO

AKKO

Fremdspracherwerb AKKO

Elaborierung

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

Mit-Transitiv Überleitung

Intransitiv

Intransitiv

Intransitiv

Intransitiv

PP

Mit-Transitiv Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Intransitiv

Phasenverb Elaborierung

Intransitiv

Elaborierung

Mit-Transitiv Überleitung

Fremdspracherwerb Intransitiv

L1 Niederdeutsch

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Elaborierung

Bilingual HD/ND

Spracherwerb

mittel w Everswinkel Fremdspracherwerb Intransitiv

jung

jung

jung

alt

alt

alt

alt

alt

alt

jung

jung

alt

alt

alt

jung

mittel w Hesepe

alt

mittel m Börger

KORPUS Alter

Sigle

0,5

0,4

1

1

0,75

0,5

1

1

0,8

0,8

1

1

1

1

0

0

0

0

0,714 0,285

0,2

0,833 0,166

0

0

0,2

0,333 0,666

0,25

0,5

0,166 0,857

0

0,142 0,857

0,5

0,6

0

0,111 0,888

GS

GS

GS

GS

RL

DV

RL

DV

DV

DV

DV

DV

RL

DV

DV

DV

DV

DV

DV

DV

haben

sein

sein

sein

sein

sein

sein

haben

sein

haben

haben

haben

haben

sein

haben

sein Interview haben

Alltag

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Gebrauchs Dialekt- Varietät- Auxiliar standard varietät display

360 | Anhang

WEMS

WEMS

WEMS

WEMS

SIN

WER08

GEL05

GEL05

GEL05

ML-EVE04

WML-SUE01 SIN

WEMS

WER07

WEMS

LEV01

WEMS

WEMS

LEV01

WEMS

WEMS

NEG04

SCHWA01

WEMS

NEG01

SCHWA01

WEMS

NEG01

WEMS

WEMS

NEG10

WEMS

WEMS

HES06

LEV02

WEMS

GEL02

LEV02

WEMS

BÖR02

G Ort

m Gellendorf

m Gellendorf

m Gellendorf

m Gellendorf

m Werth

m Werth

m Schwaney

m Schwaney

m Levern

m Levern

m Levern

m Levern

m Olpe

w Olpe

w Olpe

m Olpe

PP

Objekt

mittel w Südlohn

Elaborierung

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

PP

Überleitung Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

AKKO

AKKO

Fremdspracherwerb AKKO

Elaborierung

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

Mit-Transitiv Überleitung

Intransitiv

Intransitiv

Intransitiv

Intransitiv

PP

Mit-Transitiv Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Intransitiv

Phasenverb Elaborierung

Intransitiv

Elaborierung

Mit-Transitiv Überleitung

Fremdspracherwerb Intransitiv

L1 Niederdeutsch

1

1

1

1

0,714

0,2

0,833

0

0

0,2

0,333

0,25

0,5

0,166

0

0,142

0,5

0,6

0

0,111

0

0

0

0

0,285

0,8

0,166

1

1

0,8

0,666

0,75

0,5

0,857

1

0,857

0,5

0,4

1

0,888

GS

GS

GS

GS

RL

DV

RL

DV

DV

DV

DV

DV

RL

DV

DV

DV

DV

DV

DV

DV

haben

sein

sein

sein

sein

sein

sein

haben

sein

haben

haben

haben

haben

sein

haben

sein Interview haben

Alltag

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Elaborierung

Bilingual HD/ND

Spracherwerb

mittel w Everswinkel Fremdspracherwerb Intransitiv

jung

jung

jung

alt

alt

alt

alt

alt

alt

jung

jung

alt

alt

alt

jung

mittel w Hesepe

alt

mittel m Börger

KORPUS Alter

Sigle

Anhang | 361

mittel w Südlohn

mittel w Südlohn

mittel w Everswinkel

WML-SUE06 SIN

ML-EVE01

Objekt

PP

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

ML-WET01

ML-WET01

SW-BAL04

SW-BAL04

SW-BAL04

SW-BAL03

ML-WET01

ML-WET01

SIN

SIN

OW-ROE04

SIN

SIN

ML-WET05

SIN

OW-ROE03

ML-WET05

SIN

SIN

OLE-LAE02

mittel w Rüthen

Überleitung

Bilingual HD/ND

Phasenverb

Elaborierung

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Überleitung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Bilingual HD/ND Bilingual HD/ND

Phasenverb Intransitiv

mittel w Balve

mittel w Balve

mittel w Balve

mittel w Balve

mittel w Wettringen

mittel w Wettringen

mittel w Wettringen

mittel w Wettringen

AKKO

AKKO

AKKO

Fremdspracherwerb Intransitiv

Fremdspracherwerb Intransitiv

Bilingual HD/ND

Elaborierung

Elaborierung

Überleitung

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Phasenverb

Fremdspracherwerb Intransitiv

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

mittel w Rödinghausen Fremdspracherwerb Intransitiv

mittel w Wettringen

mittel w Wettringen

mittel w Rödinghausen Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Überleitung

mittel w Lähden

Fremdspracherwerb Intransitiv

mittel w Südlohn

mittel w Rödinghausen Fremdspracherwerb Phasenverb

SIN

Fremdspracherwerb AKKO

Bilingual HD/ND

OW-ROE02

SW-RUE02

Überleitung

1

0,833

1

1

0,833

0,857

0,833

1

1

0,833

1

0,8

1

1

1

1

0,857

1

1

1

0

0,166

0

0

0,166

0,142

0,166

0

0

0,166

0

0,2

0

0

0

0

0,142

0

0

0

GS

RL

GS

GS

GS

RL

RL

GS

GS

RL

GS

RL

GS

GS

GS

GS

RL

GS

GS

GS

haben

Interview haben

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview sein

Alltag

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Elaborierung

Fremdspracherwerb PP

Spracherwerb

WML-SUE05 SIN

SIN

mittel w Südlohn

G Ort

WML-SUE01 SIN

KORPUS Alter

WML-SUE01 SIN

SIgle

362 | Anhang

SIN

SIN

SIN

SW-BAL03

SW-BAL03

SW-BAL03

SW-RUE02

G Ort

mittel w Lähden

mittel w Lähden

mittel w Balve

mittel w Rüthen

OLE-LAE01 SIN

OLE-LAE01 SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

SW-BAL01

SW-BAL01

SW-RUE04

SW-RUE04

SW-RUE04

mittel w Wettringen

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

ML-WET03

ML-WET03

ML-WET03

ML-WET03

ML-WET03

Überleitung

Phasenverb Elaborierung

Intransitiv

Intransitiv

PP

Intransitiv

Überleitung

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

Intransitiv

mittel w Rödinghausen Fremdspracherwerb Intransitiv

Elaborierung

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

mittel w Heiden

L1 Niederdeutsch

Elaborierung

Elaborierung

Überleitung

Mit-Transitiv Elaborierung

PP

Intransitiv

Intransitiv

Mit-Transitiv Elaborierung

WML-HEI02 SIN

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

Bilingual HD/ND

Fremdspracherwerb Phasenverb Überleitung

Fremdspracherwerb Intransitiv

Fremdspracherwerb Phasenverb Überleitung

Fremdspracherwerb Intransitiv

Fremdspracherwerb Intransitiv

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

sein

sein

sein

haben Interview sein

Alltag

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Alltag

Alltag

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Alltag

Interview sein

Interview haben

Interview sein

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Mit-Transitiv Elaborierung

Objekt

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Überleitung

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Spracherwerb

OW-ROE03 SIN

mittel w Wettringen

mittel w Wettringen

mittel w Wettringen

mittel w Wettringen

mittel w Heiden

WML-HEI05 SIN

mittel w Rüthen

mittel w Rüthen

mittel w Balve

mittel w Rüthen

mittel w Lähden

SIN

OLE-LAE01 SIN

mittel w Balve

mittel w Balve

mittel w Balve

KORPUS Alter

Sigle

Anhang | 363

mittel w Balve

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

SIN

EMSLAND mittel m Börger

EMSLAND mittel m Börger

EMSLAND alt

EMSLAND alt

EMSLAND alt

EMSLAND alt

EMSLAND mittel w Emmlichheim

EMSLAND mittel w Emmlichheim

EMSLAND mittel w Emmlichheim

SW-BAL01

SW-BAL01

SW-BAL01

SW-BAL01

SW-BAL01

ML-EVE02

ML-EVE01

Bör-09

Bör-13

Bör-17

Bör-17

Bör-17

Eml-02

Eml-05

Eml-05

Eml-05

m Emmlichheim

w Börger

w Börger

w Börger

mittel w Everswinkel

mittel w Everswinkel

mittel w Balve

mittel w Balve

mittel w Balve

Elaborierung

Elaborierung

Phasenverb

Elaborierung

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

Bilingual HD/ND

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

Überleitung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Überleitung

Intransitiv

Überleitung

Mit-Transitiv Überleitung

Intransitiv

Mit-Transitiv Überleitung

PP

Intransitiv

Intransitiv

Mit-Transitiv Elaborierung

Intransitiv

Phasenverb

Intransitiv

Fremdspracherwerb PP

Fremdspracherwerb Phasenverb

Fremdspracherwerb Intransitiv

Fremdspracherwerb Phasenverb

0,125

0,5

1

0,333

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

1

0,875

0,5

0

0,666

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

0

DV

RL

GS

DV

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

sein

sein

sein

sein

haben

haben

haben

haben

haben

sein

Alltag

Alltag

sein

haben

Interview sein

Alltag

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Interview sein

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Interview haben

Interview sein

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Überleitung

mittel w Rödinghausen Monolingual

mittel w Balve

PP

Phasenverb

Objekt

Fremdspracherwerb Mit-Transitiv Überleitung

mittel w Rüthen

OW-ROE01 SIN

SIN

SW-RUE04

L1 Niederdeutsch

Spracherwerb

mittel w Rödinghausen Monolingual

G Ort

mittel w Heiden

Alter

OW-ROE01 SIN

KORPUS

WML-HEI02 SIN

Sigle

364 | Anhang

EMSLAND alt

EMSLAND jung

EMSLAND alt

Noh-6

Noh-12

Noh-7

REDE

REDE

REDE

REDE

BOR02

BOR02

BOR08

BOR08

BOR08

m Börger

REDE

REDE

REDE

GT3

GT3

GTALT

alt

m Gütersloh

mittel m Gütersloh

mittel m Gütersloh

mittel m Gütersloh

REDE

GT2

m Borken

alt

BOR_ALT REDE

mittel m Borken

mittel m Borken

mittel m Borken

mittel m Borken

mittel m Borken

EMSLAND jung

REDE

Bör-07

Bör-07

m Börger

EMSLAND jung

Läh-02

w Nordhorn

EMSLAND alt

EMSLAND mittel w Lähden

Noh-6

m Nordhorn

m Nordhorn

w Nordhorn

AKKO

Intransitiv

PP

L1 Niederdeutsch

Phasenverb

Intransitiv

Intransitiv

Elaborierung

Überleitung

Überleitung

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Überleitung

Überleitung

Mit-Transitiv Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Fremdspracherwerb PP

Bilingual HD/ND

Elaborierung

Mit-Transitiv Überleitung

Fremdspracherwerb PP

Bilingual HD/ND

Überleitung

Mit-Transitiv Elaborierung

Intransitiv

Mit-Transitiv Elaborierung

Fremdspracherwerb PP

L1 Niederdeutsch

Überleitung

Überleitung

1

1

1

1

0,875

1

1

1

1

1

0

0,4

0,285

0,2

0

0

1

1

0,333

0,166

0

0

0

0

0,125

0

0

0

0

0

1

0,6

0,714

0,8

1

1

0

0

0,666

0,833

GS

GS

GS

GS

RL

GS

GS

GS

GS

GS

DV

DV

DV

DV

DV

DV

GS

GS

DV

DV

sein sein

sein

sein

sein

sein

sein

sein

sein

sein

sein

sein

Alltag

Alltag

Alltag

sein

sein

sein

Interview sein

Alltag

Alltag

Alltag

Interview haben

Alltag

Interview sein

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

Interview sein

Interview sein

Alltag

Alltag

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Mit-Transitiv Elaborierung

Intransitiv

Intransitiv

Objekt

Fremdspracherwerb PP

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

L1 Niederdeutsch

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

EMSLAND alt

Noh-6

w Nordhorn

EMSLAND mittel w Emmlichheim Bilingual HD/ND

Spracherwerb

EMSLAND mittel w Emmlichheim Bilingual HD/ND

G Ort

Eml-05

Alter

Eml-05

KORPUS

Sigle

Anhang | 365

REDE

REDE

REDE

REDE

REDE

REDE

REDE

REDE

REDE

COE01

COE03

COEALT

COEALT

COEALT

COEALT

HSK15

HSK18

HSKALT

m Coesfeld

m Coesfeld

m Coesfeld

alt

alt

REDE

REDE

REDE

REDE

HSKALT

HSKALT

LIP8

LIP8

m Sundern

m Sundern

m Sundern

mittel m Horn

mittel m Horn

alt

jung

HSKJUNG REDE

m Sundern

m Sundern

mittel m Sundern

mittel m Sundern

alt

alt

alt

m Coesfeld

mittel m Coesfeld

Elaborierung

Elaborierung

Überleitung

Überleitung

PP

Überleitung

Monolingual

Monolingual

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Monolingual

Monolingual

Bilingual HD/ND

Monolingual

Monolingual

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Phasenverb

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

PP

PP

Intransitiv

AKKO

Intransitiv

Phasenverb

AKKO

L1 Niederdeutsch PP

L1 Niederdeutsch Mit-Transitiv Elaborierung

L1 Niederdeutsch AKKO

Elaborierung

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

1

0,8

0,2

0,2

1

1

1

1

0,833

0,454

0,833

0,8

1

1

1

0,75

1

1

0,142

1

0

0,2

0,8

0,8

0

0

0

0

0,166

0,545

0,166

0,2

0

0

0

0,25

0

0

0,857

0

GS

RL

DV

DV

GS

GS

GS

GS

RL

ambig

RL

RL

GS

GS

GS

RL

GS

GS

DV

GS

sein sein

sein

sein

sein

haben

sein

Alltag

Alltag

Alltag

Alltag

haben

haben

haben

haben

Interview haben

Interview haben

Interview haben

Interview haben

Alltag

Alltag

Interview sein

Interview sein

Interview haben

Interview haben

Alltag

Alltag

Alltag

Interview haben

Alltag

Alltag

Narrative Jobs Gebrauchs Dialekt- Varietät- Situation Auxiliar standard varietät display

Mit-Transitiv Elaborierung

Intransitiv

Phasenverb

L1 Niederdeutsch Intransitiv

Monolingual

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

Bilingual HD/ND

m Gütersloh Monolingual

mittel m Coesfeld

alt

Objekt

m Gütersloh L1 Niederdeutsch AKKO

mittel m Coesfeld

jung

REDE

COE01

Spracherwerb

m Gütersloh L1 Niederdeutsch AKKO

G Ort

mittel m Coesfeld

jung

alt

HSKJUNG REDE

REDE

REDE

COE01

REDE

GTALT

GTJung

REDE

GTALT

alt

KORPUS Alter

Sigle

366 | Anhang

REDE

REDE

LIP8

LIP8

G Ort

REDE

REDE

REDE

ELALT2

ELALT2

ELALT2

alt

alt

alt

Monolingual

m Meppen L1 Niederdeutsch

m Meppen L1 Niederdeutsch

m Meppen L1 Niederdeutsch

m Horn

Monolingual

Monolingual

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Elaborierung

Phasenverb

Phasenverb 0,875

0,875

0,2

1

1

1

1

1

1

1

0,125

0,125

0,8

0

0

0

0

0

0

0

0

RL

RL

DV

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

GS

Interview

Interview

Alltag

Interview

Interview

Interview

Interview

Interview

Alltag

Interview

Alltag

Dialekt- Varietät- Situation varietät display

sein

sein

sein

sein

haben

haben

haben

haben

haben

haben

haben

Auxiliar

Legende: m=männlich; w= weiblich; GS= Gebrauchstsstandardvarietät; RL= Regiolekt; DV= Dialektvarietät

Elaborierung

Elaborierung

Mit-Transitiv Elaborierung

Phasenverb

Phasenverb

Phasenverb

jung

m Horn

m Horn

PP Phasenverb

mittel m Meppen Fremdspracherwerb PP

LIPJUNG2 REDE

Monolingual

Monolingual

REDE

jung

LIPJUNG2 REDE

m Horn

m Horn

Intransitiv

1

Narrative Jobs Gebrauchs standard

Mit-Transitiv Elaborierung

Objekt

EL2

jung

LIPJUNG2 REDE

Monolingual

Monolingual

Spracherwerb

LIPJUNG2 REDE

jung

jung

LIPJUNG2 REDE

mittel m Horn

mittel m Horn

KORPUS Alter

Sigle

Anhang | 367

hochfrequent

3

können

schwach

Modalverb

irregulär stark 10

sagen

wollen

gehen

9

8

7

Modalverb

müssen

6

5

haben

regulär stark

haben

(existieren)

geben

sprechen regulär stark

4

2

kommen regulär stark

Modalverb

1

sein

sein -

-

-

2

3

2

16

11

14

28

24

20

32

-

10

12

17

18

22

26

28

29

35

38

194 227

3 11

-

11 -

12 -

-

5

15 -

6

33 -

1. 2. 3.

2.18 %

3.09 %

3.27 %

3.99 %

4.72 %

5.08 %

5.26 %

6.35 %

6.90 %

41.4 %

sein

gehen

5

4

3

2

1

8

regulär stark

irregulär stark 10

9

7

Modalverb

irregulär stark 6

Modalverb

schwach

haben

sprechen regulär stark

(existieren)

geben

müssen

werden

können

sagen

haben

kommen regulär stark

sein -

59

-

47

-

3

3

-

-

-

-

14 -

1

17

18

25

16

33

10 2 35

8

26 3 36

9

20

21

25

30

34

47

55

64

68

2.61 %

2.74 %

3.26 %

3.91 %

4.43 %

6.13 %

7.17 %

8.34 %

8.87 %

32.9 %

#Token #Token (absol.) (relativ)

22 2 229 253

1. 2. 3.

Flexionsklasse Rang Person

Verb

Verb

#Token #Token (absol.) (relativ)

Absolute Tokenfrequenz Präteritum (WEMS-Korpus): 767 Types Präteritum (WEMS-Korpus): 74

Absolute Tokenfrequenz Präteritum (WEMS-Korpus): 551 Types Präteritum (WEMS-Korpus): 46

Flexionsklasse Rang Person

Nicht-funktionale Variation

Funktionale Variation

368 | Anhang

A4 Type- und Tokenfrequenz des Präteritums im WEMS-Korpus

irregulär stark 13

regulär stark

regulär stark

gemischt

gemischt

Modalverb

irregulär stark 17

irregulär stark 20

regulär stark

schwach

schwach

schwach

irregulär stark 25

werden

sitzen

heißen

kennen

denken

sollen

stehen

gehen(metaph)

anfangen

wohnen

hören

kriegen

liegen

25

25

21

21

17

17

15

15

14

12

-

-

1

1

-

-

2

-

5

4

-

2

1

4

-

2

6

5

7

5

-

-

-

-

-

-

-

2

2

1

2

3

4

3

1 4

-

-

-

-

-

-

8

Präteritopräs.

-

wissen

3

regulär stark

(gut) finden

11

Flexionsklasse Rang 1. 2. 3.

Verb

2

2

2

3

3

4

5

5

5

6

6

7

8

9

11

#Token (ansol.)

0.36 %

0.36 %

0.36 %

0.54 %

0.54 %

0.73 %

0.91 %

0.91 %

0.91 %

1.09 %

1.09 %

1.27 %

1.45 %

1.63 %

1.99 %

#Token (relativ) Modalverb

heißen

hängen

sollen

meinen

kennen

fragen

erzählen

brauchen

stehen

bleiben

sitzen

anfangen

16

15

14

regulär stark

regulär stark

Modalverb

schwach

gemischt

schwach

schwach

Modalverb

25

18

18

18

18

18

18

18

irregulär stark 16

regulär stark

regulär stark

regulär stark

gehen(metaph) irregulär stark 13

12

11

Flexionsklasse Rang

(gut) finden regulär stark

wollen

Verb

-

-

3

1

2

-

-

3

-

-

3

1

-

5

6

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

3

4

1

3

2

4

4

1

5

5

3

5

8

5

11

1. 2. 3.

3

4

4

4

4

4

4

4

5

5

6

6

8

10

17

#Token (ansol.)

0.39 %

0.52 %

0.52 %

0.52 %

0.52 %

0.52 %

0.52 %

0.52 %

0.65 %

0.65 %

0.78 %

0.78 %

1.04 %

1.30 %

2.22 %

#Token (relativ)

Anhang | 369

370 | Anhang

A5 Präteritumschwund mit Modalverben

Präteritumschwund bei SprecherInnen mit intrapersoneller funktionaler angefangenAuxiliarvariation (WEMS) – mit Modalverben und Präteritopräsentia Abhängige Variable: Präteritum (1) (Intercept)

–0.168 (0.66)

Alter

Flexionsklassen

Modalverben/Präteritopräsentia 5.220*** (1.07) sein

3.392*** (0.44)

haben

2.315*** (0.60)

hochfrequent regulär stark

1.709*** (0.41)

hochfrequent irregulär stark

1.738** (0.69)

irregulär stark

0.577 (0.46)

gemischt

BZ

regulär stark

-0.495 (0.41)

hochfrequent schwach

–0.490 (0.45)

schwach

–1.418*** (0.43)

Alter

–0.009 (0.01)

Beobachtungen

850

Sprecher

5

AIC McFadden pseudo R Daten

770 2

0.59 Funktionale angefangen-Variation (WEMS)

Signifikanzniveau: *p